Der Begriff der Natur und das Naturrecht [1 ed.] 9783428429844, 9783428029846

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Der Begriff der Natur und das Naturrecht [1 ed.]
 9783428429844, 9783428029846

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EWALD ZACHER

Der Begriff der Natur und das Naturrecht

Schriften zur

Bechtsthe

Heft 33

Der Begriff der N a t u r u n d das Naturrecht

Von Ewald Zacher

DUNCKER &

HUMBLOT/BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1973 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1973 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 02984 4

Vielleicht, das konnte er sich zu seiner Entschuldigung sagen, trägt jeder denkende Mensch eine solche Idee der Ordnung i n sich, geradeso wie erwachsene Männer unter den Kleidern das Heiligenbild tragen, das ihnen ihre Mutter an die Brust gehängt hat, als sie K i n d waren, und dieses B i l d der Ordnung, das keiner sich ernst zu nehmen noch abzulegen getraut, kann nicht viel anders aussehen als so: A u f der einen Seite stellt es dunkel die Sehnsucht nach einem Gesetz des rechten Lebens dar, das ehern und natürlich ist, das keine Ausnahme zuläßt und keinen Einwand ausläßt, das lösend ist wie ein Rausch und nüchtern wie die Wahrheit; auf der anderen Seite bildet sich darin die Überzeugung ab, daß die eignen Augen niemals ein solches Gesetz erblicken, die eignen Gedanken niemals es denken werden, daß es nicht durch Botschaft und Gewalt eines einzelnen herbeizuführen sein wird, sondern nur durch die Anstrengung aller, wenn es nicht überhaupt ein Hirngespinst ist. Musil, Mann ohne Eigenschaften Aus der Natur, nach welcher Seite h i n man schaue, entspringt Unendliches. Goethe, Maximen und Reflexionen Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien W i l lens ist, ist das Recht. — Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts

Inhalt Vorbemerkung

11

Einführung Naturrecht im Grund und im Verhältnis zu Natur

13

1. Naturrecht als G r u n d des Rechts a) Der unbegründbare G r u n d b) Die Entschränkung i n die Philosophie durch die Grundfrage . .

13 13 15

2. Das Verhältnis von N a t u r u n d Naturrecht zueinander a) Der sprachliche Befund b) Die kategoriale Erschließung des Verhältnisses

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Erster Teil Der Begriff Natur Die Spannweite des Wortes 1. Kapitel:

Der Begriff Natur — ontologisch

I. Die wirkliche N a t u r

24 24 27 27

1. N a t u r : W e l t ohne den Menschen

27

2. N a t u r konkret, i n ihrem B i l d

28

3. N a t u r i m Dasein a) Dasein als K o n k r e t u m des Naturbegriffs b) Dasein i n der Ursprünglichkeit

30 31 33

I I . Die Natur als Seiendes

34

1. Das Sein des Seienden a) Differenz u n d Identität von Sein u n d Seiendem b) Die Analogie des Seins c) Das Sein als das Andere des Seienden d) Die selbige Verwendung von Sein u n d Nichts e) Die abyssale Verfassung des Seins — klaffender A b g r u n d des Nichts — unauslotbare Tiefe des Seins — Licht als B i l d

35 35 39 42 44 45

2. Der Übergang des Seins zum Seienden a) Die Freiheit des Seins b) Das Sein als A k t u n d Uberwesen

47 47 49

8

Inhaltsverzeichnis 3. Das Seiende a) Die Energeia b) Die Entelechie c) Das Werden d) Die Zeitlichkeit

I I I . Die innere K o n s t i t u t i o n des Naturbegriffs 1. Der abyssus als Bedingung der Möglichkeit f ü r die U n f i x i e r b a r keit des Naturbegriffs

51 51 54 56 59 62 62

2. Andeutende Entfaltung der logisch-historischen Fassung des Begriffs aus der Ontologie 63 2. Kapitel:

Der Begriff Natur — anthropologisch

I. Der Mensch als das Z e n t r u m der N a t u r

67 67

1. Aufgipfelung des Seienden

68

2. Der Seinshervorgang a) Verendlichung, aber nicht Ende i m Seienden b) Die Seinsmodi — Die Nichtsubsistenz des Seins — Das übereinkunftsfähige Seiende, der Mensch — Realität, Idealität, Bonität

70 70 72

I I . Die N a t u r des Menschen-Mensch: Onto-ana-logie

78

1. Die Freiheit zum G r u n d a) Erschlossenheit ontologisch ist Freiheit anthropologisch — Ek-sistenz — Das Seinkönnen b) Die Bewegung des Ausgangs

78 78

83

2. Freiheit u n d Geist a) Die reflexive Transzendenz b) Die Offenheit als Geist — das Offenstehen: die V e r n u n f t — das ins-Offene-Gehen: der W i l l e c) Gelassenheit

84 84 85

3. Freiheit als Ausrichtung auf das Sein a) Die verfolgte Ausrichtung b) Die Wiederholung des Seins: Onto-ana-logie

90 90 92

4. Freiheit als Richtung i n sich selbst herum a) Die „umgebogene" Transzendenz b) Stadien der Selbstzukehr — verlorene N a i v i t ä t — natura corrupta — Schuld, Not, Einsamkeit, Vernichtung

93 93 94

88

I I I . Die analogisch gebundene D i a l e k t i k der menschlichen Natur

97

1. Die analoge Einheit von N u r - N a t u r u n d N i c h t - m e h r - N a t u r a) Polarität b) analogische B i n d u n g

97 98 99

Inhaltsverzeichnis 2. N a t u r u n d Geist a) Die unendliche N a t u r b) Geist als N a t u r — die Selbstüberschreitung Der Begriff N a t u r — ein transzendentaler Begriff

100 101 102 102

Zweiter Teil Natur im Naturrecht

105

3. Kapitel: Die kritischen Konsequenzen der Transzendentalität des Naturbegriffs für das Naturrecht 105 I. Naturrecht als ebenfalls transzendentaler Begriff

105

1. Die Unschließbarkeit als notwendige Konsequenz 106 a) Der Grundbegriff 107 b) Definition u n d Begriff 109 c) Die genuine Unschließbarkeit (oder: das Recht zwischen Philosophie u n d Jurisprudenz) 110 2. Die Mehrdeutigkeit des Naturrechtsbegriffs als Signum seiner Unschließbarkeit 112 a) Naturrecht zwischen äquivoker u n d univoker Bedeutung 112 b) Der zureichende G r u n d der Mehrdeutigkeit 113 I I . Kritische Synopse der Naturrechtstheorien aus ihrem Naturbegriff (im Ansatz) 115 1. N a t u r als Urzustand

116

2. N a t u r als N a t u r der Sache

118

3. N a t u r als triebhafte V i t a l i t ä t

122

I I I . K r i t i k der Naturrechtskritik u n d der Naturrechtsdeduktionen

122

1. „Leerformeln" — Naturrechtskritik oder negative Ideologien a) Positivismus, Relativismus, Wissenschaftstheorie b) Soziologie, Marxismus, Ideologiekritik

123 123 130

2. Naturrechtsdeduktionen oder positive Ideologien a) Kath. Moraltheologien, Sittengesetzbesitz b) Wertethik, Rechtsgefühl

133 134 136

4. Kapitel: Die Funktion und die Tragweite eines transzendental begründeten Naturrechts 138 I. Die F u n k t i o n

139

1. Die Einzelfunktionen a) Dirigieren b) L i m i t i e r e n c) Legitimieren

140 141 142 142

2. Das Verhältnis von Begriff u n d F u n k t i o n a) F u n k t i o n a l u n d nicht-funktional b) Theorie u n d Praxis

144 144 145

10

Inhaltsverzeichnis c) F u n k t i o n : Begriff i n seiner W i r k u n g d) Postulat eines substantiellen Naturrechtsbegriffs

I I . Die Tragweite

146 146 148

1. Naturrecht als Seinsrecht a) „all-einiger" Imperativ b) Naturrecht unterschieden von natürlichem Recht aa) natürlich u n d selbstverständlich bb) das Tötungsverbot und seine sog. „Ausnahmen" cc) das Unrecht c) Naturrecht primär auf die N a t u r des Menschen bezogen

149 150 151 151 152 155 156

2. Naturrecht i n F u n k t i o n a) Als Prinzip für die Gesetzgebung aa) Gerechtigkeit bb) Institutionen: Staat u n d Gesetz, Ehe, Eigentum cc) Tötungs- u n d Inzestverbot b) Als K r i t e r i u m f ü r Einzelentscheidungen aa) Konfliktsituationen bb) Noch einmal: Tötungs verbot und Notwehr c) Als Fundament des Rechts aa) Rechtsbegründung i m hermeneutischen Z i r k e l bb) Recht i n der Geschichte

157 157 157 159 162 164 165 166 168 168 170

Fortführung Der nachmetaphysische Weg zum Recht in der Sprache

172

1. Der anschauliche Sinn der Sprache

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2. Recht — richten — Richtung

173

3. Denken u n d Sprechen

175

Literaturhinweise

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Vorbemerkung Für den überlegenen Beobachter, dessen einzige und damit totale Kategorie die Geschichte geworden ist, hat wahrscheinlich schon eine Fragestellung, i n der wieder einmal von Naturrecht und Natur die Rede ist, etwas rührend Naives. Ist es nicht Ahnungslosigkeit, m i t der da, so als ob nichts gewesen wäre, eine Problematik aufgegriffen wird, die sich geistesgeschichtlich und noch mehr politisch selbst erledigt hat? Siedelt Naturrecht nicht diesseits der historischen Vernunft, verdient es noch viel mehr als ein mitleidiges Lächeln oder, m i t einer Spur Resignation, wohlwollende Anerkennung des ,guten Willens'? Seit den Tagen, da die Ideologiekritik Naturrecht als rechtes wie linkes Machtinstrument zur Tarnung reaktionärer respektive revolutionärer Ziele entlarvt hat, da die Wissenssoziologie den immanenten Mechanismus von Leerformeln aufgedeckt hat, ist doch eine legitime Erörterung dieses Problems nicht mehr möglich. Abgesehen davon, daß eine auf die Sache i m Problem bezogene Fragestellung noch lange keine Patentlösung als A n t w o r t präjudiziert, sondern der Aporie durchaus teilhaftig werden kann, w i r d dieser Standpunkt, für den sich die Fragestellung von vornherein als naiv erledigt, i n seinem zuhöchst reflexiven Prozeß selber sehr verletzlich sein, nicht nur wegen seiner fast konstitutionellen Gebrochenheit. Wo diese Überlegenheit der K r i t i k nämlich zur Haltung w i r d und sich am Naturrechtsproblem nur eben exemplifiziert, w i r d jeder Versuch des unbefangenen Fragens zur Versuchung, sich aus einer selbstgenügsamen Bewegung des Geistes an die Wirklichkeit zu verlieren. Die sachzugewandte Öffnung, die i n einer staunenden und derart mit Recht naiven Hinwendung zur Wirklichkeit vollzogen wird, ist so, nur nebenbei — auch ein Beitrag zur Ideologiekritik. Er w i r d von deren Pächtern aber, als Beitrag von der falschen Seite, schon i m Rohzustand der Fragestellung negiert. (Daß die Geschichte, auch ohne den Zeigefinger der von ihr Konsternierten, i n der Anschauungsform der Zeit wie als reale Veränderlichkeit des Wirklichen immer wieder beachtet sein w i l l , w i r d sich i m Lauf der Untersuchung zeigen. Ebenso w i r d von der Manipulierung des Naturrechts zugunsten lüsterner Willkür, desgleichen von der bornierten Gläubigkeit, i n der historische Positionen aus purem Respekt vor irgendeiner Autorität zu unfruchtbaren Doktrinen erstarren, zu reden sein.)

12

Vorbemerkung

Der Umstand, daß das Naturrecht i n der Geistesgeschichte wie i n seiner politischen Wirkung zwielichtig bleibt, darf aber jedenfalls nicht dazu verführen, die Fragestellung a limine abzuweisen. Es könnte gut sein, daß sich gerade an dieser möglichen und geschehenden Verderbnis nur seine Höhenlage — corruptio optimi pessima (Bloch) — ablesen läßt. Der Rückbezug auf Natur impliziert als philosophische Fragestellung ja auch eine gar nicht anspruchslose Aussagequalität über die Wirklichkeit i m ganzen, und das Naturrecht wäre damit nur i n den Horizont eines Fragens geraten, dessen Schwierigkeiten sich zu Lösungsmöglichkeiten verkehrt proportional verhalten. Aus der aufgeklärten Ironie gegenüber dem Naturrechtsproblem läßt sich bei dieser Abwandlung dann sogar Kapital schlagen, weil sie der Verwechslung von Naivität und zutraulicher Vermessenheit entgegenwirkt. M i t diesem Eingeständnis derjenigen Unbefangenheit, die sich gegen das Verbot der Fragestellung verwahrt, ist zugleich gesagt, welche Rolle das i n einer unfaßlichen Zahl von Arbeiten, Büchern, Abhandlungen, Aufsätzen niedergelegte Gedankengut über das Naturrecht bei dieser Untersuchung spielen soll. Es geht nicht u m eine bloße Kompilation, auch nicht um Rekapitulation, sondern u m einen Ansatz: ein ontologisch-anthropologischer Naturbegriff soll seine rechtliche Bewährung, und dies sowohl i n einer prinzipiellen Offenheit für geschichtliche Veränderungen wie i n der Konkretion an den Fundamentalnormen und -Institutionen des Rechts, erweisen. Die Adnotierung der Literatur darf sich dabei wohl auf die Basisprobleme beschränken und auf diejenigen Berührungen, die i m Zug der Sache liegen. U m falsche Erwartungen zu zerstreuen oder Vorurteile gleich zu bestätigen, lohnt es, den Bereich zu umschreiben, i n dem sich diese Arbeit aufhält. Analogisch-transzendentales Seins-Denken, geschichtliche Dialektik der Freiheit mögen i h n schlaglichtartig kennzeichnen. Ein Name w i r f t seinen Schatten auf alles, was hier vorgebracht w i r d : Erich Przywara. Seinem Denken bleibe ich verpflichtet; noch die eigene Freiheit ist von dort her ermöglicht. Sehr herzlichen Dank sage ich auch meinem rechtsphilosophischen Lehrer, Prof. Dr. Günter Stratenwerth i n Basel. M i t Ermunterung und Widerspruch hat er m i r vorangeholfen. Leider erst, nachdem der Druck schon so gut wie abgeschlossen war, ist m i r der von F. Böckle u n d E. W. Böckenförde herausgegebene, gewichtige Band ,Naturrecht i n der K r i t i k ' , Mainz 1973, zu Gesicht gekommen. A u f R. Spaemanns Bestimmung der Freiheit als erinnerter N a t u r (S. 273, 276), auf E. W. Böckenfördes W i n k , das Naturrecht umzudenken u n d seine grundlegenden normativen Aussagen nicht als imperative Normen, sondern als Richtungsanzeiger zu verstehen (S. 123/4), wie auf manches andere auch, hätte ich gern noch Bedacht u n d ausdrücklich Bezug genommen. A f f i n i t ä t e n wären wahrscheinlich sichtbar geworden.

Einführung Naturrecht i m Grund und i m Verhältnis zur Natur 1. Naturrecht als Grund des Rechts

Naturrecht meint ein Letztes, Gründendes i m Recht und versucht das, was das Recht zum Recht macht, durch diese Bezugnahme auf Natur zu gründen. Die Selbstverständlichkeit, m i t der das Recht gemeinhin, als Gegenstand der Rechtswissenschaft oder i n der Rechtspraxis hingenommen w i r d und ausgestattet bleibt, w i r d als etwas Verwunderliches Anlaß zur Frage danach 1 . I m Verfolg der Frage kommt sie aber am Ende aus dem, was sich als ihr Grund darstellt, wieder zurück; als geklärte Selbstverständlichkeit und wie durchleuchtet, aber nur damit begründet: Als tragender Grund des Rechts, so heißt es, erweise sich das Naturrecht. a) Der unbegründbare

Grund

Die Frage erscheint verschoben, weil sie sich wieder als Frage nach dem Naturrecht einstellt. Indes, vom Recht zum Naturrecht ist ein Überschritt geschehen, und die neuerliche Frage nach der Natur, durch die das Wort Recht erweitert wurde, kann schlecht eine gleichartig verschobene, nur zusätzliche, Frage nach dem Grund sein, nicht nur, weil der regressus i n infinitum droht und weil das Wort Natur trotz der Lawine, i n der sein Bedeutungsgehalt aufs Verständnis zukommt, immer auch noch den Beiklang von „natürlich" hat, sondern weil die Philosophie, i n die dieser Schritt hinüberführte, den Anspruch erhebt, selber Gründung des Denkens zu sein. Das heißt dann, daß sie zwar zu sagen weiß, was das ist, dieses Naturrecht, nicht aber i n der A r t , daß sie es außerhalb ihrer selbst zu begründen vermöchte. Die Frage nach 1 Die Auflösung der Selbstverständlichkeit, darin dürften, diesseits aller Divergenzen, die verschiedensten Philosophien übereinkommen. Die Gebrauchsdefinition von G. Patzig, Philosophie sei die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit genau dessen, was i n jeder anderen als der philosophischen Einstellung f ü r selbstverständlich muß genommen werden, G. Patzig, Hrsg. G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen 21966, S. 14, k a n n von jedem Standort aus akzeptiert werden. Dabei bleibt sogar der Rückweg zum Anfang der Philosophie i n die Mischung aus Verwunderung u n d Zweifel offen, wie i h n Aristoteles, Metaphysik 982 b, u n d Piaton, Theaitet 155 d bestimmt haben.

14

Einführung

dem Naturrecht w i r d dabei allerdings, dadurch, daß sie nicht mehr geradlinig nach einer Begründung weiterfragt, sondern es selber als Grund erfragt, zugleich einfacher und komplizierter, denn das Naturrecht muß i n sich erwiesen, zugleich aber auch als seinerseits das Recht begründend erwiesen werden. Selbst wo man das Recht nur als ein System von widerspruchsfreien Normen begreift und sich bloß pragmatisch für die von daher geforderte Erzeugung des Rechts interessiert, stößt man bis zur Einsicht einer unableitbaren Norm vor. M i t dem Eingeständnis, daß der Grund unbegründbar bleibt, partizipiert eine solche Auffassung 2 daher auch, auf eine allein logisch rudimentäre Weise, an einer ontologischen Erkenntnis, die die Philosophie i m ganzen bestimmt, sobald sie sich selbst nicht nur als eine Wissenschaft von vielen, sondern als die Wissenschaft vom Grund 3 versteht. Aus dieser Not der Philosophie, die Wahrheit nicht „beweisen", sondern höchstens einsichtig machen zu können, weil sie, i n einer auf Metamathemathik vor allem bezogenen Terminologie 4 , nur Axiomatik ist, resultiert nicht zum letzten die Verwirrung der Philosophierenden und das Mißtrauen der Wissenschaften. Da das Naturrecht das Grundlagenproblem der Rechtswissenschaft ist, ist es nicht weiter erstaunlich, wenn es von seiten der exakten Wissenschaft die gleiche Verachtung genießt wie die Philosophie insgesamt. Aber auch diese mißliche, von einer schülerhaften Sucht nach vorweisbaren Ergebnissen induzierte Überlegenheit der Wissenschaft über ihre eigenen Grundlagen zeigt an, daß dort, wo nach dem Grund als Grund gefragt wird, eine Fragestellungswendung vollzogen wird, bei der, anders als i n den nachgeborenen Wissenschaften, der Fragende und das Erfragte zugleich i n Frage stehen. Denn die A n t w o r t betrifft den Fragenden ebenso unmittelbar wie das Erfragte; nicht nur i n dem Sinn, daß es, wie der deutsche Idealismus und wieder eine transzendental gewordene Phänomenologie festhielten 5 , kein Entrinnen aus dem 2 Kelsens Grundnorm, Reine Rechtslehre Wien 21960, S. 197. Z u Kelsen vgl. R. Hofmann, Logisches u n d metaphysisches Rechtsverständnis, München u n d Salzburg 1967; R. Hauser, Norm, Recht u n d Staat, Wien 1968. 3 Der G r u n d als άρχή u n d αιτία z.B. Metaph. 1003a, 981b, 28; 1064b 4. Heidegger lastet dem Satz v o m G r u n d zwar die neuzeitliche Wissenschaft u n d deren verhängnisvolle I m p l i k a t i o n e n an, Satz v o m Grund, Pfullingen 1957, S. 56 — die „Weise des begründenden Vorstellens" g i l t als V e r i r r u n g — dennoch hält er an i h m gewandelt als „ W o r t v o m Sein gegen den Grundsatz des Vorstellens" (S. 208) fest. Über das dialektische Widerspiel von G r u n d u n d A b g r u n d k o m m t er deswegen auch nicht hinweg. 4 Eine einfache u n d verständliche Einführung dazu findet sich bei J. M. Bocheùski ,Die zeitgenössischen Denkmethoden, Bern 21959, S. 73 ff. Gegen den Verzicht der axiomatischen Methode auf Begründung, P. Lorenzen, Methodisches Denken, F r a n k f u r t 1969, S. 25. 5 vgl. E.Husserl, Formale u n d transzendentale Logik, Halle 1929; Z u r Bedeutung von Husserls transzendentaler Phänomenologie vgl. für das Recht W. Maihofer, Recht u n d Sein, F r a n k f u r t 1964, S. 6 0 - 6 3 ; die geradezu epochale

Naturrecht i m G r u n d u n d i m Verhältnis zu N a t u r

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transzendentalen Subjekt 6 gibt, sondern auch schlicht so, daß m i t der A n t w o r t immer schon über die Beziehung mitentschieden ist, i n die Fragender und Erfragtes zueinanderkommen, i n der sie zu einanderstehen. Die Frage nach dem Grund als Grund meint nicht mehr ein lineares Zurück hinter diesen Grund zu einem andern Grund, sondern ein in-ihn-Hinein, der Fragende verfolgt den Grund nicht mehr über Ableitungen von Ableitungen, sondern er stellt sich i h m und ihn sich gegenüber, so daß sie beide nun i n Frage stehen. b) Die Entschränkung

in die Philosophie durch die Grundfrage

Durch diese Wendung der Frage auf den Grund ist die Frage nach dem Naturrecht eine i n die gesamte Dimension der Philosophie hinein entschränkte Fragestellung geworden, der mit einer wissenschaftlich verformten Erwartung von Ergebnissen nicht mehr begegnet werden darf. Es ist auf diese Frage keine A n t w o r t mehr möglich, die sich von einem Ort außerhalb der Philosophie, vor dem Forum einer Wissenschaft überprüfen ließe, denn m i t dem Grund zugleich ist seine Wahrheit i n die Frage einbezogen. Die A n t w o r t läßt sich daher nicht verifizieren, weil dafür diese erst erfragte Wahrheit schon Voraussetzung wäre. Sobald die Frage nach dem Naturrecht als eine i n ihrer Qualität philosophische Frage erkannt wird, lösen sich viele Einwendungen, die diese Dimension nicht erreichen, von selbst auf. Dafür w i r d aber die Problematik der Philosophie selbst eingehandelt, da sich i n den Naturrechtstheorien nur die einzelnen Philosophien, appliziert auf das Rechtsproblem, auszudrücken scheinen. Der Relativismus als Konsequenz, dieser Vielfalt zu begegnen, ist dann die gewöhnliche Reaktion, wenn sicherheitsbedürftige Naturen einen Blick auf dieses umstrittene Terrain der Philosophie werfen. Dieser Relativismus ist es, der sich hinter dem sonst so unentbehrlichen und gar nicht anfechtbaren PosiSingularität Husserls w i r d neu sichtbar bei E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl u n d Heidegger, B e r l i n 1967 („Husserl ist seit Leibniz der einzige Denker, der die beiden Traditionen des Wahrheitsbegriffes, die logische u n d die metaphysische, noch einmal p r o d u k t i v vereinigt." S. 5). β Husserl spricht v o m „transzendentalen Ego" (ζ. B. a.a.O., S. 211) — Die Transzendentalphilosophie w i r d zwar von einer geschichtlich-hermeneutischen Position aus, bei Heidegger etwa, u n d i n der personalistischen Dialogik bestritten (vgl. dazu M. Theunissen, Der Andere, Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, B e r l i n 1965, S. 246, 265). Der Protest gegen die Gefahr der Verschließung, der die Transzendentalphilosophie ausgesetzt u n d auch v e r schiedentlich erlegen ist, w i r d sein Recht haben. Dennoch — die Preisgabe der transzendentalen Subjektivität ist genauso unangemessen wie die Isolierung i n ihr. Eine ,offene', schwebende Zusammenschließung i n transzendentaler Einheit könnte das Richtige sein.

16

Einführung

tivismus allenthalben verbirgt, u m so seine These von der Unbeweisbarkeit, der totalen Beliebigkeit und Bedingtheit des Naturrechts zusammen m i t der — i n sich betrachtet — gegen manchen Einwand gefeiten Präponderanz des Gesetzes besser an den Mann zu bringen. Sofern er sich gegen die Naturrechtsenthusiasten oder -prediger wendet, denen er als Gegner auf der gleichen Ebene die ideologische Stirn bietet, soll i h m seine Existenzberechtigung gar nicht bestritten sein; wo er sich aber als Lösung der Naturrechtsproblematik i n der Philosophie aufspielt, verdient er nur, m i t eignen, übrigens sophistischen, Waffen geschlagen und als relativ gegenüber seiner eignen Relativität aufgehoben zu werden. Daß die Naturrechtsproblematik i n die Philosophie, wenn auch i n die Philosophie des Rechts, gehört, sieht man, wenn nicht aus dem Aufweis ihrer Fragequalität, mindestens daran, daß sich die Einwände gegen sie vom Gegenstand lösen und i n vielen andern Grundfragen wiederfinden lassen: nichts i n der Philosophie, das sich nicht relativieren oder historisieren ließe, denn die Philosophie meint Grundhaltung allem Grund gegenüber, auch da, wo sie sich — selbst i n die abfällige Bedeutung bleibt es eingefärbt — bis zur Weltanschauung verflüchtigt. Daher wiederholen sich die Schwierigkeiten der Philosophie innerhalb des Naturrechtsproblems, und fast jeder Aspekt darin hat ein Analogon i n anderen Problemen, w e i l schon von der Grundlegung einer Philosophie her über die Einzelfragen mitentschieden ist. M i t der Voraussetzungslosigkeit des Anfangens, die immer wieder einmal als Postulat auftaucht, und mit der man die Abhängigkeit einer Philosophie von ihren eigenen Voraussetzungen zu brandmarken glaubt, ist es nämlich nicht getan. I n ihr decouvriert sich nur eins der allerschlimmsten Mißverständnisse — als gäbe es die Möglichkeit, außerhalb des Denkens das Denken anzufangen 7 — und der Schwierigkeit, die darin lingt, daß Voraussetzungen da sind, ist gar nicht begegnet. Es kommt i n der Tat nur darauf an, i n den Zirkel hinein 8 , richtig hinein, und nicht aus i h m heraus zu kommen. Dann jedoch w i r d die Vielfalt der Philosophien, auf die der Relativismus eine vorschnelle A n t w o r t weiß, zu einer Bedrängnis, wenn zu erwarten steht, daß jede Erkenntnis m i t einer vielleicht sogar determinierten Explikation ihrem Vorverständnis verhaftet 7 Das wäre, nach einem W o r t Hegels, dasselbe w i e schwimmen wollen, ehe m a n ins Wasser geht. Enzyklopädie (1830), ed. Nicolin/Pöggeler, H a m b u r g 1959, Einleitung § 20, S. 43. 8 F ü r die hermeneutische Z i r k e l s t r u k t u r grundlegend M. Heidegger, Sein u n d Zeit, Tübingen 81957, S. 310 ff.; auch H. G. Gadamer, Wahrheit u n d Methode, Tübingen 1960, S. 250 ff.; gegen subjektivistische Ubergriffe bei Gadamer vgl. die komprimierte Abhandlung v o n E . B e t t i , Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962, S. 38 - 52, bes. S. 46.

Naturrecht i m G r u n d u n d i m Verhältnis zu Natur

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bleibt. Lassen sich denn Voraussetzungen klären? Dadurch, wie sie sich i m Verlauf des Denkens bewähren, ihre Wahrheit erweisen oder nicht. Insofern ist das Denken die Probe auf die Wahrheit, nicht als wäre darin eine A r t empirische Bestätigung zu erwarten, sondern so, daß darin klar wird, ob und wie es von Anfang an klar, aber noch unerklärt war. Es gibt also nur die bescheidene Möglichkeit, i m Verlauf den Denkens dessen Eindringlichkeit zu erfahren; was sich dabei dann erweist, holt die Voraussetzung dadurch ein, daß ihr Moment der Vorsetzung als unwillkürlich erkannt und mit Notwendigkeit hingenommen wird. Die Voraussetzungen, innerhalb deren sich die Haltung zum Grund i m ganzen dokumentiert, sind, als Methode, und das heißt: als Zugang, der Weg, von dem auszugehen ist. N i m m t man das Naturrecht daher nicht aus der Philosophie heraus, so muß es als die Gründung des Rechts methodisch durch sie bestimmt bleiben. Es werden sich i n i h m als Grund die Haltung und der Zugang zum Grund i m Ganzen, der einer Philosophie zugrunde liegt, wie auch dessen Qualitäten wiederfinden, weil mit dieser Gründung der Bezug des ganzen Grundes als Grund des Rechts angeschnitten ist. 2. Das Verhältnis von Natur und Naturrecht zueinander

Die Beziehung, die zwischen Naturrecht als Grundwort der Rechtsphilosophie und Natur als einem Begriff aus der Philosophie besteht, soll daher vor der Untersuchung dieses Begriffs selbst umrissen sein, weil sich dann genauerhin absehen läßt, welcher Einfluß dem Begriff der Natur zukommt und worüber je schon mitentschieden ist, wenn er so oder anders gefaßt wird. a) Der sprachliche Befund Trotz ihrer Banalität ist da am Anfang die Feststellung nicht zu vermeiden, daß das Wort Natur als Teil i n der Vokabel Naturrecht enthalten ist. Dieser sprachliche Befund umgreift nämlich i n nuce alle die formalen Möglichkeiten der Beziehung, während er andererseits einer Verquickung entgegensteht. Denn obwohl Naturrecht ius naturae und ius naturale besagt, ist es nicht bloß ein zum Ersatz oder der Abkürzung halber gebildetes Kompositum eines Genitivausdrucks (wie zum Beispiel „Manteltasche" oder „Schuldgefühl") und auch kein adjektiverweitertes Substantiv (wie ζ. B. „Großstadt"), sondern ein selbständiges Wort, dessen Bedeutung mit der seiner grammatischen Zergliederungen nicht ohne weiteres gleichzusetzen ist. Die Ergänzungsbedürftigkeit, 2 Zacher

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Einführung

m i t der das Wort Natur, steht es als Genitiv statt i n der Wortfügung, nach einer Bestimmung verlangt, von der es auszusagen wäre, klingt i m Wort Naturrecht nicht an, und das „natürlich", i n dem das Recht in der zweiten Umschreibung schimmert, ist noch nicht i n dieser umgänglichen A r t nebenhin gesagt. Natur i n Naturrecht ist daher der Begriff Natur i n einer durch die Verschmelzung mit Recht erfüllteren, aber sogar noch schwieriger wägbaren, unbestimmteren Verwendung. Daraus ergibt sich, daß der Begriff Natur i n der Fügung Naturrecht eine Veränderung erleidet und daß nur das aus seinem Bedeutungsgehalt i n das andere Wort überfließt, was dort unter der Rücksicht des Rechts gesehen zu werden verdient. Ähnlich wie etwa das Wort Hauptsatz i n seinem ersten Teil nicht alles mitsagt, was diesem Teil, w i r d er allein verwendet, an Bedeutung innewohnt, sondern nur dasjenige (an Bedeutung), wodurch dem ,Satz' ein Herausragen vor und ein Stehen über den andern zukommt, so hat Natur i n Naturrecht eine von ihrem Eigengehalt herkommende, aber der Zusammensetzung angepaßte, „übertragene" Bedeutung. Damit ist die Beziehung vom Naturbegriff zu seiner wörtlichen Verwendung als Teil des Nomens Naturrecht negativ als Nichtidentität bestimmt: die Bedeutung hier und dort ist nicht dieselbe. Da aber in beiden Worten selbstverständlich eine Bedeutungsgemeinschaft sich durchhält, ist positiv eine partielle Übereinstimmung festzuhalten. Faßt man diese Übereinstimmung nicht schon von einer bestimmten Naturauffassung her ins Auge, so hat sie einen Spielraum innerhalb der Grenzwerte absolute Differenz und totale Identität, bis zu denen sie sinken bzw. ansteigen kann. Obwohl dieser formale Bezug i n seiner Amplitude durch die Zuordnung der beiden Wörter Natur und Naturrecht schon begrenzt ist und nie auf seiner ganzen Breite spielen wird, weil sich die vorgängige Bedeutung gar nicht eliminieren läßt, so daß man mit einer leeren Vokabel changieren könnte (wie festgelegt der A n t e i l von Übereinstimmung ist, zeigt ein Beispiel ohne jeden Spielraum: Natur i n Naturschutz heißt, kraft dieser greifbar materialen Verkoppelung, eindeutig Feld-, Wald- und Wiesen-Museum) ist es ein Hinweis dafür, diese partielle Übereinstimmung nicht zu schnell in ihren Ausmaßen markieren zu wollen. Für den Vorgang, den Begriff Natur mit dem des Rechts zu verbinden — gesetzt, es ginge an, die Sprache derart konstruktiv sich aufbauend zu interpretieren — könnte dies heißen, i h n nicht als deduktive Schlußfolgerung vorzustellen, i n dem ein logisch hergeleiteter Begriff einem anderen additiv zugeordnet wird, sondern als eine intuitive Übertragung, bei der i m Übertragenen eine Mitte zwischen dem, von

Naturrecht i m G r u n d u n d i m Verhältnis zu N a t u r

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dem her, und dem, zu dem h i n es übertragen wird, ins Auge springt 9 . Die Beziehung zwischen Natur und Naturrecht ist also dann kein A b hängigkeitsverhältnis i n dem Sinn, daß der Begriff Natur i m Wort Naturrecht eingesetzt sei, und ein Gefälle zwischen ihnen bestünde; sie wäre eher ein Zugehörigkeitsverhältnis zu nennen, das i m gleichen Ursprung seinen Grund hat. Wenn dem so ist, kann Naturrecht nicht aus Natur deduziert werden, wie wohl es von daher methodisch angegangen werden kann, denn i n Natur findet sich das selbe Mittlere, das sich auch i n Naturrecht durchhält. Genau i n dem, was die Verwandtschaft ausmacht, sind beide Begriffe daher von derselben Problematik durchwirkt. Jede Frage, die aus diesem Mittleren stammt, ist hier wie dort anzutreffen und mit einer A n t w o r t zugleich i n beiden Begriffen beantwortet. Die formale Bestimmung des Mittleren ist daher auch die sachliche Beschreibung der Beziehung zwischen Natur und Naturrecht, weil es, das Mittlere — wieder vom Prozeß der Konstituierung des Begriffs Naturrecht her gedacht — die intuitive Antizipation derjenigen Kategorien ist 1 0 , unter denen das, was m i t Natur, und das, was mit Naturrecht gemeint ist, übereinkommen. b) Die kategoriale Erschließung des Verhältnisses Die Beziehung zwischen Natur und Naturrecht w i r d also sachlich i n der Ausgliederung dieser Kategorien erschlossen. Dabei darf nicht unbeachtet bleiben, daß i m Vorgang des Benennens von Naturrecht jeweils schon eine gewisse Bestimmtheit über den konkreten Inhalt der Kategorien eingeschlossen ist, so daß deren lediglich formale Sonderung nur geschehen kann, indem methodisch von ihrer bestimmten Inhaltlichkeit abgesehen wird. Die i m strengen Wortsinn fundamentale Kategorie, i n der Natur und Naturrecht übereinkommen, ist die Kategorie der Substanz. Das, was sich durchhält und zugrundeliegt, ist in beiden Begriffen dasselbe, weil es die i m Mittleren, von dem her die Benennung zu denken ist, selbige Gestalt der Identität ist. Anders gewendet: Dasselbe i n Natur und Naturrecht, durch das die Übertragung vermittelt ist, ist nicht bloß die 9 Das ,tertium comparationis' sollte so unentschieden gedacht werden, daß nicht gleich der konkrete Begriff v o n N a t u r oder, platonisierend, die Idee der N a t u r als A l t e r n a t i v e n festliegen. 10 Z u r I n t u i t i o n als unmittelbarer Einsicht vgl. G. Siewerth, Die Abstraktion u n d das Sein, Salzburg 1958, S. 24 (mit Hinweis auf Thomas v. Aquins Quaestiones de veritate 10, 6) sowie ders. „Definition u n d I n t u i t i o n " , Studium Generale 9 (1956), S. 579 - 592. 2*

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Einführung

logische Einheit sondern deren ontologische Grundlage 11 , also Substanz. Würde das Mittlere nicht auf die Kategorie der Substanz 12 durchzielen, wo von Natur und Naturrecht die Rede ist, so wäre diese Verbindung eine nominalistische Konstruktion aus leeren Vokabeln. Wenn Natur dagegen etwas besagt, so ist die Substantialität des Begriffs Zentrum i m Wortsinn auch von Naturrecht. Aus dieser substantialen Einheit, in der die Beziehung von Natur und Naturrecht ermöglicht und eine kategoriale Zusammengehörigkeit beschlossen ist, folgt dann, daß die Perzeption des Naturbegriffs mit einer ohne alle Ontologie wirtschaftenden Philosophie ein Unding ist. Denn die Kategorie der Substanz bezeichnet deren Kern, der ohne ontologische Widerständigkeit keinen guten Sinn mehr hat, weil der Halt, den er bietet und der den Begriff ausmacht, wegfällt. Daß gerade das zuinnerst Substanzhafte als das den Namen Natur rechtfertigende Element des Begriffs Natur schon auf eine nicht mehr nur formale Kategorie, sondern auch auf eine ontologische Verortung hinausläuft, w i r d sich nicht verleugnen lassen. A n dieser Stelle kommt es aber lediglich darauf an, den logisch kategorialen Aspekt von der die Mitte der beiden Begriffe tragenden Substanz abzuheben. Es muß also auf alle Fälle die Substanz des Begriffs Natur auch die des Begriffs Naturrecht sein. Die Vorstellung von einer Variabilität des Begriffs Natur und seiner beliebigen Definition, m i t der man logisch deduzierend Naturrecht erst zu einem erfüllten Begriff zu machen gedenkt, t r i f f t die Beziehung daher nicht, weil die Beziehung nicht erst konstruierend zu erstellen ist, sondern schon i n substantialer Übereinstimmung grundgelegt ist. Zwischen Natur und Naturrecht besteht die Beziehung als dieses Mittlere. Es ist als Zentrum der Benennung der Ort, als Kern i m Benannten der Träger von Natur und Naturrecht. Weil das Zentrum so unter allen Aussagen liegt, die den Begriff entfalten, und i n ihnen der ungenannte Ansatz bleibt, ist da eine Substanz, die sich durchhält. 11 Identität u n d damit die Logik, ontologisch zu fundieren, k a n n weder allgemein noch hier an dieser Stelle als „zwingend" ausgegeben werden. Die Feststellung, daß zwei Begriffe partiell u n d also i n ihrem t e r t i u m comparationis identisch sind, ist eo ipso keine Nötigung, i n die Ontologie einzusteigen. E i n größeres u n d ein kleineres gleichseitiges Dreieck verpflichten ihren Betrachter nicht, Ontologe zu werden. Aber beim Begriff der N a t u r könnte man vielleicht doch f ü r eine U m k e h r der Beweislast plädieren. Ganz abgesehen davon, daß ,Denken u n d Sein 4 ein Problem bleibt, auch wo es nicht gestellt w i r d . 12 V o n der alten Ontologie, aristotelisch, vgl. Metaph. 1028 b 26 ff. soll der Begriff Substanz jedenfalls insoweit freigehalten werden, als er der Subjekt i v i t ä t sperrig gegenübersteht. Kants Rückgriff auf die Substanz, u m i n der Zeit für den Wechsel der Erscheinungen eine vorausliegende Beharrlichkeit fassen zu können, K r i t i k der reinen Vernunft, ed. Weischedel, Wiesbaden 1952, S. 220, Β 225, 232, muß genauso einzubringen sein wie Hegels r a d i k a l i sierte Entäußerung der Substanz zum Subjekt (Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, H a m b u r g 1952, S. 525).

Naturrecht i m G r u n d u n d i m Verhältnis zu N a t u r

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Wie i m Begriff Natur selber auch ist hier m i t Substanz nicht schon eine Unvergänglichkeit, über die erst zu reden wäre, vorentschieden. Ebensowenig ist Substanz von ihrem traditionellen Gegenbegriff Akzidens 13 her zu lesen, so daß lediglich Belanglosigkeiten, m i t denen die Substanz garniert wird, den Spielraum über das Mittlere hinaus variieren würden. Diese Attributionen sind ja schon jeweils Umschreibungen dessen, was die Substanz näherhin kennzeichnet, ohne daß man schon wüßte, ob sie der Substanz nur äußerlich sind. M i t der Feststellung, die Benennung von Natur und Naturrecht habe i n ihrem Mittleren die Substanz zur kategorialen Einheit, ist daher nicht mehr, aber auch nicht weniger gesagt, als daß sich darin etwas i n selbständiger Einheit durchhält. Was damit gemeint ist, w i r d verständlicher, wenn die Korrelation zum Problem hergestellt wird. Die Frage nach der Natur und die Frage nach dem Naturrecht haben beide einen Punkt, an dem es u m den Bestand der Frage geht 1 4 . W i r d da nur nach einem Begriffsderivat gefragt, das von einem andern Begriff abgezogen ist und keine Bedeutung mehr hat, handelt es sich letzten Endes u m ein Scheinproblem? Wenn sich i n solchen Fragen nicht schon eine metaphysikleere 15 Philosophie verrät, sondern wenn die Bezogenheit auf andere Begriffe die Frage m i t all ihrer Fragwürdigkeit notgedrungen an diesen Rand drängt, festigt die aus der gleichnamigen Nennung i n deren Mittlerem entspringende Beziehung i n ihrer Kategorie der Substanz den Bestand der Frage, weil sie ihrem Gegenstand die zugleich eine und i n die Benennungen verstrahlende In-sich-ständigkeit gibt. Dadurch, daß vom Mittleren zwischen Natur und Naturrecht her die Kategorie der Substanz diese beiden Begriffe eint, w i r d auch eine zweite Kategorie für jeden von ihnen bestimmend, die Qualität. Die Eigenschaften, unter denen das Mittlere gedacht wird, zeugen sich i n der von ihm her maßnehmenden Begriffsbildung fort. Jede Qualität, die dem Mittleren zukommt, haftet auch dem Natur- wie dem Naturrechtsbegriff an. I n dieser Einheit der qualitativen Bestimmungen des M i t t 13 Vgl. Metaph. 1026 a 33 ff. Auch 1025 a 14. Die Frage nach den Akzidentien als Eigenschaften i m Sinn von Proprien sprengt die Auslegung des Akzidentellen, w e i l die Zufälligkeit nicht gleich feststeht. 14 Bei Heraklit, i m Fragment 23 ist es ausgesprochen, daß der Name des Rechts bereits Indiz genug ist. („Recht" deckt das, was später Naturrecht heißen w i r d , noch ab.) 15 Darauf, daß der vollständige Ausschluß derjenigen Fragen, die als metaphysisch gelten müssen, auch den Positivisten nicht gelingen kann, hat K . O. A p e l eindringlich aufmerksam gemacht, vgl. „Wittgenstein u n d Heidegger, Die Frage nach dem Sinn von Sein u n d der Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Metaphysik", Phil. Jahrbuch 1967, 75. Jhrg., S. 56 - 94. Z u r Doppeldeutigkeit des Sinnlosigkeitsverdachts vgl. auch A. Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie u n d Positivismus, F r a n k f u r t 1969, S. 21.

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Einführung

leren gründet der eigentliche Zusammenhang der Sachprobleme zwischen Rechtsphilosophie und Philosophie überhaupt, wie sie i m Naturrechts- und Naturbegriff aufeinandertreffen. Von da läßt sich, an Hand der Eigenschaften, die vom Mittleren her den Begriffen zugesprochen werden, die Problematik aufrollen. Die Qualität als Kategorie ist dabei Gattungsbegriff für Einzelbestimmungen, die dem Mittleren zugesprochen werden oder i h m zugesprochen werden können und nicht etwa der Oberbegriff für Akzidentien. Die Substanz-Akzidens-Scheidung w i r d von diesen Prädikaten hinter sich gelassen, weil es i n und m i t ihnen, auch wo sie als Qualitäten bezeichnet werden, gerade u m die Frage geht, wie sie als nicht nur hinzukommend, sondern der Sache innerlich zu denken seien. M i t dieser Problematik klingt ein Grundthema, dem sich das Naturrechtsdenken heute immer wieder und von jedem Ort aus zuwenden können muß, schon an: jene Qualität, die als Eigenschaft geschichtlich heißt. So, wie das Mittlere i n seinem Bezug zur Zeit gedacht wird, sind auch Natur und Naturrecht auf sie h i n anzulegen. Wenn diese nur geschichtlich und i n der Geschichte zu denken ist, w i r d eine Unveränderlichkeit der Natur wie des Naturrechts, mindestens solang sie sich als statisch gleichbleibend ausgibt, zur baren Fiktion und von da aus höchstens noch zum ideologischen Postulat oder zum schlecht verhohlenen Eingeständnis, daß das Naturrecht tot ist. Dann hätte es, gleichviel, ob als abstrakte Idee oder als Leichnam, die Starre, i n der allein es unverändert bleibt, jedoch ohne die Veränderung durchzuhalten und so zu leben. I n dieser Ablehnung ist bereits eine andere Eigenschaft präjudiziert, die innerhalb der Kategorie der Qualität die Vorstellung vom Mittleren ihrer Weise des in-der-Welt-Seins verknüpft. Solang es dabei, vom Vorgriff absehend, nur u m die Problemstellung geht, ist sie sofort in ihrer Dialektik anzuführen: M i t der Qualität Geschichtlichkeit ist die Problematik von Transzendenz und Immanenz verbunden, weil der Bereich des Geschichtlichen alles, was i h m angehört, zu einem Innergeschichtlichen werden läßt, das i m Fluß der Zeit mitströmt. Immanenz ist daher das i n jedem Fall erforderliche Attribut, wenn anders Geschichte die Kategorie ist, i n die das Mittlere samt seinen beiden Begriffen, die hier zur Rede stehen, bezogen ist. Hätte nicht Geschichte den Lauf der Zeit zu ihrer Linie des Vergehens, wäre Immanenz keine Notwendigkeit. So aber ist sie unabdingbar, und es bleibt nur offen, wie und ob zugleich zu ihr und daraus Transzendenz zu denken ist. Damit hängt eine Eigenschaft des Naturrechtsbegriffs zusammen, die von jener Attribution der Immanenz oder Transzendenz i m Mittleren her determiniert ist, aber gleichwohl nur dem Begriff des Naturrechts

Naturrecht i m G r u n d u n d i m Verhältnis zu N a t u r

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zugesprochen wird, weil er durch sein über das Mittlere hinausreichendes Eigenes mit der Normativität erst den Bezug dazu stiftet: jene Überpositivität, die i h m m i t einer fast normalen Unumgänglichkeit zugesprochen w i r d ; sie ist i m Ernst die Frage. Denn die Positivität hat, als Konsequenz des Geschichtlichen, die Selbstverständlichkeit für sich. Wenn nämlich das Recht schon geschichtlich gedacht wird, ist seine Setzung als Gesetz, gewohntes und geschriebenes, nur die äußerste Verwirklichung seiner Normativität und i n ein geschichtliches Naturrecht ohne weiteres einzubringen. Auch i n dieser schon vom spezifischen Zuschnitt des Wortteils -recht i m Begriff des Naturrechts mitbestimmten Eigenschaft des Naturrechts bekundet sich, daß die Sachproblematik aus der vorgreifenden Intuition dessen, was Natur meint, resultiert und m i t ihr gegeben ist. U m das Naturrecht zu verstehen, ist daher i n seine Sache, die der Logik vorausliegt, hinein zu denken. Das geschieht i n der Arbeit am Begriff der Natur, wenn er nur, dieser Begriff, nicht gesetzt wird, ehe er namentlich entgegengenommen wurde.

Erster

Teil

Der Begriff Natur D i e Spannweite des Wortes

Natur ist kein Terminus, der in einer wissenschaftlich präzisierten Fachsprache zur Verfügung stände. Deswegen erhält das Wort seine Bedeutung immer auch aus dem Zusammenhang, i n dem es vorkommt. So dient es dazu, einem geselligen, umgänglichen Menschen eine heitere Natur nachzusagen, wie es sich zum Bezeichnen des verbindenden Gegenstandes allen Naturwissenschaften vorfügen läßt. I m Gegensatz zur Zivilisation, K u l t u r oder Kunst hat Natur je einen anderen Klang von unberührt, noch roh oder gewachsen, und wo von der Zerstörung der Natur die Rede ist, folgt der Fluch auf die Technik hinterdrein. So ist es nur natürlich — und an dieser Stelle meint es nicht wie anderswo: unverkrampft, oder unbefangen, sondern soviel wie: weiter nicht verwunderlich, selbstverständlich —, daß dieses Wort Natur sich nur sehr schwer erfassen läßt, weil es alles andere als eindeutig ist. Die Biegsamkeit, i n der es dazu hinreicht, so etwas Hohes wie das Wesen Maria Theresias zu beschreiben, während es anderweitig den cruden Zustand Hobbesscher Menschen bezeichnet, tut der Fixierbarkeit des Begriffs Abbruch und disqualifiziert nahezu den Gebrauch dieses Worts, das m i t seiner Spannweite so nahe daran ist, alles und daher nichts zu sagen. Wo man das Wort Natur jedoch nicht zuerst unter der Rücksicht auf Genauigkeit und Präzision betrachtet, erweist sich die Elastizität darin als ein Vorzug, weil damit etwas sagbar wird, was m i t einem festgelegten Terminus noch nicht oder nur i n einer von ihm schon ausgesagten, also lediglich wiederholenden Weise gesagt werden kann. Denn i n eben dem Maß, wie die Terminologie die Genauigkeit dessen, wovon i n ihr die Rede ist, steigert, nimmt die Möglichkeit ab, einen i n ihr noch nicht enthaltenen Sachverhalt ins Wort zu fassen: dafür fehlen dann die Termini. Der Unterschied zwischen Sprache und Fachsprache, der darin besteht, daß, was i n dieser präziser, i n jener wirklichkeitsnäher zu sagen ist, hat zur Folge, daß entweder auf das Wort Natur oder auf seine streng präzise Definierbarkeit verzichtet werden muß. Da die lebendige Sprache die Metasprache jeder Terminologie, bis h i n zum logistischen Kalkül, ist, kann man sie zwar i m Hintergrund lassen und zu bestimmten Zwecken von ihr absehen, negieren kann man sie aber

Die Spannweite des Wortes

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n i c h t 1 . D e r V e r z i c h t a u f das W o r t N a t u r h ä t t e d a h e r g a r k e i n e n besond e r e n S i n n , w e i l d i e F o r d e r u n g nach e i n e r r e i n e n T e r m i n o l o g i e , i n der k e i n W o r t aus d e r Sprache m e h r v o r k o m m t , solange u t o p i s c h b l e i b t , w i e die Sprache noch n i c h t d u r c h e i n eindeutiges S y s t e m v o n Zeichen ersetzt i s t 2 . M i t d e r E l i m i n i e r u n g v o n N a t u r w ä r e also n i c h t v i e l gedient, w e n n n i c h t g l e i c h z e i t i g der C h a r a k t e r d e r Sprache preisgegeben u n d stattdessen e i n I n s t r u m e n t a r i u m d e r S e m a n t i k geschaffen w i r d . Das W o r t N a t u r i s t deswegen so z u n e h m e n , w i e es d i e Sprache d a r b i e t e t u n d der Sprechende gebraucht. F ü r d i e E i n b u ß e a n D e f i n i e r b a r k e i t entschädigt d a b e i v i e l l e i c h t d e r G e w i n n a n Sicht, die n u n a n d e n äußersten H o r i z o n t reicht. Daß dieser d a b e i n u r m e h r d u r c h u n d e u t l i c h e K o n t u r e n u n d n i c h t d u r c h scharfe K a n t e n b e g r e n z t b l e i b t , e r g i b t sich a m Rande. D e n n läge die B e s t i m m u n g des B e g r i f f s N a t u r so nahe, w i e es d i e F o r d e r u n g nach P r ä z i s i o n g l a u b e n m a c h e n w i l l , so w ä r e schnell eine D e f i n i t i o n als Z a u n e r r i c h t e t . A n l a ß genug, d o r t , w o d e f i n i e r t w i r d , etwas w i e d e r u m U n d e f i n i e r t e s i n d e r D e f i n i t i o n z u v e r m u t e n u n d z u entdecken. W e i l D e f i n i t i o n e n bestenfalls das T e r r a i n abstecken, aber k e i n e n B e g r i f f v e r m i t t e l n . D i e Absage a n die D e f i n i t i o n ist aber noch l a n g e k e i n V e r z i c h t a u f d e n B e g r i f f . B e g r i f f e h o l e n etwas ein, D e f i n i t i o n e n schließen a l l e r h a n d aus 3 . N a t u r b e g r e i f e n ist daher, sofern 1 C. F. v. Weizsäcker überliefert i n Die Tragweite der Wissenschaft, S t u t t gart 1964, einmal als Vergleich für die Wissenschaft, ein andermal für die Sprache herangezogen, eine Bemerkung von Niels Bohr, der auf einer S k i hütte seine Geschirrspülerei erstaunt kommentierte: „ M a n k a n n m i t schmutzigem Wasser und m i t einem schmutzigem Tuch schmutzige Gläser sauber machen!" 2 Dieses Ziel scheint unerreidibar. Die Anstrengungen der modernen L o g i k „haben das Ergebnis gezeitigt, daß die natürlichen Sprachen dem Prinzip der Eindeutigkeit nicht g e n ü g e n . . . " vgl. D. Horn, Rechtssprache u n d K o m m u n i kation, B e r l i n 1966, S. 158. 3 Die Unterscheidung zwischen Begriff u n d Definition soll einer methodisch naiven Sicherheit begegnen, aber dabei dennoch die Sache retten. M i t der Definition geht die Täuschung H a n d i n Hand, es sei n u n ein sicheres Fundament gewonnen, w e n n verschiedene andere Worte zur Abgrenzung u n d Festlegung herangezogen werden. Obwohl der Begriff darum auch nicht herumkommt, auf andere Begriffe bezogen zu werden, hat er den Glauben verloren, von dem die Definition lebt. Er ist dafür am Eigengehalt seiner Sache i n t e r essiert u n d nicht an der Ersetzung durch andere Begriffe; das, was gerade er bezeichnet, nicht andere Bezeichnungen stehen zur Debatte. Aber dies wiederum nicht i n einer phänomenologischen Wesensschau, die neue Sicherheit verbürgen würde, sondern, i n dem die Subjektivität des Sprechenden, des Begreifenden i n Rechnung gestellt w i r d , so daß die Relation von Begreifendem u n d Begriffenem n u r i n reflexiver Einheit durchlaufen u n d deswegen nicht verlassen werden kann. Was wiederum nicht besagt, der so verstandene Begriff sei zuletzt „der reine Begriff selbst", sei „nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtsein" (Hegel, Logik I I ed. Lasson, S. 220). Freilich gehört er i n diese Nähe, aber ohne sich i n die absolute Idee erheben zu können. Der Logos k a n n menschlich n u r analogisch sein. Bei Hegel geht es so zu: .„Begriff' und ,Sache4 ist der spannungshafte Grenzkreis. Als ,Sache' ist Logos ein solcher ,Begriff, i n dem die Sache selber ,sich einbegreift'. Das Sein (der

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Der Begriff N a t u r

es überhaupt geschehen kann, nur möglich, indem versucht wird, die ganze Spannweite des Wortes einzubeziehen und auf einen Begriff zu bringen, der zugleich umfassend und konzentriert ist, der von seiner Mitte her daraufhin ausgelegt bleibt, daß er ins Grenzenlose geht. Natur w i r d daher, als das uneingeschränkte Ganze der Natur i n deren Aufgifpelung, i m Menschen, ihr Zentrum haben müssen, u m sich von da auf das h i n eröffnen zu können, was den Menschen ausmacht und bestimmt. Damit sind die Linien angedeutet, auf denen, zurück zu seiner Herkunft, der Begriff Natur seine ontologische Dimension gewinnt. Diese Linien laufen vorwärts i n den Brennpunkt Mensch zusammen, um von da aus wieder ins Unbegrenzte fortzugehen.

,Sache') ist sein eigenes Offenbar-Sein (als ,Begriff') . . . Dem gegenüber steht Logos als ^Begriff'. H i e r i n ist er ein aktives ,Er-greifen' der ,Sache', u m sie i n Begreifen nach allen Seiten ,in den G r i f f zu bekommen'." Analogie aber ist n u r ein H i n a u f zu dieser Logik, kreatürliche Logik. Vgl. E. Przywara, A n a l o gia entis, 2. Auflage, Einsiedeln 1962, S. 102/103.

Erstes Kapitel

Der Begriff Natur — ontologisch I. Die wirkliche Natur 1. Natur: Welt ohne den Menschen

U m den Begriff Natur dort, wo er noch i n seiner unumwundenen Einfachheit gebraucht w i r d und als treuer Name seinen Gegenstand bezeichnet, verwahrt zu finden, genügt es, alltägliche Sachverhalte in Erinnerung zu rufen: den Spaziergang i m Park, die Tour ins Gebirge, den Aufenthalt am Meer. Auch wo die Hand des Menschen verändernd eingegriffen hat, ist das Wort noch am Platz. Es bezeichnet den Bereich von Umwelt, der sein Dasein und sein Fortbestehen nicht dem Menschen verdankt. Sogar französische Gärten blühen. Deutlicher und reiner aber heißt Natur, was dem Menschen noch nicht Untertan ist und ihn daher selten, aber doch, umfangen, beherrschen, erschrecken kann. Sieht man von der Sentimentalität ab, m i t der dieser Bereich gemeinhin überzuckert wird, u m i h n je mehr desto gründlicher zu verderben, so nennt das Wort Natur den Teil von Welt, der ohne und vor dem Menschen ist 4 . So schmal oder verfälscht heute auch die Beziehung zur Natur ist, es ist darin noch die Möglichkeit enthalten, den Sinn wie den Verstand auf eine Spur zu setzen, die sich i n den Dingen, die der Mensch nicht genau über der Natur und m i t ihr gebaut hat, schon längst verloren hat. Die Natur trägt, von ihrem Erhabensten bis zum Unscheinbarsten, einen deutlichen Verweis auf das Geheimnis ihres Daseins bei sich: den Menschen, der mit ihr lebte, bezog sie entweder schweigend ein i n ihren Rhythmus 5 , um ihn i n ihrem Kreisumschwung mitschwingen zu lassen, oder sie gab seinem Staunen Worte, i n der Meta-Physik. Denn Kommen und Gehen, Leben und Tod, Sein und Werden sind i n ihr augenschein4 N a t u r und K u n s t ist eine erste Unterscheidung, die durch den Rückbezug der K u n s t auf N a t u r allerdings fixierend g e w i r k t hat. H. Blumenberg, Nachahmung der Natur, i n Studium generale, 10. Jhrg. 1957, S. 266 - 283. 5 Die κυκλοφορία τέλειος des Aristoteles, de Coelo I I , 1 284 A 3, vgl. auch Metaph. 1072 a 21.

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

lieh. Dort, wo Natur sich zeigt und gesehen wird, hebt daher die Frage nach dem Sein 6 an. Die Natur ist deswegen der ursprüngliche Zugang zur Ontologie. Ontologie der Natur ist das Fragen nach dem Sein der Natur; Ontologie der Natur ist der Einsatzort für Ontologie schlechthin, und von daher, wie die Ontologie Natur mit in ihre abgründige Seinsdifferenz hineinreißt, gewinnt auch Natur erst die volle Dimension ihres Begriffes. I m Verlauf der ontologischen Erschließung von Natur kann sich erst zeigen, wie die ontologischen Aussagen selbst zu einer Fassung des Naturbegriffes beitragen, i n der er wiederum ihnen gleitend entspricht, weil er zugleich mit der ontologischen Formung i n seiner begrifflichen Komplexität zunimmt. Von Natur als Landschaft, von Bäumen und Tieren (in ihrer Gemeinsamkeit), formt er sich zur Natur einer Pflanze und damit bis zu einem Naturbegriff synonym zu Wesen, Wesen des Lebendigen, auch der Pflanze auch des Menschen, zu einem Begriff, der nur mehr i m Blick auf das Sein dieses Wesens vor einer Veressentialisierung zu bewahren ist. Dann jedoch, sobald Natur von ihrem konkret vereinzelten Gegenstand, einem Stein oder einer Blume her, nach dem Sein, mit dem sie ist, befragt wird, gerät der Begriff von ihr wieder i n Bewegung. Die Ontologie w i r d daher den inneren Duktus des Naturbegriffs, mit dem er auf den Menschen übergeht, um auch von ihm noch ausgesagt werden zu können, genuin zu erhellen haben. Zwar könnte die Ontologie auch neuzeitlich mit ihrem Subjekt als Gegenstand angesetzt und dann unter der Rücksicht der Natur, w i l l sagen vom Wesen des Menschen zum Naturbegriff insgesamt aufgeschlossen werden — was methodisch den Vorteil hätte, sie zugleich mit der Erkenntnistheorie als ihrer logischen Entsprechung zusammensehen zu können — aber das würde, abgesehen davon, daß das Erkennen leicht den Primat übernimmt und das Sein verdeckt oder mindestens außer Acht läßt, verhindern, den Naturbegriff i n seinem Sinn von φύσις mehr als methodisch, aber kaum faktisch und noch weniger geschichtlich verständlich zu machen. Es ist daher trotz des heutigen Verlusts an Anschauung bei einer Natur zu beginnen, die nichts weiter als Welt ohne Menschen besagt. 2. Natur konkret, in ihrem Bild

Es ist fast schon eine Verunglimpfung des Naturbegriffs, ihn dort, wo er noch derart unmittelbar mit seiner Anschauung übereinkommt, β Heidegger weist darauf hin, daß das „Gefüge der jeweiligen Wahrheit über das Seiende i m Ganzen, Metaphysik bereits i n einem ganz wesentlichen Sinne Physik ist, d. h. ein Wissen von der φύσις." V o m Wissen und Begriff der Physis, jetzt i n Wegmarken, F r a n k f u r t 1967, S. 309 - 371, S. 311.

I. Die wirkliche N a t u r

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durch diese Scheidung gegen den Menschen als Welt ohne Menschen umreißen zu müssen. Welt ist Natur nämlich immer schon, als das, was dem Menschen offen steht und zu welcher er sich als einer gegenüberliegenden Umgebung verhält, ganz gleich, ob er sie beherrscht oder i n Frömmigkeit umfängt. Aber sie ist damit nur ausschließend, leer und nicht gefüllt zu fassen: eine Phänomenologie müßte dem Wort daher zuerst wieder soviel Bildkraft geben, daß die Ontologie seines Gegenstandes ohne Not daran heraustritt. Wind, Blume und Licht, Gebirge, Wasser, Land und Flug der Vögel, das ist die Natur konkret. I h r Gemeinsames i n alledem ist davon abgezogen und doch nicht davon zu trennen, denn es realisiert sich immer i m Einzelnen. Die Sinnlichkeit, i n der es aufgenommen wird, kann nur am Einzelnen Nahrung haben, weswegen die Anschauung auch immer aus der Mannigfaltigkeit lebt, i n die sie der Sinn vordrängt. Aber das Konkrete der Natur ist als Gemeinsames für den Sinn noch beisammen, es steht als Gewachsenes und noch nicht vom Verstand i n seine Teile zertrennt vor ihm. Das Gemeinsame, das i m Wort Natur allem, was unter ihr konkret verstanden ist, zugesprochen wird, ist deshalb nur zu sehen, wenn es i n der ständigen Hinsicht auf dieses Individuelle mit der jeweils darin zum Ausdruck kommenden Anschaulichkeit verknüpft bleibt. Daher kann das, was die Natur erscheinen läßt, auch von dem, was sie i m einzelnen darstellt, am ehesten abgelesen werden 7 . Wachstum und Veränderung, die sich i n der Natur ereignen, ohne daß die Kontinuität ihrer Gestalt mehr als wandelnd verändert würde, sind nämlich erst an ihrem Konkretum, an dieser Birke da, an jenem K i n d dort, einzusehen. Es hat wenig Sinn, Sinnlichkeit, sich den Wandel der Natur außerhalb ihres Bildes abstrakt denken zu wollen. Die Einsicht lebt vom Bild, denn das, was zu sehen ist, ist i m Bilde, und lediglich in ihm sichtbar: Die Frucht ist da, Samen zu sein, der Samen geht, wenn er auf guten Boden fällt, auf und i n die junge Pflanze über, die vielleicht zum Baum heranwächst, Knospen, Blätter, Blüten treibt, aus denen wieder Früchte reifen, die den Samen geben. Ständiger Wandel, i m Kreis, i n sich wandelnder Gestalt, immer so, daß die vorher7 Die Biologen wissen das. A u f die Fruchtbarkeit „des intensiven W i r k e n lassens der lebendigen Naturgebilde, i n denen das Weben des unbewußten Lebens besonders reich u n d groß vor uns ist", auch f ü r die naturwissenschaftliche Arbeit, hat A. Portmann oft aufmerksam gemacht, vgl. Biologie und Geist, Zürich 1956, zit. nach Ausgabe F r a n k f u r t 1968, S. 91. I n »Welterleben u n d Weltwissen', München 1964, S. 42 sagt Portmann: „Es fällt m i r schwer, diese Naturkunde u n d die Bedeutung der primären Weltbeziehung zu begründen, ohne die lebendigen Gestalten zum Auge sprechen zu lassen." — K . Lorenz hat i n seiner Abhandlung „Gestaltwahrnehmung als Quelle w i s senschaftlicher Erkenntnis" (1959), jetzt i n : Z u m W e l t b i l d des Verhaltensforschers, München 1968, gezeigt, wie die Erkenntnisleistungen des v o r w i s senschaftlichen Menschens jede wissenschaftliche Erkenntnis tragen.

