Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts

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Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts

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Demokratisierung der Deutschen Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts

Demokratisierung der Deutschen Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts Herausgegeben von Tim Schanetzky, Tobias Freimüller, Kristina Meyer, Sybille Steinbacher, Dietmar Süß und Annette Weinke

Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen  www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlagfoto: Berlin Wall, East Side Gallery, Berlin, Deutschland. travelstock/Alamy Stock Foto ISBN (Print) ---- ISBN (E-Book, pdf ) ----

Norbert Frei zum . Geburtstag

Inhalt

Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Projekt: Demokratisierung Jürgen Habermas Ein Dank an Norbert Frei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Saul Friedländer Wohin die Erinnerung führt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Andreas Wirsching Weimar als Generationserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Mary Fulbrook »Unschuldige Zuschauer« in deutscher Geschichte und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Atina Grossma nn Transnationale jüdische Flüchtlingsgeschichten. Verdrängung, Verlust und (fehlende) Wiedergutmachung . . . .

65

Eck art Conze!/!Annette Weinke Krisenhaftes Lernen? Formen der Demokratisierung in deutschen Behörden und Ministerien . . . . . . . . . . . . .

87

José Brunner!/!Kristina Meyer Reputation, Integration, Diskretion. Wiedergutmachung und Demokratisierung in der frühen Bundesrepublik . . . . . . . . . 102 Michael Brenner »Prüfstein für den Fortschritt Deutschlands«. Die symbolische Bedeutung der jüdischen Gemeinschaft . . . . 118

Demokratisierung der Gesellschaft Tobias Freimüller!/!Maik Tä ndler Das Schweigen der Elite. Der Fall Hofstätter und die »Bewältigung« der NS-Vergangenheit  . . . . . . . . 131 Detlev Claussen Was vom Jahre übrig bleibt. Über die Schwierigkeit, ein Zeitzeuge zu sein . . . . . . . . . . 147 Volker Berghahn Demokratisierung des Betriebs? Der Bundesverband der Deutschen Industrie und die paritätische Mitbestimmung . . . . 162 Włodzimierz Borodziej!/!Joachim von Puttkamer Polen und die Demokratisierung der Deutschen. Ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Carola Dietze Ein blinder Fleck? Zur relativen Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in den Geschichtswissenschaften . . . . . . . 189 Till Kössler Antifaschistische Klassenzimmer? Schule, Rechtsextremismus und Demokratie nach »Achtundsechzig« . . . . . . . . . . . . . 206 Dietmar Süß »Hochkonjunktur für Scheinheilige«. Die »Hitler-Tagebücher« und der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den er Jahren

220

Fr a nk a Maubach Normalisierung und Kritik. Zum »Geschichtsboom« seit den er Jahren . . . . . . . . . . 238

Vollendung des Projekts? Dorothee Wierling Stolz, Scham und Wut. DDR-Erzählungen durch die Zeiten . . . 255 Michael Stolleis Die »aktuelle Verfassungslage« im April  . . . . . . . . . . . 271 Tim Scha netzky Verfassungsreform und direkte Demokratie im deutsch-deutschen Einigungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . 285 Martin Sabrow Deutsche Zeitgeschichtsjubiläen als historische Selbstvergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Jacob S. Eder!/!Da niel Stahl »In Deutschland herrscht Apartheid«. Solingen, Mölln und der Kampf um politische Partizipation . . . 318 R aphael Gross!/!Wer ner Konitzer Koloniale Objekte und deutsche Vergangenheitspolitik . . . . . 333

Anfechtung und Beharrung Da n Diner Aus dem Gehäuse des Kalten Krieges. Zeitdiagnostisches zu einer Welt von gestern . . . . . . . . . . . 351 Harold James Die Europäische Union als Schreckgespenst der Demokratie . . . 364

Christina Morina Vom Sinn des Vergeblichen. Demokratiekritik und Zivilgesellschaft seit dem Umbruch / . . . . . . . . . . . 382 Volkhard Knigge Verbrechensgeschichte begreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Sybille Steinbacher »Umwerfende Beweise«. Ursula Haverbeck, die Standort- und Kommandanturbefehle von Auschwitz und die »Auschwitz-Lüge« 404 Wulf Ka nsteiner Das kosmopolitische Dilemma. Migration, digitale Medien und Erinnerungspolitik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 422 Moshe Zimmerma nn Variationen auf die »Stunde Null« des deutschen Antisemitismus

442

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



Zur Einführung Gegenwärtig erleben wir, wie Gewissheiten in Politik und Gesellschaft erschüttert werden: Denkkategorien, Handlungsmuster und institutionelle Arrangements, die ihren Ursprung überwiegend in der Bundesrepublik vor  hatten, sind massiven Anfechtungen ausgesetzt – das jedenfalls legen die Erfolge des »Populismus« ebenso nahe wie die Uneinigkeit über die Zukunft der Europäischen Union, die Etablierung einer Partei rechts von der CDU/CSU oder die wachsende Kluft zwischen den Eliten und einem sich als nicht repräsentiert verstehenden Teil der Bevölkerung. Aus alledem wird auch ein veränderter historiographischer Blick folgen. Schaut man auf die großen Erzählungen über die bundesdeutsche Geschichte, setzte ein nicht unkritischer, aber alles in allem doch stolzer Blick auf das Erreichte bereits Anfang der er Jahre ein. Den Auftakt machte damals die zunächst auf fünf Bände angelegte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die Karl Dietrich Bracher, Theodor Eschenburg, Joachim C. Fest und Eberhard Jäckel bei der Deutschen Verlagsanstalt herausbrachten. Schon der äußeren Aufmachung nach wollten die schweren Bände ein neues Selbstbewusstsein demonstrieren. Das wurde längst nicht nur bei der Linken als durch und durch politisches Vorhaben identifiziert. Andreas Hillgruber beispielsweise stellte  heraus, dass hier offenbar ein »Fundament für die Entwicklung eines bundesdeutschen Geschichtsbewußtseins« gelegt werden sollte, dessen »harter Kern« ein bereits in der Ära Adenauer gestiftetes bundesrepublikanisches Staatsbewusstsein sei. In offener Abgrenzung zur alten Restaurationsthese wollten die Bände ausdrücklich eine ganz von der Bonner Regierungszentrale aus gedachte Erfolgsgeschichte einer gelingenden Demokratie erzählen – was sie für Kritiker in den hitzigen geschichtspolitischen Debatten des Jahrzehnts bald darauf zum Bestandteil der Kohl’schen Geschichtspolitik werden ließ . Und obwohl auch der . Geburtstag der Republik nochmals ganz im Zeichen einer vom Innenministerium ausgerichteten »Dauerfête« stand, die vor allem auf die Eckdaten einer »Gründung von rechts« abhob, diagnostizierten hell Bracher/Eschenburg/Fest/Jäckel (-).  Andreas Hillgruber: Ein Panorama der Ära Adenauer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...  Eder (); Klaus Große Kracht: Der Historikerstreit, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/Historikerstreit (..).

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sichtige Kommentatoren schon damals einen sich vollziehenden Trend zur lager- und schulenübergreifenden »Selbstanerkennung« der zweiten deutschen Demokratie. Zwar differenzierte sich die zeithistorische Deutung der bundesdeutschen Geschichte danach immer weiter aus, zumal diese nach dem Umbruch von / erstmals wieder als Nationalgeschichte konzipiert werden konnte. Auch stellte sich schon bald die Frage, wie vierzig Jahre DDR-Vergangenheit in eine solche »asymmetrisch verflochtene« Geschichte integrierbar sein mochten. Aber auch die alternativen Deutungsangebote, die jetzt bald nach »Westernisierung«, »Amerikanisierung« und »Liberalisierung« fragten und in Abgrenzung zu Bracher & Co. den langwierigen Prozess der gesellschaftlichen Demokratisierung herausstellten, entstanden doch aus einem Gefühl der Stabilität und des unhinterfragten Systemvertrauens. Ungeachtet der parallel aufkommenden Erzählung von der »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck) untersuchten sie die Vorgeschichte einer Gegenwart, die den Historikern der er Jahre als letztlich gelingende Ordnung und Zeit der »ausgebliebenen Katastrophen« erscheinen musste. Das schloss tagespolitische Kritik und heftige weltanschauliche Auseinandersetzungen zwar nicht aus, aber ganz gleich, ob man nun den »Reformstau« bemängelte, Anstoß an der Vereinigungsgewalt nahm, den Filz der Parteien kritisierte oder sich in hitzigen geschichtspolitischen Debatten über den Umgang mit der NS-Vergangenheit, Entschädigungsfragen und ein angemessenes Gedenken beteiligte – bei alledem gab es keinen Anlass, Grundpfeiler des Systems wie die Ideen von repräsentativer Demokratie und kritischer Öffentlichkeit oder gar die institutionellen Arrangements des Westens wie NATO und EU in Frage zu stellen. Das damalige Lebensgefühl der demokratiepolitischen Saturiertheit erklärt den beispiellosen Aufschwung, den die Produktion von Gesamtdarstellungen über die Geschichte der Bundesrepublik gerade ab Ende der er Jahre nahm – obwohl es damals an einem soliden, auch auf Archivquellen gestützten Forschungsstand für lange Zeiträume dieses Gegenstands noch weithin mangelte. Schon der Regierungsumzug schuf ein enormes Bedürfnis nach Selbstreflexion über den Ort der »Berliner Republik« in den längeren Traditionslinien der deutschen Geschichte.     

Naumann (), S. . Kleßmann (). Doering-Manteuffel (); Herbert (). Schwarz (). Görtemaker ().

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Dass er darüber hinaus mit einem Generationswechsel zusammenfiel, in dessen Zuge nun erstmals Angehörige der »Achtundsechziger« in die höchsten Staatsämter einzogen, galt manchem damals als die eigentliche Vollendung eines demokratischen Projekts. Das konnte unter Bezugnahme auf die These vom – zunächst »postnationalen«,  dann aber endgültig verlassenen – deutschen Sonderweg geschehen, die in den frühen er Jahren noch heftig in der Kritik gestanden hatte, wie etwa im Jahr  in Heinrich August Winklers zweibändigem Langen Weg nach Westen . Es konnte stark autobiografisch geprägt sein wie bei Konrad Jarausch, der  in seinem Buch Die Umkehr die wichtigsten Erfolge der Demokratisierung mit seiner eigenen Generation identifizierte. Auch konnte es das Telos bereits im Titel tragen, wie bei Edgar Wolfrums Geglückter Demokratie von  und dem im selben Jahr von Andreas Wirsching verkündeten Abschied vom Provisorium, dessen Buch zugleich den verspäteten Abschluss des DVAGroßvorhabens aus den frühen er Jahren bildete und bereits etwas kritischere Töne anschlug. Und wenn schon nicht die »Achtundsechziger« den Erfolg der Bundesrepublik allein erklären konnten, dann schienen doch mindestens die pragmatisch zupackenden »er« vom Schlage eines Hans-Ulrich Wehler einen erheblichen Anteil daran gehabt zu haben. Ihm jedenfalls geriet  der abschließende fünfte Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte zur autobiografisch-erfahrungsgeschichtlichen Fundierung einer ganz auf den Erfolg der damaligen Ordnung orientierten Erzählung – eine Geschichte, die »westdeutscher« kaum sein konnte und die DDR zur »Fußnote« degradierte. Jeder der hier genannten Autoren hat selbstverständlich die verbreitete Skepsis gegenüber teleologischen Geschichtsbildern reflektiert, sich mitunter gar offen gegen den Modus der »Erfolgsgeschichte« verwahrt. Aber in den großen Darstellungen der ersten beiden Nachwendejahrzehnte hat diese wissenschaftliche Selbstkritik doch bemerkenswert wenig Spuren hinterlassen – sie wurde zum folkloristischen Deckmäntelchen und damit gewissermaßen selbst zum Teil der Meistererzählung von der »geglückten Demokratie«, von den mühsamen, am Ende aber erfolgsgekrönten Kämpfen um die Liberalisierung und Westernisierung der Deutschen.     

Winkler (). Jarausch (). Wolfrum (); Wirsching (). Wehler (). Vgl. dazu auch Schildt (b).

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Anderthalb Jahrzehnte später hat sich der »Sehepunkt« der Zeitgeschichtsschreibung grundlegend verschoben: Die Ausdehnung von EU und NATO und der amerikanische »Krieg gegen den Terror« führten zu beträchtlichen Spannungen innerhalb der transatlantischen Welt. Wahlerfolge populistischer Politiker und eine Tribalisierung der Politik, zudem ein medialer Strukturwandel der Öffentlichkeit – das alles gab es bereits früh im neuen Jahrtausend, und spätestens mit den Verwerfungen der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise ab  war klar, dass die alte Ordnung in Frage stand. Der Zulauf für populistische Bewegungen überall auf der Welt, besonders aber die Wahlsiege von Donald Trump, das Brexit-Votum und die innen- wie außenpolitischen Zuspitzungen nach der sogenannten Flüchtlingskrise von  haben überall im Westen ein Bewusstsein für die Gefährdungen der Demokratie wachsen lassen. Betrachtet man den Publikationsausstoß besonders in den Sozialwissenschaften, so ist die einstige Saturiertheit heute in offene Panik umgeschlagen – allenthalben ist nun von der »Krise der Demokratie« die Rede. Wenn es um die Geschichte der Bundesrepublik geht, wäre es wohl ein Fehler, vor diesem Erfahrungshintergrund nun ins andere Extrem zu verfallen und das Narrativ von der erfolgreichen Demokratisierung – verstanden als staatlich-institutionelle und gesellschaftlich-mentale Fundamentalliberalisierung – grundsätzlich in Frage zu stellen. Für Übertreibungen in diese Richtung besteht kein Anlass. Aber es fällt doch auf, dass die »Erfolgsgeschichte« ein Denkschema vorgibt, das die Komplexität der Entwicklung einebnet, wenig Raum für Nuancierungen lässt, Rückschläge zu selten beachtet und wenig Gespür für die Kontinuität von Ungleichheitserfahrungen beweist. Dafür spricht auch, dass die zeithistorische Forschung einer ganzen Reihe von Phänomenen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat – ganz gleich, ob man die Geschichte von Antisemitismus, Rechtsradikalismus, Rechtsterrorismus oder Rassismus betrachtet: Erst die jüngste politische Entwicklung hat das zeithistorische Interesse an diesen Themenkomplexen geweckt, die in den oben genannten Gesamtdarstellungen meist noch nicht einmal am Rande erwähnt wurden. Hinzu kommt ein jenseits aller Aktualitätsbezüge erneuertes Interesse an der Demokratiegeschichte, die sich nun viel stärker für praxeologische  Statt zahlreicher Einzelbelege sei hier nur auf den umfassenden Literaturbericht verwiesen bei Kruke/Kufferath ().  Als kritische Replik auf Peter Hoeres vgl. Leendertz ().  So Frei/Maubach/Morina/Tändler ().

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und erfahrungsgeschichtliche Aspekte interessiert und auch auf diese Weise neue Zugriffe verspricht. Schon seit längerer Zeit hat sich zudem ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Nationalgeschichte in transnationalen und globalgeschichtlichen Zusammenhängen geschrieben werden muss – das gilt für Forschungen zum Menschenrechtsaktivismus genauso wie für ein neuerwachtes Interesse an der Wirkungsweise von Globalisierung und Kapitalismus. Ein im engeren Sinne demokratiegeschichtlicher Zugang hat bei der Interpretation und Erschließung der Jahrzehnte seit dem Strukturbruch der er Jahre noch kaum größeres interpretatorisches Gewicht gehabt – ganz so, als sei der dauerhafte Bestand der damaligen demokratischen Errungenschaften eine Selbstverständlichkeit und nicht vielmehr Objekt dauernder Anfechtungen gewesen. Demokratisierung als Prozess und Notwendigkeit, als alliiertes Oktroi, politisch-ideologisches Feindbild oder eigene Errungenschaft gehört zu den wichtigsten Leitbegriffen der bundesdeutschen Selbstthematisierung. Im Folgenden gilt es daher immer auch den Demokratisierungsbegriff selbst zu hinterfragen, wenn die Voraussetzungen, Ambivalenzen und Eigendynamiken eines Projekts betrachtet werden, das seine Wurzeln in den Erfahrungen der Weimarer Republik, im demokratischen Exil und in den alliierten deutschlandpolitischen Planungen des Zweiten Weltkriegs hatte. Zeitlich setzt der Band in den letzten Kriegsjahren an und verfolgt die Geschichte des Demokratisierungsprozesses bis in die Gegenwart: auf der Ebene der Erwartungen und Imaginationen, staatlicher Institutionen und Strukturen, wirtschaftspolitischer Weichenstellungen sowie gesellschaftlicher Diskurse und Mentalitäten. Dabei stellt sich – darauf verweist unser Titel – die Frage nach der Aneignung demokratischer Einstellungs- und Handlungsmuster heute in besonderer Weise: Was konnte zu unterschiedlichen Zeitpunkten überhaupt als demokratisch gelten, und wie veränderten sich die Akteure und der Bezugsrahmen des Demokratisierungsprozesses? Die Auseinandersetzungen um Nationalsozialismus und Weimarer Republik dienen als Ausgangspunkt des ersten Teils (Projekt: Demokratisierung), um den Erfahrungshintergrund der Deutschen zu erfassen. Zugleich entwickelten emigrierte Gegner des Nationalsozialismus – oft in enger Kooperation mit angloamerikanischen Regierungsbehörden und Think-Tanks – Pläne für den Umbau Deutschlands in eine Demokratie westlichen Stils und beteiligten sich nach  an Versuchen der Umsetzung. Vielfach wurden die in den Neuanfang und die Möglich Frei ().

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keiten der Demokratisierung gesetzten Erwartungen aber enttäuscht. Entsprechend versammelt der erste Teil Beiträge zur demokratischen Prägung durch die Weimarer Republik, zu Exil und Verfolgung und wirft so einen kritischen Blick auf die Traditionsstiftungs- und Gründungsgeschichte der bundesdeutschen Demokratie. In den er Jahren geraten dann strukturelle Demokratisierungsprozesse im Staat in den Blick. Dazu gehört die Etablierung von Institutionen in Politik, Justiz, Bildung, Kultur und Medien und ihre demokratische Ausgestaltung sowie vor allem die Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft mit der NS-Vergangenheit. Schon in der zeitgenössischen Restaurationsdebatte artikulierten sich Zweifel am Erfolg des demokratischen Projekts. Damals wie heute ist nach dem Verhältnis von struktureller Kontinuität und demokratischem Neuanfang zu fragen. Aber auch die demokratischen Auf brüche der er Jahre sind, wenn nicht zu relativieren, so doch vor dem Hintergrund der sich wieder verstärkt auch öffentlich äußernden autoritären und nationalistischen Strömungen in Politik und Gesellschaft sowie des nach wie vor virulenten Schlussstrichbedürfnisses zu betrachten. Im Zeichen von »Achtundsechzig« wurde besonders intensiv um die Frage gerungen, ob eine Demokratisierung der Gesellschaft überhaupt möglich, erstrebenswert oder notwendig sei. Der zweite Teil versammelt Beiträge, die den Ausprägungen und Folgen dieser gesellschaftlichen Polarisierung in den er und er Jahren auf den Grund gehen. Hier wird die Marginalisierung des Rechtsterrorismus durch die zeitgenössische Politik wie durch die zeithistorische Forschung ebenso betrachtet wie das mühsame Alltagsgeschäft der Etablierung demokratischer Praktiken in Betrieben oder Institutionen. Auch gilt es die nachlassende Bindekraft der Volksparteien und das Aufkommen von »Politikverdrossenheit« und Rechtspopulismus in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit zu untersuchen. So geraten Phänomene in den Blick, die das Bild von der inneren Demokratisierung komplettieren und um Aspekte ergänzen, die nicht zwingend ins Narrativ der »Erfolgsgeschichte« passen. Genau diese Selbstthematisierung der gealterten Bundesrepublik bildet den analytischen Ausgangspunkt des dritten Teils (Vollendung des Projekts?), der die Ereignisse von / und die ersten Jahre des deutsch-deutschen Einigungsprozesses untersucht. Westdeutsche Kontinuitätserwartungen trafen hier mit enttäuschten Umbruchshoffnungen im Osten zusammen – das zeigte sich schon bei der im Eiltempo vollzogenen Übertragung der  Frei ().  Frei ().

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institutionellen Ordnung der alten Bundesrepublik auf die fünf neuen Länder. Trotz aller Beharrungskräfte bekam aber auch die Ordnung der alten Bundesrepublik erste Risse; sie zeigten sich in der »Asylkrise« der frühen er Jahre und den schrillen Debatten über Ursachen und Folgen der »Globalisierung«, die mit der institutionellen Ordnung zugleich das Konsensmodell in Frage stellte und zum Bild des »Reformstaus« kräftig beitrug. Deutlich wird dabei, dass sich eine Geschichte der Demokratisierung nur unzureichend als rein deutsche Geschichte erzählen lässt. Schließlich war die Bundesrepublik eingebunden in ein internationales Netz an Bündnissen und zivilgesellschaftlichen Verflechtungen, die Debatten über Demokratisierung immer zu einem Teil des Kalten Krieges, des NordSüd-Konfliktes oder des sich seit den er Jahren wandelnden »neuen« Humanitarismus werden ließen. Die Gegenwart sensibilisiert Historikerinnen und Historiker für die akute Gefährdung der Demokratie, für die Schwierigkeit ihrer Verankerung und die Notwendigkeit ihrer Verteidigung. Daher beschäftigt sich der vierte und letzte Teil des Bandes mit der Anfechtung und Beharrung der Demokratie in der Gegenwart. Die Beiträge fahnden nach den Wurzeln des wachsenden Legitimationsproblems der repräsentativen Demokratie auf nationaler und europäischer Ebene. Sie nehmen soziale Ungleichheit und nachlassende gesellschaftliche Bindekräfte ebenso in den Blick wie die darauf antwortende Forderung nach mehr direkter Partizipation. Nicht nur in Deutschland, auch in den postkommunistischen Demokratien dienen »Populismus« und Elitenkritik als vermeintliche Problemlösung. Im Blickpunkt stehen auch die Medien, die sich längst als vierte Gewalt der Demokratie verstehen, zugleich aber durch Skandalisierung die Aufmerksamkeitsökonomie steuern und Legitimität einbüßen (»Lügenpresse«). Hier ist neben veränderten Grenzziehungen (Migrations- und Flüchtlingsdebatte, auflebender Antisemitismus) auch ein neues Bedürfnis nach Identitätsstiftung durch ein positives Geschichtsbild zu betrachten. Unser Ziel ist ein Band, der offen für Ambivalenzen und gegenläufige Entwicklungen ist. Die »Demokratisierung der Deutschen« wollen die Autorinnen und Autoren als einen realen, mitunter gefährdeten, fast immer aber widersprüchlichen Prozess historisieren, dessen weitere Entwicklung für die damaligen Zeitgenossen so wenig vorhersehbar war wie heute für uns. Damit greift der Band ein Thema auf, das für Norbert Frei besonders wichtig geworden ist.  Eckel ().

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Die »Demokratisierung der Deutschen« und die Gefährdungen der Demokratie durch die nationalsozialistische Herausforderung standen am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Eigentlich wollte er ja Journalist werden, damals, in den er Jahren an der Deutschen Journalistenschule, bei der er sich direkt nach der Schulzeit beworben hatte. Die Leidenschaft für die »vierte Gewalt« hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen und seine wissenschaftliche Arbeit, auch sein Interesse an der Demokratiegeschichte tief geprägt. Das Institut für Zeitgeschichte war damals der Ort der alten Bundesrepublik, an dem diese Debatten in all ihrer Widersprüchlichkeit geführt wurden, und viele von denen, die damals als junge Historikerinnen und Historiker dort zu arbeiten begannen, empfanden »Zeitgeschichte« eben nicht nur als eine Disziplin unter vielen, sondern auch als Kritik an den »herrschenden Zuständen«, als Teil einer Form der Gegenwartskritik, die die Altvorderen nur ungern hörten – und von der wir in diesen rauen Zeiten durchaus mehr gebrauchen könnten. Der Band möchte Norbert Freis . Geburtstag zum Anlass nehmen, viele »seiner« Themen zusammenzutragen. »Demokratisierung der Deutschen« ist ein weiter Begriff, und beileibe nicht alles, was relevant wäre, kann durch die Beitragenden abgedeckt werden, die sich alle, auf die eine oder andere Weise, Norbert Frei verbunden fühlen, ihn begleitet oder von ihm gelernt haben. Zugleich ist dieses Buch das Produkt gemeinschaftlicher Anstrengungen, an denen sich in intensiven Diskussionen auch Jacob Eder, Franka Maubach, Daniel Stahl und Maik Tändler beteiligten. Ihnen danken wir ebenso wie allen anderen, die zum Zustandekommen auf vielfältige Weise beitrugen. Ganz besonders gilt dies für Christiane und Nicolaus-Jürgen Weickart: Ihnen danken wir für ihre über all die Jahre engagierte und uneigennützige Förderung nicht nur dieses Bandes, sondern auch sämtlicher Aktivitäten des Jena Center seit dessen Gründung. Thedel v. Wallmoden und der Wallstein Verlag haben das Buchprojekt ebenso maßgeblich unterstützt und zu ihrer Sache gemacht. Jena, im Januar 

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Tim Schanetzky, Tobias Freimüller, Kristina Meyer, Sybille Steinbacher, Dietmar Süß, Annette Weinke

Projekt: Demokratisierung

Ein Dank an Norbert Frei J H

Norbert Frei hat während der er, also während jenes – im Gefolge der Studentenrevolte – am stärksten aufgewühlten Jahrzehnts der »alten« Bundesrepublik in München studiert, und zwar neben der Neueren Geschichte auch Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft. Gleichzeitig hat er an der Journalistenschule eine Redakteursausbildung absolviert. Er hat dieses doppelte, einerseits akademische, andererseits auf den Beruf des Journalisten vorbereitende Wissenspotenzial wissenschaftlich und publizistisch voll ausgeschöpft: In seiner Person vereinigt sich der um Versachlichung und Objektivität bemühte Zeithistoriker mit dem politisch engagierten Aufklärer. Diese in Personalunion gebündelten Kompetenzen konnte man beispielsweise  bewundern, als Norbert Frei in München die aufsehenerregende Studie über die NSVergangenheit des Auswärtigen Amtes vorstellte. Immerhin waren seit  bis zu dieser überhaupt ersten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit eines ehemaligen Reichsministeriums  Jahre vergangen. Und doch löste diese Untersuchung, die sich über die Tätigkeit des Amtes hinaus auch auf die Nachwehen dieser Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik erstreckte, damals eigentümlich affektiv getönte Einwände aus Profession und Publizistik aus. Daher musste Norbert Frei, der an jenem Abend in der Katholischen Akademie in München auch für seine Mitautoren sprach, die Studie nicht nur gegen die Einwände von Kollegen verteidigen; in einer gespenstischen Debatte musste er gegenüber den Nachfahren des seinerzeit handelnden Personals, also gegen Verwandte, die sich im festen Besitz ihrer Familiengeschichten wussten und erregt Anklage erhoben, gleichzeitig Volksaufklärung betreiben. Mein erwachsenes politisches Leben deckt sich zeitlich mit der Geschichte der Bundesrepublik; im Laufe dieser Jahre hat mich keine Erfahrung politisch so tief geprägt wie die sparsamen Informationen, die immer wieder neue Schlaglichter auf unsere bis in die er Jahre hinein fast undurchlässige Kultur der Verdrängung warfen. Als junge Leute hatte uns die Begegnung mit dem impertinenten Verdrängungsantikommunismus der er Jahre ohnehin schon mit Misstrauen gegen die überwältigende personelle Kontinuität der Eliten geimpft, die ungerührt ihre alten Positionen behalten oder wieder eingenommen hatten. 21

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Umso mehr erschütterte uns dann das tatsächliche, nicht für möglich gehaltene Ausmaß der Unterstützung des alten Regimes und der Beteiligung an dessen Verbrechen, das der dichte Filter jener Verdrängungskultur über die Dekaden nur tröpfchenweise an die Öffentlichkeit gelangen ließ. Auch nach mehr als sieben Jahrzehnten musste man noch auf Überraschungen gefasst sein. Das ist der Hintergrund für die bewundernde Genugtuung, mit der ich beides gelesen habe und weiterhin verfolge – einerseits Norbert Freis wissenschaftliche Untersuchungen zur NS-Zeit, andererseits die Kolumnen, die er in den Freitagsausgaben der Süddeutschen Zeitung schreibt, etwa über die Restitutionsforderungen des Hauses Hohenzollern oder die Initiative für ein Denkmal, das an die polnischen Opfer der NS-Herrschaft erinnern soll. Es ist weniger das journalistische Talent des Historikers, das diese Beiträge für die Leserschaft so nützlich macht, als vielmehr die Relevanz der Tatsachen, die der Historiker als nebenberuflich tätiger Journalist zur Hand hat und ad hoc einsetzen kann. Es sind die einschlägigen historischen Details – wie Kaiser Wilhelms Antisemitismus, die Rolle des Kronprinzen Wilhelm von Preußen um  oder die Beispiele einer barbarischen Volkstumspolitik im besetzten »Generalgouvernement« –, die jeweils als Gründe für die politische Einschätzung ins Gewicht fallen und beim Leser einen Aufklärungseffekt bewirken. Diese Vorzüge eines politisch denkenden Zeithistorikers, der seine Einsichten gelegentlich journalistisch verwertet, haben Norbert Frei in dem glänzenden Buch, das er mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern »wider die Rückkehr des Nationalismus« (Zur rechten Zeit, ) jüngst veröffentlicht hat, zu einer veritablen Geschichte der politischen Mentalitäten in beiden deutschen Nachkriegsrepubliken bis zur Wiedervereinigung und darüber hinaus befähigt. Das Buch steht unter dem seufzend aufrüttelnden Motto »Weil wir das (fast) alles schon einmal hatten«. In der Einführung heißt es dann: »Wer die jüngsten Erfolge der Rechtspopulisten verstehen will, tut gut daran, sich zu vergegenwärtigen, unter welchen Bedingungen in Deutschland nach  rechte Denkweisen verfangen und Anhänger finden konnten. […] Das Besorgnis erregende Neue sind nicht die alten Parolen. […] Schaut man genauer hin, haben sich die alten Sprüche über die Jahrzehnte kaum verändert. Neu aber ist, dass und in welchem Ausmaß die unermüdlich recycelten Forderungen nach ›Schlussstrich‹ und ›sicheren Grenzen‹, nach einer heilen Geschichte, einer ›reinen‹ Nation und nationalstolzen ›Leitkultur‹ auf Resonanz stoßen. Plötzlich erzielen sie, wie von einer Welle getragen, politische Wirkungsmacht.« Wenn es dann heißt: »Darum ist es an der 22

    

Zeit, sich klarzumachen, was die Renaissance rechten und rechtsradikalen Denkens bedeutet«, zeigt sich, dass die Autoren sehr genau wissen, was zeithistorische Aufklärung heißt – nämlich zu analysieren, was die gesicherten Erkenntnisse der historischen Forschung im Hinblick auf ein gegenwärtiges Orientierungsbedürfnis »für uns bedeuten«. Keine staatsbürgerliche Aufklärung ohne den Anspruch auf die Wahrheit der Kenntnisse, auf die sie sich stützt. Dieser Zusammenhang berührt eine Frage der Historik und der Hermeneutik, die sich ganz allgemein im Hinblick auf das Geschäft des Zeithistorikers stellt: Wie kann dieser die Objektivität der wissenschaftlichen Darstellung wahren, wenn er doch Historiker und Zeitgenosse in einer Person ist? Weil ich als historischer Laie beim gegebenen Anlass den professionellen Stimmen der Fachhistoriker nichts hinzufügen kann, möchte ich an philosophische Überlegungen erinnern, die diese Beunruhigung erklären, aber vor falschen Konsequenzen schützen können. Alle Geistes- und Sozialwissenschaften müssen sich ja zu ihren symbolisch strukturierten Gegenstandsbereichen einen hermeneutischen Zugang bahnen. Deshalb können sie sich ihrer Tatsachen nur dadurch vergewissern, dass sie intuitiv einen Blickwechsel vom Teilnehmer zum Beobachter vornehmen. So auch die Historiker im Allgemeinen: Sie erschließen sich über ihre Quellen einen bestimmten Objektbereich, indem sie als virtuelle Teilnehmer die darin angetroffenen Praktiken, Gespräche und Interaktionen vergesellschafteter Subjekte nachvollziehen, um das Geschehen erst zu verstehen und sodann aus der Beobachterperspektive als Tatsache beschreiben zu können. Sie müssen die Handlungen und Konventionen, die gesellschaftlichen Kontexte und Lebensformen verstanden haben, bevor sie einen historischen Verlauf als Gegenstand analysieren können. Für diesen Akt des Verstehens bietet sich als Modell das Lesen eines Textes an, wobei der Interpret sich gewissermaßen mit dem Autor über das Gesagte auf ein Gespräch einlässt. Daran kann man sich klarmachen, dass Geistes- und Sozialwissenschaftler ihren Gegenständen nicht wie ihre naturwissenschaftlichen Kollegen von vornherein in der Rolle eines neutralen Beobachters gegenübertreten, sondern zunächst wie die Beteiligten selbst als Teilnehmer in ihren Objektbereich eintreten. Um den Sinn des Ganzen und seiner Teile zu verstehen, müssen sie freilich die Qualifikation zu einer solchen Teilnahme – also das performative Wissen, wie man an solchen Praktiken und Lebenszusammenhängen teilnimmt – von Haus aus mitbringen. Sie müssen selbst sprechen und handeln können, um Gespräche und Handlungen zu verstehen. Diese Qualifikationen haben sie aber in jenem Lebenszusammenhang erwor23

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ben, in dem sie selbst aufgewachsen und sozialisiert worden sind. Und auf diese Komplikation kommt es mir an. Die Historiker nähern sich dem Verständnis der Praktiken, die sie daraufhin in wissenschaftlich erforschbare Tatsachen transformieren, nicht eigenschaftslos, sondern aus ihrem eigenen Verstehenshorizont. Darin besteht die bekannte Pointe der Gadamer’schen Hermeneutik: Sie können sich das von ihrer hermeneutischen Ausgangslage bestimmte »Vorverständnis« nicht aussuchen, sondern müssen sich seiner (wie ihre übrigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Kollegen auch) im Verlauf der Interpretation ihrer Gegenstände vergewissern, indem sie es vom Verständnis des zunehmend objektivierten und als Tatsachenzusammenhang beschriebenen historischen Geschehens selber differenzieren. Diese Bindung des Interpreten und seiner Verstehensbemühungen an den opaken lebensweltlichen Hintergrund seiner nicht frei gewählten, sondern selbst in der Geschichte verankerten Ausgangslage lässt sich im Zuge einer fortschreitenden Differenzierung vom Verständnis (und Selbstverständnis) des zu beschreibenden Geschehens korrigieren; sie lässt sich aber offensichtlich nicht vollständig neutralisieren, weil sich niemand den dichten Kontext des eigenen lebensweltlichen Hintergrunds ganz transparent machen kann. Denn immer verraten sich die ungetilgten Spuren dieser Bindung im Modus des Veraltens historischer Darstellungen (aber beispielsweise auch sozialwissenschaftlicher Theorien): Immer wieder zeigt es sich, dass die Nachgeborenen ohne eigenes Verdienst der Generation ihrer Lehrer über die Schultern sehen und in deren lebensweltlichem Kontextwissen die stillschweigenden Voraussetzungen entdecken können, die sich deren explizitem Wissen noch entzogen hatten. Andererseits begrenzt diese Bindung, die ja gleichzeitig die Brücke zum Verständnis des Anderen ist, den Wahrheitsanspruch von Interpretationen keineswegs grundsätzlich; denn unter den jeweils gegebenen Umständen kann eine Interpretation ihren Gegenstand in dem Maße zutreffend erfassen, wie die Differenzierung des eigenen Vorverständnisses vom Selbstverständnis der untersuchten Akteure und dem Sinn des historischen Vorgangs selbst gelingt. Da es der Historiker stets mit vergangenen Ereignissen, Episoden und Lebensformen zu tun hat, beschreibt Gadamer diese Arbeit der Objektivierung als »Überwindung des Zeitenabstandes«. Ich referiere diese bekannten hermeneutischen Einsichten, weil wir mit dieser Differenzierung des eigenen Vorverständnisses vom Sinn der »Sache selbst« die besondere Situation des Zeithistorikers vielleicht etwas besser bestimmen können. Interessanterweise wird nämlich die Arbeit 24

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des objektivierenden Verstehens nicht nur durch die sprachliche, kulturelle und zeitliche Entfernung eines Gegenstands (denken wir an die Geschichte der Etrusker) erschwert, sondern auch (wie im Fall der Zeitgeschichte) durch eine besonders enge kulturelle und zeitliche Nähe des Gegenstands. Die Versuchung, das eigene Vorverständnis vorschnell auf den Gegenstand zu projizieren beziehungsweise den fremden Gegenstand ans eigene Vorverständnis zu assimilieren, wächst in beiden Fällen, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Wenn die Dürftigkeit und Korruption der Quellen dem Verständnis einer weit zurückliegenden oder weit entfernten Kultur, wie es etwa bei den archaischen Hochkulturen im Hindustal der Fall zu sein scheint, Widerstand entgegensetzen, ist die Hypothesenbildung der Historiker oder Kulturanthropologen umso stärker auf die Wünschelrute eines hypothesenbildenden Vorverständnisses angewiesen, das von unserem Wissen über vergleichbare Kulturen zehrt. Hier fördert die Spärlichkeit der Daten das Irrtumsrisiko eines übergroßen Vertrauens auf die Verlässlichkeit des komparativen Blicks. Ein komplementäres Irrtumsrisiko besteht in dem Vertrauen auf das breite intuitiv geteilte Vorverständnis, mit dem sich eine Zeithistorikerin ihrem Untersuchungsgegenstand nähern kann, weil ihr eigener lebensgeschichtlicher Kontext davon einen vergleichsweise geringen Abstand hat. Die Personalunion des Zeitgenossen und der Historikerin begründet eine Überlappung des lebensweltlichen Hintergrundwissens, die dem jeweils eigenen Vorverständnis eine unmittelbare Erklärungsfunktion einräumt. Das Irrtumsrisiko eines übergroßen Vertrauens in die Erklärungskraft der intuitiv geteilten kulturellen Selbstverständlichkeiten kann dann aber leicht auf Kosten eines »ethnologischen Blicks« gehen, der den hypothetischen Charakter des gerade wegen der breiten Überlappung fehlbaren Vorverständnisses bewusst hält. Ohne einen solchen verfremdenden Blick hätte zum Beispiel Christopher R. Browning nicht in denjenigen, die im Sommer  zu willigen Vollstreckern von Hitlers »Endlösung« wurden, die »ganz normalen Männer« des ReservePolizeibataillons  entdecken können. Dieses Beispiel zeigt, dass ich von Irrtumsrisiken, nicht von unüberwindlichen Schranken spreche; es ist eine forschungspragmatische Frage, ob sich aus der erwähnten hermeneutischen Überlegung für den Zeithistoriker ein erhöhtes Irrtumsrisiko ergibt. Jeder Irrtum kann korrigiert werden, und dies umso eher, je klarer das Risiko zu Bewusstsein kommt. Im Übrigen führen perspektivische Einseitigkeiten der historischen Darstellung auch dann, wenn sie wegen der Provinzialität des endlichen Geistes gegenüber der Zukunft unvermeidlich sind, nicht not25

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wendig zu falschen Aussagen, sondern zu einseitigen Gewichtungen, die im Diskurs der Fachgenossen ausbalanciert werden können. Wenn es in der Zeitgeschichtsschreibung um die Gewichtung einschneidender, das heißt folgenreicher historischer Ereignisse geht, besteht eine schwer abzuschätzende Wahrscheinlichkeit, dass die lebensgeschichtliche Nähe der Historikerin zu einem solchen Geschehen das Gewicht, das dieses Datum bei der Einordnung in einen umfassenderen epochalen Zusammenhang erhält, präjudizieren wird. Stellen wir uns beispielsweise zwei historische Gesamtdarstellungen der deutschen Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart vor, wobei der eine der Autoren , der andere  geboren wurde. Beide haben also jeweils einen der beiden welthistorischen Einschnitte, die mit den emblematischen Jahreszahlen  und / verknüpft sind, im Alter von jeweils  Jahren erlebt, und zwar, wie wir annehmen wollen, derart emotional betroffen und wachen Bewusstseins, dass diese Erfahrungen auch für ihre politischen Einstellungen und Wahrnehmungen einen prägenden Charakter hatten. Unter diesen Umständen ist kaum auszuschließen, dass die perspektivenbildende Kraft dieser markanten Adoleszenzerfahrungen Spuren bei der Organisation des Stoffes und der relativen Gewichtung der persönlich erfahrenen Zäsuren in den Darstellungen der reifen, sagen wir: gleichermaßen qualifizierten Wissenschaftler hinterlassen haben könnte. Beide werden aus ihrer jeweiligen Perspektive dazu neigen, die einschlägigen Ereignisketten und Kontexte sehr viel argwöhnischer in den Blick zu nehmen und detaillierter zu untersuchen, sodass jeder in seinen Darstellungen andere Konsequenzen hervorhebt und betont. Mit diesem Gedankenexperiment will ich auf zwei Punkte aufmerksam machen. Einerseits geht es im Hinblick auf die Relevanz der jeweils maßgebenden Gesichtspunkte und die korrespondierenden Gewichtungen nicht unmittelbar um Wahrheitsfragen. Unsere beiden hypothetischen Gesamtdarstellungen können, auch wenn sie sich in den Gewichtungen widersprechen, aus ihrer Perspektive jeweils andere Erkenntnisgewinne zutage fördern. Und wenn sich keiner der Beteiligten eine grobe perspektivische Verzeichnung zuschulden kommen lässt, gibt es for the time being auch keinen Gottesstandpunkt, keinen view from nowhere, von dem aus ein neutraler Beobachter ad hoc entscheiden könnte, wer nun recht hat. Aber daraus zu schließen, dass es sich bei der Beurteilung unserer, wie angenommen, gleichermaßen kompetent durchgeführten Gesamtdarstellungen nur um Fragen der Literaturkritik handelte, wäre ebenso falsch. Andererseits nämlich wirft die relative Gewichtung der beiden historischen Weichenstellungen von  und / für die Darstellung der 26

    

Geschichte der deutschen Gesellschaft durchaus wahrheitssensible Fragen auf. Denn wir dürfen von der anschließenden Diskussion innerhalb des Faches erwarten, dass überproportionale Gewichtungen über kurz oder lang korrigiert werden. Selbst wenn das korrigierende Urteil der Profession im Fall der Zeitgeschichtsschreibung einen gewissen zeitlichen Abstand braucht, können solche Kontroversen in anderen Fällen nach viel längerer Zeit wieder aufbrechen, wenn beispielsweise neue Interpretationen eines festen und längst erforschten Quellenbestands, etwa des antiken Griechenlands, auftreten, ohne grundsätzliche Zweifel an den Wahrheitsansprüchen der entsprechenden Disziplin auf den Plan zu rufen. Daher kann und soll auch der Zeithistoriker wie jeder andere Geistes- und Sozialwissenschaftler für seine Aussagen den Anspruch auf eine nicht nur hier und für uns, sondern universal gültige Wahrheit erheben. Und weil die relative Überlappung der Rolle des Historikers mit der des Zeitgenossen für diese Disziplin keinen grundsätzlichen Befangenheitsverdacht begründen kann, bietet diese sich sogar für jene systematische Kombination der beiden Rollen an, von der Norbert Frei Gebrauch macht: nämlich die Erkenntnisse des Faches, die der Zeithistoriker als Forscher gewinnt und als Lehrer weitergibt, als Aufklärer und Staatsbürger im Lichte gegenwärtiger Orientierungsbedürfnisse zu analysieren, um seinen Mitbürgern aus aktuellem Anlass zu zeigen, was diese Erkenntnisse für uns bedeuten. Gerade in der Bundesrepublik setzt Norbert Frei damit, übrigens aus zeitgeschichtlich einleuchtenden Gründen, eine Reihe bedeutender Kollegen fort.

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Wohin die Erinnerung führt S F

Dieser Aufsatz beschäftigt sich im Wesentlichen mit drei Fragen: Was wusste man im Westen unmittelbar nach dem Krieg über die NS-Verbrechen? Wie hat sich die nationale Erinnerung an dieses Ereignis in Israel, Westdeutschland, Frankreich und den USA im Laufe der Zeit entwickelt? Wohin sollte meiner Meinung nach diese Erinnerung in den USA führen?

Was man nach dem Krieg wusste Ein paar Stichworte definieren seit Kriegsende das Schicksal der europäischen Juden von  bis : der rassische Antisemitismus der Nationalsozialisten, die Illusionen der Juden, wachsende Angst, Flucht, Versteck, Verhaftung und Deportation, Vernichtung, zufälliges Überleben. Jedes dieser Stichworte bezieht sich auf die offenkundigen Unterschiede in den individuellen Geschichten, aber auch auf das gemeinsame Schicksal der europäischen Juden unter deutscher Besatzung. Das Sammeln von Dokumenten und das schriftliche Festhalten der Ereignisse, wie es zum Beispiel die Oneg Shabat-Gruppe unter Führung des Historikers Emanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto praktizierte, lässt sich als Beginn der Aufzeichnung der Shoah (ich ziehe dieses Wort der aus meiner Sicht zu sehr von Hollywood kompromittierten Bezeichnung »Holocaust« vor) betrachten. Die von den Alliierten am Ende des Krieges beschlagnahmten und in den Nachkriegsprozessen verwendeten deutschen Dokumente bildeten zusammen mit den Erinnerungen der Überlebenden und den Aussagen mancher Täter eine umfassende Basis für die unmittelbare Kenntnis der wesentlichen Ereignisse. Allerdings gibt es, wie der Historiker Eric Hobsbawm sagte, »eine Grauzone zwischen Geschichte und Erinnerung, zwischen der Vergangenheit als verallgemeinertem, für eine relativ leidenschaftslose Betrachtung offe-

 Der Text basiert auf einem Vortrag, gehalten am . September  an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee (USA).