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

gehende die folgende gründet und ermächtigt, nie vorwegnehmend, immer andeutend. Dies aber i n einem rhythmischen Wechsel, so daß sich darin, i n seinem Auf und Nieder Gezeiten, Jahreszeiten, einstellen, die ihrerseits für sich den Kreislauf der Natur zum Ring haben. I n diesem Bild, das „ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen überdem noch i n grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer" (Kant) 8 sich weitet, zeigt die Natur ihre stetige Wandlung, i n der das gleiche i m rhythmischen Kreisumschwung immer wiederkehrt, wo wachsende Formen aus der Verdichtung zur Gestalt, i n der sie sich für eine Spanne runden, wieder auseinandergleiten und mit dem Ende zurück i n den Ursprung münden. Der Lauf von Leben und Tod, der Rhythmus von Kommen und Vergehen durchwirken die Natur so sehr, daß sie zu ihrem Gesetz werden, an dem sich ihr alles umgreifender Umfang ausmißt und worin sie alles sich unterwirft. Die Wiederkehr aber ist nur der Kreis 9 , der dem Dasein der Natur die Dauer stiftet, und dieses ist deswegen nicht minder der Anlaß zur Frage als jene Rundung von Anfang und Ende. Denn die Dauer ist eine Beständigkeit von Gnaden der Wiederholung 1 0 , wie die Wiederholung einzig auf Dauer sich richtet. Alles, was ist, war nur als sein eigenes Vorgängiges und w i r d nur sein, indem es sein eigenes Nachfolgendes wird. 3. Natur im Dasein

Die aus diesem irdischen Kreislauf sich losringende Frage betrifft daher das Dasein der Natur, wie es ist, wohin es reicht, woher es stammt. Das aber ist zugleich der Ort, von dem aus der Weg i n die Ontologie führt, i n der sich die Natur i n ihrem Sein als i n die Zweideutigkeit zwischen Abgrund des Nichts, Abgrund göttlichen Ursprungs zurückreichend erweist. Denn i n das Seiende, das die Natur ist, reicht der Abgrund derart hinein, daß ihr Sein i h n nur immer umbaut und ihn noch dort, wo es trägt, nie ganz schließt, sondern nur überbrückt, weil auch die Substanz transzendental konstituiert ist. 8

Kant, K r i t i k der prakt. Vernunft, ed. Weischedel B d I V , S. 300 (A 289, 290). Der kosmische Grundrhythmus ergibt, seines archaisch-religiösen Gehalts v o m Kosmosj ä h r entleert, den ,Mythos der ewigen Wiederkehr' (vgl. dazu das gleichnamige Buch von M. Eliade, Düsseldorf 1953) u n d die zyklische Zeitvorstellung, die erst jüdisch-christlich zur Geschichte h i n durchbrochen w i r d , vgl. a.a.O., S. 149 ff., 210. 10 Die ersten Seiten von Kierkegaards »Wiederholung 4 („Die Wiederholung, sie ist die W i r k l i c h k e i t u n d des Daseins Ernst", übersetzt von E. Hirsch, Düsseldorf 1955, S. 5) machen den Verdacht zunichte, diese Kategorie sei die Stilisierung der Banalität. 9

I. Die wirkliche N a t u r

a) Dasein als Konkretum

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des Naturbegriffs

Es ist allerdings möglich, Natur auch ohne diesen Hinblick auf ihre konkrete Wirklichkeit und also auf ihr Dasein, sofort als irgendein spezielles Wissenschaftsobjekt, zu nehmen; aber dann erleidet der Naturbegriff genau jene unglückliche Fixierung, i n der er zur Hülse einer Definition wird, mit der man Fragen zustülpen und Bewegung verhindern kann. Das an der Natur, daß sie nämlich da ist und nicht nicht da ist 1 1 , w o r i n vom äußersten Rand her i m Selbstverständlichen das Wunder anhebt, führt jedoch, wo es nicht unterschlagen wird, zu einer Frageintensität, der nur die Ontologie als die A n t w o r t über das Sein dieses Seienden gewachsen ist. W i r d die Natur daher nicht von ihrer augenscheinlichsten, aber deswegen so leicht zu übersehenden Bestimmung her angegangen, so erschließt sich ihr Begriff i n Wirklichkeit nie 1 2 , auch wo er noch so detailliert und gewissenhaft i n alle möglichen Inhalte auseinandergenommen und zergliedert wird. Das Dasein der Natur ist nicht lediglich eine Zutat zu ihrem Begriff, sondern dessen Konkretum selbst, aus dem seine Legitimität stammt. I m Unterschied zu andern Begriffen, denen i m Vorkommen ihres Gegenstandes nur eine empirische Bestätigung angehängt w i r d und die auf diese Weise, je mehr sie es verleugnen wollen, nur u m so deutlicher dokumentieren, daß sie einer statistischen Empirie induktiv abgezogen sind, hat der Begriff Natur noch deren Dasein bei sich, nicht zuletzt deshalb, weil das Dasein als Kategorie nur auf dem Hintergrund seiner allererstaunlichsten Exemplifikation, i n der Natur, sichtbar bleibt. Die Natur drängt dem Denken, bevor sie es dazu veranlaßt, ihr noch andere Begriffselemente abzufragen, zu allererst ihr Dasein auf, so sehr ist sie noch darin verflüssigt und damit verbunden. So w i r d das Dasein zur dominierenden Bestimmung von Natur, durch die deren Verfassung 11 F ü r Heidegger ist das die Grundfrage der Metaphysik: W a r u m ist überhaupt Seiendes u n d nicht vielmehr Nichts? Vgl. Was ist Metaphysik, jetzt i n Wegmarken, F r a n k f u r t 1967, S. 79. 12 I n der Naturwissenschaft w i r d von der sinnlich-wirklichen Welt abstrahiert. Das Bestreben des Physikers ζ. B. ist darauf gerichtet „ a n der v e r w i r renden Kompliziertheit des Phänomens einfache Vorgänge herauszuschälen. Aber was ist einfach? Seit Galilei u n d Newton lautet die A n t w o r t : Einfach ist ein Vorgang, dessen gesetzmäßiger A b l a u f quantitativ, i n den Einzelheiten, mathematisch ohne Schwierigkeiten dargestellt werden kann. Der einfache Vorgang ist also nicht jener, den uns die N a t u r unmittelbar darbietet, sondern der Physiker muß durch manchmal recht komplizierte Apparate das bunte Gemisch der Phänomene erst trennen, das Wichtige von allem unnötigen Beiwerk reinigen, bis der eine, einfache Vorgang allein u n d deutlich hervort r i t t , so daß man eben von allen Nebenerscheinungen absehen, das heißt, abstrahieren kann. Das ist eine F o r m der Abstraktion, u n d Goethe meint dazu, daß man damit eigentlich schon die N a t u r selbst vertrieben habe". (W. Heisenberg, Goethes N a t u r b i l d u n d die technische Welt, zitiert nach Frankfurter Allgemeine v o m 23. M a i 1967, Nr. 117, S. 13).

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

rundum gekennzeichnet ist. Deswegen ist diese Bestimmung noch ganz der Natur innerlich, sie ist mit ihr i n dem Sinn identisch, daß sie die Natur ist, insofern sie da ist. Von der Natur das Dasein auszusagen, zielt daher darauf ab, die ungeschiedene Einheit von Natur als Dasein, damit deren Wirklichkeit: Natur i m Dasein nicht aus dem Begriff fallen zu lassen. (Wo der Begriff seinen Gegenstand außer dem Dasein nimmt, versperrt er sich den Zugang zur Geschichte und w i r d starr.) Das Dasein ist daher der eigentliche Ansatzpunkt, um die Wahrheit dessen, was Natur benannt wird, zu erreichen. Die Einheit von Natur und Dasein resultiert aus der Wirklichkeit, i n der sie beide übereingekommen sind und einander gegenseitig bedingen. Das Dasein ist i n Wirklichkeit Dasein der Natur, weil die Natur Dasein hat. Die Natur ist da, weil das Dasein naturhaft ist. Die Verschmelzung ist so innig, daß jede weitere Kennzeichnung der Natur eine Bestimmung des Daseins, eine Aussage über das Dasein auch eine über die Natur ist. Denn das Dasein ist die Wirklichkeit der Natur, wie die Natur die Möglichkeit zum Dasein ist. Die Unterscheidbarkeit von Dasein und Natur ist zwar darin begründet, daß sie zusammen (gekommen) sind 1 3 , aber wirklich ist nur die Einheit beider und deswegen muß der Naturbegriff von diesem Ort her erörtert werden. Da die Natur i n einer ganz elementaren Weise mit ihrem Dasein eins ist — sie ist ja dort draußen fast noch ein B i l d und kein Begriff — und nicht nur so aus Wesen und Existenz zusammengekuppelt ist wie beispielsweise Stuhl oder Tisch, ist es verwunderlich, daß ihr die ontologische Dimension hat geraubt werden könne. Sie muß aber wieder erschlossen werden, wenn der Begriff i n seine ursprünglichen Maße zurückfinden soll. Von dem Zeug, mit dem sich der Mensch umgibt, läßt sich sagen, warum es da ist. Es dient irgend einem vordergründigen oder auch respektablen Bedürfnis, erfüllt diese oder jene Funktion und ist daher zu einem ganz bestimmten Zweck hergestellt; daß der Zweck i m letzten nicht ernst genommen wird, wie i m Spiel, oder auf die Dauer nicht bestimmend bleibt, kraft der Umkehrung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Mensch und Ding, ändert nichts daran, daß sich dennoch sagen läßt, wozu die Dinge da sind. Nicht so mit der Natur. Sie ist da, ohne einen Grund zu haben. Bis i n die sprachliche Wendung hinein manifestiert sich damit, wohin die Ontologie am Ende führt: die Natur ist grundlos. Ihrem Dasein nachfragend, ergibt sich das auf einem längeren Weg. 13 Die Zusammensetzung von Dasein u n d Sosein bei den machbaren Dingen ist anders als bei der N a t u r : Sogar „Mensch" ist noch abstrakt zu denken, ohne das Dasein; aber N a t u r nicht, dazu ist sie zu schwebend i m Wechsel der Formen, zu diffus i m Eindruck der Bilder.

I. Die wirkliche N a t u r

33

b) Dasein in der Ursprünglichkeit Das Dasein der Natur ist, i m Unterschied zu all den anderen Dingen, die auch da sind, nicht i m Umweg über den Menschen zu erklären. Alles andere, was Dasein hat, ist i n seiner Form — und anders wäre es nicht da! — dem Menschen verdankt. Sogar dort, wo der Mensch die Zweckfreiheit der Natur i n dem, was er macht, wieder durchbrechen läßt, i n der Kunst, entstehen Werke, die geschaffen sind und ihr Dasein nicht ursprünglich, sondern vom Menschen empfangen haben 14 . Nur die Natur ist i n dieser Ursprünglichkeit da. I h r Anfang ist daher rätselhaft, U r sprünglichkeit erklärt und verschweigt i h n zugleich, weil sie auf die Herkunft hinweist, aber nur bis i n den reinen Anfang zurückgelangt 15 . Das Dasein der Natur ist auf diese Weise anders da, als es die Dinge sind, die alle hergestellt und infolgedessen geheimnislos sind. Es ist ursprünglich, weil es plötzlich, unerklärlich da ist. So w i r d Natur durch ihr Dasein zu einem Rätsel; mit der Bestimmung von Geburt, des Geborenwerdens (nasci) ist sie noch am ehesten benannt, w e i l damit das Dasein ausgesagt wird. Der Vorgang des Entstehens und sein Resultat kommen dabei zum Ausdruck, die Herkunft jedoch bleibt außer Betracht. Die Ursprünglichkeit, die dem Dasein der Natur eignet, zeichnet auch die Natur aus, sie kommt der Natur als dem, was da ist, ebenso zu wie dem Dasein dieser Natur. Dabei verschwindet der Unterschied zwischen Natur und ihrem Dasein, das eine ist das andere. Ursprünglichkeit greift auf den Punkt zurück, wo etwas zum Durchbruch kommt. Hinter diesem Punkt ist noch nichts da, diesseits davon ist dann etwas da. Daß es da ist, ist noch untrennbar davon, wie es da ist: i n statu nascendi ist Dasein und Sosein noch ungeschieden beisammen. Die Scheidung von Existenz und Essenz, von Dasein und Sosein, w i r d der Natur nachträglich angetan. Freilich ist es möglich, ihr Dasein allein zu denken, ihr Sosein vom Dasein zu abstrahieren. A n dieser Abstraktion zeigt es sich jedoch schon, daß diese erste Zerlegung, die dem Denken nottut, bei der Natur i n einer seltsamen Aporie endet. Die Zerlegung i n ein Wesen und das Dasein dieses Wesens, wie sie bei anderen Gegenständen so mühelos geschehen kann, scheitert hier, weil mit der Scheidung erst das Wesen gewonnen werden soll. Dort, wo i n der Tat säuberlich getrennt wird, ist Natur jedesmal ihrem Wesen nach schon 14 Vgl. dazu K . Ulmer, Wahrheit, K u n s t u n d N a t u r bei Aristoteles, T ü b i n gen 1953, S. 172 ff. 15 Ursprünglichkeit soll an die Genesis so gemahnen, daß die Entscheidung, ob aus dem Nichts etwas oder ein Etwas aus einem anderen w i r d , zugunsten der ersten Alternative nahegelegt w i r d (vgl. Metaph. 1067 b, 20), aber ohne dabei dogmatisch an einen P u n k t zu kommen, von dem, jenseits des Anfangs, auf Sein u n d Nichts sofort differenzierend hingeblickt werden könnte.

3 Zacher

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1. Kapitel: Der Begriff Natur-ontologisch

in dieser oder jener bestimmten Weise vorgefaßt. Natur ist kein Gegenstand, der sich regelrecht abstrahieren läßt wie der gedachte Stuhl oder die Vorstellung: Baum. Dazu ist noch zu wenig Form i n ihr. Wenn ein vorgefaßtes Wesen von Natur nicht schon eingeschmuggelt w i r d und trotzdem zwischen ihrer Existenz und Essenz unterschieden werden soll, kostet der Trennungsschnitt i n jedem Fall dem Begriff das Leben. Ohne Dasein ist Natur ein dünner, zerfließender, „wesenloser Bilderbogen, ohne Natur ist das Dasein selbst eine irreale Fiktion 1 6 . Denn i m Dasein hat die Natur ihren Bestand und i n der Natur ist das Dasein erst da. Der Begriff der Natur ist deswegen allein i n der ungeschiedenen Einheit der daseienden Natur zu ergreifen. II. Die Natur als Seiendes Indem die Natur i n ihrem Dasein und daher als ein Seiendes genommen wird, besteht die Hoffnung, sie i n ihrer konkreten Wirklichkeit zu errreichen. Denn nur das Seiende ist wirklich da. Aber was ist das — das Seiende? Das Seiende ist dasjenige, das i m Sein ist, das Sein hat. Und was heißt das? Ist von dieser Drehung i m Kreis herum, von dieser Selbstverständlichkeit aus, etwas für den Begriff der Natur zu gewinnen? Das muß sich zeigen. Jedenfalls kann das Unterfangen, das Seiende fragwürdig zu machen, der Anfang eines Fragens sein, das, i m Maße, als es die Selbstverständlichkeit aufhebt, deren innere Berechtigung ausmißt und erst reflex verständlich macht. Die Frage nach dem Sein des Seienden bringt diese Selbstverständlichkeit, daß etwas ist, erst zu sich selbst; sie kehrt sie gegen das vorläufige Einverständnis und kommt so dem Verstehen erst auf die Spur. 16 Natur u n d Dasein lassen sich nicht von ungefähr jeweils i m anderen auslegen; Dasein als N a t u r ; N a t u r als Dasein. Das ist mehr als ein Spiel m i t Worten. Hier wiederholt sich die Gegensätzlichkeit, m i t der Aristoteles, die φύσις als eine A r t der ουσία, u n d die ουσία als so etwas wie φύσις verstanden hat. I n seiner großen Abhandlung „ V o m Wesen u n d Begriff der Physis" (jetzt i n Wegmarken, F r a n k f u r t 1967, S. 309 - 371) hat Heidegger aus der aristotelischen Bestimmung, die ουσία sei φύσις τις, den Anfang der abendländischen Philosophie herausgehört. „ I n diesem Anfang w i r d das Sein als φύσις gedacht dergestalt, daß die von Aristoteles i n den Wesensbegriff gebrachte φύσις selbst nur ein A b k ö m m l i n g der anfänglichen φύσις sein k a n n (S. 370)." V i e l leicht ist heute, wo diese anfängliche Drehung noch nicht wieder oder nicht mehr zu gewinnen ist, u m überhaupt noch zur Natur zurückzukommen, schon etwas damit getan, die N a t u r ontologisch ernst zu nehmen. Die Ontologie i n eine (wahrhafte) „Physiologie" zu transformieren, erforderte eine zweite Naivität, die sich nicht machen läßt. Heideggers Verzicht, „das Sein als das u n d das festzulegen" (vgl. W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 1957, S. 113) könnte eine Chance sein, sich für dieses Unmachbare zu disponieren.

I I . Die N a t u r als Seiendes

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1. Das Sein des Seienden I n d e r F r a g e nach d e m S e i n des S e i e n d e n 1 7 i s t nach d e m j e n i g e n i m oder a m Seienden, k r a f t dessen es ist, gefragt. W i e u n d w a s ist das Seiende, i n s o f e r n es ist? Das, w o d u r c h u n d m i t d e m etwas, w a s ist, eben ist — das i s t e r f r a g t . a) Differenz

und Identität

von Sein und

Seiendem

Das, w a s ist, das Seiende, h a t Sein. Das S e i n m a c h t das Seiende, i n s o f e r n es ist, aus, w e i l dieses i n j e n e m seinen G r u n d h a t . Das S e i n i s t d a h e r i n gewisser Weise das Seiende, o h n e daß das Seiende das S e i n w ä r e . E i n Seiendes, e i n B a u m ζ. B., h a t S e i n u n d i s t n u r k r a f t dieses Seins. Das S e i n ist d a h e r i n gewisser Weise d e r B a u m , es ist sogar als B a u m , aber es i s t n i c h t n u r d e r B a u m , s o n d e r n es ist ebenso ü b e r i h n hinaus u n d i n den anderen Dingen. D i e S c h w i e r i g k e i t , d i e dieses R e d e n ü b e r das S e i n u n d das Seiende d e m W o r t nach m a c h t , k a n n als sprachliche V e r a n s c h a u l i c h u n g des ontologischen A n f a n g s h e r h a l t e n : Das, w a s ist, w i r d m i t seinem s u b s t a n t i v i s c h e n I n f i n i t i v a u f sein S e i n g e g r ü n d e t , o h n e daß d a b e i das Seiende, i m p a r t i z i p i a l e n Gebrauch, d a s j e n i g e also, v o n d e m m a n sagt, daß es ist, m e h r als t a u t o l o g i s c h v e r d o p p e l t w e r d e n k ö n n t e . Das S e i n des Seienden, das l ä u f t a u f eine T a u t o l o g i e h i n a u s 1 8 , aber i n i h r , das ist das B e m e r k e n s w e r t e , i s t d i e U n t e r s c h i e d e n h e i t ebenso w i e die S e l b i g k e i t v o n S e i n u n d S e i e n d e m i n s W o r t gefaßt. 17 Daß „das Problem i n der F o r m der Frage ,was ist das Seiende? 4 aufgeworfen" werden dürfte oder gar noch so, daß „ z u m Seienden das weitere Monstrum »Sein4 hinzuerfunden" w i r d , haben die Neopositivisten verboten. Vgl. W. Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, B e r l i n 21969, S. 134. Das sprachkritische Verfahren, das dabei angewandt w i r d , hat zwar streckenweise die L o g i k ganz auf seiner Seite; aber der grobe Raster aus L o g i k u n d empirischer Verifikation erfaßt entscheidende Qualitäten der Sprache nicht: Stil, Metapher, die ganze K u l t u r i m Zustand sprachlicher T r a d i t i o n fällt durch i h n hindurch. W a r u m also soll nicht v o m Sein des Seienden die Rede sein dürfen? Das dabei ein regressus i n i n f i n i t u m drohe (wie Stegmüler meint, a.a.O.), k a n n für die ontologische Differenz nicht moniert werden. Sie b r i n g t eine Differenz zum Vorschein, die, falls sie ernst genommen w i r d , eine beliebige Fortsetzung z u m Sein des Seins des Seienden usw. nicht n u r nicht nahelegt, sondern verhindert. Es ist ähnlich, w i e bei der Reflexion i m Denken. Das Denken des Denkens, die Reflexion, k a n n auch nicht i n beliebigen Iterationen weiter aufgetürmt werden, zu einem Denken des Denkens des Denkens usw., obwohl grammatisch nichts dagegen spricht. W e r nicht einhalten mag, nach der ersten Doppelung, ignoriert, daß damit das entscheidende bereits i n Sicht gekommen ist. Er verfällt den beirrenden Möglichkeiten des Sprechens, obwohl er sich als Blindenführer wähnt. 18 Die Tautologie bahnt einen Weg zur ontologischen Differenz; denn i n i h r gelingt es, die Auslegung des Seins als Substanz zunächst einmal zu umgehen u n d an einem P u n k t v o r oder über der aristotelischen Ontologie anzusetzen. Das bedeutet: Die Substanz läßt sich offen halten, während f ü r Aristoteles

3*

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

Wenn die Rede vom Sein des Seienden nicht barer Unsinn ist, sondern einen guten Sinn hat — und das hat sie einfach deswegen, weil damit nur die Frage nach dem Seienden, insofern es ist, auf einen bündigen Ausdruck gebracht ist — muß aus ihr, da die Ontologie darin zusammengeballt ist, auch zu entwickeln sein, wie die Ontologie i n Gang kommt. Das Sein ist diejenige Bestimmung des Seienden, die es als es selbst ausmacht 19 . Um sie ganz aussagen zu können, gibt es daher nur die eine Möglichkeit, das, was das Seiende ist, m i t i h m selbst auszusagen. Die Frage nach dem Sein des Seienden ist daher i n sich zugleich die ganze Antwort, weil ihr als A n t w o r t nur die Tautologie korrespondiert. Zwar ist die A n t w o r t auf die Frage nach dem Sein des Seienden, die wiederum Sein heißt, erst incohativ und anbahnend gegeben, wenn sie das erste M a l laut w i r d ; dennoch ist es die ganze Antwort. I n der Frage: „was ist das — das Sein des Seienden?" und gleichfalls i n der A n t w o r t darauf: „Das Sein des Seienden — das ist (eben) das Sein", ist schon alles gesagt. Ohne daß schon ein Versuch der Klärung unternommen werden müßte, was Sein und Seiendes denn sind, kann einfach einmal festgehalten werden, daß sie als Sein und Seiendes gegeneinander und damit auseinander treten. I n ihrem Verhältnis werden sie nicht zum wenigsten selbst deutlich werden. Das Sein also ist ein anderes gegenüber dem Seienden, während das Seiende ebenfalls die Beziehung der A n dersartigkeit dem Sein gegenüber aufweist 2 0 . Über die Struktur der das Sein doch zuletzt i n die erste Kategorie, i n die Substanz hinein verschlossen w i r d . Denn bei Aristoteles ist es die Substanz, „die vornehmlich seiend ist, die nicht bloß etwas ist, sondern schlechthin ist". Vgl. F. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Freiburg 1862, S. 219. Hegel hat i n der L o g i k angeprangert, daß m i t der Tautologie nichts gesagt ist, n u r langweiliges Wiederkäuen findet statt (vgl. Logik, ed. Lasson 1934, I I . Bd., S. 30) u n d i n der Enzyklopädie von 1830, § 115, heißt es, daß dieses Sprechen m i t vollem Recht f ü r albern gelte. — Wittgenstein nennt die Tautologie nichtssagend. Sie habe keine Wahrheitsbedingungen u n d sei bedingungslos wahr. Daher ist die Tautologie sinnlos. Aber er fügt hinzu, sie sei nicht unsinnig (vgl. Tractatus 4.461; 4.4611). Ob die Tautologie verachtet oder bewundert w i r d , hängt zuletzt nicht an ihr. M i t dem Wittgenstein des Tractatus ist indes auch die A u f w e r t u n g zu schaffen; denn zwar 5.142: „Die Tautologie folgt aus allen Sätzen: sie sagt Nichts" u n d 6.1: „Die Sätze der L o g i k sind Tautologien", aber 6.13: „Die L o g i k ist transcendental", das bedeutet soviel wie unaussprechlich (vgl. 6.421) u n d auf diesen Wegen ist „das Mystische" (vgl. 6.522) nicht mehr fern. 19 Hier ist die Relation höher angesetzt als i n der ausgebauten aristotelischen Ontologie. Das Seiende, wie es Aristoteles versteht, ist ein „Etwas v o m Etwas" u n d damit von seinen Beziehungen her Bestimmtes. Vgl. E. T u gendhat, Τ ι κατα τίν ος Freiburg/München 1958. 20 A n die Bedeutungen des Seienden anzuknüpfen, die Aristoteles Metaph. 1026, 933, 1028 a 10, 1089 a 7 unterscheidet (das Seiende gemäß dem Akzidentellen, dem Wahr-Falschen, nach den A r t e n der Kategorien u n d nach Möglichkeit-Wirklichkeit) hätte den Nachteil, gewisse ontologische Grundbegriffe selbstverständlich gebrauchen zu müssen.

I I . Die N a t u r als Seiendes

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Relation ist dabei nichts präjudiziert, es ist lediglich ausgemacht, daß eine Relation besteht, weil eins gegen das andere tritt. Sein und Seiendes unterscheiden sich, sie sind different. I m gleichen Atemzug muß festgehalten werden, daß das Sein und das Seiende — lediglich eine Tautologie! — dasselbe ist. Das Wort „Sein" wiederholt nur das Wort „seiend" i m Infinitiv. Sein und seiend sind, wie stehen und stehend und haben und habend Wortformen ein- und desselben Worts. Sein besagt daher soviel wie seiend, nur auf eine reine, diesem Seiend-sein zugekehrte Weise. Genauso, wie das Wort „Leben" das Prinzip des Lebenden, sein „Lebendig-sein" benennt und daher dasselbe sagt, ist das Wort „Sein" lediglich eine versubstantivierte Wiederholung von „seiend". Sein und seiend sagen daher auch dasselbe, sie sind identisch. Das Sein und das Seiende sind different, das Sein und das Seiende sind identisch. Beide Aussagen sind richtig. Aber ihre Wahrheit besteht darin, daß sie sich nur zusammen und miteinander als wahr erweisen können. Wachsen sie nicht i n der sie beide einigenden Strukturform zusammen, so sprengen sie nicht nur die Ontologie, sondern auch die Logik, obwohl gerade ihre Versöhnung, da sie sich auszuschließen scheinen, wie ein Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch aussieht. Sein und Seiendes sind entweder different ( = unterschieden) oder sie sind identisch (=selbig), so w i l l es scheinen, weil ja, wie es der Satz vom Widerspruch sagt 21 , nicht ein- und dasselbe zur gleichen Zeit und unter der gleichen Rücksicht (wahr) sein und nicht (wahr) sein kann. Aber statt daß hier der Widerspruchssatz verletzt wird, wie es auf den ersten Blick anmuten mag, erweist er sich gerade nur dann als gewahrt, wenn beide Behauptungen miteinander gehalten werden 2 2 . Mehr noch: Er w i r d der Angelpunkt, an dem das einzig mögliche Verhältnis von Identität und Differenz hängt, der Angelpunkt, i n dem diese Spannungseinheit folgerichtig schwingt. Denn die Differenz zwischen Sein und Seienden ist allein ebenso unhaltbar wie die Identität allein. Daß die Verklammerung von Identität und Differenz dem Widerspruchssatz nicht widerspricht, hat seinen Grund darin, daß nicht einem Subjekt zugleich ein Prädikat zugesprochen und abgesprochen wird, sondern daß ein Verhältnis unter zwei Bewegungs- und Blickrichtungen erfaßt wird. Die vermeintliche Widersprüchlichkeit ist nur dort zu konstatie-

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Vgl. Metaph. 2005 b 20 ff. I m folgenden soll daher nichts „bewiesen" werden, n u r ein paar Unmöglichkeitskonsequenzen nach der einen wie der anderen Seite sollen sichtbar gemacht werden. Das Verfahren ist deswegen selbst negativ, eine „ W i d e r legung", wie sie Aristoteles v o m Beweis unterscheidet. Metaph. 1006 a 15. 22

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

ren, wo die Identität m i t Gleichheit verwechselt 23 und nicht mehr als Einheit m i t sich selbst, als die Tautologie von Subjekt und Prädikat verstanden wird. Begreift man, daß die Identität nicht Gleichheit 2 4 ist, so t r i t t sie nicht kontradiktorisch gegen die Differenz, und der Anschein, Identität und Differenz schlössen sich aus, schwindet. Dagegen widerspricht die Differenz, totalgenommen und ohne von der Identität innerlich gebändigt oder gehalten zu sein, dem Widerspruchssatz, wie die Identität ihrerseits, totalgenommen und ohne i n der Differenz zerspannt zu sein, widersprüchlich wird. Der Widerspruchssatz selbst dagegen w i r d die Form, i n der Identität und Differenz einander notwendig verklammert sind, er birgt den Erweis ihrer gegenseitigen Ergänzungsbedürftigkeit. Er ist aber auch die einzige und letzte Form — und zwar eine negative Form —, mit der die Spannungseinheit dargetan werden kann, so daß sie i m letzten nur so zu fassen ist: Identität und Differenz können nicht nicht verbunden, können nicht unverbunden (zu denken) sein. (Ob und wie sie positiv zu fassen ist, diese Beziehung, das ist ein Kapitel der Spekulation, bei dem Hegel und die Hegel-Kritik bis heute i m Streit liegen.) Die Differenz zwischen Sein und Seiendem — total — zerreißt deren Beziehung. Sie kann allerdings, recht besehen, nicht zerreißen, weil der Abstand, auch wenn er wahnsinnig groß wird, immer i n einer Beziehung des Andersseins, vom anderen zum anderen, überbrückt bleibt. Auch das ganz andere ist ein anderes und so von dem, gegen das es anders ist, nie zu lösen. Die Differenz — total — ist streng genommen ein Ding der Unmöglichkeit. Das hindert eine totale D i a l e k t i k 2 5 jedoch nicht, die Differenz zu totalisieren. Sein und Seiendes werden i n der Andersartigkeit, (obwohl es gar nicht möglich ist!) auseinandergebrochen, es gibt gar keine Beziehung mehr, bzw. folgerichtig einen unver23

M i t der Feststellung, daß die Formel für den Identitätssatz A = A eine Gleichheit nennt u n d dadurch die Identitätsaussage verdeckt, beginnt Heidegger das Büchlein, Identität u n d Differenz, Pfullingen 1957 (S. 14), das schwerlich, f ü r Heideggers Denken u n d überhaupt, überschätzt werden kann. 24 U m die formale L o g i k auf ihre Kosten kommen zu lassen, soll ein triviales Beispiel zeigen, daß das p r i n c i p i u m contradictionis n u r verletzt w i r d , w e n n es „gleich" statt „selbig" heißt: „A(pfel) u n d B(irne) sind verschieden, A u n d Β sind gleich." M a n sieht, daß es „gleich" heißen muß, w e n n ein Widerspruch herauskommen soll, m i t „selbig" gibt das Beispiel keinen Sinn mehr. Der Widerspruch ergibt sich, w e i l „verschieden" durch „nicht gleich" definiert ist u n d daher i m Verhältnis v o n non-α u n d a m i t „gleich" steht. Eine versuchsweise Formalisierung, die die behauptete Versöhnbarkeit von Identität u n d Differenz logisch darstellen mag: „ A u n d α sind verschieden, A u n d α sind selbig." 25 Prototypisch, über jede Ontologie hinaus, steht dafür H e r a k l i t i n seinem Fragment 88 (Übersetzung Diels - Kranz) : „ U n d es ist immer ein u n d dasselbe, was i n uns w o h n t (?): Lebendes u n d Totes u n d Waches u n d Schlafendes u n d Junges u n d Altes. Denn dieses ist umschlagend jenes u n d jenes zurück u m schlagend dieses."

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mittelten dialektischen Taumel, i n dem das eine i n das andere umschlägt. Die Differenz, total und allein, sagt die Andersartigkeit zwischen Sein und Seiendem als ein raffiniertes Zugleich von Sein und Nicht-Sein; die schlichte Negation: „Das Sein ist nicht das Seiende" genügt nicht mehr. Das Seiende w i r d vernichtet, zum Nichts gemacht (aber nicht als Grenzbegriff, es reicht nicht nur ans Nichts und w i r d so nichts, sondern es ist Nichts.) Die Beziehung reißt durch, dem einen steht nichts mehr gegenüber; trotzdem aber w i r d das Nichts als Gegenüber hypostasiert („unterstellt"), woraus i h m dann wieder Seinsqualität zuwächst, so daß das Nicht-Sein wiederum das Sein ist. Damit aber ist das principium contradictionis aufgehoben. I n der umgekehrten Richtung unterläuft die totale Identität den Widerspruchssatz. Die Identität zwischen Sein und Seiendem — total — treibt die Einheit i n eine Alleinigkeit hinein, bis dahin, daß sie sogar noch die Tautologie, die nur i m Auseinander der Verdoppelung ihre Aussagemöglichkeit für die Selbigkeit hat, unterbindet. Das Moment der Unterscheidung von sich selbst, durch das die Identität hindurchgeht, u m sich ihrer selbst zu versichern, w i r d eliminiert. Nicht mehr: „Sein ist Sein" resp. „seiend ist seiend" ist der Ausdruck dieser totalen Identität, nach der Weise: A ist A, sondern diese Identität ist gar nicht mehr auszusagen, sie stammelt, ihrer selbst nicht mächtig, nur mehr ungeschieden, nicht sich selbst, lediglich das Wort: Sein; keinen Satz, nur diesen einen Laut: A. Da nun aber der Widerspruchssatz nichts anderes als die negative Fassung des Satzes von der Identität ist, der Satz der Identität auf der Nadelspitze dieser totalen Identität gar nicht mehr formuliert werden kann, so erhellt, daß auch hier das principium contradictionis außer K r a f t gesetzt wird. Daraus, daß die reine Differenz und auch die reine Identität widersinnig sind, kann nur die Konsequenz gezogen werden: Differenz kann nicht allein, Identität kann ebenso wenig allein das Verhältnis von Sein und Seiendem durchwalten. Ihre gegenseitige Bezogenheit resultiert aus dem Widerspruchssatz, der ihr Zueinander fordert, indem er, negativ, ihrem Totalitätsanspruch widerstreitet. Das principium contradictionis ist daher der Angelpunkt, i n dem Identität und Differenz einander negativ, durch ihre NichtUnvereinbarkeit, verbunden sind. b) Die Analogie des Seins Die Form dieses i m Widerspruchssatz negativ fundierten Verhältnisses, i n dem Sein und Seiendes different-identisch eine Spannungseinheit bilden, muß daher Identität und Differenz versöhnen. Es gibt aber nur eine Form, die die schwingende Mitte beider ist, wo die Unterschie-

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denheit auch Selbigkeit, die Selbigkeit zugleich Unterschiedenheit aufweist: die Analogie. Sein und Seiendes sind daher analog, die einende Form i n ihnen ist die analogia entis 2 6 . M i t der Analogie als ontologischem Formprinzip ist wenig, aber dennoch alles gewonnen. Wenig, weil sie nur den Widerspruchssatz, dessen Ausdruck sie ist, zum Fundament hat und daher das Geheimnis der Einheit, nur negativ darauf bauend, Geheimnis bleiben lassen muß; alles, weil sie dennoch die ganze ontologische Differenz, Logik und Dialektik, Identität und Differenz i n einer ins unendliche dehnbaren und daher unzerreißbaren Spannung 27 hält. Die Analogie ist keine logische Usurpation des unaufhüllbaren Geheimnisses von Sein und Seiendem i n Identität und Differenz, sie macht diese Einheit nicht notwendig, sondern sie sagt nur, daß es so ist. Sie ist der Siegelabdruck und daher ein Negativabdruck, den die Verbundenheit von Identität und Differenz i n die Frage nach dem Sein des Seienden eingezeichnet hat, aber nicht der Nachweis der inneren Notwendigkeit dieser Verbundenheit. Von unten ist nicht mehr zu sehen, als daß Sein und Seiendes i n einer einigen Geschiedenheit ineinander sind. Die logische Formel dafür, daß es so sein muß, ist eine spekulative Verstiegenheit, die der Analogie nicht einmal überlegen, das Geheimnis aber gründlich i n den Griff bekommen und dabei auch noch, nebst dem Widerspruchsatz, zersprengt hat. M i t seiner „Identität der Identität und Nichtidentität" hat Hegel 2 * nämlich Identität und Differenz noch einmal unter das Joch der Identität gezwungen. Statt dem „Austrag" beider standzuhalten 29 , die Identität i n der Differenz frei schwingen zu lassen, ist eine Notwendigkeit daraus geworden und die-

2« p r Z y W a r a hat den Begriff geprägt, als Kurzformel f ü r eine kreatürliche Metaphysik. — Z u r Grundlegung von Analogie bei Aristoteles vgl. F. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Freiburg 1862 (fotomech. Nachdruck Darmstadt 1960), S. 8 5 - 9 8 . Brentano legt S. 95 frei, daß die geläufige Analogie der Verhältnisgleichheit (analogia proportionalitatis) nicht die entscheidende, grundlegende F o r m der Analogie ist. Der Analogie „zu einem Begriffe als Terminus" gebührt der Vorrang (analogia proportionis) vgl. Metaph. 1016 b 31, 1093 b 18, 1003 a 33, Eth. Nicomach 1096 b 25. Die ganze aristotelische Kategorienlehre k a n n ohne Analogie nicht verstanden werden, w e i l die Kategorien verschiedene Bedeutungen des ov sind, das κατ9 άναλογίαν von ihnen ausgesagt w i r d . — Grundlegend zur A n a logie, G. Siewerth, Die Analogie des Seienden, Einsiedeln 1965. 27 E. Topitsch, V o m Ursprung u n d Ende der Metaphysik, W i e n 1958, S. 218, hält die Analogie, w e i l sie i n der mittelalterlichen Theologie ihre immense Fruchtbarkeit erwiesen hatte, gleich f ü r ein Theologem u n d eine K o m p r o mißformel, m i t der die Scholastik Widersprüche „zwar nicht beseitigt, aber doch verdeckt" habe, S. 220. 28 Hegel, L o g i k I, S. 59. 29 Heidegger, Identität u n d Differenz, Pfullingen 1957, S. 63.

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ser deus e x m a c h i n a sorgt b i s h e u t e f ü r e i n e n g ö t t l i c h - m e c h a n i s c h e n Zauber30. D a b e i w ä r e d e r Ü b e r g r i f f ohne w e i t e r e s e n t b e h r l i c h gewesen. D e n n die D i a l e k t i k ist i n d e r A n a l o g i e g e n a u so v o l l s t ä n d i g w i e b e i H e g e l aufgehoben. D i e E i n h e i t h ä t t e n i c h t z u m E x p l o s i o n s z e n t r u m i h r e r selbst u n d des a n d e r e n h o c h g e t r i m m t w e r d e n müssen, s o n d e r n sie h ä t t e i n e i n e r r u h i g e n B e w e g u n g , i n g e s a m m e l t e r U n t e r s c h i e d e n h e i t spielen k ö n n e n . Was i n d e r I d e n t i t ä t w i e u n t e r e i n e m D r u c k b e i e i n a n d e r ist, u n d d a h e r u n t e r diesem D r u c k n o t w e n d i g d i a l e k t i s c h a u s e i n a n d e r b r i c h t 3 1 , i s t i n d e r A n a l o g i e gelöst, i n e i n e m s t ä n d i g e n S c h w u n g i n e i n e r stehenden B e w e g u n g i n e i n a n d e r . A n a l o g i e ist die schwebende M i t t e v o n I d e n t i t ä t u n d D i f f e r e n z 3 2 , d i e i m A u f k l a f f e n d e r ganzen D i f f e r e n z i h r e g r ö ß t m ö g l i c h e E n t f a l t u n g , i m 30 Bei einem logischen Ansatz, der die ontologische Differenz, absichtlich oder unabsichtlich, dahingestellt sein läßt, hat die Rede v o m Geheimnis dagegen keinen, oder einen schlechten, nämlich irrationalen Sinn. Das Wissen muß sich wissen können, wenn anders es ein Wissen sein soll. I n der transzendentalen Reflexion eines sich selbst denkenden Denkens, i m Ich (der Logik, nicht der Psychologie), ist das Verhältnis von Identität u n d Differenz als Selbstunterschied schon angesetzt, w e i l Identität j a ein Selbstverhältnis besagt. Differenz k a n n als eine die Position des Ich begleitende Negation v o l l zogen u n d begriffen werden. Fichte ist hier noch näher als Hegel. Aber Hegel hat genau gesehen, daß Fichte n u r zu einer subjektiven Identität, u n d also nie zur realen Welt kommt. I n diesen Fehler ist Hegel nicht verfallen: infolgedessen hat er L o g i k u n d Ontologie, Denken u n d Sein, von vornherein zusammen genommen. Aber damit hat er n u n seinerseits das Vernünftige auch gleich zum Wirklichen ernannt. Der Ort des endlichen Menschen ist damit verlassen, die Göttlichkeit erstiegen. Theologisch ist von Hegel daher — auch heute n o d i — über die Maßen v i e l zu erwarten, w e i l er weder bei der M y s t i k noch beim Glauben stehen geblieben ist. Dennoch : er hat den inkarnatorischen Rhythmus verlagert, das Seiende vernotwendigt u n d so die Analogie durch den Widerspruch zerstört. 31 E. Heintel, Hegel u n d die analogia entis, Bonn 1958, hat eingewandt, der ontologische Ansatz sei prädikationstheoretisch unhaltbar geworden u n d geschichtlich vergangen, seit die Erkenntnis des Absoluten i n eine Frage nach der Erkenntnismöglichkeit, u n d zwar nach absoluter Erkenntnis, verwandelt sei. Infolgedessen verliere die Analogie jede Bestimmtheit i n einer bloßen Negation oder münde i n unkritisch transzendierende Rede (S. 16, 17, 49). Aber dieser E i n w a n d impliziert, ernst genug genommen, die Negation des M e n schen, anders gewendet: seine Ernennung zum Titan. Die absolute Erkenntnis wäre, als Grenzwert, sogar wünschenswert, aber i n ihrer Totalität bleibt sie ein frommer Wunsch: Die Endlichkeit kann n u r so aufgehoben werden, daß sie auch noch bleibt! 32 E. Przywara, Analogie entis, S. 135 ff. — Goethe hat, M a x i m e n u n d Reflexionen, Nr. 554, durchaus diesseits der Philosophie, m i t sicherem Gefühl herausgehoben, daß die Analogie eine M i t t e w a h r t (Aristoteles setzt Eth. Nie. 1131 b 11 Analogie u n d M i t t e gleich: τό γαρ άν άλογον μέσον ), von der das Denken seine Beweglichkeit bezieht: „Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein i m m e r zu gleicher Zeit gesondert u n d verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so f ä l l t alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. I n beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere M a l als getötet."

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Übereinkommen der Identität ihre innerste Sammlung hat, und zwar so, daß, je inniger die Nähe zwischen Sein und Seiendem wird, der A b stand um so stärker heraustritt. Das Zugleich von Verschiedenheit und Selbigkeit bei Sein und Seiendem konstituiert die Analogie, i n der immer Unterschied und immer Einheit waltet. Analogie, Ähnlichkeit w i r d daher zur letzten Beschreibung des ontologischen Verhältnisses 33 . Sie kann nicht überboten und nicht eingeholt werden, es sei denn um den Preis des Widerspruchsatzes. Das Seiende, auch i n der gegensätzlichen Andersartigkeit zum Sein, ist zuinnerst mit dem Sein selbig, weil es diesem immer ähnlich und daher i n einer vermittelten Einheit zugehörig bleibt. Die letzte Andersartigkeit ist die Differenz, wie sie sich dialektisch als Sein und Nicht-Sein gibt; aber das Seiende ist auch dort, wo das Nichts sein Grenzbegriff wird, i n aller Andersartigkeit noch i n der Beziehung der Andersheit zum Sein 34 . Die Andersheit zwischen Sein und Seiendem läßt sie i n ihrer Eigenheit, i n ihrer Einzigartigkeit sehen, i n der sie am Ende übereinkommen. Die Dialektik als Methode kann daher gar nicht so übertrieben werden, u m nicht i n der Analogie schon längst eingeholt und umgriffen zu sein; sie w i r d dabei, samt ihrer gnostischen Identität, nur befreit: aus dem zwanghaften Taumel i n eine rhythmische Bewegung, aus der göttlich verstiegenen Notwendigkeit in ein mit dem Dasein schlicht schon gegebnes Geheimnis. c) Das Sein als das Andere des Seienden Die Beziehung zwischen Sein und Seiendem hat ihre größte Distanz i n der ontologischen Differenz, i n der das Sein als das vom Seienden schlechthin verschiedene Andere heraustritt. Die ontologische Differenz ist der äußerste, i n die Analogie hineinklaffende Unterschied, wo die Ähnlichkeit nur mehr Ähnlichkeit i n der Unähnlichkeit 3 5 ist. Die Ge33 Auch das menschliche Sprechen hat als vermittelte Wiedergabe i n der „Einheit der Analogie" seine Ermöglichung. Der reflexive transzendental logische Einheitspunkt k a n n deswegen die Analogie des Sprechens nie restlos eindeutig machen. A b e r auch die Mannigfaltigkeit analogisch nicht mehr verbundener Bedeutungen müßte das Ende des Sprechens sein. Vgl. dazu K . O. Apel, Wittgenstein u n d Heidegger, Die Frage nach dem Sinn von Sein und der Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Metaphysik, Phil. Jahrbuch 1967, 15. Jahrg., S. 56 - 94, S. 92. 34 Metaph. 1016 b 34 — von dieser Stelle ausgehend, hat Krings die analogische Einheit als Einheit der Entsprechungen u n d darin als Verhältniseinheit bestimmt, i n der die endliche Vernunft ihre primäre Einheit vollzieht. H. Krings, Wie ist Analogie möglich? i n „ G o t t i n W e l t " Festgabe f ü r K a r l Rahner, Bd. I, Freiburg 1964, S. 97 - 110, S. 107. 35 Przywara spricht, eine Formulierung des 4. Laterankonzils aufnehmend, von der maior dissimilitudo i n der Analogie.

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schiedenheit w i r d der äußerste und letzte Modus der Beziehung: Das Sein als das Andere des Seienden. Als dieses Andere aber, da es das Sein des Seienden ist, i m Seienden selber anwesend und mit ihm identisch. Wo das Sein als das Andere des Seienden aufklafft, w i r d eine ständige Bestimmung des Seins unabweisbar. Die Andersheit ist als Verhältnis, noch keine sachliche Auskunft. Sie ist jedoch ein zum Sein des Seienden, wie es selber ist, und seine bewegteste rakterisierung.

selbaber, Weg Cha-

Wenn etwas anders ist, so heißt das, daß es zu einem anderen anders ist; es w i r d ein Vergleich gezogen, der i n der Unvergleichbarkeit der beiden verglichenen Objekte endet. Notwendig ist daher i n dem Urteil: ,dies ist anders 4 auch ausgesagt, daß es ein jenes gibt, an dem die Andersheit des ersten dies — da offenkundig wird. Andersheit sagt daher m i t der Unvergleichbarkeit zugleich immer, daß ein anderes zum anderen da ist. Die Dialektik, die das Wort „anders" impliziert, indem es immer nur gegen etwas, zu dem es anders ist, gesagt werden kann, fordert mit Notwendigkeit das Eine zum Andern. T r i t t nun das Sein als das Andere des Seienden heraus, so sind sie beide einander mit wechselseitiger Notwendigkeit verknüpft, sie bedingen und ermöglichen sich gegenseitig. Das Sein kann nicht ohne das Seiende, das Seiende nicht ohne das Sein sein. Damit ist aber gesagt, daß das Seiende und ebenso das Sein das Andere seiner selbst m i t Notwendigkeit aus sich heraussetzt, wenn es absolut ( = abgelöst) genommen und betrachtet wird. Das mit Notwendigkeit Seiendes aus sich heraussetzende absolute Sein ist demnach dazu verurteilt, sich Seiendes entgegenzusetzen. Desgleichen schafft das Seiende das Sein aus sich heraus, sobald es den Ausgangspunkt bildet. Das Sein, (resp. das Seiende), außer dem nichts ist, und das daher in keiner Beziehung zu diesem Nichts steht, ist nicht mehr frei, sondern vom Nichts als seinem Anderen polarisiert. Das Nichts ist nicht mehr am Rand des Seienden, sondern sein Gegenüber. Dadurch w i r d das Nichts, das nicht ist, zum anderen, das ist, und damit zum Sein. Sein und Nichts werden identisch, weil das, was nicht ist, dem Seienden als das Andere seiner selbst notwendig gegenübertritt. Das Seiende wiederum könnte nicht auch nicht sein, es muß sein und ist der notwendige Ausdruck des Seins. Das Nichts, das eben nicht ist, bleibt nicht nichts, es ist von Anfang an das Andere des Seins, dessen gleich-ursprüngliches Gegenüber. Das Seiende ist ohne das ganz Andere seiner selbst ebenfalls nicht zu halten. Sein Sein ist daher m i t Notwendigkeit das Nichts, weil nur das Nichts die Bedingung der Andersheit, nämlich außerhalb des Seienden zu sein, erfüllt. Die Dialektik der Andersheit zwischen Sein und Seiendem führt daher mit unaufhaltbarer Folgerichtigkeit das Nichts und das Sein ineinander über.

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d) Die selbige Verwendung

von Sein und Nichts

Es kommt nun alles darauf an, innerhalb einer die Dialektik methodisch i n Dienst nehmenden Analogie den Punkt zu sehen, an dem die selbige Verwendung von Sein und Nichts ihre relative Berechtigung hat. Dieser Punkt ist dort, wo das Seiende entspringt, am Ursprung des Seienden. Dort ist das Sein des Seienden, als das ganz Andere, das es ist, i n der Zweideutigkeit mit dem Nichts. Das Sein ist das Nichts, und das Nichts ist das Sein, weil das Sein dort i n der Gestalt des Nichts, das Nichts aber i n derjenigen des Seins erscheint 36 . M i t dieser paradoxen Behauptung einer „Identität" von Sein und Nichts ist das Eingeständnis zu verquicken, daß die Dialektik — und desgleichen die Analogie insoweit — lediglich einen formalen Wert hat. Die Dialektik führt die Analogie dabei bis zu ihrem Exzeß; er kann aber, obwohl er kritisch ist, spielend überwunden werden, i n dem man erinnernd darauf baut, daß die Analogie als Grenze einholt, was dialektisch „Gegenüber" heißt. Es ist daher möglich, einer „ I d e n t i t ä t " 3 7 von Sein und Nichts das Wort zu reden, solang sie die formale Übereinstimmung und logische Ununterscheidbarkeit beider meint. Genauer ist es allerdings, das i n der exzessiven Analogie dialektisch gegen das Seiende tretende ganz Andere zweideutig zu nennen. Zweideutig i m Hinblick auf das Sein und das Nichts, weil es zugleich m i t den beiden Namen Sein und Nichts richtig bezeichnet ist. A m Ursprungsort des Seienden ist das ganz Andere zweideutig das Sein und das Nichts 3 8 . Daraus folgt, daß die Bestimmung des Anderen als Nichts auch das Sein i n seiner formalen Bestimmtheit durchsetzt. 38 „Esse significat a l i q u i d completum et simplex, sed non subsistens." (Thomas von A q u i n , Quaestiones disputatae de Potentia 1.1.) Diesen Satz benutzt F. Ulrich, Homo abyssus, Einsiedeln 1961, als spekulativen Grundsatz seiner Ontologie, vgl. S. 34 ff. Das Sein w i r d dabei, vielleicht das hellste, Gleichnis Gottes u n d i n sich reine Vermittlung. Wenn das Sein dagegen als esse subsistens (Thomas S. th. I 9.4 a.2) angesprochen w i r d , ist Vorsicht am Platze. Das k a n n zwar ein Name f ü r Gott sein. Dieser Gott aber ist n u r dann nicht als Wider-Gott gedacht, w e n n er v o m Gleichnis des nichtsubsistierenden Seins her anvisiert w i r d , u n d nicht sofort i m Sein, das n u r Gleichnis ist, dingfest gemacht w i r d . Wenn das Sein nicht i n der Schwebe bleibt u n d sogleich m i t Gott gleichgesetzt w i r d , ist einer D i a l e k t i k der notwendigen Andersheit von Meister Eckhart bis Hegel, nicht mehr zu entgehen; vgl. H. U. von Balthasar, Herrlichkeit, Bd. I I I / 1 . Teil, Einsiedeln 1965, S. 374. 37 Das ist hier ein Sprachgebrauch, der, streng genommen, eben n u r „partielle Identität" u n d damit eigentlich Analogie meint. N u r die Absicht, die Einheit i n der Unterschiedenheit gesondert herauszuheben, rechtfertigt ihn. 38 Der Versuch, das Woher des Seienden zu bedenken, f ü h r t i n diese Zweideutigkeit. Aber schon, indem das Nichts n u r als ens rationis (Qu. de Ver. q I a 1 ad 7) überhaupt gedacht werden kann, ist seine Verschränkung m i t dem Sein bestätigt; allerdings mittelbar auch, daß das Nichts dem Denken entspringt. Vgl. G. Siewerth, Der Thomismus als Identitätssystem, 2. Aufl., F r a n k f u r t 1961, S. 35 ff.

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Die Andersheit legt daher, indem sie ins Nichts führt, das Sein zu der Bestimmung h i n aus, deren Bewegung i n der verhaltenen Analogie der Andersheit unterwegs schon spürbar war: als klaffenden Abgrund. I m Nichts tut er sich schwindelerregend auf, i m Sein ist er, unter der Form des Nichts, dessen unauslotbare Tiefe. So führt die analogisch durchmessene Ontologie ein i n das Sein: je weiter, um so tiefer, bis sich, am aufklaffenden Nichts erweist, daß die Tiefe des Seins grundlos ist. Der Abgrund, zweideutig noch als Abgrund des Nichts und Abgrund des Seins, ist eine Bestimmung des Seins. Das Sein ist grundlos tief. Das Nichts, i n seiner grenzenlosen Leere, hat keine Abmessungen mehr. Jeder Halt ist ausgeräumt, die Substanz, i n der das Seiende ruht, ist negiert und zerstoben. Bewegung w i r d ein Stürzen, endlos. Der Abgrund der reinen Leere schließt sich nicht, er ist ohne Boden, ohne Grund. Grundlos klafft das Nichts. Grenzen gibt es nicht mehr, daher auch keine Unterscheidung, demzufolge nichts Bestimmbares, daran sowenig wie darin. Auch nicht die Leere, die etwas, negativ, füllt, überhaupt kein „etwas". I m Nichts sein ist daher nicht sein. Das Nichts ist die reine Leere, ein grundloser Abgrund. e) Die abyssale Verfassung

des Seins

Unter dieser Bestimmung des Nichts, die eine Bestimmung durch A b wesenheit von Bestimmtheit ist, erscheint das Sein. Grundlos, wie das Nichts, ohne daß es möglich ist, Boden zu fassen: unendlich tief. Ein Abgrund, Ungrund, abyssus, der unauslotbar ist. Und dennoch Abgrund des Seins, also nicht Abgrund als solcher. Es geht daher nicht an, das Sein als abyssus zu bestimmen, denn der Abgrund ist auf gewisse Weise i n ihm; zwar nicht so, daß es ihn gründet und endlich macht, aber doch so, daß er durchs Sein hindurchreicht und i n i h m ausgedrückt ist. Die Abgründigkeit des Seins ist auch nicht eine bloße Eigenschaft, die ihm zukommt. Die Abgründigkeit durchformt das Sein, sie gibt i h m seine Tiefe, indem sie dessen Tiefe ist. Die Tiefe des Seins ist daher keine Leere; sie eröffnet sich infolgedessen nicht i m Fallen, i m Sturz, sondern i m Versinken, weil das Sein tragende Tiefe, wie ein grundloses Wasser, ist. Die Abgründigkeit ist die Weise, wie das Sein ist. „Sein als Abgrund" t r i f f t den genauen modus ebenso wenig, wie „Abgrund i m Sein". Es ist daher anfechtbar, vom abyssus als der Form des Seins zu reden, weil das Sein weder Materie einer Form sein kann noch weil eine negative, Grenzen auflösende Bestimmung Form genannt zu werden verdient. A m zutreffendsten ist es vielleicht, den Sachverhalt mit „abyssaler Verfassung des Seins" zu bezeichnen. Ohne die Abgründigkeit des Seins unterscheidend vollkommen klären zu müssen, ist sie auf eine einfache Weise darzustellen. A m meta-

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phorischen Gehalt des Bildes „Licht" für das Sein ist sie zu illustrieren 3 9 . Licht ist verströmende Helligkeit, die je heller, u m so blendender und strahlender wird. I n seiner strahlendsten Helligkeit, als Sonnenlicht, durchstrahlt es eine riesenhafte Entfernung. Als Strahl ist es diese Entfernung, obwohl die Entfernung die vom Licht durchmessene Weite bleibt. Die Entferntheit der Sonne ist nur i n einer vom Licht überbrückten Entfernung und daher ist das Licht, da es sie durchläuft, diese Entfernung selbst. Es ist auch ihr Maß, insofern die Entfernung durch das Licht bestimmt wird. Unter diesem B i l d gewinnt die Abgründigkeit des Seins und seine unendliche Tiefe Anschaulichkeit. Wie die Entfernung i m Licht, so verhält sich die Tiefe i m Sein. Dieses ist daher Sein als Tiefe und Tiefe i m Sein zumal, Medium reiner Tiefe. Auch noch die Ausgangsposition, die Selbigkeit i m ungenauen, die Zweideutigkeit i m genauen Sinn von Nichts und Sein, kann i m B i l d des Lichts verständlicher werden. Je heller das Licht wird, desto blendender t r i f f t es das Auge, das schließlich geblendet, blind wird, und nur mehr Nacht 4 0 sieht. Die letzte strahlende Helligkeit ist daher Nacht, weil und insofern sie von Nacht nicht mehr unterschieden werden kann. Der Abgrund des Lichtes ist ein Abgrund von Nacht, absolute Helligkeit ist absolute Finsternis, i n der nichts mehr zu sehen ist. A u f die gleiche Weise sind Sein und Nichts, vom Ursprungsort des Seienden aus ins Auge gefaßt, nicht mehr gegeneinander zu scheiden; das eine ist das andere, weil Sein nur mehr als Nichts erscheint. Was i m B i l d jedoch nur i n einer Richtung gilt, daß nämlich nur Licht als Nacht, nicht aber Nacht als Licht erscheint, darf allerdings nicht bedeuten, daß nur das Sein die Gestalt des Nichts annimmt und nicht das Nichts die des Seins. Da hat die Zweideutigkeit i n beiden Richtungen statt, wechselweise: auch das Nichts kann sich unter der Gestalt des Seins 41 verbergen. Die Andersheit des Seins zum Seienden hat sich also, über die Zweideutigkeit von Sein und Nichts i n deren Abgründigkeit führend, i n die abyssale Verfassung des Seins ausgelegt und derart eine Bestimmung 39 Thomas von A q u i n , S. th. I q 104 1. c. G. Siewerth, Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger, Einsiedeln 1959, S. 381, 383. 40 p r z y w a r a zitiert gern z.B. Analogia entis, S. 88, Dionysios Areopagita m i t seiner Wendung „über lichtes D u n k e l " (Mystische Theologie I, 1). 41 W i r d das Sein nicht erst einmal i n dieser selbigen Verwendbarkeit mit dem Nichts belassen, sondern sofort zum subsistierenden Sein gemacht (wobei dann das esse non subsistens als V e r m i t t l u n g wegfällt), genau dann entpuppt sich dieses Sein als das Nichts, das es nicht sein wollte. Das Sein vor dem Schritt durch das nichtige Sein, substantiell auffassen, bedeutet gleichzeitig eine Absolutsetzung des Wesens, die Veressentialisierung des Seins. Das aber ist der Tod der Geschichte, Rückfall i n die archaische ewige Wiederkehr des gleichen und darin perfekter Nihilismus. Vgl. F. Ulrich, Homo abyssus, S. 42, S. 188 ff.

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des Seins ermöglicht, die diesem selbst eigen ist. Daß i n ihr die Beziehung zum Seienden nicht gelöst w i r d und der Weg von daher die Bestimmung innerlich bedingt, macht ihre Selbständigkeit nicht zunichte. Das Sein an sich ist unzugänglich, sofern es sich noch nicht ausgelegt hat; eine andere als die relative (bezogene) Selbständigkeit ist daher nicht erreichbar. I n seiner abyssalen Verfassung ist das Sein daher selbständig von sich her, aber es w i r d über die Vermittlung des Seienden und nur so, nie direkt i n sich, anvisiert. Die Bestimmung des Seins i n einer reinen Selbständigkeit wäre überdies nicht von Interesse, weil dabei das Seiende nicht i m Lichte dieser Bestimmung zu sehen wäre. So aber ist, aus der abyssalen Verfassung des Seins, auch das Seiende zu begreifen. Das Seiende bleibt, da es zum Sein different-identisch, analog sich verhält, ebenfalls abyssal verfaßt. Das Seiende reicht daher i n den Abgrund zurück, es ist über der unendlichen Tiefe erbaut und deswegen i n seinem Sein nicht auszuloten. Das Seiende ist i n sich zum Abgrund hin geöffnet, der sich senkrecht unter ihm auftut. Von da aus ist nun endlich der Begriff der Natur einzuholen. Er hat, da die Natur das Seiende schlechthin ist, dessen abyssale Tiefendimension. Die unendliche Tiefe des Seins geht i n den Begriff der Natur mit ein, weil das ursprünglich Seiende, das die Natur ist, immer i n den Abgrund zurückreicht, über dem sie als konkretes ihren Stand hat. Natur ist daher, ihrem ganzen Begriffe nach, ursprünglich Seiendes, das, indem es konkret da ist, immer auch abyssal in die unendliche Tiefe des Seins zurückreicht. 2. Der Übergang des Seins zum Seienden

Die abyssale Verfassung des Seins ist eine Bestimmung, die das Dasein des Seienden noch nicht verständlich macht und auch keine A n t wort auf sein „ w a r u m " enthält. Warum ist das, was ist, überhaupt da? Warum ist Seiendes, warum ist etwas? a) Die Freiheit des Seins I n einer von der Dialektik der Andersheit bewegten Identitätsphilosophie entläßt das Sein notwendig das Seiende aus sich; es kann ja nicht anders, als sich derart zu äußern. Diese Notwendigkeit w i r d zur A n t wort auf das „ w a r u m " und stiftet die innere Gesetzmäßigkeit, m i t der die dialektische Logik das eine aus dem andern hervortreibt 4 2 . I n der 42 I n Hegels theologischer Philosophie ist die Freiheit Gottes zur Welt untergegangen. Die W e l t muß sein. (Vgl. Der Begriff der Religion, ed. Lasson

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A n a l o g i e aber b l e i b t das S e i n f r e i , w e i l das Seiende n u r a u f das S e i n v e r w e i s t , n i c h t aber das S e i n n o t w e n d i g Seiendes aus sich h e r a u s f o r d e r t . D i e F a k t i z i t ä t des Daseins w i r d n i c h t u n t e r l a u f e n , d e n n das S e i n ist n i e a l l e i n , a u ß e r h a l b seiner B e z i e h u n g z u m S e i e n d e n e r g r e i f b a r . So, w i e es ist, i s t es: S e i n i s t i m m e r schon u n d n u r i m Seienden, aber daß Seiendes sein m u ß , i s t d a m i t n i c h t gesagt. Das S e i n a n sich k a n n daher, t r o t z der i n d e r F a k t i z i t ä t e n t h a l t e n e n u n d m i t g e s a g t e n i n n e r k o r r e l a t i v e n N o t w e n d i g k e i t , ohne w e i t e r e s u n d g u t f r e i sein. D i e F r e i h e i t des Seins z u m Seienden w i r d deswegen, w o sie i n d e r F a k t i z i t ä t oder T a t sächlichkeit des Seienden als faktische N o t w e n d i g k e i t erscheint, n i c h t aufgehoben. Sie m u ß v i e l m e h r , da jenseits d e r F a k t i z i t ä t des Daseins dessen M ö g l i c h k e i t u n b e s t r e i t b a r auch seine N i c h t - M ö g l i c h k e i t k o n s t a t i e r t , B e d i n g u n g d e r M ö g l i c h k e i t des Seienden heißen. D i e F r e i h e i t des Seins, welche das Seiende i n s S e i n setzen k a n n oder auch n i c h t , ist d e m gemäß d i e u n w i d e r l e g b a r e A n t w o r t a u f das „ w a r u m " des Seienden. Diese A n t w o r t übersetzt das „ w a r u m " f r e i l i c h noch e i n m a l i n e i n R ä t s e l u n d l ä ß t d i e nach N o t w e n d i g k e i t suchende F r a g e u n b e f r i e d i g t , f ü h r t aber z u e i n e r a n d e r e n B e s t i m m u n g des Seins, d i e das D a s e i n des Seiend e n b e g r ü n d e t , o h n e seine N o t w e n d i g k e i t b e h a u p t e n z u müssen. 1925, Nachdruck, H a m b u r g 1966, S. 221: „Das ist der Begriff überhaupt, der Begriff Gottes, der absolute Begriff. Gott ist eben dieses. Gott als Geist oder als Liebe ist dies, daß er sich besondert, die Welt, seinen Sohn erschafft, ein Anderes seiner u n d i n diesem sich selber hat, m i t sich identisch ist.") Das hat seinen Grund darin, daß Hegel die reale Schöpfung i m m e r schon i n der Bewegung des Seins zum Wissen ideell antizipiert u n d die Realität m i t dieser Idealität, als ihrem wahren Sein, v ö l l i g zusammen genommen hat. Deswegen w i r d von einer thomistischen Philosophie Hegel widersprochen. Aber nicht so, daß Hegels Fruchtbarkeit noch länger ausgeschlossen u n d seine Vermittlungsk r a f t verkannt bliebe. H. Beck, Der Aktcharakter des Seins, München 1965, bringt vor, Hegel erreiche die „tragende Vorgängigkeit der Realität gegenüber der Idealität nicht", S. 263, F. Ulrich, Homo abyssus, spricht von der Logisier u n g des Gottesgeistes, S. 11, S. 59 ff. bei Hegel. G. Siewerth, Identitätssystem, notiert, daß Hegel Sein u n d Gott i n die Differenzlosigkeit abgeschlossen habe, S. 170. J. Splett, Die Trinitätslehre Hegels, Freiburg/München 1965, S. 149, zentriert dabei die K r i t i k gegen Hegel auf die „Grundentscheidung der Hegelschen P h i l o s o p h i e . . . : Die Aufhebung der Liebe i n Erkenntnis (das höchste Gebot des Christentums ist f ü r Hegel, Gott zu erkennen)". Bei W. Kern, Das Verhältnis von Erkenntnis u n d Liebe als philosophisches Grundproblem bei Hegel u n d Thomas, Scholastik 34 (1959), S. 394-427 ist die Genese dieser Entscheidung nachgezeichnet. Przywara, a. e., S. 109, hat Hegels Denken „theopanistische D i a l e k t i k des einen Identitätssatzes" genannt. Gegen derlei Warnungen v o r der D i a l e k t i k gibt eine an Hegel orientierte Philosophie, die der reformatorischen Freiheit eingedenk bleibt, nachdrücklich zu bedenken, daß bei solchen Interpretationen Hegels die Bedeutung der Theologie, j a der „Christologie f ü r die Hegeische Theorie der Versöhnung" i h r Gewicht nicht erhält. (G. Rohrmoser, Subjektivität u n d Verdinglichung, Gütersloh 1961, S. 19.) Das mag w o h l richtig sein, daß Hegel falsch gelagert w i r d , solang er nicht zuerst u n d zuletzt der christliche Denker sein darf, der er sein wollte. Allerdings läßt sich dann die Frage umgedreht wieder stellen: Wie liegt das Verhältnis von Christologie u n d Anthropologie? U n d auch da muß einer Identität widersprochen werden.

I I . Die N a t u r als Seiendes

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Die Freiheit des Seins zum Seienden bringt diejenige ontologische Bestimmung des Seins zum Vorschein, die i n der logisch erzwungenen Notwendigkeit des Seienden allzuleicht unterschlagen wird, w e i l sie dort nicht relevant wird. M i t der Freiheit des Seins dagegen w i r d die Weise der Vermittelung von Sein und Seiendem, der Vorgang des Seins zu Seiendem und, auf die Stelle des Ursprungs gesehen, sein Übergang, seine Transzendenz erklärungsbedürftig. Denn die Freiheit des Seins bedeutet für das Seiende, daß es sich dem Sein verdankt und sein Dasein nicht aus der Logik zieht. b) Das Sein als Akt und Überwesen Eigentlich ist damit, daß die Nichtnotwendigkeit des Seienden, seine Möglichkeit und sein Dasein miteinander festgehalten werden, jene ontologische Bestimmung des Seins schon freigelegt: das Seiende ist da und also wirklich, weil das Sein wirkend ist, wirklichender A k t 4 3 . Wenn das Sein als wirkend verstanden wird, ist zugleich die E r w i r k t heit des Seienden und die Unwesenhaftigkeit des Seins zu begreifen. Daß das Sein wirkend ist, ist die Sammlung und die tätige K r a f t seiner Wirklichkeit. Als Wirklichkeit 4 4 ist es, weil abyssal verfaßt, intensivstes Dasein, fortwährende Eindringlichkeit des Wirkens. Es ist i n ständiger innerlicher Bewegung 45 , reine Gegenwart und darin auch Kraft über sich hinaus zur Entäußerung i n endlich Seiendes hinein. Das Seiende kann daher, da es i n seiner Wirklichkeit auf das w i r kende Sein zurückverweist, nur e r w i r k t sein; das Dasein ist wirklichgeworden, das Sein hat es bewirkt. Die ontologische Differenz w i r d dabei von der wirkenden Wirklichkeit, m i t der das Sein das Seiende erwirkt, nicht aufgehoben, sondern sie w i r d i n Wirklichkeit durch43

Actus essendi S. th. I 93 a 4 a d 2. Esse est actualitas o m n i u m actuum Qu. d. Pot. q 7 a 2 ad 9. Dabei ist Wirken, Tätig-sein zunächst eine Analogie, u m über sie das, was Sein heißt, näher zu bestimmen. A b e r indem das Sein als W i r k e n gesehen w i r d , zeigt sich, daß es ein noch v i e l höheres „wirksameres" W i r k e n ist als jenes normale Wirken, operari, von dem, bildhaft, bei der Bestimmung ausgegangen wurde. Die detaillierte Analyse des Seins als eines Aktes bietet Beck, a.a.O., S. 35 - 60 bes. S. 50 ff., vgl. auch Siewerth, Identitätssystem, S. 75 ff. 45 Motus, κίν ησις Bewegung: das ist bei Thomas bzw. Aristoteles der nötige Begriff, u m actus, εν έργεια richtig zu erschließen. Heidegger weist darauf hin, daß κίν ησις nicht n u r Ortswechsel heißt i n V o m Wesen u n d Begriff der φύσις, Wegmarken, S. 318. Der Vorschlag, Bewegtheit zu sagen, S. 314, damit das Sein nicht „als Bewegung" begriffen werde, ist entbehrlich, solang es keine leere Bewegung w i r d . Vgl. dazu auch Κ . H. I l t i n g , Sein als Bewegtheit, P h i l o soph. Rundschau 10. Jahrgang, Tübingen 1962, S. 3 1 - 4 9 ; vor allem die Bemerkung, daß ein Verständnis des Seins als Bewegtheit Heidegger m i t der philosophischen T r a d i t i o n des Idealismus verbindet, S. 35, verdient A u f m e r k samkeit. 44

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messen, der durchwirkte Abgrund. Das Sein und das Seiende sind daher i n Wirklichkeit ontologisch und nicht durch irgend eine logische Notwendigkeit vermittelt. Da die Wirklichkeit des Seins an sich selbst unendlich ist, ist das Seiende nicht gefordert. Daß es sein kann, ist keine unerfüllte Möglichkeit des Seins, wonach dieses ein Werden i m Übergehen zu seiner latenten Wirklichkeit wäre, sondern weil das Sein unendlich wirklich ist, die außerhalb des Seins liegende, nichtige, reine Möglichkeit. Das Sein bewirkt durch seine reine Wirklichkeit aus sich das Andere. Dieses Wirklich-Gewordene ist als Erwirktes das Sein selbst und zugleich als ein i n die Wirklichkeit gehobenes selbständig ein Anderes. Die Aktualität, die Wirkehaftigkeit des Seins erklärt daher das Seiende: Das Sein als A k t vermittelt sich i m A k t zur Wirklichkeit des endlich Seienden 46 . Obwohl auf diese Weise das letzte oder notwendige „ w a r u m " des Seienden in der Freiheit des Seins unaufbrechbar versiegelt bleibt, ist mit der Aktualität des Seins das Rätsel des Daseins von Seiendem überhaupt wenigstens einsichtig gemacht. Wenn das Sein selbst jedoch unendliche Wirklichkeit ist, so ist es kein Wesen mehr 4 7 . Wesen ist die i n der Scheidung von Dasein gewonnene Form eines Gegenstandes, sein unbeweglich abstraktes So-sein. W i r k lichkeit ist nichts dergleichen, sondern Kraft und Bewegung i n höchster, innerster Intensität. Sie überbordert jede Begrenzung und hebt die Unveränderlichkeit jeder Struktur auf. Das Sein als unendliche, unauslotbare Wirklichkeit ist deswegen nicht mehr wesenhaft, es ist über ein Wesen hinaus. I n seiner Unwesenhaftigkeit, besser: i n seiner Überwesenhaftigkeit 4 8 läßt es jede Vorstellung von sich als einem Wesen unter sich. Es kann infolgedessen nicht als Wesen gegen ein anderes Wesen gesetzt werden, auch nicht als ein „höchstes" Wesen, weil mit der Unveränderlichkeit und Begrenzung darin von der Wirklichkeit abstrahiert wird. Das Wesen des Seins — so läßt es sich, das „Wesen" verändernd sagen — ist seine Wirklichkeit und daher ist das Sein die 48 I m Übergang des Aktes v o m Sein selbst zum Sein des Seienden w i r d der actus essendi zum actus essentiae. — Das ist die umgekehrte Richtung, die Thomas bei seiner Prägung des Begriffes gegangen ist. Vgl. J. B. Lötz, Der Mensch i m Sein, Freiburg 1967, Das Sein nach Thomas von Aquin, S. 52 - 66, S. 60. 47 Die Veressentialisierung des Seins w a r eine Fehlentwicklung der Ontologie, die von Thomas-Schülern eingeleitet, i n den Begriffsrationalismus der Spätscholastik hineinführte. Bei Thomas ist das Sein dem Wesen k l a r v o r geordnet, was ζ. B. an der Realdistinktion von Sein u n d Wesen abgelesen werden kann. Vgl. dazu J. Hegyi, Die Bedeutung des Seins bei den klassischen Kommentatoren des heiligen Thomas von Aquin, Pullach 1959, S. 2, 152. 48 N u r w e i l das Sein Überwesenhaft ist, k a n n das Wesen aus i h m hervorgehen, vgl. F. Ulrich, a.a.O., S. 82. — Schon i n seiner ersten Schrift de ente et essentia hat Thomas den Unterschied von Sein u n d Wesen gefaßt. Kap. 5: „Omnis autem essentia vel quidditas potest i n t e l l i g i sine hoc quod aliquid intelligatur de esse suo . . . Ergo patet quod esse est aliud ab essentia vel quidditate."

I I . Die N a t u r als Seiendes

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Wirklichkeit schlechthin. Es reicht durch alle endlichen Wesen, weil es Wirklichkeit und damit auch deren Wirklichkeit ist. Das Sein ist kein Ding, nicht das größte und nicht das allgemeinste 49 und nicht das Ding an sich, sondern es ist die Fülle der Wirklichkeit, aus der die Gegenstände als genau begrenzte Wesen ihren Bestand haben. Die Wirklichkeit des Seienden ist durch die Bestimmung des Seins als A k t i n ihrer Erwirktheit, das Seiende demnach i n der Wirkung des Seins vermittelt. Die Weise, wie das Sein ins Seiende übertritt, der innere Zusammenhang zwischen ihnen und die Vermittlung des einen ins andere, leiten dazu hin, das Seiende i n seiner eigenen Wirklichkeit, nicht mehr i m Grunde des Seins, sondern als Seiendes selbst zu untersuchen. Die Natur kommt dadurch i n ihrer ontologischen Eigentümlichkeit ins Blickfeld, so daß das Sein an den Rand des Horizonts gerät und nur mehr beiläufig als grundloser Grund gegenwärtig wird. 3. Das Seiende

Der Wirklichkeit des Seienden „Natur" ist nahezukommen, indem vom Sein als der wirkenden Wirklichkeit her die erwirkte Wirklichkeit des Seienden angegangen wird, und dadurch, daß dieses Seiende selbst anschaulich betrachtet wird. Beide Annäherungen ergänzen sich, weil sie beide auf die Wirklichkeit der Natur abzielen. Bei dieser Hinwendung zur seienden Natur w i r d von ihrem Grund i m Sein weggesehen, um sie als konkretes Seiendes i n ihrem Gepräge besser sichtbar zu machen. Obwohl diese Blickwendung von der ontologischen Differenz nicht dispensiert, w i r d die Ontologie dabei zur Ontologie des i n Rede stehenden Seienden, Ontologie der Natur. a) Die Energeia Es ist die Wirklichkeit des Seienden, die es fähig macht zu wirken. Das folgt aus der Erwirktheit durch das Sein, welches, da es wirkend ist, i n seiner Wirkung nicht verebbt, sondern wiederum wirkende Wirklichkeit schafft. Diese Wirkfähigkeit des Seienden läßt sich auch i n der Natur direkt wahrnehmen. Die Natur befindet sich beständig — i n ihrem lebendigen Teile sichtbar — i n Veränderung. Sie gebiert, sich wiederholend, Neues, sie wächst und steht i n Fülle, endlich neigt sie sich wieder i n ihren Anfang zurück. Die Phase des Wachsens ist die 49 Dagegen scheint es ein, j a der Allgemeinbegriff schlechthin zu sein (S. th. I q 7 a 1 corp: maxime formale omnium). Aber das täuscht. Gerade i m esse ist, w i e w o h l es die leere Allgemeinheit auch sagen kann, die letzte Verbindung des Denkens zur W i r k l i c h k e i t gewährleistet, vgl. zum esse formale, K . Rahner, Geist i n Welt, München 1957, S. 183 - 188.

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

Zeit, i n der ihre Wirklichkeit zum Durchbruch kommt. Treibend betreibt die Natur das Geschäft ihrer Entfaltung, indem sie sich aus einem Trieb zur Blüte wandelt. Wo die Natur treibend ist, w i r k t sich ihre Wirklichkeit aus. Dieses in-Wirkung-sein 5 0 der Natur ist realisierte Wirksamkeit, i n A k t i o n befindliche Wirkfähigkeit, Energeia. „Energeia" verschränkt i n seiner Wortbedeutung glücklich und besser als W i r k samkeit den eigentümlichen Vollzugscharakter und die latente Kraft der Wirklichkeit. Sie beschreibt daher die Bewegung des Seienden 51 , worin sie gleichermaßen A k t und Potenz, Statik und Dynamik miteinander i n Übereinklang bringt. Während das Sein als unendliche W i r k lichkeit und reiner A k t die Möglichkeit wie das Nichts außer sich hat, ist das Seiende, das aus dem Nichts i n die Wirklichkeit gehoben ist, von der Möglichkeit so durchsetzt, daß es die Wirklichkeit immer auch als Drang nach ihr, als Ziel, noch unverwirklicht und lediglich i m Modus der Möglichkeit i n sich hat. Energeia ist deswegen i n erster Linie W i r k lichkeit des „noch nicht", deren innere K r a f t nicht aus der Möglichkeit, sondern von der Anziehungskraft der zu verwirklichenden Wirklichk e i t 5 2 stammt. Soweit Energeia aber Wirklichkeit ihrer selbst und nicht Möglichkeit einer Wirklichkeit ist, ist sie innere Kraft, die treibend der Anziehungskraft, unter die sie geraten ist, Vorarbeit leistet. Gezogen und treibend beweist das Seiende, daß es sich noch kräftig nach der Verwirklichung drängt, auch wenn es schon ins Werk gesetzte Möglichkeit ist. Die Natur ist daher unter einem passiv-aktiven Antrieb immer über ihren Stand hinaus auf einen anderen Zustand ausgerichtet. Wo die Energeia i m Seienden sich mindert oder ausfällt, mindert sich dessen Wirklichkeit zu einem bloßen Dasein, das an der unteren Schwelle zum Nichts 5 3 i n Schwäche verharrt. Denn Schwäche ist ein Erlahmen der aktiven Antriebs- und ein Nachlassen der ziehenden Wirklichkeit. Stärke dagegen ist die volle Trieb- und Anziehungskraft i m energetisch bewegten Seienden. Es ist jedoch mit diesem Spielraum innerhalb von Energeia, der zugleich die Wirklichkeitsweisen des Seienden vom bloßen Vorhandensein bis zur wirkenden Wirklichkeit angibt, noch nichts darüber ausgemacht, 50 „Da alles i n der Natur, besonders aber die allgemeinen K r ä f t e u n d Elemente i n einer ewigen W i r k u n g u n d Gegenwirkung sind" Goethe, Der V e r such als V e r m i t t l e r von Objekt u n d Subjekt, zit. nach Cotta'sche Gesamtausgabe i n 22 Bd., Stuttgart, Bd. 18, Schriften zur Morphologie I, S. 85. 51 Vgl. Metaph. 1047 a 30, 35. 52 Brentano, a.a.O., S. 44, weist darauf hin, daß Aristoteles m i t den Benennungen έν έργεια u n d έν τελέχεια abwechseln kann. Ebenso Heidegger, V o m Wesen und Begriff der φύσις, S. 354. 53 Qu. d. pot. q 5 a 1 ad 16. Aber nicht m i t einer Tendenz zum Nichts: tendere i n n i h i l u m non est proprie motus naturae, q u i semper est i n bonum, sed est ipsius defectus.

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wie die treibende und die ziehende Kraft i m Seienden zueinander stehen. Sicher sind sie nicht dasselbe aus zwei verschiedenen Richtungen, i m her-zu und her-von, betrachtet, weil Druck und Zug 5 4 zwei getrennte Kraftquellen aufweisen. Sie müssen aber am selben Seienden ansetzen. Das Seiende ist als Energeia ins Werk gesetzte Möglichkeit 5 5 . Soweit es Wirklichkeit ist, hat es die Möglichkeit nicht mehr innerlich, sondern bloß außer sich, es w i r k t also, ohne dabei sich zu verwirklichen; soweit es Möglichkeit ist, kann es Wirklichkeit werden, weil es noch nicht ist. Die Treibekraft ist daher i m Seienden, sofern es wirklich ist, die Anziehungskraft ist am Seienden, sofern es möglich ist. Weil aber die reine Möglichkeit nichts ist, so erhellt, daß die Anziehungskraft am Seienden ziehen kann, sofern es möglich ist, daß sie aber an i h m nur ansetzen kann, sofern es wirklich ist. Die Treibekraft ist daher nur dazu da, der Anziehungskraft den einmal erwirkten Ansatz zu erhalten und zu verbreitern, den Widerstand des Verharrens überwinden zu helfen und dem Rückfall ins Nichts, der „Schwerkraft" 5 6 , entgegenzuwirken, damit die Anziehungskraft leichteres Spiel hat. Als Möglichkeit allein hat die Möglichkeit keinerlei Drang zur Wirklichkeit; diejenige Möglichkeit, die als latente Wirklichkeit verstanden wird, ist nämlich immer schon die Möglichkeit eines Seienden, also ins Werk gesetzte Möglichkeit; und hierin hat die Möglichkeit einzig die Funktion eines „noch nicht", mit der zusammen der Begriff einer entwicklungsfähigen oder unentwickelten Wirklichkeit zu fassen ist. Möglichkeit diesseits der Wirklichkeit ist ein Nichts. I n der Paarung mit der Wirklichkeit ist sie nicht die Macht des freien Könnens, das immer die Souveränität eines unumschränkt Wirklichen voraussetzt, sondern eher ein gefährlicher Hang zum Nichts. Nur i n der Wirklichkeit ist daher diejenige Möglichkeit fundiert, die, als ins Werk gesetzte Möglichkeit, den Grund einer neuen, weiteren Verwirklichung abgibt. Die Bewegung geht infolgedessen zwar beim Seienden von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, aber dem zuvor von der Wirklichkeit i n die Möglichkeit hinein; die Möglichkeit ist nicht das erste 57 . Die Wirklichkeit stammt nicht aus der Möglich54 Diese zugegeben etwas veraltete Physik gibt m i t Druck u n d Zug zwei metaphorisch noch gut brauchbare Begriffe her, m i t denen sich A k t i v i t ä t u n d Passivität i n den Zusammenhang von K r a f t u n d Bewegung überführen lassen. 55 Przywara, a.a.O., S. 133, spricht von aktiver Potentialität. Das ist der angemessene Ausdruck, u m die vorbetont negativ passive Empfänglichkeit des Seienden richtig zu treffen. Die Vokabel »dynamisch' ist dagegen, sofern sie genau das Energetische ausdrücken w i l l , falsch. 56 Der Vergleich stammt von Simone Weil, die i h n allerdings i n einem anderen, exklusiv theologischen Sinn gebraucht, vgl. Schwerkraft u n d Gnade, München 1954, S. 63. 57 s. theol. I q 3 a 1. I n uno eodemque quod transit de potentia i n actum, prius sit potentia quam actus tempore; simpliciter tarnen actus est prior potentia, qua quod est i n potentia non reducitur i n actum nisi per ens actu. — Heidegger, V o m Wesen u n d Begriff der φύσις, S. 356 hält dafür, daß diese

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

keit, wie es scheinen könnte, sondern die Möglichkeit ist aus der W i r k lichkeit ermöglicht und i n ihr grundgelegt. Die nach Wirklichkeit drängende Energeia ist noch unverwirklichte, unentfaltete Wirklichkeit. Da das Seiende vom vollständig Wirklichen angezogen wird, die begrenzte Form des Wesens dieses Wirklichen jedoch noch nicht die ganze Wirklichkeit ist, muß das Seiende sich auf die unendliche Wirklichkeit h i n vollenden, verwirklichen wollen. Das Seiende ist daher i n einer Bewegung auf die unendliche Wirklichkeit zu. Da diese aber das ganze Sein ist, ist das Seiende wirkend auf das Sein hin ausgerichtet. b) Die Entelechie Das, worauf etwas ausgerichtet ist, das ist sein Ziel. Weil das Seiende auf das Sein aber nicht nur ausgerichtet 58 ist, sondern das Sein als die volle Wirklichkeit der Möglichkeit nach schon i n sich trägt, hat es sein Ziel i n sich. Das ist die Entelechie des Seienden. Die Entelechie ist jedoch nicht nur die Konsequenz davon, daß das Sein unendliche Wirklichkeit, das Seiende wirklich und energetisch ist. Sie läßt sich, wiederum, aus dem Seienden selbst aufweisen. Das Seiende begegnet immer i n der Zusammensetzung von Wirklichkeit und Möglichkeit. Vermöge dieser Konstitution ist es hinfällig und trächtig auf etwas hin, das es vor sich hat. Solang die Bewegung aufsteigt, ist das i n der konkreten Natur die Gestalt, der sich jedes einzelne Seiende nähert. Die Näherung vollzieht sich jedoch nicht i m Nachahmen, i n der Imitation eines Fremden, sondern i m Einholen des Eigenen, das i m Ursprung da ist. Das Ziel ist schon am Ursprung i n das Entsprungene eingesenkt; das, was entspringt, ist auch schon auf sein Ziel hin da, sobald es da ist, weil alles Dasein an seinem Ursprung samen- und keimhaft ist. Die Eiche „ i n der Kraft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer Äste und den Massen ihrer Belaubung" — und zwar nicht nur als Baum, sondern als Eichbaum, ja sogar als dieser bestimmte Eichbaum, wie man dieses Hegel'sche B i l d vollends aus-

Transformation der griechischen i n die entsprechenden lateinischen u n d deutschen Begriffe „die griechische Welt verschüttet". Außerdem ist er davon überzeugt, daß die Möglichkeit wichtiger u n d höher steht als die W i r k l i c h keit, Z u r Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 90 — ein doch w o h l schlechter Anthropomorphismus. 58 Wenn die Metaphysik ein nach dem Muster der unendlichen Intentionalität gebautes Weltverständnis ist (vgl. E. Tropitsch, V o m Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien 1958, S. 19, 280), gehört die Entelechie freilich ins Museum. Möglicherweise ist aber damit, daß die Gerichtetheit auf den Menschen h i n durchsichtig zu machen ist, noch nicht entschieden, ob dabei eine richtige oder eine falsche E r k l ä r u n g beigebracht w i r d .

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ziehen müßte 5 9 — ist als latente Wirklichkeit, freilich auch noch von unzähligen anderen Bedingungen abhängig, i n der Eichel da. Genauso oder auf ähnliche Weise hat alles naturhaft Seiende sein Ziel i n sich, indem es auf seine Gestalt hin ausgerichtet ist 6 0 . Das Ziel ist unreif, unentwickelt ins Seiende eingelassen. Das Seiende hat daher sein Ziel vor sich, indem es das Ziel i n sich hat. Nur dadurch ist dieses Ziel das eigene Ziel des Seienden, aber auch nur dadurch ist eine Verwirklichung des Seienden lediglich i n dem Maße, als es seinem eigenen Ziel gehorcht, möglich. Die Gestalt des Seienden, das ist die i m Wachsen, Werden zum Vorschein kommende, sich entfaltende Form des Seienden, ist daher nur dann gelungen und wahrhaft Gestalt, keine „Ungestalt", wenn das Seiende das wird, was es ist. I n der Entelechie ist deswegen ein Imperat i v des Seienden zu sich selbst fundiert, weil das Seiende immer mit einem noch-nicht seiner selbst behaftet bleibt. Das endliche und daher auch einholbare Ziel ist für jedes Seiende die Vollgestalt seiner selbst, i n der es ausgebildet und entwickelt ganz da ist. Daher ist Entwicklung dieser Gestalt der Vollzug des Seienden zu sich selbst. Fortschritt also innerhalb dessen eine schrittweise Realisierung der bereits angelegten Wirklichkeit. Daß die Gestalt das Ziel des Seienden wäre, die Entelechie daher i n der Wesensform an ihr Ziel gekommen sei, würde sich aus der Natur herauslesen lassen, wenn nicht die Gestalt selber, i n ihrer Blüte, i n ihrer Reife, nur ein Durchgang wäre. Das Ziel, das nicht bleibt, ist eine flüchtige Beruhigung und den Stationen seiner Realisierung nur i m Rang überlegen. Dauer ist es jedoch sowenig wie sie. Das unendliche Ziel des Seienden, ja auch der vollendeten Gestalt, bildet daher die Wirklichkeit des unendlichen Seins allein, i n der allein das Seiende ruhen kann 6 1 . 59 I n der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, H a m burg 52, S. 16. 60 I n der modernen Biologie, besonders bei Verhaltensforschern, scheint zwar die Finalität gegen die Kausalität nicht mehr m i t h a l t e n zu können. K . Lorenz w e h r t sich alleweil dagegen, „daß die Frage ,warum? 4 m i t einem ,damit' beantwortet w i r d " . Das sogenannte Böse, Wien 1963, S. 123; V o m W e l t b i l d des Verhaltensforschers, München 1968, S. 15. A b e r f ü r diese A b lehnung muß der Vitalismus haftbar gemacht werden, der methodisch i n der Biologie als empirischer Naturwissenschaft n u r V e r w i r r u n g stiften kann, ganz abgesehen davon, daß eine Hypostasierung der Lebenskraft eine Ungereimtheit ist. Gegen eine beidseitige finale u n d kausale Betrachtung der Lebensvorgänge hat K . Lorenz dagegen nichts; sie befürwortet er sogar stark. Das sogenannte Böse, S. 325. Wie Finalität u n d Kausalität, die auf verschiedene Beobachtungssituationen bezogen sind, i n der N a t u r komplementär zusammenpassen, zeigt eine, aus Erinnerung rekonstruierte u n d Niels Bohr i n den M u n d gelegte Bemerk u n g i n W. Heisenberg, Der T e i l u n d das Ganze, München 1969, S. 154, 155. 61 „Wandelt sich rasch auch die Welt w i e Wolkenges t a l ten, alles Vollendete fällt heim zum Uralten." R. M. Rilke, Sonette an Orpheus, 1. T e i l X I X , zit. nach Ausgewählte Werke, Hrsg. E. Zinn, Insel-Verlag 1950.

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Dieses Ziel, auf das h i n das Seiende die Endlichkeit seiner Gestalt i n die Unendlichkeit überschreitet, hat es nicht wie die Gestalt i n sich, sondern als Sehnsucht. Es ist als Ganzes, i n seiner Vollgestalt am deutlichsten, die Öffnung auf dieses Ziel hin. Wie das Sein auf das Seiende eine Anziehungskraft ausübt, so hat das Seiende, wenn es auf seine Gestalt dringt, immer auch schon die Bereitwilligkeit, dem Sein anheimzufallen. Es hat daher nicht nur sein endliches Ziel, die eigene Gestalt, i n sich, sondern darin erst eigentlich sein Ziel: das unendliche Sein. c) Das Werden Die Entwicklung des Seienden zu dem, was es ist, ist ein Werden. Aber auch wenn es seine Vollgestalt erreicht hat, bleibt es nicht stehen, denn der Höhepunkt ist der Beginn des Abstieges. Aufsteigend oder absteigend verändert sich das Seiende; es ist daher nur, indem es wird. I m Werden ist das Seiende, Energeia wie Entelechie übergreifend, am allgemeinsten bestimmt. Es ist schlechthin die Weise, wie das naturhaft Seiende da ist 6 2 . Veränderlich, beständig sich wandelnd, ohne andere Dauer als die des Wandels, der Vergänglichkeit unterworfen auch dort, wo es nach Festigkeit aussieht. So macht das Werden, obwohl es das Seiende als ein sich Entwickelndes und daher Zukunftsträchtiges zeigt, auch die ganze Fragwürdigkeit des Seienden offenbar: Wenn das Seiende nur i m Übergang, i m Durchgang sich befindet, wenn es nichts Bleibendes und Ständiges ist, besteht da überhaupt eine Berechtigung, vom Seienden zu reden? Wenn das Werden als ein Vergehen nur ein interimistisches Sein zuläßt, ist da nicht das, wovon das Seiende seinen Namen hat, ausgelöscht und überflüssig? Indes, i m Entstehen und Vergehen, worin sich das Werden, als die Bewegung des Seienden i n sein A u f und Ab zerteilt, zu erkennen gibt, w i r d das Seiende erst richtig faßbar. Das Seiende ist nicht als ein plan und starr Unveränderliches da, sondern als ein Veränderliches. Dabei fordert aber gerade und allererst der Begriff der Veränderung, daß etwas ist, an und mit dem sich die Veränderung vollzieht. Wenn ein Schmetterling die Larve, die er vorher war, abstößt und etwas anderes wird, dann ist damit, daß die Veränderung angemerkt wird, gerade das Kontinum dessen, woran sie wahrgenommen wird, und die Identität des sich wandelnden Seienden bejaht. Änderung gibt es nur, sofern sich etwas durchhält. Wo dasjenige, von dem die Änderung ausgesagt wird, nicht i n der Änderung auch noch erhalten bleibt (subsistiert), so daß die Änderung am selben 02 Bei Hegel ist das Werden überhaupt die Wahrheit von Sein u n d Nichts, Bewegung des unmittelbaren Verschwindens von Sein u n d Nichts, u n d u m gekehrt. „Das Werden ist eine haltungslose U n r u h e . . . " Logik, ed. Lasson, S. 67, 93.

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Gegenstande geschieht, ist eine Änderung begriffsunmöglich. Verändern heißt immer etwas verändern, sich verändern heißt, daß dasjenige, das sich verändert, auch als das, was es ist, dasselbe bleibt. Veränderung fordert also, daß das sich Ändernde als es selbst i n ihr beständig bleibt, sie fordert damit den Begriff der Substanz 63 . Veränderung und Substanz sind korrelative Begriffe, sie bedingen sich wechselseitig und ohne den einen ist der andere sinnlos. Substanz darf nun aber, damit sich das Mißverständnis des Seienden als unbewegliche Starrheit nicht sozusagen einen Stock tiefer noch einmal wiederholt, nicht als etwas von der Veränderung Unangetastetes vorgestellt werden. Der Wortsinn freilich kann dazu verführen, die Substanz als ein „unter" dem Wandelbaren Liegendes aufzufassen, das jedem Wandel entrückt ist, als einen Träger, der wie ein Theaterboden Spiel u m Spiel über sich ergehen läßt. Eine derartige Verzerrung, an der die Spätscholastik 64 nicht unschuldig ist, hat m i t Substanz jedoch nichts mehr zu tun. Substanz ist nichts (gar noch räumlich) Darunterliegendes zu irgend einem Getragenen, sondern ist unlösbar von ihren Eigenschaften und nur mit ihnen zusammen zu denken. Sie ist nur Träger, wenn sie trägt; wenn man sie vom Getragenen abtrennt, w i r d sie ein Abstraktum, statt das Fundament der Wirklichkeit zu bilden. Substanz ist das, was i n der Veränderung das Auseinanderbrechen des sich Ändernden hindert und die Stetigkeit stiftet. Sie ist daher das, wodurch i n der Veränderung ein sich-gleich-Bleibendes bleibt, eine In-sich-Ständigkeit. Nötig w i r d sie begrifflich nur, u m das Phänomen der Veränderung, das mit dem Werden aufgeworfen ist, zureichend verstehen zu können. Dabei ist sie dasjenige, was verändert wird. Zugespitzt bis zur Paradoxie muß man daher sagen: Die Substanz ist dasjenige, was verändert wird, und, die Veränderung ist der Vorgang, der der Substanz widerfährt 6 5 . Es mag 63

Vgl. zum folgenden K a n t , K r i t i k der reinen Vernunft, Β 225 ff. (S. 220 ff.). Dabei w i r d das Sein zu einem abstrakten genus, das Gott u n d die K r e a turen einschließt, zu einer Abstraktion von allen Besonderungen, es w i r d zu einem logischen Begriff, der gerade das am Sein, daß es w i r k l i c h und nicht n u r gedacht ist, zu verlieren beginnt. Es w i r d einem Begriffsrationalismus vorgearbeitet, der die Bedingung f ü r den Verlust der Geschichte w i r d . Vgl. Siewerth, Schicksal der Metaphysik, S. 120 ff., S. 127, w o gezeigt w i r d , wie bei Franz Suarez die reine, seinsvergessene Vernunft i n dieser n u r noch rationalen Metaphysik sich zu besonderer Durchsichtigkeit vorgedrungen wähnt. 65 K a n t scheint m i r an dieser Stelle unübertroffen: „Veränderung ist eine A r t zu existieren, welche auf eine andere A r t zu existieren eben desselben Gegenstandes erfolget. Daher ist alles, was sich verändert, bleibend, u n d n u r sein Zustand wechselt. Da dieser Wechsel also n u r die Bestimmungen t r i f f t , die aufhören oder auch anheben können: so können w i r . i n einem etwas paradox scheinenden Ausdruck, sagen: n u r das Beharrliche (die Substanz) w i r d verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen Wechsel, da einige Bestimmungen aufhören, u n d andre anheben. Veränder u n g k a n n daher n u r an Substanz wahrgenommen werden . . . " (B 231). 64

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

zwar immerhin eine relative, äußerliche Änderung an den Akzidentien geben (die nur i n der Abscheidung des „Wesentlichen" ein hilfreicher, sonst aber manches verunklärender Gegenbegriff zur Substanz sind, w e i l sie die Eigenschaften der Substanz als hinzukommendes mißverstehen helfen) 66 , wichtig ist jedoch nur, daß die Veränderung (die mehr als ein Wechsel ist) die Substanz betrifft. Die Veränderung, das Werden ergreift daher durch und durch die Substanz, der Begriff der Substanz ist also nicht nur kein Widerspruch zum Werden, sondern er ermöglicht sogar allererst, dem Werden einen Inhalt abzugewinnen. Das Seiende, das i m Werden ist, ist daher i n seinem Wandel ein Bleibendes, seine „Unveränderlichkeit" besteht i n der Beständigkeit seines Wandels 67 , seine Dauer ist Dauer i m Wandel. Die Veränderung vollzieht sich nicht an einer unveränderlichen Substanz, sondern i n ihr, dergestalt, daß sie Veränderung der Substanz ist. Das Seiende bleibt daher i n der Bewegung dasjenige Seiende, das es ist. Das Werden macht das Seiende nicht zunichte, es reinigt es jedoch i m substantialen Sein von einem statischen Verständnis. Da das Seiende i n seinem Werden die Substantialität herauskehrt, t r i t t es nach rückwärts und vorwärts als ein Bleibendes auf. Alles naturhaft Seiende hat jedoch Anfang und Ende, und, wo es lebt, lebt es zwischen Geburt und Tod. Ist die Substantialität des Seienden daher der Beweis seiner Unsterblichkeit und seines anfangslosen Anfangs? Ist da ein ewiges Werden? Solang Anfang und Ende, Geburt und Tod am einzelnen Seienden innerhalb dessen, was vorhergeht, bzw. nachfolgt, und nicht exemplarisch für Anfang und Ende schlechthin genommen werden, ist es i n der Tat möglich, das Nichtsein vorher und nachher als eine Modalität des Seins, also als ein anderes und daher sich durchhaltendes Sein zu sehen. Das ist nicht mehr möglich, wenn m i t Anfang und Ende auch i m einzelnen Seienden radikal Ernst gemacht wird, wenn sie für Geburt und Tod all dessen, was ist, stehen. Denn dann ist das Nicht-Sein die Negation des Seins und kein Modus des Seins, sondern nichts — das Nichts. Hier, an seinem Ursprung und i n seinem Tod, ist das Seiende an seinem Rand; der Abgrund, an dem die Bewegung des Werdens aufkommt und i n den sie mündet, schillert zwischen Sein und Nichts. Die Grenze, die dabei überschritten wird, 66

Kant, a.a.O., B. 231. „Die Bestimmungen einer Substanz, die

nichts

anderes sind, als besondere Arten zu existieren, heißen Akzidenzen" (Hervor-

hebung v o m Verfasser, nicht bei Kant). Anschließend läßt K a n t aber doch eine gewisse Unstimmigkeit i m Akzidenzbegriff bestehen, u m dasjenige, „was i m Dasein einer Substanz wechseln k a n n " sondern zu können. So gew i n n t er die Unterscheidung: Veränderung u n d Wechsel. 67 „ M y unchangeableness here below is perseverance i n changing", J. H. Newman. Przywara hat dieses W o r t seinem Büchlein „Wandlung", Augsburg 1925, vorangestellt.

I I . Die N a t u r als Seiendes

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bezeichnet einen Übergang aus dem und ins Grenzenlose. Daß das Seiende aus dem Sein stammt und aus i h m erwirkt sein muß, ist sicher, weil es nicht aus dem Nichts sein Sein, mit dem es ist, haben kann; ob es dahin zurückkehrt und den Tod als Wandlung stirbt, dagegen nicht, weil der Überschritt zurück auch ins Leere gehen kann. Trotzdem muß das Seiende auch aus dem Nichts sein, weil sonst kein Anfang ist, wie es auch ins Sein zurückkehren muß, damit sein Sein nicht ein Nichts wird. Und schließlich ist auch gleichermaßen die Behauptung, das Seiende sei aus dem Sein und gehe ins Sein zurück, wie deren Gegenteil erlaubt, nach der das Seiende aus dem Nichts kommt und ins Nichts geht. Jede dieser Aussagen ist richtig und jede ist für sich allein falsch 68 . Denn die Substanz kann selbst, obwohl sie der Begriff ist, i n dem sich der Bestand des werdenden Seienden durchhalten läßt, nicht außerhalb des Seins und dessen „Identität" m i t dem Nichts erfaßt werden. d) Die Zeitlichkeit I n der Substanz ist das Seiende seinem Werden nach begriffen; als Werdendes genommen, w i r d es i n seiner Zeitlichkeit kenntlich, weil die Veränderung des Werdens sich i m Auseinander der Bewegung abspielt 69 und damit i m Nacheinander der Zeit verläuft. Das Seiende ist daher i n der Zeit, es ist zeitlich. Die Zeit ist nicht anders als i m Bewegten, das sie i n seiner Bewegung begleitet. Eine leere, abstrakte Zeit gibt es nicht, weil das Nacheinander, i n das die Zeit fließend ihre Zeitpunkte reiht, nur eine Weise der Bewegung ist. So hat die Zeit am Seienden ihre Anhaltspunkte und erhält i n seiner Bewegung ihre Einteilung. Bis dahin, daß jedes Seiende seine eigene Zeit hat. Das Seiende ist aber auch i n die Zeit gestellt, die sich als von i h m her gewährte Anschauungsform dem Seienden als objektives Zeitmaß wieder zukehrt. Z w i schen dem Seienden und der Zeit besteht eine Wechselbezüglichkeit und gegenseitige Abhängigkeit, die es nicht zuläßt, das Seiende i n der Zeit oder die Zeit i m Seienden zu fundieren. Außer dem Seienden ist keine Zeit, außer der Zeit ist kein Seiendes. Das Seiende entspringt daher als ein Zeitliches 70 , weil sein Ursprung auch der von Zeit ist. 68 I m Muster der Kantschen A n t i n o m i e n der reinen Vernunft wäre hier auf die erste Antinomie — v o m Anfang oder Nichtanfang der Welt — durchzublicken, Β 452 ff. 69 D a r i n gründet das Zueinander von Raum u n d Zeit. Vgl. Beck, a.a.O., S. 325. 70 Vgl. M. Müller, Existenzphilosophie i m geistigen Leben der Gegenwart, 3. Aufl. Heidelberg 1964, S. 49: „Nicht die Zeit bemächtigt sich des zeitlosen Seins, sondern dieses selbst ist das Sich-Zeitigende u n d damit das alle Zeit Zeitigende. Diese ,Kehre 4 , i n der nicht das Sein i n die Zeit e i n t r i t t u n d von der Zeit her (als ,unserer' Zeit, d. h. als unserem Leben u n d der i h m als Vitalbewegung entspringenden ,Lebenszeit') auf das Sein zugegangen

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1. Kapitel: Der Begriff Natur-ontologisch

Was die Gleichursprünglichkeit des Seienden mit der Zeit bedeutet, kann daher ebenfalls aus dem gegenseitigen Bezug erhellt werden: Das Seiende ist i n der Zeit, indem es ihr unterworfen ist, und indem es Zeit hat. Die Veränderung und der Wandel, Wachsen, Gedeihen, Verderben, Verkümmern, Aufstieg und Niedergang — das sind die Geschehnisse, denen das Seiende ausgesetzt ist, weil es der Zeit unterworfen ist. Vergänglichkeit ist die letzte Hinterlassenschaft dieser Zeit, der das Seiende gehorcht. A n nichts geht sie spurlos vorüber, kein Ding vermag ihr zu widerstehen. Aber das Seiende kann sich auch die Zeit nehmen und seine Zeit aus ihr machen 71 . Nicht die Zeit hat nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern das, was ist. Es ist ja zwischen seiner Vergangenheit und seiner Zukunft, wenn es ist. Darin, daß es nicht mehr ist, was es war, und noch nicht ist, was es sein wird, hat es sein Dasein, i n welchem es ist. Gegenwart ist der ungreifbare Ort auf der Schwelle vom nicht mehr zum noch nicht, der seltsame springende Punkt über dem Fluß der Vergangenheit i n die Zukunft. A u f der einen Seite ist es nicht möglich, die Zeit zu atomisieren, weil der Augenblick der Gegenwart i m Fluß der Zeit so bleibt wie das Seiende i n der Bewegung; auf der andern ist es selbstverständlich, die Zeit i n die verschiedensten Einheiten zu zerlegen und dadurch zu messen. Aber die Gegenwart ist weder als der Fluß noch als der Punkt der Zeit, sie ist nichts anderes als der Tangentialpunkt, i n dem das Sein das Seiende, dieses Rad der Zeit, von oben wie eine darüberlaufene Hand treibt und bewegt. Doch auch dieser Vergleich ist unzutreffend, weil er das andere, die Vergangenheit und die Zukunft, nicht illustriert. Die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft noch nicht, aber beide sind Formen der Zeit. Das Seiende hat daher seine Vergangenheit und seine Zukunft, zurück bis i n seinen Anfang und vorwärts i n sein Ende. Seine Zeitlichkeit ist genau seiner Werdehaftigkeit synchronisiert und bietet deren ontologische Sachverhalte i n der Zeitform dar. Anfang und Ende des Zeitlichen weisen, wie das Seiende i n das Sein, ebenso selbstverständlich und unbegreiflich i n die Ewigkeit, die dem Seienden überdies i m Jetzt der Gegenwart eingesenkt ist. Die Zeitlichkeit des Seienden hängt an der Ewigkeit des Seins, die nur i m zeitlichen Ausdruck irdischer Gegenwart 72 anschaulich ist. Wo die Zeitlichkeit zum Synonym für Verw i r d , sondern w o die Zeit dem Sein entspringt, d. h. sie und alles, was ,in der Zeit', von ihm, dem Sein, her sinnhaft w i r d u n d verstanden w i r d , diese Kehre sollte der I n h a l t des unveröffentlichten I I I . Abschnitts des 1. Teils von ,Sein u n d Zeit 4 bilden . . . E r hätte i n ein Gebiet geführt, i n dem Heidegger nach eigener M i t t e i l u n g damals nicht weiterkam, w e i l i h m die adäquate Sprache f ü r das hier zu Sehende u n d zu Sagende fehlte." 71 U n d zwar „je höher eine N a t u r ist, desto unmittelbarer steht sie i m Jetzt der ontologischen Gegenwart", F. Ulrich, aa..O., S. 163. 72 Wenn Heidegger, Z u r Sache des Denkens, Tübingen 1969, i n dem Vortrag ,Zeit u n d Sein 4 (der i n etwa an die Stelle des ausgefalenen Abschnitts i n ,Sein

I I . Die N a t u r als Seiendes

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gänglichkeit wird, da gerät sie unter die Last der Vergangenheit. Als diese vom Vergangenen bewogene Zeitlichkeit w i r d sie zur Geschichtlichkeit, i n der das Seiende seiner Vergangenheit verbunden und nur durch sie verständlich ist. Wenn das Verständnis nicht historisch auf Fakten gedrosselt oder auf immer neue Vorvergangenheiten relativiert wird, erwächst daraus eine Einsicht i n die konkrete Bestimmtheit des Seienden, die der Geschichte als einem Schicksal und Geschick des Seienden nur mehr aus dem hohen Verstand einer leidenden und zugleich tätigen Verfügung Herr wird. Ob das Seiende lebt und sich daher selbst geschichtlich zu begreifen vermag, wie es i n einer mehr als instinktiven Weise nur dem Menschen möglich ist (so daß die Geschichtlichkeit i m genauen Sinn seine Form der Zeitlichkeit bleibt) oder ob das Seiende nur i m Fluß der Zeit ist, gleichviel: es ist innerlich der Zeit verhaftet und nur zeitlich da. Wie das Werden, das die Bewegung des Seienden ist, aber nur i n der Substanz des Seienden vor einem Zerfall i n starre, beziehungslose Momente gefeit ist, so hat die Zeit ihre innere Vermittlung zur Kontinuität darin, daß sie gegenwärtig ist. Sie ist nicht der Fluß, sondern sein Wasser, sie ist keine Linie, sondern Linie auf einem unendlichen Kreis 7 3 . Die Ewigkeit des Zeitlichen, das ist die Gegenwart. Das Seiende kann zeitlich sein, d. h. es kann überhaupt nur vergangen oder zukünftig sein, w e i l es gegenwärtig sein kann. Die Zeit gründet i n der Gegenwart, Gegenund Zeit' gehört, A n m . 70) Sein ohne das Seiende zu denken versucht u n d doch die Berechtigung, i n gleicher Abgrenzung von der Zeit reden zu dürfen, daraus herleitet, daß „aus Anwesen, Anwesenheit Gegenwart spricht", S. 2, dann fragt sich der Leser allmählich: W a r u m verzichtet er, w e n n er schon Gegenwart sagt, auf den Sachverhalt, den das alte W o r t Ewigkeit heranholt? Das Jetzt ist doch unabweisbar ein nunc fluens u n d durch es hindurch ein nunc stans (Thomas S. th. I q u 10 a 2 ad 1), oder nicht? Der ,Augenblick' : Vielleicht trüge er dafür, daß „der Mensch i n das Ereignis gehört" (S. 24), mehr Erfahrung bei, als m i t einer Ü b e r w i n d u n g der Metaphysik denkerisch plausibel zu machen ist. Diese Erfahrung gestattet es allerdings, „die Metaphysik sich selbst zu überlassen" (S. 25). N u r macht sie dabei, diese Erfahrung, w e i l sie m i t der Liebe zu t u n hat, nicht die Solidarität m i t den anderen Menschen u n d der N a t u r zunichte, gegen welchen Verdacht ein Sein, das immer ohne das Seiende bliebe (S. 25), sich schwerlich w i r d verwahren können. 73 Nicht: I n der ständigen Wiederholung eines Kreises. Nicht die Rede von Ursprung u n d Ziel w i r d unsinnig i n einer zeitlosen Kreisbewegung, sondern das Auseinander von Ursprung u n d Ziel soll auch wieder eine Einheit haben. I m Bild, w i e gesagt: Nicht Linien, nicht Kreis, sondern ein einziger, aber unendlicher Kreis (mit unendlichem Radius). Hegel, Logik, Bd. I, S. 138, hat L i n i e u n d Kreis unversönlich gegeneinander gestellt. Der Kreis ist i h m das B i l d der wahrhaften Unendlichkeit. Der unendliche Kreis, i n dem auch die L i n i e aufgehoben ist, wäre angemessener. Daß die Geschichtslosigkeit der N a t u r eine optische Täuschung ist u n d daß der zweite Hauptsatz der Thermodynamik prinzipielle Unumkehrbarkeit u n d Unwiederholbarkeit besagt, dazu vgl. C. F. von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, Göttingen 51962, S. 10. Nietzsche m i t seiner „ewigen Wiederkehr" ist dieser optischen Täuschung verfallen.

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1. K a p i t e l : Der Begriff Natur-ontologisch

wart aber ist die beständige Ewigkeit des Zeitlichen. Das Seiende als das Zeitliche ist daher i n seiner ganzen zeitlichen Erstreckung aus der Ewigkeit des Seins zur Gegenwart ermächtigt. Zeit und Geschichte, Bewegung des Werdens und Vergehens, Zielgerichtetheit und Wirksamkeit machen das Seiende aus. Es sind Begriffe, mit denen der Natur als dem Seienden, das sie zuerst ist, Rechnung getragen wird, die aber allesamt, obwohl sie auch der Erfahrung entstammen und aus der Anschauung leben können, für sich allein nicht hinreichen und daher zugleich mit sich selbst auch die Natur auf das Sein durchsichtig machen. I I I . Die innere Konstitution des Naturbegriffs Der Ansatz beim ursprünglich Seienden als dem konkret am Dasein orientierten Begriff der Natur rückt die Natur sowohl als Seiendes wie auch i m Sein dieses Seienden i n eine abgründige Dimension und macnt den Abgrund der Natur sichtbar. Dadurch, daß der Begriff nicht von vornherein unter irgendeine präsumptive Vorstellung gerät, sondern bis auf das Dasein dessen, wovon er spricht, auslangt, ist er erst w i r k lich aufzufinden. Und wie zum Lohn dafür, daß das Dasein der Natur einbegriffen, die Natur als Seiendes i n i h m eingeholt ist, tut er sich i n seiner bedingungslosen Abgründigkeit auf. Wenn die Natur i m letzten begriffen sein soll, muß daher ihrer abyssalen Öffnung entsprochen werden. Sie ist ursprünglich Seiendes, das i n all seiner i n der Zeit bewegten Wirklichkeit nicht verleugnen kann, sondern auch da noch i n Ursprung und Mündung bestätigen muß, daß es i n den Abgrund des Seins zurückreicht. Diese Abgründigkeit ist ein Konstituens des Naturbegriffes, sie erklärt seine genetisch-historische Veränderung und w i r f t nebenbei auch ein Licht darauf, warum der Naturbegriff so variabel und gleitend, so relativierbar erscheint. 1. Der abyssus als Bedingung der Möglichkeit für die Unfixierbarkeit des Naturbegriffs

M i t ihr ist, hinter den verschiedensten Auffassungen von Natur und dem Relativismus als deren normalerweise für zureichend gehaltenen Ausdeutung, die Bedingung der Möglichkeit des unfixierbaren und je verschiedenen Naturbegriffs erreicht. Der Abgrund ist bleibend die Unendlichkeitsbezogenheit des Naturbegriffs, über die eine Definition zwar hinwegtäuschen, der sie aber nicht entkommen kann. Noch so genau präzisierte Vorstellungen von Natur halten den einfachsten Ein-

I I I . Die innere Konstitution des Naturbegriffs

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wänden nicht stand, weil sie diesseits der Ontologie und der Wirklichkeit angesiedelt, nie ans Sein gerührt haben. Wahrscheinlich erklärt solch eine Seinsvergessenheit, die wohl einem gut organisierten Schutzmechanismus zur Selbsttäuschung zuzuschreiben ist, die ganze Not, die es mit dem Naturbegriff auf sich hat. Nicht daß der Naturbegriff nicht zu fassen wäre! Aber er ist nur faßbar, indem seine abgründige Unauslotbarkeit einbezogen und reflex i m Begriff gegenwärtig gemacht wird. M i t der Abgründigkeit ist daher die innere Ermöglichungsbedingung dieser Unfixierbarkeit i m Naturbegriff aufgewiesen. Weil die Natur abgründig ist, kann es gar nicht anders sein, als daß sie all den Begriffsfassungen widerstreitet, die sie begrenzt erfaßt zu haben glauben. Sie muß infolgedessen jeden Begriff von ihr, der nicht mit ihrem Dasein und also mit ihrem Abgrund rechnet, als einen Fassungsversuch bloßstellen, der zwar sein relatives Recht haben mag, aber i m ganzen zu kurz und ihrer Tiefe unangemessen ist. Genau so muß sie, ihrer unauslotbaren Tiefe abgerungen, diese einzelnen Fassungsversuche als vorläufige, historisch wie logisch berechtigte Stationen ermöglichen und gutheißen.

2. Andeutende Entfaltung der logisch-historischen Fassung des Begriffs aus der Ontologie

Der ontologische Begriff der Natur fordert und gestattet es daher, aus i h m seine logischen Fassungen zu entfalten. Dabei zeigt sich, daß ihnen in einer zwanglosen A r t die historischen Positionen kongruent sind, so daß die innere Logik des Begriffs auch seine Geschichte ausmacht; das Reden hiervon kann sich zwar nicht den historischen Aussageweisen anbequemen, weil sich i n ihnen allemal der Begriff selbständig artikuliert, aber in einer Übersetzung ist in die ontologisch gewendete Terminologie immerhin einzubringen, in welchem Sinn die ontologisch-logische Bestimmung den historischen Gehalt eines Begriffs jeweils ausmacht. Ein nur i n die Abgründigkeit des Seins zurückgebeugter Naturbegriff erliegt dem Sog dieser Unendlichkeit und zieht, obwohl er eine Frucht des konkretesten Ansatzes ist, die endlichen Formen alle i n die Unbestimmtheit des Grenzenlosen hinein. Solang das Bewußtsein der Seinsbezogenheit noch als naive Ahnung in der Übermacht der Natur erfahrbar ist, geht daher die Bewegung des Begriffs gegen das Sein und folgerichtig darauf zu, i h m die relative Selbständigkeit des Seienden abzugewinnen. Dann aber, wenn darüber der Rückbezug des Seienden aufs Sein gänzlich verloren gegangen ist i m Begriff der Natur, muß er in der entgegengesetzten Richtung wieder erschlossen werden.

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. K a p i t e l : Der Begriff N a t u r - n t o l o g i s c h

Die griechische physis 7 4 ist, noch ganz i m Sein befangen, ohne jede nähere Ausprägung, diejenige numinose Macht, die das Wachsen schenkt. Sie ist als Kraft, der das Seiende entstammt, i n ihrem Walten spürbar; sie gibt das Dasein, ist aber nicht selbst das, was ist. Daher denn auch die Personifikation, i n der nicht irgendetwas Dingliches zu seiner Gesamtheit erhoben wird, sondern i n der mythisch die erlebte Übermenschlichkeit als Gottheit erfahren wird. Bei der Göttlichkeit der Natur, die später aus der Einheit der mythischen Welt i n die Philosophie hinüberreicht 7 5 , ist aber nicht stehenzubleiben: auf der Grenze zwischen Sein und Seiendem, i m Fragen nach dem Ursprung, nach der αρχή, w i r d die Natur zum principium. Sie ist der Ursprung, das, woraus das Seiende entspringt, der Ort, an dem es entspringt, und das Entsprungene an seinem Anfang miteinander, so daß i n ihr die Grenze überschritten wird. Vorsokratisch erscheint daher die Natur elementar i m Ursprung des Seienden. Die αρχή ist nacheinander Wasser, Erde, Feuer, L u f t 7 6 . Jedes der Elemente ist da, ist der Ursprung und dann ein „Element" des Seienden. Sobald m i t dem Ursprung und dem Hervorgang aus i h m der Ort des Übergangs zum Seienden für den Begriff der Natur von Interesse geworden ist, zergeht das Seiende dem zusehenden Verstand in sein Sein, είναι und sein Wesen, ουσία, i n Da-sein und So-sein. Aber es gelingt, i m Begriff der Natur als φύσις zunächst noch diese Scheidung hintanzuhalten, und i n ihn einfach zu sammeln, was den Menschen umgibt. Anschließend jedoch gehen Dasein und Sosein auseinander; indem sich die unendliche Wirklichkeit i n endliche Wirklichkeit vermittelt, „formiert" sie sich zu einer endlichen Einheit, die sie nur i n einer bestimmten A r t i n ihrem Sosein gewinnen kann. Denn das Seiende ist immer so oder so bestimmt, weil es als einzelnes vom andern geschieden ist. Dadurch, daß das Sein dem endlichen Seienden dessen eigene Einheit mit in die Wirklichkeit gibt, erhält das Seiende ein Wesen, das mit seiner substantialen Selbständigkeit ersteht. A u f diese Linie gerät nun der Begriff der Natur, wenn die φύσις Bestimmtheit erhält. Während, wie das lateinisch m i t dem Wort natura letzten Endes geschehen ist, die Bestimmtheit immer konziser, also auch enger wird, dreht sich das Verhältnis von Natur zu Bestimmtheit derart um, daß Bestimmtheit schließlich das ausmacht, was als Natur bezeichnet wird. 74 Z u m folgenden vgl. V. Rüfner, Der Begriff der N a t u r innerhalb des Naturrechts, Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie 34, 1940/41, S. 40 - 8 2 ; H. Leisegang, A r t . Physis i n : Paulys Realenzyklopädie der classischen A l t e r tumswissenschaften, hrsg. W. K r o l l u. K . Mittelhaus, 29. Hlbbd., Stuttgart 1941, Sp. 1129 ff. E . W o l f , Griechisches Rechtsdenken, Bd. 2, F r a n k f u r t / M . 1952. 75 Aristoteles, N i k . E t h i k H. 14 1153 b 32. 76 Vgl. Metaph. 984 a 2 c; Diels - Kranz: Xenophanes, Fr. 27; Heraklit, Fr. 90; Anaximenes, Fr. 2.

I I I . Die innere Konstitution des Naturbegriffs

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M i t einer schwachen Reminiszenz an den Ursprung w i r d Natur das Wesen, natura synonym zu essentia, und fordert jeweils ihr Genitivattribut. Indessen vollzieht sich innerhalb dieser Begriffslogik, die schon griechisch ist, i n langen Sequenzen, die ontologische Ausprägung des Begriffs, bei der er verschiedene Seins-„stufen" hergibt. Die κοιν ή φύσις ist die ganze Welt i n allen ihren einzelnen Bestandteilen 7 7 . Nicht mehr die wirkende Macht hinter dem Seienden, sondern die Gesamtheit der seienden Dinge schlechthin w i r d mit Natur bezeichnet. Wenn aber einmal die Vereinzelung des Seienden wichtig geworden ist, so erleidet der Begriff, der es sagt, notwendig eine Abkehr vom Sein dieses Seienden. Davon w i r d abstrahiert, dafür lassen sich nun Arten und Gattungen des Seienden bilden. Diese Differenzierungen, die das Seiende i n immer engeren Kreisen fassen, sind jedoch gleichwohl immer noch ausdrücklich oder unabsichtlich i n jedem Fall, da sie inwendig von der Seinsnähe der verschiedenen Seienden ermöglicht werden, die gegliederten Analogien des Seienden zum Sein. Nur wenn die Seinshierarchien nicht mehr als je verschieden gesteigerte Seinsintensität der Wirklichkeit als Seinsanalogie verpflichtet bleiben, kann die essentia vom Sein, von ihrem noch i m Wort sich durchhaltenden esse abfallen und i n zwar inhaltlich vollgepfropfte, aber eindimensionale Begriffe abflachen. Zu unterst faßt Natur daher, sobald sie aufs Seiende gewendet ist, den Bereich der unbelebten, leblosen Natur, i n dem sich das Sein auf ein Vorkommen reduziert hat und wo, sobald die Betrachtung und mit ihr der Zusammenhang zum Ganzen ausgeschaltet ist, die Naturwissenschaft beginnt. Deren Begriff von Natur hat sich des Seins als einer Vokabel entledigt, weil es dort ohnehin „bloßes" Dasein sagt und infolgedessen für entbehrlich erachtet werden kann. Da jedoch auch bloßes Dasein schon auf dem Weg zum vollen lebendigen Sein ist, besteht trotz der Zäsur die Möglichkeit, i m Begriff der Natur auch die Brücke zum organisch Seienden zu schlagen, dessen Begriff als nächster darin eingebracht wurde. Natur ist nicht nur der Stein, sondern auch die Pflanze, das vegetative Sein. Linear weitergezeichnet, geht nun auch das Tierhaft-Lebendige und i n einer neuen letzten Stufe der Mensch m i t seinem geistigen Sein ein i n den vollen Begriff der Natur. Dasein aber ist mehr als ein bloßes linear sich vorwärts oder aufwärts erfüllendes Dasein, sondern es ist, i m Maße es i n seinem Sosein voller wird, ein Seinkönnen dieses Daseins, so daß der ontologisch gerichtete Begriff der Natur von Anfang an rückläufig sich auch wieder einholt, bis Natur sich i m Menschen nicht nur zuhöchst vollendet, sondern ganz 77

Vgl. V. Rüfner, a.a.O., S. 46.

5 Zacher

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. K a p i t e l : Der Begriff N a t u r - n t o l o g i s c h

eingeholt und zu sich selbst gebracht hat. Weil das Dasein vom Sein her schon anfänglich potentiell zu einem Verhältnis zu sich gesteigert werden kann, so ist die Natur ontologisch erst da, wenn sie sich selber rückwärts auf sich eröffnet und dadurch ganz zu sich selbst gebracht hat. Die Natur geht also, wenn sie ontologisch wachsend vor sich geht, immer mehr auch zu sich. I h r Begriff muß daher diese Reflexion mitvollziehen, um ihr gewachsen zu sein. Das bedeutet aber nicht weniger, als daß sich der Begriff der Natur, wenn er sich bis zum Wesen des Menschen aufgegipfelt hat, darin rückläufig zu sich selbst erst voll schließt, daß er seine i m Seienden erfahrenen Bestimmungen rein durchgeht und wieder aufs Sein als die ermächtigende Wirklichkeit dieser Bestimmungen erschlossen wird. I m Wesen des Menschen muß daher die endlich-unendliche Formung des Naturbegriffs wie i n einem Brennpunkt versammelt sein.

Zweites Kapitel

Der Begriff Natur — anthropologisch I . D e r Mensch als das Z e n t r u m der N a t u r

Natur ist, auf die Natur des Menschen gebracht, weder ein ausgeweiteter und zerdehnter noch ein verengter und verkürzter Begriff, sondern dessen Konzentrat. Denn der Mensch ist ontologisch dasjenige Seiende, i n dem alle Weisen des Seienden so ihren einigen Ort gefunden haben, daß darin das sie ermächtigende Sein zu sich selber, und das heißt, gegen das Andere dieses seines Seienden, also i n die Differenz, aufgehen kann 1 . Anthropologie ist deswegen nur eine gesammelte, sich selber von ihrem Ursprung her vernehmende und zu ihrem Ziel hin beantwortende Ontologie, tauglich dazu, die Natur als menschliche Natur auszuweisen und als solche auszulegen. Infolgedessen ist der Natur des Menschen nicht beizukommen, wenn man sie nur empirisch analysiert und i n (Wesens)bestandteile zerlegt, die ebenso empirisch überprüft und dann katalogisiert werden; damit gerät sie, obwohl das Verfahren lobenswert handfest seinen Teil beisteuern könnte, sofern es seinen stofflichen Dienst tut, sofort neben die Ontologie und damit neben die Wirklichkeit, entweder i n ein starres abstraktes Definitionssystem oder i n einen Haufen empirischer Daten. Begriffen w i r d die Natur allein, indem sie dem ontologischen Wirklichkeitsbezug ihres anhebenden Begriffs verbunden und ständig eben daraus gesehen bleibt; durch diese Möglichkeit überbietet der Begriff „Natur des Menschen" immerfort den vom „Wesen des Menschen", weil er nicht gleich wie dieser als lediglich rationales Gebilde dasteht. 1 „aliquid, quod n a t u m sit, convenire cum omni ente. Hoc autem est anima, quae quodammodo est omnia." Thomas, Qu. de Verit. 1.1. Bei Thomas ist dieses Seiende, das potentiell m i t allem anderen Seienden einig werden kann, ohne das lang seiner Genese nachgegangen w i r d , geistig. A b e r i m „ n a t u m " steckt i m m e r h i n die ontologische Entfaltbarkeit. — Diese F o r t f ü h rung u n d Sammlung der Ontologie i n Anthropologie wäre mißverstanden, wollte man aus i h r herauslesen, das Sein laufe notwendig auf den Menschen zu. Das Sein muß überhaupt nicht seiend subsistent, also auch nicht Mensch werden (vgl. F. Ulrich, a.a.O., S. 329). A b e r vorausgesetzt, das Sein ist (aus Gottes freier Tat) verendlicht worden, (und dies ist faktisch) geschehen, dann läuft der Naturprozeß auf den Menschen zu.

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2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch 1. Aufgipfelung des Seienden

Der Mensch ist als Seiendes die Aufgipfelung 2 aller Seienden i n ein solches Seiendes, das diese anderen, sie hinter sich lassend, einschließt und darstellt, indem es das Sein zu seinem bündigsten Seienden vollendet. Dadurch kommt das Sein i m Seienden ans Ende und auf die Höhe, von der aus es sich auf sich als Sein zurückzuwenden vermag. I n dieser Eröffnung des Seienden auf das Sein ist die Natur des Menschen daher vorgezeichnet. Sie besteht darin, seiner als eines Seienden innewerden zu können, weil die Natur i m Menschen zu sich selber kommen kann. Erst i m Menschen ist die Natur bei sich; dieses zu-sich-kommen muß und kann jedoch nur i n der Richtung von sich selbst weg als ein aus-sich-gehen vollzogen werden, weil die Natur sich selbst als Seiendes nur i n ihrem, i m Sein und daher nicht an sich erfährt. Indem der Mensch ins Seins hinaus ist, ek-sistiert er, und er i s t einzig, indem er außer sich beim Sein ist, weil er nur so zugleich bei sich sein kann. Der Mensch ist auf das Sein erschlossen, er muß sich infolgedessen auf das Sein ausrichten, auf das Sein einlassen, auf es hin sein, wenn er sein w i l l . Nur daraufhin kann er anderes Seiendes, Dinge und Menschen, die Welt ernst nehmen und dafür da sein. Diese Erschlossenheit zum Sein, welcher der Mensch sich überlassen kann, um derart eingehend sich ins Sein zu verlieren, oder vor der er zurückhalten und sich verschließen kann, ist seine Freiheit (zum Grund), die Aussicht dieser Freiheit auf das Sein seine Vernunft und die Bewegung dazu hin sein Wille. Nur die Natur, die zu sich selbst und d. i. aus sich i n ihr Sein zum Sein kommen kann, ist die Natur ganz; das aber ist der Mensch. Das Sprechen von der „Natur des Menschen" verfährt daher nicht m i t einer Transplantierung des Begriffs Natur, sondern ist der angemessene Ausdruck eines zu seiner Höhe und seiner Fülle gebrachten Sachverhaltes. A u f den Menschen als ihr Ziel 8 laufen die weitverzweigten Richtungslinien, die sich durch die Arten des Seienden ziehen, zusammen und bündeln sich zu einem Punkt. Auch die Linie des Lotes aus dem Seienden ins Sein hat, vom Sein her gesehen, ihren End- und Wendungspunkt in eben diesem Mittelpunkt Mensch, die Natur des Menschen ist daher das Zentrum des Naturbegriffs, weil die Natur i n ihn gesammelt ist. I n dieser Sammlung zur Menschennatur w i r d der Naturbegriff zugleich aber vollends als dialektisch kenntlich, weil er über sich hin2 P. Teilhard de Chardin hat schon etwas richtiges gesehen: „Der Mensch ist nicht, w i e er so lange geglaubt hat, fester Weltmittelpunkt, sondern Achse u n d Spitze der Entwicklung — u n d das ist v i e l schöner." Der Mensch i m Kosmos, München 1959, S. 9. 3 H. Mynarek, Der Mensch — Sinnziel der Weltentwicklung, MünchenPaderborn-Wien 1967, S. 68 - 225, 327 -344; W. Bröker, Der Sinn von Evolution, Düsseldorf 1967, S. 50 ff.

I. Der Mensch als das Z e n t r u m der Natur

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ausführt: die Natur des Menschen ist es, Natur und nicht mehr Natur zu sein. Aber darin, i m Umgreifenden des Begriffs Natur, der auf diese A r t sich und seine Aufhebung besagt, ist er letztlich doch, nämlich als analoger, legitimiert und nicht dialektisch zersprengt. Der Mensch umfaßt die ganze Natur; er repräsentiert sie, weil er, und sei es von weit her, von allem seinen Teil hat. Schon dadurch ist er der Gipfel der Natur, i n und zu dem sich das Seiende aufbaut. Nichts i n der Natur, das nicht exemplarisch 4 i n den Menschen hineingehörte. Mineralische Stoffe als Elemente des Körpers, vegetativ wie die Pflanze in vielen Reaktionen und i m Schlaf, den Tieren zwar sämtlich i n ihren Spezialitäten unterlegen, aber dennoch von einer bemerkenswerten Tierheit i n der leibhaft-lebendigen Organisation, reicht der Mensch hindurch durch die Weisen des naturhaft Seienden, die ihn umgeben 5 . I n i h m ist die Natur i n eine hierarchische Ordnung gebracht, i n der das Untere das Obere trägt und i h m dient, während umgekehrt die höheren Qualitäten die niedrigeren beherrschen und ihrer bedürfen 6 . Als proportional gegliederte, deswegen aber auch störbare Zusammenfassung der Natur ist der Mensch ein Neues, das imstande ist, die letzte Äußerung der Natur zur Natur des Menschen zu erfahren. Weil das Seiende insgesamt als Natur i m Sein aus dem Nichts entsprungen ist, kann das Seiende unter den mannigfachen Spielereien und Verschwendungen dennoch zielstrebig auf das Sein als seine innerste und deswegen freizusetzende Wirklichkeit zutreiben. Es zielt daher, wahrscheinlich auch in der Zeit durch Äonen, auf den Menschen, organisiert sich der Stufe seiner Steigerung 7 gemäß i n bestimmten, aber jeweils auf die nächsthöhere offenen Formen, wobei die Vielheit des Seienden i n der Natur der Höhe und Tiefe, Breite und Länge nach, von unten nach oben und nach links und rechts ausgegliedert wird, bis schließlich i n einer exemplarischen Einheit aller Seienden die menschliche Spitze erreicht ist, auf die das Seiende von Anfang an angelegt war. Wie sich das Land unter vulkanischer Kraft zu einem Berg aufwirft, das Innerste zuäußerst und zuoberst kehrend, ähnlich gipfelt sich das Seiende zum Menschen auf. Alle Schichten tragen sowohl wie bilden vom Fuß an den Gipfel. Die unteren Regionen kennzeichnen den Menschen nicht besonders, sie hat er mit anderen Seienden gemein; seine Natur besteht infolgedessen nicht darin, obwohl sie auch daraus besteht. Erst der Gipfel macht den Menschen aus; was unter i h m liegt ist auch-mensch4 d. h. der Mensch ist nicht gleichsinnig m i t den Seinsweisen unter i h m verbunden, sie sind auf andere A r t i n i h m da. 5 Vgl. T. Haecker, Was ist der Mensch, Ausgabe B e r l i n 1959, S. 126. 6 Haecker, a.a.O., S. 129. 7 Steigerung — Goethe nannte sie, m i t der Polarität zusammen, die zwei großen Triebräder aller N a t u r ; Bd. 18, S. 63.

2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch

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lieh, ohne besonders menschlich zu sein. Der Mensch ist erst, als diese durch die Regionen des Seienden reichende und sie zusammenformende komplizierte Einheit der Natur deren Aufgipfelung zu einem die anderen Seienden überragenden Höhepunkt. 2. Der Seinshervorgang

a) Verendlichung,

aber nicht Ende im Seienden

Der Gipfel ist als Zustand das Ergebnis der Aufgipfelung, die ein Vorgang ist. Dieser Vorgang, der i n der Aufgipfelung verschiedene, einander durchdringende Regionen überhöhend hervorbringt, kommt jedoch aus einer Bewegung, m i t der sich das Sein i n die Endlichkeit des Seienden umsetzt. Dabei t r i t t das Sein aus seiner abgründigen Tiefe hervor, oder: was das gleiche ist, läßt sich aus der unendlichen Höhe herab i n das endlich Seiende, i n welchem es allererst Grund und Boden faßt. Das Sein, lautere Wirklichkeit, Aktualität, e r w i r k t kraft seiner Freiheit (die damit als Seinsmächtigkeit kenntlich wird) das Seiende. Der Seinshervorgang richtet sich dabei, obwohl das Sein selbst dessen nicht bedarf und deswegen gerade auch die Fülle des Seienden auszuströmen vermag, i n seinem inneren Duktus auf ein endlich Seiendes hin, das zum Sein wiederum vermögend ist. Infolgedessen läuft die Verendlichung auf dasjenige Seiende zu, das der Mensch ist, weil i n i h m das Sein wieder i m Seienden zu sich eröffnet wird. Alles andere Seiende, das neben den Menschen t r i t t , hat sein eigenes endliches Sein verschlossen-versiegelt und daher aufschließbar, aber nicht aufgeschlossen m i t sich, so daß es dem Sein zugewandt, nicht aber aufgetan ist. Das Seiende vor dem Menschen ist aufs Sein zu (in dem doppelten Sinn von „hin-zu" und „verschlossen"), während es die Seinsweise des Menschen ist, aufs Sein auf, nämlich eröffnet und offen zu sein. Da der Seinshervorgang aber ein Ausgang ist, der sich notwendig i n den Eingang wendet, muß er ein Seiendes heraustreten lassen, i n dem diese Wendung ihren Ort hat. Dieser Scheitel- und Wendepunkt ist der Mensch. Das Sein geht i n seinem Hervorgang, der Richtung des Seins (gen. subj. und obj.) folgend, fort bis an jenen Ort, i n dem das Sein ganz seiend, das Seiende also auch wieder zum Sein werden kann, wo das Sein i m Seienden untergehend aufgeht. Vor dem Menschen ist dieser Ort noch nicht erreicht. Obwohl sich die Rose blühend ganz zum Sein h i n auftut 8 , ist sie nur das reine B i l d der Öffnung, nicht ihr volles Dasein. Wieder bei sich kann das ins Seiende herausgetretene Sein erst dann sein, wenn es auch zu sich kommen kann. So erhellt, daß und so8

„sich auftun w i e die Rose", Angelus Silesius.