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nem Bericht und der Vergangenheit als Bestandteil oder Hintergrund des eigenen Lebens.« Wenn man am Ende des Krieges Berichte über die Shoah las oder hörte, wie viele auch immer, entstand zunächst der Eindruck, die deutschen Dokumente – genauso wie die Juden, die im von Deutschland besetzten Europa überlebt hatten – berichteten von einigen wenigen Variationen eines Prozesses, der auf dem ganzen Kontinent nach sehr ähnlichem Muster verlaufen war, und die Unterschiede seien im Wesentlichen einer begrenzten Zahl äußerer Umstände geschuldet. Dieser Eindruck war nicht falsch und ging an erster Stelle auf die systematische Entfaltung der deutschen Politik zurück, die nach der Entscheidung, alle Juden zu vernichten, deren man habhaft werden konnte – elf Millionen laut den Berechnungen des Leiters des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, auf der Wannseekonferenz  –, einen sehr präzisen und rationalen Verlauf nahm. Dieser reichte von der Sammlung der Opfer über ihren Transport an die Orte der Tötung bis zu den Methoden der Vernichtung. Natürlich hing der Erfolg eines solchen Unternehmens von einer sehr großen Zahl praktischer Maßnahmen ab, die nur ein moderner Staat unter Einsatz sämtlicher verfügbarer bürokratischer und technischer Mittel durchführen konnte. Aber sie folgten auch Standardabläufen, zumindest bis zur Vernichtung selbst, bei der zum Teil schon bekannte Tötungsmethoden angewandt und zum Teil Neuerungen eingeführt wurden. Die Juden, die überlebt hatten und die Geschichte erzählen konnten, waren Zeugen der Vernichtung, aber nur gelegentlich und in der Regel bloß aus der Entfernung; sie hatten dem gorgo, um mit Primo Levi zu sprechen, nie ins Gesicht geschaut, denn das hatten nicht die Geretteten, sondern nur die Untergegangenen getan. Der zweite Grund für diesen Eindruck von Einheitlichkeit liegt in der Tatsache, dass das Deutsche Reich angesichts des Krieges, den es führte, während die Juden getötet wurden, eine ungeheure Zahl von Hilfskräften mobilisieren musste, im Wesentlichen lokale oder nationale Polizeikräfte, unter welchem Deckmantel auch immer. Der dritte Grund bestand darin, dass die Opfer nur sehr wenige Möglichkeiten hatten, sich zu verstecken, sei es in Familien, in Institutionen oder – selten – an entlegenen Orten, immer mit neuer Identität. Nach außen folgte die Reaktion der großen Mehrheit all derer, die sich der drohenden Vernichtung nicht entziehen konnten, einigen identischen Mustern, entweder weil andere Möglichkeiten fehlten oder weil sie sich vielleicht an jüdische Verhaltensregeln aus der Geschichte hielten, wie Raul Hilberg vermutete. 29

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Die Geschichtsschreibung stärkte anfänglich diese grundlegenden Bilder im Darstellungsrahmen der Shoah, sei es durch immer detailliertere Untersuchungen des Vernichtungsprozesses im Gefolge von Hilbergs Klassiker Die Vernichtung der europäischen Juden von  oder durch die Erforschung des kollektiven jüdischen Verhaltens etwa in Ghettos, Widerstandsgruppen, Judenräten usw., die hauptsächlich in Israel geleistet wurde. Aber auch auf dieser Ebene war der Eindruck der Ähnlichkeit nicht falsch, folgten diese Gruppen doch einigen Wegen, die unter den Gegebenheiten oder dem, was sie dafür hielten, logisch waren. Dieses Gefühl von Uniformität – und hier verlasse ich meine Beschreibung der Wahrnehmung in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Krieg – veränderte sich erst viel später, als die Geschichtsschreibung statt auf das Kollektiv auf das Individuum blickte und die Stimmen der Opfer aus Tagebüchern, Briefen und den unterschiedlichsten persönlichen Botschaften, aber auch die Stimmen der Zuschauer und natürlich die Briefe und privaten Tagebücher der Täter zu integrieren begann. Plötzlich wurde das festgefügte Bild durch eine Myriade von Elementen ergänzt, durch ein ganzes Universum von individuellen Wahrnehmungen, dem Schreien und Flüstern der Opfer, der Gleichgültigkeit und dem Hass. Das allgemeine Muster der vergangenen Ereignisse veränderte sich nicht, aber es kam eine neue, vielfältige Dimension hinzu. Für die Opfer war diese Vielfalt vor allem eine Angelegenheit puren Zufalls. Lassen Sie mich an einem persönlichen Beispiel zeigen, was Zufall hier bedeutete. Als im Juli  zuerst im besetzten, dann aber auch im sogenannten nichtbesetzten Frankreich, in dem meine Eltern mit mir Zuflucht gesucht hatten, nachdem wir aus Prag und dann aus Paris geflüchtet waren, die Jagd auf Juden begann, gerieten sie in Panik. Sie schickten mich in ein Kinderheim, das etwa drei Bus- und Bahnstunden von unserem Wohnort entfernt in einer sehr isolierten Gegend lag. Es war ein jüdisches Heim. Ich kam an einem strahlenden Augustnachmittag dort an; gerade fand ein sportlicher Wettkampf unter mehreren hundert überwiegend jüdischen Flüchtlingskindern aus Polen statt. Ich freute mich über das, was ich sah, mochte den Ort und schlief später ohne Probleme ein. Gegen zwei Uhr morgens holte uns großer Lärm aus den Betten und raus aus den Schlafsälen: Die französische Polizei war da. Alle Kinder ab zehn Jahren mussten vortreten, wurden auf Lastwagen gepackt und abtransportiert. Ich wurde erst drei Monate später zehn. Die Polizisten sagten, uns würden sie in der nächsten Nacht abholen. Am nächsten Abend nahm jedes der älteren Kinder (zu denen ich jetzt gehörte) ein jüngeres Kind, um das wir uns kümmern sollten – meines war etwa fünf Jahre alt –, mit 30

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in einen nahe gelegenen Wald, wo wir die Nacht verbrachten. Am nächsten Tag wurde ich nach Hause geschickt. Meinen Eltern wurde klar, dass wir jüdische Einrichtungen fortan um jeden Preis meiden mussten. Mit Hilfe einer bekannten katholischen Familie, mit der wir befreundet waren, brachten sie mich als regulären Internatsschüler im katholischen Seminar einer benachbarten Stadt unter, allerdings unter einer Bedingung: Mein Vater musste schriftlich einwilligen, dass ich getauft und nach dem Krieg als Katholik erzogen werden sollte. Meine Eltern versteckten sich in derselben Stadt in einem Krankenhaus und schlossen sich ein paar Tage später in Lyon einer Gruppe an, die über die Alpen in die Schweiz gehen wollte. Sie glaubten, der Treck sei für einen Zehnjährigen zu gefährlich. Die Schweizer Grenzpolizei, die von ein paar Jugendlichen, die aus einer Wirtschaft kamen, benachrichtigt worden war, verhaftete die ganze Gruppe. Die Paare aber, die Kinder bei sich hatten, durften aufgrund einer in dieser Woche geltenden Sondergenehmigung die Grenze überschreiten; wäre ich dabei gewesen, wären wir wahrscheinlich in Sicherheit gewesen. Die Schweizer übergaben meine Eltern an die französische Polizei. Die Franzosen lieferten sie nach einigen Wochen in einem ihrer eigenen Lager an die Deutschen aus, die sie wiederum nach Auschwitz deportierten, wo sie ermordet wurden. Drei Faktoren besiegelten unser Schicksal: die Entscheidung für Frankreich als Ziel der Flucht, mein Alter – ich war im August  noch nicht ganz zehn – und die Entscheidung meiner Eltern, mich bei ihrem Versuch, die Schweiz zu erreichen, nicht mitzunehmen. Die Entscheidungen waren vernünftig, das Endergebnis katastrophal.

Erinnerung und Historiographie Ein paar Bemerkungen zur Entwicklung der nationalen Erinnerung an die Shoah und ihrer Historiographie in einigen westlichen Ländern: Der Weg eines Tatsachennarrativs in die kollektive Erinnerung hängt wesentlich von der gesellschaftlichen Funktion ab, die diese Erinnerung erfüllt oder nicht erfüllt. Das gilt für positive Erinnerungen, aber auch und vielleicht hauptsächlich für traumatische. Während auf der individuellen Ebene die Erinnerung an das Trauma oft nicht aufgelöst wird, sondern mit der Zeit einfach verschwindet, wird das Trauma auf der kollektiven Ebene meist in ein breiteres, kohärentes Narrativ integriert und verwandelt sich so von einem negativen und oft unbegreiflichen Geschehen in ein positives und ermächtigendes Mandat der Gemeinschaft. 31

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Ein typisches Beispiel ist die Erinnerung an ein durch und durch traumatisches Ereignis der Moderne vor dem Holocaust: den »Großen Krieg«, also den Ersten Weltkrieg. Die primäre Funktion der Erinnerung in allen kriegführenden Ländern bestand darin, ein Narrativ zu schaffen, das der Opferung so vieler Menschenleben Bedeutung verleihen konnte. »Das Ziel«, so der Historiker George Mosse, »bestand darin, eine inhärent unerträgliche Vergangenheit annehmbar zu machen, wichtig […] vor allem für die Rechtfertigung der Nation, in deren Namen der Krieg geführt worden war. Man könnte sagen, die Wirklichkeit der Kriegserfahrung wurde in den ›Mythos der Kriegserfahrung‹ verwandelt, der auf den Krieg als sinnvolles, ja sogar geheiligtes Ereignis zurückblickt.« Die generelle Bedeutung dieses Krieges verwandelte sich rasch in sakralisierte politische Narrative. In Frankreich zum Beispiel errichtete jedes Dorf, jede Stadt ein monument aux morts, ein Kriegerdenkmal mit den Namen der auf dem Schlachtfeld gefallenen Einwohner. Und am . November gab es immer mindestens zwei konkurrierende Gedenkfeiern: eine nationalistische und eine pazifistische, die sich beide auf dieselben Toten beriefen und mit emotionalen Reden und emotionalen Reaktionen fahnenschwingende lokale Menschenmassen mobilisierten. Solche widersprüchlichen Feierlichkeiten strukturierten in den er und er Jahren das politische Leben in den meisten europäischen Ländern und fungierten in jedem politischen Lager als Träger pathetischer Ideale, sodass die Erinnerung an die Toten die Lebenden in sehr verschiedene politische Richtungen trieb. Der Zweite Weltkrieg löschte die Erinnerung an den »Großen Krieg« nicht aus, beendete aber seine Funktion in der politischen Landschaft Nachkriegseuropas: Heute sind die heiligen Nationen und mit ihnen die zwingenden Metanarrative der zwei Weltkriege als Kriege verschwunden. Es gibt immer noch Gedenkfeiern, aber sie haben sich in Rituale verwandelt, an denen immer weniger Menschen teilnehmen. Wie lange lässt sich die Erinnerung an traumatische Ereignisse gesellschaftlich vermitteln? Sie kann, je nach Bedeutung und Möglichkeit, über Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte lebendig bleiben und in ein positives Narrativ integriert werden. Der Übergang der Französischen Revolution, so einer ihrer wichtigsten Historiker, François Furet, von der lebendigen Erinnerung zur normalen Geschichte vollzog sich etwa um den . Jahrestag im Jahr . Das alles führt zu einer wichtigen Frage, die man, allgemein ausgedrückt, so formulieren könnte: Was passiert mit der Erinnerung an vergangene Ereignisse wie die Shoah, deren gesellschaftliche Funktion nicht 32

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a priori in das integriert werden kann, was wir bisher als Narrativ mit positiver, ja sogar sakraler Bedeutung für die nationale oder für andere Gemeinschaften definiert haben? Um diese entscheidende Frage zu beantworten, müssen wir in aller Kürze die Entwicklung dieser Erinnerung von der Nachkriegszeit bis heute betrachten, zunächst unter den Überlebenden und dann in einigen direkt beteiligten westlichen Ländern. Die Erinnerung an die Shoah bei denen, die sie überlebt hatten, muss aus drei sehr verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Eine kleine Gruppe hat nicht nur die Erinnerung an die Vergangenheit verbannt, sondern auch die Selbstidentifizierung als Juden. Eine große Gruppe hat die jüdische Identität nicht aufgegeben, sich aber geweigert, über die Shoah zu sprechen, ob innerhalb oder außerhalb der Familie. Und eine dritte Gruppe schließlich hat über die Erinnerung an die Shoah gesprochen, aber sehr lange nur im eigenen geschlossenen Kreis von Überlebenden. Meine sehr vereinfachte Einschätzung dieser drei Formen des Schweigens – und ich kenne sie alle – verweist auf verschiedene Grade der Abwehr einer zuzeiten unerträglichen Erinnerung und, ich sage das mit großem Zögern, auf verschiedene Grade der Scham. Es gibt die Scham des Opfers, weil es Opfer ist, und nur eine Veränderung in der Einstellung der Umgebung zu dieser Vergangenheit hat die dritte Gruppe ermutigt, sich der Außenwelt zu stellen und ihre Erinnerungen weiterzugeben. Die Scham der Überlebenden lässt sich besser verstehen, wenn wir uns statt der individuellen der kollektiven Erinnerung an die Shoah auf verschiedenen nationalen Ebenen zuwenden, angefangen mit der jüdischen Gemeinde in Palästina, gefolgt von der offiziellen Haltung der Israelis bis Anfang der er Jahre. In diesen beiden Nachkriegsjahrzehnten war es in Israel üblich, den europäischen Juden in ihrer Gesamtheit eine schändliche Passivität angesichts der Vernichtung vorzuwerfen: »Sie ließen sich wie Schafe zur Schlachtbank führen«, lautete die sakralisierte Formulierung. Nur die kleine Minderheit der Ghettokämpfer wurde als beispielhaft und des Vergleichs mit dem »neuen Juden«, dem furchtlosen Krieger, der im Land der Väter angeblich heranwuchs, würdig dargestellt. Diese Ideologie wurde amtlich durch die anfängliche Bezeichnung der Vernichtung als »Katastrophe und Heldentum« (Shoah ve Gvurah) und die Entscheidung, den nationalen Gedenktag zeitlich so eng wie möglich mit dem Datum des Aufstands im Warschauer Ghetto zu verbinden. Vieles davon hat sich mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem  verändert, bei dem zahlreiche Zeugen einem aufmerksamen Publikum konkrete Einzel33

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heiten über das Leben und Sterben der Juden in Hitlers Europa präsentierten. Nach dem Sechstagekrieg  war die israelische Erinnerung an die Shoah nicht mehr von Scham geprägt, sondern stand zwischen zwei entgegengesetzten Polen politischer Metadiskurse: Für die nationalistische Rechte rechtfertigte sie die Besatzungspolitik, da Israel alle Mittel zur Verteidigung seiner Existenz gegen seine Feinde nutzen sollte, um die vergangenen Fehler des jüdischen Volkes nicht zu wiederholen. Bei der Linken warf man diesen Nationalisten vor, die Erinnerung an die Katastrophe auszunutzen, um die Besetzung Palästinas zu rechtfertigen. In Westdeutschland entwickelte sich die Erinnerung an die Shoah natürlich ganz anders. Vom Ende der er bis zu den späten er Jahren lebten die meisten Deutschen in einer Art Pseudo-Amnesie, da Teile der regierenden Elite unter den Kanzlern Adenauer und Erhard schon im Dritten Reich im Amt gewesen waren und diese Generation ganz normaler Deutscher keine negative Erinnerung an die Hitler-Jahre besaß. Zudem war die Meinung verbreitet, Deutschland habe durch die Reparationen an Israel und die Entschädigungszahlungen an die deutschen Juden, die die Shoah überlebt hatten, seine Pflicht getan und stehe jetzt im Kalten Krieg auf der Seite der Demokratie. Im Übrigen seien die Verbrechen der Alliierten gegen die Deutschen nicht weniger schrecklich gewesen als die der Nationalsozialisten (die Bombardierung Dresdens wurde regelmäßig als Beispiel angeführt, genauso wie die Gräueltaten der Roten Armee, nachdem sie auf deutsches Gebiet vorgedrungen war), und schließlich sei Hitler kein Deutscher, sondern entweder Dämon oder Österreicher gewesen. Diese Amnesie begann – sehr langsam und zu kleinen Teilen – erst in den er Jahren zu bröckeln, als Ergebnis des Eichmann-Prozesses, des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von  bis  und der Studentenbewegung, die sich in Westdeutschland in einen Aufstand der Söhne gegen ihre Väter um die Frage »Wo warst du, Vater?« verwandelte, das heißt: Was hast du unter Hitler getan? Dieser »Aufstand« war relativ kurzlebig, aber in jedem Fall fand ein Generationenwechsel statt, und der allgemeine Diskurs wurde offener für die Vergangenheit. Von da an – und in den er Jahren nicht ohne Schwierigkeiten – wuchs die Erinnerung an die Shoah und wurde im wiedervereinigten Deutschland sehr präsent, manche würden sagen: allzu präsent. Bevor ich mich der Entwicklung einiger Aspekte der westlichen Geschichtsschreibung zuwende, will ich mich noch mit der Erinnerung an die Shoah in einem von den Deutschen im Krieg besetzten Land beschäftigen: mit Frankreich. 34

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Beim Umgang mit der beschämenden Erinnerung an die Kriegsvergangenheit wies die rechte gaullistische Partei genauso wie die kommunistische Linke, also die beiden politischen Antagonisten, die die Résistance von Beginn an anführten, die Tatsache zurück, dass der Großteil der Bevölkerung sich mit Pétains Vichy oder, schlimmer, mit den Forderungen der Deutschen arrangiert hatte. Sie verteidigten unerbittlich das mythische Bild eines breiten Widerstands, der tatsächlich aber nicht vor  ernsthaft begonnen hatte. Die beiden entgegengesetzten politischen Seiten waren sich darin einig, dass es sich bei den Unterstützern Pétains nur um eine kleine Gruppe von Verrätern gehandelt habe. Und die französische Beteiligung an der Verfolgung und Deportation der Juden? Sie wurde einfach nicht erwähnt. Als ich in Paris Mitte der er Jahre studierte, kamen die Deportationen in Robert Arons Standardgeschichte Vichys gar nicht vor. Es brauchte Jahrzehnte, um die Sache richtigzustellen. Tatsächlich begann der Wandel Mitte der er Jahre, als der amerikanische Historiker Robert Paxton eine verlässliche Geschichte des Vichy-Regimes schrieb. Sie setzte sich  weiter fort, als Paxton und der kanadische Historiker Michael Marrus das epochale Werk Vichy and the Jews vorlegten. Von da an brachten neue Generationen die Erinnerung an die französische Kollaboration ans Licht, die der sozialistische Präsident François Mitterrand immer noch nicht offen anerkannte, die aber Ende der er Jahre vom konservativen Präsidenten Jacques Chirac eingeräumt wurde. In Deutschland gab Bundespräsident Richard von Weizsäcker die historische Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen des Dritten Reiches in einer offiziellen Rede am . Mai  uneingeschränkt zu. Wie die Deutschen erkannten auch die Franzosen seit Ende der er Jahre ihre Kollaboration an, und heute wird Vichy in jeder allgemeinen historischen Darstellung an erster Stelle durch seine Beteiligung an der Verfolgung und Deportation der Juden definiert. Das führt zurück zu der oben gestellten Frage: Wie kann man solch eine kriminelle Vergangenheit in die nationale Erinnerung integrieren und sie in eine positive Botschaft verwandeln? Durch die Anerkennung des Geschehenen und vor allem durch die Interpretation der Vergangenheit als Mahnung. Bis hierher habe ich die Historiographie der Shoah kaum gestreift; entweder behandelt man sie als eigenen, der Erinnerung konzeptuell entgegengesetzten Bereich oder als einen der Nebenflüsse eines breiten Flusses, den man als historisches Bewusstsein bezeichnen kann und in den im Wesentlichen Filme, Literatur und Kunst einfließen. Wenn es um das 35

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Wesen des historischen Bewusstseins geht, mag man sich an die von Eric Hobsbawm erwähnte Grauzone erinnern oder an die Beschreibung des ebenfalls verstorbenen Amos Funkenstein. Der behauptet in Übereinstimmung mit Hobsbawm, dass der Historiker nicht in einem Vakuum schreibe. Vielmehr spiegele seine Geschichte oft die kollektive Selbstwahrnehmung oder das historische Bewusstsein, das von der Gesellschaft geteilt wird, in der er lebt. Beim historischen Bewusstsein der Shoah in Europa kann diese Selbstwahrnehmung, wie wir gesehen haben, in Vermeidung bestehen, zumindest eine Zeitlang. In Westdeutschland – wo die Geschichte des Dritten Reiches dominant wurde – musste die Shoah warten, bis Mitte der er Jahre ein für die Auschwitz-Prozesse zusammengetragener Sammelband veröffentlicht wurde, während Hitlers Aufstieg zur Macht von Anfang an gründlich analysiert worden war. Raul Hilbergs schon erwähnte klassische Studie Die Vernichtung der europäischen Juden dagegen, die  in Chicago erschien, lag in Deutschland erstmals  in einer sehr mangelhaften Übersetzung vor. Die Mitte der er Jahre erschienenen Studien von Hans Mommsen und Martin Broszat über die Shoah räumten die Verbrechen des Regimes ein, erklärten aber die Vernichtung der Juden entweder als unvorhergesehenes Ergebnis einer Reihe willkürlicher Maßnahmen, die auf interne Machtkämpfe, aber keineswegs auf Absicht zurückgingen, oder sie schrieben die Verantwortung einzig der kriminellen Parteielite zu, während die Millionen normaler Deutscher daran nicht beteiligt gewesen seien. Letztere blieben vielmehr unberührt, lebten in gewissem Sinne unter einem Regime, dessen Politik sie nicht unterstützten. Vor ein paar Jahren zeigte der Soziologe Harald Welzer, dass die meisten Deutschen heute die Verbrechen des Dritten Reiches anerkennen, aber weiterhin davon überzeugt sind, dass die eigene Familie Hitler nicht unterstützt habe: Opa war kein Nazi lautete der Titel seiner Untersuchung. Die Verantwortung lag und liegt überwiegend also immer noch bei anderen.

Wohin die Erinnerung führt Ein Aspekt des zukünftigen Kontexts der Erinnerung an die Shoah lässt sich mit absoluter Sicherheit voraussagen: Die Zeit der Zeugen ist vorbei. Von den »Überlebenden« wird bald keiner mehr am Leben sein. Die Bedeutung dieses Übergangs liegt nicht in irgendeinem speziellen Faktenwissen, das die Überlebenden mit sich trugen; Dokumente sind zu36

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verlässiger. Aber was Dokumente nicht erzeugen können, ist die sehr greifbare Leidenschaft, die diejenigen Überlebenden besaßen, die zu reden bereit waren. In diesem Sinne gehen wir vielleicht auf eine Ära der Ritualisierung und Gleichgültigkeit zu. Und das wahrscheinlich in einer Zeit, in der das, was wir nie wieder zu sehen erwarteten, massiv wiederkehrt. Damit meine ich nicht nur das erneute Auftauchen extremer rechter Bewegungen in Europa, unter anderem in Ungarn und Frankreich, und in den USA meine ich nicht nur Charlottesville, sondern auch eine neue Umfrage der Universität von Virginia, die gezeigt hat, dass zwar nur sehr wenige eine Unterstützung für Neonazis, White Supremacists oder den Ku-Klux-Klan äußern, aber viele von deren Ansichten teilen, vor allem im Hinblick auf die »Verteidigung der weißen Rasse«. Die extreme Rechte erlebt hier und in Europa eine profunde Verjüngung, teilweise aufgrund einer geschickten Nutzung des Internets. Zu allem Überfluss berichtete die New York Times am . September  vor den anstehenden Wahlen in Deutschland über eine neue Frage im »Wahl-O-Mat«, einer von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichten Website, mit deren Hilfe Wähler feststellen können, welche Parteien ihren Vorstellungen am nächsten stehen. Die neue Frage in diesem Jahr lautete: »Ist der Holocaust ein essenzieller Teil der deutschen Erinnerungskultur?« In den Worten des Reporters der New York Times »spricht dieser Zusatz, jahrelang undenkbar, Bände über den Einfluss der extremen Rechten, verschleiert durch die Ruhe einer vorhersagbaren Wahl«. In diesem neuen Kontext erfordert die Frage »Wohin führt die Erinnerung?« notwendigerweise irgendeine Form der Reaktion, des Protests, des Widerstands. Die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten verlangt von der Opposition, so schwach sie auch ist, heute eine sehr ernsthafte Diskussion. Sie verlangt die systematische Untersuchung der Gründe für diese Schwäche. Ein paar Jahre vor Hitlers Aufstieg zur Macht schrieb der französische Philosoph Julien Benda ein Buch mit dem passenden Titel La trahison des clercs (»Der Verrat der Intellektuellen«). Benda wusste natürlich nicht, was kommen würde, in Frankreich, in Deutschland und bald in ganz Europa: der Zusammenbruch politischer Oppositionsparteien, der Universitäten, der Kirchen. In Deutschland bedeutete es eine quasi allgemeine Unterwerfung unter das Regime, bis gegen Ende des Krieges nationalistische deutsche Offiziere Hitler zu töten versuchten und scheiterten. Die Wenigen, die es wagten, ihre Meinung zu sagen, die zu handeln ver37

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suchten, bezahlten dafür mit ihrem Leben. Und die Haltung der meisten Widerständler war nicht eindeutig, vor allem, wenn es um Antisemitismus ging. Es gab ein paar strahlende Figuren: den katholischen Domprobst der St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlin, Bernhard Lichtenberg, der auf dem Weg nach Dachau starb, den protestantischen Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, der gehängt wurde, die Münchener Studenten Hans und Sophie Scholl und ihre Gruppe, die geköpft wurden, und einige andere. Und da es so wenige Widerständler aus rein moralischen Gründen gab, haben ihre Worte eine universelle Qualität, die auch die Entscheidungen betrifft, mit denen wir in unserer Gesellschaft konfrontiert sind. Hans von Dohnanyi, der Schwager von Pfarrer Bonhoeffer, antwortete auf die Frage, was ihn zum Widerstand gebracht hatte, kurz vor seiner Hinrichtung mit einem Satz, der in seiner Schlichtheit immer und überall gilt: »Wir wählten den Weg, den ein anständiger Mensch zwangsläufig geht.« In den USA lebt niemand unter so schrecklichen Umständen; der Preis des Protests, wenn es ihn denn gibt, ist im Allgemeinen gering, und nichts scheint wahrhaft bedrohlich. Aber sobald sich eine Ideologie des Hasses und der Verachtung breitmacht, kann man nie wissen, wie weit sie geht und wie schnell sie um sich greift. Wie das deutsche Sprichwort sagt: »Wehret den Anfängen!«

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Weimar als Generationserfahrung A W

Seit Langem schon gehört Norbert Frei zu jenen Zeithistorikern, die sich nachdrücklich in die politische Tagesdebatte einschalten; ja für ihn ist es geradezu eine Pflicht des Historikers, aus seiner spezifischen, professionellen Kenntnis heraus zu politischen Fragen Stellung zu beziehen. Neben der eingehenden Erforschung der NS-Diktatur selbst ist eines seiner durchgehenden Themen der Umgang mit dem Nationalsozialismus nach  im Zeichen von Elitenkontinuitäten und »Vergangenheitspolitik«. Dies ist das wissenschaftliche Fundament, auf dem seine Zeitdiagnosen beruhen und mit denen er sich als einer der einflussreichsten öffentlichen Mahner gegen alte und neue Gefährdungen der Demokratie von rechts etabliert hat. Wenn ein Spektrum der extremen politischen Rechten entsteht und die Demokratie sogar bedroht zu sein scheint, fragt die deutsche Öffentlichkeit geradezu reflexhaft nach der möglichen Wiederkehr von »Weimarer Verhältnissen«. In einem Land, dessen Geschichte so stark vom Untergang der Demokratie und der sich anschließenden verbrecherischen Diktatur gezeichnet ist, dürfte ein solcher Reflex wohl unvermeidlich sein. Wieweit er wissenschaftlich begründbar ist, ist eine andere Frage, die freilich alles andere als einfach zu beantworten ist. Zu Recht hat Norbert Frei mehrfach darauf hingewiesen, wie anders die heutigen Verhältnisse im Vergleich zu Weimar sind – sei es im Hinblick auf die politische Justiz, die demokratische Orientierung der Eliten oder auch die wirtschaftlichen Verhältnisse. »Ich glaube«, so resümierte er kürzlich, »in den vergangenen Jahren war zu viel von Vergleichen mit der Endphase der Weimarer Republik die Rede. Man sollte das nicht überziehen, die sozialen und politischen Unterschiede liegen ja auf der Hand. Aber genauso gefährlich wäre es, zu meinen, die heutige Demokratie sei gegen alle Gefährdungen immun.«  Vgl. Frei ().  »Die AfD ist zum gesamtdeutschen Auffangbecken für rechte Strömungen in West und Ost geworden«, Interview mit Norbert Frei, in: Frankfurter Rundschau online, .., https://www.fr.de/kultur/norbert-frei-ueber-rechten-populismus-.html (..).

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Wenn wir also nicht »immun« sind gegen die Gefährdungen, die wir ja aus der Geschichte kennen, wie weit und wie intensiv sollen wir uns dann überhaupt an die Geschichte erinnern? Umgekehrt gefragt: Sollen wir uns nicht vielmehr mutig und selbstbewusst den Herausforderungen der Gegenwart stellen und diese bestmöglich zu gestalten suchen? Dies ist die letztlich dilemmatische Frage, mit der jede politische Generation der Bundesrepublik konfrontiert war und ist. Schon  beklagte Paul Löbe, »daß sich immer noch Leute finden, die ihre Aufmerksamkeit nicht den schweren Problemen der Gegenwart zuwenden, sondern in angeblichen Fehlern der Vergangenheit herumwühlen«. Tatsächlich ist die Geschichte der Weimarer Republik, ihres Untergangs und der NS-Diktatur für die Deutschen eine Vergangenheit, die sich gleichsam von hinten an sie anklammert, um die Worte von Rabindranath Tagore zu variieren. Und auch heute befinden wir uns in einer entsprechend paradoxen Situation. In der historischen Forschung steht schon seit Längerem nicht mehr die Frage im Zentrum, warum und woran Weimar scheiterte. Es geht nicht mehr um die Feststellung, Bonn – und heute Berlin – sei nicht Weimar. Die Geschichte der Weimarer Republik muss nicht als Negativfolie für die zweite deutsche Demokratie dienen. Sie wird zur Selbstlegitimation einer erwachsen gewordenen, selbst bereits auf eigenen Traditionen ruhenden Bundesrepublik nicht mehr gebraucht. Angesichts gereifter Traditionen, gefestigter zivilgesellschaftlicher Fundamente, aber auch ganz neuer, globaler Herausforderungen verlor die Geschichte der Weimarer Republik ihre historisch-pädagogische Funktion. Auch in der Weimar-Forschung herrscht die Auffassung, der historische Gegenstand solle nicht am heutigen Maßstab einer gereiften demokratischen Kultur gemessen werden. Tatsächlich hat sich die (Geschichts-) Wissenschaft von der Frage nach dem Scheitern der Republik emanzipiert und sich stärker kulturgeschichtlichen Perspektiven zugewandt. Gegen die Gefahren des Determinismus und einer negativen, auf  fixierten Teleologie werden historische Kontingenz und die grundsätzliche Offenheit der Geschichte hervorgehoben. Zunehmend wird auch die Auffassung vertreten, alle Demokratien hätten nach  mit Problemen zu kämpfen gehabt und seien wenig gefestigt gewesen, weshalb die Weimarer Republik gar nicht unbedingt einen Sonderfall der Demokratiegeschichte darstelle. Und die realhistorische Existenz eines »westlichen« Modells der Stabilität, an dem man die deutsche Entwicklung messen könne, wird ohnehin in Frage gestellt oder auch gänzlich bestritten.  Paul Löbe an Carl Severing, .., zit. nach Ullrich (), S.  f.

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Ganz offenkundig hat sich hier eine neue Generation von Historikerinnen und Historikern der Geschichte der Weimarer Republik angenommen. Ihr Interesse richtet sich weniger auf die Geschichte des Politischen als auf die Erfahrung der Deutschen mit der kulturellen Moderne. Das rückt die Geschichte des Diskurses und der Medien, des Konsums und der Massenkultur, schließlich ganz allgemein der Erfahrungswelten der Mitlebenden in den Vordergrund. Hinzu kommt neuerdings aber auch die Betonung einer demokratischen Stärke der Weimarer Republik und insbesondere eine positive Sicht auf die lange Zeit stark kritisierte Weimarer Reichsverfassung. Vor allem unter Staatsrechtlern und Verfassungshistorikern besteht die Tendenz, die Weimarer Reichsverfassung positiv zu akzentuieren. Im Kontext des . Jahrestages der Republik wurde zugespitzt von der »Grundrechtsrepublik Weimar« gesprochen, und Christian Waldhoff resümierte: »Die Weimarer Republik ist an zahlreichen miteinander verschränkten Faktoren und schwierigen Umständen gescheitert […] – aber gewiss nicht an ihrer bis heute ausstrahlenden Verfassung. Diese war in bemerkenswerter Weise modern und innovativ.« In die gleiche Richtung gingen die Bemühungen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die deutsche Erinnerungskultur mit einer positiven demokratischen Tradition auszustatten: »Der . November  ist ein Meilenstein der deutschen Demokratiegeschichte: Er steht für die Geburt der Republik in Deutschland. Er steht für den Durchbruch der parlamentarischen Demokratie. Und deshalb verdient er einen herausragenden Platz in der Erinnerungskultur unseres Landes.« Am Ende könnten gewissermaßen  Jahre positiv besetzter deutscher Demokratieerfahrung stehen: von Weimar über das Grundgesetz bis heute. Für eine solche Sichtweise spricht vieles, und über das Erfordernis, die Geschichte der deutschen Demokratie und der sie repräsentierenden Demokraten positiv zu würdigen, kann es keine zwei Meinungen geben. Trotzdem wird das Bild durch zwei Faktoren gestört: Erstens hat die gegenwärtige Krise der westlichen Demokratien die Frage nach dem Scheitern der Weimarer Republik fast ruckartig und ganz gegen den Trend der Forschung wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt. Im Kontext öko Pars pro toto vgl. Müller (), S. -.  Waldhoff (), S. .  Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkstunde zum . November  im Deutschen Bundestag zu Berlin, https://www.bundes tag.de/resource/blob//fabbebdcdbdaee/Rede_BPraes _November-data.pdf (..), S. .

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nomischer Unsicherheiten und einer erodierenden Weltordnung werden neue Feindbilder konstruiert, gedeihen rechtsradikale Tendenzen und kommt es zu Umformungen des Parteiensystems – alles alte Bekannte aus den er und er Jahren. Zwar ist Geschichte immer einzig, sie wiederholt sich nicht und folgt auch nicht regelmäßig wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten; entsprechend lassen sich aus ihr gewisse Lehren ziehen, aber nicht im Sinne konkreter Handlungsanweisungen. Geschichte kann niemals die politische Entscheidung in der Gegenwart ersetzen. Zu den Lehren aber, die man aus der Geschichte der Weimarer Republik ziehen kann, gehört die Notwendigkeit, sich immer wieder mit der Fragilität der Demokratie und ihrer Grundlagen auseinanderzusetzen, nachzudenken über Möglichkeiten und Formen politischer Willensbildung. Angesichts einer neuerdings manchmal anzutreffenden begrifflichen Verwirrung über das, was Demokratie sein könne und solle, ist eine Erinnerung an Weimar auch in dieser Hinsicht durchaus sinnvoll. Zweitens aber – und wohl noch wichtiger – bleibt das Jahr  definitiv ein Datum, das der Erklärung bedarf. Die Machtübertragung an Hitler, ihre Gründe und Hintergründe sowie die Etablierung der Diktatur stehen quer zu dem Bemühen, die deutsche Verfassungsentwicklung in einen europäischen Normalweg oder auch in eine demokratische Kontinuität in der deutschen Geschichte einzuordnen. Und dies einmal mehr festzustellen heißt noch nicht, einer negativen Teleologie zu verfallen. So wichtig positive Traditionen und so relevant Kategorien wie Kontingenz und historische Offenheit auch sind: Wenn man sie verabsolutieren und konsequent zu Ende denken würde, erschiene Hitler bald wieder als das Resultat exogener Faktoren oder schlicht als »Betriebsunfall«. Und beides wäre ein fataler Rückfall in die Epistemologie der er Jahre. Es gilt festzuhalten, dass das Jahr  erklärt werden muss. Es konstituiert ein Explanandum der deutschen Geschichte, um das sich weder die Geschichtswissenschaft noch die historisch arbeitende Rechtswissenschaft herumdrücken darf. Wenn damit einige Aspekte der heute gegenwärtigen »Generationserfahrung« mit der Geschichte der Weimarer Republik genannt sind, so dienen die folgenden Seiten einem kleinen Streifzug in die Geschichte dieser Erfahrung seit . Leitend ist dabei die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und politischer Gegenwart, von der Funktion des historischen Narrativs für die Orientierungsbedürfnisse im Jetzt.

 Vgl. Fischer ().

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Weimar-Bilder Unmittelbar nach  ergriffen überwiegend diejenigen das Wort, die selbst in der Weimarer Zeit politische Verantwortung getragen hatten, das heißt im Wesentlichen die Angehörigen jener politischen Generation, die im letzten Drittel des . Jahrhunderts geboren worden war. Unvermeidlich richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf das Scheitern der Demokratie – das im Kern ihr eigenes politisches Scheitern war – und die Ursachen für die Diktatur Hitlers. Dabei lassen sich klare weltanschauliche und parteipolitische Differenzen und Zuordnungen vornehmen. Im konservativen Spektrum setzte sich eine Verfallsanalyse der »Moderne« fort, die mit der »Vermassung« und der »Entwurzelung« des Einzelnen im . Jahrhundert die Ursprünge des modernen Totalitarismus auszumachen meinte. Solche Denkfiguren blieben in der frühen Nachkriegszeit einflussreich. Selbst ein dezidiert antinationalsozialistischer Autor wie Friedrich Meinecke, der nachdrücklich und selbstkritisch von der »Entartung« des deutschen Bürgertums sprach, blieb bei seiner Erklärung Hitlers und des Nationalsozialismus nicht frei von entsprechenden antimodernistischen Affekten. Für die konservativen Antidemokraten der Weimarer Zeit bahnte dies den Weg, sich über die Diagnose des Totalitarismus allmählich mit der Bonner Demokratie auszusöhnen. Stilbildend blieb dabei aber eine Tradition, die das Scheitern der Weimarer Republik auf externe Faktoren zurückführte. Dem entsprach die grundsätzliche Trennung des Nationalsozialismus von den Deutschen und ihrer Geschichte. Hitler und seiner als cliquenartig beschriebenen Anhängerschaft wurde eine katastrophenartige, fast metaphysische Aura zugeschrieben: im Sinne des letztlich Unbegreiflichen, des rein charismatisch vermittelten Einbruchs eines Irrationalen, Exogenen, ganz Fremden in die deutsche Geschichte. »Hitler, ein aus der Tiefe hervorgegurgelter Dämon«, habe den Deutschen einen Kampf aufgezwungen, der schließlich zum Kampf gegen die eigene Nation eskalierte. Eine solche Haltung ließ die Frage nach der eigenen Rolle und Verantwortung im Nebel der weltgeschichtlichen Spekulation verschwinden, und ihre apologetische Funktion ist offenkundig. Für viele Angehörige der konservativen Eliten stellte sie das zeithistorische und lebensgeschichtliche Narrativ    

Vermittelt etwa durch Autoren wie Hans Freyer; vgl. z. B. Freyer (). Vgl. Meinecke (). Vgl. Solchany (); Solchany (), bes. S. -; ebenso Ullrich (). Erich Dombrowski: . Mai , in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...

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bereit, auf dessen Basis sie die persönlichen Karrierechancen der Nachkriegszeit ungehindert und scheinbar auch unbelastet von der Geschichte ergreifen konnten. Unter Sozialdemokraten begann dagegen eine intensive und großenteils schwierige Diskussion über eigene Versäumnisse während der Weimarer Republik. Einerseits schob man die Verantwortung für das Schicksal Weimars den antidemokratischen Kräften im Bürgertum und vor allem den Kommunisten zu, die den Wert der Demokratie für die Arbeiter nicht hätten erkennen wollen. Diese maßgeblich von Kurt Schumacher formulierte Position korrespondierte mit der erneuten Spaltung der Nachkriegssozialdemokratie im Zuge der ostzonalen Zwangsvereinigung mit der KPD und entlastete die westdeutschen Sozialdemokraten von jeglicher historischen Verantwortung. Es waren aus dieser Sicht eindeutig die »anderen«, wie es in Otto Brauns bekanntem Bonmot, Weimar sei an Versailles und Moskau gescheitert, zum Ausdruck kam. Andererseits sahen sich viele Sozialdemokraten mit Vorwürfen bezüglich ihrer eigenen Rolle während der Weimarer Republik konfrontiert und suchten sich zu rechtfertigen. So entbrannte etwa ein bitterer Streit über die vorgeblich schwächliche Haltung der SPD gegenüber dem »Preußenschlag« vom . Juli . In dessen Mittelpunkt standen zum einen der preußische Finanzminister Otto Klepper und Konrad Adenauer, damals Mitglied des preußischen Staatsrates, zum anderen der preußische Innenminister Carl Severing. Letzterer rechtfertigte den legalistischen Weg der SPD gegen den Vorwurf, gegenüber Franz von Papen »sang- und klanglos« die Segel gestrichen zu haben. Wieder andere hatten sich, wie der württembergische SPD-Politiker Wilhelm Keil, des Vorwurfs zu erwehren,  frühzeitig vor den Nationalsozialisten kapituliert oder sogar mit ihnen kooperiert zu haben. Die Validität dieses Vorwurfs, in diesem Fall von niemandem anders als von Kurt Schumacher selbst erhoben, entschied über die Chance eines politischen Comebacks. Keil gelang es, sich zu rechtfertigen, und er avancierte zum Präsidenten des Landtags von Württemberg-Baden und zum Mitglied des Parlamentarischen Rates. Es war im Grunde erst Willy Brandt, der – nicht zufällig einer jüngeren Generation angehörend – das sozialdemokratische Weimar-Bild einen Schritt weiterführte. Auch für Brandt trug die SPD keine »Schuld« am Untergang von Weimar. Aber er konzedierte gewisse Schwächen,  Zur Frage der Elitenkontinuität nach  vgl. exemplarisch Frei (); Bösch/ Wirsching (a).  Vgl. Ullrich (), S. -.  Vgl. Mittag (), S. -.

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auch in der eigenen Biografie. So berichtete er wiederholt von seiner damaligen Unzufriedenheit mit dem Weimarer Staat – einer Haltung, die er als paradigmatisch für eine weitverbreitete Ablehnung sowohl rechter als auch linker Kreise gegenüber der Republik verstand. In diesem Kontext brachte Brandt auch ein gewisses Bedauern über die eigene Kompromisslosigkeit seiner Jugendjahre zum Ausdruck. Damit korrespondierten für ihn eine zu starke »Bescheidenheit«, ein »nicht genügend ausgeprägtes Machtbewußtsein« der deutschen Sozialdemokraten und ganz allgemein »die Unentschlossenheit und Phantasielosigkeit« der Weimarer Demokraten. Die Weimarer Erfahrung bildete für Brandt aber auch eine Kraftquelle für die Politik der Gegenwart. Dies galt insbesondere für die bleibende Lehre, die er aus Weimar zog – dass Demokratie nämlich beständig zu verteidigen sei und dass es die »wehrhafte Demokratie« stetig auszugestalten gelte: »Die Demokratie kann etwas Nobles sein, aber sie schwebt nicht über den Wolken. Sie wird uns nicht ein für alle Mal geschenkt, sondern wir müssen sie immer wieder neu sichern. Und wenn sie angegriffen wird, dann muß sie sich, dann müssen wir sie mit Klauen und Zähnen verteidigen. Und gleichzeitig müssen wir sie mit pulsierendem Leben erfüllen.« Die wichtigste Gruppe der Amts- und Mandatsträger rekrutierte sich aus den Politikern der früheren Weimarer Koalition. Ungeachtet problematischer »Weimarer Erfahrungen« übernahmen ihre Vertreter in der Frühgeschichte der Bundesrepublik die politische Führung. Sie hatten die liberalen und demokratischen deutschen Traditionen gleichsam durch die totalitären Versuchungen hindurchgetragen und erhielten nun ihre zweite Chance. Die prägenden Figuren der bundesrepublikanischen Gründungsphase wie Konrad Adenauer (geb. ) und Theodor Heuss (geb. ), Carlo Schmid (geb. ), Kurt Schumacher (geb. ) oder Reinhold Maier (geb. ) gehörten alle dieser politischen Generation an. Auch in den Landesparlamenten der Westzonen, im Parlamentarischen Rat sowie im ersten Bundestag dominierte die Generation der vor  Geborenen eindeutig. In den Landtagen Bayerns, Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens betrug ihr Anteil an der Gesamtzahl der Abgeordneten während der ersten Wahlperiode jeweils , , und , Prozent; und auch in der zweiten Wahlperiode zu Beginn der er  Hintergrundgespräch des Bundeskanzlers Brandt für Die Zeit vom .., zit. nach Kieseritzky (), S. ; Rede Brandts auf dem VI. Landesparteitag der Berliner SPD am .., zit. nach Münkel (), S. .  Rede Brandts zum -jährigen Bestehen der SPD vom . Mai , zit. nach Münkel (), S. .