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bald Seiendes ist, der Mensch gemeint ist. Er, i n seinem Werden, ist das Thema des Seinshervorgangs. Weil Seiendes immer endlich zugeschnitten ist, ist der Seinshervorgang vom Moment seines Auftauchens i m Seienden ab ein endlicher Prozeß. Weil er endlich ist, hat er keine endlose Erstreckung, sondern einen Anfang und ein Ende. Der Anfang ist aber, da die Bewegung aus dem Unendlichen entsteht, schon ein Ursprung und das Ende kein A b bruch, sondern eine Mündung des Prozesses, so daß er aus der und i n die Unendlichkeit verläuft. I n der horizontalen Erstreckung allein wäre der Prozeß nur i n seiner einen Komponente, auf der er flach bleiben muß, betrachtet. I m anderen, komplementär dazugehörigen Betracht ist er senkrecht. Der Seinshervorgang wäre daher als vielleicht gar noch nur kontinuierlich vom Unendlichen ins endliche verlaufende (statt umgesetzte!)9 horizontale Bewegung zur halben Wahrheit mißverstanden. Vertikal zu diesem horizontalen Prozeß verendlicht sich der Seinshervorgang bis dazu hin, daß er sich ins Seiende einläßt und es endlich nach oben richtet. Der aufrechte Gang des Menschen ist der äußere Ausdruck dieses vertikalen Aufbruchs des auch noch horizontal als Prozeß verlaufenden Seinshervorgangs. Das Sein verendlicht sich, sofern es sich verendlicht, als Natur. Natur ist daher, weil sie aus dem Sein stammt, m i t dem Sein begabt und davon bewegt. Sie zielt auf dasjenige Seiende, welches das Sein als seinen Grund wieder offenbar macht, und daher auf den Menschen. So ist der Mensch also nur die Konsequenz der Natur, er vollendet sie, indem er das Seiende zum Sein bringt. Da die Frage nach dem Sein immer i m Seienden verankert ist und nur von daher, nicht aber vom Sein her anheben kann, so ist auch der Seinshervorgang vom Sein zum Seienden immer schon als ein i m Seienden angekommener zu nehmen. Schon dadurch ist es unterbunden, ihn nur als Evolution oder nur als Fortschritt zu verstehen, bei dem das Sein i n ein allmächtiges Werden absorbiert wäre. Der Seinshervorgang ist i m Seienden vorläufig immer schon am Ende, so daß unbeschadet noch ausstehender pro- und regressiver Veränderungen seine senkrechte Unendlichkeit aufbricht. Der Prozeß gibt ein protrahiertes Seiendes als das Sein aus und übersieht die Endlich9 Wenn statt dieser Umsetzung, v o m Unendlichen ins Endliche, u n d ebenso umgekehrt, eine Kontinuierlichkeit angeboten würde, käme die „schlechte Unendlichkeit" heraus, v o n der Hegel, L o g i k I , S. 137 u. S. 225 spricht. A b e r n u r m i t der schlechten Unendlichkeit i n der „ F o r m des Progresses des Quantitativen ins Unendliche" w i r d er hier akzeptiert; seine Zusammenschließung des Unendlichen u n d des Endlichen, i n welchem beide n u r M o mente jenes Unendlichen sind, das es selbst u n d sein Anderes ist, beweist wieder den Identitätsüberschuß, dem die Analogie entgegenzuhalten ist.

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2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch

keit jedes Seienden, das den Prozeß schon abbildet. Die Endlichkeit des Seienden kann nicht überspielt werden. Auch die, wie sich zeigen wird, seinsvermögende Vernunft des Menschen vermag das Sein nie an sich ohne das Seiende zu vernehmen; es subsistiert ihr nur das konkret Seiende (nicht das Sein, welches als subsistent sofort zum Widergott hypostasiert wird!) und sie muß daher beim Seienden, i n der Endlichkeit anfangen, das Sein kann sie nur aufspiegelnd i m Seienden, spekulativ, vernehmen. Der Seinshervorgang ist demnach immer schon durchmessen und insofern nicht erst evolutiv auf dem Wege, er ist i m konkreten Seienden endlich angekommen. Daß der Seinshervorgang den Menschen zum Thema hat 1 0 , daß der Mensch i n den Seinshervorgang als dessen leibhaftiges Lot eingezeichnet ist, daß der Mensch den Seinshervorgang ausmacht, kann daher, da der Mensch den (seienden) Menschen sieht, ohne die allermeist progressiv verewigte und dabei entwertete Evolution als empirischen Bodensatz beisteuern zu müssen, aus der ontologischen Differenz entfaltet werden. b) Die Seinsmodi I n der ontologischen Differenz ist der Unterschied des konkret Seienden zu seinem Sein aufgebrochen; der Seinshervorgang ist die Vermittlung dazwischen, i n der das Sein zum Seienden heraustritt. Wie aber geht das vor sich? Das Sein ist reine Wirklichkeit, aber es subsistiert nicht. Was subsistiert, ist immer schon Seiendes. Das Sein ist Seiendes — oder es ist nicht; und dennoch ist es Sein. Gleichwohl ist, da alles, was ist, i m Sein ist, nur das Nicht-sein außer i h m 1 1 . Insofern das Sein außer dem Seienden nicht ist, ist es nichts; sofern alles, was ist, aber i n i h m ist, ist das Nichts ihm äußerlich. Nichts ist außer dem Sein als das Nicht-sein. I n seiner Schwebe über dem Seienden erweist sich das Sein daher als eigentümlich schillernd zwischen Sein und Nichts; es hält dort i n der Nichtigkeit und Wesenlosigkeit, wo die reine Wirklichkeit noch alles ist. Das Sein schließt das Nichts ein, insofern dieses ein Nicht-subsistentes ist, es schließt das Nichts jedoch aus, sofern damit das Nicht-sein bezeichnet w i r d 1 2 . Es h i l f t nichts — dieser ärgerliche Widerspruch muß als die der Subsistenz des Seienden vorausgehende Seinslage ausgehalten werden, damit der Seinshervorgang richtig i n den Blick kommt. W i r d er das nicht, so bahnt sich von da aus eine irreversible, i n zwei Richtungen mögliche Verfälschung des Seins und damit der Metaphysik 10

Vgl. F. Ulrich, a.a.O., S. 315. Thomas, Qu. d. Potentia 7. 2. 9. 12 H. Beck zeigt, a.a.O., S. 160, 166, 176 f., w i e das Sein m i t dem Nichts i n modal-ideeller Weise identisch, von i h m aber inhaltlich-real verschieden ist. 11

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an: das Sein, welches das Nichts aus sich heraushält, w i r d zur Subsistenz hypostasiert 13 , woraus eine totale Verfinsterung des Seienden und dessen logische Herstellung hinterdrein erfolgt; denn zugleich mit seiner Hypostasierung nimmt das Sein eine Wesenhaftigkeit an, i n der es völlig konsequent dem Denken ohne jede Differenz identisch verfällt, womit es dann schließlich i n einer viel erbärmlicheren und unverhofften Wendung beim Nichts landet, nämlich so: „Das Sein ist das Nichts", ohne den Nachsatz, der die Richtigstellung bringt: „aber es ist auch nicht das Nichts". Gleichermaßen, i n der andern Richtung, w i r d das Sein sofort einsinnig zum Nichts degradiert, weil es dieses Sein ja nicht gibt; damit sind die Seienden unverbunden nebeneinanderplaciert und es gibt nur noch verschiedene Wesen. Das Sein w i r d als (univokes) ens rationis abgetan 14 , mit dem schmählichen Ergebnis, daß die ratio erst richtig entfesselt und die Begriffe i m Hinblick auf das Wesen das einzige werden, was daran auszumachen ist, so daß die Einheit, die verbleibt, rein aus dem Verstand, nämlich als Begriffssystem, nicht ist, sondern hingestellt wird. Wenn sich diese, wie sie nämlich heißt: Wissenschaft wieder i n den Stand der Reflexion erhebt, verfliegt das „es gibt" ihrer Einzelheiten i n das pure Nichts der ratio. Angemessen ist der Seinshervorgang nur aus dem mitsamt seiner Nichtigkeit genommenen Sein zu denken. Nur von da aus ist die Konstituierung des Seienden als eines substantiellen einigen Wesens zu begreifen, das sich i n das eine und andere sondert und, wie die Sonderung zu, so auch die Übereinkunft mit anderem, und genau darin den Menschen fordert, der i n seiner i n Erkennen und Wollen auseinandergehenden Grundkraft, indem er sich auf anderes Seiendes richtet, dem Sein, dessen Hervorgang nachvollziehend, eine Stätte gibt. U m den Seinshervorgang als nur aus einem Sein, das das Nichts sowohl ein- wie ausschließt, herausgehend zu erweisen, ist es jedoch, ehe darin einzuschwingen ist, um die Konstitution des Seienden aus dem Sein zu durchleuchten, wiederum vonnöten, das konkret Seiende zu betrachten. (Daß dabei, i n diesem Ausgang auf das konkret Seiende, der Seinshervorgang schon immer abgebildet, der Mensch also, wo er's noch gar nicht weiß, schon i n i h m am Werke ist, bestätigt nur den Ansatz.) Die Seinsweisen, i n denen der Seinshervorgang zu erhellen ist, sind daran, am Seienden, allererst abzulesen.

13 Vgl. Ulrich, a.a.O., S. 55 - 5 7 , S. 449: „ I s t das Sein veressentialisiert u n d damit »praeter res existentes' angesetzt, dann rückt es von selbst i n die subjektive Dimension der Vernunft, es w i r d zum .Seinsbegriff'." 14 Diese Wendung bahnt sich bereits bei Duns Scotus an, vgl. G. Siewerth. Schicksal der Metaphysik, S. 93, F. Ulrich, S. 134.

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2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch

Das Seiende kann, bei der Anschaulichkeit etwa einer Pflanze ansetzend, i n seiner Sonderung oder allgemein genommen werden 1 5 . I n seiner Sonderung bietet es sich als ein i n sich Seiendes, i n seiner Allgemeinheit als ein i n Beziehung stehendes dar. Betrachtet man das Seiende i n sich, so ist es bejahend und verneinend zu fassen. Dabei kommen verschiedene Seinsmodi zum Vorschein: einmal, i n der Bejahung, zeigt sich das Seiende i n seinem Wesen, wobei Wesen essentia von esse, also So-sein und Da-sein miteinander, besagt. Zugleich damit ist es auch als Ding kenntlich, weil es das Wesen einer res ist; es hat Realität. Wesen, essentia, Washeit, quidditas, sind daher dem Seienden in seiner Realität verknüpft, da sie m i t ihr gegeben sind. Zum andern erweist sich das Seiende, i n sich und verneinend betrachtet, als Ungeteiltes, als Individuum, und damit als Einiges. I n sich weist das Seiende daher die Modi der Realität, damit Wesen, Washeit, Existenz, und der Individualität, der Einheit, auf. Betrachtet man nun das Seiende nicht i n sich, sondern i n seiner Beziehung zu Seiendem, so ist das i n Hinsicht auf die Trennung und auf die Übereinkunft möglich. Erst in der Trennung t r i t t heraus, daß das Seiende etwas ist, zu dem es ein anderes gibt, die Unterscheidung macht das eine und das andere Seiende als dieses eine oder andere erst kenntlich. I m Hinblick auf die Übereinkunft aber w i r d nun ein Seiendes gefordert, das mit dem andern übereinzukommen imstande ist, womit der Mensch, als Geist, erreicht und gemeint ist. Denn nur der Mensch mit seiner in Vernunft und Wille auseinandertretenden Geistesgabe ist fähig, mit allem andern übereinzukommen. Daß Seiendes, wie es i n seiner Beziehung zu anderem Seienden unterscheidend gesehen wird, ein Etwas sein muß und daher die Andersheit des andern und die Nichtandersheit seiner selbst bei sich führen muß, leuchtet leicht ein, weil damit unmittelbar die logische Operation des Scheidens legitimiert wird. Nicht so, wenn derjenige Modus des Seins hergezeigt wird, der dem Seienden, sofern es übereinkommt, eignet: das Mensch-sein, weil dabei die ontologische Konfundierung des Menschen als eines Seienden mit dem anderen Seienden zusammen vermittelt werden soll. Es ist folgendermaßen zu zeigen: Wenn Seiendes untereinander, unbeschadet seiner bestehenbleibenden Trennung, übereinkommen soll — dies, und nur dies supponiert — dann muß dieses andere Seiende i n die Einheit m i t dem Gegenüberseienden gehen und dieses werden 1 6 . Dieses Seiende, das mit dem andern Seienden übereinkommen soll, muß daher die Fähigkeit haben, mit dem andern eins zu sein; woraus der Mensch aufgewiesen ist, weil er vorzüglich die Fähigkeit hat, beim andern zu sein 15

1.1.

16

Leitend f ü r die E x p l i k a t i o n i m folgenden: Thomas ν . Α., Qu. d. Veritate Vgl. auch K . Rahner, Geist i n Welt, 21957, S. 79 - 84.

I. Der Mensch als das Z e n t r u m der N a t u r

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und weil er gewissermaßen alles ist. Der Zirkel ist augenfällig, denn die Voraussetzung, daß eine Übereinkunft zwischen Seiendem statthaben soll, w i r d durch die Verwendung eben dieser Voraussetzung bei der Folgerung, dann müsse ein Übereinkommendes sein, erklärt. Aber der Zirkel ist nicht falsch und auch nicht unsinnig, denn er klärt; er macht ein für allemal klar, daß m i t dem Seienden (sofern es bedacht wird!) auch ein denkendes Seiendes, also das Menschenwesen, gegeben ist, oder, was dasselbe allgemeiner sagt, daß Sein und Denken konfundiert sind. Es ist möglich, aus dieser Übereinkunft das ganze Menschenwesen auszulegen und zu entfalten. Wenn sich solcherart der Mensch als ein aus der Übereinkunft m i t anderem Seienden gefordertes Seiendes erweist, so muß er auch, der Abbildlichkeit seines Bezugs auf anderes Seiendes zum Bezug des Seins auf ihn eingedenk, aus dem Sein selbst als die innere Ausrichtung des Seinshervorgangs aufgewiesen werden können. I n der ontologischen Differenz ist das Sein im Seienden, zugleich aber auch über i h m 1 7 . I m In-sein als der Einheit ist daher immer schon das Angekommensein eines Übereinkommenden und damit der angekommene Seinshervorgang ausgesagt; i m Über-sein ist ständig die Trennung verwahrt. Die Einheit ist der Hinweis darauf, daß das Sein ein Hervorgehendes sein muß; sonst wäre kein Seiendes. Die Trennung zeigt an, daß es als über-dem-Seienden-Sein i n einer anderen Weise bleibt. I n dieser Spannung sind die drei wichtigsten Modi des Seins grundgelegt, und zwar so, daß sie einander jeweils implizieren, ohne getrennt werden zu können 1 8 , aber dennoch m i t einer eignen Besonderheit. Derjenige Modus des Seins, der handgreifliche und wahrnehmbare, auf den das Sein hinausläuft, ist die Dinglichkeit oder Realität. I n ihr kommt das Sein zur Subsistenz, i n welcher es seinen Ort hat. Die Realität des Seins besteht i m Seienden, darin, daß es Dinge gibt (was man — so w i l l es die Sprache — auch transitiv lesen kann, mit dem Sein als Subjekt des Satzes, u m mehr als die Faktizitätsfeststellung dabei zu hören). Folglich ist die Realität das Dasein von Dingen und aus diesem Grund auch materiell 1 0 . Die Materie ist dabei die Geeignetheit zur Realität, ihr Äußerstes, w o r i n die Realität anheben kann. Materie ist der „Stoff", aus dem die Dinge sind, und ohne den sie nicht sein können. 17 Das in-über zeigt „die Werde-Bewegtheit eines nie geschlossenen H i n und Zurück", Przywara, analogia entis, S. 60. 18 F. Ulrich, a.a.O., S. 96 - 154. 19 Das Sein k o m m t i m Wesen ,zu-stande'; das Sein aktuiert die Potentialität des Wesens, das Sein w i r d dadurch dividiert, l i m i t i e r t u n d multipliziert. Vgl. G. Siewerth, Identitätssystem, S. 95 - 106; H. Beck, Aktcharakter, S. 206 - 209.

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2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch

Die Materie ist dem Nichts benachbart; als äußerste Realität reicht sie sowohl an das Nichts heran, wie sie i h m auch gegenübersteht. Die Realität kann daher, i n ihrer Dinglichkeit bis an den Rand der Materie zurückverfolgt, nicht oder nur in ihrem Verhältnis zum Nichts weiter verstanden werden. Durch diese Tendenz der Materie zum Nichts wie durch ihren Widerstand dagegen (sie ist eben vom Nichts unterschieden) w i r d die Realität, der entäußerte Modus des Seins, zugleich auf eine Seinsweise verwiesen, i n der das Sein nichts ist, wo das Nichts i m Sein zum Vorschein kommt. Dieser Modus des Seins heißt, weniger geläufig und weniger prägnant, Idealität. Darin, i n dieser Weise, ist das Sein nichts, weil es mit dem Nichts selbig ist. Die Idealität ist das Sein i n der Weise der ειδη, der Formen und Bilder, ohne deren reales Sein 2 0 ; daher ist sie nichts; sogar die Formen und Bilder vergehen, wo die Idealität B i l d des reinen, überwesenhaften Seins wird. Der letzte, und für den Zusammenhang entscheidende Modus des Seins, der die beiden andern verbindet und ihre Vermittlung ausmacht (womit zugleich der Charakter des ,modus' auch den von ,Moment 4 offenlegt) ist die Bonität des Seins, die den Seinshervorgang selbst als modus erfaßt 21 . M i t ihr ist der Zug des Seins zum Seienden, der Weg aus seiner Idealität i n die Realität um-schrieben, die „Herablassung" und der „Abstieg" des Seins i n das Seiende 22 . Aber — daran ist zu erinnern — der Seinshervorgang muß aus dem Sein, welches das Nichts ein- wie ausschließt, bedacht werden. Er kann 20 Idealität bezeichnet die Weise, i n der die V e r n u n f t ist, ein Herausgetretensein i m Wesen; Beck, a.a.O., S. 172, nennt die Idealität Als-haftigkeit. I n dem etwas erfaßt w i r d , als das, was es ist, w i r d es gegen das, was es nicht ist, hervorgehoben u n d abgesetzt. Z u r genauen Analyse vgl. a.a.O., S. 174 ff. 21 s. th. I q 5a 4 corp et ad 2; bonum est diffusivum sui. 22 Dieses Sich-selbst-Verströmen, die Güte des Seins, bringt auch den U n terschied der Idealität des Seins, als Nichts, zum Sein selbst ans Licht. Die Idealität, die bloßes Gedachtsein ist, k a n n selbstredend nicht aus sich selbst etwas herausströmen. Insofern liegt das subsistierende Sein diesem Sein als Nichts noch voraus. Das Sein muß aber die Idealität, als Bedingung der Verendlichung zu endlicher Realität, durchschreiten u n d i n diesem Sinn geht die bonitas den Weg von der Idealität zur Realität. Die Bonität ist aber darum noch nicht auf die endliche Realität terminiert, so daß das Dasein n u r i m Seienden ankommen wollte. Das Seiende hat seinerseits diesen Zug zur Güte u n d w i l l sich mitteilen, an anderes Seiendes u n d zurück zum Sein. B e i m subsistierenden Sein ist dieser Modus der Bonität, durch den es aus sich heraustritt, das Verströmen, reiner Überfluß. Das Sein entäußert sich also nicht derart, w i e es die Vorstellung nahelegt, daß es dann selber ein ausgegossenes wäre, u n d damit nichts mehr an Sein hätte, sondern es entäußert sich aus Unerschöpflichkeit. Jenes Sein, das nicht Gott selbst, sondern sein Gleichnis ist, der actus essendi, das nicht-subsistierende Sein, das Sein der reinen Vermittlung, das ist das Sein als Güte. Es ist überhaupt n u r sinnvoll, von diesem esse non subsistens zu reden, wenn am ipsum esse subsistens entdeckt w i r d , daß es gut ist. Vgl. Thomas v. A . Qu. d. Ventate 21.2: ipsum esse habet rationem boni.

I. Der Mensch als das Z e n t r u m der Natur

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deswegen nie als Kontinuation aus dem Sein 28 , als Emanation des Seins zum Seienden, als Vereinzelung von idealen Wesenheiten zu realen Gegenständen, wie das i n jeder Geistmetaphysik oder Wesensphilosophie 2 4 geschieht, aufgefaßt werden, sondern nur als Durchnichtung. Durchnichtung heißt dabei, daß das Sein durchs Nichts geht, sich ins Nichts verliert, und i m Durchgang durch das Nichts daraus seiend wird. Obwohl diese Rede von der Durchnichtung 2 5 des Seins i n einem B i l d bleibt und daher dem Ärgernis eine große Angriffsfläche bietet, ist ihr nicht auszuweichen: Das Sein muß durch das Nichts, wenn und sofern es zu Seiendem und als Seiendes wird. Der Seinshervorgang geschieht daher nicht anders denn als Durchnichtung, und diese w i r d der Vorgang selbst, so daß i n ihr der Seinshervorgang vor sich geht und das Seiende nur so, aus dem Nichts, zur Subsistenz bringt. Der Seinshervorgang gibt damit auch die Richtung vor, i n der die Bonität zu denken ist. Die Durchnichtung ist dieserart der innere Zug der Bonität, weil sie es ist, i n der das Sein das Nichts der Idealität durchbricht und zu seiner endlichen, begrenzten, aber gefaßten Substantialität kommt. Weiter w i r d deutlich, wie die drei modi des Seins i n einer je verschiedenen Weise auf das Nichts bezogen sind, so daß ihr Unterschied zueinander i m verschiedenen Bezug zum Nichts erfaßt werden kann. Schließlich werden die Seinsmodi in der Durchnichtung als Seinsmomente erkennbar. Das unterstreicht, daß kein Modus allein und isoliert genommen werden kann, sondern nur i n der Beziehung zu den andern, weil er ja als Moment nur einen Bewegungsausschnitt i m Ganzen des Seins ausmacht. Sich durchnichtend nimmt das Sein die einzelnen Modi als Momente durch und daraus sich substantiell zusammen, worin sodann die Momente wieder als Modi, als Idealität, Bonität und Realität verwahrt bleiben. I m Moment ist die Bewegung des Seins energisch anwesend, aber es hält dabei verhalten inne, so daß das Moment Station und Durchgang in einem ist, Ort des Modus, wie dessen Verflüssigung i m Sein. Die Sonderung des Seins i n seine Modi muß daher immer wieder zurückgenommen werden: so wichtig wie die 23

Vgl. oben A n m . 9. Z u r Geistmetaphysik vgl. H. U. v. Balthasar, Herrlichkeit, Bd. I I / l , E i n siedeln 1965, S. 788 ff. Dort ist S. 788-791 i n einer rasanten A b b r e v i a t u r gezeigt, w i e der Verlust der Ontologie als Verlust von N a t u r u n d Kosmos zu einer Materialisierung von Welt u n d zum formalen Absolutum des Geistes führt. — Wesensphilosophie ist n u r die andere Seite dieser Geistmetaphysik. Hegel z.B. hält die Vorgängigkeit des Seins zur Idealität nicht fest: das reine Sein u n d das reine Nichts ist i h m zuerst dasselbe. Deswegen ist sein Idealismus Essentialismus (vgl. Beck, a.a.O., S. 96, 105). Aber Hegel denkt nie ohne die Bewegung (des Denkens) u n d bleibt daher so starr w i e flüssig. Die abstrakte, unbewegte Rationalität hat gerade er überwunden. 25 Der Begriff stammt von F. Ulrich, a.a.O., S. 71 u n d passim. 24

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2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch

Unterscheidung des Seins i n seine Idealität, Bonität und Realität ist die gegenseitige Aspektbezogenheit dieser Bestimmungen, ihr Funktionszusammenhang, ihre i m Sein bleibende Einigkeit. Von da her kann der Mensch als die vollständige Komposition des Seins begriffen werden, weil er aus den drei Seinsmodi derart zusammengefügt ist, daß sie i n i h m ohne einseitige Gewichtsverlagerung ausgewogen beieinander sind 2 6 . Der Mensch ist nicht, wie die Dinge, i n das Moment der Realität eingebunden, er schwebt nicht als reiner Geist über der Erde, sondern er wiederholt das Sein, aus dessen Durchnichtung. Der Mensch ist daher Ort und Aufriß des Seins, er ist sein Thema, als Setzung und Gegenstand. I I . D i e N a t u r des Menschen — Mensch: Onto-ana-logie

Die i m Seinshervorgang aus der Unendlichkeit durchlotete ontologische Differenz ist der Aufriß des Menschen, wie der Mensch nun A u f riß des Seins ist, weil Sein und Mensch sich gegenseitig darstellen. Die Natur des Menschen ist deswegen, mit all ihren Bestimmungen, wie sie i n den verschiedensten Philosophien, Humanismen und Anthropologien auftauchen, i n diesem ontologischen Bezug zu halten, i n ihn wieder einzufügen, wo er fehlt oder verlorengegangen ist. Dann w i r d als unfixierte Mitte der ontologischen Differenz, als deren Vermittlung, der Mensch sichtbar: der Mensch als Wesen der Analogie. I n diesem Spannungsfeld wäre allem, was seit Menschengedenken über den Menschen zutagegefördert wurde und was meistens nur aus einem absolutistischen Monismus falsch geriet, sein Platz anzuweisen, indem es m i t seiner , Ontogenese' wieder zusammengeordnet wird. 1. Die Freiheit zum Grund

a) Erschlossenheit ontologisch ist Freiheit

anthropologisch

Wenn der Mensch das aus dem Sein durch dessen Durchnichtung hervorgebrachte Seiende ist, das mit allem Seienden und dadurch auch mit dem Sein übereinzukommen vermag, so ist diese Erschlossenheit seine fundamentale Bestimmung. I n ihr ist er auf das Seiende, das ihn umgibt, und auf dessen Sein offen, kann es daher i n sich wie sich i n es einlassen. Die Offenheit schafft die Möglichkeit der Übereinkunft, sie 26 Przywara gründet die grundlegende Philosophie des Menschen darin, „ w i e i n i h m Ideatives u n d Reales sich kreuzen u n d binden". I n einer A n t h r o pos-Philosophie haben eine spezifische Logos-Philosophie u n d eine spezifische Kosmosphilosophie i h r „schwingendes Zwischen". Vgl. Mensch, Typologische Anthropologie, Nürnberg o. J. (1959), S. 78.

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ist d i e B e d i n g u n g d a f ü r , daß d e r Mensch e r k e n n e n 2 7 oder, w a s i n e i n e m b e s t i m m t e n S i n n e das gleiche ist, l i e b e n k a n n . I n dieser Erschlossenheit u n d O f f e n h e i t l i e g t n u n aber das Wesen d e r menschlichen F r e i h e i t z u t a g e 2 8 . F r e i h e i t i s t j a n i c h t d i e S u m m e zers t ü c k e l t e r b ü r g e r l i c h e r F r e i h e i t e n des D ü r f e n s , n u r e i n G e g e n b e g r i f f gegen Z w a n g u n d N o t w e n d i g k e i t e n a l l e r A r t , sie ist v i e l m e h r : n ä m l i c h d i e ontologische B e f i n d l i c h k e i t eines Offen-seins, e i n als E r f a h r u n g wahrnehmbares F l u i d u m der Beweglichkeit, ein Frei-sein. N u r w e i l der M e n s c h e i n Seiendes ist, das z u m S e i n h i n o f f e n steht, w e i l er d i e M ö g l i c h k e i t h a t , aus sich herauszugehen, w e i l er n i c h t gefangen ist, k a n n er a u f d i e verschiedenen F r e i h e i t e n d r i n g e n , d i e er z u m L e b e n b r a u c h t , oder z u b r a u c h e n w ä h n t . I n dieser O f f e n h e i t ist d e r Mensch entschränkt, zur Grenzüberschreitung fähig, u n d ungebunden, keiner b e s t i m m t e n R e g i o n des Seienden u m i h n h e r u m fest v e r k n ü p f t . D e r u n t e r m e n s c h l i c h e n N a t u r ist i h r e Grenze auch B a r r i e r e , u n ü b e r s t e i g b a r z u m G a n z e n h i n : sie l e b t i m B i n n e n r a u m d e r eigenen oder d u r c h d i e U m g e b u n g m u l t i p l i z i e r t e n f r e m d e n E n d l i c h k e i t . D o r t , w o sie e i n e n B e z u g z u a n d e r e m Seienden h a t , ist sie i n e i n e m A u s s c h n i t t befangen, d e r i h r z u s t e h t 2 9 . Das k ö r p e r l i c h e A u ß e n e t w a eines V o g e l s gegenüber dem, w a s er sieht u n d n i c h t sieht, g i b t n u r e i n e n e r w e i t e r t e n B i n n e n b e r e i c h 3 0 . D i e eigene E n d l i c h k e i t b l e i b t d i e ( u n b e w u ß t e ) A b s p e r r u n g v o m 27 Vgl. K . Rahner, Geist i n Welt, S. 284 ff. Das Wesen des Geistes „quo est omnia fieri", hat seine Möglichkeit aber seinerseits darin, daß Sein u n d Erkennen i n einer ursprünglichen Einheit sind. S. 81, 82. 28 Gehlens Anthropologie der Weltoffenheit u n d der weltverändernden Handlung des Menschen (Der Mensch, Seine N a t u r u n d seine Stellung i n der Welt, 8. unveränd. Auflage, F r a n k f u r t 1966) k a n n als anthropologisch gewonnener Aufweis der Freiheit interpretiert werden. Seit Gehlen den Idealismus seines eigenen Denkanfangs fahren ließ, w i r d er jedoch nicht mehr bereit sein, diese Freiheit noch einmal als Ermöglichungsbedingung der biologischen Organisation i n Betracht zu ziehen. Infolgedessen muß er die Institutionen derart total zum H a l t des Menschen machen, daß sie, noch mehr als sie des Menschen Freiheit ermöglichen, diese Freiheit wieder aufzehren. — Übrigens hat schon Thomas v. A . die Unspezialisiertheit des Menschen seiner Vernünftigkeit zugeordnet. S. th. I qu 75 a 5 ad 4: Durch Spezialisiertheit wäre der Mensch determiniert auf Partikuläres, was seiner Fähigkeit zum Unendlichen widerspräche. 29 Die Umwelttheorie J. von U e x k ü l l s (J. v. U e x k ü l l — G. Kriszat, Streifzüge durch die U m w e l t e n von Menschen u n d Tieren, Reinbek 1956) läuft auf dieses Ausschnitt-haben hinaus. Der Mensch hat aber mehr als U m w e l t , wenngleich er auch nicht außerhalb einer U m w e l t lebt. 30 Es empfiehlt sich allerdings, die Übergänge fließend zu halten u n d das Leben der Tiere nicht so aufzufassen, als sei es v ö l l i g einseitig u n d generell i n dieser U m w e l t gebannt. A . Portmann hat am „Permanent-Gesang" bei gewissen Vogelarten gezeigt, daß es i m Tierleben Lautäußerungen gibt, „die nicht bestimmte Rollen i m Sozialleben haben, die sich nicht an Partner w e n den, die nicht »adressiert' sind". Er deutet dies i n Richtung auf „einen Spielr a u m von Freiheit jenseits a l l der Funktionen, die man gewöhnlich als »erhaltend' bezeichnet". A . Portmann, Ursprung u n d E n t w i c k l u n g als Problem der Biologie, i n M e r k u r , K ö l n - B e r l i n 1967, Heft 5, S. 434 - 452, S. 447 ff.

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Gesamt der Seienden wie vom Sein. Durch seine Offenheit w i r d der Mensch dagegen frei. Seine Endlichkeit, damit seine Grenze, w i r d ihm erst sichtbar, es scheidet sich Innen und Außen, aber seine Endlichkeit sperrt ihn nicht ein, weil sie keine unübersteigbare Schranke bildet. Der Mensch ist seiner eigenen bleibenden Endlichkeit auch ständig überlegen, weil er offen ist. I n seiner Offenheit besteht seine Freiheit. Die Freiheit eröffnet, weil sie selbst eine Eröffnung ist, den Zugang zu allem Seienden. I n ihr ist die Bewegungsmöglichkeit eingeräumt, die es gestattet, das Seiende aufzusuchen. Die Freiheit schafft derart die Voraussetzung jeder Begegnung, weil erst i n ihrer Offenheit dieses Offenseiende, der Mensch, dem andern Seienden gegenüber treten kann. I m Spielraum der Freiheit ist, vom Offen-seienden her, alles Seiende angesiedelt, es kann liegenbleiben oder aufgenommen werden, es kann wahrgenommen oder verkannt werden, es ist als das, was es ist, zugänglich. Das Seiende ist nun aber nicht nur als dieses oder jenes Seiende zugänglich, sondern — worin die Freiheit wiederum und erst entscheidend eröffnend w i r k t — i n seinem Sein. Dieses Offen-seiende, der Mensch, erfährt daher am andern Seienden neben ihm, das ihm seine Freiheit zugänglich macht, vor allem seine Freiheit zum Grund, weil er das andere Seiende aufs Sein bezogen, darin, wie das andere, auch sich selbst darauf bezogen sieht, aber mit dem Unterschied, daß er bei sich die eigene Beziehung als solche weiß, und daher offen ist. Denn dieses Wissen und Erkennen ist schon eine Weise der Offenheit. Die Offenheit zum Grund des Seienden oder zum Sein ist der entscheidende Aspekt der Freiheit, weil damit die ontologische Differenz eröffnet ist. Sie besteht nicht nur, i n diesem Seienden, wie i n allem andern, was ursprünglich ist (das ist die notwendige Einschränkung auf naturhaft Seiendes, weil das, was der Mensch schafft, sein Werk, als ein Seiendes nur i n einer Differenz zum Menschen, abbildlich zur ontologischen Differenz bezogen ist!), sondern sie ist i n diesem Seienden auch eröffnet: Der Bereich zwischen Seiendem und Sein ist erschlossen, er ist zugänglich und nicht nur vorhanden. Die Offenheit, die zum andern Seienden hin besteht, ist i n der Offenheit zum Sein noch einmal überboten und umfangen; zwar ist diese zweite Eröffnung zum Sein das wesentliche der Freiheit, aber nur i m Weg über das Seiende und die erste Eröffnung überhaupt zu erreichen. Wo diese Zusammengehörigkeit unterschlagen wird, ist das Ende Verstiegenheit zur absoluten Freiheit oder Verflachung zu einzelnen kleinen Freiheiten. Das Seiende bleibt für das Seiende immer der Weg, daher ist die Erschlossenheit des Seienden auf das Sein immer nur i m gleichzeitigen Gang zum anderen Seienden zugänglich.

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Aus der Offenheit dieses Seienden ergibt sich, daß es anders als die geschlossenen Seienden existiert; es ist aus seiner Struktur der Offenheit dazu bestimmt, aus sich heraus zu sein, zu ek-sistieren 31 . Das A u ßer-sich-sein (mit seiner Steigerungsmöglichkeit bis zur Ek-stase) ist die angemessene Seinsweise des erschlossenen Seienden, weil darin die Verwirklichung der Offenheit geschieht. Daß dabei i m aus-sichherausgehen, dieses Offenseiende erst zu sich und damit auch i n sich, nicht nur aus sich heraus gelangt, daß dieses Seiende i n der Eksistenz auch erst sein In-sein erreicht, daß also ein Gleichgewicht gewahrt w i r d und keine Zerstörung stattfindet, resultiert aus der bipolaren Struktur der Offenheit, wie sie i n der Differenz markiert ist. Das Seiende, das den i n der Differenz zwischen sich und dem andern ermöglichten Raum kraft seiner Offenheit auf das andere h i n zu durchmessen beginnt, geht gerade dadurch auch i n sich zurück, weil es sich selber nur am andern gewahren kann. (Die Reflexion ist nur der Rückstoß der Transzendenz.) Das Seiende, das seine Offenheit nützt, und, seiner Freiheit folgend, frei wird, bringt sich daher, ohne endgültig i n die Widrigkeit des Selbstverlusts zu geraten, nur i n der Ek-sistenz erst zur Existenz. Seine scheinbare Sicherheit i m geschlossenen Kreis seiner selbst gibt das Seiende auf, wenn es sich i n die Offenheit seiner Freiheit wagt, aber dieser Verlust (der, wenn er gewagt ist, gar keiner ist, sondern nur die Befreiung) ist der Gewinn der Existenz. Existenz ist realisierte Freiheit. Wenn dieses Offenseiende seine Freiheit nicht übernimmt, verfehlt es auf alle Fälle seine Existenz (was noch nicht heißt, daß die freie Existenz also das Frei-sein schon die letzte Erfüllung dieser Existenz wäre.) Freiheit ist ein Spielraum und ein Medium: sie kann i m strikten Sinn nicht sich selbst verfehlen, weil sie gar nicht auf sich als Freiheit gerichtet ist; aber sie kann den Grund, wozu sie frei ist, bejahen oder verneinen, annehmen oder ablehnen und ζ. B. die Existenz verspielen. Wenn sich das Seiende jedoch i n diese seine eigene Offenheit hinaustraut, nimmt es i n der Freiheit die Bedingung seines eigenen Lebens ernst, es beginnt, zu leben. Wenn, was ontologisch als Erschlossenheit des Seienden bestimmt wird, anthropologisch gewendet, Freiheit heißt, so muß i n der Freiheit anthropologisch auch zur Geltung kommen, was ontologisch die Erschlossenheit von innen her ausmacht und sie aktualisieren kann: der Zug des Seienden zum Sein. Der i n einem andern als dem eröffneten Seienden wirksame (Be-)zug zum Sein hat noch keine Selbständigkeit; 31 Heideggers Deutung der Existenz als Ek-sistenz ist mehr als ein Spiel m i t der Sprache. Sie t r i f f t einfacher u n d besser als aufwendige Konstruktionen, wie der Mensch da ist. I m Vortrag „ V o m Wesen der Wahrheit" (jetzt i n Wegmarken, S. 73 - 97, S. 85) w i r d der Mensch dabei als die Freiheit, die er ist, namhaft gemacht.

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er ist blind und gebunden und noch nicht zur Differenz erwacht, i n der allererst mit der Andersheit anderer Seiender die Eröffnung geschieht. A n der Eröffnung des Seienden gewinnt auch der Zug zum Sein i n der (bewußten) Differenz seine Selbständigkeit und konstitutiert sich als eigene A k t i v i t ä t , als freier Wille. Damit bildet die Erschlossenheit des Seienden das ontologische Fundament der Spontaneität des Menschen, i n der das innere Moment der Freiheit anthropologisch benannt ist. W i r d diese Spontaneität i n der ontologischen Grundstruktur gelesen, so zeigt sich, daß die Freiheit von daher ein Sein-können ist. Denn Existenz heißt ja, als die Seinsweise dieses Offen-seienden, Realisierung der Offenheit, so daß dieses Seiende, i n seinem selbständigen Zug zum Sein, sein kann, oder auch nicht. Seine Seinsweise ist von der A r t , daß es, soll die Existenz überhaupt einmal beginnen, i n dieser Weise sein kann (und nicht automatisch ist). Dieses Seinkönnen, mit dem der Mensch seine Freiheit übernehmen kann oder nicht 3 2 , wo er die Wahl hat zwischen Menschsein oder Sklave- (von wem immer) bleiben, zwischen sein und vegetieren, erweist, daß m i t und i n der Erschlossenheit des Offenseienden eine Kraft verbunden ist, aus der die Realisierung der Offenheit, das Hinausgehen i n sie, geschehen kann. Das Können, latente Kraftentfaltung, ist nicht, wenn es realisiert ist, damit erschöpft, daß das Seiende frei geworden ist, sondern weitet sich nun i n der gewonnenen Freiheit nach allen Seiten, und deckt die Freiheit darin als Macht auf. Das freie Seiende, das der Mensch sein kann (und werden muß, falls er existieren will) ist aus dem Können seiner Freiheit zur Macht ermächtigt; die Freiheit ist Macht, soweit die Freiheit reicht. Die Freiheit aber reicht, da ihr alles Seiende und das Sein offensteht, i n die Unendlichkeit; sie ist nicht absolut, deswegen ist auch die Macht nicht absolut, aber sie ist i n der Endlichkeit des Seienden zugleich ins Unendliche entschränkt; deswegen ist sie beides; beschränkt zwar von der eigenen und des anderen Endlichkeit und dennoch durch nichts gebunden. Die realisierte Offenheit als das gekonnte Sein-können bringt die Freiheit zum Durchbruch ihrer Macht, der nun nicht mehr nur die Entscheidung zwischen Menschsein und Vegetieren, sondern zwischen dem Sein und dem Nichts aufgebürdet ist. Hat der Mensch seine Offenheit übernommen und steht er i m Freien, dann erst ist er i n die Entschei32 Das Seinkönnen soll hier das Selbstverhältnis zur Erschlossenheit u n d derart den Entschluß zur Freiheit als Anfang ihres Vollzugs i m Stadium der Unentschiedenheit umschreiben; daß dieses Seiende, das sich selbst erst aufgegeben ist, i m Vollzug dessen aber n u r zu einem In-der-Welt-sein, käme, w i e Heidegger das Seinkönnen ausgelegt hat (vgl. V o m Wesen des Grundes, jetzt i n Wegmarken, S. 35, 53) ist nicht gemeint. Das wäre n u r akzeptabel, w e n n es als Durchgang gemeint ist. Die Ek-sistenz zielt u n d zieht weiter, ins Nichts.

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dung gestellt. Er hat die Macht, sich zu bestimmen, er kann frei den Grund bejahen oder verneinen; bejaht er unvermittelt sich, so wählt er das Nichts und verneint den Grund, bejaht er dagegen den Grund (und nicht sich) — das ist das konstitutive Ja oder Nein, wo alle Dialektik ein Ende hat — bekommt er sich indirekt obendrein. b) Die Bewegung des Ausgangs Das Seiende, das zum Sein eröffnet ist, muß i n die Offenheit gehen; diese Bewegung des Ausgangs ist die Bewegung der Freiheit. I m Ausgang ist, da er Bewegung hat, der aktive Zug des Seins i m Seienden wirksam, das Seiende w i r k t . Bei dieser Wirkung, i n der das Seiende aus sich herausgeht und frei wird, lassen sich einzelne Momente des Ausgangs unterscheiden. Dabei ist die Bewegung aber immer schon auf ein Gegenüber gerichtet, und insofern, auch wenn sie noch nicht dort angekommen ist, mit diesem Gegenüber schon i n einer Beziehung, also grundsätzlich verbunden. Das erste Moment des Ausgangs ist ein unklares und unentfaltetes gleichermaßen Hin-sein auf ein anderes wie ein Weg-sein von sich i m Stadium des Dranges. Der Ausgang ist hier ein Aufbruch. Anschließend erfährt das Seiende seine Endlichkeit, seine Grenze, aber auch, zugleich damit, seine Bezogenheit i m Modus der Offenheit auf das, was jenseits der Grenze liegt. Die Grenzberührung ist daher das zweite Moment des Ausgangs. Das dritte Moment ist die Grenzüberschreitung. Der Ausgang gelangt auf die Grenze, die das Seiende von dem, worauf es bezogen ist, sowohl scheidet wie damit verbindet. Dieses Moment des Ausgangs, i n dem er sich auf der Grenze befindet, ist für die ontologische Struktur des Offen-Seienden entscheidend wichtig, weil i n der Grenzsituation Einheit und Differenz i m Geschehen von Scheidung und Verbindung exemplarisch beieinander sind. Es heißt, von der stattfindenden Überschreitung her, Transzendenz und dient besonders gut zur Begriffsbestimmung des offen Seienden, weil es seinen Grundzug i m entscheidenden Aspekt benennt. Das vierte Momnet i n der Bewegung des Ausgangs ist die A n k u n f t i n der Offenheit, die Erlangung der Freiheit. I n i h m gerät der Ausgang i n den Zwischenbereich, welchen die Freiheit als die noch ununterschiedene Sphäre von Sein und Nichts ausmacht. W i r d der Ausgang nur i n dem von seinem Wortsinn her geprägten Betracht des Weg-gehens genommen und nicht, was er über diese seine Negativität hinaus auch noch ist, nämlich als Hingang zum Sein, so käme er i n diesem vierten Moment, i n der Erlangung seiner Freiheit zu seinem Ende. Denn das Seiende ist aus sich ausgegangen, hat sich i n seiner Begrenzung überschritten und hinter sich gebracht. Wenn das Seiende aber zum Sein kommen soll — und das soll es, weil die ganze Grundstruktur zwischen Seiendem und 6*

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Sein überhaupt die Spanne des Ausgangs ist, aus der allererst die Offenheit als Bereich der Freiheit dazwischen eröffnet w i r d — so kann das vierte Moment des Ausgangs nicht sein letztes sein. Sofern der Ausgang als ganzer auch ein Hingang zum Sein ist, geht er über dieses vierte Moment der Erlangung der Freiheit hinaus und ins Sein ein. Das fünfte Moment des Ausgangs kann daher Eingang heißen, weil er in diesem letzten Schritt ins Sein eingeht. Erst hier kommt das Seiende zum Sein, damit aber auch gleichermaßen, da es sein Sein ist, ganz zu sich selbst. Nur i m Sein ist das Seiende bei sich, nicht anders. Daraus folgt, daß das aus sich herausgehende Seiende i m vierten Moment des Ausgangs, bei Erlangung der Freiheit, zwar aus sich heraus, aber auch noch nicht beim Sein und daher noch nicht bei sich ist. Das vierte Moment läßt sich daher auch als Moment der vollständigen Distanz bestimmen: das Seiende ist nicht beim Sein, sondern hat Abstand dazu, es ist — deswegen — auch nicht bei sich, sondern auch dazu i n Distanz. Diese uneingeschränkte Distanz ist daher geradezu die Signatur der Freiheit 3 3 . Sie zeigt aber auch, daß die Freiheit, wiewohl notwendige Bedingung der Existenz, noch nicht deren Erfüllung ist. Ohne und außer der Freiheit kann das Seiende nicht zum Sein kommen, i n der Freiheit allein ist es aber auch noch nicht i m Sein. Denn das Sein ist nicht nur Freiheit, es ist Leben. 2. Freiheit und Geist

a) Die reflexive

Transzendenz

Wenn das erschlossene Seiende, i n seine Offenheit ausgehend, anderem Seienden und von da dem Sein sich zuwendet, w i r d i h m nicht nur das Seiende oder das Sein, das i h m dabei i n den Blick kommt, sondern auch die eigene Offenheit daraufhin gewahr. Damit aktualisiert es, i m Maße es auf anderes zugeht, auch sich selbst, weil es damit die eigene Offenheit immer weiter gewinnt, und dadurch auch mehr zu sich kommt. Die Offenheit ist vor- und rückläufig, sie hat i n ihrer Transzendenz immer auch eine Zurückbeugung, die Reflexion, bei sich. Die transzendentale Bewegung ist zugleich eine reflexive Bewegung 34 . Denn die i n der Transzendenz sowohl heraustretende wie überschrittene Grenze führt das Seiende, das die Transzendenz vollzieht, auf sich 33 Die Beschreibung, die H. E. Nossack v o m Nihilisten gegeben hat (auf Peter Suhrkamp zielend) t r i f f t ebendies: „ E i n N i h i l i s t ist ein Mann, der bew u ß t seine H e r k u n f t verlassen u n d die Peripherie konsequent überschritten hat, u m jenseits, i m sogenannten Nichts, Neuland zu gewinnen." 34 H. Conrad-Martius, Das Sein, München 1957, spricht von einer Retroszendenz, verstanden als rückwärtige Transzendierung, die der Selbsttranszendenz unaufhebbar entspreche, S. 123, 125.

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zurück. Da die transzendentale Struktur immer eine zwischen zwei Polen, ontologisch die zwischen Seiendem und Seiendem, dazu überhöhend und gründend die zwischen Seiendem und Sein ist, kann sie auch dialektisch gefaßt werden, wenn dabei keine dialektische Identität nach dem Modell: das eine ist das andere, behauptet wird, sondern eine analoge Spannungseinheit walten darf; die Transzendenz ist zugleich Reflexion, weil an der Transzendenz simultan die Reflexion zurückläuft. Während die transzendentale Bewegung vorläuft auf ihren Gegenstand, und nur insofern dies geschieht, geht die Reflexion i n das die Transzendenz vollziehende Seiende zurück 35 . Konstitutiv für die Reflexion ist also die Transzendenz, nicht umgekehrt 3 6 ; ohne die Transzendenz ist die Reflexion nichts. Die durchaus bei-läufige Reflexion darf daher nicht zum Hauptstück und zu einer isoliert-selbständigen Bestimmung des Menschenwesens werden, sie muß der Transzendenz zugeordnet bleiben; w i r d sie nicht gleichsam auf deren Rücken belassen, so führt sie zu nichts und kann daher nicht zum Aufweis dessen dienen, wozu sie bemüht w i r d : zum Erweis des Selbstbewußtseins oder, wie es an dieser Stelle sodann heißt, des Geistes. Der Geist, der ja mehr ist als Selbstbewußtsein (dieses ist er eben nur i n seinem Rückgang) kann daher vollständig und richtig nur aus der grundlegenden Offenheit, aus der Freiheit und Transzendenz, erwiesen werden. b) Die Offenheit als Geist I m offenen Seienden schafft sich die vom Sein ins Seiende hervorgegangene Verendlichungsbewegung ihren Durchbruch und Umkehrpunkt zum Sein. Die Verendlichungsbewegung bricht auf, d. h. sie eröffnet dieses Seiende, i n welchem sie aufbricht, und bewegt es i n die Offenheit hinein. Anfänglich sind daher Offen-stehen und ins-Offenegehen dieses als offen bestimmten Seienden noch ungeschieden beieinander. Später sind sie differenzierbar, aber bleibend voneinander abhängig. Ohne die W i r k k r a f t des Seienden, ohne seinen Aktus, der zum Sein zieht, würde das Seiende nicht durchbrechen und derart eröffnet; ohne die Offenheit würde die Bewegung immanent bleiben müssen und nicht transzendental werden können. W i r d die Offenheit i n ihrer Scheidbarkeit zwischen Offenstehen und ins-Offene-Gehen anthropologisch genommen, so ist sie Geist. Das Seiende ist Geist, insofern es zum Sein h i n offensteht und sich dahin durchmessen kann. Die Freiheit ist daher die Bedingung der Möglichkeit des Geistes und sein inneres Element zumal. 35 36

Vgl. H. Krings, Transzendentale Logik, München 1964, S. 54. H. Krings, a.a.O., S. 37.

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Unter der Betonung des Offenstehens ist die Freiheit als Vernunft, unter der Betonung des ins-Offene-Gehen ist sie als Wille zu fassen. Dabei ist sie i n jedem der beiden geistigen Grundakte auch m i t ihrem unbetonten Vermögen anwesend, so daß von daher die Scheidung i n Erkennen und Wollen bereits wieder überholt und die Einheit beider i m Geist an einer Stelle sichtbar wird, wo gerade die Teilung demonstriert werden soll 3 7 . I n seiner Offenheit als Offenstehen ist dieses Offenseiende zu anderm Seienden h i n offen. Es hat das andere Seiende, das damit erst als Gegenüber konstitutiert wird, vor sich. Es besteht nun eine Beziehung, weil die Offenheit vom Offenseienden zum andern hinüberreicht. Das Offenseiende geht jetzt i n seiner Offenheit auf das Andere vor und zu i h m hin, damit es bei i h m ist, aber so, daß es stehen und derart bei sich bleibt. Während es offensteht, langt es aus und holt das andere Seiende, dem es sich zugewendet hat, zu sich, aber auf eine Weise, bei der das Andere auch wieder stehen (und i n sich) bleibt. Das Hereinholen des Gegen-stands i n der Weise, daß sowohl Objekt wie Subjekt trotz dieser Bewegung i n ihrer Distanz bleiben, ist die entscheidende Phase der Offenheit unter der Betonung des Offenstehens, weswegen die Offenheit als dieses Vermögen Vernunft heißt. Das Offenseiende vernimmt das Andere, weil die Offenheit die Möglichkeit des Ver-nehmens bietet. Da die Erkenntnis vor allem und zuletzt ihren Gegenstand als ein Seiendes gewahrt, sofern nicht davon absichtlich abgesehen wird, stößt sie fragend auf das Sein; die Vernunft ist daher seinsvernehmend. Damit ist die Rahmenstruktur des Erkennens bezeichnet. Sie ist die mit der Offenheit des Seienden gegebene Beziehung zum Andern, prävalent unter ihrem Offenstehen betrachtet. Trotzdem w i r d bereits i n einer solch vorläufigen und groben Skizzierung die Rolle sichtbar, die der Hinübergang des Seienden zum andern auch dabei spielt. A n i h m entlang könnte (wozu hier nicht der Ort ist) das Erkennen i n einer differenzierten Analyse entfaltet werden. W i r d die Offenheit des Seienden i n actu, von ihrem ins-Offene-Gehen aus, genommen, so ist sie Wille 8 8 . Denn der Wille ist die Kraft, auf etwas hinzugehen, die Kraft, die Bewegung dazuhin zu vollführen. Das 37

Thomas v. A . drückt diese innere wechselseitige Verschränkung so aus, S. th. 1 q 82 a 4 ad 1 : „intellectus intelligit voluntatem velie et voluntas v u l t intellectum i n teiligere." 38 Jede Philosophie, die eine Entscheidung bei sich an den Anfang setzt u n d demgemäß auch bei anderen Positionen aufdecken w i l l , ist dieser inneren Einheit von Vernunft u n d W i l l e n nach der Seite des Willens h i n auf der Spur. Vielleicht könnte die „vorrationale Urentscheidung", von der Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, B e r l i n 21969, S. 1, die Metaphysik abhängig sieht, v e r n ü n f t i g heißen, sofern die innere Einheit von Entscheidungsfreiheit u n d Vernunft aufgedeckt w i r d .

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Offenseiende hat dank seiner Offenheit einen freien Willen; er ist diese freie Bewegung auf anderes zu. I m Raum der Offenheit ist der das Seiende überschreitende Ausgang frei, w e i l er sich beliebig wenden kann. Er muß die Bewegung auf das Sein zu nicht vollführen, wenngleich er darauf gerichtet ist. Er kann sich auch ständig i n der Freiheit bewegen, ohne verbindlich zu werden. Daß der energische Zug i m Seienden als Wille verstanden werden darf, zeigt sich daran, daß ein Werk nicht ohne Wirkursache gedacht werden kann. Wenn man den Willen nun darauf zurückführt, daß i n jedem Werk ein Wille am Werk ist, muß man i m Willen eine Bewegung sehen. Falsch ist dies nur, wenn und solange ,Wille 4 eo ipso als ,freier Wille' und damit gleichbedeutend verstanden werden soll. W i r d ,Wille' synonym zu ,freier Wille' gebraucht, (wobei einige Fragen unsinnig würden; wie: Ist der Wille frei? usw.), dann entgleitet jedoch das am Willen, was ihn durchträgt, zugunsten der Freiheit als Abstraktum; daß der Wille auch Ursache ist, t r i t t hinter die Einsicht zurück, daß da Freiheit ist, obwohl er doch Ursache i m Zustand der Freiheit ist, sich also frei bewegen kann. Vielleicht ist es ratsam, den Begriff des Willens darauf zu beschränken, daß er Freiheit ist, aber dann kommt das i n i h m enthaltene Element, daß er A k t i o n und Bewegung, Kausalität, wiewohl i m Zustand der Freiheit ist 3 9 , nicht i n den Blick. Das jedoch ist ontologisch, wo alles auf die Bewegung des Ausgangs ankommt, die Substanz des Willens. Die Bewegung i m Offenen ist der freie Wille, aber die Bewegung selbst kann nur, wenn anders der innere Seinszusammenhang erhalten bleiben soll, als Wille gefaßt werden. Bewegung: Wille — i n die Offenheit hinein: freier Wille 4 0 . Läßt man diese Aussage nicht gelten, so kann die Freiheit allenfalls als Offenheit konstatiert, nicht aber genetisch, als Durchbruch der i m Seienden umgepolten Verendlichungsbewegung zur Unendlichkeit auf das Sein zu, und auch nicht transzendental, als Selbstüberschreitung des Seienden, verstanden werden. Der Wille als die offene Möglichkeit, dies oder jenes zu verwirklichen, etwas oder nichts zu tun, hat auf das Seiende, das i h m gegenübersteht, eine andere A r t der Beziehung als das Erkennen. Beim Wollen w i l l sich das Seiende i n das andere hineinbringen; das Wollen setzt verändernd an. Die Beziehung zum anderen Seienden ist produktiv, sowohl gebend wie nehmend, auf der ganzen Skala der Hilfe für dieses andere Seiende 39 Vgl. K a n t , Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B A 97, 98, 101, ed. Weischedel Bd. I V , S. 81 - 83. 40 D a m i t soll nicht einem Materialismus vorgearbeitet werden. Evolution wäre also mindestens unter der Rücksicht jener „Intériorité", w i e sie bei Teilhard de Chardin heißt, zu konzipieren, w e n n das B i l d des Menschen nicht „jenes allzu einfache von der emporgekommenen Amöbe" (A. Portmann) werden soll.

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bis zu dessen Gebrauch als Stoff der Herstellung. Die Beziehung ist transzendentale Überwindung der Distanz, ihre Aufhebung ist beabsichtigt, ein Eingehen i n das Andere und ein Dort-Verbleiben. Weil aber der Hinübergang zum Seienden i n dessen Endlichkeit eine Begrenzung und darum eine Verweisung erfährt, kann er dahindurch auf das Sein weiterstreben, u m sich dort ganz einzubringen. Hinübergang ins Sein ist daher der Wille zuletzt. Auch i n dieser Struktur des Wollens als einer Bewegung des Hinübergehens zum andern ist unbetont das Offen-stehen des Erkennens miteinbezogen. Denn wenn dies Offen-stehen Grenze und damit Transzendenz ermöglicht, w i r d das, was i n freiem Zustand Wille als freier Wille heißen darf, erst zusammen m i t der Vernunft begründet, so daß nur dort, wo Vernunft ist, freier Wille sein kann. I m Hinblick auf diese wechselbezügliche Konfundierung von Erkennen und Wollen, ist erst zu begreifen, was Geist wirklich ist. Er ist nicht Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Wissen seiner selbst, sondern der aus der Freiheit ermöglichte, frei bewegliche, transzendentale Vorgang des Seienden auf das Seiende und das Sein zu, der dieses andere w i l l , dabei aber vermöge der Offenheit auch zu sich zurückgeht, der das Andere wie auch dabei sich erreichen kann. Der Mensch unterscheidet sich nicht dadurch vom Tier, daß er Bewußtsein hat, vielmehr dadurch, daß er zur Freiheit geboren ist, von welcher Freiheit das Bewußtsein nur ein Bruchstück ist. I n der Freiheit, und nicht i m Ich, hat der Mensch seine Mitte, deswegen liegt sein Zentrum außer ihm. W i r d der Geist nicht fundamental aus der Freiheit bestimmt, so verengt er sich auf seine intellektuelle Komponente, wo er i n einer auf sich umgebogenen Unendlichkeit i n einer endlosen Kreisbewegung verkommt. Geist ist Geist der Freiheit oder er ist schon von vornherein dessen Verfehlung. Lediglich als Geist der Freiheit kann er zwar auch i n einer unendlichen Beliebigkeit verdampfen, sofern sich die Freiheit bei sich beruhigt und nicht als Ermächtigung zum Grund auftritt; er kann aber nicht die Transzendenz verlieren, wie es von seiner Bestimmung als Reflexion her geschieht. Die voluntaristische Komponente wird, sofern die Freiheit Offenheit bleibt, nicht gefährlich; ein offener Geist verfällt nicht der bloßen Bewegung. c) Gelassenheit Aus der Zusammengehörigkeit von vernünftigem Willen und wollender Vernunft lebend kann der Geist die Offenheit seines Wollens bedenken. Er sieht sich i n seiner Transzendens allererst vom Sein her erschlossen und nicht sich, sondern das Sein i n i h m am Werk. Wenn der Geist erkennt, daß seine Offenheit auf das Sein hin ihn konstituiert,

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und daß dies das erste ist, was ihn ausmacht, w i r d er sich zum Sein empfänglich verhalten; wenn er weiter seine Offenheit, als Bedingung der Empfängnis, schon vom Sein erwirkt und bereits daher empfangen weiß, w i r d er gelassen 41 , da er sich darin vom Sein getragen sieht. Die Gelassenheit ist derart das Grundfassen des Geistes i n seiner eigenen Freiheit als einer übereigneten, herkünftigen und damit die vorgängige, wieder einzuholende Ruhe seiner Bewegung. Der Geist begreift seine eigene Transzendenz als Rückschwung eines transzendentalen Aktes, aus dem er sich i n Freiheit zur Freiheit ereignet hat. Er hat es deswegen nicht nötig, sich u m sich zu kümmern und kann seine Bewegung spielen lassen, ohne sie zu forcieren. Er kann es getrost sein lassen, dieses Sein, denn er ist i h m i n der Differenz solange verbunden, wie er diese anerkennt, d. h. sich selbst nicht absolut setzt. Die eingesehene Differenz w i r d angenommen, also bejaht, und daraus, nicht aus der Anstrengung, erwächst die Beruhigung, die der Verzweiflung als Zustand enthoben ist. Die Offenheit der Freiheit w i r d von dieser Seite Verfügbarkeit, weil der Geist i n der Gründung zur Gelassenheit der entscheidenden Wirklichkeit schon versichert ist und daher ohne A u f regung den Vollzug der Transzendenz auf sich nehmen kann. Wenn der Geist i n seiner Offenheit als Vernunft und Wille gerade an der Differenz des Seienden zum Sein die Geborgenheit i m Sein erfährt und gelassen wird, gerät er nicht i n Versuchung, ungeduldig hinterm Sein herzuhetzen und das Seiende darüber zu vergessen. Er kann sich u m das Seiende kümmern, es ernst nehmen, i h m dienen. Erst von daher, wo der Geist Gelassenheit war und geworden ist, vermag er die Gefahr zu bannen, sich am Sein zu überheben. Denn dort, wo es nur u m das Sein geht und nicht immer auch u m das Seiende, w i r d das Sein zum Popanz und Vorwand des Selbst; wo es nur u m das Sein geht, geht es schon nicht mehr u m das Sein, weil dessen Verendlichung zum Seienden abgewiesen wird. Die Gelassenheit, i n der sich das Seiende selbst nicht mehr so wichtig nimmt, weil es schon wichtig genommen ist, feit gegen eine Verachtung des Seienden und disponiert zur Solidarität,

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Diese Gelassenheit ist ein Nachklang davon, daß der Mensch sich nicht selbst verdankt. M i t i h r geht es i n einen Bereich, der „der Unterscheidung von A k t i v i t ä t u n d Passivität" vorausliegt (vgl. Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 35), w e i l das Seiende dort erst konstituiert w i r d . A n dieser entscheidenden Stelle muß der menschliche Wille, w e n n er menschlich sein w i l l , seine Krisis erleiden, u n d sich v o m W i l l e n zur Macht i m Ursprung frei machen; er muß sich, w e n n er es noch nicht ist, umpolen lassen u n d selbstlos werden: als selbstloser W i l l e ist er der Bedingung seiner Kreatürlichkeit angemessen. Daraus w i r d er dann aber wieder ermächtigt u n d k a n n seine A k t i v i t ä t ausspielen. — I n der Tradition christlichen Denkens ist Gelassenheit sehr nah zusammen m i t dem, was indifferentia heißt, von Origenes herauf über Meister Eckart u n d Tauler bis zu Ignatius von Loyola, vgl. H. U. von Balthasar, Herrlichkeit, I I I / l , S. 776.

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aber ohne die Selbstüberschätzung, vom eigenen Einsatz alles abhängig zu sehen. Der i n der Gelassenheit zum Ausgleich gekommene Geist, der seinen Willen aus der Vernunft i n die Sammlung zurückgenommen hat, aber auch seine Vernunft vom Willen i n Bewegung gebracht weiß, ist nun erst zur Einheit seiner selbst, nämlich zum Zusammenspiel dieser beider, zum sehenden Tun, zum wissenden Handeln geworden. Der Geist darf sich nicht i n der Schwebe seiner Vernunft halten, weil die Vernunft sonst ihre eigene innere Bewegtheit mißachtet, er darf aber ebensowenig zum blinden Willen werden, wenn er seine Freiheit als Vernunft nicht verkennen w i l l . Der Geist ist Geist der Freiheit, der Geist der Freiheit ist vernehmende Transzendenz und also erkennender Ausgang aus sich selbst. Da das Erkennen ein Sehen ist, weil es sinnenhaft i m Sehen realisiert wird, und da das Wollen ein Tun ist, weil es den Ausgang verwirklicht, ist der Geist als ihr Zusammenspiel sehendes Tun. I n der Gelassenheit ist der Geist Geduld für das Seiende geworden: er kann sich i h m zuwenden und etwas dafür tun. Die bemerkenswerteste Tat aber, die rückhaltlose, ist i m Ausgang der ganze Ausgang, also die Hingabe seiner selbst an dieses andere Seiende. Damit geht der Geist der Freiheit über i n den Geist der Liebe, der Geist vollbringt den Eingang zum In-sein i m anderen, wozu die Freiheit die Erschließung war. 3. Freiheit als Ausrichtung auf das Sein

Der Geist muß aber nicht zur Liebe werden, denn die Freiheit, die der Mensch ist und hat, stellt es i h m frei, das Seiende und das Sein oder sich selbst zu bejahen. Entscheidet sich der Mensch für das Sein, so folgt er allerdings der Richtung seiner Freiheit. Die Freiheit ist ja als Offenheit die Eröffnung zwischen Sein und Seiendem, so daß sie aus ihrem Ursprung, wo sie i m Seienden aufbricht, schon die Richtung auf das Sein hat und von daher als Ausrichtung auf das Sein, trotz ihrer Wendigkeit nach allen Seiten, zu bestimmen ist. a) Die verfolgte

Ausrichtung

Als Ausrichtung ist die Freiheit ganz von der transzendentalen Struktur gezeichnet. Das Seiende kann die Bewegung des Ausgangs ausführen, weil es darin ek-sistieren kann. Es bleibt dort, wo die Freiheit Entschränkung von den Zwängen des Ablaufs i m Seienden bedeutet, nicht stehen, sondern vollführt den Ausgang ganz. Als Ausrichtung überwindet die Freiheit daher ihr eigenes Stadium der media-

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len Unbestimmtheit und zieht, dazu entschieden, aufs Sein weiter. I m letzten Moment des Ausgangs mündet sie ins Sein. Wenn die Freiheit m i t ihrer Ausrichtung aufs Sein richtungsweisend verstanden wird, ist sie der Weg ins Sein. Durch und über sie gelangt das Seiende an sein Ziel, i n dem es aufgehoben wird. Das Seiende kommt i n sein Sein, an seinem Ende, i m Tod, kann es sich, wenn es der Freiheitsrichtung folgt, i m Sein verlieren und darin aufgehen. Langt das Seiende i m Sein an, so ist die Differenz zusammengenommen und die Einheit t r i t t i n Erscheinung. Weil aber die Einheit nie mehr als eine geeinte und verwahrte Differenz sein kann, das Seiende infolgedessen i m Sein nicht nichts wird, kommt es nicht zur totalen Identität, sondern nur zum In-sein. Die bleibende Analogie zwischen Seiendem und Sein rückt zur Einheit hin, w i r d aber nie totale Einheit; i m Gegenteil, je inniger die Einheit, desto klaffender w i r d der Unterschied 42 . Das Seiende kommt daher, je tiefer es i n die unendliche Tiefe des Seins sich einläßt, um so mehr i n den Unterschied, also i n sein Selbstsein und zu sich. Der Einzug des Seienden ins Sein führt aber, nach Übersteigung seiner Endlichkeit, i n der Freiheit ins Nichts. Das Seiende muß durchs Nichts durch, wenn es zum Sein geht. Es w i r d vernichtet und w i r d doch, sofern es sich auf das Sein gerichtet hat, nicht zunichte, es w i r d durchnichtet. Wenn das Seiende aus dem Nichts wieder hervorkommt — welches Nichts nicht als bloßer Schein, sondern ernst genommen werden muß, trotz der Ärgerlichkeit einer solchen Aussage — und ins Sein gelangt, sieht es das Sein ebenfalls i n seiner inneren Durchnichtetheit der Verendlichungsbewegung. Das an der Ausrichtung seiner Freiheit wieder ins Sein gelangte Seiende sieht sich als das ursprünglich Seiende, das es vordem war, von dem i n seine Durchnichtung gegangenen Sein erwirkt. Erst wenn das Seiende dies sieht, hat es das Sein vernommen und verstanden, und erst, wenn das Seiende diesen Zug des Seins zum Seienden übernimmt, ist es i m Sein angekommen. Anthropologisch gewendet und weniger schwierig gesagt: es gibt ein untrügliches Zeichen dafür, ob einer i n seiner Freiheit aufs Sein gerichtet ist oder nicht. Nur der Mensch ist aufs Sein gerichtet, der dem Seienden, das ihn umgibt, Welt und Mensch, selbstlos dient, weil einer nur m i t solchem Tun bezeugen kann, daß er das Sein wirklich, d. h. wirkend und i n der Verendlichung durchnichtet, verstanden hat. Ein Seiendes, das sich i n der Seinsschwebe über dem Seienden hält, verkennt oder verrät das Sein, weil das Sein selber gut ist und aus seiner Idealität i n die Realität herabsteigt.