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Jahre lag er in allen drei genannten Bundesländern noch deutlich über  Prozent. Im Parlamentarischen Rat waren zwei Drittel und im ersten,  gewählten Bundestag , Prozent der Abgeordneten vor  geboren worden. Und in den »bürgerlichen« Parteien und Fraktionen der DVP beziehungsweise der FDP sowie in der CDU lagen die jeweiligen Prozentsätze sogar noch höher. Mithin waren es die Vertreter der demokratischen Parteien Weimars, die der frühen Bundesrepublik ihren Stempel aufdrückten. Dass sich hier so überraschend schnell ein demokratisch-parlamentarischer »Parteienstaat« etablieren konnte, der auch nach  zunächst bei vielen verpönt blieb, war dem historisch singulären Zusammenwirken von politischen Traditionen und generationellen Prägungen geschuldet. Wie wenig selbstverständlich die politische Führungsrolle der alten »Weimarer« im Übrigen war, zeigt die nachhaltige Kritik am entstehenden Modell des parteienstaatlichen Parlamentarismus. Diese Kritik argumentierte auch und gerade generationenspezifisch: Der Angriff der »Jugend« gegen die »Alten« griff dabei die vertrauten Elemente der Parlamentarismus- und Parteienkritik der er Jahre auf. Organe wie die Frankfurter Hefte oder Der Ruf polemisierten nachhaltig gegen den Rückfall in eine »zentralistische Massendemokratie« und ihre Parteienherrschaft. »Die aus der Konkursmasse von Weimar wiederauferstandenen Parteien mit ihren ›alten Männern‹, die schon einmal Schiffbruch erlitten haben«, so lautete die charakteristische Diagnose, »sind ein Anachronismus.« Zugespitzt mündete diese Kritik in der These von der »Restauration«. Auch sie wurzelte in »Weimarer Erfahrungen«, allerdings denjenigen einer jüngeren Generation, auf die auch Willy Brandt immer wieder zu sprechen kam. Autoren wie Walter Dirks und Eugen Kogon verkörperten die Fortsetzung des vor  gescheiterten Versuchs, den pluralistisch und sozial orientierten Flügel des politischen Katholizismus mit dem Weimarer Linksrepublikanismus und der Sozialdemokratie dauerhaft zu versöhnen. In dem Maße, in dem dieser Versuch nach  erneut scheiterte, zeichneten sie ein überaus düsteres Bild der Gegenwart. So sei die alte Vormachtstellung der »Besitzenden« wiederhergestellt worden. Ebenso  Eigene Berechnungen nach den Angaben in Handschell (), S. ,  f.,  f.  Berechnet nach der Mitgliederliste des Parlamentarischen Rates in: Wernicke (), S. -; sowie nach Handschell (), S.  f.  Vgl. Hein (), S. ; Wernicke (), S. -; Handschell (), S. .  Böttcher (), S. .  Vgl. hierzu Albrecht (), S. -.

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seien alte staatliche Strukturen, etwa die Bürokratie, beibehalten worden, was einen Austausch des NS-belasteten Personals unmöglich mache. Diese Entwicklung bezeichnete Dirks als Restauration, die er von Konservatismus und Reaktion abgrenzte. Politisch werde diese Restauration von allen Parteien unterstützt, auch von der Arbeiterbewegung, die sich in ihrer alten gespaltenen, statischen Form selbst »wiederhergestellt« habe. Zugleich hätten – so wie früher auch – die wirtschaftlichen Interessengruppen und bürokratischen Eliten freie Hand gehabt, um eigene Ordnungsstrukturen zu entwerfen und ihre Autorität zu etablieren. Die hieraus entspringende »Restauration« sei »eine Politik der überlieferten ›Werte‹, Mittel und Denkformen, der scheinbaren Sicherheiten, der Wiederherstellung bekannter Interessen«.

Bonn war nicht Weimar Solche Stimmen übten zwischen  und  einen nicht unbeträchtlichen Einfluss aus; aber sie stießen sich an der tatsächlichen Stabilisierung der bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie. Realiter machten die (West-)Deutschen in den er Jahren mit ihrer jungen Demokratie eine vollständig andere Erfahrung als in der Weimarer Republik: An die Stelle der Dauerkrise trat eine unverhoffte Regierungsstabilität. Die Parteien übernahmen, ja suchten geradezu die Regierungsverantwortung, anstatt – wie in Weimar – vor ihr zu fliehen. Die Bundesrepublik hatte wirtschaftlichen Erfolg und expandierte als Sozialstaat; beides kontrastierte mit dem Massenelend der Weltwirtschaftskrise. Und selbst in der Außenpolitik gab es Erfolge statt internationaler Isolation wie zu Beginn der Weimarer Republik. Für all dies stand die Regierung Adenauer: ein stabiles Regiment des Bundeskanzlers, ja geradezu eine »Kanzlerdemokratie« statt schwacher und ständig wechselnder Reichskanzler, wie sie die Weimarer Republik gekannt hatte. Für die Entwicklung des bundesrepublikanischen Demokratie- und Verfassungsverständnisses wurde diese Kontrasterfahrung schlichtweg entscheidend. Sie befriedigte das Bedürfnis der Westdeutschen, eine neue historische Identität zu gewinnen und sich damit je länger, desto deutlicher gegen die Trübnis des Vergangenen abzugrenzen. Tatsächlich flammten gegen die parlamentarische Demokratie der er Jahre kaum  Vgl. Dirks ().  Kogon (), S. .

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mehr lebendige Gegenbilder auf, während die politisch-soziale Zerrissenheit der Weimarer Republik zur durchgehenden Negativfolie wurde. Das ist der Hintergrund, vor dem Fritz René Allemanns Bonmot »Bonn ist nicht Weimar« verstanden werden kann; und es war diese Kulisse, vor der die »Weimarer Erfahrungen« zu einer gleichsam herrschenden Lehre ausgebaut wurden, die letztendlich den parlamentarisch-demokratischen Status quo legitimierte und dem Selbstbild der neu-alten parlamentarischen Elite entgegenkam. In den Mittelpunkt rückte jetzt die Weimarer Reichsverfassung als eine Verfassung mit entscheidenden Struktur- und Funktionsschwächen. Deren Verknüpfung des parlamentarischen Prinzips mit direktdemokratischen und präsidialen Elementen geriet nun ins Visier einer demokratietheoretischen Debatte und wurde zum Hauptgegenstand der retrospektiven Kritik. In den Memoiren und Analysen der Generation aktiver Weimarer Politiker spielten einstige Strukturschwächen kaum eine besondere Rolle für das Scheitern der Demokratie. Zwar war man sich beim Verfassungskonvent von Herrenchiemsee mehrheitlich einig in der Auffassung, »daß der Bundespräsident auf keinen Fall die starke Position haben darf, die der Reichspräsident der Weimarer Verfassung gehabt hat«. Und bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates verwarf Theodor Heuss mit einem später vielzitierten Verdikt die Möglichkeit direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene: Für die Schweiz sei das vielleicht ein gangbarer Weg, aber die Weimarer Erfahrung habe bewiesen, dass das Instrument des Plebiszits zur geregelten demokratischen Willensbildung nicht tauge. In der »großräumigen Demokratie« seien Volksbegehren und Volksentscheid »eine Prämie für jeden Demagogen«. Aber zu intensiveren verfassungstheoretischen Debatten führten solche punktuellen Aussagen nicht. Erst während der er Jahre entstand unter Verfassungsrechtlern, Historikern und Politikwissenschaftlern eine neue herrschende Lehre. Demzufolge hatte das Streben danach, die Konzepte der parlamentarischen, präsidialen und plebiszitären Demokratie zu verknüpfen, einen problematischen verfassungspolitischen Dualismus erzeugt. Für Ernst Fraenkel etwa, nach  eine der maßgeblichen Leitfiguren der Bundesrepublik, litt die Weimarer Demokratie an einem »Geburtsfehler, an dem sie zugrunde gegangen ist«. Und in Anknüpfung daran sprach der Historiker Karl Dietrich Bracher in seinem monumentalen und bis heute  Vgl. Allemann (); Ullrich ().  Zit. nach Bucher (), S. .  Vgl. Werner (), S.  f., Zitat S. .

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unübertroffenen Werk über die »Auflösung der Weimarer Republik« von einer »präsidentiellen Reserveverfassung« als einer entscheidenden Ursache für den Machtverlust in der Krise der Demokratie. In der frühen Bundesrepublik wurden solche »Weimar-Erfahrungen« neu konstruiert, um das eigene, strikt repräsentative System und die es tragenden Parteien zu legitimieren. Die Adenauer-Ära und ihr Erfolg beruhten eben auf zunehmend disziplinierten Parteien, einem strikten Parlamentarismus und einer von ihm getragenen, starken Exekutive. Den Schlüsseltext hierzu schrieb Ernst Fraenkel , als der Streit um die Atombewaffnung der Bundeswehr auf seinen Höhepunkt zusteuerte. Die Bewegung »Kampf dem Atomtod« organisierte den außerparlamentarischen Protest und plante sogenannte konsultative Volksbefragungen. Diese wurden vom Bundesverfassungsgericht mit der Begründung unterbunden, es handle sich um vom Grundgesetz nicht vorgesehene plebiszitäre Elemente. Fraenkel hatte die für die Argumentation entscheidende »Weimarer Erfahrung« geliefert: In der Verfassunggebenden Nationalversammlung von  hätten vulgärdemokratische Unterströmungen der Linken mit antidemokratischen Unterströmungen der Rechten unter »plebiszitärem« Vorzeichen eine verhängnisvolle Koalition geschlossen: »Die Weimarer Republik litt an einem Geburtsfehler, an dem sie zugrunde gegangen ist.« Bonn war eben nicht Weimar: Diese Formel des Schweizer Publizisten Fritz René Allemann wurde nun zunehmend zur eigenen Identitätssicherung akzeptiert. Dementsprechend setzte sich eine spezifische Form der »Lehren aus Weimar« durch, die sich vor allem gegen die Weimarer Reichsverfassung wendete, im Grunde aber ausdrückte, wie sich die Bundesrepublik seit der zweiten Hälfte der er Jahre selbst sah. Erst in den er Jahren – eben zu einem Zeitpunkt, als die Bundesrepublik begann, »erwachsen« zu werden, und einer historischen Negativfolie immer weniger bedurfte – veränderte sich auch der Blick auf die »Weimarer Erfahrungen«.

 Vgl. Bracher ().  Vgl. hierzu das Kapitel »Konstruktion und Erosion. Weimarer Argumente gegen Volksbegehren und Volksentscheid«, in: Wirsching (), S. - (Erstveröffentlichung ).  Fraenkel (), S.  f.

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Schluss Der Konstruktcharakter generationeller »Weimar-Erfahrungen« dürfte mithin deutlich geworden sein. Ihr Gehalt schwankt mit der jeweiligen historischen Situation und der politischen Interessenstruktur der jeweiligen Akteure. Insofern ist es irreführend, von gleichsam unverrückbaren »Weimarer Erfahrungen« zu sprechen und ihre historische Bedingtheit damit auszublenden. Trotzdem – und damit nehmen wir den eingangs vorgestellten Gedankengang noch einmal auf: Auch ohne eine unmittelbar legitimatorische Funktion zu behaupten, regt das Schicksal der Weimarer Republik dazu an, über Grundfragen unserer heutigen Demokratie nachzudenken. Dazu gehört zum Beispiel die kritische Frage, wie gefährlich es für eine stark polarisierte und fragmentierte politische Kultur sein kann, wenn in ihr unterschiedliche demokratische Legitimationsquellen existieren. Zwar ist die Weimarer Republik keinesfalls an der von der Verfassung vorgesehenen plebiszitären Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid zugrunde gegangen, aber der Dualismus zwischen Reichstag und Reichspräsident bleibt ein warnendes Beispiel dafür, wie gefährlich das verfassungspolitische Nebeneinander unterschiedlich gestalteter Quellen demokratischer Legitimation zumindest sein kann. Dies kann die Demokratie lähmen, und mit Großbritannien verfügen wir ja über ein aktuelles Beispiel dafür, wie problematisch das ist. Es sollte aber auch immer klar sein, was genau gemeint ist, wenn von »Weimarer Erfahrungen« die Rede ist. Denn allzu häufig werden sie auch in der parteipolitischen Auseinandersetzung um tagespolitische Fragen evoziert. Dies ist für ein Land mit einer Geschichte wie der deutschen wohl unvermeidlich. Umso wichtiger ist der möglichst genaue Blick einer geschichtswissenschaftlich geschulten Analyse, damit klar wird, wovon wir reden.

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»Unschuldige Zuschauer« in deutscher Geschichte und Erinnerung M F

Was war die Rolle der Mehrheit der »arischen« Deutschen im Dritten Reich – derjenigen, die nicht aus der NS-Volksgemeinschaft ausgeschlossen waren? Wie haben sich die Formen der Auseinandersetzung mit der Komplizenschaft im Nationalsozialismus in den Jahrzehnten nach dem Krieg auf das Leben in den Nachfolgestaaten und insbesondere auf die Demokratisierung der Bundesrepublik Deutschland ausgewirkt? Viele Deutsche, die die Verbrechen des Nationalsozialismus unterstützt hatten, verwandelten sich später in »unschuldige Zuschauer«, erzählten ihr Leben neu und behaupteten, nichts Böses gesehen, nichts Böses getan und »nichts davon gewusst« zu haben. In Adenauers Westdeutschland vollzog sich, wie Norbert Frei es treffend nannte, ein Prozess der »moralischen Abgrenzung«, in dem nur die abscheulichsten Täter der NS-Verbrechen als wirklich schuldig galten, während die anderen stillschweigend wieder in die Gesellschaft integriert wurden. Auch in Ostdeutschland, wenn auch dank des offiziellen Mythos vom »antifaschistischen Staat« auf ganz andere Weise, wurde die Mehrheit der ehemaligen »Mitläufer« tatsächlich begnadigt und in die neue Gesellschaft eingebunden. In beiden Fällen verwandelten sich Millionen von Menschen, die dem Hitlerregime gefolgt waren, im Westen in angeblich engagierte Demokraten, im Osten in offensichtlich willige Helfer beim »Aufbau des Sozialismus« unter der Federführung der Kommunisten. Wie wurde diese Transformation von Menschen, die im Dritten Reich erwachsen waren, erlebt und vor allem erzählt? Der Mythos vom »unschuldigen Zuschauer« spielte eine Schlüsselrolle bei der eigenen Rehabilitierung und setzte sich in den folgenden Jahrzehnten in veränderten Formen fort. Dieser Mythos hat eine Geschichte, und es ist keineswegs klar, dass sie untrennbar mit der Demokratisierung verbunden ist.

 Vgl. Frei (); Frei ().  Vgl. Frei/Maubach/Morina/Tändler ().

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Das Konzept des unschuldigen Zuschauers Was ist ein »unschuldiger Zuschauer«? Die Antwort hat mit beiden Teilen dieses Begriffs zu tun. Zuschauer werden durch das Zusammentreffen von Zeit und Ort Zeugen eines Konflikts, mit dem sie zunächst nichts zu tun haben. Ein Zuschauer ist zufällig bei einer Gewalttat anwesend, aber zumindest anfänglich weder Täter noch Opfer. Doch diese scheinbar neutrale Position, die außerhalb des Konflikts liegt, lässt sich nur sehr kurz bewahren. Schon bald werden die zunächst Unbeteiligten zum Teil einer in Entwicklung begriffenen Situation; egal, ob sie passiv bleiben und nicht handeln, Sympathie für die eine oder die andere Seite zeigen oder aktiv im Namen einer Seite eingreifen – immer beeinflussen ihre Entscheidungen auch die anschließende Dynamik des Konflikts. Im konkreten Fall einer lang anhaltenden, staatlich geförderten systemischen Gewalt kann die Art des gesellschaftlichen Rahmens die Lebenschancen derjenigen entscheidend beeinflussen, die das unmittelbare Ziel der Verfolgung sind. Zuschauen ist auch ein moralisch belasteter Begriff, denn er impliziert ein gewisses Maß an Verantwortung für das Ergebnis: Aus der Perspektive des Opfers ist den Zuschauern gemeinsam, dass sie Zeugen von Gewalt wurden, aber nicht zu seinen Gunsten eingegriffen haben. Zuschauer können große und sogar räumlich weit entfernte Gruppen sein wie Nationen oder Institutionen, aber auch sehr unmittelbare, persönliche und lokale – Menschen, die Gewaltszenen aus der Nähe miterlebt haben, sahen, wie sich die Verfolgung entwickelte oder anhielt, die aber nicht eingriffen, um Schmerz und Leid, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit zu lindern. Und was ist mit dem Begriff der »Unschuld«? Das Konzept eines »moralischen Zuschauers« engt ihn ein, denn dadurch kann nur eine Untergruppe der zufälligen Zeugen als moralischer Akteur betrachtet werden: Sie müssen sowohl wissen, was geschieht (im Sinne eines echten Verstehens und nicht eines verständnislosen Beobachtens, wie es ein Kind täte), als auch im Prinzip fähig sein, sich in sinnvoller Weise handelnd dazu zu verhalten. Wie der Politologe Ernesto Verdeja betont, »bleibt Verantwortung ohne solche Unterscheidungen entweder kläglich untertheoretisiert – die Schuld an Massenverbrechen liegt im Wesentlichen bei einer relativ kleinen Anzahl von Tätern, während der Rest der Gesellschaft der  Vgl. Fulbrook (a); eine längere Version in Fulbrook ().  Hilberg ().

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moralischen Überprüfung entgeht – oder grob überdeterminiert, indem jeder, der kein direktes Opfer ist, in die Kategorie des Täters eingeordnet wird und damit in nicht hilfreiche und gefährliche Vorstellungen von Kollektivschuld fällt, die historisch wenig nuanciert sind«. Beide Tendenzen waren in jüngster Zeit eine Schwäche mancher deutscher Täterstudien. Um sich jeder Schuldzuschreibung zu entziehen, gibt es zwei Möglichkeiten: zu behaupten, man habe »nichts davon gewusst«, oder, falls man doch davon wusste, man habe keine alternative Handlungsmöglichkeit gehabt. Dieser Ansatz hat Auswirkungen auf die Interpretation der deutschen Gesellschaft unter der NS-Herrschaft genauso wie auf die der späteren Erinnerungen. Es hat viele Debatten über die Rolle »ganz normaler Deutscher« gegeben – also derjenigen, die weder aktive Nationalsozialisten noch aus der »Volksgemeinschaft« aufgrund »nichtarischer« Herkunft, sexueller Orientierung oder angeblich »asozialer« Attribute ausgeschlossen waren. Dieser Bereich war zutiefst umstritten; einige Historiker, vor allem Raul Hilberg, beschuldigten im Grunde die gesamte deutsche Gesellschaft, den Nationalsozialismus unterstützt zu haben, andere hielten das Dritte Reich für eine »Konsensdiktatur«, die auf die Unterstützung und Begeisterung des Volkes angewiesen gewesen sei, während wieder andere eher das verheerende Ausmaß von politischer Unterdrückung und Terror betonten. Erschwert wurde die Debatte durch die Tendenz, in Dichotomien – Staat versus Gesellschaft, Regime versus Bevölkerung – zu denken und die »öffentliche Meinung« als Momentaufnahme von Einstellungen zu bestimmten Fragen zu analysieren, ohne adäquate Untersuchung, wie die Menschen die politischen und sozialen Konfigurationen, deren Teil sie waren, sowohl mittrugen als auch durch sie verändert wurden. Wir haben ungeheuer wertvolle Erhebungen darüber, wie sich Meinungen mit der Zeit änderten, verstehen aber immer noch nicht richtig, wie sich nichtjüdische Deutsche durch die Beteiligung an neuen Formen gesellschaftlicher Beziehungen selbst veränderten. Dennoch gibt es Hinweise. Autobiografische Berichte, die  unmittelbar vor dem Krieg von Nichtjuden wie von Menschen »nichtarischer« Herkunft geschrieben wurden, sind sehr aufschlussreich. Vorgelegt als  Verdeja (), S. .  Vgl. Bajohr/Löw (), S. -.  Zu den Pionierarbeiten gehören Bankier () und Kershaw (). Die Folgen für die Juden wurden untersucht von Kaplan ().  Vgl. Fulbrook (); Fulbrook (b).

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Aufsätze in einem Wettbewerb mit dem Titel »Mein Leben in Deutschland vor und nach « bieten diese Berichte detaillierte Belege für die Transformation der Gesellschaft, als sich Mitglieder der »Volksgemeinschaft« den Nationalsozialismus aneigneten und im Alltag umsetzten. Die Evaluierung ist nicht leicht. Zahlreiche Personen besaßen nachweislich Mitgefühl mit der Not der Verfolgten, fürchteten aber die negativen Folgen, wenn sie für sie eintraten. Die Einstellungen vieler anderer dagegen reichten vom latenten oder bloß opportunistischen bis zu radikalerem ideologischen Antisemitismus; jüngere Generationen waren besonders empfänglich für den Einfluss des Nationalsozialismus. Für die meisten hatten persönliche Belange Priorität: Von den ersten Tagen der Herrschaft Hitlers an war klar, dass es signifikante materielle Vorteile und ein Gefühl der Ermächtigung mit sich brachte, wenn man sich »auf die richtige Seite schlug« und mit der vorherrschenden Strömung schwamm. Unter diesen Umständen spielten die Menschen einfach mit und eigneten sich die NS-Vorschriften in der Öffentlichkeit an, ob sie nun eine innere Unruhe spürten, sich von ihrer eigenen Kehrtwende überzeugten oder einfach nicht viel darüber nachdachten. Die sozialen Beziehungen genauso wie die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Menschen veränderten sich signifikant. Verschiebungen mochten manchmal psychologisch unangenehm sein, etwa wenn bisherige Freundschaftsbeziehungen mit Menschen »nichtarischer« Herkunft gelöst wurden. Aber mit der zunehmenden physischen Segregation und sozialen Isolierung derjenigen, die (unabhängig von der Selbstzuschreibung) als Juden gekennzeichnet wurden, fiel es den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft leichter, nicht zu wissen, was aus denjenigen wurde, zu denen man den Kontakt verloren hatte, oder das Wissen durch absichtliches »Übersehen« zu vermeiden. Wo es keine regelmäßigen persönlichen Verbindungen gab, wurde es auch leichter, gleichgültig zu werden; es konnte tatsächlich emotional einfacher werden, sich selbst einzureden, dass man sich aus Menschen, zu denen man den Kontakt verloren hatte, nichts mehr machte. Dieses »Nichtwissen« und die »erworbene Gleichgültigkeit« wurden besonders Mitte bis Ende der er Jahre im Zusammenhang mit den Nürnberger Gesetzen praktiziert. Gleichzeitig gab es angesichts eines erweiterten Apparats des Schreckens und der Furcht vor möglichen Strafen ein wachsendes Gefühl der Handlungsunfähigkeit zugunsten der Opfer. Es bedurfte eines großen Engagements und Mutes, das Schicksal anderer höher zu bewerten als Fragen  Vgl. Steuwer ().

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des Selbstschutzes und des Wohlergehens der eigenen Familie. Das alles erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass zunehmend mehr Deutsche die Gewalt gegen Juden ignorierten, ihr passiv gegenüberstanden oder auch Rechtfertigungen dafür fanden, dass man von ihrer Not profitierte. Mit der Zeit gab es eine wachsende Polarisierung der »Zuschauer«Reaktionen auf besonders sichtbare Gewaltvorfälle. Es bestehen markante Gegensätze zwischen den Reaktionen auf den Boykott jüdischer Geschäfte am . April , als viele Deutsche weiter in jüdischen Läden einkauften, und den Reaktionen auf die Angriffe auf Synagogen und jüdische Wohnungen und Geschäfte im November . Hier handelte es sich um eine Polarisierung, bei der die überwiegende aktive Teilnahme bei den Tätern lag und generelle Passivität bei denen, die nicht zustimmten. Natürlich führten SS, SA und Mitglieder der NSDAP-Parteiorganisationen die Gewalt am . und . November  an. Aber zahlreiche »ganz normale Deutsche«, vor allem junge Leute, beteiligten sich ebenfalls an der Demütigung von Juden oder plünderten Waren auf Straßen und in Läden mit zerstörten Scheiben. Viele andere Deutsche, vor allem in großen Städten, äußerten Scham und Missbilligung. Aber trotz weitverbreiteter Kritik – nicht nur an der Gewalt gegen Menschen, sondern auch an der Zerstörung von Eigentum und dem Schaden für Deutschlands Ruf im Ausland – griffen nur wenige zugunsten der Opfer bei den Gewalttaten ein; bestenfalls boten sie in den folgenden Tagen Hilfe und Unterstützung an. Dieses Reaktionsspektrum lässt sich nicht leicht unter den Begriff der »Gleichgültigkeit« subsumieren. Ungeachtet der Motivverschiebungen im Laufe der Zeit war das Ergebnis dasselbe: Die Passivität der Zuschauer war entscheidend. Sie ermöglichte den NS-Aktivisten die Umsetzung der rassistischen Maßnahmen. Im November  konnten »arische« Deutsche nicht länger behaupten, von der Gewalt gegen Juden nichts gewusst zu haben. Aber jetzt fühlten sich selbst diejenigen, die kritisch waren, nicht mehr in der Lage, effektiv zu handeln. Mit zunehmendem »Wissen« nahm das Gefühl der »Handlungsfähigkeit« ab. Sobald Deutschland im Krieg war, bekam die Sorge um das Schicksal von Vaterland und Familienmitgliedern Vorrang vor der angeblich »legitimen«, wenn auch zuzeiten »übertriebenen« Behandlung derjenigen, die als »Partisanen«, »Ungeziefer« und Gefahr für das deutsche Wohlergehen verunglimpft wurden. Wer aktiv an Gräueltaten gegen Zivilisten  Vgl. Benz ().  Vgl. Gruner ().

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beteiligt war, stützte sich auf aktuelle Rechtfertigungsdiskurse; dennoch waren einige Mörder zutiefst verstört. Wenn Menschen, die nicht direkt beteiligt waren, in ihren Tagebüchern über Gräueltaten schrieben – ob sie davon an Orten, an denen es kurz vorher zu Massakern gekommen war, direkt oder indirekt durch Gerüchte, die von der Front durchsickerten, gehört hatten –, dann auf bemerkenswert emotionslose Weise: Manchmal schockiert, manchmal ungläubig, aber meistens schienen sie das Schicksal der Juden als gegeben hinzunehmen, selbst als Ereignis von historischer Bedeutung, aber nicht als Gegenstand des Protests, geschweige denn als etwas, das eine moralische Aufforderung zum Handeln implizierte. Obwohl genaue Zahlen schwer zu schätzen sind, je nachdem, wen man in die Maschinerie von Ausbeutung, Brutalität und Massenmord aufnehmen will – nicht nur die offensichtliche erste Reihe der Kräfte physischer Gewalt und der Parteiorganisationen, sondern auch diejenigen in zutiefst involvierten Bereichen des Staates, der Zivilverwaltung und der Wirtschaft –, ist klar, dass viele hunderttausend, vielleicht sogar Millionen Menschen durch ihre Nähe zu, durch die Förderung von und die aktive Beteiligung an NS-Gewalt belastet waren.

Die angebliche Handlungsunfähigkeit Die unter der NS-Herrschaft begangenen Verbrechen hätten alle Gerichte Europas nicht bearbeiten können, auch wenn sie jahrzehntelang nichts anderes getan hätten. Wie weit die Schuldigen ihrer gerechten Strafe nicht zugeführt wurden und die Opfer nicht entschädigt wurden, hing von Ort und Zeit ab. Die Besonderheiten der Justiz hatten Folgen für den Versuch der Selbstrechtfertigung im Angesicht einer belasteten Vergangenheit. Mit der Zeit veränderte sich das Verhältnis zwischen vermeintlichem Nichtwissen und angeblicher Handlungsunfähigkeit – das Gegenteil von Wissen und Handlungsfähigkeit, den beiden Schlüsselaspekten, die »moralische Zuschauer« definieren. In den von den Alliierten in Gang gesetzten Nürnberger Prozessen und den anschließenden Verfahren bedeutete der Begriff der »Siegerjustiz«, dass die Menschen die Verantwortung für die NS-Verbrechen  Der Kommentar basiert auf Quellen des Deutschen Tagebucharchivs (DTA), Emmendingen; vgl. auch Klee/Dressen/Riess (Hrsg.) ().  Vgl. Frei (Hrsg.) ().

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zunehmend abschüttelten und sich auf ihr eigenes Leid konzentrierten. Die Hauptsorgen der meisten Menschen kreisten damals um die Folgen des Krieges: Bombardierung, Niederlage, Trauer um Menschenleben, Vertreibung, Vergewaltigung, Hunger und die Forderungen der Besatzungsregierungen in den Anfängen des Kalten Krieges. Neben einigen bemerkenswerten Ausnahmen war die Mehrheit nicht darauf vorbereitet, sich mit Schuldfragen auseinanderzusetzen oder sensibel auf das Leid der Opfer der Verfolgung und Aggression der Nationalsozialisten zu reagieren. Wenn sie gezwungen waren, bei den Entnazifizierungs- und Restitutionsprozessen zu berichten, konstruierten Deutsche verschiedene entlastende Erzählungen: Sie hatten angeblich »versucht, einen Juden zu retten«, sich der NSDAP aus Angst davor angeschlossen, dass jemand Schlimmeres ihren Platz einnehmen könnte oder Ähnliches, oder sie seien von der Ideologie geblendet worden und hätten erst in der Gefangenschaft wieder klar sehen können, wobei es Unterschiede zwischen Ost und West gab. Aber die Situation war komplex und facettenreich. Die Deutschen wurden jetzt gewaltsam mit Beweisen für die Verbrechen konfrontiert, die »in ihrem Namen« begangen worden waren, und konnten sich nicht mehr abwenden, »nicht sehen« und die Wirkung der Unterdrückung effektiv ignorieren. Diese erzwungene Konfrontation – bei der sie dazu gebracht wurden, bewusst die Leichenberge wahrzunehmen, von denen sie ihren Blick abzuwenden versucht hatten – führte fast unmittelbar zur Leugnung des Wissens, einem der entscheidenden Elemente im Mythos des »unschuldigen Zuschauers«. Die Behauptung »Wir haben davon nichts gewusst« entstand ganz am Ende des Krieges, geäußert zum Beispiel im April  von vielen Frauen aus Weimar, die gezwungen wurden, sich mit der Hinterlassenschaft der NS-Verbrechen im nahe gelegenen Konzentrationslager Buchenwald zu konfrontieren. Gleichzeitig warfen nicht nur die Ereignisse der Entnazifizierung, sondern auch die vielen kleinen Verfahren im besetzten Deutschland ein Licht auf Vergehen und Komplizenschaft während der sogenannten Kristallnacht, ferner auf Denunziationen, die zur Verhaftung, Gefangenschaft und manchmal auch zum Tod von früheren Nachbarn und Kollegen geführt hatten, oder auf die Beteiligung an Gewalttaten in den letzten Kriegsmonaten. Die jüngsten Ereignisse waren in lokalen Gemeinden noch lebendig und in anhaltenden Diskussionen zwischen früheren Nachbarn und Kollegen präsent. Dennoch waren in Prozessen, in denen Nachbarn nicht riskieren wollten, Menschen, von deren Schuld  Vgl. z. B. Bourke-White ().

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sie wussten, mit denen sie aber harmonisch weiterleben mussten, Behauptungen evident, »nichts gesehen« zu haben oder sich »nicht erinnern zu können«. Das war weniger eine Frage der »Erinnerung« an sich als vielmehr der Kampf um das Erbe der jetzt offiziell gebrandmarkten NSVergangenheit unter ganz anderen Nachfolgeregimen. Als die Entnazifizierung abklang und Verstöße, die geringere Strafen nach sich zogen, nicht mehr bestraft wurden, konnten neue Verhaltensweisen eingeübt werden. Seit den er Jahren unterstützte die selektive Betonung von Aspekten des Schreckensapparats der Nationalsozialisten – insbesondere in Bezug auf die SS, die von einem Historiker als »Alibi einer Nation« bezeichnet wurde – das verbreitete Narrativ von der mangelnden Handlungsfähigkeit, dem anderen entscheidenden Element der Geschichte von den »unschuldigen Zuschauern«. Verstärkt wurde das alles durch den besonderen Charakter der »Vergangenheitspolitik« in allen drei Nachfolgestaaten des Dritten Reiches. Mit je nach geopolitischem Ort und den Entwicklungen des Kalten Krieges unterschiedlicher Modulation wurde der Kreis der Schuldigen immer enger gezogen; der Raum für die Behauptung, nur ein unschuldiger Zuschauer gewesen zu sein, wurde entsprechend immer größer. Die Narrative des Nichtwissens und der Unschuld wurden in Westdeutschland unter Adenauer durch die Rehabilitation und Reintegration derjenigen gefördert, die als »nominelle« Mitglieder der NSDAP eingeschätzt wurden, und sie ermöglichten Amnestien selbst für bedeutende Täter, die Ende der er Jahre langjährige Haftstrafen erhalten hatten. Ironischerweise war ein ähnlicher Prozess auch im ostdeutschen »antifaschistischen Staat« mit seinem offiziellen Mythos von unschuldigen »Arbeitern und Bauern« evident, die von der Roten Armee »befreit« worden waren. Es bedurfte des Wettbewerbs zwischen Ost- und Westdeutschland in den späten er Jahren um die Frage, wer besser bei der »Überwindung der Vergangenheit« war, um erneute rechtliche Aktivität zu stimulieren – im Westen gestützt durch die Einrichtung der Zentralen Stelle Ludwigsburg. Aber der Kreis der Schuldigen wurde immer enger gezogen. Trotz der massiven Aufmerksamkeit für den »Umgang mit der Vergangenheit« in Westdeutschland war die Zahl derjenigen, die angeklagt wurden, minimal; die Urteile fielen oft schockierend milde aus. Als Oskar Gröning  im Alter von  Jahren starb, bevor er seine Haftstrafe  Vgl. Raim (); Eichmüller (); Steinweis ().  Vgl. Reitlinger (, ursprünglich erschienen ).

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antrat, war er erst der ste NS-Täter, der in der Bundesrepublik verurteilt wurde. Die Situation in Ostdeutschland war strenger. In der SBZ und in der DDR gab es bis  insgesamt   Verurteilungen (oder  ohne die Schnellverfahren der Waldheim-Prozesse). Berücksichtigt man die jeweilige Bevölkerungszahl, bedeutet das, dass in Ostdeutschland ehemalige Nationalsozialisten mit sechs- bis siebenfach höherer Wahrscheinlichkeit vor Gericht gestellt wurden als in Westdeutschland; überdies waren die Urteile strenger. Aber die Politisierung der Strafverfolgung, die die Präsenz ehemaliger Nationalsozialisten in Westdeutschland hervorhob und gleichzeitig zur politisch genehmen Verdeckung und zum Kleinreden der Kontinuitäten im Osten herangezogen wurde, befleckte dann bald den Ruf der DDR, ehemalige Nationalsozialisten konsequenter vor Gericht zu stellen. Es lohnt sich, eine Nebenbemerkung über Österreich hinzuzufügen, das selbsternannte »erste Opfer der NS-Aggression«, wo die ursprüngliche Konfrontation mit der einheimischen Beteiligung am Nationalsozialismus bald einer massiven Entlastung von wichtigen Kriegsverbrechern Platz machte. Im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg waren die Zahlen der Gerichtsverfahren vor dem Volksgericht für ein Land mit einer so geringen Bevölkerungszahl hoch, auch wenn es oft um relativ geringfügige »inländische« Verstöße wie die damals illegale Mitgliedschaft in der NSDAP vor  ging. Aber in den Jahrzehnten nach der Abschaffung der Volksgerichte gab es nur  Fälle vor Gerichten, und wichtige Prozesse endeten oft mit schockierenden Freisprüchen selbst für die manifest Schuldigen. Zu den bemerkenswerten Beispielen zählen die Freisprüche von Franz Murer , dem »Schlächter von Vilnius«, von Walter Dejaco und Fritz Ertl (die die Gaskammern von Auschwitz entworfen hatten) sowie des SS-Wachmanns in Auschwitz Otto Graf  in Wien und die Prozesse gegen Johann Vinzenz Gogl, ehemals Wachmann im Konzentrationslager Mauthausen und im Nebenlager Ebensee, der  in Linz (unter dem Jubel der im Gerichtssaal anwesenden ehemaligen SS-Angehörigen) und  in Wien freigesprochen wurde. Während dieser Prozesse wurden die überlebenden Zeugen häufig verspottet und gedemütigt. Der westdeutsche Umgang mit der Vergangenheit war weit entfernt von einer ungetrübten Erfolgsgeschichte, wie sie die Bundesregierung manchmal präsentierte. Die Anwendung des Strafrechts zur Definition von Mord als Tat von subjektiver Motivation und übermäßiger Brutalität erwies sich als vollkommen inadäquat für den Umgang mit organisiertem Massenmord und führte zu zahlreichen Freisprüchen oder über59

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trieben milden Urteilen. Die Justiz, die hohe Beamtenschaft und andere Berufsgruppen (darunter namhafte Mediziner, die am Euthanasieprogramm »T« beteiligt gewesen waren) wurden überwiegend nicht zur Rechenschaft gezogen, während die entnazifizierte Anwaltschaft sich sogar für nicht schuldfähig erklärte, da sie nur die Gesetze des NS-Regimes angewandt habe. Die juristische Auseinandersetzung in Westdeutschland lässt sich eher als Topographie des Unrechts betrachten: die winzige Minderheit der tatsächlich verurteilten Täter, die politischen Entscheidungen über legale Praktiken, die Eliten, die sich der Justiz entzogen, und nicht zuletzt das schreckliche Ungleichgewicht zwischen dem Wohlstand vieler früherer Täter und der anhaltenden Not der Überlebenden, die weder Anerkennung noch Entschädigung erhielten, was manche Gruppen sehr viel härter traf als andere. Die häufige Bezeichnung als »Ära der Zeugen« war sehr einseitig: Überlebende standen vor Gericht, um Beweise gegen die Angeklagten zu liefern, nicht aber, um über die Auswirkungen der Verfolgung auf sie selbst zu sprechen, während diejenigen, die verurteilt wurden, ihr Fehlverhalten nicht anerkannten und wenig Bedenken hatten, sich zusammenzusetzen, um ihre Geschichten zu koordinieren und ihre Spuren zu verwischen. Das westdeutsche Festhalten an der »Hallstein-Doktrin« begrenzte ebenfalls bewusst das Ausmaß, in dem Beweise aus osteuropäischen Staaten hinzugezogen werden konnten. In einer Zeit, in der man so viele NS-Verbrecher erfolgreich hätte anklagen können, geschah gerade das nicht. Mehr noch: Die Prozesse boten nicht nur »Aufklärung der Öffentlichkeit« – ein trotz aller Mängel oft benutztes Argument –, sondern gaben auch dem Abwehr-Mantra neue Nahrung, man habe ja nur »Befehle befolgt«. Das wiederum betonte den Mangel an Handlungsfähigkeit selbst im Fall von Menschen, die nachweislich Juden an Massengräbern erschossen oder geholfen hatten, Tausende in die Gaskammern zu führen. Obwohl die Verteidigung, Befehle befolgt haben zu müssen, von Historikern schon im Kontext des Frankfurter Auschwitz-Prozesses Mitte der er Jahre in Frage gestellt wurde, spielte sie weiter eine Rolle in den Gerichten wie in privaten Selbstrechtfertigungen. Die »normative Abgrenzung«, die Norbert Frei für die er Jahre festgestellt hat, konnte in den er Jahren zu einer massiven Vertuschung für diejenigen werden, die tatsächlich zutiefst in die Ausgrenzung und Verfolgung der Opfer verstrickt waren.

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Erinnerungen an »Unwissen« Auch wenn die berühmten Generationskonflikte und politischen Auseinandersetzungen Ende der er Jahre im öffentlichen Bereich signifikant waren, beeinflussten sie die Selbstdarstellung derjenigen kaum, die die NS-Zeit als Erwachsene erlebt hatten. Wichtige Veränderungen in Westdeutschland kamen nicht durch »Achtundsechzig«, wie so oft behauptet wurde, sondern durch die kulturellen und generationellen Wandlungsprozesse der folgenden Jahrzehnte zustande. Mit dem Erwachsenwerden der Nachkriegsgenerationen in den er Jahren begann ein generationenübergreifender Dialog, der das volle Ausmaß der Komplizenschaft der Deutschen im Nationalsozialismus nach und nach zur Sprache bringen konnte – schmerzhaft für die älteren Generationen. Ein diffuses Gefühl von Verantwortung und Scham (wenn nicht ein unangebrachtes Schuldgefühl) bei vielen jüngeren Westdeutschen, vor allem unter Linksliberalen, befeuerte ein wachsendes Bedürfnis, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber paradoxerweise unterstützten Aufstieg und Verbreitung des »Holocaust«-Bewusstseins ab Ende der er Jahre kontraproduktiv den bereits stattfindenden Prozess der Verengung von Vorstellungen, was man hätte »getan« haben müssen, um ein Täter gewesen zu sein, und was man hätte »gewusst« haben müssen, um in die Unmenschlichkeit der Nationalsozialisten verwickelt gewesen zu sein. Das erleichterte dann wohl die Selbstkonstruktion der »ganz normalen Deutschen« als »unschuldige Zuschauer«, da die Tötungen in den Vernichtungslagern in Polen und die Massenerschießungen an der Ostfront den öffentlichen Diskurs zu dominieren begannen. Die Geschichte war komplex und mit vielerlei Zusammenhängen verflochten, als sich ein internationaler und generationenübergreifender Dialog im »Zeitalter der Überlebenden«, wie man es nennen könnte, entwickelte. Der amerikanischen Fernsehserie Holocaust (in den USA  und in Europa Anfang  erstmals ausgestrahlt) wird zu Recht eine signifikante Wirkung zugeschrieben, nicht zuletzt auf die Terminologie zur Beschreibung des Massenmords an den Juden. Gleichzeitig interessierte man sich zunehmend für Berichte von Überlebenden aus anderen Opfergruppen, darunter Sinti und Roma, Homosexuelle und andere, die bislang marginalisiert (und bis vor Kurzem sogar kriminalisiert) worden waren. Neue audiovisuelle Medien wurden zur Aufzeichnung von Berichten eingesetzt, in denen Vorkriegserfahrungen oft von den Schrecken der Konzentrationslager, der Zwangsarbeit und den Todesmärschen überschattet waren. Zunehmende Aufmerksamkeit lag auf der Beschaf61

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fung der Berichte von Holocaustüberlebenden in aller Welt, von denen viele aus Osteuropa stammten, die die Erwartungen der Öffentlichkeit an solche Berichte prägten. Indem frühere Erfahrungen in den Hintergrund traten, schienen die Vorkriegsmuster der Verfolgung in NSDeutschland weniger wichtig als Momente akuter Gewalt. Die Betonung der Gräueltaten fand ihr Echo in öffentlichen Darstellungen der Tat. Während die Prozesse mehr oder weniger versandeten, gab es Mitte der er Jahre eine Wiederbelebung der öffentlichen Debatten über die Täter mit der fast zeitgleichen Veröffentlichung von Daniel Goldhagens umstrittenem Buch Hitlers willige Vollstrecker und dem Beginn der Wanderausstellung über die »Verbrechen der Wehrmacht«. Vor allem die Ausstellung stimulierte einen weiteren generationenübergreifenden Dialog, jetzt zunehmend zwischen Enkeln und Großeltern, und dies mit einer anderen Dynamik, als sie zwischen Eltern und Kindern in den vorangegangenen Jahrzehnten bestanden hatte. Dieser Fokus auf die Gräueltaten in den er Jahren machte auf die Tatsache aufmerksam, dass mehr Nachrichten die Heimatfront erreicht hatten, als der Mythos vom »Nichtwissen« implizierte, trug aber gleichzeitig dazu bei, den Unterschied zwischen den Verbrechen im Osten und der angeblichen Nichtbeteiligung der Daheimgebliebenen zu untermauern. Sie mochten »geahnt« haben, aber konnten nicht genau »wissen«, was in den Vernichtungslagern im Osten geschah – wobei diese Betonung des »Nichtwissens« die Aufmerksamkeit weiter von der eigenen Komplizenschaft mit systemischer Gewalt und von dem, was sie selbst zur Unterstützung des NS-Regimes getan hatten, ablenkte. Man konnte den Gräueln tatsächlich sehr nahe gewesen sein und sich immer noch zu diesen selbstentlastenden Taktiken berechtigt fühlen. Die alten Behauptungen, wonach man weder etwas genau »wissen« konnte, noch unter den damaligen Umständen in der Lage gewesen sei, etwas »dagegen« tun zu können – wobei »dagegen« in Bezug auf die Gaskammern von Auschwitz definiert wurde –, hielten sich zum Beispiel in den unveröffentlichten, in den er Jahren niedergeschriebenen Erinnerungen von Marianne B., einer Deutschen, die als Lehrerin in der Stadt Oświęcim gearbeitet und unter anderem die Kinder von Lagerkommandant Rudolf Höß unterrichtet hatte. Angebliches Unwissen konnte somit eingesetzt

 DTA, , Marianne B., Bericht über die Dienstzeit als Gymnasiallehrerin in Auschwitz (..-..). Siehe die weitere Diskussion in Fulbrook (c), S. -; eine andere Interpretation in Frei (), S. -.