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Vgl. Przywara, analogia entis, S. 138.

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b) Die Wiederholung

des Seins: Onto-ana-logie

Der Mensch w i r d daher, sofern er seine Freiheit als Richtung zum Sein leben w i l l , das Sein i n sich wiederholen und abbilden müssen. Er hat sich seines Hochmuts zu begeben, er muß real, d. h. konkret werden. Wie das Sein sich ins Seiende verendlicht, so muß sich der Mensch als ganzer der Endlichkeit der ihn umgebenden Seienden hingeben 43 . Zwar findet er dieses Seiende, dem er sich hinzugeben hat, immer schon vor — er holt es nicht schöpferisch aus dem Nichts — aber er gibt ihm dadurch etwas hinzu, das vorher noch nicht war. Er setzt in seiner Freiheit das, was er ist, um zum Andern und gibt dem Seienden so etwas hinzu. Diese rückhaltlose Vergabe seiner selbst ist die Weise, wie der Mensch sich verendlicht, wie er i n die Verendlichungsbewegung des Seins einschwingt und das Sein wiederholt. Dadurch, daß der Mensch sein Sein tut, indem er aus sich herausgeht, w i r d seine Freiheit positiv, d. h. sie schafft Neues, indem sie dem Seienden von sich hinzufügt. Das Ponieren, und, als dessen Ergebnis, die Position, gehört daher elementar i n einen die Verendlichung des Seins übernehmenden Vollzug des Menschen hinein. Die Position ist dabei eine Verwirklichung, eine Realisierung des i m Menschen vorher noch gar nicht verwirklichten Mensch-seins, sie ist daher seine subs t a n t i a l Bedingung, sofern er zur Welt kommen und nicht nur als Seiendes lediglich dazugehören w i l l . I n der Position als Setzung geschieht daher, i m Wege der Umsetzung, eine Heraussetzung des Menschen zu seiner äußeren Realität und eine Überwindung der schweigenden Innerlichkeit. Aufs Sein hingerichtete Freiheit führt daher zu einer Hingabe ans Seiende und dabei zur Setzung des Seins aus seiner Schwebe zur Realität. Da die ontologische Differenz i n dem Sinn unschließbar bleibt, daß sie nie überholt werden kann, ist die größte Einheit zwischen Sein und Seiendem die der Ähnlichkeit zum Gleichnis. Der Mensch bildet das Sein ab, das i n der Idealität schwebend seinen Sinn i n der Verendlichungsbewegung zur Realität des Seienden nimmt und i n seiner Bonität bleibend die innere Einheit hat, wenn er i n seiner Freiheit nach unten steigend w i r k l i c h 4 4 wird. Anders kommt der Mensch nicht i n sein eige43 A n dieser Stelle hat Feuerbachs I d e a l i s m u s - K r i t i k i h r Recht. Vgl. dazu K . L ö w i t h , Das I n d i v i d u u m i n der Rolle des Mitmenschen, München 1928, S. 11, u n d W. Maihof er, i n : Existenz u n d Ordnung, Festschrift f ü r E r i k Wolf, 1962, Konkrete Existenz, S. 246 ff., auch W. Maihofer, Demokratie i m Sozialismus, F r a n k f u r t 1968, S. 24, S. 32. 44 Hier ist die Bestimmung beherzigenswert, die Hegel der Wirklichkeit gibt; das Wirkliche muß, u m es selbst zu sein, i n unmittelbare äußerliche Existenz treten, denn „seine Äußerlichkeit ist seine Energie"; es ist konkret u n d sein Dasein ist seine Manifestation. Vgl. Enzyklopädie, (1830), § 142.

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nes und i n das Sein, wenn er nicht absteigend dazu aufsteigt und aufsteigend wieder absteigt. Sich selbst erhält der Mensch nur als Dreingabe; er soll das Sein verwirklichen, soweit an i h m liegt, dann erhält er sich dazu. 4. Freiheit als Richtung in sich selbst herum

a) Die „umgebogene" Transzendenz Der Mensch kann aber auch anders. Als das eröffnete Seiende, das er ontologisch darstellt, hat er die Freiheit. Die Freiheit muß er nicht als Ausrichtung auf das Sein nehmen, weil sie auch als Ausrichtung frei bleibt und nicht zwingend ist. Wenn er sich nicht aufs Sein richtet, weil er es nicht zu sehen vermag (was nicht am Einzelnen liegen muß, wenn i h m das Sein verstellt ist) oder w e i l er sich nicht danach richten w i l l , w i r d die Freiheit zur Richtung i n sich selbst herum. Der Mensch, der nicht aufs Sein aus ist, endet, auf Umwegen oder sofort, bei sich selbst als seinem Ziel. Dabei w i r d die Freiheit ihres transzendentalen Bezugs zum Sein entledigt, indem die Transzendentalität verkehrt wird. Die Transzendenz w i r d i n die Reflexion umgebogen und fungiert als ihr Mittel; damit entfällt das Sein als Ort der Ankunft, es verschwindet i m Nichts, an dem die Reflexion ihre Kehre macht. Der Mensch, ontologisch ein zum Sein erschlossenes Seiendes, w i r d zur leeren Offenheit einer u m sich selbst jagenden Reflexionsbewegung in einem transzendentalen Subjekt. Die „umgebogene Transzendenz" (eine contradictio i n adjecto, nur als genetische Benennung sinnvoll) oder die dominante Reflexion gibt m i t ihrer zum endlichen Kreis geschlossenen Endlichkeit die Struktur aller menschlichen Verfehlung ab. Der Verlust der Transzendenz ist das Stigma daran. Wenn die Freiheit ihre Bewegung nicht oder nicht mehr auf das Sein richten mag, w i r d sie auf das sie tragende Selbst zurückgeworfen. Denn nur das Selbst bleibt aus der Beziehung übrig, wenn die Verbindung gekappt wird. Zunächst jedoch erfährt dieses Selbst keinen Verlust, sondern eine Steigerung. Es w i r d selbstherrlich, setzt sich absolut, geriert sich autark. Es faßt sich i n der Rückwendung auf sich selbst als sich selbst entsprungen, als Produkt seiner selbst und als sein Ziel. Lange dauert es, bis dieses Selbst i n der Selbstzukehr der Reflexion, i n der die Transzendenz zur dialektischen Vermittlungsstufe herabgezogen ist, die Schuld ebenso wie die Not des menschlichen Lebens erkennt, wenn nicht überhaupt Verblendung die Endstufe bleibt, auf der es weiterhin seinen Wahn m i t der Wirklichkeit verwechselt, ohne die Chance zu haben, da herauszufinden.

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W i r d die Situation einer solchen i n sich selbst zurückgewendeten Freiheit m i t der transzendentalen Grundstruktur der Freiheit als Ausrichtung auf das Sein kontrastiert, so erscheint die Selbstzukehr als Grundverfehlung. Der Mensch, das zum Sein eröffnete Seiende, das i n seiner Freiheit das Sein vernehmen und also hören kann, gehorcht dem Sein nicht. Er w i r d ungehorsam, indem er sich dem Sein nicht zuwendet. Da aber die Abwendung von Seiendem und Sein implizit immer schon Selbstzukehr besagt, liegt i n der Selbstzukehr der Ungehorsam schlechthin vor. Dieser Ungehorsam gegen das Sein bildet, solang die Fähigkeit zu hören nicht zerstört ist, den Imperativ für die Bewegung, von der das Ich zu seiner Selbstherrlichkeit inthronisiert wird. Wenn, als Folge dieses Ungehorsams, das Gehör der Vernunft für das Sein immer mehr verkümmert, geht der Ungehorsam i n seinen gewohnheitsmäßigen Hang über, i n welchem das Selbst nur das Eigene und damit sich sucht. Dabei bringt es die Freiheit schließlich zu einer Abhängigkeit, der sie nicht mehr gewachsen ist. Sie unterliegt der Tyrannis des leeren und aller Inhalte baren Ich. Die absolute Freiheit, mit der Loslösung des Seienden vom Sein intendiert, negiert die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit und schlägt damit um i n Knechtschaft. Da die dominante Reflexion das Sein nicht mehr berührt, indem sie die Transzendenz abbiegt, dabei ins Nichts gelangt und dieses Nichts noch reflektiert, w i r d der Herr dieser Knechtschaft das subjektivierte Nichts. Damit ist die zur Knechtschaft gewordene absolute Freiheit Knechtschaft einer endlosen, nichtigen W i l l k ü r 4 5 . I n einer richtungslos um sich herumsausenden Freiheit, die intellektuell i n der Reflexion spiegelt, ist gewissermaßen das Nichts personifiziert und subjektiv geworden; der Mensch ist nur mehr seine eigene Fratze. Diese Struktur der „umgebogenen Transzendenz" kann i n verschiedenen menschlichen Zuständen und Verhaltensweisen als jeweils i n einem bestimmten Stadium befindlich aufgedeckt und dabei näher analysiert werden. b) Stadien der Selbstzukehr Das anfängliche Stadium ist jenes, i n dem die Transzendenz an der Grenze aufbricht, wo also die Reflexion das erstemal möglich w i r d und damit auch dominant werden kann: das Stadium der verlorenen Naivität. Die Verbiegung der Transzendenz ist noch nicht eingeschliffen, aber 45 M a x Stirner, Der Einzige u n d sein Eigentum, ist literarisch Beleg dafür. Er vernichtet alles u n d m e r k t nicht, daß er, indem er sein „Sach' auf Nichts gestellt" hat, bereits sein Ich mitvernichtet hat. Die politische Exekution der Stirnerei ist bislang n u r partiell passiert, w e i l noch kein T y r a n n den langen A r m hatte, m i t dem er den Globus umfassen konnte. Inzwischen sind die objektiven Möglichkeiten f ü r den potentiellen Stirner-Täter gewachsen.

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sie kündigt sich als Möglichkeit immerhin an; die Zusammengehörigkeit mit dem Seienden zerbricht, weil das Bewußtsein erwacht. I n der Erkenntnis dieser Möglichkeit des Selbstbezugs, bei der schon die erste wirkliche Totalreflexion stattfindet, geht die Unschuld verloren. Wie vom Blitz erhellt, taucht die innere (schlechte) Unendlichkeit auf. Der erste Blick i n den Spiegel ist geschehen, m i t der Naivität ist es vorbei 4 6 . Überläßt sich der Mensch dieser verführerischen Möglichkeit, die Transzendenz umzubiegen und der Reflexion die Herrschaft einzuräumen, so erliegt er der Überhebung, i n der er sich als absoluter Souverän wähnt. Er kommt auf den Geschmack an sich, aus dem der Hochmut wieder seine Bestätigung bezieht. Der Stolz absoluter Herrschaft und Genügsamkeit i n sich selbst folgt dem Verlust der Naivität. Der Vollzug der totalen Reflexion ist der ontologische Vorgang dabei. I n Wahrheit ist aber diese Umbiegung der Transzendenz zur schlechten Unendlichkeit der ewig kreisenden Reflexion ein Abbruch und die Negation der Transzendenz. Das Sein entfällt. Das Ich setzt sich an seine Stelle, die Transzendenz w i r d ins Ich zurückgebeugt. Die Reflexion entzweit das Ich i n sich selbst dadurch, daß das Ich sich auf sich bezieht; derart ist die ontologische Differenz unter Verlust ihres ontologischen Fundaments auch noch als leere Differenz ins Ich hinein umgelegt; aus der Transzendenz ist die unendliche Gebrochenheit einer in sich ewig h i n und zurückspiegelnden Reflexion geworden. Damit ist aber nun der Zustand erreicht, der natura corrupta, zusammengebrochene Natur, benannt ist. Nach oben und außen ist die Transzendenz abgebrochen, und innerlich ist dieses Seiende vollständig gebrochen. Der Mensch i m Stadium seiner durchgeführten Selbstzukehr: natura corrupta. Genau das ist der homo incurvatus. Zugleich erhellt damit, daß darin die Schuld des Menschen besteht, daß er sich auf sich zurückwendet. Denn von seiner Eksistenz her ist der Mensch aufs Sein erschlossen, mit der Selbstzukehr verweigert er aber den seiner Freiheit anvertrauten Ausgang zum Sein. Die Selbstzukehr ist eine freie Verneinung des Seins, ob sie nun indirekt i n der Selbstbehauptung des Menschen oder i m direkten Ungehorsam fällt; i m ersten Fall w i r d der Mensch seine Schuld freilich weniger leicht einsehen, weil er seine Freiheit nie als Ausrichtung begriffen hat, während er i m zweiten sofort darum weiß, denn er gewinnt seine Selbstbejahung direkt i n einer Verneinung des Seins. Wer sich selbst sucht, w i r d schuldig — er verweigert die Liebe und verfehlt so m i t dem Sein auch 48 I m Aufsatz über das Marionettentheater hat Kleist f ü r die Zerstörungsk r a f t des Bewußtseins m i t der Geschichte des jungen Mannes, der seine A n m u t i m Spiegel entdeckt u n d bewußt reproduzieren w i l l , ein Beispiel gegeben, das seinesgleichen sucht. H. v. Kleist, Bd. 5, München 1964, S. 76.

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die eigene Existenz. I n dieser Verfehlung ist er, da er frei war, schuldig. Schuld ist die freiwillige Verkehrung der Freiheit zur Richtung i n sich selbst herum. W i r d die Selbstzukehr auch nicht unbedingt als drückende Schuld erfahren, so w i r d die Reflexionsgebrochenheit doch, jedenfalls dort, wo sie die Lust am permanenten dialektischen Dreh des absoluten Wissens verloren hat, zur Erfahrung der Not verhelfen. Die Reflexion bewegt sich, weil die Transzendenz, infolgedessen auch alles, was außen ist, nur als M i t t e l der Selbstwerdung fungiert und deswegen nicht wahr werden kann, sehr bald i n einer rein formalen Differenz leer vorwärts und zurück, ohne daß ein Ende abzusehen wäre. Diese leere Bewegung des Denkens i n sich selbst herum, und des Wollens seines eigenen Willens, w i r d nicht nur langweilig, sondern beklemmend. Die vormalige Freiheit ist i n einen unauflösbaren Wiederholungszwang abgerutscht, indem die ewig gleiche Bewegung immer unsinniger wird. Diese Situation bedeutet Not, da sie mit ihrer Absurdität bedrückt. Der homo incurvatus, der es weiß, daß er i n sich zurückgebogen ist, leidet daran. Die Selbstzukehr ist ein Leid und eine Not, besonders schlimm deswegen, weil sie von innen kommt und daher innen betrifft. Gleichzeitig w i r d die immer neu aufbrechende Differenz erlebt. Es w i r d eine Unmöglichkeit, ständig auch bei sich zu bleiben, es treibt das Ich fortwährend von sich weg. Darin ist der Grundriß der Selbstentfremdung 47 angedeutet, deren Not nicht zu lindern ist, da sie eine Umkehr zum Sein voraussetzt. Die Steigerung der Not bis zur Unerträglichkeit und die Nachtseite der i m Anfang noch möglichen Selbstherrlichkeit ist die Einsamkeit. Wenn der Mensch sich selbst ein Ein und Alles geworden ist, ist er radikal allein. Seine konstitutive Erschlossenheit ist einer undurchdringlichen Verschlossenheit gewichen, es besteht keinerlei Beziehung mehr. Auf die Dauer hält er das nicht aus. Die angemaßte Absolutheit, zur Selbstbehauptung unternommen, beginnt ihren Usurpator zu erdrücken. Sobald er diese Einsamkeit durchschaut und als Hülse u m die Leere des reflexiven Nichts erkennt, gerät er i n die Gefahr, die Irrealität des Nichts bis ins letzte anzuerkennen und seine endgültige Vernichtung, i m Selbstmord, zu vollstrecken. Gibt es aus diesem schier hoffnungslosen, geradewegs i n die Verzweiflung führenden Prozeß der Selbstzukehr 48 noch eine Rettung? Aus 47 Vgl. A. Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, i n Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie X I , 1952/53, S. 338 ff. — (Dieser Aufsatz ist ein nucleus für Idealismus- u n d Marxismusproblemstellungen i m Bereich des ziemlich zerfransten Entfremdungsbegriffes.) 48 Darüber hat Kierkegaard i n der ,Krankheit zum Tode' das nötige gesagt, vornehmlich i n Abschnitt C. B, b, ß: Die Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen. S. Kierkegaard, Werke I V , Reinbek 1962, S. 48 ff.

I I I . Die analogisch gebundene D i a l e k t i k der menschlichen Natur

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eigener Kraft nicht, w e i l die Verstrickung die eigene Kraft gelähmt hat. Die Neugeburt der Freiheit kann nur so geschehen, daß diesem hoffnungslosen Menschen dazu verholfen wird. Diese Hilfe aber ist nur hilfreich, wenn sie i n den Menschen eindringt und von innen her die Verstrickung löst.

I I I · D i e analogisch gebundene D i a l e k t i k der menschlichen N a t u r 1. Die analoge Einheit von Nur-Natur und Nicht-mehr-Natur

Wenn der Mensch, seine Freiheit als Ausrichtung erfassend, auf das Sein zugeht, kann er darin, daß er zum Sein kommt, auch sich erreichen; auf diesem Weg kann er zur Vollendung kommen. Wenn er sich dagegen direkt und unvermittelt auf sich zurückwendet, landet er letzten Endes i m eigenen Nichts. Ein Begriff von Natur, der die Natur, wie sie ist, erfassen w i l l , muß daher die Eröffnetheit dieses ursprünglich Seienden zum Sein, wie sie i m Menschen zum Durchbruch kommt, und von der her der Mensch das Sein wie sich erreichen oder verfehlen kann, auf jeden Fall umfassen. Vorgängig zu der i n der Freiheit selbst anstehenden Entscheidung zwischen Sein und Nichts, i n der mit dem Sein oder dem Nichts auch die Natur erreicht oder verfehlt wird, ist so die Natur des Menschen als die Einheit des ursprünglich Seienden mit seiner i n i h m aufbrechenden Freiheit oder als die Einheit einer, i m gängigen Sinn, ,Natur' m i t der, diesem gängigen Sinn gegenüber, Nicht-mehr-Natur, zu bestimmen. Die derart i m Menschen auseinandertretende Dialektik von Natur und Nicht-Natur ist aber schon das Ergebnis einer begrifflich nicht geforderten und schließlich gar nicht haltbaren Fixierung des Naturbegriffs zur Eindeutigkeit von Natur i. S. einer Welt unterhalb der Freiheit; dieser Natur, die Gesetzen unterliegt und daher nach Naturgesetzen funktioniert, t r i t t unvermittelt die Freiheit als keinerlei Gesetzen unterworfen entgegen. Daß es jedoch dialektisch zu wagen (und dann auch zu vertreten) ist, von der Natur des Menschen als der Einheit dieser ,Natur' und ,Nicht-Natur' zu reden, enthält einen Hinweis darauf, daß es sich bei der eindeutigen Definition (i. S. von Natur der Naturgesetze) schon u m eine abgeleitete Bedeutung handelt und daß der Sinn des Begriffes Natur durchgängig ein analoger ist. Die dialektischen Positionen, i n welche die Menschennatur polarisiert werden kann, sind analog verbunden, d. h. sie sind einander durchgängig ähnlich, auch wo sie entgegengesetzt sind. Die Menschennatur als analog gebundene dialektische Einheit verwahrt daher nur den analogen Sinn des Begriffes Natur, der seinerseits als ontologisch fundierter i n der analogia entis begründet ist. 7 Zacher

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a) Polarität Weil der Mensch polar verstanden werden kann, weil diese Polarität i n i h m besteht, kann er zur Nur-Natur herunter und zur Nicht-mehrNatur hinaufkommen, und so, wenn er die Spannung nicht aushält, gerade neben die Natur, die Mitte der Analogie ist, geraten. Es macht die Größe des Menschen aus, seine aus seiner Körperhaftigkeit herauswachsende Geistigkeit mit dieser zusammengehörig zusammenhalten zu können; wenn er dies hält und i n Ordnung hält, vermag er mit seinem menschlichen Geist i n den Geist hineinzuragen, dem er entstammt. Sein Elend w i r d offenbar, wenn er den Bogen vom Seienden zum Sein, der er selbst ist, zerbricht und nur auf die Fleischlichkeit eines (ungeläuterten) Triebes oder nur auf die vom Irdischen abgelöste Geistesschwebe setzt. Bei dieser Verabsolutierung kommt er der Rache des unterdrückten „Teiles" nicht aus 49 . Die Verdrängung des Fleisches tobt als perverse Neigung i m „reinen" Geist herum, während die Natürlichkeit einer gegen den Geist gerichteten sogenannten Natur immer unnatürlich und künstlich bleibt. Der Mensch ist nicht aus Engel und Tier zusammengeleimt, deswegen sinkt er, wo er Tier sein w i l l , unter das Tier zum Untier ab, wo er aber zum reinen Geist werden w i l l , murkst er die Vitalität ab, aus der auch der Geist lebt. Der Mensch ist immer schon leibhaftiger Geist und geistiger Leib. Sein Geist ist sinnlich und sein Sinn ist geistig, alle Trennung bringt nichts ein, weil er immer schon beides i n deren Einheit ist 30. Dennoch ist der Geist nicht der Sinn und der Sinn ist nicht Geist, sie sind nicht dasselbe, sie sind einander ähnlich. Der Sinn ist die Vordeutung des Geistes, der Geist ist ein „höherer" Sinn. Für beide bedeutet die Verbindung eine rückwirkende Änderung und innere Durchstimmung. Seine Sinne sind menschlich, ebenso ist sein Geist menschlich, weil die Sinne i n ihn hinein erhöht und derjenigen Sinnlichkeit, wie sie ohne den Geist aussähe, enthoben sind, jedenfalls, sofern der Mensch „wird, was er ist". I m Menschen ist der qualitative Unterschied zwischen den einzelnen Seinsstufen, wie er deutlich i n deren geformter Artung, also zwischen Mensch und Tier heraustritt, als ein versöhnter zustandegekommen, so daß der Gegensatz i m Prinzip der Steigerung verschwinden kann. Die menschliche Sexualität etwa liegt nicht mehr auf einer Ebene mit der tierischen, 40 Vielleicht ist es erlaubt, M. Scheler, Die Stellung des Menschen i m Kosmos, Darmstadt 1928, i n dieser D i a l e k t i k zu sehen. Zuerst schiebt er den Geist des Menschen über die Welt hinaus, u m dann am Ende den Lebensdrang über den Geist dominieren zu lassen. 50 Pascal hat diese Komposition des Menschen aus Disproportionen von den verschiedensten Gegensätzen her anvisiert u n d unnachsichtig eingeschärft, die M i t t e zu halten, w e i l der Mensch n u r dann Mensch ist. Pensées, v o r allem Nr. 84.

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weil sie menschlich vom Geist durchdrungen und daher einer Sublimierung, einer Läuterung fähig ist, wie nie zuvor. Genausowenig kann der menschliche Geist den Trieb zurücklassen, von dem er genährt w i r d : er wandelt ihn zum Eros und nimmt ihn, wo er nicht unmenschlich werden w i l l , mit; der Geist bleibt daher durch und i m Schwund der Sinne noch sinnlich. b) analogische Bindung W i r d die polare Dialektik, von der die Natur des Menschen zur ,Natur' und Nicht-Natur zerspannt wird, nur i n einer dialektischen Einheit zusammengerafft, so w i r d der Naturbegriff einfach dialektisiert; er bringt eine gedachte Einheit an den Menschen heran, ohne daß diese Einheit aus ihrer Wirklichkeit erkannt würde. Der Begriff verliert seinen Wert, weil i h m die Mitte, deren er zur wirklichen wie zu begrifflichen Vermittlung bedarf, entfallen ist. Damit sowohl der i n der Dialektik gesehene Gegensatz wie die wirkliche Vermittlung i n der menschlichen Natur aus dem Naturbegriff verstanden werden können, muß die innere Einheit der Natur analog, also i m letzten ontologisch, da das sich verendlichende Sein die Analogie trägt, verbunden bleiben. Der Geist ist, obwohl er als Gegensatz zur (in dieser späteren und eingeschränkten Bedeutung von untermenschlicher) ,Natur' gefaßt werden kann, auch selbst Natur und daher von deren Begriff umfaßt. Denn der menschliche Geist ist die ontologische Entfaltetheitsstufe der Natur, auf der sich das ursprünglich Seiende seinem Ursprungsgrund transzendental wieder zuwendet. Er steht daher als aufgeschlossene Natur gegen die unerschlossene (untermenschliche) Natur, bildet aber nur deren höhere Verwirklichung und kommt deswegen auch von ihr her. Daß die Natur i n sich die Stufung vom Niederen zum Höheren, von der Nur-Natur zum Geist zurücklegen kann, w i r d nur dort einsichtig, wo sie als ursprünglich Seiendes schon vom Sein erwirkt und also i n all ihrer eigenen Entwicklung vom Sein durchwirkt gesehen wird. Nur dann geht die Ähnlichkeit des Geistes zur ,Natur', die i n der Herkunft (als Abstammung-,Ahn'!) fundiert ist, ohne Widersinn auf, weil die Natur ihrerseits nicht als letztes, als natura naturans stehen bleibt, sondern aus ihrer eigenen Herkunft bedacht wird, i n der ihr bereits die Erschließbarkeit auf den Ursprung hin, dem sie selbst entstammt, überantwortet ist. Der geschichtliche Fortgang von ,Natur' zum Geist ist nur ein Fortgang der Natur von ihrer unentfalteten, aber entfaltbaren Stufe zur höheren der vollzogenen Entfaltung. Die Analogie zwischen dem gegen die ,Natur' aus dieser herausgetretenen Geist und der Natur ist daher i m Verhältnis der Verwirklichung zu finden, obwohl dabei andererseits der Unterschied klar wird, der 7*

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2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch

bereits anfänglich zwischen Geist und Materie besteht, weil die Natur auch schon vor aller Entwicklung, zunächst latent, später deutlich, analog vorliegt. Der Auf-sprung des Geistes i m ursprünglich Seienden ist nur die Entfaltung, das Auseinandertreten, einer ursprünglich noch inwendigen Geistigkeit. Analogie besagt Ähnlichkeit zwischen zweien und darin Herkunft des einen vom andern. I n der Herkunft ist die Verbindung gestiftet, auf welche die Ähnlichkeit durch den Bezug der Zusammengehörigkeit hinweist. Der Geist, oder die Freiheit, ist die Offenheit des Seienden zum Sein, nicht Offenheit an sich, sondern die des Seienden. Die Nur,Natur' ist das ursprünglich Seiende noch ganz i n sich, aber vom Sein getragen. Die Ähnlichkeit zwischen ,Natur' und Geist hat ihre Übereinstimmung daher darin, daß i n beiden das Seiende schon auf das Sein bezogen ist. Die Bezogenheit des Seienden zum Sein ist nun aber das umfassende und grundlegende Charakteristikum der Natur, so daß der Geist, weil er nur eine andere, höhere Weise dieser Beziehung aktualisiert, auch aus der Nur-Natur wirklich hervorgehen können muß. I n dieser höheren Verwirklichung der Beziehung besteht dann der Unterschied des Geistes zur ,Natur'. Der Geist ist auf das Sein auf, während die ,Natur' auf das Sein noch zu ist. I n der Dialektik dieser Entgegensetzung von „geschlossen" und „eröffnet" als den beiden Momenten des ursprünglich Seienden hat die Bewegung der Natur gleichwohl nur einen relativen Unterschied, weil die Beziehung, wenn auch verändert, sich durchhält, so daß der Begriff der Natur auch dem des Geistes gewachsen ist. Wenn das Seiende selbst real und wirklich sich zum Geist entäußert, kann es nicht wunder nehmen, daß sein Begriff, der Begriff der Natur, ebenfalls dieser Erstreckung fähig ist. I n der Natur des Menschen ist die innere Höherwandlung einer (bis dahin untermenschlichen) Natur zum Geist lediglich manifest und exemplarisch begreifbar. 2. Natur und Geist

Der Grund dafür, daß der Begriff Natur vor dem Geist des Menschen nicht abdanken muß, sondern ihn umfaßt, und zwar nicht nur dialektisch, als eine metaphorische Manipulation eben dieses Geistes, sondern wirklich, liegt i n der Analogie alles Seienden untereinander und zum Sein, wovon die Begriffe eine, daher ebenfalls analoge, Abbildung geben, wenn sie ihren Gegenstand erfassen. Der Begriff als Abstraktum, als statisches Wesen, macht eine Chimäre aus der Wirklichkeit, weil er deren innere Bewegung mißachtet, von der die Dialektik wenigstens, freilich u m den Preis einer gelösten Ruhe, äußerlich stimuliert bleibt. Alles, was ist, ist jedoch trotz der gestuften Verschiedenheiten gegeneinander kraft des Seinszusammenhanges miteinander verbunden

I I I . Die analogisch gebundene D i a l e k t i k der menschlichen N a t u r

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und daher i m ganzen vom Sein durchwirkt. Die Wirklichkeit des Seins ist das pulsierende Leben des Seienden, weswegen das Seiende ständig i n Bewegung bleibt. Der Begriff Natur, der beim ursprünglich Seienden, das nicht vom Menschen gemacht ist, anhebt, kommt daher erst i n seine Mitte, wenn er den Menschen samt seiner Geistnatur, als und i n der Natur erfaßt hat. I n seiner Einheit von Natur und Geist ist der Mensch die Schwingung des Seienden zum Sein i n der ontologischen Differenz. Als Natur ist er die i n sich geschlossene Substantialität des Seienden, als Geist die zum Sein erschlossene Transzendentalität eben dieses Seienden. Dabei vollzieht das Seiende die Transzendenz als innere Möglichkeit seines aus dem Sein übereigneten Selbstandes, indem es sich tiefer i n das unendliche Sein zurückgibt. Die Natur des Menschen ist vorläufig-rückläufig Seiendes, wobei i n der Bewegung des Seins zum Seienden die Vorläufigkeit und i n der Bewegung des Seienden zum Sein die Rückläufigkeit spielt. Der Weg zum Seienden ist der Weg zur Natur, der i n dieser als der Weg des Geistes zum Sein zurückkehrt. a) Die unendliche Natur Wenn sich das Sein aus seiner Wirklichkeit zum endlich Seienden verwirklicht, indem es dieses aus sich entspringen läßt, kommt die Natur zustande. Was dabei als Seiendes i n sich Stand erhält, ist aber, da Seiendes und Sein nie identisch, wohl aber einander näher kommen können (bis zum In-sein des Seienden i m Sein), nie die volle Wirklichkeit des Seins. Infolgedessen ist die Natur schon von ihrem Ursprung ab verwirklichungs- d. i. steigerungs- und entwicklungsfähig. Das begrenzt-endliche Seiende, i n welches das Sein sich zunächst durch den Vorentwurf der reinen Möglichkeit des Nichts vorentworfen und dann je und je i n diesen oder jenen Grenzen verwirklicht hat, ist laufend dem Einfluß des Seins und damit steigender Verwirklichung ausgesetzt. Was als Natur anhebt, ist daher von vornherein der unendlichen Wirklichkeit ausgesetzt. Wenn diese unendliche Wirklichkeit nicht i n immer höheren Endlichkeiten, wo sie gleichsam numerisch auf der Zahlenreihe fortläuft und immer nur endlich bleibt — dahin bringt's allerdings der progrès — zerstrahlen und zerstieben soll, w i r d sie als Unendlichkeit i n der Endlichkeit der Natur aufspiegeln und schließlich aufbrechen. Das bedeutet, daß die Natur von Anfang an der vollen, unendlichen Wirklichkeit i n und durch, ja trotz ihrer Endlichkeit zugeordnet ist. Was sich i m Fortgang ihrer Verwirklichung vollzieht, ist nur die Aufhüllung dieser zum Selber-sein ermächtigten Wirklichkeit des Seins. Schon über der unbewußten Natur spielt der Schimmer der Unendlichkeit, weil ihre Endlichkeit zum Spiegel werden kann, den alle

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2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch

Grausamkeit und Zweckdienlichkeit, unter der die Natur leiden muß, nicht vollständig blind machen kann. Die nichtige Verfinsterung der totalen Abkehr vom Sein, wozu der Mensch die Macht hat, ist der dem Sein noch nicht frei verbundenen unbewußten Natur nie derart möglich. Daher bleibt das Blühen der Blumen eine Überschwenglichkeit, die nie instrumental restlos aufgeht 51 , und bildhaft die reale Transzendenz der Natur schon ankündigt. So ist die Natur von Anfang an i n ihrer wirklichen Endlichkeit auch unendlich. Sie ist nie diese Unendlichkeit und die volle Wirklichkeit selbst, aber sie hat an der Unendlichkeit teil, indem sie von daher und daraufhin ist. b) Geist als Natur — die Selbstüberschreitung Der Mensch ist nur die Verwirklichung der Natur, weil er werden und sein kann, was die Natur potentiell schon ist. Der Mensch ist die Realisierung des Unendlichkeitsbezugs der Natur, i n welchem die Begrenzung nun real überschritten wird. Sein Geist, der Vollzug der Transzendenz, ist reale Natur. Der Geist erscheint damit als Natur, als reale Aktualisierung ihrer aus der Endlichkeit heraussteigenden Unendlichkeit. Er ist die Natur, zur Vollendung ihrer selbst gebracht. I m Menschen überschreitet sie sich selbst auf ihren eigenen Grund hin; das Vermögen dazu heißt Geist. Die, i m Vergleich zu ihrem Drang als noch unbewußte Natur, höhere Form der Freiheit ist daher eigentlich erst die ganze Natur. Wo die Natur noch nicht Geist geworden ist, ist sie noch nicht ganz Natur, sondern deren Anfang. Als ganze muß sie aber m i t ihrem eigenen Anfang verbunden bleiben; sie soll i h n m i t nehmen, nicht abstoßen, erheben, nicht fallen lassen. Die Natur umspannt daher, als ganze, das Seiende i n all seinen Stufungen und Differenzen, sie reicht von den unteren Einfachheiten der Materie zuhöchst bis i n den Geist. Als dieses Gesamt koordinierter Endlichkeiten kann sie sich zuletzt, i m Geist, auf das Sein h i n überschreiten; die exemplarische Verdichtung dieser ganzen Natur ist der Mensch. I n i h m ist das Seiende insgesamt ein freier Überschwung seiner selbst auf das Sein. Deswegen ist die Natur des Menschen der volle Begriff der Natur.

Was hat sich ergeben? Der Begriff der Natur reicht i n das grundlose Sein zurück, und zwar seinem Grund wie auch seinem Ziel nach. Er hat i m Seienden zwar dessen jeweilige Grenzen und daher eine bestimmte 51 Die Gestalt eines Blattes schon macht es möglich, u n d vielleicht sogar notwendig (?), von so etwas w i e „Selbstdarstellung" zu sprechen. Vgl. A. Portmann, Biologie u n d Geist, F r a n k f u r t 1968, S. 96.

I I I . Die analogisch gebundene D i a l e k t i k der menschlichen Natur

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Form zum Wesen, aber — dies ist das Entscheidende — die Grenzen sind Gliederungsprinzipien, welche die Natur fortwährend verwandelt und letztlich i m Geist übersteigt. Die Natur kann nicht nichtbewegt sein, deswegen muß sie als Wesen heraustretende, aber auch immer wieder verschwindende Form der Wirklichkeit sein; schließlich muß sie die eigene Grenze übersteigen. Dabei w i r d die Grenze nicht endgültig negiert, sondern so aufgehoben, daß sie sich — von Seiendem zu Seiendem — als neue, andere Grenze wiederfindet, oder daß sie — vom Seiendem zum Sein — die bleibende Grenze zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit markiert, die i m Überstieg sogar erst richtig deutlich wird. Aber die Grenze darf nicht mehr den ganzen Ernst beanspruchen, weil das Sein entscheidend ist. Der Begriff Natur ist deswegen ein transzendentaler Begriff. D. h., daß i n i h m das ursprünglich Seiende, das er i n seinen vielfältigen Formen und Einzelheiten nennt, zugleich immer auch über sich hinaus als aufs Sein übersteigend mitausgesagt wird. Ontologisch war diese transzendentale Durchdrungenheit zunächst anhebend und anfänglich von der Herkunft der Natur her abyssal aufzuweisen. Der i n der Natur aufklaffende Abyssus ist sozusagen das Vorspiel, der Entwurf der Transzendenz und daher i n einem vorgängig-uneigentlichen Sinn schon von ihr her zu benennen. I n der zur Anthropologie konzentrierten Ontologie wurde die Transzendentalität i n ihrem aktiven Sinn sichtbar. Als ein transzendentaler Begriff kann der Begriff der Natur nicht eindeutig definiert werden, denn er hebt gerade m i t seiner Transzendentalität die plane Einzäunung, die man i h m antun w i l l oder von i h m verlangt, immer schon auf. Für ein nur vordergründig auf Positivität oder für ein nur auf präzise Begrifflichkeit gerichtetes Denken — was nach verschiedenen Seiten der jeweils gleiche verhängnisvolle I r r t u m ist — stellt das ein Ärgernis dar. Aber die Präzisionsfanatiker haben einen falschen Begriff vom Begriff; der Begriff ist keine bloße Definition, weil er nicht einsinnig (univok) sein kann; man sieht's nur nicht mehr, je weiter man von den Grundbegriffen weg i n ein Mittelfeld der Wissenschaft hineingerät. Und die Verfechter des Positiven t u n dem Positiven Abbruch, weil sie es nicht mehr durchleuchtet i n seiner W i r k lichkeit sehen, und also eine falsche Wirklichkeit wie auch, davon dann, einen falschen Begriff haben. Wo am Anfang eine geschlossene Definition von Natur steht (oder gesucht wird), handelt es sich entweder u m nackte Ideologie oder um die nachgerade zur Ideologie heruntergekommene Perversion des Ideals der strengen Wissenschaft, i n der alles, nur nicht die eigenen Grundaxiome, wissenschaftlich 52 genommen werden. 52 Kennzeichnend f ü r solche Wissenschaft ist dann immer auch eine schreckliche Monopolisierung der Wahrheit. Die Idee, daß etwa der Dichtung auch

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2. K a p i t e l : Der Begriff Natur-anthropologisch

Die Definition, die Begrenzung, ist erst das zweite, sie muß daher i m Unendlichkeitsbezug des transzendentalen Begriffs als eine zeitliche, daher der Zeit unterworfene Form je nach der Stufe des Seienden wahrgenommen oder i n der Rücksicht auf solche Formen i n der Freiheit gewagt, entschieden und verwirklicht werden. Wenn die Transzendenz der Natur derart aller Natur als Wesen vorgeordnet bleibt, kann sie i n der Konkretisierung nicht verloren, sondern immer nur neu bestätigt werden. Es kommt daher, weil sich der Naturbegriff als ontologisch transzendentaler enthüllt hat, für das Naturrecht, wie überhaupt für die Rechtsphilosophie, nur — und alles — darauf an, seine ontologische Transzendentalität zu bedenken.

Wahrheit zuzusprechen ist (so C. F. von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 1964, S. 242) k o m m t bei dieser rigoristischen Selbstüberschätzung nicht mehr auf.

Zweiter

Teil

Natur i m Naturrecht Drittes

Kapitel

Die kritischen Konsequenzen der Transzendentalität des Naturbegriffs für das Naturrecht Das Recht ist nicht Macht; die Gerechtigkeit ist nicht W i l l k ü r . Das Recht steht gegen das Unrecht. Diese Unterscheidung des Rechts gegen alle Maskierungen und die innere Selbständigkeit seiner als Recht soll das Naturrecht hergeben, indem es das Recht als von Natur aus rechtens zu erweisen sucht. Wenn der Begriff der Natur i n dem des Naturrechts auch nicht seinen vollen Umfang haben kann, so ist er darin doch m i t seiner substantiellen Bedeutung anwesend, weil die Substanz des Begriffes dasjenige sein muß, von dem her sowohl der Begriff der Natur wie der des Naturrechts geprägt wird. Die Substanz und die Qualität dieses Mittleren, das i n beiden Begriffen, als deren Gemeinsames, anvisiert wird, muß auch den Naturrechtsbegriff bestimmen. Deswegen ist der Naturrechtsbegriff, vor aller entschiedenen Festlegung, ob und wie i n ihm selbst ,Natur' als natürliches Recht', ,Recht der Natur', ,Natur des Rechts', als ,Natur der Sache' oder als ,Natur des Menschen' i n diesem näheren Sinne einzeln oder miteinander verwendet w i r d oder verwendet werden soll, jedenfalls von der Substanz und Qualität dieses Mittleren her zu denken. I . Naturrecht als ebenfalls transzendentaler Begriff

Die Substanz des Naturbegriffes aber macht es aus, daß er ein ontologisch transzendentaler Begriff ist; die Transzendentalität ist das, was sich i n allen Spielformen der Natur und infolgedessen auch i n allen begrifflichen Zusammensetzungen durchhält. Sie ist zugleich die Eigenheit des Naturbegriffes, die so sehr seine eigene ist, daß er gerade darin seine Identität wahrt. Die Transzendentalität ist die Bestimmung des Begriffs an i h m selbst, nichts, das i h m von außen erst zugeschrieben worden wäre, sondern ein von innen heraus konstitutiv Eigenes.

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3. K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität 1. Die Unschließbarkeit als notwendige Konsequenz

Durch das an ihm, was von der Natur spricht, sagt der Naturrechtsbegriff daher, daß das Naturrecht zuinnerst transzendental 1 , über sich hinaussteigend, gedacht werden muß. Das bedeutet, daß das Naturrecht (oder, wie man vielleicht doch i m Hinblick auf die Grundbedeutung w i r d sagen dürfen: natürliche Recht) i m letzten nicht definiert, sondern immer nur zusammen mit seiner Transzendentalität, die eine Unschließbarkeit ausmacht, gefaßt werden kann. A u f das Naturrecht kann hingewiesen und Bezug genommen werden; es kann aber, da es, wie die Natur, nicht das Sein selbst ist, sondern ein dem Seienden ursprünglich mitgegebenes Recht, nicht festgestellt und aus dessen Wandlung herausgenommen werden, als starres ,Wesensrecht' eines ,so und nicht anders'. Wenn das Naturrecht i m Bereich des Wissens vom und des Lebens mit dem Recht den gleichen Stellenwert hat, wie der Begriff der Natur i n der Philosophie, dann gilt mutatis mutandis wegen des Mittleren, des tertium comparationis, zwischen beiden Begriffen, auch für das Naturrecht, was von der Natur gilt: daß m i t diesem Begriff das ursprüngliche Dasein des Rechts inmitten dessen, was da ist, nämlich der Welt samt des Menschen, erreicht ist; daß dieses Naturrecht, wie das Seiende überhaupt, i n der Zeit steht und daher zeitlich, also geschichtlich gedacht werden muß, was jede Aussparung von ein paar obersten, doch vielleicht noch unbeweglich und ungeschichtlich haltbaren Sätzen verbietet; daß das Naturrecht schließlich zwischen unendlicher W i r k lichkeit und bloßer Möglichkeit als wirklichkeitserwirkte und wirklichkeitswirkende Möglichkeit, nicht zwischen ,formal' und ,material' 2 , dieser immanenten Polarität, sondern diese sprengend, spielen muß. Daher hat das Naturrecht seine historischen Spielformen, i n denen es sich i n 1 Der Begriff „transzendental" k a n n zwar n u r schwer den A n k l a n g an jene andere Prägung „transzendent" zurückhalten. Aber er ist geradezu als Widerspruch gegen jenen übergeschichtlich u n d jenseitig angesiedelten Begriff „transzendent" gemeint. Die Warnung Joachim Ritters an die Rechtsphilosophie, sie habe die geschichtliche W i r k l i c h k e i t des Rechts bereits verloren, wenn sie m i t „transzendenten" Prinzipien, vor allem i m Sinn von „Werten", arbeitet, ist leider n u r zu begründet. (Vgl. Joachim Ritter, Diskussionsbeitrag i n : F. Wieacker, Z u m heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion, K ö l n und Opladen 1965, S. 42.) 2 E i n monotoner Hylemorphismus, wie er, von Aristoteles abgezogen, gewandelt bis zu den Neukantianern reicht, ist zwar nicht verächtlich, aber er ist sicher zu wenig. Deswegen hat G. Radbruch, wenn er bis zuletzt die Natur der Sache als Rechtsstoff gegen die Rechtsidee setzt (Die N a t u r der Sache als juristische Denkform, Festschrift R. Laun, L a m b u r g 1948, S. 163), keine falsche, aber eine nicht besonders hilfreiche Bestimmung gegeben. Radbruchs Versuch „aus der W e l t der W i r k l i c h k e i t i n die Welt der Werte hinüber(zu)tasten", S. 172, u n d die N a t u r der Sache als Sinn eines faktischen Lebensverhältnisses, S. 162, zu verstehen, w a r zögernd. Vgl. dazu W. Maihof er, Die Natur der Sache, i n : Ontologische Begründung des Rechts, Hrsg. A. K a u f mann, Darmstadt 1965, S. 59 f.

I. Naturrecht als ebenfalls transzendentaler Begriff

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der einen oder anderen Weise ausprägt. Es hat kein ewiges und unwandelbares Wesen zu allen Zeiten und überall 8 , schon weil es auch der Ordnung des Seienden angehört. Es hat aber, immer und überall, i n dieser oder jener Form, i n der es steht, eine Transzendenz aufs Sein zu, kraft deren und i n der seine Form sich überhaupt wandeln kann. Die Substanz des Naturrechts, aus der es seine Identität hat, ist seine aus seinen bestimmten Formen heraussteigende Transzendenz, i n denen ihrerseits jeweils eine bestimmte Verwirklichung davon zur Darstellung kommt. Weil das Naturrecht ontologisch transzendental zu begreifen ist, führt sein Begriff eine Unschließbarkeit bei sich, die es verwehrt, das Naturrecht endgültig zu definieren. Man kann es nur entweder transzendental und d. h. i n seiner letzten Unfaßbarkeit fassen, oder aber man verfehlt seine Dimension als Grundbegriff. a) Der Grundbegriff Als Grundbegriff ist das Naturrecht der Versuch, i n der Problematik des Rechtsdenkens m i t seinen fundamentalen Fragestellungen, zwischen — scheidend — Recht gegen Macht und — fundierend — Recht i n sich selbst, Boden zu fassen. Wenn nun der Begriff Naturrecht als u r sprüngliches, m i t dem Menschen schon daseiendes (wie aber?) und nicht erst von ihm zu verfertigendes (aber vielleicht zu vollziehendes?) Recht ins Auge gefaßt wird, stößt dieser Versuch zugleich i n einen Bereich vor, i n welchem dieser Boden zu wanken und bodenlos zu werden beginnt. Denn der mit dem Begriff der Natur i m Naturrecht intendierte Grund ist i n irgend einer Weise derjenige von Natur überhaupt, der i n seiner eigenen Verwiesenheit auf die unendliche Grundlosigkeit von einer vollständigen Vor-läufigkeit bleibt, die i m Begriff als i h m innere transzendentale Spannung durchzuhalten ist. Das bedeutet, daß Naturrecht nicht wieder auf andere Begriffe fundiert werden kann, weil die unendliche Wirklichkeit transzendental i n i h m bereits erreicht ist. Damit ist zu anderen Begriffen hin zwar nur diese besondere, entschei-

3 U m hier keinem MißVerständnis Vorschub zu leisten: auch das „ewige und unwandelbare Wesen", von dem hier, oppositionell, geredet w i r d , paßt n u r i n eine unhistorische, abgelebte Ontologie. Es gehört zum Verhängnis platonisierender Konzeptionen, i n der Weise über die Zeit hinaus gedacht zu haben, daß Ewigkeit als Nicht-Bewegung gefaßt wurde. Ewigkeit ist aber kein absoluter Widerspruch zur Zeit, deswegen muß sie auch nicht unveränderlich gedacht werden, der Bewegungsrhythmus der Ewigkeit differiert von der Bewegtheit des Zeitlichen. Bei Heidegger heißt es (Der Ursprung des Kunstwerks, zit. i n Holzwege, F r a n k f u r t 41963, S. 37): „denn was ist Ruhe, wenn nicht der Gegensatz zur Bewegung? Sie ist allerdings nicht ein Gegensatz, der die Bewegung von sich aus-, sondern einschließt."

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3. K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

dende Beziehung der Begründung ausgeschlossen4, gegen andere Beziehungen ist nichts eingewendet. Das heißt aber doch, daß auf eine Frage wie die: ,Was ist das, das Naturrecht'? nur i n der durchreflektierten Transzendentalität einer Rede vom Sein die A n t w o r t gegeben werden kann, daß aber keine Wesensbestimmung möglich ist, die mit Begriffen arbeitet, welche ihrerseits längst die Natur voraussetzen. Das Charakteristikum der Definition ist es nun aber, andere Begriffe beibringen zu wollen, mit denen das definiendum tiefer begründet und daraus einsichtiger werden soll. Bei einem Grundbegriff kann ein solches Unterfangen nur erfolglos bleiben; er ist, i n diesem Sinne, nicht definierbar. Die Absicht, das Naturrecht präzis fassen zu wollen, widerstreitet daher von vornherein der i n seinem Begriff erreichten Grundlegung des Rechts. Von hier aus kann nicht mehr, es sei denn transzendental, weiter zurückgefragt werden und infolgedessen kann auch keine die Transzendentalität abstreifende, begrifflich eindeutige Fixierung mehr erfolgen. Es ist die Eigentümlichkeit eines Grundbegriffs, nur mehr i n sich erhellbar, aber nicht weiter auf einen grundlegenderen und vielleicht gar noch eingängigeren Begriff rückführbar zu sein. Die Wissenschaft, die auf Termini, also auf klare und eindeutige Bezeichnungen einer Sache und deswegen auf Definitionen aus ist, muß sehen lernen, daß ihre Grundbegriffe, mit denen sie anfängt, aus ihr i n einer zweifachen Weise hinausführen: es geht aus ihr als Speziai Wissenschaft heraus und i n die Grundwissenschaft überhaupt, die Philosophie, hinein; und es geht aus ihr als Wissenschaft eines Ableitungszusammenhangs heraus i n den Zirkel ihrer noch unbefragten Voraussetzungen hinein. Das bedeutet, daß Wissenschaft i n diesem Bereich nur noch als Methode, als sichernde Vergewisserung ihres eigenen Tuns ernst genommen werden darf; nicht aber darf sie das Modell ihrer, von einer Untersuchung der eigenen Voraussetzungen noch nicht angekränkelten und blind damit arbeitenden Leistung dorthin übertragen. Sie muß ihre eigenen Leistungen, die davon leben und dadurch möglich werden, daß sie sich nicht reflex u m ihre Grundbegriffe kümmert, vergessen und ohne von daher präformierte Erwartung weiterarbeiten. Die auf partiellen Feldern wissenschaftlichen Forschens erlebte Einträglichkeit der Genauigkeit darf nur als Genauigkeit, nicht aber als Ergebnissucht beibehalten werden. M i t anderen Worten: die präzise Definition des Grundbegriffs als Wunschvorstellung ist eine falsche Erwartung, die von einem Begriff i m Mittelfeld her übertragen wird, ohne zu sehen, 4 Auch kein göttlicher Wille, als einfach n u r Wille, keine Setzung darf zur Begründung dem Naturrecht unterschoben werden. Vgl. dazu H. Deku, Possibile Logicum, Phil. Jahrbuch, 64. Jhrg., München 1956, S. 1 - 21, S. 12, mit Hinweis auf Thomas Qu. de Ver. q 23 a 6.

I. Naturrecht als ebenfalls transzendentaler Begriff

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daß nun kein selbstverständliches definiens mehr zur Verfügung steht. (Dieses definiens nimmt übrigens der Definition i m Mittelfeld alle-geglaubte-Eindeutigkeit; nur w i r d eben i m Mittelfeld nicht reflex eingeholt, daß das definiens unbefragt bleibt.) b) Definition

und Begriff

Was vom Grundbegriff zu erhalten ist, das ist keine Definition, sondern, mehr und weniger als dies, eben sein Begriff 5 . Die Definition substituiert einen Begriff durch eine Fülle anderer und gewinnt auf diese Weise Reichhaltigkeit, vielleicht auch Sachhaltigkeit und eine durch diese bestimmte Füllung negativ wirksame Abmessung. Insofern ist die Definition i n gewisser Weise mehr als der Begriff, und definieren gilt denn auch als das Erarbeiten eines Begriffs, die Definition gilt schließlich als Begriff. Was die Definition aber verschleiert, das ist die Tatsache, daß sie die zum Definieren verwendeten Wörter und Begriffe selbst nicht eigens definiert hat, was ja auch, konsequent betrieben, nur den bekannten regressus i n infinitum auslösen würde. Sofern mit der Definition ein willkürlicher Einhalt geboten wird, der i n ihr unreflex hingenommen wird, ist sie sehr viel weniger als der Begriff, weil in ihr über die eigene Bodenlosigkeit hinweggetäuscht wird. Die Präzision, Sachhaltigkeit und Eindeutigkeit erweist sich als recht oberflächlich, weil sie von einer ihrerseits all dieser Attribute baren Voraussetzung ungeprüft ausgeht. Die Definition gibt sich daher als etwas aus, was sie sowenig ist wie der Begriff, nur weiß sie es nicht oder w i l l es nicht zur Kenntnis nehmen. Das ,weniger' des Begriffs gegenüber der Definition ist daher mehr, weil es die Situation realisiert, i n der Begriffe überhaupt sich befinden, und offenbart, so paradox das auch scheint, daß der Begriff weniger begriffsversessen 6 ist als die Definition. Er versteht sich nämlich sofort als der Begriff der i n i h m genannten Sache. Der Grundbegriff ist nur der exemplarische und fundamentale Fall davon. Der Begriff bleibt, i m Unterschied zur Definition, auf sich selbst gestellt, er holt mit sich die Sache selbst ein, er „begreift" sie. Darin äußert sich seine vollständige Verwiesenheit an die Sache. Wenn die Sache, die hier das Naturrecht ist, wegen der i n ihr bezogenen anderen Sache, der Natur, aber ins Unendliche geht, dann muß der Begriff diesen Zug über sich hinaus abbilden und etwas Unfaßliches derart fassen. Denn der Begriff ist m i t der i n i h m genannten Sache identisch, aber so, 5

Dazu A n m . 3, erstes Kapitel. A u f den eigentümlich schwebenden Charakter der Sprache weist W. Heisenberg, Der T e i l u n d das Ganze, München 1969, Niels Bohr zitierend, h i n „ W i r wissen nie genau, was ein Wort bedeutet, u n d der Sinn dessen, was w i r sagen, hängt von der Verbindung der Wörter i m Satz ab, von dem Zusammenhang, i n dem der Satz ausgesprochen w i r d . " S. 187. 6

1 1 0 3 . K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

daß er in einem andern Modus, nämlich ideal, als Gleich-nis, das ist, was die Sache i n Wirklichkeit, real ist. Der Begriff ist dasselbe wie die Sache, aber auf andere Weise, und also ist er nicht die Sache selbst, sondern nur ihr Begriff 7 . Da zwischen dem Begriff und seiner Sache zwei Seinsweisen dieser Sache spielen, bleibt er, obwohl er i n die Identität vorstößt, dennoch auch unterschieden von der Sache, nichtidentisch, und also schon zuinnerst analog 8 . I n dieser Analogie des Begriffes zu seiner Sache w i r d aber wiederum nur offenbar, daß Begriffe überhaupt transzendierend, d. h. auf ihre Sache übersteigend strukturiert sind. Das w i r d bei der Definition nicht wahrgenommen, weil dort an die Stelle der Bezogenheit des Begriffes auf die Sache der Ersatz aus lauter „Begriffsmerkmalen" getreten ist. Beachtet man dies aber, so zeigt der Begriff überhaupt, schon bevor es sich u m einen Grundbegriff handelt, wieviel mehr dann erst bei ihm, daß er, wiewohl er etwas Bestimmtes sagt, dennoch nicht i n sich abgeschlossen, sondern offen auf die Sache ist; wodurch auch i n diesem gewissermaßen horizontalen Betracht zwischen Begriff und Sache, erkennbar wird, daß der Grundbegriff ganz auf sich allein gestellt bleibt. c) Die genuine Unschließbarkeit (oder: das Recht zwischen Philosophie und Jurisprudenz) W i r d die Unschließbarkeit, die den Begriff des Naturrechts durchwaltet, als genuin erkannt, als aus der Bezugnahme auf Natur erfließend, so besteht keine Möglichkeit mehr, auf eine ,Schließung' des Begriffs zuviel vergebliche Mühe zu verwenden, aber dafür w i r d es möglich, den Begriff i n seiner Transzendentalität zu fassen, also das Naturrecht transzendental zu begreifen. Dies wiederum dürfte nur i n einer Ontologie gelingen, die zugleich auch logisch, also eine Logik des Seienden und des Seins ist, und die als solche eo ipso transzendental werden wird, wenn sie durchdringt. Das Naturrecht stellt daher, so verstanden, eine Anforderung an die Jurisprudenz, sich auf das Recht als Recht zu besinnen, wobei das Naturrecht nur einmal die Frage freizulegen hätte, indem es das Recht einem prinzipiellen Gemächte der Menschen entzieht; es verlangt von 7 Vgl. Piaton, Kratylos, 432 d 5 f. — Bei Hegel ist die Idee, das SubjektObjekt, die Einheit des Begriffs u n d der Objektivität, Enzyklopädie (1830)

§ 162.

8 Die beste Übersetzung von „analog" dürfte „entsprechend" sein. Die Bestimmtheit des Begriffs k a n n daher immer n u r innerhalb der Entsprechung, als deren bestimmte Festlegung, möglich werden. Insofern ist das bestimmte Sprechen wesenhaft intersubjektiv. Vgl. dazu K . L ö w i t h , Das I n d i v i d u u m in der Rolle des Mitmenschen, München 1928, S. 117-119 (mit einem bezeichnenden Rückgriff L.'s auf W. von Humboldt).

I. Naturrecht als ebenfalls transzendentaler Begriff

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ihr, ihre Verortung i n der Philosophie zu bemerken. Es verpflichtet aber auch die Philosophie, einer solcherart auf ihre Grundlagen zurückfragenden Einzelwissenschaft Hilfestellung zu leisten. I n der Transzendentalität des Naturrechts die genuine Unschließbarkeit eben dieses Begriffes aufdecken, heißt dann aber, dem Recht nach der Seite der Jurisprudenz und nach der Seite der Philosophie hin seine gegenseitige Sicherung einzuräumen, was darauf hinausläuft, den Zusammenhang beider zu wahren und zu beachten. Das Recht als Vorhandenes muß primär i n dieser seiner Wirklichkeit, daher i n concreto den Ansatz bilden. Es w i r d von der Rechtswissenschaft erforscht, untersucht, dargestellt, geordnet, und i n diesem Fortgang langsam seinem abstrakten Begriff (der hier ein Wesen wird) nähergebracht, während das Konkretum immer weiter zurückweicht. Sobald eine solche abstrahierende Wesenserfassung, w o r i n das Begreifen zunächst befangen bleibt, aber die Wendung auf die Bedingung der Möglichkeit ihres Begriffes vollzieht, nachdem sie also die axiomatische Fundierung ihrer selbst aufs Recht sive Naturrecht begriffen hat, w i r d sie zur Philosophie, die, transzendental entschränkt, also auch noch der Grenzen des abstrakten Begriffes ledig, voranschreitet, aber gerade deswegen wieder not-wendig (nämlich u m die Not dieser Fassungslosigkeit zu wenden) auf neue Gewinnung der Konkretion hindrängen muß. Sie muß darum die W i r k lichkeit des Rechts unnachsichtiger sowohl i m Blick halten wie anstreben. A u f diese Weise kann das Naturrecht immer nur vorläufig definiert, i n sich selbst zuletzt jedoch nur transzendental, und das heißt als ein Unschließbares gefaßt werden. Das bedeutet, daß der Rechtswissenschaft, vor allem auch der Rechtsgeschichte, ihre Domäne der Beschreibung und Durchdringung einzelner Rechtskreise mitsamt ihren vielfältigen Institutionen belassen werden muß und daß diese Aufgabe nie von einer Rechtsphilosophie übernommen werden kann. Sie ist dazu unfähig, nicht nur, weil ihr der Rechtsstoff, sondern weil ihr vielmehr überhaupt die Formen des Rechts fehlen würden. Andererseits bedeutet das aber, daß eine zureichende, und das heißt eine transzendental durchstoßende Rechtsbegründung lediglich philosophisch möglich ist und von der Rechtswissenschaft nicht geleistet werden kann, die überall, wo sie es dennoch versucht, letzten Endes mit einer Apotheose der eigenen ephemeren Formen als dem (absoluten) Naturrecht aufwartet und damit zur Ideologie degeneriert. Das Naturrecht steht daher sperrig gegen seinen Zuschlag nur zur Philosophie oder nur zur Rechtswissenschaft. Wie es aussieht, wenn und wo es vorliegt, das kann nur die Rechtswissenschaft sagen (eine Deduktion der konkreten Wirklichkeit gibt es nicht; derlei Deduktionen bleiben immer abstrakt). Was es aber ist — die A n t w o r t darauf bleibt ein Reservat der Philosophie, die gerade beim Versuch der ' A n t w o r t keine schöne, präzise Definition

1 1 2 3 . K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

liefern kann, sondern nur zum Aufweis i n der Lage ist, daß die Definition negiert werden muß. 2. Die Mehrdeutigkeit des Naturrechtsbegriffs als Signum seiner Unschließbarkeit

Dafür, daß der Naturrechtsbegriff i n der Tat nicht schließbar ist und daher nur transzendental oder gar nicht zu fassen ist, spricht eine Eigenschaft dieses Begriffs, die immer schon gesehen und beachtet wird: seine Mehrdeutigkeit. Diese Mehrdeutigkeit darf nicht nur konstatiert werden; sie ist zurückzuverfolgen. Geschieht das, so zeigt sich, daß sie ein Signal für die Unschließbarkeit gibt und auf die Transzendentalität verweist. Die Feststellung, daß der Begriff des Naturrechts mehrdeutig sei 9 , resümiert die Beobachtungen, daß es vielerlei zueinander verschiedene Begriffsbestimmungen des Naturrechts gibt, die allesamt mit dem A n spruch auftreten, das Naturrecht zutreffend zu definieren. Die Verschiedenheit der einzelnen Definitionen spielt aber auf einer Bandbreite gegenseitiger Überschneidungen, die von einer Randberührung bis zu weitgehender Übereinstimmung reicht; und noch zwei inhaltlich vollständig differente Begriffsbestimmungen sind wenigstens dadurch miteinander verknüpft, daß sie gemeinsam eine Bestimmung des Naturrechts intendieren. a) Naturrecht

zwischen äquivoker und univoker

Bedeutung

Daß ,Naturrecht' ein äquivoker Begriff sei, der zwei vollständig verschiedene Sachen benennt, und daher zwei oder mehr Bedeutungen hätte, die nichts miteiander zu tun haben, scheidet aus. Äquivok heißt: ein Wort bedeutet zwei ganz verschiedene Sachen zugleich (der ,Strauß' Blumen und der Vogel). Ein solcher äquivoker Begriff ist ,Naturrecht' nicht. Obgleich es Ausdeutungen des Naturrechts gibt, die 9 I n diesem Fazit endet die synoptische Begriffsvergleichung, m i t der E r i k Wolf „das Problem der Naturrechtslehre", Karlsruhe 31964, durchgemustert hat. S. 193 f. Den G r u n d für die Mehrdeutigkeit sieht E. W o l f i n einer Dialekt i k , deren Paradoxie sich derjenige fügen müsse, der den Gedanken des Naturrechts denkt. Das ist sehr viel. Aber vielleicht ist es doch möglich, D i a l e k t i k analogisch zu überbieten u n d sie so als ein Entzweites erst nach der Einheit anzuerkennen. Einheit ist allerdings n u r analogisch erreichbar. — R. Dreier, Z u m Begriff der N a t u r der Sache, B e r l i n 1965, macht m i t einer historisch-systematischen Begriffsanalyse den Versuch, dieser „Vieldeutigkeit, die der Wortverbindung N a t u r der Sache eignet" (S. 127), „das Lebensrecht i m wissenschaftlichen Sprachgebrauch abzusprechen" (S. 128). Ob er die Frage nach dem richtigen Recht damit fahren lassen w i l l , w i r d nicht klar. Die Rechtsphilosophie hängt aber daran — u n d das hat praktische Relevanz —, daß diese Frage durchgehalten w i r d .

I. Naturrecht als ebenfalls transzendentaler Begriff

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sich wie Feuer und Wasser zueinander verhalten, kann man die Mehrdeutigkeit des Naturrechtsbegriffs nicht eine Äquivokation nennen; dazu sind, auch zwischen zwei extrem gegensätzlichen Bedeutungen, zuviele vermittelnde Positionen vorhanden, die allemal klarmachen, daß der Begriff nur changiert. Es gibt Mittelglieder, über welche die Bedeutungen zueinander vermittelt sind; daß die Vermittlung zwischen zwei gegensätzlichen Bedeutungen nicht mehr offenkundig ist, ändert nichts daran. Die Mehrdeutigkeit des Naturrechtsbegriffs hat ihre eigentliche Stoßrichtung daher vor allem i n dem, was sie negativ besagt: daß der Naturrechtsbegriff nicht eindeutig ist. Der Begriff des Naturrechts bedeutet nicht einzig und allein dies und nichts anderes, er ist nicht univok, so wie etwa der chemisch-pharmazeutische Name eines Medikaments dieses Medikament ganz eindeutig bezeichnet. Wenn die Mehrdeutigkeit aber primär gegen die Eindeutigkeit Front macht 10 , so steht sie auch gegen ,Definiton', mit der ja immer der präzise und eindeutige Sinn eines Begriffes gejagt wird. Die Eindeutigkeit des Begriffes abweisen, gleichzeitig jedoch die A r t seiner Mehrdeutigkeit nicht als Äquivokation auffassen, heißt aber schließlich, diesen Begriff als einen analogen zu verstehen, weil nur die Analogie die gleitende Mitte zwischen univoker und äquivoker Bedeutung eines Begriffes hält. Als analoger Begriff ist das Naturrecht nie eindeutig festzustellen, zu fixieren, weil i m Rahmen der Mehrdeutigkeit immer die anderen Bedeutungen, neben der vorläufig einen, die man gibt, mitschwingen; es zerstiebt gleichermaßen nicht i n total verschiedene Bedeutungen, weil doch, wenngleich auch nicht faßbar, i n allen Bedeutungen eine gewisse Gemeinsamkeit erhalten bleibt. bj Der zureichende Grund der Mehrdeutigkeit Die i n der so beschaffenen Mehrdeutigkeit sichtbar werdende Situation könnte man nun einfach hinnehmen; als Zustand ist sie auch hin10 V o n einer ganz anderen u n d gegen ontologische Fundierung allergischen Position aus k o m m t D. Horn, Rechtssprache u n d Kommunikation, B e r l i n 1966, zur Konsequenz, die Eindeutigkeit der Sprache fahren zu lassen (S. 158). I m Modell einer imperativen Kommunikationssituation w i r d das Sprechen erklärt. Die Namengebung w i r d nicht mehr als Zuordnung von Sprachlauten zu einer Sache verstanden (Worte verlieren ihre Bedeutung), sondern als Produkt sozial zweckhafter Tätigkeit. Das Verhalten des Empfängers soll für die Z u k u n f t genauer bestimmt u n d dann auch w o h l vorausgesehen werden können. Vgl. S. 94, S. 159, 160. — Die deskriptive Sprachfunktion gegenüber der imperativen könnte dabei aber immer noch die Domäne der Ontologie bleiben. Vgl. C. T h i e l i n Phil. Rundschau, 16. Jhrg., Tübingen 1969, S. 119 -130, der allerdings das kommunikationstheoretische Modell zweipolig, deskriptiv u n d imperativ auszubauen vorschlägt, u m dem „herrschenden Ontologismus" wirksamer entgegentreten zu können. (Wer herrscht wo eigentlich?) Schließlich: Was macht die Kommunikationstheorie m i t Dichtung u n d Literatur? Ist die Sprache bei einem hermetischen Schriftsteller das „ P r o d u k t sozial zweckhafter Tätigkeit"? Vgl. dazu auch oben A n m . 30, zweites Kapitel.