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werden, um dem Mythos der Unschuld selbst bei denjenigen zu stützen, die am Tor des Bösen gestanden hatten. Diese Entwicklungen, die scheinbar eine breitere Konfrontation der Deutschen mit der NS-Vergangenheit eröffneten, hatten problematische Implikationen. Sie regten das Interesse an der Frage nach dem an, was Deutsche »wussten« oder, wie in rückblickenden Berichten behauptet, »nicht wussten«. Mit dieser Frage beschäftigten sich viele Arbeiten; einige erschienen in den Anfangsjahren des . Jahrhunderts. Aber die Analysen der Historiker gingen nicht in die fortbestehenden Geschichten von ganz normalen Menschen ein, ob sie in Familien »miterschaffen« oder Interviewern erzählt wurden. In den Medien wurden Menschen, die diese Zeit miterlebt hatten, zunehmend nicht als Menschen mit potenziellen Flecken in der Vergangenheit und kompromittierten Identitäten gesehen, sondern als mehr oder weniger neutrale »Zeitzeugen« – mithin als Mitglieder einer Nation von Zuschauern.

Fazit Wir können die Demokratisierung im Nachkriegsdeutschland nicht verstehen, wenn wir die »inneren« Geschichten der Deutschen nicht berücksichtigen. Aus persönlichen Berichten, die »vor« dem Holocaust geschrieben wurden, lassen sich die sozialen Vorbedingungen des Genozids allmählich begreifen: die Transformationen der sozialen Beziehungen, die Menschen dazu brachten, sich im Wegsehen zu üben, das erlernte Sich-nicht-Kümmern und die Entwicklung von Gründen, aus denen man sich nicht hätte anders verhalten können. Aber indem sie sich im Alltag wenigstens äußerlich so verhielten, wie das NS-Regime es von ihnen erwartete, trugen viele »arische« Deutsche zur fortschreitenden gesellschaftlichen und physischen Isolierung der jetzt stigmatisierten und ausgestoßenen Mitbürger bei. In diesem Prozess transformierten sich auch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft. Manche überzeugten sich selbst von der Bekehrung, andere bewahrten sich ein Gefühl der inneren Distanz zum äußeren Verhalten. Erstere konnten behaupten, durch die Ideologie geblendet worden zu sein, Letztere, dass sie schon »immer dagegen« gewesen waren und nur aus Angst mitgemacht hatten. In diesen Interpretationen war das Dritte Reich nur eine massive Scharade, an  Vgl. Longerich (); Bajohr/Pohl ().  Vgl. Johnson/Reuband (); Welzer/Moller/Tschuggnall ().

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der niemand wirklich schuldig war oder mitgemacht hatte. Diese Erfahrungen spielten eine signifikante Rolle dabei, wie verschiedene Deutsche ihre Beteiligung sahen, aber auch, wie sie darüber sprachen und Schlüsselaspekte im Nachhinein mit Schweigen übergingen. Was also hat es mit dem Begriff des »unschuldigen Zuschauers« auf sich? Wir müssen die Extreme vermeiden, die entweder alle Deutschen irgendwie in die »Tätergesellschaft« einbeziehen, alle in gewissem Sinne für schuldig halten oder die Täter auf die kleine Gruppe der Aktiven eingrenzen, während der Rest nur unschuldig zugeschaut habe. Es gibt einen Unterschied, der weiter untersucht werden muss, zwischen aktiver Täterschaft und Komplizenschaft, also: Mitwirken beim Schaffen der Bedingungen für Verbrechen, aktive Mittäterschaft, bewusstes Profitieren davon, Vermeiden von Anzeigen oder Unterstützung beim Verbergen von Taten, die von anderen begangen wurden. Wir tun gut daran, sowohl die Geschichte von Komplizen- und Täterschaft während des Dritten Reiches als auch die Diversität späterer, zu verschiedenen Zeiten produzierter »Erinnerungen« wieder zu untersuchen, wenn wir die Komplexität dessen, was den Holocaust ermöglicht hat, und spätere Strategien zum Leben mit einer vergifteten Vergangenheit aufdecken wollen. Die Konstruktion des Mythos vom »unschuldigen Zuschauer« hat ihre eigene unverkennbare Geschichte. Manche würden sagen, er sei für eine Generation essenziell für die Errichtung und Sicherung der Demokratie in Westdeutschland oder auch für die Stabilisierung des Kommunismus in der DDR gewesen. Diesem Argument kann man die Bedeutung des Marshallplans, des Wirtschaftswunders und neuer Verfassungs- und institutioneller Bedingungen im Westen oder die Bedeutung der Sowjetunion, der Mauer und des Wechsels der Generationen im Osten entgegenhalten. Der Umgang mit der Vergangenheit war nicht das Einzige, was es für den Start eines neuen Lebens in einer sehr anderen Gegenwart brauchte. Und die Rehabilitierung ehemaliger Nationalsozialisten hatte einen beträchtlichen Preis, vor allem aus der Sicht der Opfer und Überlebenden, die nicht sahen, dass Gerechtigkeit geübt wurde, und von denen so viele keine adäquate Anerkennung, geschweige denn Entschädigung für das erlittene Leid bekamen. Für die Mehrheit derjenigen, die mitgemacht hatten, mochte derweil der Mythos, bloß unschuldige Zuschauer gewesen zu sein, bequeme, aber höchst fragwürdige Vorstellungen von Unwissen oder Unfähigkeit, angesichts massiver Unmenschlichkeit zu handeln, genährt haben – Praktiken, die bis heute nur allzu wichtig sind. Es gibt zweifellos weitere Lektionen, die aus dieser Geschichte zu lernen sind. 64

Transnationale jüdische Flüchtlingsgeschichten Verdrängung, Verlust und (fehlende) Wiedergutmachung A G

Norbert Freis Forschungen zum Thema Entschädigung und sein Buch Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit waren der Schlüssel für meine Arbeit an diesem Aufsatz. Die angespannte und hochemotionale Situation im Zusammenhang mit der sogenannten Wiedergutmachung, die von Norbert Frei, José Brunner und Constantin Goschler als »Lernprozess« analysiert wurde, war oft die erste und manchmal die einzige erneute Verbindung von Juden, die zur Flucht aus Deutschland gezwungen worden waren, zu ihrer ehemaligen Heimat. Die Wiedergutmachung war auch ein wesentlicher Teil des Demokratisierungsprozesses, der dem entstehenden Westdeutschland nach dem Krieg zunächst von den Besatzern aufgezwungen und von der Bundesrepublik dann allmählich als eigenes Vorhaben beansprucht wurde – als Teil der Rückkehr zu internationaler Legitimität und innerer Erneuerung. In diesem Text, der sich auf meine eigenen »Familienakten« stützt, liegt der Fokus auf der komplexen Dynamik einer widerwilligen Demokratisierung, auf dem Schmerz und der Bitterkeit, ausgelöst durch die fehlende Anerkennung und den Mangel an Scham oder Schuldgefühl bei deutschen Bürokraten. Dieser schwierige und zunächst sehr erfolglose transnationale Prozess war auch ein Teil des Demokratie-»Lernens« in der Bundesrepublik. Der Schwerpunkt auf »Gefühlen« und persönlicher Erfahrung, die nicht nur in Briefen und anderen privaten Dokumenten, sondern auch im offiziellen Schriftverkehr zum Ausdruck kommen, erinnert an die Vielzahl individueller Konfrontationen mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Vernichtungskriegs, die, wenn auch nicht unbedingt explizit, jeden Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung bestimmten. Dass dieser Weg sehr unsicher war und die meisten Flüchtlinge ihm nicht trauten, zeigt sich hier nicht nur in dem bitteren Sarkasmus, der sich gegen die für die Wiedergutmachung zuständige deutsche Bürokra Dieser Aufsatz ist die nochmals überarbeitete Version eines Textes, der zuerst  und in überarbeiteter Version  erschien; vgl. Grossmann (); Grossmann ().

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tie richtete, sondern im zweiten Teil dieses Aufsatzes auch in dem Prosagedicht Wunschtraum meines Vaters, des Berliner Rechtsanwalts, der aus der Anwaltskammer ausgeschlossen wurde. In dem Gedicht zählt er als Flüchtling im »Orient«, »kein[em] Ort für einen Berliner Rechtsanwalt«, alles aus seinem vergangenen Leben auf, was er vermisste. Wichtig ist hier aber weniger die oft zitierte und – für mich – oft nicht korrekt interpretierte »Sehnsucht« deutscher Juden nach ihrer verlorenen Heimat, sondern die sehr klare Erkenntnis, dass sich diese Sehnsucht auf eine unwiederbringlich und für immer zerstörte Welt richtete. Denn die Flüchtlinge und Überlebenden wussten sehr gut, dass sie – wie energisch die Demokratisierung auch vorankommen mochte – nicht nur nie wieder »nach Hause« konnten, sondern, und das war noch schmerzlicher, dass selbst ihre Erinnerungen an ein glückliches, geborgenes Zuhause und ein Gefühl von Zugehörigkeit unwiderruflich vom Wissen um das Geschehene kontaminiert waren. Und das ist der Grund, warum sich mein Vater kategorisch weigerte, eine Rückkehr zu diesem »schrecklichen Ort« in Erwägung zu ziehen, obwohl die Alliierten und die lokalen Berliner Behörden, die im Zuge der beginnenden Entnazifizierung unbelastete Experten für die ersten Bemühungen zur Wiedergutmachung brauchten, ihn dazu aufforderten. Selbst als staatenloser, ehemals feindlicher Ausländer in Britisch-Indien, als er noch nicht wusste, ob er das bürgerliche Leben, nach dem er sich sehnte, je wiederaufnehmen könnte, und in vollem Bewusstsein der beruflichen und finanziellen Vorteile, die ihn in einem vom Krieg zerrissenen Deutschland erwarten mochten, blieb die Repatriierung eine unannehmbare Option. Für ihn war eine »Erfolgsgeschichte« der Demokratisierung (genauso wie seine erneute Zulassung als unerbittlicher Wiedergutmachungsanwalt aus New York am Kammergericht Berlin) und schon gar ihre Darstellung in späteren Jahrzehnten als »Selbstverständlichkeit« für ein postnationalsozialistisches Deutschland unvorstellbar. Alle Demokratisierungsmaßnahmen in den Jahren der Bundesrepublik konnten nichts an der Tatsache ändern, dass die große Mehrheit der aus demjenigen Land, das einst fraglos ihre Heimat gewesen war, vertriebenen deutschen Juden (um die  Prozent) nie wieder in Deutschland leben wollte, aber sie ermöglichten auf Wegen, die Norbert Frei nicht nur erforscht, sondern zu bahnen geholfen hat, kontinuierliche Begegnungen und jene Lernprozesse, welche die dritte und vierte Generation heute unter erneut schwierigen und erschreckenden Bedingungen durchläuft. Geschichten über jüdische Migration und jüdischen Transnationalismus waren anscheinend immer zutiefst ambivalent; sie versprechen 66

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Abenteuer und einen neuen Anfang weit weg von den Wurzeln der Heimat, sind aber auch mit der Panik von Verfolgung und Flucht belastet, mit der Notwendigkeit zu entkommen genauso wie mit dem Wunsch danach. Für viele deutsche Juden wurde das, was in den er Jahren romantisch und »modern« gewesen war – Kosmopolitismus, Reisen zu exotischen Orten, sei es im Film, in der Literatur oder in der Wirklichkeit –, in den ern zu etwas Unheimlicherem, zu einer Erfahrung von Unsicherheit, Verzweiflung und Verlust. Manche fanden in den weit gestreuten Verläufen der Vertreibung und Emigration dennoch Momente von Wanderlust und den Durst nach neuen Ufern; die, denen die Flucht gelang, wurden an Orte katapultiert, die bis dahin in den Bereich der Fantasie gehört hatten. Diese überfrachteten Geschichten von Flucht und der (notwendig unvollständigen und unzulänglichen) Wiedergutmachung nach der Katastrophe sind zwangsläufig transnational; sie folgen den Flüchtlingen in die Heimat- und Staatenlosigkeit und, sobald sie – oft viele Male – umgepflanzt waren, bei den Versuchen, das Gefühl für ihre eigene Vergangenheit wiederzugewinnen und durch die Forderung nach Entschädigung für unwiderruflich zurückgelassenes Leben und Besitztümer die Grundlage für eine neue Zukunft zu schaffen. Die enge und unvermeidliche Verbindung zwischen der Wiedergutmachung und den komplexen Gefühlen, die sich in und über ein breites transnationales Nachkriegs-Flüchtlingsuniversum erstreckte, war in vieler Hinsicht seit Langem offenkundig. Der Streit in der israelischen Gesellschaft um die Annahme oder Ablehnung eines »Blutgeld«-Vertrags mit der Bundesrepublik Deutschland war heftig und erbittert. Nicht minder schmerzhaft war der Streit in den Wohnzimmern und Küchen der globalisierten Welt der jüdischen Überlebenden und Flüchtlinge um die Frage, ob der potenzielle Gewinn einer unspezifizierten materiellen Entschädigung den Papierkrieg mit einer wiedererstarkten deutschen Beamtenschaft und die schmerzhafte Konfrontation mit Erinnerung und Verlust – sowie die damit einhergehende notwendige Anerkennung einer souveränen Bundesrepublik – aufwog. Und doch fangen wir, zumindest in akademischen Kreisen, gerade erst an, neben den weniger buchstäblich greifbaren Verlusten von Freiheit, Gesundheit und Bildungschancen durch die in der Sprache der Entschädigungsgesetze religiöse, rassische und politische NS-Verfolgung auch über die spezifischen Gefühle nachzudenken, die Wiedergutmachungs- oder Ansprüche auf Entschädi-

 Zum erbitterten Streit in Israel vgl. Segev (), S. -.

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 

gung für Objekte auslösen. Diese genauen Aufzählungen von Porzellangeschirr und Tafelsilber, persischen Teppichen, Singer-Nähmaschinen, Vorhängen und Büchern, samtbezogenen Sesseln, Ölbildern und Stichen und natürlich Grundbesitz, zusammengestellt in ganz unterschiedlichen permanenten oder temporären neuen Wohnungen von Buenos Aires bis Bulawayo, von Tel Aviv bis Tucson, waren ein Schlüsselelement in dem komplexen, kontroversen und schwerfälligen Prozess, der kollektiv und sperrig als Wiedergutmachung geläufig ist. Ihre belastete Bedeutung wird noch gesteigert durch die Tatsache, dass diese geisterhaften Erinnerungen an eine verwüstete Welt und Kultur im Allgemeinen ein Merkmal der deutschen Juden sind, die, anders als die Mehrheit der osteuropäischen jüdischen Opfer des Holocaust, solche Verluste auch dokumentieren konnten. Das umfassende Archivmaterial zu diesem Entschädigungsprozess zeigt eine Geschichte deutscher Juden, die in Deutschland begann und dort katastrophal endete, aber danach individuell erinnert und dokumentiert wurde, und zwar in einem transnationalen Netz aus Anwälten, Ärzten, Konsularbeamten und Anspruchsberechtigten, die an unterschiedlichen Orten die Geschichte ordnen mussten, damit sie für Beamte in einer neu gegründeten Bundesrepublik verständlich, plausibel und »legitim« wurden. Es zeigt, dass eine Untersuchung emotionaler Reaktionen nicht nur die Flüchtlinge und Überlebenden mit all ihrem ambivalenten Gefühlswirrwarr berücksichtigen muss, sondern auch die durch Paragraphen und Rechtsvorschriften bemäntelten Reaktionen der verschiedenen deutschen Beamten, Anwälte und aller möglichen »Experten«, die die Ansprüche bearbeiteten, sowie die der »Arisierer«, die oft ein wichtiger Bestandteil des »Gesprächs« waren. Vor allem am Anfang liest sich dieser Schriftwechsel, in dem die Opfer sich neu als Anspruchsberechtigte definieren mussten in einer Gesellschaft, die sie vertrieben und verfolgt hatte, und in dem ihr Gegenüber zudem nicht selten frühere Verfolger waren, wie eine frustrierende, schmerzhafte und bürokratisch groteske juristische und semantische, oft antisemitisch gefärbte Schlacht. Die Unterlagen jetzt, Jahrzehnte später, zu lesen löst Zorn und eine Art Ungläubigkeit aus. Zwangsläufig führen solche Untersuchungen aber zumindest im Fall bürgerlicher Berliner Juden, wie meiner Familie, auch zu Fantasien über einen großartigen, un Vgl. Federal Ministry of Finance (), S. .  Vgl. Frei/Brunner/Goschler (b), S. . Die Herausgeber beziehen sich vielsagend auf einen Prozess, in dem »Verfolgte« zu »Antragstellern« wurden.

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wiederbringlich zerstörten Lifestyle (das Wort ist hier vielleicht angemessen), der hätte sein können.

Gemischte Gefühle Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der der seltsame und irreführende Begriff »Wiedergutmachung« so sehr Teil des täglichen Gesprächs war wie das Wetter, die internationale politische Lage und der Mangel an guten Cafés und gutem Kaffee an der Upper West Side New Yorks in den er und er Jahren. Mein Vater, der in Berlin junger Jurist gewesen war, wurde Wiedergutmachungsanwalt, und unser Wohnzimmer war immer voller Deutsch sprechender Freunde und Klienten mittleren Alters mit ihren Fotos, Dokumenten und Geschichten – denen ich manchmal heimlich zuhörte: hier ein ehemals vielversprechender Künstler, dort ein berühmter Biochemiker, ein Arzt mit florierender Praxis, ein kleiner Ladenbesitzer oder ein Student, der von der Universität verwiesen worden war. Manche hatten das Glück gehabt, in den er Jahren aus Deutschland direkt in die USA gekommen zu sein, mit der nötigen Zeit und den nötigen Mitteln, um ein angenehmes Leben aufzubauen. Andere setzten nach mehr oder weniger langen Transitaufenthalten an »exotischeren« Orten wie Shanghai oder auch in Bolivien, Kuba, der Dominikanischen Republik und Indien immer noch ihr neues Leben zusammen; einige trugen das bizarre Zeichen der Vernichtungslager auf dem Arm. Sie kamen, um zusammen mit meinem Vater die einzig realistische Rache zu planen, ja die einzige »Entschädigung«, die sich noch aus der Katastrophe herausholen ließ, das heißt: materielle Wiedergutmachung – Geld, mit all den damit verbundenen Gewissensbissen und gemischten Gefühlen. Ich spürte, wie viel bittere Freude es meinem Vater, der überwiegend von New York aus arbeitete, bereitete, so viel Geld wie möglich aus der jungen Bundesrepublik herauszuholen, und mir war schon in sehr jungen Jahren die plötzliche Veränderung in meiner Familie durch das Eintreffen des Wiedergutmachungsgelds und die Honorare seiner Klienten bewusst. Mein Vater unternahm seine erste Reise nach Europa, und ich erinnere mich noch an das weiche Wildleder der eleganten Handtaschen, die er meiner Mutter aus Spanien mitbrachte, an die Aura – und den Geruch – des Kontinents und einen gewissen, lange verlorenen Luxus, der in unsere beengte New Yorker Wohnung Einzug hielt. Für die deutschen jüdischen Flüchtlinge in New York hatte sich definitiv etwas Wichtiges verändert. Die sagenumwobene Sommerfrische fand 69

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plötzlich nicht mehr in kleinen Pensionen mit deutschsprachiger Klientel und herzhaftem osteuropäischem Essen (manchmal koscher, manchmal nicht) in den Städten der hügeligen Catskills wie Tannersville und Fleischmanns statt, sondern in den echten, nostalgisch erinnerten Alpen und den Grandhotels von Zermatt, Sils-Maria oder Arosa. Die endgültige Verabschiedung der Gesetze zur Wiedergutmachung  im Bundestag markierte das langsame Ende der deutsch-jüdischen Catskills. Und für mich war die Erleichterung physisch greifbar, die sich im Café Éclair, im Tip Toe Inn, beim Kaffeeklatsch der Jeckes-Gemeinde in New York ausbreitete, als das Geld und die Pensionen eintrafen, die Konten voller wurden und sich ein gewisses Sicherheitsgefühl, in das sich immer der Schmerz des unwiederbringlichen Verlusts mischte, im Flüchtlingsleben bemerkbar machte. Vor diesem Hintergrund also befasste ich mich Jahre später mit den Akten meiner Familie, als ich als Historikerin für die Geschichte Nachkriegsdeutschlands und natürlich als neugierige, aber misstrauische Betroffene zu Begegnungen zwischen besiegten Deutschen und überlebenden Juden forschte. Meine Beispiele für die Wiedergutmachung sind entsprechend in dem hybriden, von professionellen Historikern so oft mit Misstrauen betrachteten Ort zwischen »Geschichte« in Großbuchstaben und Erinnerung angesiedelt; dass ich mich auf Fragmente des Familienarchivs stütze, ist emotional und intellektuell so gefährlich wie lohnend und deshalb vielleicht der Diskussion der »Gefühle« der Wiedergutmachung völlig angemessen.

Emotionale Verstrickungen Die Akten der Grossmann-Familie beginnen in der ersten Nachkriegszeit, vor der Verabschiedung des »Bundesergänzungsgesetzes« von , mit dem ersten Entschädigungsbefehl der Alliierten, Militärgesetz Nr.  zur Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer nationalsozialistischer Unterdrückungsmaßnahmen vom . November  in der amerikanischen Zone und gehen in den frühen er Jahren nach dem Luxemburger Abkommen von  weiter, als Überlebende, vor allem deutsche Juden, ihre Ansprüche auf Entschädigung für Eigentum und Wiedergutmachung anmeldeten – für Verluste, die tatsächlich nicht »wiedergutgemacht« werden konnten. Ihre Ansprüche und die grenzüberschreitende Korrespondenz, die sie dokumentiert, sind Teil der belasteten frühen Begegnungen zwischen Juden und Deutschen kurz nach Krieg und Holocaust. Während der Besatzung, den Displaced-Persons70

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Jahren von  bis / und den frühen er Jahren in der Bundesrepublik wurden einige Forderungen deutschen Beamten von Angesicht zu Angesicht übergeben. Die Tatsache aber, dass die meisten Entschädigungsforderungen deutscher Juden, die jetzt über den ganzen Globus verstreut waren und vor allem in den USA, in Israel, dem Vereinigen Königreich, aber auch in Lateinamerika und im britischen Commonwealth (von Australien bis Südafrika) lebten, durch internationale Luftpost transportiert und von Anwälten in Deutschland und den jeweiligen neuen Heimatländern vertreten wurden, unterstreicht den transnationalen Charakter dieses historisch beispiellosen juristischen und politischen (und emotionalen) Experiments. In diesem frühen Stadium eines kontinuierlichen Begegnungs- und Verhandlungsprozesses zwischen Deutschen und Juden nach der Niederlage des Dritten Reiches, in dem alle Seiten, in der Regel durch die neue Geographie der Flucht und Emigration getrennt, auf »Learning by Doing« angewiesen waren, erzählen die Akten vor allem Geschichten über nicht geleistete Entschädigung. Sie offenbaren ein junges Westdeutschland, das überwiegend entschlossen war, die unmittelbare Vergangenheit zu umgehen, und anscheinend völlig immun gegen den Ausdruck von Verlust, Zorn und sogar verbitterter Resignation zumindest bei einem Teil der Kläger war. Die zerbröselnden Akten der ersten Wiedergutmachungsbemühungen meiner Familie von  bis , die sich auf das Militärregierungsgesetz der alliierten Kommandantur für Berlin vom . Juli  (Artikel , REAO, Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen) stützten, erzählen eine Geschichte, die zwar bereits veröffentlicht ist, aber eine kurze Wiederholung in diesem Aufsatz verdient, weil sie in ihren unversöhnlichen Narrativen über das, was in der NS-Zeit wirklich geschehen war, typisch für den bitteren Abgrund an Erfahrungen und Erinnerungen ist, der nach  diejenigen trennte, die einst alle gemeinsam Berliner gewesen waren. Es ist die Geschichte eines Berliner Hotels, das laut einer für Berlin-Besucher im Millenniumsjahr / gedruckten und später auch auf der Internetseite des Hotels veröffentlichten Broschüre vom Großvater des damaligen Besitzers  »gekauft« worden war. Dann, zunächst »teilzerstört durch die Wirren des Zweiten Weltkrieges […], setzte das Hotel Astoria seine Vorkriegsgeschichte fort […]. In einem Haus,



Vgl. Frei/Brunner/Goschler (b), S. .

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das  nach alter Handwerksart errichtet wurde, konnte Charme und Solidität des vergangenen Jahrhunderts bewahrt werden.« Tatsächlich waren die frühen Nachkriegsjahre des Astoria von der erbitterten Auseinandersetzung zwischen meinem Vater, dessen Eltern das Haus in der Fasanenstraße von  bis August  gehört hatte, und den neuen Besitzern über diese Vorkriegsgeschichte, die erbärmlichen Ereignisse der »Arisierung« und den erzwungenen Verkauf jüdischen Eigentums in NS-Deutschland geprägt. Meine Großmutter, Gertrud Grossmann, die das Haus nach dem Tod ihres Mannes  übernommen hatte, konnte sich ihrem ersten Deportationsbefehl fast eineinhalb Jahre entziehen, wurde aber  mit dem . Osttransport nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurde. Gertruds drei Söhne überlebten. Einer wurde in Mauthausen befreit, nachdem er zwei Jahre Auschwitz überstanden hatte, ein anderer hatte sich als Arzt in Hartford, Connecticut, niedergelassen, und der dritte, mein Vater, hatte den Krieg als feindlicher Ausländer in einem Internierungslager der Regierung Ihrer Majestät in Britisch-Indien verbracht. Jetzt zählten die beiden Ärzte darauf, dass ihr Bruder, der ehemalige Berliner Rechtsanwalt, mit Hilfe des Rückerstattungsgesetzes, das Berlin von der Kommandatur der Alliierten am . Juli  aufgezwungen worden war, rettete, was er konnte. Während die neuen Besitzer behaupteten, sie hätten das Gebäude mit »einem völlig unpolitischen und […] wirtschaftlich gerechtfertigten Vertrag, bei dem irgendwelche Zwangs- oder Druckmittel in keiner Weise angewendet worden sind«, erworben, unterschied sich die Erinnerung meines Vaters an die Transaktion von , die in den Gerichtsakten festgehalten ist, drastisch von dieser harmlosen Version. Meinem Vater zufolge hatte der erfolgreiche »Arisierer« »[i]m Verlauf von wiederholten Besprechungen […] sich seiner besonders guten Beziehungen zur nationalsozialistischen Partei und Amtsstellen gerühmt […]. Er hat erklärt, dass er, falls meine Mutter ihm das Haus nicht verkaufen wollte, Mittel und Wege hätte, es in jedem Falle zu bekommen. Mit Rücksicht auf die allgemeine Rechtlosigkeit der Juden in Deutschland und der kaum verhüllten Drohungen […] hielten meine Mutter und ich es damals für das Richtige, diesen Drohungen nachzugeben.« Nach einem langen, erbitterten Rechtsstreit verurteilte die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Berlin den Hotelier am . September  zur Zahlung der bescheidenen Summe von   Mark an die Erben von Gertrud Grossmann.  Ein detaillierterer Bericht bei Grossmann (), S.  ff.,  f., Anm.  und . Privatarchiv Familie Grossmann, Akten des Wiedergutmachungsamts, WGA

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Die Geschichte hat noch eine kleine Fortsetzung, die zeigt, wie unverarbeitet – man könnte auch sagen: absurd und pervers – die mit dem Besitz »arisierten« Eigentums verbundenen Gefühle immer noch sind. Kurz nach einem kleinen Artikel über meine Forschung zu diesem Teil deutscher Geschichte im Aufbau, der transnationalen Wochenzeitschrift der globalen deutsch-jüdischen Flüchtlingsgemeinde, bekam ich einen Brief vom Enkel des Käufers von  auf schwerem, elegantem Papier. Es lohnt sich wohl, aus diesem Brief hier zu zitieren: »Sie sind mir bekannt als anerkannte Wissenschaftlerin der Geschichte […]. Mir ist der anachronistische Bezug nicht verständlich zwischen dem von Ihnen angesprochen Kauf [sic] und der Arbeit eines Familienmitglieds des Käufers, das zwei Generationen später dieses Hotel leitet. Die Pointe, die Sie herausarbeiten, kann ich zwar nachvollziehen, ich halte diese aber für unwissenschaftlich. Ihr Zweck bleibt mir allerdings völlig schleierhaft. Der Vorwurf, den Sie in Ihrem Artikel machen, trifft jemanden, der den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat (geboren ), der also nicht an den verbrecherischen Vorkommnissen dieser Zeit mitschuldig ist oder mitschuldig zu machen ist. Diese Zeit erlegt mir jedenfalls wie jedem anderen Menschen – zumal in Deutschland – die Verantwortung auf, alle jene Ereignisse in seinem Geist wach zu halten […], damit Ereignisse wie damals sich nicht wiederholen können, Schranken, Mauern oder Blockaden seines Geistes gegenüber anderen, unabhängig von seiner Hautfarbe, Religion oder Nation abzubauen, so dass eine Wiederholung nicht beginnen kann.« Und dann kam ein entscheidender Punkt, der zeigte, dass der Verfasser des Briefs tatsächlich sehr reale eigene materielle Sorgen bei »Ihr[em] Zweck«, wie er es nannte, besaß: »Deshalb ist für mich die Angelegenheit des damaligen Kaufes […] juristisch abgeschlossen« – um dann rituell hinzuzufügen: »ungeachtet der zeitlosen Kritik am damaligen Vorgehen Deutscher gegenüber [den sprichwörtlichen] Mitbürgern jüdischen Glaubens.« Ich habe diesen besorgten Brief nie beantwortet; ich hatte bereits entschieden, dass ich nicht bereit war, die nötige Zeit, das Geld, die Energie und ja, die Emotion zu investieren, um die wiedereröffnete Debatte zu führen, die der Enkel und damalige Besitzer des Hotels Astoria of/ (Walter Grossmann) und WGA / (Franz und Hans S. Grossmann).   DM waren damals weniger als  US-Dollar; die Grossmanns hatten einen Wert von   bis   DM angesetzt.  Vgl. Sacks ().  Brief von Christian Berghausen an mich, Berlin , vgl. Grossmann (), S. , Anm. .

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fensichtlich fürchtete, so wie ich auch aus Gründen, die ich noch nicht ganz entwirrt habe, den »Raubkunst«-Prozess, zu dem mich ein eifriger deutscher Anwalt drängte, nicht weiterverfolgt habe, um die eindrucksvolle Kunstsammlung, die mein Onkel, der Architekt Leo Nachtlicht, irgendwann zwischen  und  versteigert und dann verloren hatte, wiederzufinden, wiederzubekommen oder eine Entschädigung dafür zu erhalten. Ich zog es vor, wenig umfassend, aber dennoch von Herzen Rache durch historische Forschung und Veröffentlichungen zu nehmen und unter anderem dafür zu sorgen, dass jüdische Organisationen keine Übernachtungen im Hotel Astoria mehr buchten, was sich schließlich erledigte, als die Familie (im Wortsinne) den Geist austrieb und das Haus an eine Hotelkette verkaufte.

Objekte, Gefühle und (gescheiterte) Lernprozesse Es lohnt sich deshalb, noch weiter über die kaum unterdrückten Gefühle nachzudenken, die sich dem aufmerksamen (und persönlich betroffenen) Leser dieser Dokumente offenbaren. Norbert Frei, José Brunner und Constantin Goschler verweisen in ihrer detaillierten Studie über Die Praxis der Wiedergutmachung vor allem in Deutschland und Israel darauf, dass auf merkwürdige, aber eindrückliche Weise genau diese schwierigen, oft quälenden Entschädigungsfälle ein wichtiges Forum für die Begegnung von überlebenden, über den ganzen Erdball verteilten deutschen Juden mit dem Land bot, wenn nicht sogar erzwang, aus dem man sie vertrieben hatte. Dieser Prozess fand gelegentlich direkt in Form einer Rückkehr nach Deutschland statt, um die Bearbeitung der Forderungen zu erleichtern, häufiger aber aus großer Entfernung, durch Briefe, juristische Dokumente und Interaktionen (fast immer ausgesprochen unangenehmen) mit Vertretern deutscher Konsulate, einschließlich der gefürchteten (oft jüdischen) Vertrauensärzte und Psychiater, die über eine Erwerbsunfähigkeit entschieden. Im Laufe der Zeit und mit den politischen Veränderungen kann man diese Praxis, wie Frei, Brunner und Goschler so überzeugend argumentieren, als »einen permanenten Lernprozess der daran beteiligten Gruppen und Gesellschaften« verstehen.  Ein Stolperstein für Gertrud Grossmann wurde am . Oktober  vor dem Hotel angebracht. Kurz danach kam die Ankündigung, dass das Gebäude abgerissen werden sollte. Heute steht dort ein neues »Apartmenthotel«.  Vgl. Frei/Brunner/Goschler (b), S. .

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Tatsächlich hätten die deutschen Entschädigungsbeamten, die Anwälte der »Arisierer« sowie alle möglichen Empfänger der Forderungen, wenn sie dazu bereit gewesen wären, viel über das Leben ihrer ehemaligen Mitbürger lernen können. Wie Leora Auslander in ihrer aufmerksamen Lektüre französischer Entschädigungsforderungen so eindrucksvoll gezeigt hat, eröffnen die Akten reiche und rührende Porträts eines Lebens, das angenehm war und dann plötzlich traumatisch unterbrochen wurde. Wir finden detaillierte Lebensläufe, oft mühsam rekonstruiert, weil die richtigen Dokumente fehlen, die in Schiffscontainern und auf der hastigen Flucht zu zahlreichen Destinationen verloren gingen. Die Kläger legten pflichtgemäß notariell beglaubigte Lebensläufe vor und katalogisierten – mit dem abwehrenden Stolz von Menschen, die das einst Selbstverständliche beweisen müssen – Ausbildung, Prüfungen, gesellschaftliche Position, unterbrochene Zukunftsaussichten, aber auch die emigrationsbedingten Hürden, die Schwierigkeiten, in ihrem alten Beruf wieder neu anzufangen, und die Gebühren und Kosten für neue Lizenzen und Prüfungen. Sie führten ihre seltsamen Übergangsjobs auf (der sprichwörtliche jüdische deutsche Bürstenvertreter an der Hintertür unserer Wohnung bleibt eine lebendige Gestalt) und verglichen die vergangenen mit den (sehr viel niedrigeren) gegenwärtigen Einkünften. Sie legten eidesstattliche Erklärungen von Freunden und Kollegen aus dem ganzen neuen internationalen Flüchtlingsuniversum bei, die die Wahrheit des von ihnen behaupteten und jetzt verlorenen hohen Lebensstandards bezeugten. Im Fall meines Vaters zeugte ein früherer Rechtsanwaltskollege, der jetzt in Buenos Aires lebte, am . Januar  von den verlorenen Freuden eines bürgerlichen Lebens mit seinem selbstverständlichen Ausgleich von Arbeit und Vergnügen: »Er hatte eine elegant und modern eingerichtete Wohnung im Hause […], eine kleinere zum Wintersport im Winter«, und fügte hinzu: »Ich habe keinen Zweifel, dass sich mit Rücksicht hierauf Dr. Grossmanns Einkommen aus seiner Anwaltspraxis im Laufe der Jahre noch stark erhöht hätte, wenn ihm dies nicht durch die Umstände unmöglich gemacht worden wäre, besonders da er im Jahre  erst  Jahre alt war und erst im Beginn seiner beruflichen Entwicklung stand.« Zunächst jedoch beinhaltete dieser Lernprozess für die Kläger eine toxische Mischung aus Enttäuschung, Frustration, Wut und berechtig Vgl. Auslander ().  Privatarchiv Familie Grossmann, Akte Hans S. Grossmann, WGA /. Eidesstattliche Versicherung Dr. Artur Donig, Buenos Aires, ...

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 

tem Misstrauen aufgrund der Weigerung der Deutschen, Verantwortung zu übernehmen. Auffallend ist vor allem der bittere Sarkasmus der Flüchtlinge angesichts der offenkundigen Ungerechtigkeit, der kaltschnäuzigen Nichtbeachtung der jüngsten Geschichte und der Suche der neu ermächtigten und wegen der erzwungenen Beschäftigung mit so unangenehmen Dingen frustrierten westdeutschen Beamten nach einem Stückchen Autorität. Die ersten Antworten – sicherlich vor  – waren mit sorgfältigen Hinweisen auf eine Vielzahl von Paragrafen verziert und schlossen, als die Ansprüche verweigert wurden, mit einem monotonen »Nein, nein, nein«. Aktuelle wirtschaftliche oder berufliche Schwierigkeiten, wie sie in diesen frühen Klagen beschrieben wurden, wurden nicht der Verfolgung durch die Nationalsozialisten, sondern Hindernissen zugeschrieben, die sich der Emigration und den Aufnahmeländern verdankten (im Falle Großbritanniens zum Beispiel die Internierung als feindliche Ausländer). Die kausale Beziehung zwischen der Vertreibung durch die Nationalsozialisten und den zahlreichen Verlusten und Verletzungen nach der Emigration – im Gegensatz zu denen, die noch in Deutschland erlitten wurden –, darunter ironischerweise die Inhaftierung flüchtender Juden als potenzielle fünfte Kolonne von NS-Sympathisanten, wurden einfach geleugnet, nicht anerkannt – »nein, die Voraussetzungen sind […] nicht gegeben«. Im Falle meines Vaters gab es die völlig logische, wenn auch vorhersehbar abenteuerliche Argumentation, hätte sein Pass nicht den eindeutig nationalsozialistischen Zusatz »J« und den zweiten Vornamen »Israel« enthalten, wäre sein Plan, aus einem ersten Asyl in Teheran über die Sowjetunion und Japan nach Amerika zu emigrieren, nicht durch die Verweigerung eines Transitvisums von der mit den Deutschen verbündeten japanischen Regierung vereitelt worden. Ohne diese von den Nationalsozialisten erzwungene »rassische« Kennzeichnung wäre er nicht dazu gezwungen gewesen, sich auf die riskante Reise durch Britisch-Indien zu begeben, um das Schiff von Bombay nach San Francisco zu erreichen, eine Reise, die ihm fünf Jahre Gefangenschaft in Indien einbrachte, während deren er, wie der Text, mit dem ich diesen Aufsatz schließe, zeigt, die Reste seiner »ehrbaren« Identität verlor: seine verbliebenen Ersparnisse, sein Affidavit und sein Visum für die USA, seine beruflichen Hilfsmittel und Referenzen und die Besitztümer, welche auch immer, die er bei seiner ersten hastigen Flucht nach  von Berlin nach Teheran hatte mitnehmen können, sowie seine Chance, ein halbes Jahrzehnt früher als jüngerer, gesünderer und weniger traumatisierter Mann in den USA neu anzufangen. 76

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Diese Argumentation, so verständlich sie für uns ist, konnte deutsche Beamte, die keine Lust hatten, die Verantwortung für die Kriegshandlungen ihrer Nachkriegsbesatzer zu übernehmen, natürlich absolut nicht überzeugen. Das Wiedergutmachungsamt in Berlin leugnete  ausdrücklich jede Verbindung zwischen einer »aus rassischen Gründen erfolgten Auswanderung des Antragsstellers im Jahre  und dem Freiheitsschaden im Jahre «. Und das sind, was man nicht vergessen darf, Geschichten ehemaliger deutscher Bürger, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) zum »deutschen Sprach- und Kulturkreis« gehörten und von Anfang an in ihrem Recht auf Entschädigung privilegiert waren, vergleicht man sie etwa mit den staatenlosen osteuropäischen Displaced Persons in Deutschland, die nur wegen gesundheitlicher Schäden und »Freiheitsverlust« klagen konnten. Deshalb darf man nicht vergessen, dass trotz der Erfolgsgeschichte der Wiedergutmachung – und in vieler Hinsicht ist sie eine Art überfälliger Gerechtigkeit und sorgfältig orchestrierter Begegnung zwischen Tätern und Opfern – die Anfangsjahre das spiegelten, was nach Hannah Arendt in ihrem Essay Besuch in Deutschland von  eine tief verwurzelte, hartnäckige und gelegentlich brutale Weigerung war, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden. Das ist ein entscheidender Teil dessen, was jüdische Beobachter in den Nachkriegsjahren als »Rätsel der Verantwortungslosigkeit« bezeichneten. Die Reaktionen der Kläger bestanden wie die meines Vaters aus Wut, verpackt in preußische Formalität und gewürzt mit wissendem Sarkasmus. Mein Großvater mütterlicherseits, der in Berlin im Versteck überlebt hatte, reagierte am . Juli  lakonisch auf den Senator für Finanzen in West-Berlin, der anhand ebenjener Dokumente, die er mit seiner Klage eingereicht hatte, schrieb, die Akten des Oberfinanzpräsidiums, die die Deportation meiner Großmutter aus der Großen Hamburger Straße zehn Jahre zuvor belegten, zeigten eindeutig, dass er damals kein Eigentum mehr besessen habe. Entsprechend seien alle zusätzlichen Ansprüche durch die präzise Aufzählung jedes einzelnen »entzogenen« Gegenstands zu unterfüttern. Er wurde aufgefordert, zu beschreiben und zu beweisen, »wann, wo, auf welche Weise und durch welche Dienststelle des vormaligen Deutschen Reiches eine ungerechtfertigte Entziehung zugunsten eines der von mir zu vertretenden Rechtsträger erfolgt ist«.    

Privatarchiv Familie Grossmann, Akte Hans S. Grossmann, WGA /. Vgl. Frei/Brunner/Goschler (b), S. . Arendt (). Vgl. Moskowitz ().

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Beim Fehlen solcher Nachweise könne keine Entschädigung gewährt werden. Also versuchte es mein Großvater erneut und benutzte bewusst die Sprache seiner Peiniger: Er hatte in einem »sogenannten herrschaftlichen Haushalt« gelebt, unterstützt von der substanziellen Mitgift seiner Frau, mit teurer Einrichtung, mehr als  Büchern (die ihm ein Buchhändler aus Friedenau für  Reichsmark abgenommen hatte, als er in ein sogenanntes Judenhaus zog), selbst mit einem Sportboot, das der leidenschaftliche Turner im Spree-Ruderklub Grünau vor Anker gelegt hatte, und war ein ausgebildeter Fechter (mit Diplom). Er, das ehemalige »U-Boot«, der anders als die meisten deutsch-jüdischen Kläger das Dritte Reich im Krieg direkt erlebt hatte, schrieb: »Die Schuld des Nazireiches brauche ich wohl nicht erst nachzuweisen […]. Ich darf wohl annehmen, dass diese Angaben genügen.« Aber das taten sie natürlich nicht; der Antrag wurde erneut abgelehnt. Seine Bitte, unterschrieben mit (wie ich mir vorstelle, beträchtlichem Zynismus) »vorzüglicher Hochachtung«, ihm die kostbaren verbliebenen Fotos seines elegant möblierten »herrschaftlichen« Hauses, die er als »Beweis« vorgelegt hatte, zurückzugeben, wurde nicht erfüllt, wie ich Jahrzehnte später feststellte, als ich sie  in seiner Wiedergutmachungsakte fand (und, ich darf sagen, entgegen allen Vorschriften mitnahm). Interessanterweise scheinen in den von mir eingesehenen Familienakten die liebevollsten und schmerzhaftesten Einzelheiten alltäglicheren Objekten zu gelten, »modernen« (eine beharrliche Betonung) genauso wie »luxuriösen« häuslichen Gegenständen, einem Doppelbett, einem mit rotem Samt bezogenen Sessel, einem »Rauchtisch«, und nicht denjenigen, die mich heute erstaunt aufseufzen lassen, darunter Ölbilder von Otto Dix und Oskar Kokoschka, mehrere (in Anführungszeichen als »original« ausgewiesene) Zeichnungen von Edgar Degas und Max Liebermann sowie »weitere Oelgemaelde«, die die luxuriöse Wohnung des Architekten Nachtlicht in der Trautenaustraße , Berlin-Wilmersdorf, schmückten. Das wurde bei der Forderung deutlich, die eine der Nachtlicht-Töchter im Namen ihrer Eltern erhob. Nach dem Tod (wahrscheinlich durch Selbstmord) ihres bekannten und erfolgreichen Vaters kurz vor seiner Deportation und der Ermordung ihrer Mutter in Auschwitz trauerte sie ihren Noten und ihrer Geige nicht weniger nach als dem Buethner-Flügel und den wertvollen Kunstwerken. Das waren für sie, eine gute Musikerin, die jetzt das merkwürdige Leben der europäischen Exilanten – als Weiße privilegiert, aber als Jüdin und Flücht Privatarchiv Familie Grossmann, Akte Heinrich Busse, WGA /.

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ling fremd und desorientiert – in Bulawayo in Rhodesien führte, die »unersetzliche[n] Gegenstände«. Es sind die privaten Stücke, die am lebendigsten wirken, ganz im Gegensatz zu den Werten, die wir heute beispielsweise in Prozessen wegen Raubkunst festlegen. Wiedergutmachungsklagen offenbaren oder verweisen auf die Gefühle heute erwachsener Kinder, die entkommen waren; sie werden verstärkt durch die Augenzeugenberichte derjenigen, die dort gewesen sind und sich erinnert haben. Die Schwiegertochter eines weiteren Onkels bestätigte, dass ihr Mann immer noch so darunter litt, dass er seine Mutter und seinen Bruder nicht hatte retten können, dass sie den Wiedergutmachungsprozess übernommen hatte. Sie wusste noch, dass sie ihrer Schwiegermutter geholfen hatte, wertvollen Schmuck, Diamantbroschen, das wertvollste Silber abzugeben, und fügte sogar Skizzen der Objekte bei, die sie  aus der Erinnerung gezeichnet hatte. Die beiden Frauen waren, wie sie hinzufügte, mit dem Taxi zur Sammelstelle in der Jägerstraße gefahren und hatten das Silber in zwei Waschkörben transportiert. Das Dienstmädchen der Familie, das immer noch in Berlin lebte und  eine frühere, erfolglose eidesstattliche Erklärung abgegeben hatte, war von dem Familiensilber am meisten beeindruckt; es war, darauf bestand sie, wirklich edel, nicht bloß Hotelsilber. Die Sammelstelle, bemerkte sie, hatte noch immer Quittungen ausgestellt, auch wenn diese Dokumente der Beschlagnahmung und des Verlusts seit Langem ebenfalls verloren waren. Nach ihrer Erinnerung war das wertvollste Stück ein glitzerndes Perlenhalsband, dessen Wert sie mit   Reichsmark angab. Es war aber in einem verzweifelten und trotzigen Versuch, eine Ressource zu bewahren, mit der vielleicht Lebensmittel oder Visa zu kaufen waren, nicht abgegeben, sondern versteckt worden; später wurde es bei einer Gestapo-Razzia gefunden. Dafür gab es keine Quittung. Aber selbst dann, wenn all diese Quittungen aufbewahrt worden wären, hätten sie sich als nutzlos erwiesen, zumindest für die West-Berliner Behörden in den er Jahren. Diese sorgfältig rekonstruierten Inventare eines einst sicheren und komfortablen Lebens im Wohlstand, mit »Tafelsilber für  Personen (komplett doppelt), Fischbestecke[n], Kuchengabeln, Teesiebe[n], Tortenheber[n] etc.«, die pflichtgemäß konfisziert und aufgelistet worden waren, konnten bei der Entschädigung nicht berücksichtigt werden, denn die Sammelstelle, die  jüdischen Besitz einsammelte, lag in der Jägerstraße, die jetzt zu Ost-Berlin gehörte.  Privatarchiv Familie Grossmann, Akte Leo Nachtlicht, WGA /. Eine relativ »zufriedenstellende« Vereinbarung wurde schließlich am .. erreicht.

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Die relevante Rechtsprechung des Kammergerichts galt praktischerweise nur für »den örtlichen Bereich der heutigen Westsektoren Berlins«. Die West-Berliner Behörden betrachteten sich nicht als verantwortlich für die Entschädigung von Objekten, die an einem Ort abgegeben worden waren, der jetzt hinter dem Eisernen Vorhang lag. Viele Ansprüche, die in den frühen Jahren der Bundesrepublik summarisch und wiederholt abgelehnt worden waren, wurden  schließlich mehr oder weniger geklärt. Der Lernprozess begann extrem langsam mit Begegnungen, die in polarisierter Erinnerung und wechselseitigem Misstrauen gründeten. Die Geschichte dieses Prozesses bleibt unbearbeitet, vielleicht vor allem für die Erben derjenigen, die sich an jüdischem Gut und Eigentum bereichert oder einfach ihr Leben und ihr Zuhause angenehmer, dekorativer, »moderner« gemacht hatten, aber auch für uns, die wir Geschichte – Geschichte des Alltags, der materiellen Kultur, der Nachkriegsbegegnung zwischen Deutschen und Juden – durch die Akten der Wiedergutmachungsämter studieren.

Die Wunschliste Und dann gibt es eine andere Gefühlsebene, angebunden an das, was nicht ersetzt werden kann, was sich der – keineswegs überheblich abzulehnenden – finanziellen Entschädigung durch eine wenn auch verspätete Wiedergutmachung widersetzt. Das sind die immateriellen Verluste, die für immer zerbrochene, nie wieder zusammengesetzte Identität, auch wenn manche Flüchtlinge, vor allem, wenn sie jünger waren und/oder es geschafft hatten, ihr endgültiges Ziel vor dem Krieg zu erreichen und kostbare medizinische oder juristische Zulassungen erwerben, Geschäfte gründen, sich mit den Alliierten im Krieg identifizieren und ein neues und oft befriedigendes Leben aufbauen konnten. Genau diese zutiefst immateriellen Verluste sind oft mit der Re-Imaginierung – und der darauffolgenden Auflistung – bestimmter Objekte verbunden. So habe ich beim weiteren Graben in den verstaubten Familienarchiven eine andere Schicht gefunden, die genau die Erinnerungen und Fantasien über verlorene Gegenstände oder das verlorene Leben wecken, die solche Objekte repräsentieren können. Besonders ein Fund ließ mich innehalten, eben weil seine ergreifende Mischung aus persönlich Spezifischem und verallgemeinerbar Historischem, wie mir scheint, direkt jene emotionalen und  Privatarchiv Familie Grossmann, Akte Freudenthal, WGA.

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intellektuellen Probleme anspricht, die entstehen, wenn man die eigene Familiengeschichte beim Schreiben über das heranzieht, was wir für Geschichte halten. Im Keller eines Hauses auf Long Island, in dem immer noch Kisten über Kisten mit unausgepackten familiären Erinnerungsstücken stehen, die seit Jahrzehnten trotz periodischer Anstrengungen immer noch nicht katalogisiert sind, stieß ich auf einen Text, angesiedelt irgendwo zwischen Liste und Gedicht, getippt auf blauem Luftpostpapier. Die unterstrichene Überschrift lautete »Wunschträume nach  Jahren Innerasien,  Jahren Indien und  Monaten Bombay«. Der Text wurde von meinem Vater in Bombay verfasst, der fünf Jahre von den Briten im Himalaya interniert war und davor zunächst fünf Jahre als Flüchtling in Teheran und dann sechs Monate voller Ungewissheit in Bombay verbracht hatte. Im Juni  hatte man ihn in Quetta an der Grenze zu Britisch-Indien verhaftet, als er auf dem Weg zu seinem Dampfer, der President Garfield, mit Ziel San Francisco war; der Anklage zufolge war er nicht nur ein »feindlicher Ausländer«, sondern auch ein »verdächtiger feindlicher Agent«. Gestolpert war er anscheinend über eine der typischsten Beschäftigungen grenzüberschreitender Juden, dem Handel oder, wie es oft vielsagend (und mit einem Augenzwinkern) heißt, »Import–Export«, nun eine Überlebensstrategie für einen entwurzelten Emigranten, wenn auch kaum passend für einen Berliner Rechtsanwalt. Bei der Arbeit mit einem muslimischen persischen Partner handelte er mit allen Waren, die ihm auf dem Basar in Teheran unter die Hände kamen, von russischen Pelzen bis zu alten deutschen Uniformknöpfen, und pflegte stets einen bunt gemischten Kreis von Bekannten und Kunden, darunter auch die kleine deutschsprachige Gemeinde in der iranischen Hauptstadt. Bewaffnet mit dieser Information beschuldigten ihn die Briten, »Handel mit dem Feind zu treiben« und mit »deutschen Firmen« zu arbeiten, womit er für die britischen Kolonialbehörden, die Angst vor einer »fünften Kolonne« von NS-Agenten hatten, die sich hinter dem »J« in ihren Pässen versteckten, zur »persona grata für die deutschen Behörden« wurde. Aus den Lagern befreit, besaß er ohne Visum und Mittel nicht die Freiheit, Indien zu verlassen. Seine Liste von Wunschträumen spiegelt die sehr spezifischen Wünsche eines echten Berliner Juden, eines Rechtsanwalts mit einer Vorliebe für das gute Leben derer, die man als »Salon British Library, IOR: L/PJ//, India Office Akten ... Hierzu auch die Akten der Deutschen Gesandtschaft Teheran, Bd. -, -, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin.

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kommunisten« zu bezeichnen pflegte, voller Sehnsucht in einer »orientalischen« Welt, die, wie er sich immer mit Ironie erinnerte, »kein Ort für einen Berliner Rechtsanwalt« war, nach dem Zubehör eines bürgerlichen europäischen Lebens, das er seit Langem zurückgelassen hatte. Gleichzeitig artikuliert die Liste schneidend die klassischen Sehnsüchte eines staatenlosen Flüchtlings (und ehemaligen Häftlings) ohne Pass, ohne Papiere, der aus dem Koffer lebt, die Sprache der Entwurzelten spricht, zur Untätigkeit (ausgenommen die geschäftige Suche nach Befreiung und einem Platz in der Welt) verdammt und darauf reduziert ist, wie er sagt, Anträge zu schreiben und um die Rückkehr zu individueller Handlungsfähigkeit, politischer Identität und Staatsbürgerschaft zu bitten. Der Text sagt, wie mir scheint, viel über die Bedeutung von Freiheit und Unfreiheit aus, über das, was wir für selbstverständlich halten, und das, was wichtig wird, wenn man wie die Flüchtlinge einen Krieg und einen Völkermord überlebt, das Schlimmste vermieden, aber so vieles von dem verloren hat, was die eigene Identität und die, die man geliebt hat, ausmacht, während man sich gleichzeitig, wie so viele Flüchtlinge, den Humor und den Hunger auf Leben und neue Abenteuer bewahrt. Es gibt darin Nostalgie, aber dabei handelt es sich nicht um das oft zitierte Heimweh nach einer Welt – dem verschwundenen deutschen jüdischen Leben –, die eindeutig und unwiederbringlich verschwunden ist und in die man nie wieder heimkehren kann. Auffallend ist auch eine Art Nostalgie, die sich auf die Anfangsjahre der Flucht richtet, auf das exotische Leben im Iran und natürlich auf die Romanze mit meiner Mutter, die er verzweifelt davon zu überzeugen versuchte, nach fünf langen Jahren der Trennung ihr eigenes freies und abenteuerliches Leben in »Persien« aufzugeben und sich ihm bei dem anzuschließen, was er sich als neues Leben in den USA und, für mich überraschend zu lesen, vielleicht in Palästina erhoffte. Der Erkenntnisschock beim Öffnen und Lesen des getippten Texts auf dem blauen Luftpostpapier ging tief: seine lebendige Stimme, durchtränkt mit der Selbstironie, die anscheinend so viele deutsche Juden auf ihren vielen Emigrationsreisen gestärkt hat. Er drückt (in eindeutig geschlechts- und klassenreflektierten Begriffen) die Sehnsucht aus, aus den Tropen in die »Kultur« zu fliehen (ungeachtet der Tatsache, dass diese Kultur unfassbar barbarisch geworden war). Aber mir schien, dass er hier auch all die Beschreibungen und Analysen des Flüchtlingsstatus zusammenfasste, die ich in historischen und theoretischen Texten gefunden hatte (vor allem in den Klassikern von Hannah Arendt zu Staatenlosigkeit und zum Leben als Flüchtling); so viele Gedanken und 82

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Fantasien ergossen und vermischten sich in diesem einen privaten Text, Persönliches und Politisches ging eine untrennbare Verbindung ein. Andeutungen verweisen auf all das, was unausgesprochen blieb, etwa der Kummer nicht nur über die Trennung von geliebten Menschen, sondern auch über ihre Ermordung (auch wenn er das in anderen Dokumenten zugab, unter anderem in einem außergewöhnlichen Kaddisch für die bereits festgelegten »fünf« Millionen Opfer, den er bei einem Gottesdienst für internierte Kameraden kurz nach dem Victory Day rezitierte und aufnahm), aber auch sexuelle Sehnsüchte und Erinnerungen; er spielt darauf an, ohne es direkt zu artikulieren. Er weiß bereits viel, aber noch nicht alles über das ungeheure Ausmaß des Geschehenen und seines Verlusts. Er konnte sich anscheinend immer noch die Wiedervereinigung mit verlorenen Familienmitgliedern und Freunden vorstellen; in Bombay  schien diese Möglichkeit noch nicht völlig ausgeschlossen. Ich übernehme hier Teile des Texts in der Reihenfolge, in der sie geschrieben wurden, unter der Überschrift: »Ich möchte wieder einmal ….« »nachts unter einer Wolldecke schlafen müssen, in ein Theater gehen, nur europäisch gekleidete Menschen um mich sehen Schnee sehen und Ski laufen, in einem nach meinem Geschmack eingerichteten Zimmer wohnen, einen grünen Laubwald und eine Wiese sehen, einen Tag einmal nicht von internment und release reden müssen, Am Steuer eines Autos sitzen über die letzten, vielleicht auch vorletzten Dinge reden können, ein gutes französisches Buch lesen, nicht nur Geld ausgeben, sondern auch verdienen, alle diejenigen wiedersehen, mit denen ich jetzt Briefe wechsele, einen guten Gänsebraten essen, ein Buch über die letzten  Jahre schreiben, alle meine Koffer auspacken können, in einer gekachelten Badewanne liegen, Eine ›Heimat‹ haben, Eine fremde Sprache perfekt beherrschen können, mich in einem einwandfreien Deutsch ausdrücken können, ein Bankkonto besitzen, auf einem großen Schiff fahren, einen Pass besitzen, 83

 

von meinem chronischen Husten befreit sein, eine Bergtour machen, nicht alle Tage Sonntag haben, einen wollenen Anzug und einen Wintermantel tragen,  kg schlanker sein, ohne Moskitos, Kakerlaken und Motten leben, einen Knopf angenäht bekommen, in einer anderen Stadt leben, auf einem Araberpferdchen reiten, ein gutes Symphoniekonzert hören, einen Beruf haben, mit der Untergrundbahn fahren, den Unterschied zwischen Sommer und Winter erleben, von dem Attribut »Flüchtling« befreit werden, nur Menschen ohne Uniform sehen, ein Grammophon mit guten Platten besitzen, Gäste haben, mich auf Ferien im Voraus freuen können, wissen, wo ich mich in  Monaten befinden werde, nicht Grund zum Bemitleidetwerden geben, Stachelbeertorte mit Schlagsahne essen,  Stunden mit niemanden reden müssen, mit einem Flugzeug fliegen und Motorrad fahren, als Strafverteidiger auftreten, einen Smoking anziehen, meinen Geburtstag ›feiern‹, Heine’sche (und andere) Gedichte vorlesen, eine Nachttischlampe haben, mich morgens beim Aufwachen frisch und ausgeschlafen fühlen, eine Bibliothek besitzen, von indischer Politik nichts hören, ohne Luftpostporto korrespondieren können, glückliche Menschen in meinem nächsten Kreise sehen, einen Spaziergang machen können, von der Krankheit des Patience-Legens befreit werden. ohne Sonnenbrille ausgehen können, morgens zu einer bestimmten Zeit weggehen müssen, alle Zahnlücken gefüllt haben,  Jahre jünger sein, meine Mahlzeiten zu mir genehmen Zeiten einnehmen, 84

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allein eine Mondnacht im Freien verbringen, nicht nur von Photos ›leben‹, im Museum einen Raffael, Rembrandt, Renoir, Rodin sehen, an einem Radio basteln können, ohne applications leben können, einen passenden Anzug besitzen, in die Schweiz reisen, die Reste meiner Familie wiedervereint sehen, vieles andere, was hier und jetzt unausgesprochen bleiben soll.« Was fange ich an mit einem solchen Text, voll von Sehnsucht nach Gegenständen und von Gefühlen einer Identität, die an Objekte bürgerlichen Lebens gebunden ist? Er erfasst, wie ich glaube, die Empfindsamkeit des Flüchtlings, das Abenteuer des Orients, die Erfahrung des Internierten, die Ungewissheit der Staatenlosigkeit, den Schmerz der Sehnsucht. Die Frage der Historikerin lautet natürlich: Erzählt er eine spezifische Geschichte, die auch verallgemeinerbar ist? Wie passt dieser Text auf der besonders verwirrenden »persönlichen« Ebene zu meinen Erinnerungen an einen Mann, der es erneut geschafft hat, Museen zu besuchen, in Konzerte zu gehen, maßgefertigte Anzüge zu tragen, Lichtschalter und Telefone zu benutzen und einen Pass zu besitzen, ja selbst als Anwalt zu praktizieren, aber diese zwanzig Jahre, seine Gesundheit, seine verlorene Familie oder sein intaktes Gefühl einer bürgerlichen Identität nie wiedergewann? Und doch enthält das Familienarchiv auch Artefakte des tatsächlich beginnenden neuen Lebens, zur Transformation vom Flüchtling und Überlebenden zum Bürger in der neuen Heimat. Besonders auffallend für mich: eine Speisekarte mit pompösen Namen für anscheinend schreckliches britisches Essen von der letzten Überfahrt meiner Eltern als Flüchtlinge, die den Schwebezustand zwischen einer staatenlosen Displaced Person und einem erneuten regulären Passagier auf einem Ozeandampfer (wenn auch einem umgewandelten Truppentransporter), der SS Aquitania, markierte, der am . Februar  schließlich im Hafen von New York anlegte. Diese Themen gehören wirklich nicht nur den Psychoanalytikern, Therapeuten und Literaten und auch nicht den Memoirenschreibern, denen sie übergeben wurden. Sie müssen in zwei neue, in Entwicklung begriffene methodische Ansätze integriert und eingebunden werden, die zur Geschichte der Flüchtlinge und zwangsweise Entwurzelten, zur transnationalen Wende und zur Geschichte der Gefühle passen und insbesondere Fragen der intergenerationellen Weitergabe über Zeiten und 85

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Orte hinweg sowie die überfrachtete, überwiegend unsichtbare Art und Weise berücksichtigen, auf denen Gegenstände, greif bare und erinnerte, die Erben der Ausgeplünderten und der Plünderer immer noch verbinden.

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Krisenhaftes Lernen? Formen der Demokratisierung in deutschen Behörden und Ministerien E C / A W

Am . September  begann, was einige Zeithistoriker später die »Take-off«-Phase der historischen Kommissionsforschung nannten: An diesem Tag gab Klaus Scharioth, seit  Staatssekretär im Auswärtigen Amt (AA) der rot-grünen Bundesregierung per Runderlass bekannt, wie man von nun an mit früheren Behördenmitarbeitern aus dem alten Reichsaußenministerium verfahren wollte. Anders als bisher, so Scharioth, werde es bei Gratulationen, Nachrufen und sonstigen Ehrenbezeugungen künftig keinen »Automatismus« mehr geben. Stattdessen werde jeder Einzelfall auf eine mögliche NS-Vergangenheit hin überprüft. Für Personen, die vor  Mitglieder der NSDAP und ihrer Unterorganisationen gewesen waren, sei grundsätzlich jede würdigende Erwähnung im Hausblatt internAA ausgeschlossen. Die Entscheidung des ersten grünen Außenministers in der Geschichte der Bundesrepublik, bei NS-belasteten deutschen Diplomaten auf den bis dahin üblichen Nachruf zu verzichten, bildete aus zwei Gründen eine tiefe Zäsur in der Geschichte des Außenamts. Erstens kam es nun zu einem bis dahin beispiellosen Aufstand von pensionierten und noch aktiven Berufsdiplomaten gegen ihren Minister. In einer Rhetorik, die den Grundsatz beamtenrechtlicher Neutralitätspflicht ignorierte und in ihrer Rabulistik an die bis dahin nur in den USA schwelenden culture wars erinnerte, protestierten etwa siebzig Botschafter und Mitarbeiter gegen die neue Gedenkpraxis der Behördenleitung. Zweitens bildete die »Nachruf«-Affäre den Anstoß für die Einsetzung einer zunächst fünf-, dann vierköpfigen unabhängigen Historikerkommission (UHK). Nach dem Willen Joschka Fischers sollte diese nicht nur »die Geschichte des Auswärtigen Amtes in der Zeit des Nationalsozialismus«  Schildt (), S. .  Runderlass Scharioth, .. (UHK Kopie).  Einige unter ihnen gingen so weit, Joschka Fischer öffentlich der »Unanständigkeit« und »Unsachlichkeit« zu bezichtigen; zit. nach: Conze/Frei/Hayes/ Zimmermann (), S. ; Mentel/Schuhmann/Speidel (), https://zeitge schichte-online.de/interview/die-debatte-um-das-amt (..).

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untersuchen, sondern auch den »Umgang mit dieser Vergangenheit« und die Frage »personeller Kontinuität bzw. Diskontinuität« nach  genauer beleuchten. Als die Kommission  ihre Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit präsentierte, war dies die erste Publikation ihrer Art, die sich in systematischer und epochenübergreifender Weise mit der Geschichte eines deutschen Ministeriums im Dritten Reich und nach dessen Wiedergründung – oder war es eine Neugründung? – in der Bundesrepublik befasste. Aufgrund ihres mehrköpfigen Formats und des gewählten epochenübergreifenden Forschungsdesigns avancierte die AA-Historikerkommission in der Folgezeit bei allen Unterschieden im Detail rasch zum Modell für zahllose weitere Kommissionsgründungen. Insofern schlug nun tatsächlich, wie Axel Schildt es nannte, die »Stunde der Kommissionen«. Innerhalb weniger Jahre wurden nach dem Vorbild der UHK etwa zwanzig historische Forschungsprojekte initiiert, die sich mit der Geschichte bundesdeutscher Ministerien und Behörden sowie mit deren Vorgängerinstitutionen im Dritten Reich beschäftigten. Auf den ersten Blick schien sich die nun einsetzende »Behördenforschung« in längerfristige Entwicklungstrends einzufügen, deren Ursprünge zum Teil in den er Jahren lagen. So hatten insbesondere das Ende des Kalten Krieges und das Zwei-plus-Vier-Abkommen vom September  dazu geführt, dass eine Reihe völkerrechtlicher, humanitärer und moralpolitischer Fragen, die durch den Ost-West-Konflikt mehr als vierzig Jahre lang eingefroren oder überlagert worden waren, unversehens neue Aktualität und Relevanz erhielten. Vor allem aufgrund des Drucks der amerikanischen Clinton-Regierung, die sich Mitte der er Jahre in die Debatte um die unerledigten Ansprüche von NS-Opfern einzuschalten begann, gaben einige führende deutsche Finanz- und Industrieunternehmen größere historische Forschungsprojekte in Auftrag. Konfrontiert mit einer aus den USA heranrollenden Klagewelle und damit assoziierten weltweiten Imageschäden, beteiligte man sich außerdem nolens volens an einem  eingerichteten Entschädigungsfonds für NS-Zwangsarbeiter, dessen

    

Zit. nach Mentel/Weise (), S. . Conze/Frei/Hayes/Zimmermann (); Conze (); Frei/Weinke (). Schildt (), S. . Siehe die Aufstellung in: Mentel/Weise (), S. -. Vgl. Schanetzky (), S. .

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Finanzierung zu gleichen Teilen von der Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand bestritten wurde. Doch während die er Jahre für die deutsche Industrie zu einer Phase des sich verstärkenden vergangenheitspolitischen Drucks wurden, der zu wachsender Verunsicherung und daraus resultierender kritischer Selbstbefragung führte, blieb es zu dieser Zeit um die Bundesministerien und Bundesbehörden noch eigentümlich still. Obwohl mit der sich zaghaft entwickelnden unternehmensgeschichtlichen Auftragsforschung bereits die Frage im Raum stand, welche Verantwortung möglicherweise der Bund und einzelne Fachbeamte in den Ministerien der »alten« Bundesrepublik für die lange hinausgeschobenen Entschädigungszahlungen trugen, löste dies weder eine vergleichbare öffentliche Kritik noch konkrete Aufarbeitungsforderungen aus. Ungeachtet der nachgeholten Zwangsarbeiterdebatte und der zeitgleich verabschiedeten »Washingtoner Prinzipien« über die Rückerstattung geraubten jüdischen Eigentums sollten daher noch mehrere Jahre ins Land gehen, bis aufgrund eines letztlich eher zufällig ausbrechenden geschichtspolitischen Konflikts im Auswärtigen Amt auch die Bundesbehörden in den Fokus der historischen Auftragsforschung gerieten. An diesem Punkt möchte der vorliegende Beitrag ansetzen, indem er in tentativer Weise nach den gemeinsamen Impulsen, geteilten Prämissen und leitenden Erkenntnisinteressen der bisherigen und noch immer laufenden Behördenforschung fragt, die sich längst über Bundesbehörden und -ministerien hinaus ausgeweitet hat. Darüber hinaus soll problematisiert werden, inwieweit sich Befunde und Ergebnisse dieser Forschung in eine seit  an Raum gewinnende, auch erinnerungskulturell wirkmächtige »Meistererzählung der Demokratie« einfügen, die die Geschichte der Bundesrepublik als eine durch krisenhaftes Lernen bestimmte Erfolgs- und Ankunftsgeschichte zeichnet. Dabei soll es nicht darum gehen, an das bereits hinlänglich diskutierte Argument vom »Unbehagen an der Aufarbeitung« anzuknüpfen oder einer dichotomischen Gegenüberstellung zu folgen, die in Bezug auf die alte Bundesrepublik zwischen einer bis »Achtundsechzig« reichenden Nachkriegsgeschichte und einer in den er Jahren einsetzenden »Vorgeschichte der Gegenwart« unterscheidet. Vielmehr, so die These unseres Beitrags,  Vgl. Gregor (); https://zeitgeschichte-online.de/themen/history-order (.. ).  Hertfelder ().  Sabrow ().  Reitmayer/Schlemmer ().

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scheint die Ministerien- und Behördenforschung, einschließlich ihrer Erweiterung in den parlamentarischen Raum hinein, anderthalb Jahrzehnte nach ihrem Beginn an einem Punkt angekommen zu sein, an dem die Tragfähigkeit bestimmter historiographischer Leitkonzepte (»Demokratisierung«, »Liberalisierung«, »Westernisierung«, »Re-Zivilisierung«) vor dem Hintergrund der zutage geförderten empirischen Befunde teils zu modifizieren, teils aber auch kritisch zu hinterfragen wäre. So kann sich die zeithistorische Forschung nicht darin erschöpfen, konservative und linksliberale Neugründungs- und Umgründungserzählungen nunmehr affirmativ zu überzeichnen, indem sie zeigt, wie in der Frühphase der Bundesrepublik in Sachen NS-Belastung angeblich »alles noch schlimmer gewesen [sei] als ohnehin gedacht«. Stattdessen bietet die Fülle an Einzelstudien mit zum Teil widersprüchlichen Befunden Anlass, über eine grundsätzliche Re-Konzeptualisierung der bundesrepublikanischen Geschichte nachzudenken, die auch den Entwicklungen nach / in angemessener Weise Rechnung trägt.

Belastungsgeschichten als Erfolgsgeschichten Seit dem Erscheinen der Studie Das Amt und die Vergangenheit im Jahr  ist die Serie von Veröffentlichungen von Ergebnissen einer fast ausnahmslos von beauftragten, größeren oder kleineren Historikerkommissionen betriebenen Behördenforschung nicht abgerissen. Längst hat diese Forschung die Bundes- beziehungsweise die nationale Ebene verlassen und sich in einer mittlerweile nahezu unüberschaubar gewordenen Anzahl von Untersuchungen mit entsprechenden Publikationen auch Institutionen auf Länder- und kommunaler Ebene zugewandt. Zur Erforschung der Geschichte von Behörden und Ministerien ist auf diesen Ebenen auch die Beschäftigung mit Parlamenten beziehungsweise Parlamentariern getreten, darüber hinaus die Beschäftigung mit den politischen Biografien einzelner Amts- oder Mandatsträger (Abgeordnete, Minister, Bürgermeister, Spitzenbeamte usw.). Der Publikationsoutput  Die instruktive Kritik von Frank Biess und Astrid M. Eckert an einer teleologisch getönten »Belastungsgeschichte« der »alten« Bundesrepublik klammert das Kapitel der Behördenforschung weitgehend aus; Biess/Eckert ().  Schildt (), S. .  Für die Bundesebene (Stand  und daher längst revisionsbedürftig) siehe den Überblick von Mentel/Weise (). Den Versuch eines Überblicks bieten auch Creuzberger/Geppert (a).

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ist enorm und unterstreicht die politische Relevanz der Thematik, die sich nicht nur in parlamentarischen Anfragen, Hearings und Symposien in Parlamenten, Ministerien und Behörden spiegelt, sondern auch darin, dass in vielen Fällen die Presse- und Öffentlichkeitsabteilungen der Institutionen die Forschung, von der Beauftragung bis zur Präsentation der Ergebnisse, hoch professionell begleiten. Das demonstriert die große Bedeutung, die der »Aufarbeitung der NS-Vergangenheit«, wie es oftmals simplifizierend heißt, in den und von den Institutionen selbst beigemessen wird. Minister und Behördenleiter eröffnen Symposien, veranstalten zusammen mit Wissenschaftlern Pressekonferenzen, ja reisen sogar gemeinsam ins Ausland, um dort die Ergebnisse der Forschung zu präsentieren. Es geht eben nicht nur um Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Arbeit, sondern mindestens ebenso sehr um das Bild von Institutionen, um das medial verbreitete Bild von Institutionen der Gegenwart, der Bundesrepublik des frühen . Jahrhunderts, zu dem der Hinweis auf die kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beziehungsweise der nationalsozialistischen Belastungsgeschichte nach  im Sinne einer erfolgsgeschichtlichen Leistungsschau geradezu zwingend zu gehören scheint. Die Legitimität eines solchen Vorgehens ist, zumindest aus Sicht der jeweiligen Institutionen, kaum zu bestreiten. Selbst aus der Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes, einem ursprünglich defensiven politischen Akt, ist am Ende eine Erfolgsgeschichte geworden, die die Reputation des Ministeriums gestärkt hat. Aus Sicht der zeithistorischen Forschung möchte man auf den ersten Blick die positiven Effekte der Behördenforschung, wie sie summarisch, wenn auch nicht ganz zutreffend, genannt wird, anerkennen. Ein wichtiges Untersuchungsfeld wird umfassend ausgeleuchtet; stattliche finanzielle Mittel fließen in die Zeitgeschichte; Forschungsprojekte, die auch der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses dienen, werden durchgeführt. Davon profitieren nicht zuletzt die großen zeithistorischen Forschungsinstitute, außeruniversitäre Flaggschiffeinrichtungen wie das Institut für Zeitgeschichte oder das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, die mit ihren Ressourcen und ihrem Personal bereit und in der Lage sind, binnen Kurzem aus einem externen Impuls, in jüngerer Zeit immer häufiger in Form einer Ausschreibung, ein auf mehrere Jahre angelegtes Forschungsprojekt zu generieren. Und dass am Ende der Forschungsarbeiten Ergebnisse stehen, die unser Wissen über  Schildt (), S. .

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die Geschichte der jeweiligen Institutionen erweitern, steht außer Frage. Was aber bedeuten jenseits der einzelnen Ministerien, Behörden oder Körperschaften die Forschungsergebnisse für die Geschichte der Bundesrepublik, für Interpretationen und Narrative der deutschen Geschichte nicht nur nach , sondern im . Jahrhundert? Haben die Ergebnisse der Behördenforschung, auch wenn noch immer viele Projekte im Gange und unabgeschlossen sind, hier frische Perspektiven eröffnet? Über weite Strecken schreiben die aus der Behördenforschung erwachsenen Veröffentlichungen Erfolgsgeschichten, und sie bestätigen damit jenes erfolgsgeschichtliche Narrativ der Geschichte der »alten« Bundesrepublik, das in den Jahren nach  Gestalt angenommen hat und das heute in Wissenschaft und Öffentlichkeit das Bild der Bundesrepublik zwischen / und / weithin bestimmt: das Bild einer »geglückten Demokratie« (Edgar Wolfrum), das jener »konzeptionellen Ratlosigkeit« (Joachim Fest) der Bundesrepublik-Geschichtsschreibung vor  ein Ende setzte, obwohl – trotz aller »ausgebliebenen Katastrophen« – die Erfolgserzählung beispielsweise in der fünf bändigen, in den er Jahren erschienenen Geschichte der Bundesrepublik, insbesondere den beiden Bänden zur Ära Adenauer von Hans-Peter Schwarz, bereits angelegt war. Mit der Wiedervereinigung erhielt die Geschichte der Bundesrepublik einen nationalhistorischen Fluchtpunkt und bestätigte zugleich eine demokratische Erfolgsgeschichte, die seither vor allem als Stabilisierungs- und Liberalisierungsgeschichte erzählt worden ist. Die gesellschaftliche und politische Stabilisierung vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte seit  und insbesondere angesichts der Erfahrungen von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Holocaust galt dabei als Voraussetzung für eine Ende der er Jahre zaghaft einsetzende Liberalisierung, die im Laufe der er Jahre zur Fundamentalliberalisierung wurde, durch die die Bundesrepublik, weiter dynamisiert durch »Achtundsechzig« und den »Machtwechsel« von , zu jenem Staat und jener Gesellschaft wurde, die am Ende eines langen Weges im Westen ankommen konnte. Mit zunehmendem Abstand zu den Ereignissen von / wurde dieses dominierende Narrativ zwar auch in Frage gestellt, nicht zuletzt, weil die Krisen, Probleme und Herausforderungen von Gesellschaft und Demokratie in Deutschland seit  auch ein anderes Licht auf die Entwicklungen in den vier Jahrzehn Zur Rolle der Beamtenschaft nach  vgl. auch den Beitrag von Eschenburg ().  Wolfrum (); Fest (), S. ; Schwarz (/); Schwarz ().  Schildt (a); Winkler ().

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ten zuvor warfen. Aber im Kern hatte das erfolgsgeschichtliche Narrativ Bestand, und dies primär, weil es vor dem düsteren Hintergrund der ersten Hälfte des . Jahrhunderts und insbesondere des Nationalsozialismus kaum anders sein konnte. In dieses Narrativ haben sich auch die allermeisten Beiträge der Behördenforschung eingeschrieben, und sie sind auch weithin so gelesen und so gedeutet worden. So wird kaum noch bestritten, dass das Ausmaß nationalsozialistischer Belastung in den Bundesministerien und -behörden hoch war und dass diese Belastung sich von Entschädigungs- und Wiedergutmachungsfragen über Antisemitismus und Antiziganismus bis hin zur Verfolgung von NS-Straftätern auch auf das Amtsdenken und Amtshandeln auswirkte. Aber diese Belastung und ihre Auswirkungen werden auf zweifache Weise mit der etablierten Erfolgserzählung verknüpft. In eher konservativer Sicht schließt man an Hermann Lübbes Argumentation von  an, eine »gewisse Stille« und »Diskretion« sei das »sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland« gewesen, und bewertet die »Wiederverwendung der Funktionseliten« als »sinnvoll, weil von ihnen nicht nur das Funktionieren des neuen Staates abhing, sondern weil damit auch eine Integrationsleistung erbracht wurde, die – anders als in der Weimarer Republik – wesentlich zur inneren Stabilität der Bundesrepublik beitrug«. Erst dann, auf dieser Grundlage von Integration und Stabilität, als »funktionierende und international respektierte Demokratie«, habe die Bundesrepublik am Ende der Ära Adenauer beginnen können, »sich dem schwierigen Erbe des Nationalsozialismus zu stellen«. Umstandslos gehen in dieser Argumentation die Integration von NSTätern und die Kontinuität belasteter Funktionseliten auf im Begriff einer »guten Institutionenordnung« als »notwendigem Rahmen für gesellschaftlichen Wandel, als Vorbedingung und unverzichtbare Beglei-

 In dieser Perspektive beispielsweise Conze () oder, wenn auch nicht als Gesamtdarstellung konzipiert, Biess ().  In den publizistischen Netzwerken der »Neuen Rechten«, die die Problematik einer NS-belasteten Beamtenschaft negieren, werden die alliierten Bestrebungen zur Reform des Berufsbeamtentums als »Dämonisierung« und als ein Versuch zur Auslöschung der »deutschen Nation« gewertet; Schüßlburner (), S. .  Lübbe ().  Görtemaker (), S. .  Creuzberger/Geppert (b), S. .

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tung gesellschaftlicher Lernprozesse«. Was in anderen Worten in den er Jahren aus der Verwaltung und von ihren NS-belasteten Angehörigen selbst postuliert wurde, dass nämlich durch eine weitgehende Restauration des »bewährten Personals« und des »traditionellen« Beamtenrechts nach der Erschütterung durch die Entnazifizierung – nicht etwa durch die nationalsozialistische Herrschaft – nicht nur die »innere Geschlossenheit« der Beamtenschaft, sondern auch der »innere Frieden« gesichert werde, erfährt auf diese Weise eine historiographische Bestätigung. Der »Sieg der er über die er«, so Eugen Kogon schon  in den Frankfurter Heften, wird nicht nur konstatiert, sondern als für die gesellschaftliche Liberalisierung und die Entfaltung der Demokratie in Westdeutschland historisch notwendig dargestellt. Mit dieser eher konservativen Argumentation korrespondiert in liberaler, linksliberaler Perspektive ein Bild insbesondere der er Jahre, bestimmt durch Dynamiken einer Fundamentalliberalisierung. Als deren Zentrum sieht man die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit, die sich nicht zuletzt als Generationenkonflikt in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und ihrer Verdrängung sowie den nationalsozialistischen Belastungen und Kontinuitäten nach  entwickelte, doch zugleich zu dieser Auseinandersetzung entscheidend beitrug. Trotz ihrer Unterschiede lassen sich beide Argumentationslinien, die konservative und die linksliberale, gerade angesichts ihrer zeitlichen Konsekutivität aufeinander beziehen und in einer erfolgsgeschichtlichen Gesamtperspektive vergleichsweise glatt miteinander verbinden. Wenn Axel Schildt  in seinem Buch Ankunft im Westen, einem »Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik«, die Frage stellte, wie aus der westdeutschen Gesellschaft »trotz ihrer enormen Belastung durch die Nachwirkungen des NS-Regimes, des Weltkriegs, der Not der Nachkriegsjahre und des Kalten Krieges« ein »an westlich-liberalen Maßstäben gemessen zivilisiertes Gemeinwesen« werden konnte, dann enthält bereits die Frage einen Teil der Antwort: nämlich den impliziten Verweis auf jene Prozesse der Liberalisierung, die in den dynamischen Zeiten der er Jahre und ihren Konflikten den Verdrängungskonsens der Ära Adenauer kritisierten, schließlich zerstörten und dadurch einer gesellschaftlich breiten zeitgeschichtlichen Aufklärung den Boden bereiteten. Zynisch zugespitzt ließe sich dann sogar behaupten, dass sich die Bundesrepublik nicht  Ebd., S.  f.  Rigoll (), S. .  Schildt (a), S. , -.

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trotz, sondern geradezu wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und Belastung liberalisiert und demokratisiert habe, eben weil das Ausmaß an Belastung und Verdrängung entscheidend zur Entfaltung liberalisierender und demokratisierender Dynamiken beigetragen habe. Eine Parallel- und zugleich Gegenerzählung betont weniger die Bedeutung der gesellschaftlichen Liberalisierung vor allem der er Jahre, sondern Entwicklungen in den Ministerien, Behörden und Parlamenten selbst. Hier geht es um in der Tat kaum zu bestreitende Anpassungs- und Lernprozesse, in denen und durch die tradierte Einstellungen und Mentalitäten, die vielfach weit in die Zeit vor  zurückreichten, ja zum Teil wilhelminischer Provenienz waren, sich wandelten, und das heißt erneut: sich liberalisierten und demokratisierten. Das betrifft ein autoritär obrigkeitliches Staatsverständnis ebenso wie Antipluralismus und gesellschaftliche Homogenitätsvorstellungen, es geht um die Idee des autonomen nationalen Machtstaats ebenso wie um Vorstellungen von Geschlechterordnung, Sexualität und Erziehung. »Wir müssen alle etwas umlernen« lautet der Titel einer einschlägigen Studie über den höheren diplomatischen Dienst der frühen Bundesrepublik, die dann freilich das Ausmaß des »Umlernens« durchaus relativiert und von einem »Zusammenspiel von aufrichtigem Umdenken, opportunistischer Anpassung sowie dem unbeeindruckten Festhalten an traditionellen Annahmen und Gewohnheiten« spricht. Lernende oder sich opportunistisch anpassende Akteure einerseits, gesellschaftliche Liberalisierungsdynamiken andererseits: Die beiden Perspektiven lassen sich aufeinander beziehen und sind in den letzten Jahren immer wieder aufeinander bezogen worden, indem die über den Antikommunismus als breit anschlussfähige Integrationsideologie sowie die materielle Sicherheit der Wirtschaftswundergesellschaft hinaus sich verändernden gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen insbesondere seit Ende der er Jahre als wichtige Bedingung individueller und kollektiver Lern- und Anpassungsprozesse (auch als Lern- und Anpassungsdruck) dargestellt worden sind. Man lernte und passte sich an, um Skandale – personelle oder sachbezogene – zu vermeiden. In diese doppelte Perspektive des Lernens und Anpassens einerseits und der gesellschaftlichen Liberalisierung andererseits gestellt und zum Teil wirkungsbezogen miteinander verknüpft, können selbst die düsters Wiegeshoff (), S. .  Frei/Rigoll ().  Bösch/Wirsching (b), S. .

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ten Befunde zu NS-Belastung und NS-Verdrängung in der Frühzeit der Republik dem erfolgsgeschichtlichen Narrativ nichts anhaben. Im Gegenteil: Nach dem Motto per aspera ad astra wird die Erfolgsgeschichte umso glänzender, je widriger sich ihre Ausgangsbedingungen darstellen lassen. Deswegen boten bislang auch die in vielen einzelnen Fällen und erst recht in der Summe zutage geförderten Ergebnisse der Behördenforschung – und es geht hier nicht nur um den Anteil ehemaliger NSDAPMitglieder in Verwaltung oder Parlamenten – keinen Anlass für neue Perspektiven auf die Geschichte der Bundesrepublik, sondern sie dienten eher der Bestätigung der etablierten erfolgshistorischen Erzählung im Zeichen von Liberalisierung und Demokratisierung.

Demokratiegeschichte und NS-Belastung Aber was heißt eigentlich Demokratisierung? Dass sich Demokratisierung nicht nur auf Institutionen, Personen und Ereignisse bezieht, sondern auch eine Erzählung vom Wandel der politischen Kultur, der Mentalitäten und Verhaltensweisen meint, ist kaum zu bestreiten. Aber welches Ziel dieser Prozesse haben wir eigentlich vor Augen? Auf welche Vorstellung von Demokratie beziehen wir unser Verständnis von Demokratisierung? An welchen Maßstäben messen wir den Erfolg – oder Misserfolg – von Demokratisierung? Der Demokratiebegriff selbst ist zu historisieren, wenn man historisch angemessen von Demokratisierung sprechen möchte. Welcher Demokratiebegriff lag beispielsweise der Politik der Westalliierten in den Jahren unmittelbar nach  zugrunde? Und wie verhielt sich diese – amerikanische, britische oder französische – Vorstellung von Demokratie zu einem in der Weimarer Zeit geprägten Demokratieverständnis deutscher Demokraten? Wie veränderten sich Vorstellungen von Demokratie über die Jahrzehnte hinweg? Auf welcher Idee von Demokratie beruhte das »Mehr Demokratie wagen« aus der Regierungserklärung Willy Brandts von ? Und was – das ist in der Perspektive unseres Beitrags besonders wichtig – bedeutete dieser Wandel von Demokratievorstellungen für die Auseinandersetzung mit der na Dazu jetzt kritisch Winkler ().  Vgl. Nolte (), S.  f.  Einen ersten Aufriss für die Entwicklung in der Bundesrepublik liefert aus vergleichender Perspektive Gatzka (). Zum Wandel von Demokratiebegriff und Demokratieverständnis allgemein sowie zur Notwendigkeit der Historisierung vgl. Nolte ().

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tionalsozialistischen Vergangenheit und mit nationalsozialistischer Belastung? In welchem Verhältnis standen Vorstellungen von Demokratie und Vorstellungen von Belastung? Dass Letztere sich ebenfalls veränderten und es vor diesem Hintergrund nicht ausreicht, eine NS-Belastung, ob nun in Behörden und Ministerien oder in anderen Bereichen der Gesellschaft, an der Mitgliedschaft in der NSDAP oder in anderen nationalsozialistischen Organisationen festzumachen, hat auch Eingang in die Behördenforschung gefunden. Es geht also vor diesem Hintergrund darum, das Belastungsnarrativ und ein stark erfolgsgeschichtlich geprägtes Demokratisierungsnarrativ miteinander zu verbinden. Das meint allerdings gerade nicht, den Umgang mit nationalsozialistischer Belastung einfach in das Demokratisierungsnarrativ und damit in die Erfolgsgeschichte zu inkorporieren. Das Verhältnis ist komplexer, und das bleibt für das erfolgsgeschichtliche Narrativ nicht ohne Bedeutung. Denn der »Erfolg« – die demokratische Stabilisierung, zu der auch die Integration der NS-Belasteten gehörte – hatte seine Schattenseiten, er hatte seinen Preis. Diesen Preis zahlten die – überlebenden – Opfer des Nationalsozialismus, die in den Untersuchungen der Behördenforschung nur einen marginalen Platz einnehmen. Dass »die in der Nazizeit politisch Verfolgten« einer »zweiten Verfolgung« ausgesetzt waren, wie es der Sozialdemokrat Adolf Arndt  im Bundestag formulierte, bleibt weithin unterbelichtet. Von der »dunklen Kehrseite« der Erfolgsgeschichte ist beispielsweise die Rede, aber diese erhält doch in den meisten Darstellungen, wenn überhaupt, kaum Aufmerksamkeit. Beinahe im Sinne einer tertiären Viktimisierung werden die Opfer auf diese Weise noch einmal zu Opfern, zu Opfern einer täter-, zumindest aber belastetenzentrierten und daher opferblinden Geschichtsschreibung. Manche Autoren halten allerdings den Blick auf die Opfer und ihre sekundäre Viktimisierung nach  im Hinblick auf verwehrte Karrierechancen, auf bürokratische Ressentiments und auf eine kühle Indifferenz angesichts der Verfolgungsschicksale sowie die klare Benennung der moralischen Katastrophe, die dies bedeutete, für historiographisch unstatthaft und plädieren für mehr – kühle – Nüchternheit und weniger Moralisierung. Einer streckenweise geradezu empathischen, einer verstehenden und alles andere als kühlen Beschäftigung mit den Belasteten und ihren    

Als Versuch siehe beispielsweise Schneider (). Zit. nach Rigoll (), S. . Görtemaker/Safferling (), S. . Auch dies oftmals im Rekurs auf Lübbe (); vgl. beispielsweise Brechtken (), S. .