8 Zacher

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zunehmen. Man kann aber dennoch fragen, warum der Naturrechtsbegriff so geartet ist. Und auf diese Frage gibt es eine, einzige, A n t w o r t : Weil das Naturrecht transzendental ist und alle seine eigenen, i n der Geschichte aufweisbaren vorläufigen Gestalten wie die Begriffe davon ständig überschreitet 11 . Erst i m Hinblick auf die ontologische Transzendentalität des Naturrechts w i r d das Phänomen seiner Mehrdeutigkeit überhaupt verständlich; es kann schlechterdings keinen einzigen und definitiven Begriff des Naturrechts geben, weil das Unendliche, auf das die Transzendenz auslangt, nie end-gültig endlich gemacht und infolgedesssen auch die Transzendenz nicht abgeschlossen werden kann. Die Mehrdeutigkeit des Naturrechtsbegriffes, die Vielfalt seiner Fassungen ist der genaue, logische Ausdruck dieser Grundlosigkeit, i n welche das Naturrecht zurückreicht und auf der die einzelnen Realisierungen des Naturrechts, wie deren Begriffe, sozusagen wie Eis auf dem Wasser schwimmen. Die Transzendenz ist charakterisiert durch ihre Unendlichkeitsbezogenheit; das Naturrecht kann sie nicht abstreifen und muß daher i n allen Figurationen, i n denen es konkret w i r d und begrenzt, diese Offenheit i m Grunde behalten. Weil es derart, i m Grunde nicht schließbar ist, kann es auch neben- und nacheinander, also sowohl räumlich wie zeitlich, gleichzeitig und geschichtlich verschiedene Zustände und Begriffe des Naturrechts geben. Die Mehrdeutigkeit ist kein Anzeichen von Beliebigkeit des Naturrechts, einer vagen Irrationalität 1 2 oder einer Variabilität ohne Sinn, obwohl sie leicht auf diese A r t verstanden, mißverstanden werden kann. Eine solche Interpretation liefert nur die Kehrseite jenes Mißverständnisses, das sich an einen eindeutig definierten Begriff klammern möchte: bleibt er aus, w i r d aus der mangelnden Eindeutigkeit sofort auf eine — sit venia verbo — absolute Relativität geschlossen; das Problem hat sich erledigt, es w i r d zum Scheinproblem ernannt; dabei involviert allein die Prämisse von der Eindeutigkeit, mit der an die Mehrdeutigkeit herangegangen wird, nicht aber diese selbst eine solche Konsequenz. Denn nur dann, wenn die verschiedenen Bedeutun11 E r i k Wolf, der, a.a.O., S. 294 die A n t w o r t : „ D i a l e k t i k " gibt, muß sich daher immer wieder fragen lassen, wie D i a l e k t i k bei i h m begründet w i r d ; wenn sie einfach als theologisch-biblische Kategorie akzeptiert würde, wäre die Vernunft übersprungen. Eine Frage, wo die Grenzen der D i a l e k t i k liegen, wie sie W. Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie, K ö l n - G r a z 1968, S. 440, an E r i k Wolf stellt, ist zwar dem dialektischen Denken nicht innerlich zugeordnet, aber sachlich hat sie selbstredend i h r Recht, w e i l Ja u n d Nein i m Ursprung nicht gleichwertig sein können, wenn anders ein fundamentales Ja nicht paralysiert w e r den soll. 12 Z u m Sprachrohr einer irrationalen, gefühlsmäßigen Sittlichkeit, aus dem die Stimme des Gewissens spricht, macht das Naturrecht A. Leinweber, Gibt es ein Naturrecht?, H a m b u r g 1965, S. 178.

I I . Kritische Synopse der Naturrechtstheorien

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gen des Naturrechtsbegriffs an einer Vorstellung von dem einzigen, unwandelbaren, zeitlos gültigen Naturrecht gemessen werden, kann sich der Eindruck aufdrängen, die einzelnen Fassungen seien vollständig unverbindlich, eine so gut und so schlecht wie die andere und daher durchaus beliebig. Auch die unbestreitbare Variabilität des Naturrechtsbegriffs läßt sich lediglich vor diesem Hintergrund als ein Mangel wahrnehmen und als Index der Sinnlosigkeit auffassen. Sobald jedoch die Eindeutigkeit als eine utopische Täuschung durchschaut und, zusammen mit seiner Transzendentalität, der analogische Charakter des Begriffs erkannt und festgehalten wird, gewinnt die Variabilität ihren Sinn (nämlich i n der verschiedenen, je eigenen Verwirklichung des Naturrechts), der Begriff aber seine Unbeliebigkeit i m Durchhalten dieser Ausgerichtetheit der Transzendenz, ohne weiteres zurück. Die Mehrdeutigkeit führt daher nicht i n eine Aporie, wenn darunter eine Ausweglosigkeit verstanden werden soll, sie führt aber an die Grenze und darüber hinaus dann i n die Weglosigkeit i m Unendlichen und insofern doch i n eine Aporie; schon gar nicht deckt sie eine A b surdität der Problemstellung auf; sie weist auf die Transzendentalität des Naturrechtsbegriffs zurück, deren Ausdruck sie ist. II. Kritische Synopse der Naturrechtstheorien aus ihrem Naturbegriff (im Ansatz) Die einzelnen, verschiedenen Fassungen des Naturrechtsbegriffs sind dann und deswegen unzulänglich bis falsch, wenn (und weil) sie die Transzendentalität des Begriffes nicht erreichen, dabei aber für sich Endgültigkeit oder Eindeutigkeit, sei's auch nur implizit, beanspruchen, obwohl sie die eigene Vorläufigkeit gegenüber dem transzendentalen Begriff nicht bemerken. Die Verkürzung des Naturbegriffs um seine Transzendenz auf diese oder jene Vorstellung von Natur macht die Ursache aller Fehler und Ärgernisse aus, mit denen das Naturrechtsproblem belastet ist. Daß der Begriff dabei auch schmächtig w i r d und seine Fülle verliert, sein Überbordendes einbüßt, kommt als Symptom dazu. Überall, wo der Naturbegriff nicht mehr beim Seienden selber ansetzt, erfährt er eine Bestimmung, mit der er sofort i n die eine oder andere Besonderheit hineingerät. Diese Begrenzung kann er nicht mehr abstreifen. Er w i r d auf etwas festgelegt, was nur einen Zug an i h m ausmacht, er w i r d als dies oder jenes definiert, obwohl dabei fast notwendig ein Ausschnitt herauskommen muß. Aber auch die Addierung aller möglichen Einzelbedeutungen ergäbe nicht den entscheidenden Begriff von Natur, weil darin, trotz des Vorgeschmacks von Unfaßbarkeit, die Unendlichkeit nicht genuin einbegriffen ist. Die Mehrdeutigem

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keit von Natur bzw. Naturrecht muß prinzipiell, also auf Analogie durchscheinend, verstanden werden: keine Vollendbarkeit des Begriffes, wenn man nur erst alle Einzelbedeutungen erfaßt haben wird, steht noch aus, sondern der Einsicht ist standzuhalten, daß auch keine noch so penible Synthese den endgültigen Begriff ergeben könnte. Die einzelnen Fassungen, historisch wie systematisch, sind und bleiben vorläufig, fragmentarisch. Eben darin, indem sie nicht vollständig und ewig sein wollen, weil sie es nicht können, blitzt die unendliche Ganzheit auf. M i t einer Synopse der verschiedenen Naturrechtstheorien wäre zu zeigen, daß dem Naturbegriff, und i h m folgend, der zugeordneten A u f fassung von Naturrecht, jeweils die Transzendentalität abgeschnitten wird, wo eine Festlegung i n diesem oder jenem Sinn (als endgültig) geschieht. Die Synopse muß zu diesem Zweck allerdings über eine immanente K r i t i k wechselseitiger Relativierung hinaus bis zur Bedingung durchlangen, von der die Verschiedenheiten ermöglicht werden. Ein paar Striche dazu i m folgenden: 1. Natur als Urzustand

Von zwei so einfachen wie überwältigenden, einander nur inhaltlich, nicht formell entgegengesetzten Vorstellungsweiten, ja Mythologemen w i r d das Naturrechtsproblem gelöst, wenn unter Natur der Urzustand des Menschen verstanden wird. Natur läßt sich, emphatisch, gegen Zivilisation und K u l t u r setzen und w i r d dadurch zum Paradies, i n dem der Mensch, vor aller verderbten Geschichte, einmal gespielt hat. Dieser Urzustand kann aber auch, i n der entgegengesetzten Weise, als ordnungsloses Chaos gedeutet werden; der status civilis ist dann die einzige Form, i n der diese chaotische Natur überwunden ist. Daß die Natur eine innere Affinität zu einer Deutung als Urzustand hergibt, entspricht ihrer begrifflichen Intention auf ein letztes. Daß sie aber dabei eindeutig positiv oder negativ aufzuladen wäre, läßt sich ihrem Begriff nicht entnehmen. Man kann daher sowohl bei Rousseau wie bei Hobbes beobachten, daß sie ihren Naturbegriff als Kontraposition, aus dem Widerspruch zur eigenen geschichtlichen Gegenwart und deren Einschätzung, gewinnen. Rousseau 13 sieht i n der staatlichen Ordnung und i n der pädagogischen Unterweisung seiner Zeit die ganze über den Menschen verhängte 13 Es ist verwegen, n u r ein paar Sätze zu Rousseau zu schreiben, da er zu den umstrittensten Autoren der politischen Theorie gehört. Infolgedessen ist er ein Vorzugsobjekt der Sekundärliteratur; vgl. J. Fetscher, Rousseaus p o l i tische Philosophie, Neuwied, B e r l i n 21968, m i t Bibliographie. Daß Rousseau ein Konservativer war, der gegen seinen W i l l e n auf die Revolutionäre ge-

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Degeneration kumuliert. Sitte und Gesetz sind ein Zwang von außen und deswegen schlecht, sie verderben durch ihre Einschränkungen, Hemmnisse, Gewaltsamkeiten die Natur. Außerhalb und vor der Zeit dieser Deformierungen, die der Mensch sich angetan hat, war alles gut: alle Menschen waren frei, einander gleich und brüderlich zueinander. Deshalb: Zurück zur Natur! (Welcher Imperativ aber nie von Rousseau selbst niedergeschrieben wurde.) Der Staat kann überhaupt nur auf diesem Zustand aufbauen, wenn er den Menschen nicht mißverstehen und mißhandeln soll; die volonté générale, als der allgemeine, gemeinsame (homogene) Wille des Volkes, worin die Freiheit und Gleichheit aller gewahrt ist, nicht irgend eine Mehrheit (volonté des tous), trägt den contrat social. Der Naturbegriff Rousseaus, obwohl er nicht so sehr dem Verstand als dem Herzen entsprungen, infolgedessen eher heißes Gefühl und nicht klarer Begriff ist, führt zu einem Recht, das diesen als paradiesisch verstandenen status naturalis mit seiner Unschuldsordnung als sein naturrechtliches wiedergewinnen und sichern will. Einen ganz anderen Urzustand konstatiert Hobbes 14 (der, anders als der spätere Rousseau, den Bürgerkrieg am eigenen Leib verspürt hat). Für ihn ist der Mensch außerhalb und vor dem status civilis gefährlich frei, die ,Natur hat allen alles gegeben' i n dem Sinne, daß jeder den Eigennutz als Maßstab des Rechtes betrachtet. Jeder ist der W i l l k ü r des anderen ausgesetzt, so daß ein solches ,Naturrecht' die gleichen W i r k u n gen zeitigt, wie wenn kein Recht bestünde, weil jeder i m Krieg m i t jedem liegt. Aus Furcht voreinander müssen sich die Menschen zusammenschließen: der Staatsvertrag ist der konstitutive A k t , u m überleben zu können, i n dem die Menschen, einander gegenseitig die Beschränkung ihrer Freiheit versprechend, den Staat zur Entstehung bringen, der von nun an die Quelle und der Garant von Recht und Ordnung ist. Die Natur war ein Zustand der Barbarei, der Mensch i m Naturzustand ein Raubtier; erst der Staat schafft Frieden, einen Frieden, der Abwesenheit und Unterbindung von Krieg ist, und erst als Bürger, i m status civilis, vermag der Mensch sicher zu leben. U m die Antagonisten R. und H. kritisch zu neutralisieren, ist auf die Form ihres Naturbegriffs zu achten. Beide bilden, m i t den entgegengew i r k t hat, scheint ausgemacht, auch wenn m a n nicht u r t e i l t w i e J. Freund, Der Grundgedanke der politischen Philosophie des J. J. Rousseau, i n : Der Staat, B e r l i n 7. Bd. 1968, S. 1 - 1 6 , wo Rousseau zum Anhänger des Despotismus w i r d . 14 Eine kurze Bemerkung zu Hobbes ist auch nicht gerade umsichtig. L. Strauss, Hobbes' politische Philosophie, Neuwied-Berlin 1965, u n d C. Schmitt, Der Leviathan i n der Staatslehre des Thomas Hobbes, sind grundlegend; auch B. Willms, Die A n t w o r t des Leviathan, Thomas Hobbes' politische Theorie, Neuwied-Berlin 1970.

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setzen Vorzeichen, einen rein dialektisch funktionalisierten Naturbegriff aus. Natur w i r d nicht, am Seienden, wie es vorliegt, voranfragend erkannt, sondern sofort als das unverbundene Gegenteil dessen verstanden, was da, für R. als schlechtes Menschenwerk der Gesellschaft zu sehen, oder, für H. als einzig sichere Ordnung zu wünschen ist. Aus diesem Grunde gerät die Natur bei beiden einerseits vor den Anfang aller Geschichte, eben: als Ur-stand; andererseits aber, weil sie als U r ständ ohne alle Unbestimmtheit gelassen und definitiv festgestellt wird, als zeitlos gültiges Schema mitten i n die Geschichte hinein, weil dann auch von den gegenwärtigen Menschen gelten muß, daß sie, wäre nur kein Staat, fundamental gut bzw. durch und durch böse wären. Man kann das unter anderem daran sehen, daß für R. und H. nicht zu klären ist, ob sie ihre Theorien vorgeschichtlich oder idealtypisch auffaßten und aufgefaßt wissen wollten. Der Auszug aus der Geschichte, zurück i n den Mythos oder ins Reich der fiktiven Vorstellung, schlägt dann allemal dazu um, mit diesem zeitlosen Begriff die Wirklichkeit zu stempeln. Wenn der Naturbegriff aus der kontinuierlichen Endlichkeit hinausgetrieben wird, gleichviel ob historisch oder phantastisch, dann kann er immer nur, paradoxerweise, begrenzter werden, als wenn er sich auf der Grenze gehalten hätte. R. sowohl wie H. haben und geben beide ein fixfertiges, dekretorisch bestimmtes B i l d vom Menschen, eine bestimmte Vorstellung vom status naturalis; gerade deswegen verfehlen sie den entscheidenden Bildsinn zur Unendlichkeit, den der Naturbegriff in seiner unabschließbaren Transzendentalität verwahrt. R. u. H. versteigen sich zu einer absoluten Bestimmung dessen, was und wie Natur sei: daher fallen sie i n eine unkritische Feststellung zurück, bei der dem Begriff der Natur seine letztlich unbestimmte Offenheit versperrt und abgeriegelt ist. 2. Natur als Natur der Sache

I n gewisser Weise, sofern dieser Begriff nicht nur als Einfallstor für die Naturrechtsproblematik genommen w i r d 1 5 , w i r d auch unter der ,Natur der Sache' eine Einschränkung des Naturbegriffes und daraus folgend des Naturrechts vollzogen. Wenn der Naturbegriff in der partiellen Prägung „Natur der Sache" seinen ganzen Bestand haben soll, w i r d er objektiviert, aus seiner umfassenden Bedeutung, i n der er Subjekt und Objekt zu treffen vermag, herausgelöst und auf der Gegenstands15 Das ist gar nicht selten, so daß der Mensch auch i n den Begriff N a t u r der Sache, allerdings gegen einen überzeugenden Sachbegriff, einbezogen w i r d , vgl. ζ. Β . H. Schambeck, Der Begriff der N a t u r der Sache, Wien 1964, S. 38 ff., wo m i t einem Begriff von Natur der Sache i m weiteren Sinne die N a t u r t a t sächlicher Gegebenheiten einschließlich des Menschen gedeckt w i r d .

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seite a l l e i n s i t u i e r t . D i e N a t u r d e r Sache w i r d l e i c h t z u m W e s e n 1 6 oder z u sachlogischen S t r u k t u r e n 1 7 a b s t r a h i e r t , w o m i t d i e v o n d e r O n t o l o g i e i m gesamten Seienden e r m ö g l i c h t e V e r m i t t l u n g außer B e t r a c h t b l e i b t ; d i e N a t u r erscheint als sachlich u n d g e o r d n e t 1 8 , die W e s e n s b e s t i m m u n g rückt i n den Vordergrund, w ä h r e n d die Ontologie u n w i c h t i g w i r d ; a l l e n f a l l s i n t e n d i e r t d i e S t r u k t u r a n a l y s e eine A r t r e g i o n a l e O n t o l o g i e ; d a b e i ist die O n t o l o g i e aber n i c h t m e h r r e f l e x i v aufs Sein, s o n d e r n k l a s s i f i k a t o r i s c h a n d e r S o n d e r u n g v o n G r u p p e n v o n Seienden nach i h r e n verschiedenen Seinsbereichen i n t e r e s s i e r t 1 9 . E i n e v o n solch e i n e r N a t u r d e r Sache bezogene Rechtstheorie m u ß sich deshalb auch v o r h a l t e n lassen, daß m i t dieser N a t u r d e r Sache noch n i c h t d i e P r i n z i p i e n erfaßt sind, u n t e r denen d e r a r t i g e S t r u k t u r e n r e c h t l i c h r e l e v a n t w e r den, eben w e i l d e r B e g r i f f der N a t u r n i c h t m e h r das rechtssetzende Subjekt20 miteinbegreift. 18 Dem entgegengesetzt sieht Radbruch, Die Natur der Sache, das N a t u r recht ahistorisch u n d die Natur der Sache variabel, S. 158. So ähnlich beurteilt auch A. Baratta die Trennung von N a t u r der Sache u n d Naturrecht (Naturrecht ist für meine hier vorgetragene Auffassung primär von der Eingründung des Naturrechts i n die Natur des Menschen bestimmt). Baratta rechnet das Natur-der-Sache-Denken einer historischen Denkweise zu, vgl. Natur der Sache u n d Naturrecht; i n : Die ontologische Begründung des Naturrechts (Hrsg. A. Kaufmann), Darmstadt 1965, S. 104 - 163, S. 113. Dabei müßte doch gerade Baratta, sofern u n d soweit er postulatorisch an seiner neuidealistischen Rechtsphilosophie (vgl. S. 161/2), i n der die „ W e l t insofern normativen Wert i n ihren S t r u k t u r e n trägt, als sie der Ausdruck der Freiheit u n d der Prozeß der Vernunft des Menschen ist" (oder wenigstens sein soll), dies sehen: Wenn die S t r u k t u r der Sache v o m Menschen isoliert w i r d , w i r d sie zum B o l l w e r k der Unveränderlichkeit, jedenfalls dann, wenn sie nicht als leerer Argumentationstyp f ü r die Faktizität mißbraucht w i r d . 17 H. Welzel hat den Begriff geprägt u n d damit Schule gemacht. Naturrecht u n d materiale Gerechtigkeit, Göttingen 41962, S. 243 ff. Die S t r u k t u r gefährdet dabei mindestens das, was i m W o r t Sachlogik auf das Ontische festlegen soll. 18 O. Ballweg, Z u einer Lehre von der N a t u r der Sache, Basel 21963, k o m m t zu der Aussage, Sein sei bereits Ordnung, S. 42, u n d die Ordnung sei objekt i v feststellbar, so daß „die sachlogische N a t u r der Dinge der wissenschaftliche Betrachtungsgegenstand schlechthin ist" S. 65. M i t dieser A r t O b j e k t i v i tät macht Ballweg das konkrete Denken, das er i n befremdlicher Weise an Hegel vorbei u n d wertfrei zu bestimmen sucht (S. 15), m i t Sicherheit wieder zunichte, obwohl er die N a t u r der Sache als die iuristische Ausprägung des konkreten Denkens bezeichnet (S. 14). Denn was heißt wissenschaftliche Obj e k t i v i t ä t anderes als von der Anschaulichkeit des Konkreten erst einmal zu abstrahieren? Vgl. oben Heisenberg, Anm. 12, erstes Kapitel. 19 Die entia physica Pufendorfs, De Jure Naturae et Gentium, I, 1 1 - 2 (vgl. dazu E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, Tübingen 41963, S. 340 - 341) w i e sie i n den »Naturtatsachen' des Sachbegriffs, z.B. bei Radbruch, a.a.O., S. 160f., durchscheinen, darüber dann ,Vorformen der Rechtsverhältnisse', schließlich »rechtlich geregelte Rechtsverhältnisse' sind eine solche klassifikatorische Aufgliederung. 20 Der Mensch ist i n seiner Subjektivität als Gegenüber zur Sache u n d nicht n u r so, daß er unter die Gegebenheiten gezählt w i r d , bei G. Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der ,Natur der Sache', Tübingen 1957, nicht ausgeschaltet. Stratenwerth faßt die Welzel'schen sachlogischen Strukturen so,

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3. K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

Z u s a m m e n m i t d e r O b j e k t i v i e r u n g s t e l l t sich e i n D i m e n s i o n s v e r l u s t d e r Sache ein, d i e n u n w e d e r m e h r i n i h r e r D i e n l i c h k e i t f u n k t i o n a l , sei es z u a n d e r e m S e i e n d e n oder z u m Menschen, noch als e i n ( d e m B e t r a c h t e r ) Entgegenstehendes b e s t i m m t w e r d e n w i l l , s o n d e r n e i n ,ansich' erheischt, i n d e m sie f l ä c h i g w i r d . D i e Gegebenheit, z u d e r N a t u r q u a seiend d a b e i eingeebnet w i r d , b e f ö r d e r t eine V o r s t e l l u n g a b s t r a k t r a t i o n a l e r E r k e n n t n i s , also d e n Ausschluß v o n V e r ä n d e r u n g u n d d i e zeitlose F e s t s t e l l u n g i r g e n d w e l c h e r W e s e n h e i t e n 2 1 . D i e , N a t u r d e r Sache' g i b t d a n n m i t i h r e n W e s e n s s t r u k t u r e n eine Sachgerechtigkeit v o r , d i e g i l t , ohne daß auch n u r e i n G r a n menschlicher F r e i h e i t k o n s t i t u t i v w ä r e f ü r eine d e r a r t i g e O r d n u n g , d i e d a einfach aus d e n Sachen a b z u lesen ist. D i e N a t u r d e r Sache e n t h ä l t eo ipso das N a t u r g e s e t z , w e n n sie n u r g e n a u beobachtet u n d als Wesen e r f a ß t w i r d , h e i ß t es d a n n . D i e V e r k ü r z u n g des N a t u r b e g r i f f s ist b e i n a h e e v i d e n t ; u n d so sehr d e r o b j e k t i v e P o l gegen eine f r e i v o l u n t a r i s t i s c h e Rechtssetzung geh a l t e n w e r d e n m u ß , so zeigt doch d i e B e l i e b i g k e i t r a t i o n a l i s t i s c h geb a u t e r N a t u r r e c h t e i m 18. J h d t . 2 2 , daß d e r B e g r i f f der N a t u r , w e n n a n i h m das E r k e n n e n z u e i n e r A b s t r a k t i o n s m a n i e v e r d o r r t , d i e i n t e n d i e r t e A b s i c h t n a c h h a l t i g e r b e h i n d e r t als j e d e r E i n w a n d . N o c h jedes N a t u r r e c h t , das, v o n d e r N a t u r d e r Sache seinen A u s g a n g n e h m e n d ,

daß sie sich überhaupt n u r unter einem Wertgesichtspunkt herausheben, S. 16, u n d „ n u r aufgedeckt werden, w e n n die besondere Stellung des M e n schen zur Welt i n den Blick kommt, w e n n der Mensch, m i t einem Wort, als Person gesehen w i r d " (S. 17). Stratenwerth k o m m t daher an die Einheit von Subjekt u n d Objekt wieder heran („die einheitsstif tende K r a f t des leitenden Wertgesichtspunkts", S. 20) u n d bringt es gegen eine an „ r e i n ontischen Daten" (S. 27) haftende N a t u r der Sache-Auffassung wieder zu einer „ i m präzisen Sinn, ,relativen'", subjektintegrierenden Position (von der W. Maihof er, Rechtsstaat u n d menschliche Würde, F r a n k f u r t 1968, S. 132, A n m . 195, treffend sagt, sie sei »relational'!). Auch W. Maihof er denkt die N a t u r der Sache so, daß Subjekt u n d Objekt, Mensch u n d Welt, nicht auseinanderfallen. I n dem Aufsatz ,Die N a t u r der Sache' (Die ontologische Begründung des Rechts, S. 52 - 86) werden nach den Weisen des In-der-Welt-Seins (Selbstsein u n d Aissein) der menschlichen Subjektivität jene Kultursach verhalte analysiert, die als soziale Positionen u n d Situationen (S. 71) den Menschen aus der Subjektivität i n die O b j e k t i v i tät verweisen u n d damit i n den berechtigten Erwartungen u n d Interessen die rechtlichen Güter u n d Normen erst zu Stande bringen. — Durchsichtiger u n d zugleich umfassender, da die Bestimmung des Mensch-seins zum Selbstsein u n d Als-sein hinzutritt, w i r d i n Naturrecht als Existenzrecht, F r a n k f u r t 1963, gezeigt, wie sich die konkrete Existenz des Menschen i n der Polarität von Natur der Sache u n d Bestimmung des Menschen vollzieht, S. 21 ff., bes. S. 28. 21 H. Schambeck, Der Begriff der ,Natur der Sache', Wien 1964, hat diese Tendenz, S. 37, S. 54, S. 63, S. 144. Dafür ist ein essentialistisches Seinsverständnis haftbar zu machen; sein Index ist, daß die Rechtsordnung einen gleichbleibenden u n d einen sich verändernden, nämlich politischen (sie!) T e i l haben soll. S. 55. 22 „deren jede Messe u n d jeder K r i e g neue liefert" hat Jean Paul gespottet.

I I . Kritische Synopse der Naturrechtstheorien

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das abstrakte unveränderliche Wesen ζ. B. des Eigentums 23 , des Staates, des Vertrages, des Schadenersatzes usw. glaubt vorweisen zu können, besorgt schließlich die Geschäfte der Widersacher des Naturrechts, weil es auf diese Weise seinen Begriff dem Gespött ausliefert. Der Versuch, als unumstößliche Sicherheit wenigstens die ,Natur der Sache' dem menschlichen Einfluß zu entziehen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er w i l l zuviel und bringt dadurch auch sein Legitimes um sein Recht. Aus der Einheit des Seienden untereinander, also auch aus der Zusammengehörigkeit des Menschen als der erkennendwollenden Subjektivität mit den Sachen gibt es kein Entrinnen; jeder Ausbruchsversuch aus dieser dialektischen Einheit 2 4 führt i n eine schiefe Lage, er stört das Gleichgewicht, ohne zu einer Placierung außerhalb der produktiven Vernunft kommen zu können. Die Realität aller Sachen, auf die sich eine Theorie von der Natur der Sache beziehen mag, ist eine dem Menschen prinzipiell erschlossene Realität und daher i n einer ursprünglichen Einheit m i t ihm, sowohl mit dem Element seiner Vernunft wie seiner Freiheit. Wenn unter die Sachen auch die Institutionen rechnen 25 , ist ein derart starker Impuls produktiver (weil einrichtender) Freiheit beteiligt, daß seine Ausklammerung des Menschen doppelt unangemessen ist. Die Natur muß gründlicher' als i n der Natur der Sache, sie muß i m Begriff der Natur grundgelegt sein; dann umfaßt sie auch den Menschen und den Zirkel, i n dem Mensch und Sache sich zueinander befinden 26 , kann man dann zwar nicht verlassen, aber er kann ausgeschritten und dadurch bekannt werden. 23 Obwohl sich A. Reinach, Z u r Phänomenologie des Rechts, München 1953, dagegen gewehrt hat, seine apriorische Rechtslehre naturrechtlich zu nennen, S. 218, hat er m i t seinen Wesensgesetzlichkeiten dazu mehr A f f i n i t ä t als i h m lieb war. Z u m Eigentum liest man, S. 94: „Es ist eine letzte, nicht weiter zurückführbare u n d i n keine Elemente weiter auflösbare Beziehung zwischen Person u n d Sache, welche man als Gehörensbeziehung oder Eigentum bezeichnet . . . Es gründet i m Wesen des Gehörens, daß sein Träger das absolute Recht hat, i n jeder beliebigen Weise m i t der i h m gehörigen Sache zu v e r fahren." Die Rechte dritter werden zwar erwähnt, aber: „Das alles ändert nicht das geringste daran, daß aus dem Gehören als solchem alle jene absoluten Rechte entspringen (S. 95)." Das hört sich an, als sei der Mensch ein Robinson. — Daß Reinach zu den Denkern gerechnet werden darf, die m i t der N a t u r der Sache zu schaffen haben, vgl. W. Maihofer, D r o i t naturel et nature des choses, Archiv für Rechts- u n d Sozialphilosophie Vol. 1965, 51. Bd., S. 233 - 262, S. 284; auch R. Dreier, Z u m Begriff der Natur der Sache, B e r l i n 1965, S. 62. 24 Wie diese Einheit antiidealistisch konkret w i r d , das ist vorgeführt bei W. Maihofer, Konkrete Existenz, i n Festschrift für E r i k Wolf, 1962, S. 246 f., bes. S. 262. 25 Das geschieht i n einem fließenden Übergang, ohne daß explizit schon der Institutionsbegriff auftauchen müßte, bei fast jedem Autor, der von der N a t u r der Sache handelt, vgl. die Nachweise bei R. Dreier, a.a.O., S. 75, S. 84 f. Lebensverhältnisse, Lebenssachverhalte, Kultursachverhalte sind die verschiedenen Namen dafür. 28 Indem er eine analogia cognoscendi rehabilitiert, schlägt A r t h u r K a u f -

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3. K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität 3. Natur als triebhafte Vitalität

Vielleicht die simpelste, zugleich aber auch folgenschwerste Unterschlagung der Transzendenz des Naturbegriffs geschieht i n einem ,Naturrecht', für das die Natur triebhafte Vitalität ist, das Recht infolgedessen ein „Recht" des Stärkeren 2 7 . Zu einer schlimmeren, Leben und Trieb i n eine rohe Brutalität hineinzerrenden Bedeutung konnte der Naturbegriff nicht absinken. Natur als auf Durchsetzung angelegter, irrational-blinder Kampftrieb, der sich rücksichtslos auf Kosten anderer zur Geltung bringt, das ist das Endprodukt eines zurückgestutzten, nach unten zusammengedrückten und deswegen explodierenden hohen Begriffs, die Verderbnis (corruptio optimi pessima!) des Moments der Energeia zu einem blinden, ziellosen Drang, der i n seinem Drängen und daher gerade i n der Verschlossenheit seiner selbst, kulminieren möchte. Eine Natur i n diesem Sinn sprengt das Recht i m Begriff des Naturrechts derart von sich weg, daß die darin intendierte Begründung hier mit ihrer Perversion zusammenfiele. Wenn die Natur zu einem wildgewordenen Selbstvergötzungstrieb mit außenrotierenden Mordinstrumenten gegen die andern verkommen ist, gehört das Recht zu den Opfern. I I I . Kritik der Naturrechtskritik und der Naturrechtsdeduktionen Diese flüchtige Skizze sollte nur andeuten, daß, wie und i n welchem Ausmaß die verschiedenen Naturbegriffe die Transzendenz des Naturbegriffs verfehlen. Was sie auch noch zeigt, ist die geradezu verlockende Anfälligkeit aller Naturrechtstheorien für die K r i t i k . Unter den Nakkenschlägen der Naturrechtskritik vermag sich denn auch so gut wie keine Lehre oder Theorie des Naturrechts mehr zu behaupten. Denn die Naturrechtskritik visiert etwas entscheidend wichtiges an; dennoch t r i f f t sie nicht vernichtend, wenn das Naturrecht bescheidener behandelt w i r d 2 8 . Naturrechtskritik wie das, was unter Naturrecht läuft, bedarf daher einer K r i t i k ; K r i t i k nach links und nach rechts tut not. mann, Analogie u n d ,Natur der Sache', Karlsruhe 1965, die Brücke. Dabei w i r d i h m die ,Natur der Sache' zu einem M i t t l e r e n zwischen Sollen u n d Sein, Rechtsidee bzw. Gesetzesnorm auf der einen u n d Lebenssachverhalten auf der anderen Seite, die i n ihrem Sinn identisch sein müssen, „ d a m i t sie zueinander ,in Entsprechung' gebracht werden können". Dieser Sinn aber sei die ,Natur der Sache', S. 35, auch S. 28. 27 Trasymachos u n d Kallikles sind n u r Protagonisten (vgl. Platon, Politela 343 c, 348 c, 360 d, Gorgias 484 a, 488 d) einer Menge Gleichgesinnter. 28 So auch F. Wieacker, Z u m heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion, Köln-Opladen 1965, S. 22, der Naturrecht i m Sinne eines offenen Naturrechtsdenkens verstanden wissen w i l l .

I I I . K r i t i k der Naturrechtskritik und der Naturrechtsdeduktionen

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Die Naturrechtskritik hat bemerkt, daß jeder definitive Naturbegriff sich auf die Dauer nicht halten läßt, weil er der Geschichte 29 nicht standhält. Da er aber Stand halten w i l l — darauf zeigt die K r i t i k ebenfalls immer wieder hin — verfestigt er sich leicht zu einer bestimmten Ideologie. Soweit hat die K r i t i k einfach recht. Sie übernimmt sich aber, wenn sie aus diesem Grund das ganze Naturrecht verwirft. 1. „Leerformeln" — Naturrechtskritik oder negative Ideologien

I m einzelnen setzen die K r i t i k e r des Naturrechts sehr verschieden an; was sie zusammenbringt, ist nur die Negation des Naturrechts. Sie alle wenden irgend etwas Bedenkenswertes gegen das Naturrecht ein, treffen aber damit nur Verstiegenheiten oder Erstarrungen des Naturrechts; nebenbei unterlassen sie selten, den von ihnen beigesteuerten Faktor, der für die Rechtswirklichkeit durchaus von Bedeutung sein mag, ohne aber das Recht begründen zu können, zum entscheidenden oder alleinigen Erklärungsprinzip zu machen. a) Positivismus,

Relativismus, Wissenschaftstheorie

Der praktische Positivismus ist eigentlich nur für die Problemstellung des Naturrechts blind, wenn er sich gegen das Naturrecht wendet, weil er sich davon angefochten wähnt. Die Positivität als Element des Rechts ist gar nicht zu entbehren, wenngleich ihr unterer, scharfer Rand einer übertriebenen Sicherheitsüberlegung entspringt, die überall da, wo nicht sofort eine minutiös festgelegte, durchsetzbare Ordnung bereitliegt, das Chaos heraufdämmern sieht. Sofern der Positivismus aber die konkrete Gestalt des Rechts behauptet, läuft er auf eine Bestätigung eines Naturrechts hinaus, das sich selbst gegen das Mißverständnis wehren muß, als „gäbe" es „das" Naturrecht i n abstracto 30 . Das Naturrecht hat keine Existenz über und außerhalb der konkreten Wirklichkeit, es ist nur da, wenn es da ist, i n den Rechtsüberzeugungen und Sprüchen, später i n den Gesetzen und Urteilen der menschlichen Gemeinschaften, als rechtliche Ordnung eines gemeinschaftlichen Lebens, also des wie immer verstandenen Staates 31 . Das Naturrecht ist 29 Vgl. E. Riezler, Der totgesagte Positivismus i n Naturrecht oder Rechtspositivismus, ed. W. Maihofer, Darmstadt 1962, S. 239 - 256, S. 243. 30 Naturrecht oder Rechtspositivismus ist eine „vermeintliche Alternative", W. Maihofer, Naturrecht als Existenzrecht, S. 10. 31 J. Ritter hat i n Naturrecht bei Aristoteles, Stuttgart 1961, darauf aufmerksam gemacht, daß diese politisch-rechtliche Wirklichkeit, die „das Naturrecht i n seiner Endschaft endgültig außer sich gebracht hat", wiedergewonnen werden muß, wenn das Naturrecht nicht abdanken soll.

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aber nicht identisch mit dem Recht, wie es i n dieser oder jener konkreten Rechtsordnung da ist, sondern es erreicht i m wirklichen Recht sein Dasein. I n all diesem wirklichen Recht, zu dem noch manches Element dazugehört, i n i h m drin, nicht drüber, muß etwas beschlossen sein, wovon dieses wirkliche Recht seine Begründung als Recht, gegen das Unrecht, hernehmen kann. Dieser innere Grund des Rechts ist das Naturrecht, aber wirklich ist es nur, wenn es als Recht da ist, von den Menschen gehalten und von ihnen mit ausgeprägt. I n einer gewissen Weise ist die Rede vom Naturrecht daher auch irreführend, falsch und suggestiv, weil dadurch der Vorstellung eines höheren Rechts, eines idealen Rechts über dem wirklichen Recht Vorschub geleistet wird, das auch noch gar existierend — man wüßte gern wie — gedacht wird. Dieses sogenannte überpositive Recht gibt es nicht 3 2 , soweit sich der Positivismus dagegen wendet, indem er auf dem ,gesetzten' Charakter des Rechts (der ein Fest-setzen ist) beharrt 3 3 , macht er keine schlechte Figur. Denn ein Naturrecht, das i n die reine Idee versetzt wird, ist kein Naturrecht mehr. Es heißt: Naturrecht, nicht Idealrecht und nicht Wesensrecht. Das Naturrecht ist, so wäre dem Positivismus zu konzedieren, nicht Recht i m Vollsinn, wenn seine Unterschiedenheit zum Recht ins Auge gefaßt wird; jedoch stellt es nicht das abstrakte Wesen des Rechts dar — beim Wesen des Rechts w i r d alles i n die Abstraktion gehoben, was das Recht i n seiner Wirklichkeit ausmacht — wie es ebensowenig der ganze Begriff des Rechts ist. Die Vokabel ,Recht' steht i m Wort ,Naturrecht' i n einer zugleich schwächeren und stärkeren Weise da als i m Wort ,Recht'; schwächer, weil das Naturrecht nicht außer dem wirklichen Recht existiert, stärker, insofern das Rechtliche des Rechts von dem mit ,Naturrecht' benannten Grundriß i n der Natur, der selbst noch nicht Recht ist, herrührt. Naturrecht besagt daher so etwas wie die innere Rechtheit des Rechts 34 , die es i n der Entsprechung zu dem findet, was i n

32 Rie Sache w i r d nicht v i e l besser, w e n n die „Existenz überzeitlicher u n d absoluter Rechtsgehalte, die aller Positivierung bindend vorausliegen" ( A r t h u r Kaufmann, Das Schuldprinzip, Heidelberg 1961, S. 110) behauptet werden, „ I m Laufe der Jahrhunderte u n d Jahrtausende sind eine ganze Reihe solcher unveränderlicher Prinzipien der Gerechtigkeit herausgearbeitet worden: das Gleichheitsprinzip, die Regel des ,suum cuique', das Gebot ,neminem laedere', das Tötungsverbot u n d nicht zuletzt das Schuldprinzip" (a.a.O.). Ehe sie anerkannt wurden, diese Prinzipien, waren sie noch nicht w i r k l i c h da, als ideelle existieren sie gerade nicht. Die Wesenheiten sind entia rationis, die ontologisch nicht hypostasiert werden dürfen. U n d unveränderlich sind die genannten Prinzipien auch nicht, sie sind n u r mehr oder weniger abstrakt. 33 Wobei nicht schon an Gesetz zu denken ist, auch Rechtssprüche sind positiv i n diesem Sinn,,gesetzt' : ausgesprochen. 34 Würde der Terminus ,richtiges Recht' (R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 21926) nicht i n seiner Formalität zu stark fixiert, könnte er hier aufgegriffen werden.

I I I . K r i t i k der Naturrechtskritik u n d der Naturrechtsdeduktionen

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seinen Regelungsgegenständen als deren und i m Menschen als dessen Natur vernehmbar wird. I n gewisser Weise nimmt Naturrecht den Mund zu voll, weil es allein keine Rechtsqualität hat, aber andererseits bleibt das Recht ein leeres Versprechen, wenn es nicht vom Naturrecht erfüllt ist. Antithetisch formuliert: Das Naturrecht ist (noch) kein Recht, und, das Recht ohne Naturrecht ist (auch) kein Recht. Weil er diese Unverbindlichkeit eines ,bloßen' Naturrechts erkannt hat, läßt sich der Positivismus dazu verleiten, das Naturrecht zu verwerfen. Er bleibt mit der ungelösten, gar nicht mehr als Frage erkannten Frage stehen, was das Recht zum Recht macht. Das Problem w i r d zugedeckt. Die entschiedene Versteifung auf das fixierte Gesetz hat aber oft nicht nur den Sinn, gegen das Naturrecht mit Nachdruck die anderen Elemente des Rechts vorzubringen — soweit ist eine Ergänzung des Naturrechts notwendig — sondern den ganz andern, aus dem Relativismus die resignierte oder eigensinnige Konsequenz zu ziehen. Von dieser Seite ist der Positivismus lediglich der Niederschlag des Relativismus. Doch auch daraus läßt sich ein Einwand heraushören, dem ein naturrechtlicher Ansatz Rechnung zu tragen hat. Bei dessen Freilegung nimmt der Relativismus ebenso gründlich Schaden wie sein Widerpart, ein unveränderliches Naturrecht. Was der Relativismus wahrnimmt, das ist die durch die Zeiten verschiedene Auffassung von Naturrecht, die Uneinheitlichkeit der Doktrinen, die Vielfalt der Inhalte, die allesamt, vorgeblich, das Naturrecht mit dem Anspruch, daß es so und nicht anders zu verstehen sei, formulieren. Dieser unbestreitbare Befund w i r d nun aber, unkritisch, ohne Reflexion auf Zeit und Geschichte überhaupt, so gedeutet, als erweise sich daran die Erbärmlichkeit aller naturrechtlichen Anstrengung. Es ist nur der Hinweis auf den Sachverhalt nützlich: daß das Naturrecht keinen unabänderlichen festen Inhalt, keinen absoluten Stand aufweist, sondern sich ständig wandelt. Inzwischen hat sich die Kategorie der Geschichtlichkeit 35 unverlierbar dieses Sachverhalts bemächtigt. Aber an dieser Stelle w i r d das Problem erst sichtbar — der Relativist jedoch entledigt sich seiner, indem er die Verschiedenheiten 35 Seit die Geschichte als geschichtliche Bedingtheit richtig bewußt geworden ist, spricht man von Geschichtlichkeit. Vgl. P. Hünermann, Der Durchbruch geschichtlichen Denkens i m 19. Jahrhundert, Freiburg 1967, G. Bauer, Geschichtlichkeit, Wege u n d Irrwege eines Begriffs, B e r l i n 1963; für das Naturrechtsdenken vgl. die penible A r b e i t von José Llompart, Die Geschichtlichkeit i n der Begründung des Rechts i m Deutschland der Gegenwart, F r a n k furt 1968, auch A r t h u r Kaufmann, Naturrecht u n d Geschichtlichkeit, Tübingen 1957.

1 2 6 3 . K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

atomisiert: wenn es so viele verschiedene Naturrechte gibt, ist keines wahr, also kann das Naturrecht abgetan werden, es ist eine Chimäre, die sich jeder Gestalt anbequemt, wie mans braucht. I n dieser vermeintlichen K r i t i k verknüpfen sich all die unkritischen falschen Vorstellungen zu einer ungeprüften Voraussetzung, die anzuprangern und zu zertrümmern der Relativismus antritt; er bleibt seinem Gegenbild verhaftet 3 6 . Zwar führt er dieses ewige, unveränderliche Naturrecht ad absurdum, aber sich selber ebenfalls. Denn der Relativismus hat eine abstrakte Vorstellung von der Wahrheit, er zielt auf ein starres abstraktes Denkschema, und verpaßt daher, zusammen mit der konkreten Wahrheit, die Zeit, die Geschichte überhaupt. Der Tatbestand liegt nun aber quer zu dieser starren Abstraktion, weil es historisch eine Vielfalt von „Naturrecht" gab. Also kann die eigene Projektion, die eigene Erwartung nicht befriedigt werden: das Ergebnis ist konsequent, weil historische Vielfalt und abstrakte Einheit nicht unvermittelt zusammengehen. Daß das Naturrecht sich ständig wandelt, wie die Wahrheit des Menschen auch, bedeutet nun aber gerade nicht das Eingeständnis der Relativität i n dem Sinne, der normalerweise damit verbunden wird, daß nämlich keinerlei Halt sei. Die Relativität als solche ist gerade nicht absolut, sondern nur relativ. Das heißt, daß sie bezogen ist. Der Relativismus kappt die Beziehung zum Absoluten, i n dessen Horizont und auf dessen Grund allererst so etwas wie Zeit gedacht werden kann, auch wenn dieses Absolute nur i m Reflex von dieser verlaufenden Zeit her spiegelnd kenntlich wird. Die hartnäckig supponierte Unveränderlichkeit von Wahrheit w i l l dagegen i n der wandelbaren Zeit ihr Ewiges, Unveränderliches festmachen 37 und w i r d dabei genauso desavouiert. Weder läßt sich das Absolutum in die Relativität hineinsetzen und so die Zeit anhalten, noch kann das Relative i n sich verabsolutiert werden. Dies wenigstens macht der Relativismus (der immer ein Historismus bleibt) klar: Daß Vergänglichkeit auch ihr Signum dem Naturrecht 36 Vgl. E. Lask, Rechtsphilosophie „Gesammelte Schriften", Bd. I, Tübingen 1923, S. 291. 37 Die Frage darf nicht heißen, wie bei J. Llompart, Die Geschichtlichkeit, S. 59, ,Was bleibt u n d was ändert sich i m Recht?', sondern sie muß heißen ,Was hält sich im Wandel durch?' Sonst w i r d immer aufs neue die alte Differenzierung i n ein p r i m ä r (unwandelbares) u n d ein sekundär (veränderliches) Naturrecht induziert. Die Rede v o m „unveränderlichen, bleibenden K e r n " hält ein substantialistisches Mißverständnis fest. M i t Dilthey, Gesammelte Schriften I V , S. 250, zu reden: „Alles ist relativ, unbedingt ist allein die N a t u r des Geistes selbst, die sich i n diesem allen manifestiert. U n d auch für die Erkenntnis dieser N a t u r des Geistes gibt es kein Ende, keine letzte Fassung, jede ist relativ, jede hat genug getan, wenn sie ihrer Zeit genug tat." (Zit. nach K . L ö w i t h , V o n Hegel zu Nietzsche, S t u t t gart 51964, S. 139.)

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aufdrückt, daß es aber gerade deswegen nicht erledigt ist. Beseitigt ist das Mißverständnis, als könne das Naturrecht ungeschichtlich sein. Wenn der Naturbegriff als transzendentaler erfaßt ist, lösen sich derlei Schwierigkeiten. Denn dann hat das Naturrecht nicht mehr die zeitenthobene, abstrakte, geschlossene Wesenhaftigkeit eines ,so und nicht anders', sondern es gehört i n den Strom der Zeit hinein, wie die Natur, von der es sich herschreibt. Es hat seine konkreten Gestalten, ist aber i m letzten nicht faßbar und überschreitet jeweils die historisch bedingte Fassung; es ist zwar bestimmt, i n dieser oder jener Weise, aber immer nur vorläufig; es hat eine Zeitlosigkeit, die nicht positiv, es sei denn u m den Preis eben dieser Zeitlosigkeit, sondern nur mehr negativ formuliert werden kann. Wer sich anheischig macht, nicht nur umschreibend, sondern endgültig positiv zu sagen, was das Naturrecht ist, schickt sich schon an, es zu verfehlen. Die Wesensbestimmung kann nur ein Aussparen dieser transzendentalen Offenheit — oder falsch sein. Die vom Historismus ins erste, von der Existenzphilosophie ins volle Bewußtsein gehobene Wandelbarkeit des Daseins zwingt das Naturrecht von seinem Mißverständnis (und Mißbrauch) als Wesensrecht weg zu einer vor allem negativen Fassung: das Naturrecht ist nicht beliebig 3 B , sein Wesen ist seine Unbeliebigkeit. Als „Unveränderliches" am Naturrecht bleibt nur dies, daß es, wie die Natur, die verschiedenen begrifflichen und historischen Konkretionen übersteigt, darin nicht aufgeht, auf ein Unendliches, Absolutes verweisend offen ist. Hat der Relativismus seine K r i t i k historisch angesetzt, so greift ein jüngerer Gegner das Naturrecht von dessen begrifflichem Befund her an. Der logisch-empirische Positivismus, der zur sprachanalytischen Wissenschaftstheorie weitergebildet wurde und in dem naturwissenschaftliche, mathematische, logische, empirische, wissenssoziologische Strömungen zusammenlaufen, bestreitet, daß mit dem Wort ,Naturrecht' sinnvoll zu reden möglich sei; Naturrecht ist für ihn eine Leerformel, die nichts besagt 39 , daher kann sie mit jedem Inhalt vollgestopft 38 M. Müller, Existenzphilosophie i m geistigen Leben der Gegenwart, Heidelberg 31964, S. 88. 39 Vgl. E. Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie u n d Wissenschaft, Neuwied/Berlin 21966, S. 37; entwickelt hat Topitsch diese These i n : V o m U r sprung u n d Ende der Metaphysik, W i e n 1958. „ . . . für denjenigen, der den ganzen Prozeß von Projektion u n d Reflexion durchschaut hat", sind derlei Scheinprobleme wie Naturrecht oder gar Freiheit, a.a.O., S. 304, verschwunden. — I n eine unbeabsichtigte Nähe zu dieser Auffassung k a n n man auch geraten, wenn der fundamentale Z i r k e l nicht akzeptiert u n d n u r als verfänglich abgetan w i r d , wie es bei H. Welzel, Naturrecht u n d materiale Gerechtigkeit, 41962, S. 240, geschieht; zur »Leerformel'-Behauptung: J. Messner, Sind die Naturrechtsprinzipien Leerformeln? i n : M o r a l zwischen Anspruch u n d Verantwortung, Festschrift W. Söllgen, Düsseldorf 1964, S. 318 - 336.

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werden. I n der Wissenschaft hat eine solche Begriffshülse nichts verloren 4 0 . A n dieser K r i t i k ist beachtlich, daß das Naturrecht i n der Tat vieldeutig oder mehrdeutig und deswegen ungenau ist. Damit, daß es eine für exakte Wissenschaftler wünschenswerte Eindeutigkeit vermissen läßt, muß sich das Naturrecht abfinden. Einem wissenschaftstheoretischen Modell, das nur klar definierbare, verifizierbare Begriffe verwenden w i l l , ist es nicht gewachsen 41 . Aber damit ist keineswegs schon erwiesen, daß das Naturrecht eine sinnlose Anstrengung durch die Jahrhunderte verschleppt. Der analoge Grundcharakter des Naturrechtsbegriffes impliziert seine verschiedene Konkretisierbarkeit, seine schwebende Undeutlichkeit, seine Unfixierbarkeit für immer. Demgegenüber kann die Wissenschaftstheorie nicht — abgesehen davon, daß auch ihre eigenen Axiome und die Interpretation eines Kalküls i m unwissenschaftlichen Reden der natürlichen Sprache als ihrer Metasprache aufruhen 4 2 , den Anspruch rechtfertigen, daß alles Reden, das ihrer eindeutigen Begrifflichkeit entbehrt, sinnlos sei; dagegen steht der Ausweis der einfachen Erfahrung 4 3 , also geradezu eine A r t von Verifikation. Es mag allerdings angebracht sein, die Wissenschaftlichkeit des Naturrechtsdenkens weniger streng zu postulieren. Jedoch, vor dem Forum der Wissenschaftstheorie hat die ganze Rechtswissenschaft als Wissenschaft verspielt 4 4 . 40 Wie die V o r w ü r f e der Unwissenschaftlichkeit, m i t denen Topitsch nicht geizt, auf i h n zurückfallen, analysiert P. Rohs, Wie wissenschaftlich ist die wissenschaftliche Naturrechtskritik i n Phil. Rundschau, 16. Jhrg. 1969, S. 185 bis 213, bes. S. 200, S. 208. 41 Gegen die Monopolisierung des Wissenschaftsbegriffs durch die Positivisten vgl. K . Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, B e r l i n 21969, S. 96. 42 Bei R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, Wien 21968, u n d W. v. O. Quine, Word and Object, New York, London 1960, k o m m t es zu einem Z i r k e l der natürlichen u n d der Wissenschaftssprache, der dem hermeneutischen Z i r k e l nicht unähnlich ist, vgl. P. Lorenzen, Methodisches Denken, F r a n k f u r t 1968, S. 27, 28. 43 Die Vertreter der angelsächsischen ,ordinary language philosophy 4 „ v e r meiden es deshalb, allgemeine Systeme u n d insbesondere allgemeine Sprachsysteme aufzustellen, m i t denen man sich nach ihrer Ansicht von der rauhen Wirklichkeit entfernen würde. Solange f ü r sie nicht geklärt ist, daß man i n idealisierten u n d standardisierten Sprachen, wie sie als Modell von fast allen anderen Vertretern der analytischen Philosophie zu ihren Untersuchungen bemüht werden, alles adäquat wiedergeben kann, was i n der Sprache des Alltags ausdrückbar ist, behandeln sie die philosophischen Probleme i n dieser Alltagssprache u n d vermeiden jene symbolischen Kunstsprachen" (W. K . Essler, A r t . Analytische Philosophie i n Staatslexikon, 9. Bd., Freiburg 1969, S. 73). 44 Diejenige, die, wie die kontinentaleuropäische, noch nicht wissenschaftstheoretisch durchgemustert ist. I n England ist das anders, soweit die Rechtswissenschaft sprachanalytisch verfährt. Vgl. H. Eckmann, Rechtspositivismus u n d sprachanalytische Philosophie. Der Begriff des Rechts i n der Rechtstheorie H. L. A. Harts, B e r l i n 1969.

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Der Neopositivismus kann dem Naturrecht einschärfen, daß sein Begriff nicht präzis ist und deswegen etwas bescheidener gebraucht werden müßte; eine Selbstbeschränkung auf seine konkrete historische Position w i r d i h m abgefordert, die sich nicht an einem abstrakten Wesen übernimmt. Zugleich mit einer Konkretisierung würde der Begriff des Naturrechts seine Mißbrauchbarkeit herabmindern, die ihn der politisch zielenden Instrumentierung, und deswegen dem entschiedenen Einwand aussetzt, er sei leeres Vehikel der Ideologie. Durch eine konkrete, geschichtliche Gestalt, i n der er erst Wirklichkeit hat, verliert der Begriff des Naturrechts aber dennoch nicht — und hiermit kommen alle wissenschaftstheoretischen Modelle an das Ende ihrer Relevanz — seine transzendentale Offenheit der Analogiestruktur. Er bleibt prinzipiell unschließbar. Das läßt die Sprachanalyse positivistischer Provenienz jedoch nicht gelten. Ein Blick auf ihren dürftigen, keiner Steigerung fähigen, flachen Sprachbegriff, den sie, wie anders, auch nur i n der ungenauen Umgangssprache als ihrer Metasprache fundieren kann, zeigt hinreichend deutlich, warum. Der Funktion der Sprache i n den modernen Naturwissenschaften folgend, und von der klaren Eindeutigkeit mathematischer Logik normativ gesteuert, w i r d Sprache überhaupt als ein System von Zeichen verstanden. Als Zeichen bezeichnen die Wörter ein Bezeichnetes, sind also i n sich selbst belanglos; nur ihrer Zeichenfunktion müssen sie einwandfrei genügen. Und damit keine Mißverständnisse aufkommen, sind die Zeichen eindeutig zu definieren. Weil sie als M i t t e l der Verständigung zu dienen haben, müssen die Zeichen von denen, die sie gebrauchen wollen, übereinstimmend angenommen sein. Die Festlegung geschieht daher zweckmäßigerweise durch Konvention, indem man gemeinsam das Zeichen für ein Bezeichnetes festlegt, und die Regeln angibt, nach denen die Zeichen miteinander i n Beziehung gebracht werden dürfen. Bei einer solchen nominalistischen Erklärung der Sprache gibt es kein Wort mehr, das nicht zum Terminus würde, der genau und eindeutig seinen Gegenstand bezeichnet. Eine, von da aus derart verwaschene, ungenaue Vokabel wie Naturrecht läßt jede wissenschaftliche Qualifikation vermissen; sie ist unbrauchbar, weil sie dem Anspruch einer Terminologie nicht gewachsen ist. Aber der Nominalismus verfehlt die Sprache. Zwar ist sie auch immer zeigend, be-deutend, aber gerade darin holt sie das Bezeichnete, die Sache, selbst i n die Anwesenheit herein, bringt sie erst zum Vorschein und w i r d so zur entscheidenden Anzeige der Welt. Von dieser einen Seite ist die Sprache das Gegenteil der Beliebigkeit, kein Machwerk, sondern reiner Ausdruck, i n dem eine Identität der Sache zum Wort geschieht, die nicht restlos i n die Verfügbarkeit der Zeichenverfertigung gestellt ist, sondern aus der 9 Zacher

1 3 0 3 . K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

Wahrnehmung der Sache, aus ihrer Wahrheit i n der Offenbarkeit, stammt. Sprechen w i r d die Wiedergabe eines Hörens. A u f solch eine Entsprechung zielt auch die Verbindung von Natur und Recht zum Wort Naturrecht ab. Daß dieses Wort nicht i m Wege einer Übereinkunft festgelegt und definiert werden kann, macht es zwar anfällig für alle möglichen Interpretationen und jeden Mißbrauch — aber sein Todesurteil bedeutet es nicht. ,Naturrecht 4 gehört nicht, sowenig wie andere von der Geschichte befrachtete und von der Korruption befallene Wörter, unter die „Leerformeln". Leerformeln finden sich überhaupt nur als Abfallprodukte der Ideologiekritik, sie geben den Stellenwert der Mißbrauchbarkeit einzelner Grundbegriffe an. b) Soziologie, Marxismus,

Ideologiekritik

I n den Vorwurf, das Naturrecht sei eine der üblen „Leer for mein", stimmen auch Soziologen 45 ein, obwohl ihre K r i t i k nicht auf den gleichen Wegen und von den gleichen Ausgangspositionen her zu diesem Schluß kommt. Wenn die Gesellschaft zur alles entscheidenden Kategorie wird, kann das Recht als Phänomen nicht mehr m i t einer so obsoleten Beziehung wie der auf Natur erklärt oder fundiert werden; die Gesellschaft t r i t t dazwischen. Sie ist, als das die gesamten menschlichen Verhaltensweisen prägende, übermächtigte System der Ort, an dem auch das Recht, als eine Regelung des Sozialverhaltens, geformt wird. Das Naturrecht ist dann bestenfalls eine nachträgliche Deutung bislang undurchschauter, handfester Interessen der Gesellschaft. Überhaupt läßt sich, bei einiger Aufmerksamkeit auf die Gesetzlichkeiten der Gesellschaft, die ganze idealistische Verbrämung als gesellschaftlich bedingt entlarven. Ideen sind die Verhüllungen von Zwängen der verschiedensten Intensität und Provenienz, Moral reduziert sich auf Interesse. Sobald die Gesellschaft sichtbar wird, zeigt sich, daß ihr sogenannter Geist Überbau ist 4 6 . Derart verfertigt die Soziologie für die Ideologiekritik unwiderlegbare Einwände; wenn es nicht überhaupt zutreffender ist, zu sagen: i n ihrer kritischen Zuspitzung geht Soziologie i n Ideologiekritik 4 7 über. 45 Vornehmlich solche Soziologen, für die Soziologie zuerst u n d zuletzt A n leitung zu gesellschaftlicher Praxis und M a r x der übermächtige A h n h e r r ihrer Wissenschaft ist. Daß eine Gesellschaftstheorie, i n der Klassen oder die V e r hältnisse herrschen sollen, m i t einem geradezu agrargeschichtlichen Begriff von Herrschaft die differenzierte Realität einer Leistungsgesellschaft nicht mehr erfassen kann, hat L u h m a n n gegen Habermas eingewandt, vgl. J. H a bermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, F r a n k f u r t 1971, S. 401. 46 Dazu W. Maihofer, Ideologie u n d Recht, F r a n k f u r t 1968, S. 1 - 35, vor allem der Abschnitt I, Das Recht als ideologisches Faktum, S. 2, S. 4 f. 47 K . M a r x , E. Dürkheim, K . Mannheim können so interpretiert werden, vgl. N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Opladen 1970. S. 55; F. Jonas, Geschichte der Soziologie I V , Reinbek 1969, S. 75.

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Daß die gesellschaftlichen Zustände für die Fassung des Rechts bedeutsam sind, das ist nicht zu leugnen: sie tragen zur bestimmten Form bei, i n der die Natur des Menschen da ist, zu einer bestimmten Zeit. Wäre es anders, so könnte es gar nicht zu verschiedenen Konkretisierungen des Rechts kommen. Geldwirtschaft fordert andere Rechtsgestaltungen als ein Naturalienhandel; i n der Agrarkultur lebt der Mensch notwendig m i t anderen Rechtsformen als i n der Industriegesellschaft. Aber das heißt ja noch nicht, daß die gesellschaftlichen Zustände das allein Geltung heischende und einzig gültige Prinzip des Rechts wären. Das Recht ist keine Funktion ζ. B. des Kapitalismus, wenn es auch — darin liegt zugleich die Begründetheit einer solchen K r i t i k wie ihr Fehler — vom Kapitalismus deformiert, vernichtet werden kann. Daß der Versuch, das Recht (wie übrigens auch die Moral!) als rein ideologischen Überbau ökonomischer Interessen der Gesellschaft zu erklären, falsch ansetzt, dafür zeugt, daß Recht und Gerechtigkeit zur Legitimation gerade der Revolution dienen: es ist eben kein Recht, sondern Unrecht, wenn als Recht ausgegeben wird, was der Gesellschaft nur als Mechanismus ihrer Perseveration inhäriert; ein Recht, das zur Funktion von Interessen wird, verliert sein Wesen, verrät seinen Namen. Wo mit der Gesellschaft als übermächtigem Subjekt argumentiert wird, das i n einem inneren Automatismus das Verhalten des Einzelnen determiniert, wo nach einem mehr oder minder kompliziert gebauten Schema von Unterbau-Überbau verfahren wird, da macht eine undifferenzierte Kausalität das Spiel. Nach diesem Ansatz kann das Recht lediglich ein Produkt der Gesellschaftsverhältnisse sein; daraus w i r d dann, als falsche Erklärung dessen, der Begriff der Ideologie gewonnen, der i m unbewußten Zustand Selbsttäuschung oder Selbstbetrug ist und, sofern er durchschaut wird, den Mummenschanz nackten Machtwillens von oben darstellt. Die Verhältnisse sind faktisch nur allzu oft so, wie sie von der Soziologie (die, solang sie nicht positivistisch geworden ist, doch nur eine moderierte Erbin des Marxismus vorstellt) aufgedeckt werden: die Gesellschaft hat das Recht fast vollständig zu einem Instrument ihrer Interessen degradiert, es protokolliert auf weite Strecken die gesellschaftliche, hier: die kapitalistische Doktrin und die Berufung aufs Recht offenbart allenthalben seine Verfälschung zur Funktion des Geldes — richtige Beobachtungen durchweg. Aber so erhellend der Befund w i r k t , den die Soziologie mit ihrem Lichtkegel trifft, so unerleuchtet sind ihre Erklärungsschemata. Sie läßt sich von Zuständen, die i n sich verkehrt sind, die Kategorien vorschreiben, unter denen sie das Verhältnis der Gesellschaft zum Geist begreifen will. Das Dogma, daß die gesellschaftlichen Bedingungen das Bewußtsein bestimmen, ist von der Fehlform einer Gesellschaft abgezogen, i n 8*

1 3 2 3 . K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

der es tatsächlich dahin gekommen ist, daß ein ökonomisches Interesse alle anderen Bereiche überwuchert hat. Die Gesellschaft, die Objekt des Rechts sein muß, freilich i n ihrem konkreten Entwicklungsstadium und dadurch also die Form des Rechts mitbedingend, w i r d auf diese Weise von der die Freiheit einschränkenden Materialursache des mitbedingenden Gegenübers zu einem die Freiheit des einzelnen übermächtigenden Monstrum, das monokausal, zur Regelung der äußeren Beziehungen seiner Teile, etwas produziert, zu dem man Recht zu sagen sich angewöhnt hat. Das Naturrecht nimmt sich vor dieser K r i t i k des Rechts folgerichtig nur mehr als potenzierte Ideologie aus, denn i n i h m w i r d das, was allein gesellschaftlich zu erklären ist, auf einen Grund gestellt, der nur als Täuschung vorhanden ist. Zwei, allerdings korrekturbedürftige, Einsichten der soziologischen K r i t i k müssen berücksichtigt werden. Die erste ist die ,Entdeckung' des Substrats, das die gesellschaftlichen Zustände für das Recht abgeben. Damit kommt eigentlich nur die Empirie zur Geltung; aber das ist lange vergessen worden, daß es nicht mit abstrakter Vernunft zugeht, wenn über das Recht nachgedacht wird, und deswegen hat die Soziologie mit ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, zunächst ein empirisches Faktum benannt, über das bis dahin naiv und gutgläubig hinwegkonstruiert wurde. W i r d die simple, von der Soziologie bereitgehaltene Kausalität zurückgewiesen, so bleibt eine empirische Wissenschaft 48 , deren Insistieren auf gesellschaftlichen Gegebenheiten für die Konkretion so heilsam sein kann wie der Nachdruck, mit dem die Existenzphilosophie auf Geschichte dringt. — Die zweite Einsicht geht auf die Ideologisierung des Naturrechts. Denn wenn die Behauptung der Soziologie, der Überbau sei gar nichts Selbständiges, sondern von w i r t schaftlich-gesellschaftlichen Realfaktoren erzeugt, von ihrer kranken Totalisierung befreit und übersetzt wird, t r i f f t sie. Sie besagt dann, daß es Fälle gibt, i n denen das sogenannte Recht nur mehr ein Epiphänomen gesellschaftlicher Zustände ist, also Ideologie, ,Leerformel·, die beliebige Täuschungen transportiert. I n diesen Korrekturen ist wiederum faßbar, worin die soziologische Naturrechtskritik nicht standhält: Diese K r i t i k bleibt von ungeklärten Voraussetzungen behaftet; sie ergibt, weil diese falsch sind, ebenfalls, nur eben negative, Ideologie. Das dabei vorliegende Dilemma verdeckt der Ideologiebegriff 49 . Wenn er total konzipiert w i r d 5 0 , wie es auch vom 48 A n dieser Stelle ist die Rechtssoziologie von hohem Nutzen; vgl. dazu die Bibliographie von P. Trappe i n Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, Neuwied u n d B e r l i n 1964. 49 K . Mannheim, Ideologie u n d Utopie, F r a n k f u r t 31952, Th. Geiger, Ideologie u n d Wahrheit, Stuttgart u n d Wien 1953. 50 Kritisch zum totalen Ideologiebegriff K . Mannheims W. Maihofer, in: Ideologie u n d Recht, 1968, S. 28.

I I I . K r i t i k der Naturrechtskritik u n d der Naturrechtsdeduktionen

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marxistischen Ansatz her leicht passiert, muß er auch selbst die eigene Position gefangen nehmen. Er bleibt indifferent zwischen wahr und falsch, weil auch die klassenlose Gesellschaft einen Überbau haben wird, der nur die Folge ihrer neuen Zustände ist. Das aber, diese volle Abhängigkeit, macht die Ideologie aus. Und nichts über den realen gesellschaftlich-ökonomischen Faktoren ist nicht Ideologie. Damit ist alles über ihnen Ideologie! Aber Ideologie läßt sich sauber nur gegen Philosophie, gegen Wahrheit also 51 , abgrenzen: Ideologie heißt dann Pseudogeist, PseudoWissenschaft, Pseudorecht, das ist: Lüge, weiter nichts, Lüge als ausgebautes System, i m Zustand der Selbsttäuschung oder zur Täuschung anderer vorgebracht 52 . Es ist bezeichnend für die Ideologiekritik, daß sie mit ihrer radikalen Totalität ihre eigene Wurzel durchschneidet. Die Wissenssoziologie qua Ideologiekritik versucht sich gerade noch auf einer Nadelspitze zu halten, sofern sie den totalen Ideologieverdacht mit Agnostizismus verbindet 5 3 ; marxistische Soziologie und Marxismus vollends verlieren den Boden, da sie entweder nichts oder auch sich selbst als Ideologie entlarven helfen. A u f diese Weise bringt sich die K r i t i k schließlich u m ihre eigene Berechtigung; sie negiert auch noch sich selbst. Das Naturrecht aber bleibt, von der K r i t i k auf seine konkrete, geschichtliche, gesellschaftsbedingte Gestalt zurückgestutzt, dennoch unerledigt. 2. Naturrechtsdeduktionen oder positive Ideologien

Damit das Naturrecht überleben kann, muß es der K r i t i k an i h m Rechnung tragen, und herunter i n die irdischen Niederungen. Das impliziert aber, daß ,das' Naturrecht ebenfalls einer K r i t i k zu unterziehen ist, die i m Namen eines transzendentalen (überschreitenden) ein trans51 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, F r a n k f u r t 1966. „Denn der Begriff Ideologie ist nur sinnvoll i m Verhältnis zur Wahrheit oder Unwahrheit dessen, worauf er g e h t ; . . . Das Alles des unterschiedslos totalen Ideologiebegriffs . . . terminiert i m Nichts. Sobald er von keinem richtigen Bewußtsein sich unterscheidet, taugt er nicht länger zur K r i t i k v o n falschem" (S. 196). 52 Deswegen ist es unfruchtbar, den Ideologiebegriff von seinem pejorativen Beigeschmack ablösen zu wollen. 53 Offen eingestanden w i r d dieser Agnostizismus nicht; es ist aber gerechtfertigt, K . M a n n h e i m so einzuschätzen. Er w i l l zwar m i t einer „ N e u tralisierung der Seinsgebundenheit i m Sinne des sich darüber Erhebens" erkenntnistheoretisch weiterkommen, muß aber zuletzt doch wieder zurück: „ A b e r auch diese Tendenz zur Abstraktion auf höherer Stufe sprengt noch nicht die Lehre von der Seinsgebundenheit des Denkens, denn das adäquat zurechnende Subjekt ist keineswegs ein absolut freischwebendes ,Bewußtsein überhaupt', sondern ein immer umfassender werdendes (die früher p a r t i k u laren u n d konkreten Sichten neutralisierendes, konkretes) Subjekt." K . M a n n heim, i n Wissenssoziologie i n Handwörterbuch der Soziologie, Hrsg. A. V i e r kandt, Stuttgart 1959, unveränderter Neudruck der Ausgabe 1931, S. 674/675.