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Biografien, verbunden mit dem Imperativ, individuelles Handeln und individuelle Entscheidungen doch an den Maßstäben der Zeit zu messen, widerspricht das nicht. Die Demokratie, die sich in der Bundesrepublik seit  entwickelte und stabilisieren konnte, weil sie die NS-Belasteten integrierte und ihnen Sicherheit bot, war in dieser Perspektive keine Demokratie der Opfer, denen vergleichbare Integrationsangebote nicht gemacht wurden – oder allenfalls durch die vergiftete Möglichkeit, sich in die große Opfergemeinschaft der Nachkriegsgesellschaft einzureihen: die Gemeinschaft der Bombenopfer, der Kriegsopfer, der Opfer von Flucht und Vertreibung, der Opfer nicht zuletzt eines »politischen Irrtums«, der aber eine zweite Chance nicht ausschließen dürfe. Aber selbst in dieser opfergemeinschaftlich verlängerten Volksgemeinschaft blieben die NS-Verfolgten zum Teil weit über die Nachkriegsjahrzehnte hinaus Opfer minderen Ranges, wenn man beispielsweise an die Stigmatisierung von Emigranten, die Diffamierung von Widerstandsangehörigen oder die spät einsetzende Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen (Urteile des Volksgerichtshofs oder erbgesundheitsgerichtliche Urteile beispielsweise) denkt. Der eigentlich paradoxe Umstand, dass einzelne ehemalige Verfolgte des NS-Regimes tatkräftig an einer personellen Rekonstituierung des öffentlichen Dienstes mitwirkten, die die NS-Opfer weitgehend marginalisierte, widerspricht dieser Beobachtung nicht. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund eigentlich demokratiegeschichtlich, dass die Reintegration der NS-Belasteten, die Marginalisierung der Opfer und die Forderung nach einem Schlussstrich zumindest in den er Jahren von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurden? Hätte nicht eine demokratische Vergangenheitspolitik noch weit über die Maßnahmen von Bundestag und Bundesregierung, die Straffreiheitsgesetze beispielsweise, und die Integrationsangebote der Parteien hinausgehen müssen? Die der Behördenforschung entstammenden Untersuchungen enden in vielen Fällen mit dem Jahr , der Bildung der sozialliberalen Regie Besonders prominent und mit einer erkennbar auch gegen Kritik am eigenen Werk gerichteten Breitseite gegen die Geschichtswissenschaft im beginnenden . Jahrhundert das Plädoyer des Autors des Bestsellerromans Der Vorleser, Schlink ().  In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf das Beispiel Walter Strauß’, Staatssekretär im Bundesjustizministerium, verwiesen; Strauß (). Vgl. Görtemaker/Safferling (), S. -.  Vgl. Meyer, K. (), S. .

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rung unter Willy Brandt. Demokratiegeschichtlich ist das eine alles andere als plausible Zäsurensetzung, wie im Übrigen auch der Beginn des Untersuchungszeitraums der meisten Kommissionen im Jahr  angesichts der Kontinuität insbesondere der Verwaltungseliten seit dem Wilhelminismus nur auf den ersten Blick überzeugen kann. Müsste man nicht in dem Versuch, Demokratiegeschichte und Belastungsgeschichte stärker aufeinander zu beziehen, gerade für die Zeit nach  die Frage stellen, welche vergangenheitspolitischen Wirkungen der Regierungswechsel von  und der Imperativ des »mehr Demokratie wagen« hatten? Das Jahr  als analytischen Schlusspunkt zu wählen unterstreicht die Persistenz der etablierten bundesrepublikhistorischen Narrative in der Behördenforschung. »Der Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition und die damit versinnbildlichte sogenannte Neu- oder Umgründung der Bundesrepublik [wird] als Enddatum bestimmt.« Betrachtet man den »Machtwechsel« von  als demokratiehistorische Zäsur, was durchaus zu diskutieren wäre, und versteht man Demokratisierung auch als kritischere Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Problematik der NS-Belastung, dann wäre doch auch im Kontext der Behördenforschung intensiver nach den Wirkungen des Regierungswechsels zu fragen, dann müsste man eine Intensivierung belastungsbezogener Maßnahmen vermuten. Zumindest im Auswärtigen Amt war das, wie sich schon mit Beginn der Großen Koalition  und der Übernahme des Außenministerpostens durch Willy Brandt andeutete, nicht der Fall. Die postulierte »Umgründung« der Republik hatte gerade keinen durchschlagenden Effekt auf die belastungsbezogene Personalpolitik des Auswärtigen Amtes, sieht man einmal davon ab, dass wegen des Erreichens der Pensionsgrenze im Außenamt wie auch in anderen Ministerien und Behörden seit den späten er Jahren mehr und mehr NS-belastete Beamte den aktiven Dienst verließen. Für die Vergegenwärtigung der NS-Vergangenheit stellte die zunehmende zeitliche Distanz zu ihr eine politische und gesellschaftliche Herausforderung dar. Sosehr der Generationenkonflikt der er Jahre zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit beigetragen hatte, so sehr bedeutete der Wechsel der Generationen auch neue individual- und kollektivbiografische Betroffenheits- und Erfahrungskonstella Eine wichtige Ausnahme bildet die Forschung zur Geschichte des Reichs- bzw. Bundeswirtschaftsministeriums, die deutlich vor  einsetzt.  Mentel/Weise (), S. ; vgl. auch Schildt (), S. .  Vgl. in dieser Perspektive z. B. den Band von Schildt/Schmidt ().  Siehe dazu Conze u. a. (), S. -; Wiegeshoff (), S. -.

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tionen, und gerade die jüngere Generation, ohne deren Stimmen Brandt nicht Bundeskanzler geworden wäre, verstand unter dem demokratischen Aufbruch, den die sozialdemokratisch geführte Regierung versprach, nicht eine rückwärtsgewandte Politik der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (als Geschichte wie als nach wie vor drängendes gesellschaftliches Problem). Brandts berühmte Regierungserklärung vom . Oktober , in der er den Imperativ »Wir wollen mehr Demokratie wagen« formulierte, erwähnte weder die Opfer und Verfolgten des Nationalsozialismus – eher schloss sie an das »homogenisierte Opfernarrativ« der Ära Adenauer an –, noch kündigte sie eine intensivere Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Wirkungen, beispielsweise in Ministerien und Behörden, an. Stattdessen wandte sich Brandt im Sinne einer »zukunftsgewandten Distanzierung« an die »im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen«. Die Dynamiken der Demokratisierung, das Projekt einer sozialen Demokratie und die Idee eines »modernen Deutschlands«, die sich mit dem Beginn der sozialliberalen Koalition verbinden, führten also nicht zu einer Dynamisierung oder Intensivierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, sondern verweisen eher auf das komplexe und auch nach  spannungsreiche Verhältnis von Demokratieentwicklung und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Dass die sozialliberalen Koalitionen unter Brandt und Schmidt die Verknüpfung der NS-Aufarbeitung mit den Menschenrechten, wie sie sich zu dieser Zeit auf der Ebene der Vereinten Nationen vollzog, bewusst nicht aufgriffen, hing somit damit zusammen, dass der angestrebte UN-Beitritt nicht unnötig durch vergangenheitspolitische Fragen belastet werden sollte. Doch spielte dabei wohl auch das Bewusstsein eine Rolle, dass sich ein hochumstrittenes Projekt wie die Neue Ostpolitik ohne eine aktive Mitwirkung der vielen »Ehemaligen« eben kaum realisieren ließ.

Fazit Thomas Hertfelder hat jüngst konstatiert, dass in den Debatten um die deutsche Erinnerungskultur, die sich bis heute weitgehend auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur konzentrieren,  Vgl. Meyer, K. (), S.  (dort auch die Zitate).

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das Erinnern an Demokratie nahezu vollständig ausgeblendet bleibe. Das gilt jedoch nicht nur für die Erinnerungskultur, sondern auch für die zeithistorische Forschung, und es geht dabei nicht allein darum, die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik sowie die Geschichte ihrer Demokratisierung (was nicht dasselbe ist) schlicht neben die NS-Belastungs- und Aufarbeitungsgeschichte zu stellen. Vielmehr kommt es darauf an, Demokratienarrativ und Belastungsnarrativ aufeinander zu beziehen und sowohl analytisch wie in der öffentlichen Erinnerung miteinander zu verknüpfen. Eine gleichgerichtete, lineare Meistererzählung entsteht daraus allerdings nicht, vielmehr ein widersprüchliches, erinnerungs- und vergangenheitspolitisch sperriges Bild. Die bisherigen Ergebnisse der Behördenforschung, nicht nur auf Bundesebene, bestätigen dieses komplexe Bild, das sich einfachen und leicht aneignungsfähigen Deutungen entzieht und gerade nicht in die überkommenen erfolgsgeschichtlichen Narrative passt, die von der Mehrheit der Historikerkommissionen bis heute bestätigt zu werden scheinen. Das jedoch ist, so viel lässt sich nach fast zwei Jahrzehnten Behördenforschung festhalten, ein Trugschluss. Auch aus diesem Grund wird es höchste Zeit, die Berichte und Studien der Kommissionen viel stärker als bislang gegen den Strich zu lesen – und damit auch gegen die Intention der Auftraggeber –, um endlich jenes kritische und wissenschaftlich-analytische Potenzial sichtbar zu machen, das der Behördenforschung innewohnt, das aber angesichts ihrer erfolgsgeschichtlichen Ausrichtung und Rezeption bislang kaum zur Entfaltung gekommen ist.

 Hertfelder (), S. , .

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Reputation, Integration, Diskretion Wiedergutmachung und Demokratisierung in der frühen Bundesrepublik J B / K M

Die von der Bundesrepublik geleistete materielle Wiedergutmachung für die Verfolgten des Nationalsozialismus war zweifellos das Resultat eines auf demokratischem Wege zustande gekommenen politischen Projekts: Es waren die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, die  das Luxemburger Abkommen ratifizierten und  das sogenannte Bundesergänzungsgesetz zur individuellen Entschädigung verabschiedeten – wenngleich beides nur mit Hilfe der Opposition gelang. In den Reihen der bürgerlichen Regierungsparteien waren die Wiedergutmachungsgegner so zahlreich, dass sich Konrad Adenauer auf die Stimmen der SPDFraktion stützen musste und es immer wieder mit Anfeindungen des Projekts aus der eigenen Partei zu tun bekam. Hätte man die frischgebackenen Bundesbürger darüber abstimmen lassen, ob den ehemals Verfolgten des NS-Regimes Entschädigungszahlungen aus Steuergeldern zustehen sollten, wären diese im Unterschied zu verschiedenen Gruppen von »Kriegsgeschädigten« wohl leer ausgegangen: Erklärten im Sommer  noch  Prozent der Befragten einer Erhebung des Allensbacher Instituts, dass »Deutschland gegenüber den noch lebenden deutschen Juden die Pflicht zur Wiedergutmachung« habe, waren  bereits zwei Drittel der Bundesbürger der Auffassung, dass es weder eine Mitverantwortung der Bevölkerung für die NS-Verbrechen noch eine Verpflichtung zur Wiedergutmachung gegenüber den Opfern gebe. Nur jeder fünfte Befragte sah dies anders, und ebenso viele machten die Juden für ihr Schicksal mitverantwortlich. Im Luxemburger Abkommen hatte sich die Bundesregierung im September  nach schwierigen Verhandlungen mit dem Staat Israel und der Jewish Claims Conference auf eine Entschädigungssumme von , Milliarden Mark geeinigt. Dem stimmten gerade einmal zehn Prozent der befragten Bundesbürger vorbehaltlos zu. Beinahe die Hälfte hielt das Abkommen für überflüssig, und selbst unter denjenigen, die es grundsätzlich befürwor Neumann/Neumann, Jahrbuch, -, S. , zit. bei Goschler (), S. .  Vgl. Bergmann (), S. .

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teten, befand immerhin ein Viertel die Wiedergutmachungszahlungen an den Staat Israel für zu hoch. Dass die Meinungsforscher zur selben Zeit einen drastischen Anstieg bei den Zustimmungswerten zu antisemitischen Aussagen registrierten, passte zu dieser schuldabwehrenden und entschädigungsfeindlichen Haltung. Die Ergebnisse der Demoskopie korrespondieren auch mit Eindrücken, welche die Emigrantin Hannah Arendt / während ihrer sechsmonatigen Reise durch die gerade gegründete Bundesrepublik sammelte. Sie beobachtete eine allgemeine »Flucht vor der Verantwortung«, ein auffälliges Desinteresse gegenüber dem Schicksal der NS-Verfolgten und ein eklatantes Unwissen über die Verbrechen. Statt die Philosophin nach den Gründen und Konsequenzen ihrer Flucht aus Deutschland  zu fragen, sprachen ihre deutschen Gesprächspartner vornehmlich über eigene Leidenserfahrungen und Entbehrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Den Führungsfiguren der beiden großen Parteien, Konrad Adenauer und Kurt Schumacher, galt eine materielle Wiedergutmachung für die Opfer der NS-Verbrechen als Pflicht und Notwendigkeit, wenngleich der SPD-Vorsitzende die moralischen Beweggründe noch deutlicher hervorhob als sein christdemokratischer Gegenspieler. Schon auf die erste Regierungserklärung des Kanzlers reagierte der langjährige KZ-Häftling Schumacher im September  mit scharfen Worten, empfand er Adenauers Äußerungen über die Vernichtung der europäischen Juden doch als »zu matt und zu schwach«. Gleichwohl waren sich beide im Klaren darüber, dass die Wiedergutmachung dem moralischen Selbstverständnis und den materiellen Bedürfnissen der allermeisten Deutschen zuwiderlief. Um dem unbeliebten Projekt zu einer gewissen Akzeptanz oder gar Anerkennung zu verhelfen, bedurfte es aus Sicht der beiden Parteivorsitzenden einer politischen Strategie und Rhetorik, in deren Kern es um Reputation, Integration und Diskretion ging: Erstens hing die künftige Reputation der jungen Demokratie im westlichen Ausland maßgeblich von ihrer Bereitschaft zu einer gesetzlich geregelten Wiedergutmachung für die Betroffenen der NS-Verfolgungspolitik ab, mithin musste eine sol   

Vgl. Hockerts (), S. , Anm. . Vgl. Bergmann (), S.  f. Vgl. Arendt (), S.  f. »Das Programm der Opposition«. Antwort Schumachers auf die erste Regierungserklärung Adenauers im Deutschen Bundestag, .., in: Albrecht (Hrsg.) (), S. -, hier S. .

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che Wiedergutmachung innenpolitisch als unerlässliche Maßnahme zur Wiederherstellung des – von den Nationalsozialisten missbrauchten – »guten deutschen Namens« vermittelt werden. Einer Gesellschaft, die nach dem Ende des Krieges vor allem auf ihre eigenen materiellen Nöte blickte und Fragen nach Schuld und Mitverantwortung vorzugsweise an eine »Clique von Gangstern« verwies, war die Politik einer Wiedergutmachung für die Opfer des NS-Regimes nur dann vermittelbar, wenn man sie zweitens in ein umfassendes sozialpolitisches Programm zur Regelung unterschiedlicher »Kriegsfolgen« einband und sie dem übergreifenden Ziel der gesellschaftlichen Integration unterordnete. Um die potenziell erwartbaren Abwehrreaktionen und Neidgefühle der Mehrheitsgesellschaft möglichst gering zu halten, war bei der Vorbereitung, Verabschiedung und Durchführung von gesetzlichen Regelungen zur Wiedergutmachung schließlich auch größtmögliche Diskretion geboten. Offensichtlich entsprang das von strategischen Prämissen geprägte und überwölbte Projekt der Wiedergutmachung nicht dem gesellschaftlichen Ethos der Nachkriegsjahre. Es wurde, wie viele andere politische Maßnahmen der er und er Jahre, klar von oben entschieden: Es war ein Elitenprojekt. Umso mehr stellt sich die Frage, ob die Wiedergutmachung einen Beitrag zur Demokratisierung der postnationalsozialistischen Gesellschaft leistete, indem es die Deutschen lehrte, nicht nur sich selbst als Opfer zu begreifen, sondern auch diejenigen, die von der NS-Volksgemeinschaft ausgeschlossen und verfolgt worden waren.

Reputation Das Leben und das Wohlergehen der Juden in Deutschland«, so mahnte der amerikanische Hohe Kommissar John J. McCloy im Sommer , »wird ein Prüfstein der demokratischen Entwicklung in Deutschland sein.« Wollte die junge Demokratie auf der außenpolitischen Bühne ernst genommen und von der westlichen Staatengemeinschaft anerkannt werden, so die implizite Botschaft, musste sie eine aktive Politik der Wiedergutmachung gegenüber den überlebenden Juden betreiben. Der neue Bundeskanzler Konrad Adenauer war sich der moralischen und strategischen Bedeutung einer solchen Initiative sehr wohl bewusst – und er wusste auch, dass es dabei keineswegs nur um die nach Deutschland  Vgl. Hockerts (), S. .  Zit. bei Eleonore Sterling, Judenfreunde – Judenfeinde, in: Die Zeit, ...

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zurückgekehrten Überlebenden oder dort gestrandeten jüdischen Displaced Persons ging, sondern vor allem um den neugegründeten jüdischen Staat: Bei einem geheimen Treffen zwischen Adenauer und dem israelischen Finanzstaatssekretär David Horowitz in Paris im April  – der ersten Begegnung zweier Repräsentanten der beiden Regierungen überhaupt – machte der Vertreter Israels klar, dass Gespräche zwischen beiden Staaten nur auf der Grundlage eines offiziellen Bekenntnisses der Bundesrepublik zu ihrer historischen Verantwortung und ihrer ausdrücklich erklärten Bereitschaft zur materiellen Wiedergutmachung möglich sein würden. Den amerikanischen und israelischen Forderungen gedachte Adenauer nachzukommen, als er am . September , kurz vor dem jüdischen Neujahrsfest, eine Regierungserklärung zur »Haltung der Bundesrepublik gegenüber den Juden« abgab. In der »Weltöffentlichkeit« seien in jüngster Zeit vermehrt Zweifel daran aufgekommen, ob »das neue Staatswesen in dieser bedeutsamen Frage von Prinzipien geleitet werde, die den furchtbaren Verbrechen einer vergangenen Epoche Rechnung tragen und das Verhältnis der Juden zum deutschen Volke auf eine neue und gesunde Grundlage stellen.« Um diese Zweifel zu zerstreuen, kündigte der Kanzler nicht nur ein konsequenteres strafrechtliches Vorgehen gegen »antisemitische Hetze« und verstärkte Bemühungen auf dem Gebiet der Jugenderziehung an, sondern auch den »baldigen Abschluß der Wiedergutmachungsgesetzgebung und ihre gerechte Durchführung«. Die Bundesregierung sei »bereit, gemeinsam mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel […] eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen, um damit den Weg zur seelischen Bereinigung unendlichen Leides zu erleichtern.« Stellvertretend für seine Fraktion monierte der SPD-Bundestagsabgeordnete Paul Löbe in seiner Erwiderung auf Adenauer zwar, dass eine deutsche Initiative zur Wiedergutmachung schon viel früher hätte erfolgen müssen, betonte aber ebenso sehr wie der Kanzler die außenpolitische Bedeutung einer »Aussöhnung mit dem Staate Israel und den Juden in aller Welt« – und verband dies mit einer klaren Botschaft nach innen: Da sich die Deutschen mit den Juden »unlösbar verbunden« fühlten und ihnen »in allen Bereichen ihres geistigen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens […] Außerordentliches zu verdanken« hätten, sei je-

 Vgl. Goschler (), S.  f.  BT-Protokolle, . WP, .., S.  f.

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der Deutsche »aufgerufen, das den Juden in unserer Mitte zugefügte Unrecht wiedergutzumachen«. Ähnlich hatte sich in den Jahren zuvor auch der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher geäußert, wenn er vom ideellen und materiellen Schaden sprach, der den Deutschen durch die Verfolgung und Vernichtung der Juden entstanden sei, und zugleich die Existenz einer »deutsch-jüdischen Symbiose« beschwor, die es nun wiederherzustellen gelte. Den Antisemitismus definierte Schumacher als »das Nichtwissen von den großen Beiträgen der deutschen Juden zur deutschen Wirtschaft, zum deutschen Geistesleben und zur deutschen Kultur und bei der Erkämpfung der deutschen Freiheit und der deutschen Demokratie« – eine Argumentation, in der Judenfeindschaft nicht etwa als aktives Ressentiment, sondern vielmehr als Ausdruck passiver Unbedarftheit oder Ignoranz verstanden wurde. Unausgesprochen blieb in dieser Argumentation auch, dass es sich bei der überwiegenden Mehrzahl der vom NS-Regime verfolgten und getöteten Jüdinnen und Juden um Staatsbürger anderer europäischer Länder gehandelt hatte und dass selbst die aus Deutschland stammenden Überlebenden mehrheitlich emigriert waren (oder auf eine Ausreise warteten) und wohl nur in den allerseltensten Fällen eine Rückkehr in das Land ihrer Peiniger erwogen. Dies wiederum war ein Thema, das Schumacher mit wenig Sensibilität behandelte, hatte er doch im Herbst  während einer England-Reise sein Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass bislang so wenige jüdische Emigranten nach Deutschland zurückgekehrt seien – dabei gebe es doch für die Mehrheit der Deutschen »gar keine Judenfrage mehr«. Solche Äußerungen verdeutlichen, dass der (durchaus fortlebende) Antisemitismus und die an den europäischen Juden begangenen Verbrechen von den maßgeblichen deutschen Politikern vor allem mit einem nach innen gerichteten Blick adressiert wurden. Wenn überhaupt, dann gerieten nur deutsche Juden in diesen Blick – nicht aber die außerhalb Deutschlands Verfolgten und Ermordeten. Diese Perspektivenveren Ebenda, S.  f.  Vgl. Schumacher, .., S.  f.; Interview Dr. Schumachers durch Karl Marx über die Frage des jüdischen Neu-Einbaues in Deutschland, Jüdisches Gemeindeblatt für die britische Zone, .., AdsD, SPD-Parteivorstand, Bestand Schumacher, ; Interview des Korrespondenten des Jewish Daily Forward mit Schumacher über die Situation der Juden in Deutschland, November , in: Albrecht (Hrsg.) (), S. -, hier S.  f.  Schumacher, .., S.   Zit. bei Meyer (), S. .

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gung spiegelte sich bald auch in den gesetzlichen Regelungen zur individuellen Entschädigung wider, die eine Hierarchie unter den jüdischen NS-Verfolgten schufen: Nach dem sogenannten Territorialitätsprinzip galt zunächst nur als antragsberechtigt, wer entweder vor der Verfolgung in Deutschland gelebt, sich nach  dort niedergelassen hatte oder eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nachweisen konnte. Somit erhielten deutsche und deutschsprachige NS-Verfolgte deutlich höhere Entschädigungsleistungen als Staatenlose und Flüchtlinge, während Menschen, auf die keines der genannten Kriterien zutraf, keinerlei Anspruch auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz hatten und höchstens auf dem Umweg über Globalentschädigungen an ihre Herkunftsstaaten eine Wiedergutmachung bekamen. Diese Verengung des politischen Blicks und der gesetzlichen Regelungen auf die deutschen und deutschsprachigen Juden half jedoch dabei, die Notwendigkeit – oder besser: Nützlichkeit – der Wiedergutmachung gegenüber der deutschen Bevölkerung zu begründen. Bei den Christwie bei den Sozialdemokraten stand ein und dieselbe Argumentationslinie im Mittelpunkt: Erklärten sich die Deutschen aus eigenem Antrieb zu einer Wiedergutmachung und mithin zu einer »Aussöhnung« mit den Juden bereit, so die Botschaft der beiden Parteivorsitzenden ebenso wie des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, werde ihnen das mit einer Wiederherstellung nicht nur ihres »guten Namens« im Ausland, sondern auch der zerstörten »deutsch-jüdischen Symbiose« und des mit ihr verbundenen »Mehrwerts« für das wirtschaftliche, geistige und kulturelle »Kapital« der Bundesrepublik gedankt. Auf diese Weise wurde die Wiedergutmachung und die damit vermeintlich bekundete Abkehr vom Antisemitismus zum Gegenstand einer Kosten-Nutzen-Rechnung gemacht – in der Hoffnung, so Norbert Frei, »man könne den frischgebackenen Bundesbürgern die neue Norm des Anti-Antisemitismus gleichsam als eine aus wohlverstandenem Eigeninteresse gebotene Haltung nahebringen«.

 Vgl. Pawlita (), S. ; Herbert (), S. .  Frei in Brenner (), S. .

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Integration Noch bevor Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung vom September  ein Wiedergutmachungsgesetz und mögliche Verhandlungen mit dem Staat Israel ankündigte, markierte er die finanziellen »Grenzen« eines solchen Vorhabens – und diese sollten genau dort verlaufen, wo die »deutsche Leistungsfähigkeit« angesichts der ebenso notwendigen »Versorgung der zahllosen Kriegsopfer und der Fürsorge für die Flüchtlinge und Vertriebenen« endete. Danach war eine Wiedergutmachung für die Verfolgten des Nationalsozialismus nur in dem Maße mach- und vertretbar, wie sie den Wiederaufbau des eigenen Landes und die »Wiedergutmachung« der Kriegsfolgen für die deutsche Bevölkerung nicht zu gefährden drohte. Dafür, dass die junge Bunderepublik keinen wirtschaftlichen Nachteil durch die Wiedergutmachung zu befürchten hatte, sorgten die komplizierten und restriktiven Regelungen des Bundesergänzungsbeziehungsweise Bundesentschädigungsgesetzes (so hieß es erst nach der Novellierung von ), mit denen die Zahl der Anspruchsberechtigten und deren Ansprüche klar eingegrenzt wurden. Schon der Vergleich mit dem  erlassenen »Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges« zeigt, dass die an NS-Verfolgte gezahlten Entschädigungsleistungen den Bundeshaushalt deutlich weniger belasteten als die Leistungen für die sehr weit definierte und zahlenmäßig viel größere Gruppe der »Kriegsopfer«, in der sich freilich auch viele Deutsche wiederfanden, die selbst zu Tätern und Mittätern bei der Verfolgung der Juden geworden waren – ob als Angehörige der Wehrmacht, als Profiteure der »Arisierung« oder in anderen Kontexten. Ging es um deren Versorgung, war die Bundesrepublik großzügiger und zahlte wesentlich höhere Renten als an die unter das Bundesentschädigungsgesetz fallenden Verfolgten des Nationalsozialismus. Atmosphärisch gestützt wurde die ausgesprochen restriktive Entschädigungspolitik und -praxis der er Jahre auch dadurch, dass der Kanzler die ehemaligen NS-Volksgenossen ausdrücklich von einer unmittelbaren Mitverantwortung freisprach, hätten sie doch in ihrer »überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und […] sich an ihnen nicht beteiligt«. Auch hierbei erhielt Adenauer Rückendeckung von der Opposition, sprach Paul Löbe in sei BT-Protokolle, . WP, .., S. .  Vgl. Teitelbaum (), S.  f.

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ner Erwiderung vor dem Bundestag doch ebenso von »Schandtaten«, die von »verbrecherischen Machthabern […] unter Mißbrauch des deutschen Namens zum Entsetzen der überwiegenden Mehrheit auch des deutschen Volkes verübt worden« seien. Ging es den politisch Verantwortlichen nun darum, aus strategischen Gründen – und auch aus dem durchaus glaubwürdigen Impetus einer moralischen Verpflichtung heraus – der von außen an die Bundesrepublik herangetragenen Erwartung an eine gesetzlich geregelte Wiedergutmachung zu entsprechen, gleichzeitig aber auf die Befindlichkeiten einer sich als unschuldig betrachtenden Bevölkerungsmehrheit Rücksicht zu nehmen, mussten sie eine auf Integration und ausgleichende Gerechtigkeit zielende Politik verfolgen. Auf die gefühlte Benachteiligung all derer, die sich zwar nie gegen das NS-Regime aufgelehnt oder von ihm behelligt worden waren, sich nun aber selbst als mehrfache Opfer betrachteten – Opfer eines betrügerischen Systems, Opfer des Bombenkriegs, Opfer der Entnazifizierung –, reagierte die politische Klasse der jungen Demokratie daher, indem sie Gesetzesvorhaben zur Versorgung und Kompensation ganz unterschiedlicher Gruppen von »Geschädigten« bevorzugt verkoppelte und parallelisierte. Damit signalisierte sie eine Gleichsetzung und Gleichbehandlung gänzlich unterschiedlich verursachter Leidenserfahrungen und sorgte zugleich dafür, dass latent ablehnende Reaktionen auf Entschädigungsleistungen gegenüber den ehemals »Gemeinschaftsfremden« durch zeitgleich verkündete Wohltaten für die Mehrheit eingehegt und abgefedert wurden. Das »Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes« war das erste Gesetz der jungen Bundesrepublik, das den Begriff der Wiedergutmachung im Titel führte. Es wurde am . Mai  mit dem Ziel verkündet, einen rechtlichen Rahmen zur Entschädigung von Beamten zu schaffen, die während der NS-Zeit auf der Grundlage des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« entlassen worden waren. Nicht zufällig erfolgte am selben Tag die Verkündung des sogenannten er-Gesetzes, mit dem wiederum sämtlichen Beamten und Berufssoldaten des Dritten Reiches, die nach Kriegsende von den Besatzungsmächten aus ihren Positionen entlassen worden waren, die Rückkehr in ihre Ämter ermöglicht und das Anrecht auf ihre Ruhestandsbezüge ga-

 BT-Protokolle, . WP, .., S.  f.  Vgl. Goschler (), S. .

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rantiert wurde. Beiden Gesetzgebungsprozessen war gemein, dass sie im Parlament fast ausschließlich als sozialpolitische und damit zugleich zukunftsweisende Problemkomplexe verhandelt wurden, nicht aber als Themen, die zutiefst mit Fragen nach zurückliegender Schuld und Mitverantwortung eines ganzen Berufsstandes verbunden waren, der sich in den er Jahren sämtlicher politisch oder »rassisch« unliebsamer Beamter in seinen Reihen entledigt hatte. Von der zeitlichen und argumentativen Verkoppelung zweier Gesetze, mit denen einerseits Opfern, andererseits Tätern oder zumindest Profiteuren des Nationalsozialismus zu ihrem »Recht« verholfen werden sollte, erhofften sich die politisch Verantwortlichen ganz offensichtlich, wechselseitige Missgunst oder gar lautstarken Protest von vornherein abzuwenden: »Die Zeichen standen damals gerade nicht auf strikte Trennung von Tätern und Opfern, sondern auf Brückenschlag, Ruhe und Integration auf dem Weg zur ersehnten Normalität.« Diesem Paradigma unterwarf sich auch ein beträchtlicher Teil der nichtjüdischen ehemaligen NS-Verfolgten – vor allem diejenigen, die wieder politisch aktiv wurden. Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher, Fritz Erler, Erich Ollenhauer und viele andere, die selbst teils jahrelange Lager- und Zuchthaushaft hinter sich hatten oder vor der Verfolgung der Nationalsozialisten ins Ausland geflohen waren, gaben ihrer Partei einen Kurs vor, der auf eine »innere Versöhnung« setzte, nicht aber auf eine Privilegierung der ehemaligen Widerstandskämpfer und Verfolgten oder auf deren prononciert vergangenheitsbezogene Sonderstellung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft. Die Wiedergutmachung zum Konfliktherd der postnationalsozialistischen Bevölkerung zu machen lag nicht im »Reintegrationsinteresse« dieser vormaligen Gegner des Dritten Reiches, zumal die Mehrheit der Deutschen von den mutigen Taten der Wenigen entweder nichts wissen wollte oder sie hinter vorgehaltener Hand sogar als »Vaterlandsverräter« beschimpfte. Auch der sozialdemokratischen Opposition im Bundestag ging es daher darum, die Mehrheit einstiger Mitläufer und Anhänger des NS-Regimes nicht durch Gesetzesmaßnahmen zur »Kriegsfolgenregelung« zu verprellen, die ihre Mitverantwortung ausgiebig thematisierten oder gar sanktionierten. Obgleich die Wiedergutmachung einigen SPD-Politikern ein Herzensanliegen war, für dessen Ausweitung und Verbesserung sie    

Vgl. Hockerts (), S.  f.; Goschler (), S. -; Frei (), S. . Vgl. ebd., S. . Hockerts (), S. . Vgl. Meyer (), S. -.

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teils über Jahrzehnte kämpften, so war dennoch klar, dass dieses Projekt von den meisten Deutschen als Belastung empfunden oder abgelehnt wurde. Und selbst unter den ehemals politisch Verfolgten wurden zuweilen Stimmen laut, die die Wiedergutmachung – vor allem diejenige für die jüdischen Überlebenden – als ein »demokratisch« auf die Schultern aller Steuerzahler verteiltes Projekt kritisch sahen. Ein  geborener Sozialdemokrat aus Münster schrieb  an Carlo Schmid, ihm leuchte nicht ein, warum ausgerechnet er als ehemaliger Widerstandskämpfer für die – aus seiner Sicht überzogenen – Wiedergutmachungsleistungen an Israel mitbezahlen müsse und nicht allein die eigentlich Verantwortlichen, nämlich die ehemaligen NSDAP-Mitglieder.

Diskretion Aus den Wahlkämpfen wurde jedes affirmative Bekenntnis zur Wiedergutmachung somit tunlichst herausgehalten, brauchte sich doch keine Partei von diesem unbeliebten Thema einen Stimmenzuwachs zu erhoffen – oder musste umgekehrt sogar fürchten, potenzielle Wähler damit zu verprellen. Rund  Prozent aller individuellen Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz gingen ins Ausland, wo die große Mehrheit der Anspruchsberechtigten lebte. Die Zahl derjenigen, die in Deutschland als ehemals Verfolgte ein unmittelbares Interesse an der Wiedergutmachung hatten, war im Vergleich zum Rest der Bevölkerung verschwindend gering und machte bei Weitem keine wahlentscheidende Gruppe aus. Mit der konkreten Politik und Praxis der Wiedergutmachung war letztlich nur ein Bruchteil der Bevölkerung unmittelbar befasst – ob als Politiker, Antragsteller, Sachbearbeiter, Gutachter, Anwälte, Richter oder Staatsanwälte. Daher wurde das unpopuläre Minderheitenthema Wiedergutmachung von Beginn an bewusst diskret und fernab der Öffentlichkeit be- und verhandelt: Debatten über die Entschädigung und Rückerstattung spielten sich in einem »politischen und publizistischen Abseits ab«. Bezeichnend war etwa, dass im Anschluss an die Regierungserklärung Adenauers vom September  – abgesehen von ein paar kurzen Erklärungen der anderen Fraktionen – keine Aussprache angesetzt wurde. Da es so Vgl. Fritz Schmidt an Carlo Schmid, .., Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Carlo Schmid, .  Herbst/Goschler (), S. .  Vgl. Frei in Brenner (), S. .

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wohl bei den rechten Kleinparteien als auch bei der KPD massive Vorbehalte gegen die Wiedergutmachung gab, hätte eine solche offene Debatte schnell zum Eklat geraten können, den es gerade mit Blick auf die hohen Erwartungen ausländischer Beobachter um jeden Preis zu verhindern galt. Auch die dann folgenden Gespräche und Vorverhandlungen zwischen der Bundesregierung und Vertretern Israels und der Claims Conference fanden bevorzugt im Geheimen statt, da die politisch Verantwortlichen auf deutscher wie auf israelischer Seite eine konfrontative öffentliche Auseinandersetzung über die Wiedergutmachung fürchteten. Dass sich Konflikte dieser Art gleichwohl nicht verhindern ließen, zeigten nicht nur die wütenden Proteste israelischer Demonstranten gegen die Verhandlungen ihrer Regierung über deutsches »Blutgeld«, sondern auch die regelmäßige Skandalisierung der Wiedergutmachung in Medien und Öffentlichkeit der Bundesrepublik. Deren Bevölkerung kam in den er und er Jahren fast ausschließlich dann mit dem Thema Wiedergutmachung in Berührung, wenn Einzelfälle von Betrugs- oder Bereicherungsvorwürfen von den Medien publik gemacht wurden – was wiederum von den Gegnern der Wiedergutmachung gezielt betrieben und befördert wurde. Das Allgemeinwissen über die Wiedergutmachung speiste sich vorwiegend aus der Medialisierung einzelner »Skandalfälle«; über Hunderttausende von »Normalfällen«, in denen es um kleine, oft über Jahre hart erkämpfte und existenzsichernde Entschädigungsleistungen für ehemals Verfolgte im In- und Ausland ging, war der übergroßen Mehrheit der Deutschen schlichtweg nichts bekannt. Und so war es letztlich auch jene Diskretion und Geheimnistuerei auf der politischen Ebene, die in der Öffentlichkeit für eine Mischung aus Unkenntnis und Misstrauen, mithin also auch für ein erhöhtes Empörungs- und Skandalisierungspotenzial einzelner Wiedergutmachungsfälle sorgte.  Zu diesen skandalisierten Einzelfällen zählte etwa der prominente Fall des Auschwitz-Überlebenden und ab  amtierenden bayerischen Staatskommissars für NS-Verfolgte Philipp Auerbach, der sich  nach einem von antisemitischer Hetze begleiteten Prozess wegen des Vorwurfs verschiedener Betrugsdelikte in der Haft das Leben nahm; vgl. Goschler () Ein anderes Beispiel bietet der Fall des SPD-Politikers Otto Heinrich Greve, der nach einer gezielten Kampagne des CDU-Abgeordneten Jakob Diel – eines prononcierten Wiedergutmachungsgegners –  vom Vorsitz des Bundestagswiedergutmachungsausschusses zurücktreten musste, weil er nebenbei als Anwalt in Wiedergutmachungsangelegenheiten tätig war und dafür angeblich überzogene Honorare von seinen Mandanten verlangt hatte; vgl. Meyer (), S.  ff..  Vgl. Hockerts (), S.  f.

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Obgleich die oppositionellen Sozialdemokraten im Bundestag beständig die Mängel der Entschädigungsgesetze kritisierten, auf Verbesserungen drängten und dabei wiederum auf besonders skandalöse Fälle restriktiver und ungerechter Behandlung von Betroffenen durch deutsche Behörden aufmerksam machten, trugen auch sie ihren Teil dazu bei, dass eine offene, differenzierte und transparente gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Wiedergutmachung verhindert wurde. Das Gros der ehemals Verfolgten in ihrer Partei folgte dieser Tendenz zu einer diskreten Behandlung der Wiedergutmachungsfragen, was nicht zuletzt auch damit zusammenhing, dass viele nicht mehr mit den persönlichen Leidenserfahrungen der Vergangenheit konfrontiert werden wollten und auch aus dem bereits erwähnten Reintegrationsinteresse lieber auf eine Profilierung als Opfer und auf eine offensive Durchsetzung ihrer Interessen verzichteten. Über die Diskretion in der Wiedergutmachung herrschte im Deutschland der er und er Jahre zwischen den Parteien ein erstaunlicher, vorwiegend stillschweigender Konsens, der ehemalige Täter, Mitläufer und Opfer des Nationalsozialismus verband. Dass auch Letztere sich diesem Konsens unterwarfen, war einem Ethos geschuldet, in dem das aus der NS-Verfolgung erwachsene Opferdasein keinerlei Vorteil oder gar Ansehenszuwachs versprach. Wiedergutmachung zu beantragen (und erst recht, öffentlich darüber zu sprechen) hieß, eine Opferrolle zu akzeptieren, und das widersprach dem Selbstverständnis der allermeisten ehemaligen Widerstandskämpfer und Verfolgten – in Deutschland, aber auch in Israel, wo ein wirkmächtiges Heldenethos ebenfalls zu einer Marginalisierung der Überlebenden aus den Lagern führte. Letztere hatten kein Interesse daran, ihre oft jahrelangen Auseinandersetzungen mit deutschen Entschädigungsbehörden publik zu machen und in den Ruf zu geraten, sich ihre Leiden mit »Blutgeld« bezahlen zu lassen. Und so fand man sich allerseits mit einem Minimum ab – einem Minimum an Entschädigung wie auch einem Minimum an Öffentlichkeit. Erst in den er Jahren machte sich ein gesellschaftlicher Wandel in Deutschland bemerkbar, der mit einer öffentlichen Debatte über Wiedergutmachung für die lange Zeit »vergessenen Opfer« einherging – oder besser: für die fortgesetzt diskriminierten gesellschaftlichen Randgruppen, die durch das Bundesentschädigungsgesetz bislang nicht berücksichtigt worden waren, darunter Sinti und Roma, Homosexuelle, Zwangssterilisierte, Wehrdienstverweigerer, sogenannte »Asoziale«, psychiatrisch Verfolgte und Opfer medizinischer Versuche. Angestoßen vor allem von Aktivisten der alternativen Geschichtswerkstättenbewegung, 113

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fand ein »Wechsel von einer systemimmanenten zu einer systemkritischen Auseinandersetzung mit der Wiedergutmachung« statt, die als Demokratisierung sowohl der Wiedergutmachung selbst als auch des Diskurses über sie charakterisiert werden kann: Durch neue Härtefallregelungen erhielten nun auch solche Gruppen ehemals Verfolgter Entschädigungszahlungen, die von den vorherigen gesetzlichen Regelungen ausgeschlossen gewesen waren, wobei die meisten allerdings keinen Rechtsanspruch mehr im Sinne des BEG geltend machen, sondern nur noch auf einmalige Entschädigungssummen hoffen konnten. Eine weitere Facette des stets überschießenden Hangs zur Skandalisierung in der Wiedergutmachungsdebatte zeigte sich jedoch auch in dieser neuen Entwicklungsstufe. Erste kritische Publikationen zur Geschichte der Wiedergutmachung schauten nun bevorzugt auf deren massive Fehlleistungen, unter denen die oftmals jahrelang um ihre Entschädigung kämpfenden Verfolgten hatten leiden müssen. So überaus berechtigt die Kritik an einer empathielosen, oftmals auch antisemitisch konnotierten Behandlung von Entschädigungsempfängern durch deutsche Behörden und Gerichte auch war, so sehr verengten die ersten rückblickenden Bewertungen der frühen Wiedergutmachung sie doch auch auf eine reine Skandal- und Versäumnisgeschichte eines »Kleinkriegs gegen die Opfer«. Gleichwohl war der nun aufbrechende öffentliche Diskurs über die Wiedergutmachung beziehungsweise ihre jahrzehntealten Ungerechtigkeiten »integraler Teil des gesellschaftlichen Selbstaufklärungsprozesses über die nationalsozialistische Vergangenheit«. Dieser Diskurs befasste sich indes nur noch indirekt mit den nationalsozialistischen Verbrechen selbst. Indem er die Auswüchse und Fehlleistungen der vorherigen Wiedergutmachungspraxis anprangerte, reflektierte er vielmehr den problematischen Umgang mit den Überlebenden in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten und geriet so zu einem späten, aber wirksamen Katalysator jenes langsam voranschreitenden Prozesses der »inneren Begründung der Bundesrepublik aus dem Geist der Aufklärung über die NS-Vergangenheit«, der in den späten er Jahren seinen zaghaften Anfang in der Kritik an personellen Kontinuitäten in Politik und Justiz genommen hatte.    

Goschler (), S. . Vgl. Pross (). Frei/Brunner/Goschler (b), S. . Frei (), S. .

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Schluss Einen im demokratischen Sinne partizipativen, offenen und transparenten Aushandlungs- und Selbstverständigungsprozess über die Wiedergutmachung für Verfolgte des Nationalsozialismus hat es in der frühen Bundesrepublik nicht gegeben – was in der Adenauer’schen Kanzlerdemokratie auch nicht zu erwarten gewesen war. Bei der Wiedergutmachung handelte es sich um ein Elitenprojekt, das zwar auf parlamentarischem Wege zustande gekommen war, sich aber nicht auf die Zustimmung der Bevölkerung stützen konnte. Allein die Spielregeln der repräsentativen Demokratie ermöglichten die legislative Durchsetzung eines Projekts, das – hätte es etwa das Instrument des Volksentscheids gegeben – innerhalb der Bevölkerung der jungen Bundesrepublik niemals mehrheitsfähig gewesen wäre. Innerhalb der politischen Elite war die Wiedergutmachung wiederum das Anliegen einiger weniger, die sich der moralischen und nicht zuletzt der strategischen Bedeutung dieses Projekts ebenso bewusst waren wie der Schwierigkeit, es der mit sich selbst beschäftigten und schuldabwehrenden Mehrheit der postnationalsozialistischen Gesellschaft zu vermitteln. Um zumindest eine gewisse Akzeptanz zu erreichen, wurde die Wiedergutmachung von den politisch Verantwortlichen bevorzugt als gewinnbringender Faktor innerhalb einer größeren außen- und innenpolitischen Rechnung verkauft, kaum aber als Selbstzweck, der zuallererst moralischen Motiven verpflichtet war und auf eine immerhin materielle Besserstellung der Betroffenen zielte. Hätte man eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und mithin auch die Wiedergutmachung als unabdingbare Voraussetzung und zugleich als »Prüfstein« der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft ernst genommen, dann hätte über dieses Projekt von Beginn an anders kommuniziert und diskutiert werden müssen als über eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die von beschwichtigenden »Koppelungsgeschäften« und einer Strategie der Diskretion politisch eingehegt wurde. So aber erwies sich die Wiedergutmachung in der frühen Bundesrepublik als besonders eindrückliches Beispiel für jenes »kommunikative Beschweigen«, das Hermann Lübbe im Sinne einer »inneren Versöhnung« rückblickend für richtig und notwendig hielt, das in Wirklichkeit aber Ausdruck eines ge-

 Vgl. Hockerts (), S. .