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3. K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

zendentes (bereits hinüber-geschrittenes, ein transzenses) Naturrecht angreift. Das Naturrecht, das überall und jederzeit gilt, ist ein Phantom. Es ist nur i n der Differenz, i n der Analogie, i n den Fragmenten der Geschichte und der Rechtsepochen also, nicht i n sich selbst zu haben. Also nicht als ,das' Naturrecht, sondern als Grundgehalt dieses oder jenes Rechts. a) Katholische Moraltheologien,

Sittengesetzbesitz

Das Naturrecht t r i t t i n dieser zeitlosen ubiquitären Überanstrengung vor allem i m katholischen Bereich, von der päpstlichen Verlautbarung bis zur Nachschrift der Moraltheologen dazu, noch auf 5 4 . Es w i r d dabei i n einer sich selbst gefährdenden Weise i n ein unwandelbares, unveränderliches und i n ein wandelbares, veränderliches Stück auseinandergeschnitten. Vom unwandelbaren K e r n 5 5 aus w i r d mit rationalistischer Sicherheit deduziert, was alles als Naturrecht zu gelten hat, — der Rest, der nicht aufgeht, w i r d m i t einem sekundären Naturrecht bedacht und zur wandelbaren Nebensächlichkeit erklärt, die, bei Lichte besehen, gar nicht sein dürfte. Diese Verstiegenheit, die das ewige Gesetz dingfest macht, reißt, was gerade transzendental verbunden ist, Zeit und Ewigkeit, Sein und Seiendes auseinander. Sie macht auf diese Weise sowohl den Rang und die Dimension des Irdischen zuschanden, wie sie das Ewige verkleinlicht. Wenn die transzendentale Spannung nicht ausgehalten 56 wird, wie es hier geschieht, geht die Verschiedenheit verloren: das ewige Gesetz, das Naturrecht, w i r d ziemlich rasch trivial, es gibt sich, ideologisch, zur Rechtfertigung des bloß Bestehenden her. Kenntlich ist diese Form von Naturrecht immer daran, daß sie abstrakt zur Entscheidung von Einzelheiten antritt. Das Verfahren dabei ist eine Deduktion, mit der das, was die Natur vorschreibt, abgeleitet wird. Die Natur w i r d von einer gewissen rationalistischen Scholastik so hoch angesetzt, daß sie vollständig erkannt und i n eindeutige Normen umgesetzt werden kann. Folglich entspringen i h r strikte Gesetze, die 54 Vgl. dazu J. Fuchs, L e x naturae, Düsseldorf 1955, S. 15 f. — Allerdings ist die Katholische Moraltheologie längst über derlei Positionen hinaus; einen guten Durchblick bietet J. Gründel, Wandelbares u n d Unwandelbares i n der Moraltheologie, Düsseldorf 1967. 55 Auch J. David, der w o h l das erstemal i m katholischen Bereich v o m w a n delbaren Naturrecht' gesprochen hat, k o m m t von dieser Vorstellung des „unwandelbaren Kerns" nicht los, vgl. Das Naturrecht i n Krise u n d Läuterung, K ö l n 1967, S. 40. 56 Der W i l l e dazu kann bei B. Schüller, Die Herrschaft Christi u n d das w e l t liche Recht, Rom 1963 (S. 149/150) wahrgenommen werden. Die „zeitlose Geltung", die S. 298 noch behauptet w i r d , würde sich rasch als bedingt erweisen, wenn die K o n t i n u i t ä t der Geschichte nicht mehr wesenhaft vorgestellt, sondern als „ K o n t i n u i t ä t des sich Verändernden" (a.a.O.) ganz ernst genommen würde.

I I I . K r i t i k der Naturrechtskritik u n d der Naturrechtsdeduktionen

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keinerlei Ausnahme leiden 5 7 . Also gilt immer und jederzeit i n der konkreten Situation, was an einer natura pura 5 8 , der ahistorischen A b straktion, abgelesen worden ist. Die alte Einsicht, daß das Naturrecht sowieso nur eine Faustregel sein kann, die für die Regel- nicht aber für die Grenzfälle taugt, ist dabei ganz verloren gegangen. Die Wirklichkeit w i r d zum Subsumptionsmaterial für ein Schlußverfahren, sie geht i n Begriffen auf, denen mit allen möglichen Disjunktionen versehen, nichts widerstehen darf; das Geheimnis, das noch i n der äußersten Genauigkeit zupackender Begriffe nicht ganz aufgeht, w i r d i m grellen Licht des Wesens 59 annulliert. Kein Wunder, daß das Naturrecht ordine geometrico verfahren kann, wenn die Wirklichkeit als Versatzstück i n ein abstraktes Modell (das nicht einmal mehr zum Modell relativiert wird, von seinen Verfechtern) einbezogen worden ist. Daß das Naturrecht zu einem Normensystem mit unveränderlicher Geltung werden konnte, liegt an der i n der Spätscholastik unter dem Einfluß eines univoken Seinsbegriffes aufgekommenen Veressentialisierung des Denkens. Erst wenn die Begriffe eindeutig und zeitlos geworden sind, bietet sich die Möglichkeit, über die Natur zu befinden, als wäre sie ein mathematischer Gegenstand. I n der kasuistischen Moral, die m i t einem ausgetüftelten, durch Unterscheidungsmechanik allerfeinst verästelten Deduktionsgefüge jedes Individuelle doch noch verallgemeinert, verendet schließlich mit Schande ein System, das schon i m Ansatz zu hoch gegriffen hat. Das Naturrecht hatte auf diesem Weg endgültig die Zeit und die Politik, die Geschichte und den Menschen verloren. Während es über der Zeit und i n den Lehrbüchern stand, ist die Zeit aus i h m ausgeronnen. Dadurch entleerte es sich zur Ideologie, es wurde falsch. Es rechtfertigte nur mehr das Vergangene, dem es zu seiner eigenen Zeit zwar auch nie absolut treffende, aber doch angemessene Abstraktionen abgewonnen hatte. Für die Spätscholastik mag eine Entschuldigung noch angehen, da sie immerhin den zwischen Thomas und Scotus aufgebrochenen Graben von Intellektualismus und 57

J. Fuchs, Lex naturae, S. 116. J. Fuchs, Lex naturae, S. 49, S. 87, dagegen K . Rahner, Bemerkungen über das Naturgesetz u n d seine Erkennbarkeit i n Orientierung, 19. Jhrg., Zürich 1955, S. 239 ff. 59 Den V o r w u r f ,essentialistisch' zu sein, muß sich auch H. Schambeck, Der Begriff der N a t u r der Sache, W i e n 1964, gefallen lassen. Die Veränderlichkeit w i r d lediglich i n die Erscheinungsformen hineinverlegt (S. 33), v o m Sosein als Wesen soll die W i r k k r a f t des Seins ausgehen (S. 54), die ontologische Differenz w i r d m i t dem Unterschied von Wesen u n d Dasein gleichgesetzt — das alles zeigt, daß das Sein (ein das Wesen erst ermöglichendes Sein) nicht erreicht ist. O b w o h l Schambeck S. 62/63 meint, das „Wesen i n seiner Entfaltung existenzhaft gefaßt" zu haben, bleibt er i m Bereich eines Essenzdenkens, daß die innere Bewegung des Seins allenfalls nachzeichnen, aber nicht mitvollziehen kann. 58

1 3 6 3 . K a p i t e l : Kritische Konsequenzen der Transzendentalität

Voluntarismus weiterbefestigen zu müssen glaubte. Seit aber das Naturrecht gar nicht mehr als schwierig, als Problem empfunden wurde, sondern vom Ende des 18. auf das 19. Jhdt. zunehmend simpler 6 0 , über das ewige Gesetz Gottes, das i n die menschliche Natur hineingelegt sei, unter einen flachen physizistisch-naturalistischen Begriff von Natur geriet, liegt die Struktur der Ideologie vor: wissenschaftlicher Anspruch, inwendige Aushöhlung der Wahrheit, Füllung mit einem genehmen Inhalt, politische Funktionalisierbarkeit 6 1 . Brauchbar ist an diesem Naturrecht nur, daß es den Begriff, wenn nicht am Leben, so doch erhalten hat: er kann sich wieder regenerieren 62 . b) Wertethik,

Rechtsgefühl

Ungleich ernster und bedeutsamer als von manchen erstarrten Doktrinen des Naturrechts wurde seine Sache i n einer von der materialen Wertethik bestimmten Rechtsphilosophie weiterbetrieben 63 . Aber auch die Phänomenologie landet bei einer Wesensschau, welche die Geschichte und die Länder der Erde hinter sich zu lassen trachtete. Da sie ontologisch nicht zureichend fundiert wurde, konnte sie i n der Höhenluft abstrahierter Wesenserkenntis nicht fortbestehen. Würden die Werte nicht i m idealen Sein, das für sich keinen Bestand bietet, angesiedelt, sondern i n der Realität verwurzelt, so müßte sich über eine historisch-genetische Modifizierung, m i t bescheidenerem Anspruch freilich, Schelers Ethik, als eine A r t von entelechialem Piatonismus sozusagen, halten lassen. Aber i m Fühlen, i n der Emotion, läßt sich kein autonomes und von der Logik unabhängiges, selbständig ethisches Reservat konstituieren, das durch Vorziehen, durch Lieben und Hassen von den Gütern abgelöste Werte erschaut, sowenig, wie sich aus dem 60 Beispiele dafür bei J. T. Arntz, Die Entwicklung des naturrechtlichen Denkens innerhalb des Thomismus, i n F. Böckle (Hrsg.) Das Naturrecht i m Disput, Düsseldorf 1966, S. 87 - 120, S. 115. 61 Z u m Ganzen, m i t Vorsicht, auch A . M. K n o l l , Katholische Kirche u n d scholastisches Naturrecht, W i e n - F r a n k f u r t - Z ü r i c h 1962. 62 Den Versuch, bei einer rationalistischen E t h i k innerhalb der ThomasTradition nicht stehen zu bleiben, macht F. Schmölz, Das Naturgesetz u n d seine dynamische K r a f t , Freiburg/Schweiz 1959. Er bezieht i n das Naturgesetz, das er gemäß Thomas als ordinatio rationis ansetzt, diejenigen Kräfte, v o m Trieb bis zum W i l l e n ein, die als die dynamische Seite der menschlichen Natur gelten. Das Zusammenspiel von Verstand u n d Willen, wie es Thomas sieht, bietet die Möglichkeit dazu. 63 Einen knappen Überblick bietet H. D. Schelauske, Naturrechtsdiskussion i n Deutschland, K ö l n 1968, S. 115 - 130; — Die Haltung der Wertjurisprudenz drückt, i n der Weise des axiologischen Problembewußtseins, J. Esser bündig aus: „ D e m Wissenden ist jeder Rechtsbegriff synonym m i t der Gesamtheit der Wertungen, welche die Jurisprudenz i n i h m verdichtet hat." Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 21964, S. 305.

I I I . K r i t i k der Naturrechtskritik und der Naturrechtsdeduktionen

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Gefühl, wohin es die Nachfahren dann brachten, ein Recht herausholen läßt. Alles Fühlen ist zwar i n gewisser Weise auch Erkenntnis (Scheler spricht von Werterkenntnis) 6 4 und das, was dabei erkannt wird, hat schon Realität. Aber erst i n die Zusammengehörigkeit mit Logik und Ontologie eingeordnet, ontologisch basiert 6 5 und logisch konturiert, bahnt die Wertethik einen Weg zum konkreten Erfahrungsbereich des Sittlichen, der den reinen Formalismus augenfällig widerlegt. Wenn jedoch die Werte i n abstracto i n eine Hierarchie gebracht und als Ziele der Rechtsordnung vorgestellt werden, ist gegenüber dem spätscholastisch verengten Naturrecht nur die Begründung und ein Teil des inhaltlichen Kodex, der nun vollständig das Vokabular der demokratischen Grundbegriffe wiedergibt, ausgewechselt. Die Ideologie hat sich aber, i n gewandelter Form, wieder eingestellt. Zwar sind die behaupteten Evidenzen der Werte restlos subjektiv zuzuspitzen und insofern nicht mehr widerlegbar, es eignet der Begründung daher ein irrationaler Zug, durch den ein bekenntnishafter Ton i n die Wertethik einfließt — bis zur politischen Machbarkeit dessen, was als Wert gelten soll 6 6 , ist aber nicht mehr weit. Damit gerät ein von dort aus begründetes Naturrecht noch schneller unter das Verdikt der „Leerformel", welches Etikett zwar jedem Versuch der Naturrechtsbegründung aufgeklebt werden kann; nur macht es eben einen Unterschied, ob der Vorw u r f sitzt oder nicht. Wenn die Wertethik sich damit begnügt, vorsichtig ein paar Grundwerte zu umschreiben, und i m übrigen das Gewissen des Einzelnen 67 als Transformationsstelle der Konkretisierung betrachtet, w i r d sie dem Vorwurf entgehen, betrügerisch zu sein. Sie bietet dann, wenn auch i n einer die Erklärung für das Wert-sein der Werte unterlassenden Weise, also ohne Ontologie, dennoch eine unverächtliche Grundlegung des Rechts, m i t der wenigstens der Wert, wenn auch nicht die Würde der menschlichen Person fundiert werden kann.

64

M. Scheler, Der Formalismus i n der E t h i k u n d die materiale Wertethik, 54 1954, S. 88, 285, 312. 65 Dazu U. Matz, Rechtsgefühl u n d objektive Werte. E i n Beitrag zur K r i t i k des wertethischen Naturrechts, München 1966. 66 C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte i n : Säkularisation u n d Utopie, Festschrift Fortshoff, Stuttgart 1967, S. 37-62, S. 42: „Entscheidend ist, daß alle Werte, v o m höchsten bis zum niedrigsten, auf dem Wert-Geleise rangieren. Die Stellensetzung u n d Besetzung ist von sekundärer Bedeutung." 67 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 348.

Bern

Viertes Kapitel

Die Funktion und die Tragweite eines transzendental begründeten Naturrechts Erst, wenn die Selbstverständlichkeit zerspringt und die Naivität verloren geht, werden Fragen laut. So ist auch das Naturrecht das Resultat einer Entzweiung, an ihr aufgebrochene Frage, gefolgt vom Versuch, diese Entzweiung zu überwinden. Ohne eine das Recht zerbrechende Untat, ohne die dadurch ermöglichte Verkehrung des siegreichen Unrechts i n ein ,Recht', das nur mehr Maske war, ohne diese anfängliche Verwirrung 1 , wäre nicht nach dem Naturrecht gefragt worden. Die Fragen danach halten sich durch; sie sind nicht verstummt bisher. Ein Hinweis darauf, daß die Fragen vielleicht besser sind als die A n t worten. Von den Antworten hat noch jede, sofern sie als endgültig daherkam, ihre Unzulänglichkeit einräumen müssen. Streng genommen gibt es i n der Naturrechtstradition als Kontinuum nur die Frage nach dem, was recht sei 2 , und ihre Ausfaltungen: Wodurch w i r d das Recht zum Recht? Die Grundfrage schlechthin; i n ihr geht es u m die Rechtsbegründung. Wie scheiden sich Recht und Unrecht? Die Frage, von der Abgrenzung her angegangen. Wie entsteht das Recht? Die Frage nach seiner Genese. Immer neue Schattierungen der einen Frage: Was macht das Recht denn zum Recht? Das Naturrecht, wie verschieden seine Inhalte auch bestimmt werden mögen, es intendiert immer die A n t w o r t auf diese Fragen. Ein transzendentales Naturrecht unterscheidet sich von anderen Konzepten dadurch, daß es mit seinen Antworten der unausrottbaren Frage angemessen bleibt und nie ein-für-allemal ant1 Daß das Naturrechtsproblem als Ausdruck einer Erschütterung verstanden werden muß, darin hat E. Topitsch, Das Problem des Naturrechts (in N a t u r recht oder Rechtspositivismus, ed. Maihofer, Darmstadt 1962, S. 159 - 177, S. 177) gewiß recht. N u r seine Deutung, daß das Naturrecht dieser Erschütterung durch Verdoppelung eigener W e r t - u n d Zielsetzungen begegne, bleibt i n der Ideologiekritik stecken. 2 So auch F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 141. — E m i l Lask, Gesammelte Schriften Bd. I, Tübingen 1923, S. 279: „Das Naturrecht w a r eine Frage nach dem abstrakten Sinn von Recht u n d Gerechtigkeit, u n d dadurch wurde es zu einem w e i t - u n d problemgeschichtlichen Prinzip, dessen unvergleichliche Bedeutung durch keinerlei — wenn auch methodisch unentbehrliche — Berichtigungen getrübt werden kann."

I. Die F u n k t i o n

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wortet. Die Bestimmung dessen, was das Naturrecht ausmacht, kann immer nur als Konkretisierung ins Recht geschehen; d. h. die Frage muß, nachdem sie ihren absoluten Anspruch intendiert hat, auf das hic et nunc, die seitlich-räumlichen Bedingungen (die ihrerseits mehr oder minder abstrakt erfaßt werden können) umgebogen und zurückbezogen werden; diese Bedingtheit geht demgemäß i n die A n t w o r t ein. Die letzte Unendlichkeit, die transzendental immer aufsteigt aus der Natur, muß i n der vorletzten Endlichkeit ihrer Formen sowohl beibehalten wie eingerundet werden. Die Dialektik geformter Unendlichkeit, einer dennoch auf Unendlichkeit geöffneten Fassung gibt das Modell her, die konkrete Verwirklichung macht die Schwierigkeit der Umsetzung dabei aus. Die Verendlichung, i n der die Offenheit und die bestimmte Form der Natur ontologisch vermittelt werden, muß i m Naturrecht, das Recht wird, wiederholt werden. Weil die Gestalten, i n denen das Naturrecht verwirklicht w i r d — und dann ist es schon ins Recht eingegangen — i n concreto vielfältig und verschieden sind, kann eine allgemeingültige Definition des Begriffs, i n der diese Konkretion bereits geleistet wäre, nicht gelingen. Dafür aber ist von der Funktion des Begriffs mit hinreichender Bestimmtheit zu reden. Was das Naturrecht soll und wofür es gut ist, läßt sich weit leichter sagen als das, was das Naturrecht denn nun an sich selber sei.

I. Die Funktion Die Funktion des Naturrechts, die soviel näher liegt als sein Begriff, bringt die unmittelbar praktische Bedeutsamkeit der Naturrechtsproblematik zur Geltung. Wer das Naturrecht zu einem Scheinproblem stempelt, sollte daher wenigstens zugestehen, daß er auf diejenigen Fragen eine A n t w o r t verweigert, die für die Praxis dessen, was den Namen Recht verdient, fundamental wichtig sind. Wo Revolution, Legitimität, Widerstand keine Fragen mehr aufgeben, ist das Recht eine Beute der Macht geworden und jedes Handeln i n neutraler Beliebigkeit paralysiert, ohne noch nach Recht und Unrecht qualifiziert werden zu können. Das Naturrecht hat daher primär einen praktisch-politischen Sinn. Es muß als K r i t e r i u m fungieren, m i t dem die Ordnungen der Menschen rechtlich beurteilt werden können, da, wo diese Ordnungen rechtens zu sein beanspruchen. Daraus, daß ein Maßstab, ein K r i t e r i u m gebraucht wird, entspringt der Antrieb, dieses Kriteriums habhaft zu werden. Und dieses K r i t e r i u m w i r d nur gesucht, um damit kritisch messen zu können, also seiner Funktion wegen. I n seiner funktionalen Hinordnung auf die Ordnungen des Rechts erweist das Naturrecht seine eminente politische Bedeutung, ja seine

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4. K a p i t e l : F u n k t i o n u n d Tragweite

politische Brisanz. Es w i r d nicht ans Licht gehoben, um i n Lehrbüchern abgelagert zu werden, sondern es w i r d als Rechtfertigung oder als K r i t i k dessen, was rechtens da zu sein erklärt, unmittelbar relevant. Die politisch-praktische Funktion des Naturrechts besagt nun aber nicht, daß das Naturrecht eine Funktion der Politik wäre. Das wäre eine Umkehrung des Verhältnisses. Das Naturrecht ist kein Instrument der Politik, sondern die Politik, als das schöpferische, die Geschichte bestimmende Handeln menschlicher Gemeinschaften, empfängt vom Naturrecht ihre Direktiven. Obwohl das Naturrecht i n dieser Weise zu einer Funktion für die Politik w i r d und i n sie eingeht, geht es nicht i n dieser Funktion unter. Es kann gerade deswegen als Funktion dienlich sein und die geforderte Funktion erfüllen, weil es i n sich substantiell ist und i n seiner Funktion nicht verschwindet, weil es einen Begriff hat, der über die Funktion hinaus Stand hält. Nun ist aber vom Begriff des Naturrechts selber nur beschämend vage und ungenau, von der Funktion dagegen m i t Entschiedenheit zu sprechen. Das nährt die Vermutung, das Naturrecht sei lediglich ein heuristischer Begriff, i n den die verschiedenen Einzelfunktionen eingesammelt wurden, die, als Fragen formuliert, dem Recht, wie es vorkommt, kritisch entgegengehalten werden können. Die Behauptung, daß der Begriff substantiell, also nicht nur ein Begriffsderivat sei, nimmt sich da ziemlich fadenscheinig aus. 1. Die Einzelfunktionen

Indes, schon eine Beschreibung der Funktionen des Naturrechts kann aber in den Blick bringen, daß der Begriff des Naturrechts keine bloße Hilfskonstruktion ist, sondern eine substantielle Basis nahelegt. Die Funktionen des transzendentalen Naturrechts sind dabei keine andern als diejenigen, m i t denen das Naturrechtsproblem überhaupt vertraut macht. Es könnte nur sein, daß ein transzendentales Naturrecht diese Funktionen angemessen, d. h. ohne ,wesensnotwendige' Überheblichkeiten i n seinen Weisungen erfüllt. Jedes rechtliche Diktum, ein hochentwickeltes und durchgebildetes rechtliches Ordnungsgefüge als ganzes so gut wie ein aus der Frühzeit der Geschichte stammendes Einzelverbot, muß sich die Frage gefallen lassen, warum es rechtens zu sein beansprucht, was es recht macht. Das Recht muß seine Berechtigung erweisen: diese Frage klingt anstößig, weil sie in Frage stellt. Die A n t w o r t hat daher, ganz unabhängig davon, wie sie inhaltlich aussieht, die Funktion, zu legitimieren: das Recht soll als wirklich rechtens erwiesen werden. Der Zwang, den Grund dafür beibringen zu müssen, warum nun das, was den Namen Recht trägt, auch recht ist, t r i t t unerbittlich auf, aber

I. Die F u n k t i o n

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nicht immer i n derselben Weise. Diese eine fundamentale Funktion der Rechtsbegründung bietet verschiedene Aspekte dar, die von der Lage abhängen, in der sich ein Recht befindet, und auch von der Akzentuierung, unter der diese Funktion jeweils wichtig wird. a) Dirigieren Ehe sie i m Problembewußtsein geschichtserfahrener Epochen reflektiert wird, taucht die Funktion der Rechtsbegründung auf als eine Funktion des Dirigierens. Immer dann, wenn Rechtsordnungen erst geschaffen und Gesetze gegeben werden, ist sie mindestens unbefangen, schon i m Spiel. Irgendetwas, der Nutzen oder die Macht oder die Vernunft, muß den oder die Gesetzgeber leiten. Ohne Orientierung, wie die Funktion des Dirigierens rezeptiv, vom Empfangenden her, zu benennen wäre, läßt sich nicht anfangen. Auch die freie W i l l k ü r ist noch sich selbst botmäßig und w i r d daher vom Wahn des Eigensinns geleitet. Dabei entscheidet das, was dirigiert, über den Rechtscharakter des Rechts. Indispensabel muß diese Funktion ausgeübt werden; es besteht lediglich die Möglichkeit, daß das entstehende Recht von etwas geprägt wird, das es um seine Qualität als Recht bringt. — Anders als i n frühen Epochen ist die Funktion des Dirigierens bei ausgereiften Systemen und Ordnungen nur noch an der Stelle wirksam, i n der Veränderungen und neue Lagen verarbeitet werden müssen, also bei der Legislative. Wenngleich hier die Einpassung ins System die nächstliegende Leitlinie abgibt, ist an gewissen Schwerpunkten vor allem des Verfassungsrechts die Orientierung des Gesetzgebers (rsp. Verfassungsgebers) an bestimmten Vorstellungen klar auszumachen. Dies ist, nebenbei, auch der beste Beweis, daß der Verfahrensmodus einer Legislative nicht nur nicht prinzipiell, sondern nicht einmal faktisch die dirigierende Funktion einer maßgebenden Vorstellung auflöst, wie es von einem formalen Verständnis der Demokratie her behauptet werden kann. Auch wo die gemeinsame Grundüberzeugung i m Gegeneinander der Positionen aufgelöst wird, bleibt es richtig, daß irgendetwas die dirigierende Funktion ausübt: i n diesem Fall eben nur auf den einzelnen, der sich als Mitglied der Legislative entscheidet. Die rechtsbegründende Funktion ist als dirigierende i n ihrem praktischen Sinn und darin wieder vornehmlich nach der objektiven Seite ausgelegt. Den Modellfall stellt die Gesetzgebung dar. I n ihr w i r d mit politischem Gestaltungswillen das Zusammenleben der Menschen generellen Regelungen unterworfen. I n dieser praktischen, verallgemeinernden Tätigkeit w i r k t sich dirigierend das Vorverständnis von Recht aus, m i t dem der Gesetzgeber antritt. A n der Genese des Rechts läßt sich immer wieder verdeutlichen, daß das Recht, wenn anders es überhaupt eine menschliche Schöpfung und nicht

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4. K a p i t e l : F u n k t i o n u n d Tragweite

nur eine Nachbildung ist, jedenfalls nicht aus dem Nichts hervorgezaubert wird. Gesetzgebung, die nicht von etwas anderem außer ihr das Ziel ihres Tuns empfängt, gibt es nicht. I n jeder Form ist ein Prinzip wirksam, von dem sie ihren so oder anders bestimmten Inhalt erhält. b) Limitieren Aus der Funktion des Dirigierens wird, je mehr die objektiven Intentionen und die normale Lage zum Standort des Einzelnen und zur besonderen Situation verschoben werden, allmählich eine Funktion des Limitierens. Damit ist gemeint, daß das Prinzip nun seine Eignung als K r i t e r i u m herauskehrt, m i t dem und von dem her Recht gegen Unrecht geschieden und abgegrenzt werden kann. Die dirigierende Funktion erhält dieses Moment des Limitierens zwar immer auch, sofern sie diese Entscheidung zwischen Recht und Unrecht jeweils impliziert; aber sie hat ihren Akzent doch auf der inneren Ausgestaltung dessen, was Recht ist, sie ist gewissermaßen architektonisch; diese Grenzziehung, die sie auch ist, läßt sich funktional verselbständigt betrachten: eben als Limitieren. I n diese Funktion sind zwei Schwierigkeiten verwickelt, m i t denen jede Rechtsordnung implizit oder explizit zu tun hat und die sie lösen muß. Die erste davon begegnet als die Frage, wieweit das Recht denn reichen darf. Welche Bereiche müssen ausgespart bleiben, oder — mit einer diese Dominanz des Rechts zurückweisenden Formulierung der Frage — wo endet die Herrschaft des Rechts? Hat die Individualität ein Intimum, i n welches das Recht nicht hineinregieren darf? Die zweite Schwierigkeit bildet die nie auf den Einzelfall gemünzte, sondern immer allgemeine Fassung rechtlicher Ge- und Verbote. Sind Normen Faustregeln, die i n bestimmten Fällen einfach nicht passen? Oder können sie zwar prinzipiell, wegen der nicht vorauswißbaren Tatsachen eines bestimmten Falles jedoch nicht gänzlich treffen? Oder ist die Situation ihrerseits prinzipiell, nicht nur der unberücksichtigten Faktoren wegen, nicht mit dem Ge- oder Verbot zu fassen? Ob Naturrecht oder nicht, die Ent-scheidung darüber, was Recht und was Unrecht ist, wo das Recht seine Grenzen hat, muß fallen. Der Einzelne muß handeln, deswegen muß er die Fragen entscheiden, ob das, was als Recht an ihn herantritt, wirklich recht ist, ob und wie es i n seiner Situation hier und jetzt gilt. c) Legitimieren Ist die Funktion des Dirigierens praktisch-objektiv, die des Limitierens praktisch-subjektiv, so wäre die Funktion des Legitimierens als

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theoretisch und politisch zu bezeichnen, wenn unter politisch' das für alle und jeden relevante Nobile der Praxis verstanden wird. Denn i n dieser Funktion sind die beiden andern unterfangen und zunächst theoretisch geworden. Die Legitimationsfrage prüft ja, wie es sich mit dem Recht, das da ist, etwa i n einem Staat insgesamt, verhält. Es geht vorläufig nicht u m die praktische Genese von Recht, sondern u m die Überprüfung jenes Rechts, das seine Genese schon hinter sich gebracht hat. Aber i n der A n t w o r t wendet die Frage ihre Intention und w i r d nun elementar politisch. Eine Rechtsordnung w i r d also nur der einfachen Frage ausgesetzt: Ist dieses Recht auch recht? Diese Frage w i r d immer wieder virulent, zumal i n Zeiten, die mit einem fertigen Recht und daher rechtsschöpferisch mehr oder weniger von der Vergangenheit leben. Die Funktion des Legitimierens besagt dabei, daß jedwede Form von positivem Recht eines andern bedarf, von dem es getragen und i m Recht gehalten wird. Die Rechtfertigung des Rechts als Recht zu erweisen, muß ein legitimierender Grund imstande sein. Wer auf diese Funktion meint verzichten zu können, beweist damit allenfalls, daß er sich das Problem nicht reflex durchsichtig machen mag oder kann, obwohl er auch so bereits implizit eine A n t w o r t auf die Frage gegeben hat. Vielleicht ist am Recht, da es nun einmal zur Juristendomäne geworden ist, i n der Tat sogar ein bißchen unkenntlich geworden, worum es i n dieser Funktion geht. Die nobelste, wichtigste Institution aber des Rechts, der Staat, bringt die Illusion, man könne diese Funktion entbehren, sogleich zum Verschwinden. Denn an dieser unscheinbaren theoretischen Frage ermißt der Einzelne, ob er, i n extremis, reaktionär oder revolutionär zu sein hat. Wer nicht sieht, daß diese Funktion des Legitimierens nötig ist, schließt sich aus der menschlichen Gemeinschaft aus, indem er apolitisch wird, und dadurch bald vielleicht sogar i n der Form des Objekts. Denn die Legitimität des Rechts ist das (Innen)Politikum schlechthin. A n ihr w i r d der Mensch zum Bürger oder zum Hochverräter eines Staates. Denn den Staat kann, wer auf Gerechtigkeit aus ist, nur dann zu seinem Staat machen, wenn der Staat i m Recht ist. Ob er das ist, hängt bekanntlich nicht davon ab, daß er es behauptet. Der Rechtsbegründung ist nicht auszuweichen, weil jedes vorfindliche Recht das Prinzip, von dem sein Inhalt dirigiert wird, das Kriterium, nach dem die Grenze limitiert wird, und das Fundament, von dem sein Dasein legitimiert wird, abgeben können muß. Ist aber damit, daß es so gut wie unmöglich ist, diese einzelnen Funktionen nicht i n jedem Rechtsgefüge am Werk zu wissen, schon erwiesen, daß es von diesen Funktionen einen Rekurs auf einen substantiellen Begriff geben darf?

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4. K a p i t e l : F u n k t i o n u n d Tragweite 2. Das Verhältnis von Begriff und Funktion

Um von der Funktion rücksteigend einen Weg zum Begriff des Naturrechts zu bahnen, h i l f t es, einen Blick auf das Verhältnis und den Zusammenhang von Begriff und Funktion i m allgemeinen zu tun. a) Funktional

und nicht-funktional

Eine Funktion gibt, i m Gegensatz zum Begriff, immer einen Verwendungszweck an; sie nennt, wozu etwas gebraucht werden kann. Das Haus ζ. B. läßt sich funktional soweit bestimmen, daß sein Begriff hintangehalten oder vermieden werden kann: etwas, w o r i n man sich aufhalten und schlafen, also wohnen kann; das vor Regen, Sonne, Wind und auch vor der Zudringlichkeit anderer Menschen schützt. Die Funktion rückt dabei i n einer nicht leicht unterscheidbaren Weise m i t dem Telos, dem Zweck, zusammen. Funktion bedeutet auf einen Zweck bezogen sein, die Brauchbarkeit und Dienlichkeit zu . . . Das, was gebraucht wird, ist daher auch das Instrument, das M i t t e l für etwas; ,funktional' und ,instrumental' sind fast auszuwechseln. ,Dem Zweck entsprechen' wäre eine Umschreibung für Funktion. Hat der Begriff, lautet nun die Frage, ganz und gar einen funktionalen Sinn? Schaut man auf die Begriffsbildung, so spricht einiges für eine solche Hypothese. Denn Begriffsbildungen nehmen ihren Ausgang davon, daß ein ,wofür', zunächst und zuletzt eine Beziehung zum Menschen, hergestellt werden soll. Das ,an-sich' interessiert den Menschen nicht zuerst, und wenn es i h n interessiert, dann ist dieses ,an-sich' auf einer nächsten Stufe wieder i n einem ,für', einem ,für mich' vermittelt. Funktionslos sind Begriffe nie, denn sie haben immer mindestens die Funktion, die Welt zu erschließen. Zu einer Funktion des Wissens läßt sich jeder Begriff machen. Aber sind Begriffe deswegen auch Abbreviaturen von Funktionen, so wie das Haus als ein Kürzel für ,wohnen, geschützt sein' aufgefaßt werden kann? Zwar läßt sich jeder Begriff funktionalisieren, einem Zweck zu- oder unterordnen. Denn er hat ein Telos, ein angewiesenes oder inwendiges, das darin besteht, für etwas gut zu sein, und diese Funktion gibt den Geburtshelfer bei der Begriffsbildung ab. Daß die Funktion den Begriff jedoch ausmache, dies ist keine sinnvolle A n nahme. Denn einmal ist auch jede beliebige Funktion selbst nur deswegen wißbar, weil es einen Begriff von ihr gibt, man mag Begriffe noch so sehr i n ihre Funktionen auflösen: auch diese Funktionen werden sprachlich artikuliert und darin gewinnen sie einen gewissen Selbstand. Zum andern gibt es Begriffe, die i n ihrer Funktion nicht aufgehen dürfen. Ob und wie weit Begriffe i n ihrer Funktion aufgehen,

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hängt schlichtweg von der Sache ab, die sie bezeichnen. Ist die Sache nichts als ein Mittel, dann hat auch der Begriff nur einen funktionalen Sinn; alles technische Zeug gehört hier her, vom Tisch bis zum Zyklotron. Aber die Technik ist lateinisch die ars, und mit dieser Übersetzung w i r d bereits bei ihr die mögliche Steigerung über ihren Zweck hinaus sichtbar. Die artes liberales, Kunst und Wissenschaft, die, wie es artig heißt, um ihrer selbst willen da sind, verlangen ästhetische Kategorien, sie sind nicht mehr (nur) funktional zu verrechnen. Wer alle Begriffe funktionalisiert, funktionalisiert zuletzt auch den des Menschen; das aber ist potentiell schon der Dammbruch zum Mord: nur ein nichtfunktionalisiertes, selbständiges Naturrecht befähigt zum Widerstand dagegen. b) Theorie und Praxis Damit das Mißverständnis unterbunden wird, der Funktion sei, wo immer sie auftaucht, um des Menschen willen zu widerstreben, während es nur darum geht, die Funktion nicht einseitig total werden zu lassen, sind Begriff und Funktion i n den gegensätzlichen Zusammenhang von Theorie und Praxis einzubeziehen. Man sieht sofort, wie die Paare zusammengehören: die Funktion ist praktisch und der Begriff theoretisch. Da Theorie und Praxis nicht nur kein Widerspruch sind, sondern i n einem inneren Ergänzungsverhältnis zueinander stehen, kann auch die Funktion den substantiellen Begriff nicht ausschließen, und umgekehrt. Die Praxis ist die Vollzugsform der Wirklichkeit, die Theorie die Wahrheit dieser Wirklichkeit. Noch i n der Wahrheit des Erkennens läßt sich die gleiche Struktur einer zielgerichteten Bewegung aufweisen wie i n der Realität des Handelns, denn Theorie und Praxis sind nichts anderes als die rhythmisch verschiedenen Akzentuierungen der Wirklichkeit des Menschen. (Die höhere Einheit davon ist übrigens die poiesis, die Poesie.) Der Begriff gehört zu den Bausteinen der Theorie, da sich aus ihm die Urteile zusammensetzen, i n denen die vom Verstandesvermögen am Gegenstand vorgenommenen begrifflichen Unterscheidungen wieder synthetisiert werden. Die Funktion steht i n Parallele zur Praxis und bedeutet allgemein das Vollbringen einer Tätigkeit, wobei es nicht mehr auf ein Subjekt qua Mensch, sondern nur mehr auf ein Subjekt qua grammatische Bestimmung (Satzgegenstand) ankommt; folgerichtig w i r d i n der Logistik Funktion sogar mit Prädikat (dem ,Tätigkeitswort 4 eines Satzes) synonym verwendet. Die Praxis, als Handeln, ist die menschliche Form von Funktion, i n der jede A r t zielgerichteter Erfüllung eines Zweckes, von Dienlichkeit zu . . . , erfaßt ist. Wenn also Begriff und Funktion miteinander verbunden werden, so w i r d nicht erst miteinander verknüpft, was nicht zusammengehört. Es 10 Zacher

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4. K a p i t e l : F u n k t i o n u n d Tragweite

handelt sich bei der Verbindung lediglich um ein Stück praktischer Vernunft, und praktische Vernunft ist wiederum nichts anderes als das Praktischwerden der Vernunft. Das muß Vernunft nicht nur, wenn sie glaubwürdig sein w i l l , sondern das kann sie auch, weil sie als theoretische i n ihrem Vollzug schon handelnd und deswegen zur Praxis vermögend ist. Der praktische Begriff depraviert den Begriff nicht, und die begriffene Praxis ist die einzig vernünftige; so ist auch der funktionale Begriff nicht die Auflösung des Begriffes i n eine Funktion, sondern der Begriff i n Funktion. c) Funktion:

Begriff

in seiner Wirkung

Das Verhältnis von Funktion und Begriff kann deswegen so formuliert werden: die Funktion ist der Begriff i n seiner Wirkung. Daraus ist zu ersehen, daß der Begriff aus seiner Wirkung herauszuarbeiten und festzustellen sein muß. Freilich heißt das nicht, daß er ein anderes als seine Wirkung sei, aber es heißt, daß der Begriff Substanz haben muß, weil die Funktion nicht sich selbst trägt, sondern die Funktion von etwas ist. Sogar i n der mathematischen Fassung t r i t t die Funktion als Funktion von einer Variablen, y = f(x) auf. Der nur funktionale Begriff ist lediglich die begrifflich noch einmal isolierte und insofern wiederum selbständig erfaßte Funktion. Aber so wie man mit einem Tätigkeitswort allein keinen Satz bilden kann, so wenig kann man mit einer Funktion allein etwas bewirken, weil die Funktion abhängig und i n sich nur Vermittlung ist. Für das Naturrecht bedeutet dies alles, daß es nicht Funktion ist, sondern eine Funktion hat. Naturrecht muß daher ein substantieller Begriff sein, auch wenn er ganz um seiner Funktion willen und nicht ohne sie da ist. Der Begriff ist gerade wegen seiner Substanz zu einer Funktion fähig. Wäre es anders, so wäre er nur die begrifflich abgehobene Funktion, also der Begriff von einer Funktion, er wäre ein Teil aus einer Funktionseinheit und müßte noch, i m mathematischen Beispiel, seine Variable, von der er abhängt, beibringen. d) Postulat eines substantiellen Naturrechtsbegriffs Zwingend ist es jedoch nicht, i n einem strengen Sinn, daß von der Funktion der Rechtsbegründung, wie sie i m Dirigieren, Limitieren und Legitimieren faßbar wird, auf einen substantiellen Begriff von Naturrecht zurückgeschlossen wird. Logisch zwingend ist nur, daß es dann, wenn die Funktion zugegeben wird, eine Größe geben muß, deren Funktion die eingeräumte Funktion eben ist. A n diese Stelle kann man-

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ches treten, und diese Größe läßt sich ihrerseits wieder zur Funktion einer anderen machen. Dabei muß es gar keinen regressus i n infinitum geben, sondern man kann einen (kybernetischen) Kreis schließen, dessen Modell so aussehen mag: Das Recht ist eine Funktion von Politik; eine Funktion des Rechts sind die sozialen Zustände, als Funktion der sozialen Zustände ergibt sich die Stimmung der Bevölkerung, die ihrerseits die Politik zur Funktion hat. Logisch ist dagegen nichts einzuwenden, der Kreislauf funktioniert. Aber, was dabei herauskommt — das müßte nun ehrlicherweise auch eingeräumt werden — ist ein Kalkül, ein Spiel, das aus sich selbst seinen Inhalt nicht bestimmen kann, wenn nicht wenigstens ein Moment der vielen i n sich zu bestimmen ist. Daß ein Kreis und ein Spiel entsteht, ist nicht ärgerlich — es muß sogar diesen zyklischen Einfluß geben, (und auch das transzendentale Naturrecht bleibt i m allerdings unendlichen Kreis des hermeneutischen Z i r kels angesiedelt) — aber daß i n diesem Kreis keine innere Verortung möglich sein sollte, das bereitet Verdruß. Wenn auch der Rückschluß von der Funktion auf den substantiellen Naturrechtsbegriff nicht zwingend ist, so läßt sich doch unwiderlegbar behaupten: der Funktionskreis ist nicht i n der Lage, dem Rechtsproblem einen Halt zu geben; wenn i n i h m überhaupt inhaltlich geredet wird, so sind das auch schon Axiome, die weiter nicht zurückgeführt werden und daher bestenfalls pragmatisch zu akzeptieren sind, oder es sind Deutungen, die variabel bleiben. Weiterhin läßt sich behaupten, daß es keinen Sinn hat, die Funktion der Rechtsbegründung anzuerkennen, den substantiellen Begriff von Naturrecht abzuweisen, und sodann den aufsummierten Funktionen noch den Namen Naturrecht beizulegen. Schließlich: Es ist möglich und sinnvoll, zu einem substantiellen Naturrechtsbegriff durchzustoßen, weil darin nichts Ungereimtes liegt und weil dieser Begriff eine Lösung des Rechtsproblems, wenn gleich ohne alle perfektionistische Vollständigkeit und nur i m Ansatz, bietet. Würde unter Postulat nicht sofort eine schwächliche, theoretisch absolut unerweisbare Hypothese verstanden, die als eine A r t Lebenshilfe herzuhalten hat, so könnte freimütig zugegeben werden, daß das Naturrecht postulierend gewonnen wird. Postulat müßte aber dann den umgänglichen Sinn haben, daß auf Fragen eine A n t w o r t gefordert ist; diese Antwort läßt sich als möglich erweisen, ihre Wirklichkeit aber w i r d gefordert, damit nicht die Frage ungelöst bleibt. Und so fällt zu einem Problem ein zustimmendes Urteil 3 , dessen theoretische Wider3

Vielleicht läßt eine Rückverbindung dessen, was K a n t die skeptische Methode nennt ( K r i t i k der reinen Vernunft, Β 452, 454), u n d i n der die A n t i n o m i e n der transzendentalen D i a l e k t i k ausgehalten werden müssen, m i t dem P r i m a t der praktischen V e r n u n f t einen Begriff von Postulat zu, der sich theoretisch auf der Höhe der Widerspruchsfreiheit halten u n d praktisch doch 10*

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spruchsfreiheit den Mut zur Zustimmung von einer irrationalen Waghalsigkeit unterscheidet. Die Aporie des Naturrechts besteht dabei darin, daß von der Funktion der Rechtsbegründung, und hier kann man parallel dazu auch sagen: von der Frage nach dem, was das Recht rechtfertigt, nicht zwingend zum Naturrecht, zu einer bestimmten A n t wort, weiterzugehen ist. Beweisbar ist da, wo der Grund der Frage als Voraussetzung i n Rede steht, nichts mehr. Aporetisch in dem Sinn, daß es überhaupt keine Möglichkeit zum Weitergehen gäbe, endet jedoch das Fragen nicht notwendig. U m i m B i l d zu bleiben: nicht das Land und die Gangmöglichkeit hört auf, sondern der gebahnte Weg. Ein substantieller Begriff von Naturrecht ist erreichbar. Einem Verächter des Naturrechts ist er nicht zu demonstrieren, weil dabei auch sein Freund sich nicht an die Geländer des Beweises halten kann. Dieses Naturrecht ist jedoch, obwohl es dazu gemacht wurde, alles andere als ein Fertigfabrikat von Normen, das überall und jederzeit nur hingestellt werden müßte. Denn die Substanz des Naturrechts ist nicht ein Wesen, das ein- für allemal gültig abstrahiert werden kann, sie ist ein Selbständig-sein, das immer neu Wesensformen annimmt, weil das Sein selbst i n i h m Wirklichkeit hervortreibt. Die Substanz macht daher, statt das Wesen, die Transzendentalität des Naturrechts sichtbar. II. Die Tragweite Wäre das Naturrecht eine abgegrenzte und bestimmte Sache, die einfach so vorliegt und von der man nur abschreiben muß, u m richtiges Recht zu erhalten, so wäre das Recht eine flache, lächerliche Kopie; außerdem könnte ein so konzipiertes Naturrecht gar keinen Unterschied mehr zum Recht aufweisen, weil das Recht als Kopie schon zuviel der Selbständigkeit erhielte. Recht wäre ein-die-Linien-desNaturrechts-noch einmal mit dickem Strich-Nachfahren, eine ärgerliche Verhunzung des Bildes. Eine solche essentialistische Auffassung von Naturrecht verfehlt die angemessenen Begriffe des Naturrechts und des Rechts zusammen. Das Naturrecht ist noch kein volles Recht, und das Recht ist nicht bloß Naturrecht — diese Spannung darf nicht zusammenfallen und auch nicht zerrissen werden. Untrennbare Einheit muß zwischen beiden walten, aber keine Identität, sondern Verschiedenheit, mit einem Wort: Analogie. auf die Seite einer spekulativ lösenden, lebendig bewährten A n t w o r t stellen darf. Kants Begriff des Postulats, K r i t i k der praktischen Vernunft A. 220 (ed. Weischedel, S. 252) wäre dann so umzuformen: Unter einem Postulat kann ein Satz verstanden werden, der theoretisch als widerspruchsfrei zu erweisen u n d sowohl die Bedingung einer vernünftigen Praxis wie i n i h r praktisch zu bewähren ist.

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1. Naturrecht als Seinsrecht

Auf die Frage: Was ist das — das Naturrecht? müßte man vielleicht einmal, damit nicht immer wieder sofort alles auf das falsche Gleis der Wesensfrage gerät, antworten: Seinsrecht 4 . Was das Naturrecht ist, seiner Washeit nach, läßt sich nämlich nicht sagen. Wo darauf eine A n t w o r t fällt, ist immer schon vom Recht die Rede, denn die Wesenheit, die Form und Bestimmtheit, i. e. die Begrenzung, w i r d vom Menschen, wie er da ist, mitbestimmt und mitentschieden. Naturrecht heißt, daß der Mensch, wenn er bestimmt, was Recht ist, sich an der Natur zu orientieren hat. Natur: das sind Menschen und Dinge, Personen und Sachen (und von den Dingen nur die, die der Mensch nicht selbst fabriziert hat). Nun kann der Mensch zwar an den Dingen ihre Formen, ihr ,Wesen4 ablesen; aber wenn er nur lange genug hinschaut, ohne viel Absicht und staunend, dann sieht er, daß das Wesen daran gar nicht das Wesentliche ist. Das Wesen entschränkt sich, die Dinge zeigen, daß sie abgründig, abyssal sind, eben weil sie sind. Die Menschen dagegen, sie erweisen sich, über alles Wesen hinaus, als dieser abgründigen Unendlichkeit des Seins auch noch aktiv vermögend. Sie sind frei, und darin vor allem frei 5 , sich zu überschreiten: transzendental. Dieser Grundzug, er einzig und allein, ist aus der Natur zu entnehmen. Das Naturrecht, wenn denn schon einmal der Versuch der einfachen A n t w o r t unternommen sein soll, ist dann nichts als eine Grundregel, die sich aus der Natur ergibt: Diesem Grundzug der Transzendenz soll entsprochen werden 6 . Hält sich das Recht 4 Das hat René Marcie auch schon vorgeschlagen, i n : U m eine G r u n d legung des Rechts, Die ontologische Begründung des Rechts, ed. A r t h u r K a u f mann, Darmstadt 1965, S. 550/560 und: Politische Ordnung u n d menschliche Existenz, Festschrift E. Voegelin, München 1962, S. 362. 6 M i t einer Konzentration, die ihresgleichen sucht, hat M a x M ü l l e r i n einem kurzen L e x i k o n a r t i k e l (Staatslexikon der Görresgesellschaft, 6. Aufl. Bd. V (1960) Sp. 929 ff. u n d i n : Die ontologische Begründung des Rechts, S. 461 - 469) alle Natur des Menschen i n die W i r k l i c h k e i t seiner Freiheit versammelt. E i n geschichtlich konkret-reales Naturrecht, dessen Kennzeichen die Unbeliebigkeit ist, läßt sich dabei i m Zusammenwirken der endlichen Freiheit der u r sprünglich immer gemeinschaftlich u n d allein lebenden Menschen entfalten. Nach dem Grad der Wirklichkeit, den die Freiheit h i n auf Person zustande bringt, haben Rechte u n d Pflichten sowohl geschichtlich wie auch i n der Gleichzeitigkeit die Möglichkeiten einer verschiedenen, unbeliebigen Stufung. 6 Es ist überraschend, daß P. Lorenzen, Normative logic and ethics, M a n n heim 1969, von ganz anderen Voraussetzungen aus u n d m i t den Methoden der operativen Logik dazu kommt, als eine seiner beiden Super-normen oder Prinzipien (neben dem „ c u l t u r a l principle") folgendes zu formulieren: „ I t may be helpful to have a t e r m which fits i n w i t h our philosophical traditions: so I propose . . . to call the required overcoming of subjectivity ,transcendence of subjectivity' — or ,trans-subjectivity', for short. This is still subjectivity, but a subjectivity which is aware of its o w n l i m i t s — and tries to overcome them" (S. 82).

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4. K a p i t e l : F u n k t i o n u n d Tragweite

i n diesem G r u n d z u g , d a n n a k t u a l i s i e r t es i h n u n d e n t s p r i c h t i h m , d a n n ist es recht. a) „all-einiger"

Imperativ

W e i l m i t dieser G r u n d r e g e l d e r D u r c h b r u c h i n d i e U n e n d l i c h k e i t selbst t h e m a t i s c h w i r d , ist sie z e i t - u n d o r t s ü b e r s t e i g e n d . Sie, aber n u r sie a l l e i n , m u ß r e a l i s i e r t sein, w o Recht Recht z u sein b e a n s p r u c h t u n d , sei es als N o r m oder i n concreto, v e r w i r k l i c h t w e r d e n soll. „ E n t s p r i c h t d e m G r u n d z u g d e r T r a n s z e n d e n z ! " Das ist d e r , a l l - e i n i g e ' I m p e r a t i v 7 , das Sesam-öffne-dich, nach d e m sich d e r Mensch i n j e d e r S i t u a t i o n , sei er d a b e i Gesetzgeber oder v o n N o r m e n l ä n g s t n i c h t m e h r e r r e i c h b a r e r E i n z e l n e r , z u r i c h t e n h a t . Das a l l e i n v e r d i e n t d e n N a m e n Naturrecht. D e r Satz „ D u sollst n i c h t t ö t e n ! " dagegen ist n i c h t e i n Satz des Naturrechts — u n d weiter unten, bei der Verkehrsvorschrift k o m m t d a n n das Recht! — s o n d e r n er ist e i n Rechssatz, d e r sich so u n g e f ä h r ü b e r a l l u n d j e d e r z e i t u n t e r Menschen f i n d e t , w e i l er d i e e l e m e n t a r e R e s p e k t i e r u n g d e r Transzendenz des Menschen ausmacht. Das N a t u r recht e n t h ä l t k e i n e i n h a l t l i c h e n N o r m e n , w e i l es noch k e i n Recht ist, es ist eine r e i n e Regel. Das h e i ß t n u n aber n i c h t , daß es f o r m a l w ä r e . Es ist n i c h t f o r m a l , s o n d e r n es ist w i r k l i c h 8 . A l s dieses W i r k l i c h e ist es 7

,Grundnorm' k a n n man durchaus dazu sagen. Aber dann wäre es die onto-logische Grundnorm, denn sie a r t i k u l i e r t den Sinn des Seienden. Das Sollen ist dabei eine Bejahung des Seins: So ist es, re vera, und also soll es so sein. — 8 Der Unterschied zum schlechthin allgemeinen, aber formalen Imperativ k a n n i m Vergleich zu Kants kategorischem Imperativ k l a r werden. W. M a i hofer, der den kategorischen Imperativ zusammen m i t der goldenen Regel „die beiden Grundregeln aller Sozialethik" nennt (er hat sie genau analysiert u n d zu den tragenden A x i o m e n seiner Rechtsontologie gemacht, vgl. Rechtsstaat u n d menschliche Würde, F r a n k f u r t 1968, S. 64, 70, 131 f., V o m Sein menschlicher Ordnung, F r a n k f u r t 1956, S. 17, 86 u n d passim), hat gezeigt, daß K a n t i n seiner E t h i k den Menschen auffordert, nicht beim formalen Gebrauch seiner Vernunft stehen zu bleiben, sondern sich „die V e r w i r k l i c h u n g eines höchsten Werkes u n d letzten Zwecks vorzusetzen hat: den Menschen selbst" (Rechtsstaat, S. 70). Hier bietet sich, i m I m p e r a t i v der Humanität, ein erster Ansatz, die formale Inter Subjektivität des kategorischen Imperativs „ i m Horizont der A l l seitigkeit (wie d u selbst, so alle andern!)" (aa. S. 131) zu übersteigen. Maihof er interpretiert das i n Richtung auf materiale Ethik. Aber die Zusammenschließung aller Menschen i n der Verpflichtung auf den I m p e r a t i v der H u m a n i t ä t liegt der Unterscheidung von formal u n d material voraus. Statt dessen ziehe ich es vor ,überkonkret' zu sagen: es g i l t für alle Menschen, braucht aber i m Einzelfall nicht erst konkretisiert zu werden, w e i l die Orientierung bereits am konkreten Menschen geschehen ist u n d dorthin zurücklenkt. Der a l l einige' Imperativ, wie er oben vorgeschlagen w i r d , ist n u n n u r der Versuch, diesem konkreten Menschen auch die Ehre zu geben, deren er w ü r d i g ist: keine materialistische Verschließung zuzulassen, weil, gemäß dem W o r t Pascals, der Mensch den Menschen unendlich übersteigt (Pensées Nr. 438).

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I I . Die Tragweite

auch nicht allgemein, sondern überkonkret; es ist lautere Gerechtigkeitsanweisung, aber noch nicht gemeinschaftlich i n Kraft gesetzt. Nur dies sagt die Natur: Achte den Grundzug der Transzendenz, denn i n i h m haben Menschen und Dinge ihre einige Natürlichkeit. Man mag das Naturrecht nennen, wenn man sich nur darüber i m klaren ist, daß darin nicht schon das Recht als entfaltetes, sondern dessen Prinzip zum Ausdruck kommt. Wie das Naturrecht i. S. von Seinsrecht zum Recht sich aktualisiert, versteht man vielleicht besser i n einem Bild. Das Naturrecht gleicht einem unendlichen Wasser, das i n der Umsetzung seines Aggregatszustandes zunächst schwebend zu Wolken w i r d und dann i n einer neuerlichen Aggregatsveränderung i n die vielfältigen Formen übergeht, i n denen es, als stehendes oder fließendes Wasser gefaßt, vorkommt. Und es ist auch wie die wärmende Kraft des Sonnenlichts, die i n der Flora der Erde umgesetzt w i r d und ihr erst die Energie gibt, alle ihre Gestalten entfaltend hervorzutreiben. Diese beiden Vergleiche müssen gewissermaßen miteinandergemischt und i n eines genommen werden, damit heraustritt, wie das Recht durch das Naturrecht erwirkt w i r d und an i h m teilhat, wie das Naturrecht das Recht begabt. b) Naturrecht

unterschieden von natürlichem

Recht

aa) natürlich und selbstverständlich I m Naturrecht ist das Recht als ein noch erst rein wirkliches und allförmiges da. Erst als Recht ist es verwirklicht und geformt, aber auch endlich. Das Recht jedoch ist schon eine A n t w o r t des Menschen, und von i h m vermittelt. Recht, von dem man sagen kann es ist so oder so, es gilt dies oder jenes, das ist immer schon menschlich geprägt, also auch Kultur. Als geübtes oder vorgeschriebenes Recht, präzis: als ausgesprochenes Recht (die Schrift ist ja nur ein Festhalten des flatus vocis) ist es immer schon Kulturrecht; von Naturrecht zu sprechen, wo die fundamentalen Sätze des Rechts aufgeführt werden, ist mindestens eine Ungeschicklichkeit, weil es von da auf eine falsche Fährte geht. Das physei dikaion des Aristoteles ist in einem bestimmten Sinn genauso nomo dikaion wie das nomo dikaion selbst, nur ist der Nomos beim physei dikaion so elementar einfach und nicht kontrovers 9 , daß ihn sich 9 Es ist unerläßlich, zur Interpretation v o n Nikom. Eth. 1134 b 1 8 - 3 5 a 8 auf die Polis u n d ihren Rang zu achten, den sie i n der praktischen Philosophie des Aristoteles hat. Dann ist es nicht mehr möglich, m i t einem abstrakten Naturrecht bei Aristoteles anzusetzen. Vgl. dazu E. Voegelin, Das Recht von Natur i n Anamnesis, München 1966, S. 117 - 133, bes. S. 121 („das Recht der Polis, i h r nomos, sofern darunter die Rechtsordnung der Freien u n d Gleichen

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4. K a p i t e l : F u n k t i o n u n d Tragweite

die Menschen, jeder selbst, geben können. Was Aristoteles meinen könnte, ist ein natürliches Recht, i m Sinne von: ,das versteht sich von selbst, es ist selbstverständlich 4 . Wenn man natürliches Recht dazu sagt, ist sofort klar, daß es sich u m (verwirklichtes, geformtes, also vom Menschen aus-gesatztes) Recht handelt. Dieses natürliche Recht ist zwar das erste und gewichtigste Recht überhaupt, es ist das Resultat des Naturrechts, aber es ist weder, i n einem gleich genauer anzugebenden Sinn, immer und überall gültig, weil es Bestimmtheit, d. h. aber Begrenzung, i n sich aufgenommen hat; noch ist es natürlich', weil es seine Selbstverständlichkeit erst gewinnen muß. A m Tötungsverbot als einem Rechtssatz des natürlichen Rechts kann der Unterschied zum Naturrecht gezeigt werden. Natürlich qua selbstverständlich ist es keineswegs, daß der Mensch den Menschen nicht umbringt, wie es i h m gefällt. Der Kannibalismus ist ein Factum, dessen prähistorisches Ärgernis sogar noch gleichzeitig zur beginnenden one world steht. Daß es für Kannibalen natürlich ist, einander aufzufressen, beweist die mangelnde Allgemeingültigkeit solchen ,Naturrechts' und es verhindert globale Selbstsicherheit, so, als wäre nicht immer wieder ein Rückfall von der einen Natürlichkeit' i n die andere zu befürchten. Wer den Fortschritt preist, weil die Menschheit nur partiell an dieser »Natürlichkeit' hängengeblieben ist, sollte sehen, daß sich nicht nur eine Verdüsterung lichten, sondern daß sich auch das Licht wieder verdüstern kann. Diese A r t natürliches' Recht ist nicht von der Geschichte affiziert; wenn Naturrecht von der ,Natürlichkeit' aus verstanden würde, wäre es ganz und gar nur ein Ergebnis der Geschichte, so wie die Sklaverei durchaus ,natürlich' empfunden werden kann. Naturrecht ist auf dieser Basis nicht mehr zu orten, es rauscht als Geschichte dahin, und hört auf, die Geschichte zu qualifizieren. bb) Das Tötungsverbot und seine sog. „Ausnahmen" Zu dieser Durchbrechung des natürlichen' Rechts t r i t t bedeutsamer jene andere: Das Tötungsverbot leidet „Ausnahmen". Wäre es Naturrecht, so dürfte dies nicht sein, denn vom Naturrecht muß doch wohl unnachsichtig eine strenge Allgemeingültigkeit zu prädizieren sein, die m i t „Ausnahmen" aufräumt. Wenn das bewußte und willentliche Töten aber i n bestimmten Fällen recht sein kann, ist das Tötungsverbot durchzu verstehen ist, (ist) selbst physei dikaion"), S. 123. Daß die E t h i k des Aristoteles i n seiner P o l i t i k terminiert, weist J. Ritter nach, P o l i t i k u n d E t h i k i n der praktischen Philosophie des Aristoteles, Phil. Jahrbuch 74. Jhrg., München 1967, S. 235 - 253.

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brochen, seine naturrechtliche Geltung i n Zweifel gezogen. Eine Erklärung dafür läßt sich nur finden, wenn die Form i n Betracht gezogen wird, unter der Recht hierbei vorkommt, nämlich als Norm, als Gesetz. Gesetze greifen, nicht wegen des Sollens, das sie aussprechen (das tun sie ohnehin nur implizit, seit sie i m Indikativ gefaßt sind, der Tatbestand und Rechtsfolge verklammert), sondern wegen ihrer Allgemeinheit notwendig zu kurz, sie können nicht die Besonderheit jeder Situation vollständig ausschöpfen. Deswegen bleiben sie i n ihre A b straktheit eingegrenzt. Die Redeweise von der ,Ausnahme' ist daher so falsch wie möglich, denn sie leistet der Vorstellung Vorschub, als sei die Wirklichkeit ein logischer Fall, dem subsumierend beizukommen ist, und nicht viel reichhaltiger denn der von der Norm abstrakt erfaßte Teil. Die Norm ist beschränkt, weil sie die Konkretion einer anomalen Situation nicht erreichen kann. Der Normalfall, auf den die Norm geht, macht nur deutlich, daß die Wirklichkeit sich solcher Normierung nicht ganz entzieht, nicht aber, daß sie von ihr ganz eingeholt wird. Auch die i n die Normfassung einbezogene Einschränkung macht die Norm lediglich scheinbar zu einer allgemein- und immergültigen. Eine Norm nach der A r t : „Das Töten von Menschen ist verboten ( = w i r d m i t . . . usw. bestraft), wenn nicht der Fall der Notwehr vorliegt" spricht nur die partielle Gültigkeit des Verbots zusammen mit seiner komplementären Negation aus. Wenn aber das Töten dann rechtens ist, wo ein ungerechtes Tötenwollen abgewehrt wird, so folgt, ginge es nur nach den Gesetzen der Logik zu, daß das Töten einmal recht und einmal unrecht sein kann. Zwar ist es i n der Tat so, jedoch hängen Recht und Unrecht des Tötens nicht unentscheidbar i n der Waage des Widerspruchs, sondern sie hängen von der Entsprechung zum Naturrecht ab. Also erführe das Tötungsverbot, würde es zum Naturrecht ernannt, zuviel der Ehre, da es selbst der Rechtfertigung bedarf. Es ist natürliches Recht, m i t h i n begrenzt durch die Grenzen, i n denen es gefaßt ist. Für die Norm, die ja einen generellen Zuschnitt hat, bedeutet das, daß sie dann, wenn sie gerecht ist, auch gerecht bleibt. Das Tötungsverbot ist und bleibt Recht, weil es dem Naturrecht entspricht; es könnte nie, als allgemeine Norm heißen: „ D u sollst töten!" Wohl aber gibt es den konkret individuellen Befehl: „Du, jetzt töte!" und der kann auch recht sein, wenn er gerechtfertigt ist. Die Notwehr als eine Durchbrechung der oder Ausnahme von der Norm aufzufassen, verrät einen zugleich rationalistischen und positivistischen- aber gerechtigkeitsindifferenten Systemdrang, wie er ζ. B. in der Strafrechtsdogmatik i m Begriff der Normwidrigkeit manifest wird. I n Wirklichkeit liegt der Fall der Notwehr jenseits dessen, wofür die Norm hinreicht und Geltung beanspruchen darf. Von der Notwehr w i r d die Norm des Tötungsverbotes keinesfalls außer Kraft gesetzt, so wie das Tötungsverbot auch

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nicht die Notwehr verbietet. Die Rechtheit des Tötungsverbotes hat generell Recht, die der Notwehr i n einer Konfliktsituation, bei der von einer Seite das Verbot schon mißachtet worden ist. Indes, in der Notwehr (wie übrigens auch i n ihren zwei gemeinschaftlichen Spielformen, der äußeren des gerechten Krieges und der inneren der gerechten Revolution) kollidiert das Recht, sich zur Wehr setzend, mit dem Unrecht, und daher ist vielleicht die Todesstrafe, als die andere „Ausnahme" vom Tötungsverbot das geeignetere Beispiel, auseinanderzusetzen, inwiefern das Tötungsverbot kein Naturrecht, sondern natürliches Recht, und wie es als solches nur generell richtig ist. Recht ist immer und nur da, wo Naturrecht verwirklicht w i r d — das ist ein Hauptsatz — und da die Wirklichkeit das ist, was geschieht, so ist das, was geschieht oder unterbleibt, Recht oder Unrecht, m. a. W. menschliche Handlungen i n concreto sind recht oder unrecht 10 , und alles andere, wie Normen, Ordnungen und Institutionen sind in einem abgeleiteten Verstände auch recht oder unrecht. Das Recht ist primär eine Qualität des menschlichen Verhaltens, darin müssen alle Bedeutungsabschattungen und -Übertragungen des Begriffes ihren Herkunfts- und Bezugsort haben. Das Tötungsverbot ist nun eine Abstraktion (ein heraushebendes Denken, nicht etwa eine empirische Induktion) aus der normalen Situation unter Menschen, i n der sich ein Mensch zum andern recht verhält, indem er ihn, so wie der andere umgekehrt ihn auch, achtet und, negativ, nicht tötet. Das Tötungsverbot, als Generalisierung, ist so schon die A b straktion aus einer konkreten Lage, und dabei die Verallgemeinerung des Negativbefehls, der seinerseits aus einem wirklichen Tun, aus dem Achten des Mitmenschen resultiert. Wenn ein Mörder diese gegenseitige Achtung verachtet und das Verbot bricht — alle psychischen Unverantwortlichkeiten des Täters ein10 A r t h u r K a u f m a n n gebührt das Verdienst, diesen alten Sachverhalt w i e der freigelegt zu haben: „Recht ist kein Bestand an Normen, kein abstraktes Schema für das richtige Handeln, es ist vielmehr das rechte Handeln selbst u n d die rechte Entscheidung i n der konkreten Situation." (Mit Hinweis auf Thomas s. th. 2, I I , 57, 1) i n : Die ontologische S t r u k t u r des Rechts (Die ontologische Begründung des Rechts, S. 504). Wenn dem nicht so wäre, könnte es selbstredend keine Ontologie des Rechts geben! Da ist der springende P u n k t i m Problem von Sein u n d Sollen. U m gekehrt demonstriert: Da ist ein Gesetz: „ D u sollst Hilfe leisten, wenn ein anderer i n Not ist!" N u n t u t das jemand. Ist da das Sollen noch getrennt v o m Sein? Wenn es doch geschieht, was gesollt ist? Das Helfen ist V e r w i r k lichung des Sollens; was geschieht ist recht. Bei der elementar wichtigen Unterscheidung von Gesetz u n d Recht, die er potenz-akthaft sieht (a.a.O., S. 503), hält K a u f m a n n aber die Vorordnung der Wirklichkeit nicht durch. „Ontologisch hat das Recht den Vorrang, logisch ist dagegen das Gesetz das Primäre" (S. 505). Hinzuzufügen wäre, daß die Ontologie aber erst die Logik ermöglicht. Dann ist es nicht mehr „problematisch, wie diese Grundnormen oder Grundprinzipien des Rechts zu begründen s i n d . . . " (S. 505). Die Grundnorm ist die i n den Imperativ übersetzte Erkenntnis von Natur.