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sellschaftlich verbreiteten wie auch politisch weithin befriedigten Bedürfnisses nach Schuldabwehr und »Wiedergutwerdung« war. Erst seit den er Jahren hat sich allmählich ein breiteres gesellschaftliches Bewusstsein dafür entwickelt, die Wiedergutmachung nicht nur als finanzielle Belastung und strategische Notwendigkeit, sondern als Ausweis eines moralischen Verantwortungsbewusstseins zu betrachten. Diese gesellschaftliche Umwertung erfolgte aber erst nachträglich, zu einer Zeit, da Deutschland auch die bis dahin »vergessenen Opfer« entdeckte. Wie oben erwähnt, fand dieses Neudenken seinen praktischen Ausdruck zunächst in verschiedenen Sonder- und Härtefonds. Im November  verpflichtete sich das wiedervereinigte Deutschland dann im Rahmen des »Artikel--Abkommens« mit der Jewish Claims Conference dazu, monatliche Zahlungen an jüdische Überlebende zu leisten, die von der bis dahin gültigen Gesetzgebung nicht berücksichtigt worden waren. Jetzt erst bewies die Bundesregierung den Willen, möglichst niemanden mehr von der Wiedergutmachung auszuschließen, der vom NSRegime verfolgt worden war. In den er und er Jahren war die Wiedergutmachung jedoch noch kein »Teil des politisch-moralischen Selbstverständnisses einer historisch aufgeklärten Zivilgesellschaft«. Sie war auch kein inhärenter Bestandteil des Lernprozesses der Deutschen auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft. Vielmehr stand die Wiedergutmachung im Schatten dieses beginnenden Lernprozesses – jedenfalls dann, wenn man nicht nur auf die Motive der politisch Verantwortlichen blickt, sondern nach der inneren Demokratisierung der postnationalsozialistischen Gesellschaft fragt. Weder fußte die Wiedergutmachung zu jener Zeit auf einer offen ausgetragenen, selbstkritischen Auseinandersetzung der Deutschen mit Schuld und Mitverantwortung, noch trug sie fühlbar zu ihr bei. Vielmehr konnte sich, wer wollte, jederzeit darauf berufen, dass mit dem Luxemburger Abkommen, spätestens aber mit dem Bundesentschädigungsschlussgesetz von  – der Name war Programm – doch nun alles getan worden sei, um »Schuld und Schulden« zu begleichen. Diejenigen, die konkret mit dem »Nischenthema« Wiedergutmachung befasst waren, durchliefen dagegen durchaus einen Lernprozess. Zu des     

Geisel (). Vgl. Teitelbaum (), S.  f. Vgl. ebd., S.  ff. Frei/Brunner/Goschler (b), S.  f. Vgl. Hockerts (), S.  Goschler ().

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sen Erkenntnissen zählte es jedoch, dass von der Mehrheit der Gesellschaft wenig Interesse an den Entschädigungsansprüchen einer Minderheit ehemals Verfolgter im In- und Ausland zu erwarten war – von Empathie für die Anspruchsberechtigten ganz zu schweigen. Ein Dilemma bleibt: Hätte man die Wiedergutmachung von Beginn an »demokratischer« gestaltet – im Sinne eines offenen, transparenten und partizipativen Aushandlungsprozesses –, hätte es sie in dieser, von einer politischen Elite durchgesetzten Form wohl nie gegeben. Sie diskret auszuhandeln, in eine Politik der Integration und »inneren Versöhnung« einzubinden und als eine im Eigeninteresse einer nach internationalem Ansehen strebenden Bundesrepublik liegende Notwendigkeit zu verkaufen war letztlich wohl unabdingbar dafür, sie überhaupt durchzusetzen. Hier zeigt sich mit Blick auf Israel eine gewisse Ironie der Geschichte: Dort ist der Begriff der Wiedergutmachung bis heute negativ konnotiert, wenn nicht gar verpönt. Die durch das Luxemburger Abkommen verbrieften Globalzahlungen werden »Schilumim« genannt – ein biblischer Ausdruck, der als Strafzahlung übersetzt werden kann, dabei aber nicht impliziert, dass dadurch ein Unrecht wiedergutgemacht werde. Fast scheint es so, als hätte die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik diese Auslegung geteilt, auch wenn sie sich dessen vermutlich nicht bewusst war. Wiedergutmachung wurde als eine von oben auferlegte Pflicht betrachtet, derer man sich wohl oder übel entledigen muss, obwohl sie einem widerstrebt – so wie man ein Bußgeld zahlt: ungern und ein wenig verschämt.

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»Prüfstein für den Fortschritt Deutschlands« Die symbolische Bedeutung der jüdischen Gemeinschaft M B

Rabbiner Leo Baeck, der Repräsentant der Juden in Deutschland vor und während der NS-Zeit, formulierte unmittelbar nach Kriegsende den oftmals zitierten Satz, das Zeitalter der deutschen Juden gehöre endgültig der Vergangenheit an. Zwar war die Behauptung der Nationalsozialisten, Deutschland sei »judenrein«, nicht völlig korrekt, doch war die Zahl der in Deutschland überlebenden Juden im Nachkriegsdeutschland verschwindend gering, und die nach  vor allem in die amerikanische Besatzungszone gelangten osteuropäischen jüdischen Displaced Persons betrachteten diese nur als vorübergehenden Aufenthaltsort, bevor ein jüdischer Staat geschaffen werde und die Vereinigten Staaten ihre Tore weiter öffnen würden. Als  der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet wurde, betrug die Zahl der Mitglieder der wiedergegründeten jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik nicht viel mehr als  . Dies war ein winziger Bruchteil der zwanzig Jahre zuvor über   Menschen zählenden Gemeinschaft und machte weniger als , Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung aus. Bis  stieg die Zahl durch Rück- und Zuwanderung geringfügig an und stagnierte dann in den er Jahren um einen Wert von etwa  . In der DDR war die organisierte jüdische Gemeinschaft noch wesentlich kleiner, und zum Zeitpunkt des Mauerfalls zählten die wenigen Gemeinden um Ost-Berlin, Dresden und Leipzig gerade einmal  Mitglieder. Nicht nur von einem demographischen Standpunkt aus betrachtet gehörte jene Epoche deutsch-jüdischer Geschichte, die Baeck selbst mitgeprägt hatte, tatsächlich der Vergangenheit an. Im Gegensatz zur Weimarer Republik, als jüdische Schriftsteller und Journalisten, Schauspieler und Regisseure, Wissenschaftler und Politiker im ganzen Land bekannt waren, führten die Juden in der Bundesrepublik zumeist ein zurückgezogenes Dasein. Prominente Namen gab es in der Bundesrepublik nur  Gespräch mit Leo Baeck, in: Aufbau, . Dezember , S.  f. Die Vorarbeiten zu diesem Artikel entstanden im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten Projekts des Leo Baeck Instituts zur Geschichte der Juden in Deutschland nach , in dessen Rahmen ich gemeinsam mit Norbert Frei einige Kapitel schreiben durfte. Vgl. Brenner ().

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wenige, wie etwa den Hamburger Bürgermeister Herbert Weichmann, den Quizmaster Hans Rosenthal oder den Schauspieler und Regisseur Ernst Kortner. Jener Kortner wusste genau, dass seine Präsenz als Jude in Deutschland eine tiefe symbolische Bedeutung hatte. Nur wenige waren wie er aus dem Exil in die Bundesrepublik zurückgekehrt, eine etwas größere Zahl prominenter Namen in die DDR. Als Kortner  nach einem eventuellen Wiederaufleben des Antisemitismus in der Theaterwelt gefragt wurde, antwortete er affirmativ, fügte jedoch hinzu, dies hätte wohl wenig Konsequenzen auf die Betroffenen, denn: »Meines Wissens nach gibt es hierzulande keine jungen jüdischen Schauspieler. Gäbe es sie, wäre ihre Existenz mir sicherlich bekannt. Ja, es gibt hier kaum junge Juden.« Ganz ähnlich sah dies noch  Jahre später der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der aus der Emigration zunächst in die DDR, später in die Bundesrepublik zurückgekehrt war. Als er von einer Fernsehjournalistin gefragt wurde: »Fürchten Sie einen neuen Antisemitismus in der Bundesrepublik?«, antwortete er, dass es unbestreitbar einen neuen Antisemitismus in Deutschland gebe und dass dieser beständig heruntergespielt werde. Er fühle sich an die Endphase der Weimarer Republik erinnert. Dann fügte er jedoch hinzu: »Es gibt kein Problem mehr zwischen ›den Deutschen‹ und ›den Juden‹, denn Juden in Deutschland gibt es nicht.« So klein und unbedeutend war die deutsch-jüdische Gemeinschaft geworden, dass es für den Einen keine jungen Juden, für den Anderen gar keine Juden mehr in Deutschland gab. Natürlich wussten Kortner und Mayer, dass wieder kleine jüdische Gemeinden existierten, aber sie betrachteten diese als eine quantité négligeable. In das gleiche Horn blies der bekannte Publizist Bernt Engelmann in einem äußerst erfolgreichen Buch von , dem er den bezeichnenden Titel Deutschland ohne Juden verlieh. Gewiss, es gab wieder ein bescheidenes jüdisches Leben, und im Bundestag saßen in den er und er Jahren sogar drei jüdische Abgeordnete, doch jüdische Nachbarn hatte kaum jemand, und der Name eines prominenten Juden fiel den meisten Bundesbürgern auf Anhieb ebenso wenig ein.

 Brief Fritz Kortner an Dr. Eleonore Sterling, .., in: Akademie der Künste, Fritz-Kortner-Archiv  (Akademie der Künste Berlin).  Zit. bei Lenhard (), S.  f.  Engelmann ().

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Prüfstein oder Stein des Anstoßes? Die jüdischen Gemeinden, deren Mitgliederzahl insgesamt der Einwohnerzahl einer Kleinstadt wie Gaggenau oder Buxtehude entsprach, hatten allerdings ein bedeutendes symbolisches Gewicht. Für die neu gegründete Bundesrepublik war die Anwesenheit einer noch so kleinen jüdischen Gemeinschaft nichts weniger als ein Willkommensgeschenk, wie es  der damalige Militärgouverneur und spätere Hohe Kommissar John J. McCloy deutlich gemacht hatte: »Was diese Gemeinschaft sein wird, wie sie sich formiert, wie sie ein Teil des neuen Deutschlands wird und sich mit ihm verschmilzt, wird, glaube ich, von der ganzen Welt sehr aufmerksam beobachtet werden. Es wird meiner Ansicht nach einer der wirklichen Prüfsteine für den Fortschritt Deutschlands sein.« Was für McCloy und viele andere aufmerksame Beobachter der sich neu konstituierenden deutschen Nachkriegsgesellschaft »ein Prüfstein für den Fortschritt Deutschlands« darstellte, war für die jüdische Welt ein Stein des Anstoßes. Gemäß der  ausgegebenen Devise des Jüdischen Weltkongresses sollten sich »Juden nie wieder auf der blutgetränkten Erde Deutschlands ansiedeln«. Deutschland blieb für Juden in Israel und in den USA, aber selbst in Frankreich und in der Schweiz über Jahre, ja Jahrzehnte hinweg ein geächtetes, mit einem Bann belegtes Land. Für den bei den amerikanischen Behörden in München akkreditierten israelischen Konsul Chaim Yahil waren sie noch  »eine Quelle der Gefahr für das gesamte jüdische Volk […]. Diejenigen, die von den Fleischtöpfen Deutschlands angelockt werden, dürfen nicht erwarten, daß Israel oder das jüdische Volk ihnen mit Unterstützung für ihre Bequemlichkeit zur Seite stehen.« Und die Jewish Agency verkündete  sogar, wer sich weiterhin in Deutschland aufhalte, sei für sie künftig nicht mehr als Jude zu betrachten und könne nicht mehr mit Unterstützung im Falle einer späteren Immigration nach Israel rechnen. Die Vertreter der in Deutschland lebenden Juden waren sich der Problematik wohl bewusst, dass ihre bloße Existenz symbolhaft überfrach Protokoll der Konferenz »Über die Zukunft der Juden in Deutschland«, S. . Zitiert in Anthony (), S. ; siehe hierzu auch W. E. Süskind: Judenfrage als Prüfstein, in: Süddeutsche Zeitung, .., S. .  Resolutions Adopted by the Second Plenary Assembly of the World Jewish Congress, Montreux, vom . Juni bis . Juli , London , S. . Siehe hierzu ausführlich Diner ().  Chaim Yahil: All Jews Must Leave Germany, in: Jewish Frontier (May ), S. -.  Siehe hierzu Münch ().

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tet war. Der langjährige Generalsekretär des Zentralrats, Hendrik George van Dam, warnte die führenden jüdischen Gemeindevertreter im Dezember  vor einer falschen Einschätzung ihrer Position: »Es soll indessen nicht verkannt werden, daß gerade die Tatsache des Bestehens einer, wenn auch noch so kleinen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, ein gewisses Alibi für die deutsche Demokratie darstellt, einer der Gründe der Kontroversen über die Existenzberechtigung des deutschen Judentums, aber auch ein Anlaß für das Interesse an dieser jüdischen Gruppe, das in keinem Verhältnis zu einer zahlenmäßigen und kulturellen Bedeutung steht. Hieraus ergibt sich, daß die Juden in Deutschland und ihre Vertretung nicht übersehen werden kann, aber auch die Gefahr, der sie sich durch eine falsche Einschätzung der Realität aussetzen.« Nicht ganz so diplomatisch wie der Rechtsanwalt van Dam drückte der Frankfurter Rabbiner Isaac Emil Lichtigfeld diese Kluft zwischen offizieller Funktion und tatsächlicher Perzeption während einer internen Diskussion der Ratsversammlung des Zentralrats  aus. Man dürfe sich doch nicht vormachen, so argumentierte Lichtigfeld, dass all die offiziellen Solidaritätsbekundungen deutscher Politiker aus ihrem Herzen kämen. Vielmehr müsse man unterscheiden zwischen ihrem Bedürfnis, einen Koscherstempel zu erhalten, und der wirklichen Meinung gegenüber den in Deutschland lebenden Juden. Insbesondere warnte Lichtigfeld davor, die Worte der Politiker mit der Meinung des Volkes zu verwechseln, denn es »klafft ein gewaltiger Unterschied zwischen Mitgliedern der Regierung und der sogenannten Masse. Was man mit den Leuten der Spitze besprechen kann, ist etwas anderes, als was man der Masse bieten kann. Ein Beispiel ist die Rede, die [Bundeskanzler] Erhard in Worms gehalten hat, die war so koscher, wie es nur sein konnte. Ich habe damals ehrlich geglaubt, daß das der Ausdruck einer wirklich ehrlichen Gesinnung sei, aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Man darf einem Politiker niemals glauben, und als ich kühler darüber nachgedacht habe, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß ich dieses Mal naiv gewesen bin. Interessant ist eine Bemerkung, die Erhard gemacht hat: Es muß jetzt Gerechtigkeit geschehen und dann muß eine Verneinung erfolgen. Mit anderen Worten, wenn die Prozesse abgewickelt sind, wird das allgemeine deutsche Klima wieder in seine Rechte eingesetzt  Brief H. G. van Dams vom . November  an die Mitglieder des Direktoriums und des Rates, alle Landesverbände und die Gemeinden Berlin, Bremen, Hamburg und Köln betreffs Juden in Deutschland und die Organisationen des Weltjudentums (Ausländische Organisationen), in: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland (ZA), B./..

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[…]. Wir dürfen uns keine Illusionen machen, wie die Masse denkt und Sie wissen, daß ich zu der Frage der Woche der Brüderlichkeit und der christlichen Zusammenarbeit besonders kritisch gestanden habe. Im vergangenen Jahre habe ich im Hessischen Rundfunk über die Woche der Brüderlichkeit gesprochen, ich halte das alles für Bumkum. Wir müssen, wenn wir realistisch sein wollen, uns an diese Dinge gewöhnen. Es gibt eine kleine Minderheit von sehr anständigen Menschen und es gibt eine Minderheit von unanständigen Menschen, und dazwischen eine fluktuierende Masse.« Lichtigfeld unterschied zwischen den offiziellen Ritualen der Woche der Brüderlichkeit und dem, was »die Masse« der Bevölkerung, aber auch ihre Repräsentanten, wirklich dachten. Dabei tauchte auch bei den Funktionären des Zentralrats immer wieder die Frage auf, ob man sich nicht zu sehr vereinnahmen lasse. Das Interesse der Medien an jüdischen Angelegenheiten sei groß, doch bat er die Gemeindevertreter um Zurückhaltung: »Die Häufung der Themen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist ganz unabhängig von der Frage der Qualität bereits kein nützlicher Faktor. Selbst eine sehr positive Darstellung ruft heftige Reaktionen hervor und provoziert zumindest eine Flut von Briefen, deren Abdruck nicht verhindert werden kann. Manche dieser Briefe stellen dann eine üble antisemitische Propaganda dar. Schließlich wirkt die Überladung von Fernsehprogrammen und die Häufung bestimmter Publikationen in einer Richtung, die alles andere als positiv zu betrachten ist.« Für van Dam und seine Kollegen war es wichtig, die Funktionen als öffentliche Vertreter jüdischen Lebens zu kontrollieren und damit genau zu regeln, was der Historiker Anthony Kauders als »Gabentausch« bezeichnete: »Denn was in der Sprache von Galinski, van Dam oder Nachmann zum Ausdruck kam, war die Vorstellung, die Juden seien als ›Geschenk‹ an die Deutschen zu verstehen: Sie gaben in ihren Augen dem Land demokratische Legitimität sowie internationale Anerkennung, und im Gegenzug erwarteten sie die Würdigung ihres Engagements sowie Teilhabe am politischen Geschehen.«  Protokoll der Ratsversammlung des Zentralrates am . und . März  im Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde in Hannover, in: ZA, B./. , - S.  f.  Vertraulicher Brief von H. G. van Dam vom . April  an die Mitglieder des Direktoriums und des Verwaltungsrats sowie an die Mitgliederverbände des Zentralrats, in: Korrespondenz der Jüdischen Gemeinde Frankfurt mit dem Zentralrat, ZA, B. /. . --, S.  f.  Goschler/Kauders (), S. . Dazu auch Kauders ().

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Die Repräsentanten des jüdischen Lebens halfen nicht nur durch ihre bloße Anwesenheit, sondern auch durch öffentliches Handeln, Deutschland wieder zu seiner demokratischen Legitimität und internationalen Anerkennung zu verhelfen. In den er Jahren etwa entsandte das Außenministerium den Herausgeber der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung, Karl Marx, nach Südamerika, um die Wogen zu glätten, nachdem Staatssekretär Hans Globke aufgrund seiner Vergangenheit als Kommentator der Nürnberger Gesetze seine geplante Reise hatte absagen müssen und diplomatische Irritationen zwischen der Bundesrepublik und einigen Staaten der Region entstanden waren. Als sich München um die Austragung der Olympischen Spiele  bewarb, hatte die im Ausland werbende Stimme des aus Israel zurückgekehrten Bankiers Walter Feuchtwanger, der den Wandel der ehemaligen »Hauptstadt der Bewegung« betonte, besonders großes Gewicht. Die bloße Anwesenheit der Juden erfüllte bereits eine wichtige Funktion in der Bonner Republik. Sie bewiesen dadurch, dass sie dem neuen Deutschland Vertrauen entgegenbrachten. Die Unterstützung deutscher Belange gegenüber einem noch immer skeptischen Ausland durch offizielle Repräsentanten des jüdischen Lebens wie Karl Marx oder Werner Nachmann trug aktiv zur Verbesserung des internationalen Ansehens in Deutschland bei. Ein mindestens ebenso wichtiges Signal sandte die aktive Beteiligung jüdischer Politiker. Im Gegensatz zu der größeren Zahl von Politikern jüdischer Herkunft, die als Kommunisten in die DDR zurückkehrten, beteiligten sich im Westen Deutschlands nur wenige Juden am politischen Leben. Im Bundestag waren mit Jakob Altmaier, Peter Blachstein und Jeanette Wolff, die auch in der Berliner Gemeinde aktiv war, während der er und er Jahre drei jüdische Abgeordnete vertreten, die alle der SPD angehörten, danach keine mehr. Der nordrhein-westfälische Justizminister Josef Neuberger (-) war gleichzeitig Direktoriumsmitglied des Zentralrats. Mit Herbert Weichmann hatte Hamburg von  bis  einen jüdischen Ersten Bürgermeister. Eine Initiative Ende der er Jahre, George Hendrik van Dam als sozialdemokratischen Abgeordneten in den Bundestag zu entsenden, scheiterte daran, dass er dann sein Amt als Generalsekretär des Zentralrats hätte aufgeben müssen. Willy Brandt unterstrich in einem Schreiben an Annemarie Renger, dass er als Ge Bericht von Karl Marx an Ministerialdirigent Dr. Janz vom . November , in: BA Berlin, B /.  Specht (), S. .

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neralsekretär eine für die deutsche Politik wichtigere Funktion erfülle, als er dies in seiner Funktion als einfacher Bundestagsabgeordneter tun könnte. Wenige Jahre später setzte sich van Dam gegenüber Willy Brandt dafür ein, dass die dem Direktorium des Zentralrats der Juden angehörende Jeanette Wolff trotz ihres fortgeschrittenen Alters wieder als SPD-Kandidatin für den Bundestag, dem sie bis  angehört hatte, aufgestellt werden würde, denn: »Es macht in der öffentlichen Meinung, auch vor allem des Auslands einen guten Eindruck, daß eine Bundestagsabgeordnete, die seit Jahrzehnten sich mit Fragen der deutschen Politik befaßt, dem Zentralrat angehört.« Wolff zog nicht mehr in den Bundestag ein, blieb aber bis zu ihrem Tod  stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden. Nach dem Ausscheiden Peter Blachsteins im Jahr  gab es keine jüdischen Bundestagsabgeordneten mehr. Das politische Engagement der Juden beschränkte sich seit den er Jahren weitgehend auf die kommunale Ebene und blieb auch hier äußerst überschaubar. Den Zentralratsvorsitzenden fiel dagegen im öffentlichen Diskurs eine immer wichtigere Rolle zu. Während der Kanzlerschaft von Willy Brandt bot der Zentralratsvorsitzende Werner Nachmann an, er würde »persönlich die Reaktion der demokratischen Parteien sowie der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland« auf die antisemitischen Tendenzen erläutern, »um das zur Zeit wieder modern gewordene Bild des ›bösen Deutschen‹« richtigzustellen – ein Angebot, das Brandt gerne annahm. Und bei der ersten zentralen Gedenkveranstaltung an die Geschehnisse vom . November , bei der  mit Helmut Schmidt ein Bundeskanzler sprach, betonte Nachmann: »Mit Genugtuung und nicht ohne Stolz registrieren wir, daß unsere Präsenz und unsere Mitarbeit in Deutschland und unsere Tätigkeit als Botschafter ohne Auftrag im Ausland – auch – dazu beigetragen haben, das Mißtrauen gegen Deutschland und die junge deutsche Demokratie abzubauen und die durch die Erfahrung begründete Furcht in Zutrauen umzuwandeln.«  Willy Brandt an Annemarie Renger, .., in: AdsD, WBA, A  (Alte Signatur), Allgemeine Korrespondenz, N-Z.  George Hendrik van Dam an Willy Brandt, ... Korrespondenz mit Direktoriumsmitgliedern, in: ZA, B./..  Lange ().  Nachmann an Brandt, .., in: BA Koblenz, B /.  »Bekenntnis zum Miteinander: Die zentrale Veranstaltung zum . November«, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, . November , S. -.

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Wiedervereinigung: Triumph oder Trauer? Ein Jahrzehnt später sollte ausgerechnet der . November, der in der deutschen Geschichte schon für zahlreiche andere historische Ereignisse stand, durch den Mauerfall überstrahlt werden. Die bevorstehende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stieß aber nicht nur bei Deutschlands Nachbarn, sondern auch in der jüdischen Welt auf Skepsis. Würde ein wiedererstarktes Deutschland erneut zu einer potenziellen Bedrohung werden? Unter der Überschrift »Zittern« brachte am . November  die Zeitung Jedioth Achronot die Ängste der israelischen Leser zum Ausdruck: »Es bringt uns zum Schauern, all die fröhlichen Deutschen mit ihren Fahnen und Hüten zu sehen. Wir zittern, wenn wir sie über Einheit und ›zusammen‹ und über die Zukunft sprechen hören. Und es ist wirklich erschütternd, daran zu denken, was passieren kann nach dem, was bereits geschehen ist.« Ein anderes Blatt, Ma’ariv, machte die israelischen Befürchtungen noch deutlicher, als es konstatierte: »Das jüdische Volk hat sechs Millionen Gründe, sich einer Wiedervereinigung entschlossen zu widersetzen.« Der Sprecher der Knesset, der Holocaustüberlebende Dov Shilansky, drückte die Linie der damaligen israelischen Regierung aus: »Wenn die Deutschen heute feiern, sollte das jüdische Volk in Säcken gehen, sich Asche auf den Kopf streuen und Grabgesänge zitieren.« Hier war der Zentralrat der Juden gefragt, die Kritiker der Wiedervereinigung im Ausland und vor allem in Israel zu besänftigen. Allerdings war nun der Vorsitzende des Zentralrats nicht mehr der stets zu Freundschaftsdiensten gegenüber der Regierung bereite Werner Nachmann, sondern der einen eigenständigeren Kurs verfolgende stetige Mahner und Auschwitz-Überlebende Heinz Galinski. Als überzeugter Antikommunist trauerte Galinski der DDR zwar keine Träne nach, doch kritisierte er, wie sich der damalige Berliner Regierende Bürgermeister Walter Momper erinnerte, dass in der Präambel des Einigungsvertrags ein »ausdrückliches Bekenntnis Deutschlands zur nationalsozialistischen Vergangenheit und zur Massenvernichtung der Juden« fehlte. Zudem stellte er klar, dass der . November  den . November  nicht aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängen sollte.

 Zit. bei Hestermann ().  Momper (), S. .  Allgemeine jüdische Wochenzeitung, .., S. .

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Die fremdenfeindlichen und rassistischen Ereignisse in Rostock, Hoyerswerda und anderswo in den Jahren unmittelbar nach der Wiedervereinigung schienen die Befürchtungen auf jüdischer Seite zu bestätigen. Dabei schien es insbesondere im Osten noch einigen Nachholbedarf zu geben. Als der neue Zentralratsvorsitzende Ignatz Bubis vor Ort gegen die Krawalle in Rostock-Lichtenhagen protestierte, konfrontierte ihn ein lokaler Bürgerschaftsabgeordneter mit der Behauptung, dass trotz seiner deutschen Staatsbürgerschaft doch Israel und nicht Deutschland seine Heimat sei. Angesichts der wachsenden Fremdenfeindlichkeit und des im Ausland wieder grassierenden Bildes vom »hässlichen Deutschen« diente der Umgang mit den Juden einmal mehr als Prüfstein der deutschen Demokratie. Und während die Bilder brennender Ausländerunterkünfte um die Welt gingen, strömten jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion über die deutsche Grenze. Die Bundesregierung hatte sich mit der Zustimmung aller im Bundestag vertretenen Parteien dazu entschlossen, die Einwanderung russisch-jüdischer Flüchtlinge als sogenannte »Kontingentflüchtlinge« zu befürworten. Es gehörte zu den Grundsätzen deutscher Politik nach , Juden, die an Deutschlands Tore klopften, nicht abzuweisen. So hatten auch in dieser Stunde der Furcht vor einem wiedererwachenden deutschen Nationalismus und der Zunahme der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland die offiziellen Stimmen der Juden ein weitaus größeres Gewicht, als es ihrer zahlenmäßigen Bedeutung zugekommen wäre. Während sie dem wiedervereinigten Deutschland einen Koscherstempel nur mit Auflagen erteilten, sprachen die Zahlen der nach Deutschland immigrierenden Juden für sich. Sie waren der beste Beweis dafür, dass Deutschland in der jüdischen Welt wieder seinen festen Platz eingenommen hatte.

Wiederkehr jüdischen Lebens oder Wiedergeburt des Antisemitismus? Berlin wurde nun die heimliche jüdische Hauptstadt Europas, mit einem Büro des World Jewish Congress, mit Zehntausenden jüdischen Zuwanderern zunächst aus der ehemaligen Sowjetunion, etwas später dann aus Israel, mit echten und pseudojüdischen Spezialitätenrestaurants und israelischen Falafelbuden, mit zwei Rabbinerseminaren und mehreren  Jüdische Allgemeine, ...

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neuen Synagogen, einem international bekannten Jüdischen Museum, dem größten Holocaust-Mahnmal Europas, zahlreichen Klezmerbands, einem neuen Zentrum für Jüdische Studien und einem jüdischen Buchladen. Dass die offizielle Gemeinde mit zunehmender Vielfalt an Mitgliedern verlor und eher wegen Skandalen und undurchsichtiger Wahlauszählungen für Schlagzeilen sorgte, spielte dabei eigentlich keine Rolle. Die wiedererrichtete Kuppel über dem Vorbau der ehemaligen Synagoge in der Oranienburger Straße strahlt golden nach außen und wurde neben dem Fernsehturm am Alexanderplatz, dem Dom und der Reichstagskuppel zu einem neuen Symbol der alt-neuen deutschen Hauptstadt. Dass die eigentliche Synagoge dahinter nicht aufgebaut wurde, kümmert dabei wenig; wichtig ist das Signal nach außen, weniger wichtig die Substanz im Innern. Um diese Substanz aufzubauen, bedurfte es staatlicher Unterstützung, denn wie anders sollte eine noch von den Folgen des Holocaust gezeichnete Gruppe von   Menschen innerhalb weniger Jahre viermal so viele Zuwanderer absorbieren? Man stelle sich nur einmal vor, innerhalb eines Jahrzehnts wären  Millionen Menschen in die Bundesrepublik eingewandert. Mit der Unterzeichnung des ersten Staatsvertrags zwischen der Bundesrepublik und dem Zentralrat der Juden im Jahr  durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Präsidenten des Zentralrats Paul Spiegel erkannten die politischen Gremien die durch die Einwanderungswelle veränderte Situation offiziell an und sicherten eine »kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit« zu. Weiter heißt es in dem Dokument: »Die Bundesregierung wird zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Auf bau einer jüdischen Gemeinschaft und zu den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland beitragen.« Außenminister Joschka Fischer versicherte den auch ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung noch immer skeptischen Beobachtern in ähnlichen Worten, wie sie General McCloy ein halbes Jahrhundert vorher formuliert hatte: »Eine wichtige Messlatte für eine offene und tolerante Gesellschaft ist die Existenz jüdischer Gemeinden in Deutschland. Die Frage, ob Juden sich in unserem Land sicher fühlen, betrifft die wesentliche Frage der Glaubwürdigkeit unserer Demokratie.«  https://www.gesetze-im-internet.de/zjdvtr/BJNR.html (..).  Rede des Bundesaußenministers Joschka Fischer bei einer Konferenz der AntiDefamation League über Global Anti-Semitism, New York, .., zit. bei Gardner Feldman (), S. .

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Siebzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik ist aber gar nicht mehr so sicher, ob die Messlatte nicht doch ein wenig zu hoch für die bundesdeutsche Gesellschaft hängt und ob der vielzitierte Prüfstein sich tatsächlich bewährt hat. Die Erfolge der AfD, die in manchen Teilen Ostdeutschlands zur stärksten Partei avancieren konnte, die verbale und körperliche Gewalt gegen als solche erkennbare Juden, die Notwendigkeit der Ernennung eines Beauftragten gegen Antisemitismus und dessen entmutigende Aussage, er könne das Tragen einer Kippa in manchen Gegenden nicht empfehlen, weisen in eine Richtung, die noch zur Jahrtausendwende niemand hätte vorhersehen können. Schlagzeilen zu den Themen Israel, jüdisches Leben und Antisemitismus gehören weiterhin zum fast täglichen Ritual der deutschen Medienlandschaft, auch wenn der Anteil der jüdischen Staatsbürger nur etwa , Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung ausmacht. Viele von ihnen wollen eigentlich nur in Ruhe gelassen werden und nicht dauernd im medialen Rummel stehen. Sie wollen weder als Prüfstein noch als Messlatte dienen, sondern selbstverständlich in Deutschland leben. Doch die Hoffnung, die der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Salomon Korn,  geäußert hatte, scheint auch heute noch in ferner Zukunft zu liegen: »Politische Bedeutung nimmt ab, je mehr Zeit vergeht, was auch für den Aufmerksamkeitswert gilt. Aber es wäre an sich kein schlechtes Zeichen, wenn die Umwelt die jüdische Gemeinschaft als völlig normale gesellschaftliche Gruppe wahrnähme, die eine eigene Geschichte, eine eigene Identität und eigene kulturelle Wurzeln hat. Wenn also Normalität darauf hinausliefe, Juden als normale Bevölkerungsgruppe zu empfinden, die selbstverständlicher Teil der Gesellschaft ist, dann wäre ein Verlust an öffentlicher Aufmerksamkeit durchaus begrüßenswert.«

 »Ich begrüße die Debatte über deutschen Patriotismus«, in: Süddeutsche Zeitung, .., https://www.sueddeutsche.de/politik/interview-mit-salomonkorn-leitkultur-ist-nah-dran-an-kulturdiktatur-.- (..).

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Demokratisierung der Gesellschaft

Das Schweigen der Elite Der Fall Hofstätter und die »Bewältigung« der NS-Vergangenheit  T F / M T

Am . Juni  erschien im Feuilleton der Zeit ein Beitrag, dessen Überschrift »Bewältigte Vergangenheit?« an Theodor W. Adornos berühmt gewordenen Vortrag »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« von  erinnern mochte. Auch der Schlusssatz hätte, für sich betrachtet, nahelegen können, der Verfasser wende sich gegen das populäre Bedürfnis nach einem Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: »Uns aber geziemt ein Bekenntnis zur unbewältigbaren Vergangenheit.« Tatsächlich jedoch plädierte der Verfasser Peter R. Hofstätter, Direktor des Psychologischen Instituts an der Universität Hamburg, für etwas ganz anderes, nämlich für den Verzicht auf die strafrechtliche Ahndung von NS-Verbrechen. Selbst wenn der inzwischen -jährige Adolf Hitler lebend entdeckt und verurteilt würde, wäre »bestenfalls eine Gerichtsakte« bewältigt, meinte Hofstätter. Man müsse sich eingestehen, dass »angesichts von Ereignissen weltgeschichtlicher Dimension die Maßstäbe und die Möglichkeiten jeder irdischen Gerechtigkeit seltsam inadäquat« seien und durch die Verurteilung von NS-Tätern der »Gedanke an Auschwitz« nicht leichter werde. Diese hätten sich einem »Begriff des Soldatentums verschrieben«, der »uns heute unannehmbar erscheint«, doch müsse man sich angesichts der immer weiter perfektionierten Möglichkeiten der Massenvernichtung fragen, so Hofstätter, ob man »noch moralisch zur Strafverfolgung der Täter in den Uniformen des Dritten Reiches legitimiert« sei. Darin komme die »Tragik eines Jahrhunderts« zum Ausdruck, »in dem die Tat-Möglichkeiten des Menschen unendlich viel weiter reichen als die seiner persönlichen Haftung«. Die Feuilleton-Redaktion der Zeit hatte der Intervention des Psychologen eine gewundene Anmerkung vorangestellt, in der sie erklärte, sich Hofstätters Thesen nicht zu eigen zu machen; aber »daß seine Fragen gestellt werden – das scheint uns wichtig.« Zugleich erklärte sie prophylak Adorno ().  Peter R. Hofstätter: Bewältigte Vergangenheit?, in: Die Zeit, ...

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tisch mögliche Kritik für gegenstandslos, sei der Artikel doch »von der Art«, bei der erfahrungsgemäß »einzelne Sätze« aus dem Zusammenhang gerissen und dann »empört abgelehnt« oder »mit Beifall von der falschen Seite begrüßt« würden. In der Tat schlug der »Fall Hofstätter«, der seinen Anfang mit diesem Zeit-Artikel nahm, nun für sechs Monate hohe Wellen weit über Hamburg hinaus. Die Debatte mag rückblickend als Sturm im Wasserglas erscheinen, sie illustriert aber, wie offen die Frage nach dem richtigen Umgang mit der »jüngsten Vergangenheit« zu diesem Zeitpunkt noch war. Fünf Jahre nach der Einrichtung der »Zentralen Stelle« in Ludwigsburg und zwei Jahre nach dem Eichmann-Prozess war, wie sich zeigte, noch längst kein Konsens darüber erreicht, dass die strafrechtliche Ahndung der NS-Verbrechen das Gebot der Stunde sei.

Peter R. Hofstätter und die NS-Vergangenheit Peter R. Hofstätter,  in Wien geboren und seit  Ordinarius in Hamburg, war kein skurriler Außenseiter, sondern zählte zu den meistgelesenen deutschsprachigen Psychologen. Das von ihm verfasste Fischer-Lexikon zur Psychologie erreichte zwischen  und  eine Druckauflage von fast   Exemplaren. Dass Hofstätter nicht viel von einer Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hielt, hätte bekannt sein können. In seiner  veröffentlichten Einführung in die Gruppendynamik – bis  in über   Druckexemplaren aufgelegt – rechnete er beiläufig mit »gewissen politischen Prozessen der ersten Nachkriegsjahre« ab, in denen er eine »juridisch verbrämte Rache einer Gruppe an einer anderen« und eine »Verfolgung von Außenseitern« erkennen wollte. Unausgesprochen blieb dabei, dass er selbst zu jener »sehr wenig kohärente[n] Gruppe« der »Parteigenossen« zählte, deren »unterschiedslose Verfemung« in der frühen Nachkriegszeit er beklagte. Das berühmte Gruppenexperiment des Frankfurter Instituts für Sozialforschung bezeichnete Hofstätter mokant als »Aufforderung zur echten Seelenzerknirschung«. Die Frage nach dem Fortwirken antidemokratischer

 Eine Zusammenfassung der Debatte findet sich bei Bergmann (), S. -.  Siehe zu Hofstätters Biografie ausführlich Lorent () sowie zu seiner wissenschaftlichen Lauf bahn knapp Benetka ().  Hofstätter (a), S. , , im Original Anführungszeichen um »Parteigenossen«.

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autoritärer Denkweisen in der Bundesrepublik, der die Studie nachging, hielt er schlicht für überflüssig. Als ewiggestrig oder politisch belastet galt Hofstätter nicht, denn ihm war eine akademische Karriere im Dritten Reich verwehrt geblieben. Die Universität Wien hatte ihn zwar  habilitiert, ihm aber die Lehrbefugnis verweigert. Ausschlaggebend hierfür waren Bedenken der Gutachter Gunther Ipsen und Arnold Gehlen hinsichtlich Hofstätters weltanschaulicher Festigkeit, da sich dieser vor dem »Anschluss« gelegentlich positiv über die Freud’sche Psychoanalyse geäußert hatte und eine Vorliebe für statistische Methoden hegte, die nach Ansicht des völkischen Soziologen Ipsen dem »deutschen Geist« widersprachen. Auch dass die wehrmachtspsychologische Dienststelle in Berlin, an der Hofstätter tätig war, ihm attestierte, »jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat« einzutreten, half nicht weiter. Ein erneuter Versuch, die Venia Legendi zu erhalten, scheiterte  in Berlin, und dies, obwohl Hofstätter unterdessen in einem Aufsatz über die »Krise der Psychologie« deren Charakter als »undeutsche Wissenschaft« nach der jetzt erfolgten »Ausschaltung des Judentums aus dem deutschen Geistesleben« als überwunden bezeichnet hatte. Seiner Profession dachte er nunmehr eine wichtige Aufgabe im »Lebensgefüge unseres Volkes« zu, wenn sie »aus dem Geiste des Nationalsozialismus« institutionalisiert werde: »Es ist bestes deutsches Brauchtum, daß die Seelsorge Vorrecht und Verpflichtung des Führers ist!« Seine Lehrbefugnis erhielt der ehemalige Parteigenosse Hofstätter nach Kriegsende erst nach einer dreijährigen Frist von der Universität Graz. Was Hofstätter im Sommer  bewog, seine vergangenheitspolitischen Kommentare vor der westdeutschen Öffentlichkeit auszubreiten und sich in die Schar derer einzureihen, die sich für Amnestie aussprachen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Unklar bleibt auch das Motiv der Zeit-Redaktion, Hofstätters Artikel zum Druck anzunehmen. Verantwortlich hierfür war Feuilleton-Chef Rudolf Walter Leonhardt, der zu den die Liberalisierung der Zeit mittragenden »ern« in der Redaktion zählte und der Gruppe  nahestand, sich aber  auch für den ehemaligen HJ-Barden Hans Baumann einsetzte, der nach  als     

Hofstätter (b), hier zit. nach Wiggershaus (), S. . Lorent (), S. ; Benetka (), S. -. Lorent (), S. . Hofstätter (), S.  f., , . Zu den Debatten der er Jahre vgl. Miquel ().

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Jugendbuchautor reüssiert hatte. Einige Wochen später rechtfertigte Leonhardt den Abdruck des offenbar zuvor von einer Rundfunkanstalt abgelehnten Hofstätter-Textes, indem er sich zum Verfechter der Meinungsfreiheit in der Tradition Voltaires stilisierte. Nur eine Woche nach Erscheinen des ersten Beitrags kam Hofstätter erneut in der Zeit zu Wort, nun ohne distanzierende Vorbemerkung der Redaktion. Jetzt sprach er sich dagegen aus, den Nationalsozialismus im Schulunterricht zu behandeln. Eine Demokratie, so machte Hofstätter geltend, bedürfe eines »ruhigen Blickes auf historische Ereignisse, an denen wir nicht mehr emotional engagiert sind«, weshalb Hitler »für uns Deutsche« kein »legitimer Gegenstand der Geschichte« sei. Vor den Augen der Zeit-Leserschaft fand Hofstätter mit seinen Thesen wenig Gnade. In den Leserbriefen, die in den folgenden Ausgaben abgedruckt wurden, erntete der Autor vor allem Widerspruch. Saul B. Robinsohn, Direktor des Hamburger UNESCO-Instituts für Pädagogik, hielt ihm entgegen, es gehe bei der zugegeben unglücklich betitelten »Bewältigung« von Vergangenheit nicht um »die chronologische Vergangenheit«, sondern um die »historische Vergangenheit, die Bestandteil unserer Gegenwart ist, mit der wir leben und uns auseinanderzusetzen haben«. Hofstätter ziele darauf, Massenvernichtungen von den Formen normaler Rechtsprechung auszunehmen. »Wieviel Menschen, Herr Hofstätter«, fragte Robinsohn, »muß ein ›politischer‹ Massenmörder zu Tode gebracht haben, um Anspruch auf die Amnestie zu haben, die Sie befürworten?« Einige Leserbriefschreiber teilten zwar Hofstätters Zweifel an Begriff und Konzept der »Bewältigung«, doch dessen Absage an eine justizielle Ahndung von NS-Verbrechen stieß überwiegend auf Ablehnung. Die aufsehenerregenden Artikel Hofstätters veranlassten den Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD), den Autor zu einer Diskussionsveranstaltung einzuladen, die am . Juli in Hamburg stattfand. An der Vorbereitung beteiligt waren der jüdische Maler und Kunstpädagoge Arie Goral, Dozent am Sozialpädagogischen Institut der Schul Hodenberg (), S. -, .  Rudolf Walter Leonhardt: Der Fall Hofstätter, in: Die Zeit, ...  Peter R. Hofstätter: Was verspricht man sich vom Schulfach Zeitgeschichte?, in: Die Zeit, ...  Die Zeit, .., Leserbriefe.  Die Studentenzeitung des Hamburger LSD hatte bereits Hofstätters Zeit-Artikel kritisch kommentiert; Hans Kirchmann: Es stank zum Himmel, es wird weiter stinken, in: Mobile Nr. , Sommersemester , S.  f.

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behörde, sowie der SPD-Bezirksabgeordnete Walter Hähnel, Präparator am Geologischen Institut Hamburg. Goral war  aus Deutschland geflohen und  in seine Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt, Hähnel hatte als Sozialist im Dritten Reich fast ein Jahr in KZ-Haft verbracht. Vor rund sechzig Zuhörern in der Mensa der Universität zitierte Hofstätter zunächst aus den Kriegsgesetzen im . Buch Mose des Alten Testaments und legte dar, dass auch die Juden ihren Feinden mit wenig Toleranz begegneten. Weiter erklärte er, einem Bericht der Stuttgarter Zeitung zufolge, »daß die Ausrottung der Juden im juristischen Sinne gar kein Mord gewesen sei. Hitler und der nationalsozialistische Staat habe den Juden quasi den Krieg erklärt«. Die Debatte eskalierte schließlich, als Goral und Hähnel Hofstätter scharf angingen und dieser daraufhin Hähnel beschied, er rede Unsinn, und Goral als »Quatschkopf« bezeichnete. Viele Zuhörer verließen den Saal, die Veranstaltung endete im Tumult.

»Warum schweigt Deutschlands Elite?« Zunächst berichtete nur das SPD-nahe Hamburger Echo vom Verlauf des Diskussionsabends und von Hofstätters Äußerungen. Erst nachdem Arie Goral und Walther Hähnel gegen Hofstätter Anzeige wegen Verunglimpfung von Opfern des NS-Regimes erstattet hatten, nahmen weitere Zeitungen Notiz von dem Skandal. Einen der Artikel im Hamburger Echo hatte der Leiter der Pressestelle des Hamburger Senats Erich Lüth beigesteuert, der der Diskussion in der Mensa beigewohnt hatte. Lüth, der vor allem für seinen Boykottaufruf gegen neue Kinofilme des Jud Süß-Regisseurs Veit Harlan bekannt geworden war, wandte sich auch an die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland (AWJD) und rekapitulierte den Disput: »Auf meine Frage, wie Hofstätter es vor dem Gesetz verantworten könne, private Mörder und kleine Verbrecher zu verfolgen, die Massenmörder von Auschwitz jedoch ungeschoren zu lassen, erklärte Hofstätter: Für Hitler habe ein Kriegszustand gegenüber den Juden bestanden. Zwar erkenne er die Doktrin des Dritten Reiches  »Hamburger Professor verunglimpft NS-Opfer«, in: Stuttgarter Zeitung, ...  »Skandal in der Mensa«, in: Hamburger Echo, ...  Ebd.; Erich Lüth: Kriegsrecht für Hitlers Massenmorde?, in: Hamburger Echo, ...  Bergmann (), S. .  Henne/Riedlinger ().