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mal eliminiert, so daß die Feststellung des verbrecherischen Willens offenkundig gelingen mag; es sei an den Fall erinnert, den Iwan Karamasow i n Dostojewskis ,Brüder Karamasow' als Exempel vorbringt, wie ein Soldat aus nächster Nähe i n das i h m zulächelnde Gesicht eines Kindes seine Pistole abdrückt — dann hat die Tötung zur Strafe nicht mehr die Norm des Tötungsverbotes gegen sich. Wer einen anderen Menschen tötet, hat i m andern Menschen auch sich selbst als Menschen negiert, so daß er sich aus den Menschen ausgestoßen und zum Unmenschen verurteilt hat; wovon die strafende Tötung nur mehr die Vollstreckung ist. Wer den Mörder tötet (die Institutionalisierung i n der staatlichen Strafgewalt, also die Entwicklung von der Blutrache zur Todesstrafe kann als Fehlerquellenbeseitigung angesehen werden), ist kein Mörder. Die Beurteilung der Todesstrafe i m Menschheitsgewissen rückt aber zunehmend — und das ist gut so — von der Vergeltung ab. Falsch wäre es aber, darin einfach eine Ausdehnung des Tötungsverbotes auf einen bisher immer noch als „Ausnahme" durchgeretteten Fall zu erblicken. Diese Ausdehnung wäre wieder schiefe, schlechte, wenn auch i m Ergebnis zufällig gehaltvolle Logik. Denn der, der strafend tötet, und der Mörder unterscheiden sich gewaltig, also kann die Norm allein nicht beide Situationen abdecken. Es ist denn auch noch immer empfunden worden, daß der Mörder und der strafend Tötende nicht gut gleich behandelt werden dürfen, obwohl aus der schiefen Logik des Tötungsverbotes eben dies ganz klar folgen müßte. Der Verzicht auf die Todesstrafe kann als eine Erweiterung des natürlichen Rechts gedeutet werden, und zwar als eine Verfeinerung i n eine normfreie Situation hinein. Damit klar bleibt, welchen qualitativen Unterschied die Erweiterung hier einbringt, muß festgehalten werden, daß der Mörder, der verschont wird, gleichsam außerhalb des Lichtkegels steht, der vom Tötungsverbot ausgeht. Die Nichttötung des Mörders verhält sich daher zum Tötungsverbot wie ein Blick, der außerhalb des Lichtkegelfeldes i m Dunkeln sucht, zu diesem Lichtkegel selbst. Daß es besser ist, den Mörder nicht zu töten, zeigt der „all-einige" Imperativ insofern, als er die Chance w i t t e r n hilft. Wenn dem Mörder Pardon gegeben wird, kann die von i h m umgebogene und verkehrte Transzendenz — er hat ja den „all-einigen" Imperativ mißachtet — vielleicht wieder aufgerichtet werden. Der Satz: ,Die Todesstrafe ist abgeschafft' oder ähnliche Formulierungen i n den Verfassungsurkunden verbreitern daher nicht das Tötungsverbot, sondern sie überbieten es. cc) Das Unrecht Daß es kein Naturrecht ist, was da allenthalben bereits als Naturrecht klassifiziert wird, sondern natürliches Recht, und daß dieses Recht mit

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gutem Grund natürlich oder selbstverständlich genannt wird, erhellt auch durch das Negativphänomen selbst, durch das Unrecht. Unrecht geschieht — und sofort w i r d nicht nur „das Naturrecht", sondern dieses oder jenes genau angebbare Recht verletzt, das, gerade auch, wenn es noch nicht kodifiziert ist, mit dem Anspruch des Selbstverständlichen auftreten wird. Jedes Unrecht läßt sich, weil es als geschehendes immer ein bestimmtes ist, sofort auf eine Norm beziehen, gegen die es konkret verstößt. Die Unrechtstat manifestiert, indem sie geschieht, einen Bruch des Rechts, sie muß also immer schon Recht verletzen; es gibt keinen nackten Verstoß gegen das Naturrecht. Es wiederholt sich beim Unrecht negativ, was i m Recht selbst stattfindet: das Recht ist verwirklichtes und inhaltlich bestimmt gewordenes Naturrecht, i. e. zunächst natürliches Recht, sofern die ersten Folgerungen gemeint sind, und das Unrecht ist deswegen, wiewohl es die Grundregel des Naturrechts verletzt, auch immer schon ein Verstoß gegen diese oder jene bestimmte Norm, d. h. Unrecht ist sofort tatbestandsbezogen (wobei es für diese Behauptung nicht darauf ankommt, daß der Tatbestand i n einem Strafgesetzbuch steht, sondern nur darauf, daß er genau angegeben werden kann). Aus den gravierendsten Untaten lassen sich daher Sätze des natürlichen Rechts, nicht aber das oder ein Naturrecht ablesen. c) Natur recht primär auf die Natur des Menschen bezogen Nach dieser wichtigen Trennung von Naturrecht und natürlichem Recht ist noch eine andere Klarstellung fällig. Die vom Naturrecht gemeinte Natur ist zuallererst und m i t einer Priorität sondergleichen die Natur des Menschen, nur am Rande und falls überhaupt, dann sogleich mit teleologischem Bezug auf den Menschen, die Natur der Sache. Denn der Mensch ist das Subjekt des Rechts, das daher auch dort, wo es zum Objekt, zum Regelungsobjekt etwa von Normen wird, seinen alles Objekthafte durchstoßenden Subjektscharakter nicht verliert: als Objekt bleibt der Mensch Subjekt, und als Subjekt nur läßt er sich objektivieren. Daher ist der Mensch, seine Natur, das Zentrum, i n dem alle andern Dinge, so sie rechtlich relevant werden, ihren Mittel- und Bezugspunkt haben. Die ,Natur der Sache' hat, soweit sie strittig werden kann, also oberhàlb ihrer naturwissenschaftlichen Gesetzlichkeiten, immer einen teleologischen Bezug zum Menschen (wenn die ,Sache' nicht ohnehin schon ein Gefüge von allerhand menschlichen Sachen, also ζ. B. eine Institution ist); sie hängt daher immer von der Deutung ab, mit der sich der Mensch selbst sieht. Daß ζ. B. Bauordnungen auf die Gesetze der Statik Rücksicht nehmen müssen, ist eine Binsenwahrheit, zu der nicht lang die Natur der Sache bemüht werden muß; aber daß sich aus der ,Natur des Eigentums' nicht mehr ergibt, als was der Mensch von sei-

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nem eigenen Selbstverständnis her daraus machen mag, ist auch klar. Für das Naturrecht kann daher primär nur die Natur des Menschen von Bedeutung sein; an der Natur der Sache ist, sofern die Sache als eine ursprüngliche oder menschlich freigelegte, nicht aber menschlich bereits vermittelte gemeint ist, nichts zu deuteln, sie ist einfach vorgegeben: wenn es sich um Grund und Boden, um bewegliche Sachen oder um Elektrizität handelt, hat das für die mögliche Weise des Eigentümerseins daran und also auch für die Form der Übereignung ganz bestimmte unumgängliche Konsequenzen. Diese ,Natur der Sache' ist die Natur der Naturwissenschaften; sie ist rechtlich problemlos. Handelt es sich aber bei der Sache um etwas, wo die menschliche Vermittlung ins Spiel kommt, dann verliert die Sache ihre Natürlichkeit sofort. Was als ihre Natur herauskommt, hat den Sinn von Natur = Wesen und ist immer schon menschlich mitbestimmt, ζ. B. die Natur, das Wesen des Eigentums, was sowohl heißen kann: von der Natur des Menschen her dahin weitergedacht und auf sie bezogen, wie auch: vom Menschen selbst mitfestgelegt. Der Weg zu dieser Natur der Sache w i r d also nur klar, wenn zuerst die Natur des Menschen bedacht ist. 2. Naturrecht in Funktion

Wenn das Naturrecht jenes wirklichkeitserwirkende und übervolle Vorrecht ist, als das es hier zu ergründen versucht wurde, dann muß es die Bewährungsprobe bestehen, die i h m funktional abgefordert wird. Was sich i n diesen „all-einigen" Imperativ: „Entsprich dem Grundzug der Transzendenz" fassen ließ, muß wirklich Prinzip, K r i t e r i u m und Fundament des Rechtes sein. a) Als Prinzip für die Gesetzgebung Als Prinzip für den Gesetzgeber gibt das Naturrecht den Inbegriff des Rechts, nämlich Gerechtigkeit, und die wichtigsten Institutionen, Staat, Gesetz, Ehe, Eigentum ohne weiteres her. Aus und mit ihnen, läßt sich dann, i n Rücksicht auf die Lage, eine Rechtsordnung zunehmend entfalten, je nachdem, wie weit und wie perfektionistisch die äußeren Gegebenheiten durchdrungen werden. aa) Gerechtigkeit Wenn die Natur des Menschen transzendental geöffnet ist, wenn dies, weil es so ist, auch so sein soll und daher zu respektieren ist, dann heißt dies, daß die Menschen, unbeschadet aller sonstigen Unterschiede, i n dem, was sie letzthin zu Menschen macht, durchaus gleich sind, und

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daß dies zu respektieren ist. Das aber ist Gerechtigkeit. Der „all-einige" Imperativ holt diese Einsicht, daß der Mensch sich i n dem, was ihn zum Menschen macht, gerade nicht vom Menschen unterscheidet, ein und fordert dafür Beachtung. Aus der transzendentalen Natur des und d. h. : jedes Menschen resultiert daher die Gleichheit. M i t ihr ist die Struktur der Gerechtigkeit benannt, denn Gerechtigkeit ist nichts anderes als ein genauer Sinn für diese Gleichheit und deren Realisierung. Wer diese letzte und allen anderen Ungleichheiten vorgängige Gleichheit nicht sieht und respektiert, ist nicht gerecht, mag er auch sonst i n allen Gleichheiten und Ungleichheiten penibel darauf bedacht sein, mit gleicher Elle und proportional richtig zu messen. Die behauptete Antinomie von Freiheit und Gleichheit ist theoretisch ein liberalistischer Taschenspielertrick und praktisch eine Mißachtung der menschlichen Solidarität. Freiheit und Gleichheit schließen sich nicht aus, sondern die Freiheit konstituiert gerade die Gleichheit. Die Menschen sind frei und also gleich. Aber man muß die Freiheit, u m dies zu verstehen, von der Transzendenz des Menschen her zu konzipieren imstande sein. Freiheit ist dann als Bewegung der Vernunft i n der heraustretenden Tat begriffen, i n der die Transzendenz realiter vollzogen wird. Den substantiellen Anfang dieser Freiheit stellt das Leben dar; deswegen gehören Freiheit und Leben zusammen. Das Leben ohne Freiheit ist kein Leben, und die Freiheit, sie lebt geradezu aus dem Leben. Das Leben muß daher frei sein und die Freiheit leben dürfen, damit der Mensch ein Mensch sein kann. Nach Leben und Freiheit, worein sich die Transzendenz übersetzen läßt, sind die Menschen erst einmal gleich. Die Gerechtigkeit sieht dies unbestechlich klar. Die antike, aristotelische und später auch eine christliche, thomistische Deutung der Gerechtigkeit hätte die iustitia distributiva ruhig hinter die iustitia commutativa stellen und ihr nachordnen sollen. Denn die haltgebende Achse der Gerechtigkeit liegt i m Miteinander der Menschen und also i n der Gleichheit; alle Unterschiede der Menschen sind zweitrangig und verblassen vor der i n der transzendental ausgerichteten Natur grundgelegten Gleichheit. M i t der Gleichheitsstruktur der Gerechtigkeit steht auch bereits die ,goldene Regel·. I n ihr findet die menschliche Intersubjektivität ihren unüberbietbaren, jedoch formalen Ausdruck. Die Gleichheit gibt, soweit sie reicht, den Menschen die Möglichkeit, sich mit den anderen zu identifizieren: daher sollen sie den andern, i m Guten wie i m Bösen, so behandeln wie sich selbst. Der Einwand, damit werde das Problem auf die rechte Verhaltensweise zu sich selbst verschoben und auch nicht gelöst, ist richtig 1 1 ; und insofern bleibt die régula aurea formal. Aber den11 Darauf insistiert H. Kelsen, i m Anhang zur 2. Aufl. der Reinen Rechtslehre, Das Problem der Gerechtigkeit, S. 367/368, wenn er f ü r die U n v e r b i n d -

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noch ist mit ihr der Gerechtigkeit entscheidend geholfen, denn bekanntlich droht dem einzelnen Menschen von sich selber weniger Ungerechtigkeit als den jeweils anderen von i h m und i h m von den anderen. bb) Institutionen: Staat und Gesetz, Ehe, Eigentum M i t dem „all-einigen" Imperativ, der Grundregel des Naturrechts, und der goldenen Regel, der formalen Gebrauchsanweisung der Gerechtigkeit, zusammen, läßt sich (ein) Staat machen. Denn der Staat ist nichts anderes als die fundamentale Einrichtung von Recht überhaupt: i n i h m w i r d Recht institutionalisiert. Rechtsstaat ist ein Pleonasmus, wenn vom Sinn des Staates her gedacht wird. Wenn der Staat das fundamentale Institut ist, dann ist das Gesetz der Baustein für diesen Bau. I m Gesetz w i r d das Naturrecht samt der Gerechtigkeit in einer zweifachen Weise dingfest gemacht: es w i r d i n den Bedingungen einer bestimmten Lage, i n der Endlichkeit gegebener äußerer Umstände näherhin konkretisiert (und dabei ,fixiert', festgestellt) und es w i r d gesichert. Der Vergleich mit dem Baustein zeigt, daß diese beiden Funktionen notwendig zum Gesetz dazugehören; die präzise Kontur und die Festigkeit sind zwei Eigenschaften derselben Sache. Dabei kann die Festigkeit als Resultat einer Selbstzusicherung des gesetzgeberischen Willens verstanden werden, die i m Gesetz gefaßte präzise Kontur jedenfalls zeitweilig nicht wieder anzutasten. Gesetz und Staat, als Bauelement und als Bau einander zugeordnet, sind daher die allgemeine Verwirklichung, die gefaßte und endliche Form des Naturrechts, nämlich Recht, i n seiner normativ generalisierten Gestalt. Daß das natürliche Recht, von dem eben die Rede war, also die ersten und wichtigsten Sätze des Rechts (wie das Tötungsverbot) schon die Grundmauern von dem sind, was bei seinem Ausbau Staat heißt, dürfte unbestreitbar sein. Damit, daß ein Mensch sich einen auf andere Menschen bezogenen generellen Imperativ gibt, ist immer schon Gesetz da. Und wenn zwei oder drei hinter diesem Gesetz stehen, ist das immer schon Staat i n nuce. Denn der Staat, das sind die Menschen, sofern sie sich Gesetze geben. Begreift man den Staat, den Bau aus Gesetzen, als die das Recht aus dem Naturrecht herausprägende Form, so schrumpft das institutionelle Mißverständnis des Staates als eines Bollwerkes der Sicherheit auf sein gehöriges Maß zurück. Selbstverständlich hat der Staat die elementare Funktion der Sicherung, aber er sichert nicht die Sicherheit, sondern er sichert die Gerechtigkeit. Sichert der Staat nur mehr das nackte Leben, lichkeit des Selbstverhältnisses anführt.

eine Reihe widerlicher

Verhaltensweisen

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aber so, daß er dieses von i h m gesicherte Leben nicht gerecht leben läßt, d. h. wenn seine Gesetze den Menschen drakonisch knechten, dann ist er pervers, i n sich widersprüchlich geworden, dann hat er sein Recht verspielt und muß beseitigt werden. Die Behauptung, eine schlechte und ungerechte, aber stabilisierte Ordnung sei besser als eine private G e rechtigkeit 4 , die sich jeder legt, wie er sie braucht, Anarchie zubenannt, kann richtig, sie kann aber auch falsch sein; das hängt von der Situation ab. Manchmal mag es besser sein, sich kleinen Taschendieben und mörderischen einzelnen Gesellen auszusetzen, als von einer organisierten Räuber- und Mörderbande bedroht zu sein. Der Staat fängt sowieso nur bei den Gruppen an, die sich aufs Recht verpflichten. Idealtypisch betrachtet, muß der Gesetzgeber ohnehin nur den „alleinigen" Imperativ des Naturrechts und die äußeren Bedingungen der Situation, die Lage 1 2 , zusammendenken. Dann entsteht richtiges Recht, Recht also, das seinen Namen verdient. Die Lagen, auf die sich die Gesetzgeber beziehen müssen, sind nach Zeit und Ort auf die mannigfaltigste Weise verschieden. Die geographischen und klimatischen Bedingungen, die psychologischen Umstände und die soziologischen Zustände, i n denen sich Menschen befinden, der Grad ihrer handwerklichtechnischen Entwicklung und das Maß der Bildung (Analphabetismus) — all dies macht die Lage aus; und daher ist das Recht für jeden Gesetzgeber eine Aufgabe vor einem anderen Hintergrund. Es w i r d und muß bei einem i n der Wüste lebenden, nomadisierenden Beduinenstamm i m Mittelalter anders ausgeprägt sein als bei einem i n der kapitalistischen Industriegesellschaft des Westens verstädterten, kaum mehr völkerpsychologisch faßbaren Menschengemisch. Wenn der Beduinenstamm ein hartes Strafrecht, die Tauschregel und ein i m Scheich sozusagen personifiziertes öffentliches Recht hat, wenn er polygamisch lebt und ständig mit andern Stämmen Fehden hat, kann sein Recht immer noch richtiger, nämlich den Möglichkeiten nach gerechter sein als das ausgebaute Rechtssystem einer hochzivilisierten Demokratie westlichen Musters. 12 Der Begriff der Lage hat vor allem den Sinn, ein Konkret-Bleiben zu gewährleisten. Das, was möglich ist, hängt von Bedingungen ab, die nicht abstrakt überflogen werden dürfen, gerade dann, w e n n auch diese Bedingungen verändert werden sollen. M i t der ,Natur der Sache' verbindet den Begriff der Lage dieser Impuls, konkret zu bleiben, aber ,Lage' ist dabei w e i t geräumiger. Die Geschichtlichkeit des Rechts darf demzufolge i n der je verschiedenen, unbeliebigen Stärke, i n der i n einer bestimmten Lage der Grundzug der Transzendenz rechtlich respektiert w i r d , ,da ist', erblickt werden. A r t h u r K a u f m a n n greift aber zu kurz, wenn er aus der Geschichtlichkeit des Rechts die empirische Geschichte der historischen Rechtsauffassungen u n d Rechtsverwirklichungen ausklammert. Selbstredend ist Geschichtlichkeit des Rechts zuerst ein rechtsontologisches Problem, aber rechtsontologisch muß es dann gerade gelingen, die Geschichte des Rechts zu begreifen! (Die ontologische S t r u k t u r des Rechts i n : die ontologische Begründung des Rechts, S. 493.)

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Nicht der abstrakte Entwurf, sondern der i n die Bedingungen eingeschmiegte, der Lage akkomodierte Naturrechtsimperativ macht das gute Recht aus. Dennoch können, wenn die Grundregel als Prinzip fungiert und die generalisierungsfähigen Faktoren menschlicher Lagen einbezogen werden, i m natürlichen Recht noch einige andere Institutionen herausgehoben werden, weil die Verschiedenheiten der Lagen zwar die Gestaltwerdungen davon, nicht aber deren Sinn verändern. Nächst dem Staat als der Institution, i n welcher sich die Gemeinschaft von Menschen überhaupt ihre Form gibt, muß die Ehe stehen. Der Mensch, auf den andern Menschen h i n offen, lebt virtuell i n der geglückten Gemeinschaft von Mensch und Mensch, i n der Freundschaft 13 . Nun aber lebt der Mensch als Mann oder als Frau, darin sich i m anderen von vornherein aufs innigste zugestaltet; die ausgezeichnetste Weise von menschlicher Gemeinschaft ist die Ehe. Allerdings sagt Ehe an dieser Stelle schon ihren wahren Anfang und i h r Wesen m i t aus. Rechtlich, vom Recht aus, ist damit zuviel gesagt. Denn als Liebe ist die Ehe dem Recht entzogen und unfaßbar, weil Liebe die Transzendenz bis zu ihrer Vollendung vollzieht. Das Naturrecht ist nur die Achtung vor und die Möglichkeit zum Vollzug der Transzendenz, gleichwie die Gerechtigkeit die Bedingung des Vollzugs und seinen Start, nämlich Freiheit, jedermann gewähren w i l l und offen hält, selbst aber keinesfalls schon Liebe ist. Was Ehe heißt, hat daher rechtlich den Sinn einer Hohlform; nur dies an ihr w i r d rechtlich ermöglicht und institutionell gewährt. Deswegen muß das Recht die Ehe als ein Äußeres fassen, d. h. sie w i r d geschützt und mit ihrer öffentlichen Seite geordnet. Die innere intime Freiheit w i r d von der äußeren Verbindlichkeit nur umhegt, nicht i n die Korrelate von Recht und Pflicht reglementiert. Wie das Institut der Ehe ausgestaltet wird, hängt aber nicht allein vom Ideal ab. Wahrscheinlich ist die Monogamie die höchste Stufe der Eheformen; daß aber der naturrechtliche Imperativ auch polygam oder polyandrisch noch verwirklicht werden kann, ist schwer zu leugnen, vor allem dann, wenn die kaum unterscheidbare Ähnlichkeit vom Nebeneinander und Nacheinander mehrerer Ehen einbezogen wird. Wohl mag der Ernst einer Bindung von Mann und Frau die Tendenz der Ausschließlichkeit und Dauer haben — die Kinder mögen dies sogar repräsentieren —, aber daß deswegen das Nacheinander, wie bei einer Wiederverheiratung des einen Gatten nach dem Tod des andern, oder das Nebeneinander, wie i n polygamen Gesellschaften, Hurerei wäre, Degradierung eines Subjekts zum Ding, w i r d nur die Bigotterie behaupten. Für die innere Wahrheit der Geschlechtsgemeinschaft gibt weder die Hohlform der Institution noch die Institu13

Vgl. Nikom. Eth. 1162 a, 16.

11 Zacher

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tionslosigkeit den Ausschlag 14 . Gehorsam gegen den „all-einigen" Imperativ qualifiziert hier eindeutig den Weg. Weil aber das, was recht ist, i n der Institution befestigt und geschützt werden darf, kann die Liebe als Ehe äußerlich institutionalisiert werden. M i t Händen ist die Institution des Eigentums zu greifen. Zur Erhaltung seines Lebens, zur Steigerung seiner Freiheit und zur Ergänzung seiner Unspezialisiertheit braucht der Mensch verschiedene Sachen. U m diesen Bedürfnissen zu genügen, ist eine, mindestens minimale, Ausgrenzung von Sachen und ihre Zuordnung zum einzelnen unumgänglich. Das Eigentum ist ein Kreis, u m welchen die Bedürfnisse den Leib und das Leben sachhaft ergänzen. Solange bewußt bleibt, daß Eigentum nicht Reichtum ist, ist sein Begriff unproblematisch und gerecht. Über die goldene Regel, angewandt auf verschiedene Sachen und Bedürfnisse, entsteht der Tausch und m i t ihm, als förmliche Abwicklung davon, der Vertrag. A l l e näheren Ausformungen des Privatrechts sind erste A n wendungen oder Verfeinerungen der naturrechtlichen Grundregel und der goldenen Regel an u n d i n den Bedingungen der jeweiligen Lage. Während die Verbindlichkeit des Versprechens und der Schadensersatz noch zu den ersten Folgerungen gehören, bedeutet der Schritt vom Tausch, bei Erfindung des Geldes, zum abstrakten Tausch, dem Kauf, eine Verfeinerung. cc) Tötungs- und Inzestverbot Die Achtung vor der Freiheit und dem Leben des Menschen, diesen Gütern, die mehr als Güter sind, vor den zwei Institutionen Ehe und Eigentum, prägt der „all-einige" Imperativ, wenn er die Transzendenz des Menschen inhaltlich anschaut, zu allgemeinen Verbotsgesetzen aus. Aus der einen Grundregel ergeben sich endliche Gesetze, von denen die Kapitalverbrechen Mord, Ehebruch, Diebstahl verboten werden. Aus diesen Imperativen besteht der Grundstock eines jeden Straf rechts. Daß i m Strafrecht der mit der Institution mitgegebene Konsekutivzweck der Sicherung eine kaum überschätzbare Bedeutung hat (so daß die Durchsetzung der Strafgewalt von ihrem Schutzcharakter her geradezu den Staat, als Not-staat gegen die Anarchie, legitimiert) ist am Tötungsverbot unmittelbar einsichtig: Wo das Tötungsverbot, i n einem Binnenbereich von Gleichen wenigstens, nicht gälte, wäre die Bedingung von Zusammenleben schlechthin negiert. Dies ist die Stelle, an welcher der Schutz des Lebens und zukünftig kommender Gerechtigkeit darin sogar i n eine Gegenstellung zum Rest vorhandener gegen14 Brecht hat, sub contrario, diesen Sachverhalt so benannt: „Ich meine, i n einem Lande wie dem unsrigen ist alles unsittlich, sowohl der Ehebruch wie die Ehe." B. Brecht, Me-ti. Buch der Wendungen, F r a n k f u r t 1969, S. 63.

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wärtiger Gerechtigkeit geraten kann, weil das fiat iustitia nur vom Einzelnen mit einem pereat mundus beantwortet werden darf, für sich, nicht für die Allgemeinheit. Dieser zweite Aspekt des Strafrechts steht institutionell und wohl auch rechtshistorisch so sehr i m Vordergrund, daß die inhaltlichen Verbotsnormen wie ein Reflex der auf ihr Überleben und ihre Entfaltung bedachten Gesellschaften gedeutet und auch praktiziert werden können. Wenn sich der Blickwinkel darauf verengt, w i r d z. B. aus dem Ehebruch ein sozialschädliches Faktum, denn es kann rein soziologisch die These aufgestellt und auch empirisch erhärtet werden, daß der Ehebruch das nach dem Tötungsverbot gesellschaftswichtigste Verbot, das Inzestverbot, durchbricht. Das Inzestverbot hat ja den Sinn, die wie immer ausgestaltete Ehe zu sichern und gegen die nächstliegende und relevante Gefahr aus der näheren Umgebung abzuschirmen. Vielleicht auch hat es den Sinn, einen geregelten Frauentausch, gewissermaßen den Export, zu ermöglichen 15 . Wie dem auch sei, am Inzestverbot zeigt sich sehr viel deutlicher als am Tötungsverbot, weil das Inzestverbot nur eine bestimmte Weise des Ehebruchs und darüber hinaus auch noch die möglichen geschlechtlichen Konstellationen innerhalb der Familie, zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Bruder und Schwester tabuisiert, daß nicht irgendein naturrechtlicher Impuls, sondern das nackte Überleben der Gesellschaft der primäre Grund für die großen Tabus ist. I n der Zusammenschau mit dem Inzestverbot läßt sich klarer auch die pragmatische Schutzfunktion des Tötungsverbotes wahrnehmen. Ebenso aber läßt sich andererseits i m Lichte des durchbrochenen Tötungsverbotes, besonders, wenn die Schutzfunktion die Front gewechselt hat und das Töten nicht ver-, sondern gebietet (der Fall der Tötung oder Aussetzung Neugeborener als überzähliger Esser), der strenge Unrechtsgehalt auch des Inzests — und hier muß es nun schon besser wieder heißen: des Ehebruchs genauer erkennen; denn ödipus ist unteilbar. Wie das Töten nicht nur unzweckmäßig, für das Überleben der Gesellschaft ist (worauf sich rein soziologisch das Recht immer zurückstutzen läßt), sondern i m strengen Sinn Unrecht, ebenso ist der Ehebruch Unrecht, und sein Verbot 15

Bei C. Lévi-Strauss, Les Structures élémentaires de la parenté, Paris 1949, S. 596 f. hat das Inzestverbot die Funktion, den Tausch zu ermöglichen u n d zu gewährleisten. Die F r a u w i r d nicht als Objekt der Triebbefriedigung betrachtet, sondern als Tauschware. A u f diese Weise können Frauen aus dem Familienverband hinaus- u n d andere dagegen eingetauscht werden: Gesellschaft u n d K u l t u r werden als sekundäre Bezugssysteme möglich. Einen guten Überblick über die kontroversen Inzesttheorien bietet D. Wyss, Strukturen der Moral, Göttingen 1968, S. 136 - 160. D. Wyss erklärt seinerseits das Inzestverbot aus einer Verschränkung m i t dem Opferkult; es sei gegen die Sexualität, aufgrund ihres ekstatischen Charakters u n d gegen die Vermehrung überhaupt gerichtet, S. 161 ff. Vgl. auch H. Schelsky, Soziologie der Sexualität, H a m b u r g 1955, S. 88 - 93. 11*

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nicht nur eine Konvention zur Stabilisierung oder besseren Fremddurchdringung der Gesellschaft. Ist dies aber richtig, dann müßte auch der Inzest auf seinen rechtlichen Gehalt von Ehebruch wieder beschränkt werden können. Prinzipiell müßten daher Geschwister heiraten dürfen. Eine solche Ehe ist nicht wider das, was der „all-einige" Imperativ gebietet. Aber weil die Einschränkung des Inzestverbots auf seinen rechtlichen Kern zu nahe am reißenden Strom bauen hieße, muß die Gesellschaft gesetzlich ihr Verbot vorverlegen und notgedrungen die Geschlechtsgemeinschaft von Geschwistern tabuisieren. I n diesem Z w i schenraum zwischen Recht und seiner angemessenen Sicherung, i n dieser Schutzhüllenfunktion steckt übrigens das ganze „Problem" des Gesetzes und des Staates, der Institution' überhaupt. Wie der alleinige Imperativ als Prinzip fungiert, könnte aus seiner Anwendung auf die objektiven Bedingungen, i n denen sich Eigentum vorfindet, besonders schön dargestellt werden. Die Entwicklung des Betrugstatbestandes, i n dem das mähliche Abstraktionsgeschehen der moderen Geldwirtschaft eingeholt und rechtlich verarbeitet wird, wäre ein lehrreiches und differenzierbares Beispiel dafür.

b) Als Kriterium

für Einzelentscheidungen

Aber nicht nur den Entwurf einer Rechtsordnung muß das Naturrecht ermöglichen, es soll auch als K r i t e r i u m i n der konkreten Situation fungieren, damit nicht nur abstraktes Recht i n Gesetzen zustandekommt, sondern damit i m concreto Recht geschieht. N u r das, was der Mensch tut und läßt, ist i m strengen Sinn recht oder unrecht. Wenn er sich an das Gesetz hält, verwirklicht er i n aller Regel das, was rechtens ist, weil das Gesetz eine Verallgemeinerung enthält, die auf den vorher bedachten Fall zutrifft. A n Verbotsnormen w i r d das, da sie eine Grenze setzen, weniger faßbar als an Geboten: Wer eine Verpflichtung erfüllt, tut Recht, während einer, der nicht stiehlt und sich also an das Verbot des Diebstahls hält, zwar genauso Recht tut, aber dieses T u n ist negativ, als ein Unterlassen der Unrechten Handlung, bestimmt und daher i n sich selbst unbestimmt. Das Tun der Menschen i n all seinen Einzelheiten und Situationsbedingtheiten läßt sich jedoch nicht vollständig verallgemeinern und daher auch nicht ganz i n Gesetze fassen; bestimmte Einzelentscheidungen sind gesetzlos, aber deswegen nicht rechtlos zu treffen. Wo das Gesetz nicht mehr hinreicht, muß das Recht noch präsent sein. Und wo es Recht gibt, gibt es ein Kriterium, das zwischen Recht und Unrecht scheidet. Als dieses K r i t e r i u m kann der „all-einige" Imperativ fungieren: er reicht hin, weil er das Konkretissimum des Rechtes selbst ist. Er ist ein Kompaß i n der Wildnis der Situationen.

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aa) Konfliktsituationen Bevor der Einzelne sich m i t diesem K r i t e r i u m den Weg i m unwegsamen Gelände bahnt, w i r d er jedoch — denn dazu taugt es erst recht — die gebahnten Straßen und Wege, also die Gesetze, prüfen, ob sie auch recht sind. A n dieser Stelle geht i n praxi auch die Frage nach der Legitimität, soweit sie politisch und nicht nur theoretisch relevant wird, i n den Entscheid des Einzelnen ein: er beurteilt den Staat. Entsprechen seine Gesetze i n der auf die objektiven Bedingungen, die Lage, Bedacht nehmenden Möglichkeit dem „all-einigen" Imperativ? Davon hängt, je nachdem, Zustimmung und Gehorsam oder Ungehorsam und Widerstand ab. Das ungerechte Gesetz muß mißachtet werden, und wenn der Staat als ganzer die Gerechtigkeit außer Acht läßt, zwar i m Gewände des formellen Rechts, also legal, aber als selbstgefälliger Despot auftretend, w i r d der Widerstand zur Pflicht. Denn nur vom Naturrecht w i r d Herrschaft, als Dienst für das Recht legitimiert. Deswegen können Widerstand und Revolution so legitim sein wie die staatliche Herrschaft selbst. Es geht weder u m den Staat an sich noch u m die pure Revolution, sondern i m Staat oder i n der Revolution u m die Gerechtigkeit. Ist der Staat ungerecht, w i r d die Revolution fällig, damit ein neuer, gerechter Staat entsteht. Pervertiert die Revolution zur Anarchie auf Dauer, mag die Diktatur den Versuch unternehmen, i n der Herrschaft neu die Gerechtigkeit heraufzuführen. — So einfach und klar wäre zu urteilen, wenn schwarz und weiß so säuberlich getrennt vorkämen, wie der Verstand sie trennen w i l l . I n Wirklichkeit stehen verschieden starke Schattierungen von Grau gegeneinander. Daher gehören Sehschärfe und Augenmaß zur politischen Entscheidung; das K r i t e r i u m allein bannt nur die Blindheit. Obwohl der Widerstand gegen einzelnen Normen oder den Staat i m ganzen wegen der dabei aufkommenden Gegnerschaft schon als Konfliktsituation bezeichnet werden kann, liegt dabei doch noch die normale Lage vor: das Nein zu einem Gesetz oder zum Staat i m ganzen intendiert nur eine bessere objektiv-generelle Ordnung. Die Konfliktsituation i m strengen Sinn ergibt sich erst, wenn ein Widerstreit entsteht, zu dem das generelle Gesetz nicht mehr hinreicht. Beispielsfall: die Mutter und ihre Leibesfrucht i n einer Geburt, bei der entweder die Mutter oder das K i n d sterben wird. Das Tötungsverbot reicht nicht mehr hin, das Gesetz faßt den Fall nicht mehr, und daß die Straf-Gesetzbücher darüber eine ,Norm' enthalten, verschleiert nur, daß hier das Gesetz den Boden unter den Füßen verliert. Freilich kann man über diese Situation i m allgemeinen reden, aber m i t einem Verbot oder Gebot ist sie nicht mehr zu fassen. Der Arzt, der i n diesem Fall die Mutter tötet, u m das K i n d zu retten, oder der Arzt, der das K i n d tötet, u m die Mutter zu retten — er

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steht außerhalb des Tötungsverbotes, weil er handeln, das heißt hier aber: töten muß (und nur i m System des Straf rechts kann man davon sprechen, daß ihm ein übergesetzlicher Notstand rechtfertigend als Rechtfertigungsgrund zur Seite steht, durch den die Rechtswidrigkeit, aber nicht die Normwidrigkeit ausgeschlossen wird). Tötend tut der Arzt hier recht. Aber mit der Güterabwägung, diesem zweifelhaften, quantifizierenden, diesem mehr schlechten als rechten Prinzip hat dies unmittelbar nichts zu tun: wenn rettbares Leben auf der einen und rettungslos verlorenes Leben auf der anderen Seite stünde, wäre i n einem ungebräuchlichen Sinn vielleicht noch davon zu sprechen, obwohl hier schon objekt i v eigentlich ein bestimmtes Handeln geboten ist; das Abwägen wäre ein Nachrechnen der Chancen. U m die Situation ausweglos zu machen, muß von dem Fall ausgegangen werden, bei dem Mutter und K i n d gleichermaßen rettbar sind, aber nur entweder die Mutter oder das K i n d zu retten ist. Eine Güterabwägung an dieser Stelle greift vor, indem sie quantifiziert: wichtigeres gegen unwichtigeres Leben. Der „all-einige" Imperativ gibt hier, i m Gegensatz zur Güterabwägung, keine Auskunft mehr — und gerade deswegen zeigt er das Entscheidende: wie sich der Arzt auch entscheiden mag, er verletzt hier, wenn er ein Leben von zweien beendet, nicht die Transzendenz dieses Lebens: die Transzendenz des Lebens, das er aktiv oder passiv beendet, hängt nicht mehr an diesem Leben selbst, weil dieses Leben „rein" getötet wird. Wenn der Arzt sich nun an der Güterabwägung orientiert, so urteilt er pragmatisch, und, menschlich gesehen, ist das eine vernünftige Entscheidung, die niemand tadeln darf. Aber es wäre nicht nur vernünftig, sondern auch vernehmend — und deswegen auch tadellos — das Los zu werfen. Denn die Transzendenz w i r d i m Entscheidenden gar nicht mehr verletzt.

bb) Noch einmal: Tötungsverbot und Notwehr Von hier aus ist noch einmal ein Blick zurück auf das Tötungsverbot und auf die Notwehr zu werfen. Das Tötungsverbot ist nicht zunächst um des Rechtsguts (oder der Heiligkeit) des Lebens w i l l e n da — das ist die Schutzfunktion davon —, es steht vielmehr gegen den Mörder selbst und um seinetwillen da, weil der Mörder nicht die Transzendenz des fremden Lebens, sondern seine eigene Transzendenz umbringt, wenn er mordet. Der Mord ist ein Selbstmord an der eigenen Transzendenz und deswegen ist er verboten (also ist der Selbstmord eine Sache, die nur aus Selbsthaß unrecht ist, aus andern Gründen aber durchaus ehrenvoll sein kann). Wenn der Mörder denjenigen, den er ermorden w i l l , i m transzendentalen Ausgriff dieses Lebens gar nicht töten kann, weil er diese Transzendenz zwar abbrechen, aber nicht i n der Richtung umbie-

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gen und verkehren kann, tut er das furchtbarere Unrecht an sich selbst 16 . Daraus erhellt aber nun, daß die Notwehr gegen den Mörder dessen transzendentalen Tod besiegeln kann. Es ist also nobler, sich ermorden zu lassen, als den Mörder zu töten, weil dem Mörder so die Chance der Umkehr genommen w i r d ; dasselbe gilt auch für die Todesstrafe: auf sie verzichten, das h i l f t dem Mörder wahrscheinlich eher, als sie verhängen. Auch die Frage nach der Gegengewalt i n der Notwehr kann, wenn der Mord richtig aus dem Sinn des Tötungsverbotes ausgelegt w i r d (1. Verkehre nicht deine eigene Transzendenz; 2. Brich nicht die Transzendenz des andern ab), i n eine andere Dimension erweitert werden. Die Tötung des potentiellen Mörders i n Notwehr w i r d ja fast immer als eine gerechtfertigte Ausnahme vom Tötungsverbot begriffen und daher doch irgendwie auf der gleichen Ebene situiert; i n Wahrheit ist die Tötung des anderen aus Notwehr jedoch unvergleichbar m i t dem Mord; die Notwehr läuft keinesfalls dem Sinn des Tötungsverbotes zuwider, sie findet auf einer anderen Ebene statt, sie ist vollständig recht und bedarf keiner Rechtfertigung ( = eines Wieder-recht-machens), es sei denn forensisch, damit Behauptungen überprüft werden können. Die Notwehr hat nur einen Sicherungszweck; sie sichert das Leben und darin die Grundbedingungen des Fortbestands von Freiheit und Gerechtigkeit. Deswegen ist sie ehern auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verpflichtet. Die Notwehr hat überhaupt kein Interesse am Tod des Angreifers, sie ist durch und durch friedfertig, aber sie hat ein Interesse am Schutz und an der Sicherung dieses gerechten Lebens. Wenn das Recht aber die Abwehr des Unrechts nur unter Einsatz des äußersten Mittels erreichen kann, dann ist nicht etwa ein gar noch Unrechtes M i t t e l gerechtfertigt, sondern dann geschieht eine „reine" Tötung. Das M i t t e l der Abwehr ist lediglich eine Funktion der Gefährlichkeit, mit welcher der potentielle Mörder auftritt. Ob eine Hinderung oder Unterbrechung des Angriffes angemessen ist, das diktiert der Angreifer: der raschere tötende Schuß auf den, der i m Begriffe ist, zu schießen, und das die-Hand-weg-schlagen beim Messerhelden sind nur quantitativ unterschieden: qualitativ sind 10 W. B e n j a m i n hat das k l a r u n d unbestechlich ausgesprochen. Beim Gebot, nicht zu töten, k o m m t es darauf an, „nicht länger den G r u n d des Gebotes i n dem zu suchen, was die Tat am Gemordeten, sondern i n dem, was sie an Gott u n d dem Täter selbst t u t " . Z u r K r i t i k der Gewalt, F r a n k f u r t 1965, S. 62 — Auch zum Verhältnis Tötungsverbot — Notwehr t r i f f t B e n j a m i n den N e r v ; er schreibt: „ D a r u m sind die nicht i m Recht, welche die Verurteilung einer jeden gewaltsamen Tötung des Menschen durch den Mitmenschen aus dem Gebot begründen. Dieses steht nicht als Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des Handelns für die handelnde Person oder Gemeinschaft, die m i t i h m i n ihrer Einsamkeit sich auseinanderzusetzen u n d i n ungeheuren Fällen die Verantwortung, von i h m abzusehen, auf sich zu nehmen haben. So verstand es auch das Judentum, welches die Verurteilung der Tötung i n der Notwehr ausdrücklich abwies" (a.a.O., S. 61).

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beide Maßnahmen ganz gleichermaßen und unproblematisch rechtens. Die Furchtbarkeit, die darin liegt, einen Mörder zu töten, hat einen ganzen anderen Grund: der Mörder kann das, was der Mord an i h m selbst tut, nicht mehr korrigieren. Für das Strafrecht, das dem Gehalt seiner elementaren Normen nach Recht ist und insofern über den Schutzzweck hinausreicht, dem es vielleicht seine staatliche Etablierung verdankt, bedeutet dies aber, daß es sich i m Vollzug der Strafen nicht strafend, sondern nur abwehrend verstehen sollte. Also Umfunktionierung des ,Straf'zweckes (der dann keiner mehr ist) auf Schutz. Daß Menschen über Menschen zu Gericht sitzen, mag noch angehen, soweit sie eine Schuld feststellen', obwohl auch dies schon höchst problematisch ist. Daß sie aber auch noch eine ,gerechte' Strafe aussprechen wollen, die den Verbrecher sogar entsühnen soll, ist eine menschliche Selbstüberschätzung. Das A m t des Richters ist doch wohl nicht Menschen-Sache. Der Begriff der Schuld mag menschlich noch zu ertasten sein, der Begriff der Strafe, mit Sühne verquickt und als Rechtfertigung (des Wieder-recht-machens) verstanden, ist inkommensurabel, wo er bestimmt und festgesetzt werden soll. Daher müßte das Strafrecht entschieden zur Schuld als Basis h i n —, aber genauso stark von der Strafe abrücken. Vielleicht kann der „all-einige" Imperativ wirklich i n jeder K o n f l i k t situation, i n deren Zuspitzungen Gesetze plötzlich, statt hinzureichen, gegeneinanderstoßen, die Entscheidung hergeben und dadurch den Dezisionismus i n eine kontrollierte Entscheidungsmaxime verwandeln. Die ausweglosen Situationen lösen sich, indem die Prinzipien, die dabei (angeblich) aufeinanderstoßen, überboten und i n den alleinigen Imperat i v hineinversetzt werden. Die Situationen werden nicht mehr normativendlich, also m i t Gesetzen, bewältigt, sie werden aber auch nicht blind und rechtlos durchgehauen oder situativ (was immer das heißen mag) gelöst, sondern sie werden m i t dem Kompaß des „all-einigen" Imperativs durchschritten. c) Als Fundament des Rechts Seine letzte Bewährung muß das Naturrecht leisten, wenn philosophisch reflex nach dem Grund des Rechts gefragt wird. Warum ist denn das, was Recht heißt, überhaupt recht? Hier brechen theoretisch all die Fragen wieder auf, von denen die Praxis, i m Normal- und Konfliktfall, generell wie individuell, immer durchdrungen bleibt, die sie aber auch pragmatisch oder positivistisch verdrängen oder ignorieren kann. aa) Rechtsbegründung i m hermeneutischen Zirkel Ebenso wie der Mensch immer schon da ist und lebt, wenn er nach dem Sinn des Lebens fragt, daher auch schon lebend die A n t w o r t gibt,

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so oder so, auf eine noch unreflektiert verschwiegene Weise — ebenso findet sich der Mensch immer schon i m tradierten Recht vor, wenn er nach der Rechtheit dieses Rechts fragt, und dieses Recht intendiert bereits, besser oder schlechter, die Verwirklichung dessen, was recht ist. Der Anfang geschieht nie außerhalb, sondern immer schon inmitten dessen, was zur Frage wird. Daß der hermeneutische Zirkel von Vorverständnis und Verständnis i m Recht seine Entsprechung hat, nimmt daher nicht Wunder 1 7 . Das Naturrecht gibt eine begriffliche Artikulation dessen her, was i m Recht als sein bereits anwesender und begründender Grund aufgedeckt werden soll. Die innere Verwiesenheit der beiden zirkulär bezogenen Begriffe Recht und Naturrecht läßt sich selbstredend nicht aufsprengen; aber dennoch muß kein dialektisch rasendes Karussell die Vernunft schwindlig machen, weil auch innerhalb des Kreises so geortet werden kann 1 8 , daß das Recht vom Naturrecht fundiert wird, und nicht umgekehrt. Dabei muß wiederum der dialektisch fundamentale Satz, daß das Naturrecht i m Recht erst ganz erscheint, nicht preisgegeben werden. Freilich muß das Naturrecht dabei, wenn es nicht zu einem simplen Abklatsch von Recht eine Stufe höher werden soll, entschieden anders als eine bereits inhaltlich aufgefächerte Ordnung verstanden werden, denn solche Ordnung ist schon eine endliche und bestimmte, dieser oder jener ,Lage4, auf die sie bezogen ist, inwendig akkomodierte, und daher Recht. Es ist das Zeichen einer schlimmen Verwirrung und blasser Abstraktion, dort, wo eine Verbotsnorm formuliert oder ein Anspruch geltend gemacht wird, von diesem oder jenem ,Naturrecht 4 zu sprechen. Dann heißt es etwa: Es ist ein Satz des Naturrechts, den anderen Menschen nicht zu töten; oder: es gibt ein Naturrecht auf Arbeit, auf Mitbestimmung usw. Dies alles sind Rechtssätze, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort Geltung beanspruchen dürfen, aber sie sind nicht Naturrecht. Überall, wo das Naturrecht sprachlich in den Plural gerät, ist es schon abstrakt geworden und also fehl am Platz. Das Naturrecht, als das Konkretissimum, darf nur i n der Einzahl vorkommen, i m Plural ergibt es eine abstrakte Rechtsordnung, die den objektiven Bedingungen m i t irgend einem abstrakten Ideal Gewalt antut, statt zu einer wirklichen, der Lage eingeschmiegten Rechtsordnung zu verhelfen, i n der eine bestimmte Menschengemeinschaft zu

17 Die Einsicht i n die zirkuläre S t r u k t u r w i r d immer noch abgewiesen u n d als ein Hineininterpretieren dessen, was herausgelesen werden soll, mißverstanden. Paradigmatisch dafür H. Welzel, Naturrecht u n d materiale Gerechtigkeit, 41962, S. 240. 18 Den „hermeneutischen Zirkel 4 4 k a n n m a n als „Chriffre für das offene Problem einer kritischen Erneuerung der Rationalität der Hegeischen Dialekt i k " deuten, vgl. K . O. Apel, Wittgenstein u n d das Problem des hermeneutischen Verstehens, i n Zeitschrift f ü r Theologie u n d Kirche, 63. Jhrg. 1966, S. 49 - 87, auf S. 87.

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einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort leben kann. Das Naturrecht hat dem Recht innerlich zu sein, i n dem es des Rechtes eigenen inneren Zielsinn ausmacht. Als abstraktes Wesensrecht hat es die Geschichte und die Erde schon verloren, noch ehe es überhaupt damit zu t u n bekommt: i n dieser Form ist und bleibt es unwirklich. Die Gleichung Naturrecht = überpositives Recht mag einen interessanten Reißbrettentwurf bescheren, nur dem wirklichen Recht w i r d ein solches Kunstprodukt i m luftleeren Raum wenig helfen, weil es aus ihm nicht innerlich als realisierbare Entwicklung hervorgetrieben wird.

bb) Recht i n der Geschichte Eine konkrete Rechtsordnung verdient ihren Namen dann, wenn sie dem „all-einigen" Imperativ, der aus seiner praktischen Fassung selber i n eine theoretische Aussage übersetzt werden kann (Naturrecht heißt: die Transzendenz der Natur als maßgebend fürs Recht erkennen) i n einer der Lage angemessenen und i n sie eingeformten Weise entspricht. Dio Legitimität einer Rechtsordnung läßt sich daher ebenfalls nicht abstrakt ausmachen: die objektiven Bedingungen müssen dabei einkalkuliert werden. Deshalb auch ist es so schwierig, sowohl rechtsgeschichtliche Tatsachen gerecht zu beurteilen wie einen guten Entwurf einer konkreten Rechtsordnung zu konzipieren. Das Verdikt über die Vergangenheit ist schnell verhängt und die Utopie für die Zukunft ist rasch gebastelt. Erst wenn die historische Beurteilung sich ganz auf eine bestimmte Zeit m i t all ihren Umständen einläßt und wenn eine politische Anstrengung sich auf ein hic-et-nunc konzentriert, dann w i r d es ein mühseliges, aber auch lohnendes Geschäft. Die abstrakte K r i t i k eifert regelmäßig i n einer die Geschichte ignorierenden Weise gegen Ordnungen, die zu ihrer Zeit vielleicht das Optimum dessen gewesen sein mögen, was realisierbar war. Wer das hochmittelalterliche europäische Kaisertum an den Freiheitsrechten des bürgerlichen Rechtsstaates mißt und als defizient verachtet, denkt gegen die Umstände einer Zeit an, i n denen Freiheit nur i n einem patriarchalischen Ordo möglich und da weit besser gewährleistet war, als der abstrakte Verstand sich vorstellen kann. Solange noch kein Buchdruck den Menschen potentiell die Bildung vermitteln konnte, als die menschliche K r a f t weithin noch zur Sicherung des Lebens und zur Befriedigung der Bedürfnisse eingesetzt werden mußte, war die politische Verfassung nur i n einer Analogie zur Vaterschaft und ihrer Herrschaft aufzurichten. Wenn die mittelalterlichen Reichsstädte und die Fürsten unbotmäßig waren, hing von der Macht des Kaisers die relative Durchsetzung der Gerechtigkeit ab. Die Schlagschatten des Unrechts i n solchen ständisch

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gegliederten Königsordnungen des Mittelalters müssen auf das Recht zu eben dieser Zeit bezogen werden; und dann ist es nicht ausgemacht, daß der Rechtsvergleich mit der postrevolutionären Situation zu deren Gunsten ausfällt, weil der innere Durchbruch der Transzendenz i n einer Rechtsordnung genuin aus dem Kontext einer Zeit und ihrer Entwicklungsstufe beurteilt zu werden verdient. Die einfache Überlegung sollte zu denken geben, daß ein heteronom geführtes Kind, das sich i m gewährten Raum spielend bewegen kann, freier lebt als ein autonom bestimmter Erwachsener, dessen Freiheit kümmerlich und neidisch nach fremden Potenzen schielt und sich dabei i m leeren Wünschen verzehrt. Die Legitimität einer Rechtsordnung hängt daran, daß sie den objektiven Bedingungen eingeformt ist und zugleich gerade darin die Transzendenz des Menschen i n angemessener Weise realisiert. Freilich fließt zu den objektiven Bedingungen, soweit i n ihnen schon bestimmte Sitten und Gewohnheiten der lebenden Menschen, ihr Ethos also, enthalten sind — der zivilisatorische Status kann nämlich nicht auf das Technische (wie Verkehr, Wirtschaftsformen, Handwerk) beschränkt begriffen werden — vom „all-einigen" Imperativ aus ein Einfluß hinüber, wenn er, in diesen Bedingungen als Rechtsgrund auftauchend, m i t ihnen amalgamiert w i r d ; allmählich werden zirkulär diese Bedingungen umgestaltet und inwendig geläutert werden: die Aussetzung der schwachen Neugeborenen, die bedingungslose Sicherung der Institutionen, die harten Strafen, die verdinglichte Daseinsweise des Sklaven als mancipium — all das kann i m Laufe der Zeit durchaus humaner werden. Aber auch wenn aus dem „all-einigen" Imperativ des Naturrechts heraus mehr und mehr vervollkommnete Rechtsordnungen gelängen — das Unrecht, nämlich die Verkehrung und Mißachtung der Transzendenz sind bleibende Möglichkeiten ihrer selbst. Und so müssen Rechtsordnungen, i n Staat und Gesetz zur Endlichkeit gebrachte Gestalten des großen einen Rechtsgrundes, der den Namen Naturrecht trägt, ebenfalls bleiben, solange es Menschen gibt. Nicht an Tradition oder Fortschritt klebend, sondern i m ständigen Wandel menschlichen Lebens spürt das Recht den Rhythmus auch seiner Veränderung. Darin, daß es verwirklichte Freiheit 1 9 ist, hat es i m Auf und A b der Geschichte seine Dauer.

19 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ed. Hoffmeister, Hamburg 1955, § 4, S. 28.

Fortführung

Der nachmetaphyeieche Weg zum Recht i n der Sprache Naturrecht — das ist die Anstrengung, der Frage nach dem, was das Recht denn zum Recht macht, eine A n t w o r t abzuringen. Philosophisch läßt sich dazu manches, und dies verantwortlich, sagen. Die Philosophie muß nicht sprachlos schweigen, wenn i n ihren Auskünften präsent bleibt, daß die Begriffe, mit denen sie redet, selbst ein Unsagbares offenhalten, von dem zu sprechen die Negation nicht die unziemlichste A r t ist. Sofern ontologisch gearbeitet wird, ist dafür eigentlich schon die Gewähr gegeben. Denn i n der Ontologie, als dem Zentrum der Metaphysik, ist ständig vom Sein — und das auf die vielfältigste Weise — die Rede. Das Fundament w i r d daher bereits auf den Boden des analogen Redens gebaut, und deswegen fallen alle Vorwürfe gegen eine solche Philosophie doch letzten Endes auf deren Sprache zurück. Wenn aber die Metaphysik auf einem bestimmten Verhältnis zur Sprache baut und die K r i t i k dieser Metaphysik ebenso — denn wie dürfte kritisiert werden, hielte die K r i t i k nicht wenigstens ihre Aussagen für statthaft — dann könnte es einen anderen Weg, so bescheiden wie erstanulich, geben, mit dem die sorgfältig ausgebauten Verbindungen der Grundwissenschaft u m ein Gutteil abzuschneiden sind. Gesetzt nämlich, die Sprache verdient Vertrauen, weil i n ihr vernünftig zu reden ist, warum sollte dann das Denken, wenn es ohnehin sprechen muß, nicht einmal erst auf das Vordenkliche der Sprache selbst achten, statt die begrifflich-systematische Denkarbeit unvermittelt anzugehen? „Die Sprache weiß es noch" 1 — i n dieser Form ist der Satz wahrscheinlich eine Übertreibung, weil die Sprache auch beirren kann; aber daß sie sehr viel weiß, das ist den Worten anzuhören 2 . Sollte das, was die 1 E i n bei C. Schmitt überliefertes D i c t u m des Sprachphilosophen Johann A r n o l d Kanne, dessen „Erste U r k u n d e n der Geschichte oder allgemeine Mythologie" m i t einer Vorrede von Jean Paul 1808 erschienen. Kannes Selbstbiographie von 1816 „ A u s meinem Leben", 1940, m i t einem Nachwort von C. Schmitt. 2 B. Liebrucks, Sprache u n d Bewußtsein, Bd. I, F r a n k f u r t 1964, mag die Sprache weder auf subjektive Geltung noch auf ein Spiegeln der Dinge g r ü n den. „Sie trägt i n ihren Gebilden die menschliche Erfahrung als vergessene m i t sich. Sie ist Gedächtnis, nicht Erinnerung" (S. 26). Vgl. auch C. F. von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 1964, S. 241, wo davor gewarnt w i r d , die Reflexion bis zu jenem Mißtrauen zu treiben „das nicht mehr hören kann, was ein einfaches W o r t sagt".

Der nachmetaphysische Weg zum Recht i n der Sprache

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Metaphysik geduldig zutage fördert, nicht schon i n der Sprache durchschimmern? Vom Recht, so scheint es, kommt das, worin es entscheidend besteht, schon i m Sinn der Sprache auf. 1. Der anschauliche Sinn der Sprache

Das liegt daran, daß die Sprache durch und durch sinnenhaft ist. Es gibt kaum ein Wort, i n dem die Sprache nicht unmittelbar anschaulich werden kann, wenn die Abstraktion durchschaut worden ist. Eine Fülle von Begriffen lebt aus der metaphorischen Verwendung ihres sinnlichen Ansatzes. Die Grundbedeutung ausmachen, heißt daher allemal bis dahin zurückgehen, wo die sinnliche Evidenz als anschauliche, hör- und greifbare ihren Sitz hat. Dieses Sinnenwort läßt, da es das Auge ist, das die Welt entdeckt, etwas sehen. Und wo es nichts mehr zu sehen gibt, da findet das Hören i n aller Reinheit statt. Der Ton, die Musik aber werden zur Sprache verdichtet dadurch, daß sie eine Sache einbilden, und dieses Zeichen, das ein reiner Hinweis auf das i n i h m Bedeutete ist, schwebt i m Ton des Sprechens. So ist aus Hören und Sehen die Sprache aufgebaut. Ihren wunderbaren Austausch i n der zwiefältigen Einheit von Wort und Bild, der sich noch einmal zwischen Sprache und Schrift, Hören-Sprechen und Lesen-Schreiben, wiederholt und bewährt, kann das Denken nicht nur nicht abschütteln, wenn es reine Vernunft zu werden sich bemüht, sondern es lebt geradezu aus der inwendigen Übersetzung sprachlicher Möglichkeiten. Was das Denken begreift, hat die Sprache i m Wort schon berührt 3 . U m den Sinn eines Wortes zu gewinnen, kann die Etymologie sehr hilfreich sein; aber ebenso ist dort, wo ein Wort nicht mehr ganz deutlich spricht, ein deutendes Sinnstiften von Nutzen: es kommt nicht darauf an, ob sich das, was die Sprache sagen kann, sprachwissenschaftlich noch beweisen läßt; wichtig ist, daß eine Fährte sichtbar wird, die zum Anschauungsgehalt der Sprache führen kann. 2. Redit — richten — Richtung

Die Verwandtschaft des Wortes Recht i n unsere Sprache mit dem lateinischen Stamm rect — springt immer noch i n die Augen. Die indogermanische Wurzel reg, die dabei zugrundeliegt, heißt „gerade" 4 . Was gerade ist, muß man nicht lang erklären, denn das Wort nennt etwas unmittelbar Anschauliches. M i t dieser Geradheit ist schon ausgesprochen, 3 Vgl. J. G. Hamann, Aesthetica i n nuce, ed. Nadler, Bd. I I , S. 199; Metak r i t i k über den P u r i s m u m der Vernunft, Bd. I I I , S. 284 ff. 4 Vgl. Kluge/Mitzka, Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, 20 B e r l i n 1967, S. 588.

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Fortführung

daß das Recht eine Gerade-sein meint 5 . Das t r i t t noch schärfer heraus, wenn die Bedeutung des Eigenschaftswortes und des Verbums herangezogen werden. Ein rechter, gerechter Mann ist ein aufrechter Mann, einer der, i m dazuhin übertragenen Verstände, aufrecht und gerade steht, statt zu buckeln und sich zu ducken 6 . Richten schließlich, m i t der Vorsilbe intensiviert zu ausrichten, bedeutet: i n eine Linie bringen, auf etwas h i n durchdecken, gerade machen i n Richtung auf etwas zu. Die Worte Richtschnur oder Richtscheit machen den Vorgang dingfest. Schön ist, wie am dieserart konkret genommenen Stamm von richtder unmittelbare Sinn selbst noch aufscheint, so daß die Verdeutlichung durch recht = gerade, richten = gerade machen überflüssig wird. „ I n welche Richtung muß ich bitte gehen, u m nach . . . zu kommen?" Die A n t w o r t kann ein Zeichen mit der Hand sein, denn genau darin ist der anschauliche Sinn des Wortes Richtung verwahrt; i n der Richtung ist handlich da, was der Wortstamm eigentlich besagt. So wäre denn das Recht durch und durch Richtung. Aber eine Richtung wohin? Ist nicht die Richtung allein erschreckend beliebig, ja richtungslos i n sich, solange sie nicht vom Ziel her bestimmt wird? Muß also nicht doch wieder vom Zweck und Ende des Rechts gehandelt werden, um i h m von daher eine Bestimmung zu geben? Diese Fragen sprechen bereits dazwischen, wo der Sprache erst eine Weile zugehört werden sollte. Denn i m Unterschied zur ,Geradheit 4 , in der jener bloß formale Begriff von Richtigkeit, wie er sofort fragend attackiert wird, ersichtlich sein mag, trägt ,Richtung' weiter; i n ihr ist auch Intentionalität ausgesagt7 und sowohl deren Subjekt einbezogen wie das Ziel der Beziehung mitanvisiert. Die Sprachprobe erweist es: von einer Linie kann man zwar sagen, daß sie gerade sei; soll sie aber eine Richtung angeben, dann zeichnet (und liest) man sie besser als Pfeil. Auch an den entsprechenden Negationen ist abzulesen, daß ,gerade', dessen Gegenteil ,krumm' lautet, nur eine gewissermaßen 5 Bei H ö l d e r l i n i m Gedicht ,Lebenslauf' ist es wörtlich da, Stuttgarter H ö l d e r l i n · Ausgabe, ed. Beissner, Bd. 2, S. 22: ,Aufwärts oder hinab! herrschet i n heiiger Nacht / wo die stumme N a t u r werdende Tage sinnt, / herrscht i m schief esten Orkus / nicht ein Grades, ein Recht noch auch? / Dies erfuhr ich.' 6 M i t der „Orthopädie des aufrechten Gangs", zu deren Durchsetzung E. Bloch sein „Naturrecht u n d menschliche Würde", F r a n k f u r t 1961, vorgebracht hat, ist, allerdings von anderen Prämissen her, auch nichts anderes gemeint. Das „Aufrechte als Recht" (S. 237) macht die Würde des Menschen aus, S. 206 - 238. 7 Der Begriff Intentionalität ist hier ganz bescheiden gebraucht, nicht so wie i n der Husserl'schen Philosophie. Die intentionale Einheit i n der transzendentalen Bewußtseinssubjektivität (vgl. Husserl, Formale u n d transzendentale Logik, Halle 1929, S. 208, 210), die Husserl garantiert, ist nämlich n u r eine Hoffnung, solang sie nicht vollzogen ist; das gehörige B i l d f ü r das W o r t ist daher der Pfeil.

Der nachmetaphysische Weg zum Recht i n der Sprache

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äußere Beschreibung fertigbringt, während die »Richtung4 der Geradheit 4 gegenüber jenes innere Moment der Intentionalität besagt, wie es i n der Verneinung ,richtungslos 4 als Mangel artikuliert wird. Die verborgene Mitsprache der Zielbezogenheit i m Wort »Richtung4 w i r d freilich nur i n seinen Steigerungsverbindungen vernehmlich: ,aufrecht 4 heißt die Richtung nach oben haben, und i n ,aus-gerichtet 4 besagt die Vorsilbe ,aus4 nach ihrer ursprünglichen Bedeutung soviel wie: empor und hinaus, also auch: Richtung aus dem Subjekt hinaus. Die sprachliche Wendung vom »richtigen Recht4 legt daher, wenn sie nur hellhörig genug verstanden wird, den Nerv des Rechtsproblems frei. Denn die Tautologie, die darin enthalten ist, kann durchsichtig gemacht werden: Das Recht ist nur Recht, wenn es als ganzes zu Richtung, Gerichtetheit wird, i n der der Mensch aus sich herausgeht. I m Deutschen ist es so glücklich gefügt, daß auch die öffentliche Realisierung des Rechts, also das Problem von Institution überhaupt, sprachlich angedeutet ist und m i t Gehör gelöst werden kann. Institution heißt auf deutsch nämlich Einrichtung. Das ist der bessere Name für die Sache. Nicht „setzen oder stellen oder legen" gibt die verbale Basis her, auf die der Sinn baut, sondern ,richten 4 . Institution ist sonach die Hereinholung, eine bleibende Konkretisierung von Recht. Aber nur, wenn sie wirklich i m Duktus von ,richten 4 bleibt — wie vermittelt auch immer — darf sie bleiben. Steht sie dazu quer oder verrammelt sie die Richtung, indem sie absolut gesetzt w i r d : der selbstherrliche Staat, Gesetz ist Gesetz und dergleichen, verrät sie das Recht, weil sie seinen Ausdruck als Maske verwendet. Die Sprache, selbst oft der erste Ort dieser Perversion i n die Lüge, wacht i n ihrer unverkehrbaren untersten Sinnenhaftigkeit dennoch untrüglicher, als besessenen Machthabern lieb sein kann. Was nicht eingerichtet 4 wird, ist keine Institution. Damit, daß eine Ordnung nur steht, ist es nicht getan; die Ordnung taugt nur, wenn sie auch richtig ist. Die Institutionen müssen Richtung ermöglichen, die Richtung, die das Recht selbst ist. 3. Denken und Sprechen

Noch empfindlicher als eine ontologische Systematik, bei der das Recht als Naturrecht i n der Transzendenz der Natur qua Freiheit grundgelegt wird, mögen solche sprachlichen Weissagungen auf die kalten Einwürfe analytischer Rationalität reagieren. Denn sie leben direkt und ungeschützt vom Wort; die Zurüstungen des Begriffs sind abgetan. Obwohl der spielerische Charakter der sprachlichen Hermeneut i k fast schon Anklänge von Sympathie bei einem von seiner eigenen mathematischen Vergangenheit zu Sprachspielen fortgeschrittenen Posi-

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Fortführung

tivismus sollte hervorrufen können 8 , darf eine hörende Sprachphilosophie noch nicht u m allgemeine Aufmerksamkeit bitten. Aber die Sprache birgt Vergangenheit und Zukunft zugleich, also steht sie, obgleich uralt und vergangen, dennoch bevor. Die Metaphysik kam geschichtlich aus der Sprache herauf, nun ist sie vergangen. Restaurieren läßt sie sich nicht, wahrscheinlich aber verwandeln. Vielleicht w i r d die Philosophie, und damit auch das Rechtsdenken, zu einem vorerst bescheidenen Nachsprechen der Sprache werden. Aus ihr mag es Auferstehungen geben, die vorläufig unbekannt sind 9 . Denn der i n Unscheinbarkeit verborgene Glanz der verhunzten und mißhandelten Sprache kann immer neu vergleichbar — unvergleichlich i m Geiste aufleuchten, und dann erhellt er die Landschaft. Sagt ein Begriff von Naturrecht, weiß die Wissenschaft, was die Sprache gibt, wenn sie i m Wort vernommen wird? Recht wäre vielleicht dies:,, Sich richten i m Gerichtet-sein 10 ."

8 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, F r a n k f u r t 1967, Nr. 23, 116, 654. 9 Das könnte u n d sollte durchaus wieder einmal zum Programm einer streng wissenschaftlichen Metaphysik führen, i n der jene unbedingt „festzuhaltende Restposition der Transzendentalphilosophie „Hegelscher Provenienz" (K. O. Apel, Wittgenstein u n d Heidegger, Die Frage nach dem Sinn von Sein u n d der Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Metaphysik, Phil. J a h r buch 1967, 75. Jhrg., S. 5 6 - 9 4 ; S. 13) die zunächst verschwiegene u n d dann bewußtgemachte Bedingung des Hörens bleibt. 10 E. Przywara, Analogia entis, S. 104, prägt diese Formel als G r u n d Verhältnis der Analogie.

Literaturhinweise Lediglich einige Autoren, die auf die vorliegende A r b e i t Einfluß hatten, sollen hier genannt sein. Z u m Naturrecht darf auf die einschlägigen Bibliographien verwiesen werden; ζ. B. bietet José Llompart, Die Geschichtlichkeit i n der Begründung des Hechts i m Deutschland der Gegenwart, F r a n k f u r t / M a i n 1968, S. 159 - 182, eine Ubersicht über fast alle wichtigen Publikationen zum Thema. v. Balthasar, H. U.: Herrlichkeit, 3. Band, 1. Teil, I m Raum der Metaphysik, Einsiedeln 1965. Beck, H.: Der A k t - C h a r a k t e r des Seins. Eine spekulative Weiterführung der Seinslehre Thomas v. Aquins aus einer Anregung durch das dialektische Prinzip Hegels, München 1965. Benjamin,

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