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nicht an, doch sei es während des Nazi-Regimes eben so gewesen.« Lüth informierte zudem die Wiener Library in London, die in der Oktoberausgabe ihres Bulletins über Hofstätters Thesen berichtete. Womöglich wäre der »Fall Hofstätter« in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit schnell versandet, hätte nicht der Herausgeber der AWJD auf der Titelseite seiner Zeitung über Hofstätters Äußerungen berichtet und diesen der »Geschichtsfälschungen« geziehen. »Warum schweigt Deutschlands Elite?«, fragte Karl Marx in ungewöhnlich scharfer Form, war er doch üblicherweise bemüht, skeptischen jüdischen Beobachtern im Ausland ein positives Bild von der Entwicklung der zweiten deutschen Demokratie zu vermitteln. »Nicht als Juden nehmen wir von diesen Dingen Kenntnis«, erklärte Marx, »sondern als diejenigen, die die Hoffnung nicht aufgeben wollen, daß es doch noch gelingt, eine starke Demokratie in Deutschland zu schaffen.« Nicht nur die jüdische Allgemeine Wochenzeitung ging hart mit Hofstätter ins Gericht. Die Stuttgarter Zeitung zeigte sich besorgt darüber, dass jemand wie Hofstätter den Lehrernachwuchs unterrichte; der Mannheimer Morgen spottete über dessen »›Im-Dutzend-billiger‹Theorie« des Massenmords, schätzte die Aussichten für die Eröffnung eines Strafverfahrens jedoch als gering ein – was sich kurz darauf bestätigen sollte. Aber es gab auch Unterstützung für Hofstätter. In der Welt schrieb Gerhard Mauz, später langjähriger Gerichtsreporter beim Spiegel, Hofstätter mache im Gespräch klarer als schriftlich, dass er die NS-Prozesse vor allem als »Versuchung für die Deutschen« sehe, »sich selbst auf Kosten einzelner zu entlasten«. Hofstätter könne »unmöglich ein Faschist und Antisemit, ein Anwalt autoritärer Systeme und ihrer Verbrechen sein«. Und doch rolle nun eine »Lawine« gegen ihn, ausgelöst von der sonst »um Objektivität und Sorgfalt« bemühten Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland.  Erich Lüth an Chefredaktion der »Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland«, .. (Durchschlag), in: Staatsarchiv Hamburg (StaHH) - VI  (Akte der Pressestelle zum Fall Hofstätter).  Teaching Contemporary History, in: The Wiener Library Bulletin  (), Nr. , S. .  Karl Marx: Die Demokratie stärken! Warum schweigt Deutschlands Elite?, in: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, ..; zu Marx siehe Brenner (), S. , , sowie ausführlich Sinn ().  »Es war Mord«, in: Stuttgarter Zeitung, ..; Gert Kistenmacher: Hofstätters schiefe Theorien, in: Mannheimer Morgen, ..; »Anzeige gegen Professor Hofstätter abgewiesen«, in: Stuttgarter Zeitung, ...  Gerhard Mauz: Bewältigte Vergangenheit – gibt es das?, in: Die Welt, ...

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Eine ähnliche Tonlage schlug in der Zeit Rudolf Walter Leonhardt an. Er unterstrich erneut, dass sich sein Blatt keineswegs die Haltung des Autors zu eigen gemacht habe, um dann aber – offenkundig von Hofstätter selbst informiert – diesem angesichts der »Hexenjagd«, der er ausgesetzt sei, zur Seite zu springen. Leonhardt nahm Hofstätter – »ein unverkennbar österreichischer, liebenswerter, höflicher, gelehrter Mann« – gegen die von einem Leserbriefschreiber gebrauchte Bezeichnung »Nazi« in Schutz, übernahm aber indirekt dessen Titulierung Arie Gorals als »Quatschkopf« und bezeichnete diesen seinerseits als einen der »Hysterie Vorschub« leistenden »Erzfeind« Hofstätters. Was Hofstätter in der Hamburger Mensa tatsächlich gesagt hatte, sei nicht mehr genau ermittelbar, doch sei es ausgeschlossen, dass er den Mord an den Juden als Kriegshandlung habe begreifen und entschuldigen wollen. Selbst dafür, dass Hofstätter inzwischen Gerhard Freys rechtsradikaler Deutscher National-Zeitung und Soldaten-Zeitung ein Interview gegeben hatte, konnte Leonhardt Verständnis aufbringen. Immerhin habe er, ganz »pressefreundlich«, auch Vertreter des Spiegel, einer israelischen Wochenschrift und andere Journalisten empfangen. Das war eine erstaunliche Begründung für das in der National-Zeitung abgedruckte Gespräch, in dem Hofstätter nicht nur seine Forderung nach Generalamnestie erneuerte, sondern auch noch den Völkermord an den Juden unter Verweis auf Massenmorde relativierte, die nach  – etwa in Indien und Pakistan – geschehen seien und »denen der Judentötung nicht nachstehen«. Der Psychologe erläuterte auch, dass Hakenkreuzschmierereien als Resultat eines »außer Kontrolle« geratenen Prozesses der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu interpretieren seien. Unterdessen erschien in der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland eine Auswahl von Leserbriefen, die als Reaktion auf Karl Marx’ Appell an »Deutschlands Elite«, gegen Hofstätter Position zu beziehen, eingegangen waren. Abgedruckt wurden vor allem Zuschriften von teils ranghohen Militärs, darunter die Parade-Reformer im Offizierskorps der Bundeswehr Wolf Graf von Baudissin und Johann Adolf Graf von Kielmansegg, die sich scharf gegen die Interpretation der Ermor Rudolf Walter Leonhardt: Der Fall Hofstätter, in: Die Zeit, ...  »Was ist überhaupt noch übrig von unserer Rechtsstaatlichkeit?« NZ-Gespräch mit Professor Hofstätter, in: Deutsche National-Zeitung und Soldaten-Zeitung, ...  Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, ...  Kielmansegg teilte Karl Marx später auch sein Entsetzen über Leonhardts Hofstätter-Apologie mit: Marx an Lüth, .., in: StaHH - VI .

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dung der Juden als Kriegshandlung wandten. Es war nicht verwunderlich, dass sie dabei das Bild einer »sauberen Wehrmacht« und die »Ehre des anständigen Soldaten« in Anschlag brachten. Die Stellungnahme der Generale machte aber auch deutlich, wie laut die übrige »Elite« in der Bundesrepublik angesichts der Äußerungen Hofstätters weiterhin schwieg. Insbesondere aus der Politik war keine Reaktion zu vernehmen. Lediglich der Hamburger FDP-Bundestagsabgeordnete Willy Max Rademacher kritisierte Hofstätter auf einer weiteren Diskussionsveranstaltung des LSD öffentlich. Klare Worte fand in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Politikwissenschaftler und Journalist Dolf Sternberger. Hofstätter strebe offenbar danach, einen mühsam errungenen politischen Konsens wieder in Frage zu stellen. Das Strafrecht sei zwar »eigentümlich ohnmächtig gegenüber den organisierten Monstrositäten Hitlers und Himmlers«, doch würde ein Rechtsstaat zum Gespött, wenn er Einzeltaten verurteile, aber Massenmörder laufen ließe. Nicht »absolute Gerechtigkeit« sei das Ziel, sondern eine »menschenmögliche« – und, so gut es eben gehe, die Befreiung von dem Gefühl, mit den Mördern zusammenleben zu müssen. Auch einem Professor, so schloss Sternberger, sei die Freiheit zuzugestehen, »Unsinn zu reden«; aber mit der Behauptung, die Judenvernichtung sei eine Art von Kriegshandlung gewesen, werde »der Unsinn beleidigend« – nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Soldaten und die Wissenschaft.

»Hexenjagd« Dass Rudolf Walter Leonhardt in seiner Verteidigung Hofstätters darauf insistierte, dieser könne nicht gesagt haben, was man ihm unterstellte, veranlasste wiederum Erich Lüth zu einem Brief, in dem er als Zeuge der Diskussion genau dies noch einmal bestätigte. Der Feuilleton-Chef der Zeit antwortete, er habe Hofstätter allein gegen die Art und Weise der Kritik in Schutz nehmen wollen, und verstieg sich zu der Aussage, er habe »Hexenjagden nicht mitgemacht, als sie gegen Juden gingen«,  »Hofstätter hat den Judenmord bagatellisiert«, in: Hamburger Echo, ...  Dolf Sternberger: Die Freiheit, Unsinn zu reden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...  Lüth an Leonhardt, .. (Durchschlag), StaHH - VI . Lüth hatte offenbar am Vortag der Veröffentlichung Einblick in die betreffende Ausgabe der Zeit.

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und gedenke nun »nicht mitzumachen, wenn sie gegen Wiener Psychologen gehen«. Als Lüth drei Tage später antwortete, konnte er Leonhardt neue Belege präsentieren: Inzwischen war entdeckt worden, dass die National-Zeitung bereits eine Woche vor dem Interview mit Hofstätter einen Leserbrief von ihm abgedruckt hatte, in dem er die These von Hitlers Kriegserklärung an die Juden bekräftigte. Lüth wies die Bezeichnung der von Hofstätter selbst verschuldeten öffentlichen Empörung als »Hexenverfolgung« zurück. Auch er und Goral würden bedroht und antisemitisch beschimpft, und Leonhardt solle an »die wenigen Überlebenden der Vernichtungslager« denken, die »durch Hofstätters Parolen erneut erschreckt« würden. Noch am selben Tag antwortete Leonhardt kurz angebunden, dass er von Hofstätters Brief an die National-Zeitung nichts gewusst habe. Er wolle nun zu der Sache aber »eine Weile schweigen«. Etwa zur gleichen Zeit hatte Karl Marx Kontakt zu Josef MüllerMarein aufgenommen, dem Chefredakteur der Zeit. Dieser erklärte Marx, er habe Leonhardts Artikel erst gesehen, als die Ausgabe bereits im Druck war, und sei »etwas erstaunt« darüber gewesen. Für Marx war der Fall Hofstätter ein Anzeichen für eine bedenkliche, die Demokratie schädigende Entwicklung, der rechtzeitig zu begegnen sei; eine entsprechende »Aktion« wollte er jedoch »möglichst nicht als jüdische Zeitung beginnen«. Allerdings ließ sich Müller-Marein nicht für eine solche Initiative gewinnen. Er versicherte Erich Lüth, dass »die ZEIT auf keinen Fall für eine Generalamnestie der Totschläger und Gasmörder eintritt und eintreten wird«. Doch glaube er nicht, dass »eine Anti-Nazi-Aktion der ZEIT von Gewinn für die Demokratie wäre«, und die National-Zeitung solle man besser ignorieren. Inzwischen hatte der Spiegel ein langes Interview mit Hofstätter veröffentlicht. Dieser zog sich in dem Gespräch auf die Argumentation zurück, er habe »eher Fragen« als Forderungen gestellt und werde überdies zum Teil falsch zitiert. Er habe sich das Wort von einer »Kriegserklärung« gegen die Juden keinesfalls zu eigen gemacht, sondern als Psychologe le     

Leonhardt an Lüth, .., ebd. Lüth an Leonhardt, .. (Durchschlag), ebd. Leonhardt an Lüth, .., ebd. Marx an Lüth, .., ebd. Müller-Marein an Lüth, .., ebd. »Sind die ermordeten Juden gefallen?« Spiegel-Gespräch mit dem Hamburger Psychologieprofessor Dr. Peter Robert Hofstätter, in: Der Spiegel, .., S. -.

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diglich die »Denkweise« Hitlers darzustellen versucht. Es ist unklar, ob man es Hofstätters politischer Überzeugung oder seiner Unbedarftheit zuschreiben muss, dass er sich den Spiegel-Journalisten gegenüber ausgerechnet auf das Buch Auch Du warst dabei des rechtsextremen Journalisten und Autors Peter Kleist bezog, um eine Rede des Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation Chaim Weizmann vom August  als »Kriegserklärung« der Juden an das Deutsche Reich zu deuten. Dieser stellte Hofstätter nun die berüchtigte Drohung Hitlers über die »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« vom . Januar  gegenüber. Wenn ein Staat Mordbefehle erteile, die von Menschen ausgeführt werden, die dem Staat etwa durch soldatischen Eid zum Gehorsam verpflichtet seien, dann stelle sich die Frage, »wer der Mörder ist«. Auch auf hartnäckiges Befragen hin wollte sich Hofstätter nicht auf die These festlegen lassen, die Ermordung der Juden sei als Kriegshandlung zu verstehen. Sehr wohl aber beharrte er darauf, dass sie »ein vom obersten Kriegsherren – Hitler – befohlenes Unternehmen« gewesen sei. Dass die gesprächsführenden Redakteure gut vorbereitet waren, hatten sie dem Hamburger Journalisten Egon Giordano, Bruder von Ralph Giordano, zu verdanken, der seine Kollegen vom Spiegel mit den wichtigsten Informationen versorgt hatte. Dem anhaltenden Interesse der Medien stand aus Giordanos Sicht jedoch der »unerfreuliche Aspekt gegenüber, dass die deutschen Professoren schweigen« – wobei er eine Ausnahme nannte: Auf der Titelseite der National-Zeitung vom . September  ereiferte sich Berthold Rubin, Kölner Ordinarius für Byzantinistik, unter der Überschrift »Hofstätter hat recht« über die »Hexenjagd gegen einen machtlosen Intellektuellen, der ein Tabu zu prüfen wagt«. Rund vier Wochen nach Marx’ öffentlichem Aufruf an »Deutschlands Elite« war es ausgerechnet ein Beitrag in der Quick – eine der seinerzeit meistgelesenen Illustrierten –, der das Schweigen der deutschen Professorenschaft zum Fall Hofstätter am deutlichsten kritisierte. Verfasser war der vor allem als entschiedener Antikommunist, rabiater Achtundsechziger-Gegner und späterer »Kronprinz« von Axel Springer bekannte konservative Publizist Matthias Walden. Hofstätter müsse, so Walden, die »Toleranz gegenüber politisch-krimineller Nazisubstanz« in der deutschen Öffentlichkeit »als bemerkenswert groß erkannt« haben, wenn er sich heute derart zu äußern wage. Durchaus treffend urteilte Walden  Egon Giordano: Informationsbericht , .., S. , in: StaHH - VI .  Berthold Rubin: Hofstätter hat recht. Was ist die Freiheit bei uns noch wert?, in: Deutsche National-Zeitung und Soldaten-Zeitung, ...  Zu Walden vgl. Lange ().

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über den öffentlichen Umgang mit dem Fall: »[D]er Hamburger Senat prüft verstört, was denn die aufgescheuchte Presse da herausgefunden haben mag. Die Entrüstung in Deutschland ist gering. Die Zeitungen reagieren, wie seit vielen Jahren, zuverlässig, schockiert, routiniert. Die Elite der deutschen Akademiker verrät keinerlei Alarmstimmung, sie übt jene betulich-fade Zurückhaltung, die sie für Würde hält.«

»Missdeutbare Formulierungen« Das lange Schweigen der Universität Hamburg begründete ihr Rektor, der Rechtswissenschaftler Rudolf Sieverts, im Dezember  gegenüber Erich Lüth damit, dass zunächst der Strafantrag, dann die disziplinarische Voruntersuchung gegen Hofstätter die Universität an einer eigenen Initiative gehindert habe. Letztere habe nun auch belegt, dass Hofstätters Äußerungen nicht antisemitisch motiviert seien. Sieverts hielt Lüth vor, dass er sich nicht mit ihm abgesprochen hatte, bevor er in der Sache vorgeprescht war. Damit habe er nicht nur den Ruf der Universität gefährdet, sondern auch die »geschundenen Nerven unserer überlebenden jüdischen Mitbürger« strapaziert, denen der Fall erst durch Lüths Veröffentlichungen bekannt geworden sei. Die Nerven von Sieverts’ jüdischen Mitbürgern wurden freilich sehr viel mehr durch das Lavieren der Universitätsleitung strapaziert. Die erwähnte Vorermittlung zu einem Disziplinarverfahren gegen Hofstätter aufgrund seiner Äußerungen zur Judenvernichtung war am . September vom Hamburger Senat beschlossen und der Presse mitgeteilt worden. In seinem achtseitigen Gutachten kam Landgerichtspräsident Clemens zu dem Schluss, dass Hofstätters Auslassungen in der Zeit zur Frage der Amnestie für NS-Verbrecher zwar »oberflächlich und unwissenschaftlich« seien und einen »erschreckenden Mangel an politischem Instinkt« verrieten. Sie seien jedoch vom grundgesetzlich garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, zumal der niedersächsische Justizminister Arvid von Nottbeck Ähnliches gefordert habe. Auch die Tatsache, dass Hofstätter trotz des »allgemein bekannten rechts Matthias Walden: Akademische Gesinnungsschwächen, in: Quick, ./...  Sieverts an Lüth, .., in: StaHH - VI .  Niederschrift über die . Senatssitzung (), ..; Staatliche Pressestelle Hamburg: Vorermittlungen für ein Disziplinarverfahren gegen Professor Hofstätter (Pressemitteilung), .., in: StaHH - II  (Disziplinarverfahren gegen Prof. Dr. Peter R. Hofstätter).

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radikalen, wenn nicht neonazistischen Charakters« der Deutschen National-Zeitung und Soldaten-Zeitung dieser ein Interview gewährt habe, könne nicht als Dienstvergehen gewertet werden. Was blieb, war Hofstätters Auftritt während der Diskussionsveranstaltung des LSD in der Universitäts-Mensa. Hätte, so Clemens, Hofstätter es als »eigene Auffassung« vertreten, bei der »Tötung der Juden« habe es sich um rechtmäßige Kriegshandlungen gehandelt, so wäre darin »zweifellos ein ungewöhnlich schweres Dienstvergehen« zu sehen, das mit der Entlassung zu ahnden wäre. Nach Auswertung der Zeugenaussagen könne jedoch mit Sicherheit festgestellt werden, dass Hofstätter nur die Sichtweise Hitlers habe darlegen wollen. Ein zumindest fahrlässiges Dienstvergehen erkannte Clemens jedoch darin, dass Hofstätter Arie Goral eingestandenermaßen als »Quatschkopf« bezeichnet hatte. Darüber hinaus habe sich Hofstätter auf besagter Veranstaltung nach übereinstimmenden Zeugenaussagen arrogant und zynisch verhalten und »keinerlei Verständnis für die vom nationalsozialistischen Regime Verfolgten gezeigt«. Hier sei möglicherweise die Beamtenpflicht verletzt worden, sich »würdig und maßvoll zu verhalten«. Der Hamburger Senat sah angesichts des Ermittlungsberichts keine Handhabe, um ein förmliches Disziplinarverfahren gegen Hofstätter einzuleiten. Stattdessen votierte er für eine formal folgenlose und rechtlich nicht anfechtbare öffentliche Missbilligung, die den Professor ermahnte, zukünftig seiner Verpflichtung zu »abgewogener, taktvoller und fundierter Behandlung von Problemen« nachzukommen, um nicht erneut dem Ansehen der Universität zu schaden. Nach Abschluss der Vorermittlungen kommentierte nun auch Universitäts-Rektor Sieverts den Fall Hofstätter öffentlich. Im Rahmen seines mündlichen Jahresberichts bei der Rektoratsübergabe im Auditorium Maximum am . November ging er – ohne Hofstätter namentlich zu  Der Landgerichtspräsident an den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, .. (Abschrift), S. , in: StaHH - II . Von Nottbeck, der zum rechten Flügel der FDP zählte, trat wiederholt mit besonders weitreichenden Initiativen zur Beendigung der juristischen Verfolgung von NS-Verbrechen hervor; vgl. Miquel (), S. .  Der Landgerichtspräsident an den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, .. (Abschrift), S. , in: StaHH - II .  Ebd., S.  f.  Drucksache für die Senatssitzung Nr. , ..; Niederschrift über die . Senatssitzung (), .., beide in: StaHH - II ; Staatliche Pressestelle Hamburg: Senat missbilligt das Verhalten Professor Hofstätters (Pressemitteilung), .., in: StaHH - VI .

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nennen – auf einen »Vorfall« im Juli des Jahres ein, der geeignet gewesen sei, das »Ressentiment«, das im Ausland immer noch gegen »das deutsche Volk einschliesslich seiner Akademiker« verbreitet sei, wiederaufleben zu lassen. Sieverts versicherte, dass seine Universität jede antisemitische Äußerung streng ahnde. Der Vorwurf, der »betreffende Kollege« habe NSVerbrechen verharmlosen oder rechtfertigen wollen, beruhe jedoch auf »mißdeutbaren Formulierungen« und sei inzwischen entkräftet. Zweierlei »Lehren«, so Sieverts abschließend, seien aus dem Vorfall zu ziehen: Erstens sollten Äußerungen von Hochschullehrern auf »politisch und moralisch so heiklen Gebieten« besonders sorgfältig formuliert werden, zweitens sollten Journalisten, die über solch undurchsichtige Vorfälle berichteten, doch erst einmal den Rektor um weitere Informationen bitten, bevor sie dem Ruf der Universität oder eines ihrer Hochschullehrer Schaden zufügten. Hofstätters Kritiker Hähnel und Goral empfanden dessen Rehabilitierung als Affront. Saul B. Robinsohn reagierte mit »Bestürzung« und »tiefer Enttäuschung«. Er erhalte, so schrieb er an Lüth, »von vielen Seiten zahlreiche Anfragen hinsichtlich des unglücklichen Ausgangs« der Angelegenheit – »leider fast ausschliesslich von jüdischer Seite«. »Ich habe jedoch nicht den Wunsch«, so schloss Robinsohn resigniert, »mich weiter damit zu befassen«. Ganz ähnlich, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen, hielt es Rudolf Walter Leonhardt Ende Dezember in der Zeit. Die Ermittlungsergebnisse des Hamburger Senats und die Stellungnahme von Rektor Sieverts, aus der Leonhardt ausführlich zitierte, hätten seine Darstellung weitgehend bestätigt – damit war der »Fall Hofstätter« auch für die Zeit abgeschlossen.

 Auszug aus dem mündlichen Bericht des Rektors, Professor Dr. Sieverts, für das Amtsjahr / bei der feierlichen Rektoratsübergabe im Auditorium maximum der Universität Hamburg am .XI. (Angelegenheit Professor Dr. Hofstätter), Anlage zu Sieverts an Lüth, .., in: StaHH - VI ; uneinheitliche Verwendung von »ß« und »ss« im Original.  Arie Goral: Hofstätter rehabilitiert?, Rundschreiben o. D.; Walter Hähnel/Arie Goral: Erklärung an Eides statt zum unbewältigten »Fall Hofstätter«, .., beides in: StaHH - II .  Robinsohn an Sieverts, .. (Durchschlag der Abschrift für Erich Lüth), in: StaHH - VI .  Robinsohn an Lüth, .., in: ebd.  Rudolf Walter Leonhardt: Zum letzten Male: der Fall Hofstätter, in: Die Zeit, ...

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Schluss Die Diskussion um Hofstätters Thesen zeigte, wie weit die Gesellschaft der Bundesrepublik  – gleichsam am Vorabend des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses – noch von einem Konsens darüber entfernt war, die vorbehaltlose Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus als unabdingbareren Bestandteil des demokratischen Selbstverständnisses anzusehen. Das war es, was die Kritiker Hofstätters besorgt machte: nicht der Inhalt seiner Auslassungen, deren Stoßrichtung ja nicht neu war, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie aus der Mitte des akademischen Establishments kamen und dass aus dieser Mitte ebenso wie aus der »großen« Politik so wenig offener Widerspruch zu vernehmen war. Karl Jaspers, der sich von Erich Lüth über die Hintergründe des Falls informieren ließ, bekundete diesem gegenüber Anfang September  seine Besorgnis »wegen der verborgenen Instinkte und wegen der Unklarheit der Gefühle in breiten Kreisen«. Kurz darauf sprach er der Frage, »wie sich Universität und Staat in einem solchen Falle verhalten«, symptomatischen Wert hinsichtlich der Entwicklung der Bundesrepublik zu. Dass beide es versäumten, im Fall Hofstätter einen »scharfen sittlich-politischen Trennungsstrich« zu ziehen, diente dann drei Jahre später in seiner Streitschrift Wohin treibt die Bundesrepublik? als ein Mosaikstein unter vielen, die das Bild einer gefährdeten Demokratie ergaben. Jaspers’ düstere Diagnose erscheint heute reichlich pessimistisch. Doch sollte die historische Rekonstruktion solche Stimmen nicht mit dem Wissen um die Dauerhaftigkeit der zweiten deutschen Demokratie beiseiteschieben, sondern als legitime Wahrnehmung in einer für die Zeitgenossen offenen Situation ernst nehmen. Dass die er Jahre im Rückblick mit guten Gründen als Auftakt einer »Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Habermas) der Bundesrepublik gedeutet werden können, darf nicht über die keineswegs marginalen Gegentendenzen der Zeit hinwegtäuschen. Die Zahl derjenigen, die sich in Umfragen für einen »Schlussstrich« unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aussprachen, erreichte just zu der Zeit einen neuen Höhepunkt, als in Frankfurt der Auschwitz-Prozess zu    

Jaspers an Lüth, .., in: Jaspers (), S.  f. Jaspers an Lüth, .., in: ebd., S. . Jaspers (), S. , ohne namentliche Nennung Hofstätters. Sie war zudem nicht frei von einer problematischen, teils elitären, teils populistischen Kritik der Parteiendemokratie; siehe zu diesem Thema den Beitrag von Tim Schanetzky in diesem Band.

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Ende ging und im Bundestag über die Frage der Verjährung von Mord diskutiert wurde. Kurz darauf zog die NPD in eine Reihe von Länderparlamenten ein und verfehlte bei der Bundestagswahl  nur knapp die Fünf-Prozent-Hürde. Gerade die intensivierte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seit Ende der er Jahre konnte nun – sei es in Bezug auf die rechtliche Ahndung von NS-Verbrechen, sei es hinsichtlich der »Wiedergutmachung« – als Argument dafür dienen, das »Ende der Nachkriegszeit« und damit auch der »Vergangenheitsbewältigung« auszurufen. Peter R. Hofstätters publizistische Interventionen können in diesem Zusammenhang als Versuch interpretiert werden, mit der Autorität des renommierten Psychologen »verborgene Instinkte« wieder diskursfähig zu machen, deren offene Artikulation ansonsten dem rechtsradikalen Spektrum vorbehalten war. Dass er dafür sowohl von der Zeit als auch – weniger erstaunlich – von der National-Zeitung ein Forum geboten bekam, spricht ebenso wie die Schweigsamkeit der politischen und akademischen Eliten für die Fragilität des vermeintlichen vergangenheitspolitischen Konsenses. Zudem zeigt ein Blick auf die Verteidiger und Kritiker Hofstätters, wie diffus die Grenze zwischen den politischen Lagern in dieser Hinsicht sein konnte. Größere Aufmerksamkeit verdient auch das Empfinden der wenigen Juden, die sich gegen alle Unwägbarkeiten für ein Leben in der Bundesrepublik entschieden hatten. Für Arie Goral war nach der HofstätterKontroverse »auch der letzte Rest meiner Illusionen« verschwunden, »als Jude in Deutschland ohne innere und äußere Konflikte über die Runden kommen zu können«. Bemerkenswert fand er rückblickend auch die Tatsache, dass er Unterstützung beim liberalen Studentenverband, nicht aber bei linken Hochschulgruppen und bei der in Hamburg von Klaus Rainer Röhl verlegten linken Zeitschrift konkret erfahren hatte. Erst , als es ihm »in die Strategie paßte«, habe sich der SDS gegen Hofstätter engagiert. Es ist kaum verwunderlich, dass der Fall von rechts ganz anders wahrgenommen wurde. Hofstätters »Pionier-Aufsatz von «, so urteilte der rechtskonservative Publizist Armin Mohler einige Jahre später, habe diesem eine »Hexenjagd« eingetragen, die als Symptom für eine »tota   

Frei/Maubach/Morina/Tändler (), S.  ff. Goschler (), S. . Goral (), S. . Goral (), S. .

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litäre Entwicklung« in der Bundesrepublik anzusehen sei. Diese rechte Selbstviktimisierungsrhetorik, die scharfe Kritik an den frei geäußerten eigenen Positionen zur diktatorischen Unterdrückung erklärt, ist uns heute wieder allzu vertraut.

 Mohler (), S. .

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Was vom Jahre übrig bleibt Über die Schwierigkeit, ein Zeitzeuge zu sein D C

Allmählich beginnt das kräftige Rot auf dem Plakat zu verblassen. Die großen weißen Lettern »Alle reden vom Wetter« werden kontrastiert von einem größeren »Wir nicht«. Zwischen beiden Inschriften blicken die grimmigen Gesichter von Marx, Engels und Lenin. Zur Erläuterung des »Wir« findet man als Unterzeile »SDS Sozialistischer Deutscher Studentenbund«. Das Poster von  hat es in viele Ausstellungen, Dokumentarbände und Museen geschafft. Zu Recht – denn auf einen Blick lässt sich der Geist von »Achtundsechzig« erfassen. Man muss gar nicht wissen, dass dieses Plakat eine damals überall in Westdeutschland zu sehende Kampagne der Deutschen Bundesbahn persifliert. Heute ist eher die behauptete wetterunabhängige Pünktlichkeit der Eisenbahn erläuterungsbedürftig. Die Ironie des Plakats stellte die Selbstverständlichkeit eines scheinbar funktionierenden Systems in Frage. Der SDS, der mit dem Poster für Wahlen zum Studentenparlament im Januar  warb, kokettierte mit dem Image des geheimnisvollen Bürgerschrecks. Doch diese Ironie ging im Laufe des Jahres  verloren. Ein halbes Jahrhundert später sind die Erfahrungen verblasst, die sich damals machen ließen. Der heutige Betrachter des Plakats mag die Ironie noch spüren, mit der auf die bärtigen Marx, Engels und Lenin angespielt wird, aber er kann kaum wissen, worüber damals wirklich geredet wurde. Hier kann der Zeitzeuge produktiv einspringen; doch er sollte sich bewusstmachen, für wie repräsentativ die eigene individuelle Erfahrung im Frankfurter SDS gelten kann. Mitte  bestand der harte Kern des SDS aus kleinen heterogenen, aktiven Studentengruppen in deutschen Universitätsstädten. Als Hochburgen galten Berlin und Frankfurt. Der SDS hatte das Image, eine linke politische Organisation zu sein, in der theoretische Kenntnisse über Politik und Gesellschaft eine wichtige Rolle spielten. Die Redner, die er auf öffentliche Versammlungen wie Teachins schickte, galten als versiert, oft auch als schwer verständlich. Unter den Gegnern der Protestbewegung kursierte eine abfällige Bezeichnung für die Sprache des SDS: »Soziologenchinesisch«. Aber es steckt in diesem Ausdruck auch der Respekt vor dem Anspruch, gesellschaftliche Verhältnisse theoretisch zu erkennen und Missstände zu artikulieren. 147

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Das Jahr  begann mit der Tet-Offensive in Vietnam. Über das Fernsehen wurden die Bilder dieses grausamen Kolonialkriegs weltweit in die Wohnzimmer getragen. Der SDS hatte sich schon seit Jahren bemüht, die westdeutsche Öffentlichkeit gegen diesen Krieg zu mobilisieren. In Arbeitsgruppen hatte man sich seit dem Algerienkrieg mit der Kolonialgeschichte vertraut gemacht. Auf Kongressen hatten SDS-Studenten dafür geworben, über ein pazifistisches Engagement hinauszugehen und aktiv die vietnamesische Revolution zu unterstützen. In der westdeutschen Öffentlichkeit herrschte die Vorstellung vor, es handle sich bei den Kämpfen im Süden Vietnams um einen terroristischen Infiltrationsversuch nordvietnamesischer Kommunisten, die stellvertretend für den Kreml handelten. Die westdeutsche Ideologie des Kalten Krieges gipfelte in der Behauptung, in Vietnam werde auch die Freiheit Berlins verteidigt. Im SDS begriff man den Konflikt in Vietnam nicht als Stellvertreterkrieg, sondern als Kombination eines antikolonialen nationalen Befreiungskampfes mit einer Agrarrevolution. Solidarität mit Vietnam bedeutete die Unterstützung sozialer Emanzipationsprozesse unterdrückter Völker.

Protest international Die Dekolonisierung schien in den er Jahren die Logik des Kalten Krieges aufzusprengen. Die Aufstände in der Dritten Welt ließen sich beim besten Willen nicht allein auf kommunistische Subversionstätigkeit zurückführen. Bei der Unterstützung der algerischen Befreiungsbewegung hatte der SDS schon während der er Jahre einige Erfahrungen gesammelt. Das amerikanische Engagement in Vietnam wurde als Fortsetzung des französischen Kolonialismus in Indochina verstanden. Die Absicht, nationale Unabhängigkeit ehemaliger Kolonialgesellschaften mit allen militärischen Mitteln zu verhindern und die Dritte Welt als ein wehrloses Ausbeutungsobjekt der entwickelten kapitalistischen Länder zu erhalten, galt es aufzudecken. Mit der Aufklärung über imperialistische Abhängigkeitsverhältnisse, die das kapitalistische System stabilisierten, sollten Menschen aus der Sicht des SDS auch für eine Gesellschaftsveränderung in den Metropolen gewonnen werden. Mit den Protesten gegen den Schah von Persien hatte der SDS  für ihn selbst überraschend, begünstigt durch die schockierende Wirkung des Mordes an dem Studenten Benno Ohnesorg während einer Demonstration in West-Berlin, eine kritische Öffentlichkeit für diese Thematik erreicht. 148

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Aus einer kleinen Studentenorganisation wurde über Nacht eine breite antiautoritäre Bewegung. Der internationale Vietnamkongress im Februar  sollte die internationale Solidarität in der Frontstadt des Kalten Krieges dokumentieren. Während der Tet-Offensive im Februar  erreichte der Vietnamkrieg seinen dramatischen Höhepunkt. Die Weltgeschichte schien sich im Süden Vietnams zuzuspitzen. Im Berliner Audimax hing ein überlebensgroßes Plakat Che Guevaras mit dem Text »Die Pflicht eines Revolutionärs ist es, Revolution zu machen«. Diese pleonastisch klingende Formulierung drückte ein Dilemma der Protestbewegung aus. Man wollte nicht an politisch-moralischer Rigorosität hinter den Revolutionären der Dritten Welt zurückstehen; aber man musste sich doch der gesellschaftlichen Differenz bewusst bleiben. Die Ironie des SDS-Posters »Alle reden vom Wetter« wurde allmählich von einem Verbalradikalismus verdrängt. Schon  hatte der SDS eine kleine Broschüre Che Guevaras mit einem Vorwort von Rudi Dutschke und Gaston Salvatore verkauft: Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam. Konnte man das wirklich wollen? Guevara stellte mit seiner großspurigen Rhetorik die sowjetische Politik der friedlichen Koexistenz in Frage; er rief die Völker der Dritten Welt zum bewaffneten Kampf auf. Konnte das auch »für uns« gelten? »Wir« waren doch in einer anderen Lage als die »Verdammten dieser Erde«. Für den, der sich mit der Revolution in der Dritten Welt identifizierte, blieb ein moralisches Unbehagen zurück. Man kam aus diesem Dilemma nicht heraus. In einer Arbeitsgruppe des Kongresses brachte ein schwarzer Redner aus den USA den nächsten Schritt auf den Punkt: »From Protest to Resistance«.  besaßen die Vereinigten Staaten noch keine Berufsarmee. Jeder, der einberufen wurde, musste mit einem Einsatz in Vietnam rechnen. »Wir« wollten möglichen Deserteuren helfen. Die Desertionskampagne war geboren, die vielen GIs den Weg aus Deutschland nach Schweden bahnte. Eine Möglichkeit der praktischen Solidarität zeigte sich. Die Strategie des SDS schien aufzugehen. Die Unterstützung der antikolonialen Befreiung sensibilisierte die Gesellschaft in den Metropolen. Der deutsche SDS orientierte sich mit Teach-ins, Sit-ins und anderen fantasievollen Aktionsformen im Protest gegen den Vietnamkrieg an den amerikanischen Namensvettern. »Students for a Democratic Society« und »Sozialistischer Deutscher Studentenbund« verkörperten schon in ihren Namen die Mischung aus Grassroots-Demokratie und sozialistischen Vorstellungen, die  Guevara ().

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sich von parteikommunistischen und sozialdemokratischen Strategien der Eroberung der politischen Macht im Staate unterscheiden sollten: New Left. Im deutschen Fall vermischten sich rätedemokratische Fantasien mit einer Art anarchistischem Antiautoritarismus. Mit provokativen Protestformen sollten nach Ansicht der SDS-Aktivisten die entpolitisierten Menschen in einer spätkapitalistischen Konsumgesellschaft mobilisiert werden, ihre eigenen Interessen zu erkennen und wahrzunehmen. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung zu Beginn der er Jahre stand Pate bei dieser Mobilisierungsstrategie. Mit Herbert Marcuses Kritik der »repressiven Toleranz« ließ sich gut argumentieren, wenn fundamentale demokratische Rechte zur Disposition standen. In der Literatur zu »Achtundsechzig« wird oft der Vorbildcharakter demokratischen Engagements in den USA übersehen. Die angloamerikanische Populärkultur hatte in Westeuropa für eine begeisterte Aufnahme der Protestkultur einen Boden bereitet. Bob Dylan galt als Bote einer neuen Welt: »You don’t need a weatherman to know which way the wind blows«. Der Widerspruch zwischen antikolonialem Gründungsmythos der USA und imperialistischer Gegenwart war bei der Invasion der Schweinebucht  sichtbar geworden. Der unter der westlichen Jugend beliebte progressive Präsident John F. Kennedy hatte diese hinterhältige Aktion eingeleitet. Che Guevara konnte nur aufgrund der Schweinebuchtaffäre als heroischer Guerillero zur Ikone des antiimperialistischen Protests werden. Das demokratische Image der USA erlebte unter dem Nachfolger Kennedys Lyndon B. Johnson mit der Eskalation des Vietnamkriegs einen moralischen Totalschaden. Die Brutalität der amerikanischen Kriegführung, die Entlaubung des Dschungels durch Herbizide, die »Search and Destroy«-Aktionen, die Napalmbomben auf Zivilisten und weitere Kriegsverbrechen wie in My Lai raubten der US-Politik jede Glaubwürdigkeit. Die kurz aufeinanderfolgenden Morde an Martin Luther King und Robert Kennedy warfen ein düsteres Licht auf die Zukunft der amerikanischen Demokratie. Die Ghettoaufstände schienen zu offenbaren, was mit »resistance« gemeint war. Das Protestjahr  in den USA kulminierte beim Parteitag der Demokraten in Chicago Ende August. Der demokratische Bürgermeister Daley empfing die zahlreichen Demonstranten, die einen entschiedenen Kriegsgegner zum Präsidentschaftskandidaten machen wollten, mit einem martialischen Polizeiaufgebot, das zum Handeln bereit war. In blutigen Straßenschlachten wurden auch außerhalb des Ghettos Erfahrungen mit entfesselter Polizeigewalt gemacht. In diesem Moment schien 150

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die Antikriegsbewegung in den USA, die Motor der internationalen Protestbewegung gewesen war, gescheitert. Der Optimismus, der noch im Mai von Paris bis Prag geherrscht hatte, war verflogen. Im Schatten des Pariser Mai hatte die außerparlamentarische Bewegung gegen die Notstandsgesetze in Deutschland einen massenhaften Charakter angenommen, aber nach der Verabschiedung des Gesetzespakets im Bundestag ging das Leben weiter wie bisher. Zum Ende des Sommers machten die Panzer des Warschauer Pakts dem tschechoslowakischen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« ein rabiates Ende. Von Berkeley bis Berlin hatte die Protagonisten der Protestbewegungen das Gefühl einer tiefen Enttäuschung ergriffen.

Orientierung in der Welt Waren die Protagonisten damals fähig, ihre Niederlagen zu reflektieren? Es wurde versucht, Antworten zu finden, ohne die Lage wirklich analysiert zu haben. Reichte das theoretische Reflexionsvermögen nicht aus, um die gesellschaftlichen Tendenzen zu erkennen? In den Protestbewegungen verbreitete sich schon Ende  eine erschreckende Theoriefeindlichkeit, gepaart mit Antiintellektualismus. Eine Drachensaat des Antiautoritarismus war aufgegangen. Der antiautoritäre Zug der Protestbewegung war in Deutschland besonders stark ausgeprägt gewesen. Mit der von Adorno unter anderem in den USA veröffentlichten Studie The Authoritarian Personality war den kritischen Studenten ein analytischer Ansatz an die Hand gegeben, der unbegründeter Autorität den legitimatorischen Boden entzog. Im SDS, besonders im SDS Frankfurt, bestand eine sehr enge Beziehung zu den Begründern der Kritischen Theorie, die schon Ende der Weimarer Republik mit der Autoritätsforschung begonnen und diese im kalifornischen Exil fortgesetzt hatten. Über die in Frankfurt lehrenden Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gab es enge personelle Kontakte zu Herbert Marcuse, der mit dem Eindimensionalen Menschen auch eine Gegenwartskritik der amerikanischen Gesellschaft geliefert hatte. Als theoretischen missing link zwischen Vergangenheit und Gegenwart entdeckten SDS-Studenten Horkheimers Arbeit Autoritärer Staat aus dem Jahr , die eine explizite Kritik der autoritären Tendenzen des Kapitalismus und eine implizite des sich zum integralen Etatismus ver Adorno u. a. ().

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steinerten Sowjetkommunismus enthielt. Vor allem Hans-Jürgen Krahl, ein Doktorand Adornos, versuchte Rudi Dutschke, der einen anderen Theoriehorizont hatte, von diesem zentralen Theorem Horkheimers zu überzeugen, als die antiautoritäre Fraktion im SDS  die Macht übernahm. Das gemeinsam verfasste Organisationsreferat, in das Zeithistoriker Jahrzehnte später die erste Begründung einer Stadtguerilla hineinlesen sollten, schlug noch einen ironischen Ton an, der zwanzig Jahre später nach den Erfahrungen mit dem Terrorismus kaum noch wahrgenommen wurde.  wurden »Partisanen« in den Metropolen dazu legitimiert, aufklärerische »begrenzte Regelverletzungen« durchzuführen, die sich nicht an den Rahmen der Legalität hielten. Diese Aktionen standen in der Tradition der »Propaganda der Tat« und der »direkten Aktion«, keineswegs in der des bewaffneten Kampfes. Der Differenz einer klandestinen Arbeit der Illegalität zu einer antiautoritären Mobilisationsstrategie waren sich die Autoren des Organisationsreferates durchaus bewusst. Der Zeitzeuge kann das bezeugen. Er war bei der Formulierung dabei. Der SDS suchte  nach einer Strategie der Mobilisierung. Das steckte hinter der berühmten »Frage nach dem revolutionären Subjekt«. Gerade nach dem Mord an Benno Ohnesorg hatten die Studenten ihre gesellschaftliche Isolation gespürt. Die studentische Basis hatte sich nach dem . Juni sehr schnell vergrößert; deswegen stellte sich die Organisationsfrage. Die Theorien, die im SDS diskutiert wurden, waren den meisten, die in die Mitgliederversammlungen drängten, ziemlich unbekannt. Wie konnte man die Öffentlichkeit für sich einnehmen? Mit Flugblättern, Wandzeitungen und Plakaten versuchte man zu erklären, was man wollte. Man brauchte die Öffentlichkeit, nicht den Untergrund. Die Printmedien waren privatrechtlich, die elektronischen Medien öffentlich-rechtlich organisiert. Die Unzufriedenheit mit der Darstellung der Protestbewegung in den Printmedien äußerte sich in der verbitterten Formulierung von der »bürgerlichen Presse«. Sie wurde als ein feindlicher Komplex empfunden. Aus dieser Frustration heraus entstand die »Enteignet Springer«-Kampagne, die abstrakte Parole blieb, aber für Aufregung in den Redaktionsstuben sorgte. Man kannte Journalisten persönlich; aber die wenigen, die einem Sympathien entgegenbrachten, erzählten von Zwängen des Berufsjournalismus, Konflikten mit Redakteuren, Chefredakteuren und Verlegern. Die Einladung von Rudi Dutschke zu einem Gespräch mit Günter Gaus ins öffentlich-rechtliche Fernsehen im Dezember  wurde als einmalige Gelegenheit empfunden, eine breite Öffentlichkeit über die Vorstellungen der Protestbewegung zu informieren. 152

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Doch diese Vorstellungen waren nicht besonders klar, weder in der inzwischen entstandenen Außerparlamentarischen Opposition noch bei den Rednern des SDS, die seit Mitte des Jahres den Ton gesetzt hatten. Von der Wirklichkeit schien ein unübersehbarer Handlungsimperativ auszugehen – den Vietnamkrieg zu beenden, die Entwicklung zu einem autoritären Staat zu stoppen. Für Westdeutschland hieß das, die Notstandsgesetze, die von einer Großen Koalition im Parlament durchgesetzt werden sollten, zu verhindern. Aber die zugrunde liegende ökonomische Dynamik blieb umstritten, bei der doch eine mögliche radikale Gesellschaftsveränderung anzusetzen gehabt hätte. Die theoretisch Interessierten versuchten das Neue in der kapitalistischen Entwicklung in Begriffe zu fassen. Der spontane Gebrauch des Ausdrucks »Spätkapitalismus« sollte den Unterschied zur Phase des liberalen Hochkapitalismus, den Marx analysiert hatte, markieren. »Organisierter Kapitalismus« hieß das Stichwort, das die Differenz zum Kapitalismus des . Jahrhunderts kennzeichnen sollte. Die Wirkungen des Keynesianismus stellten die marxistischen Theorien vor große Herausforderungen. Die Theorien von Maurice Dobb, Kondratjew und Paul A. Baran/Paul Sweezy gehörten zum ökonomiekritischen Grundwissen des traditionellen SDSlers; die Kenntnis des »Kapital« konnte man in Arbeitsgruppen erwerben. Die umfangreichen Marx’schen »Grundrisse«, besonders die Abschnitte über die »Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen«, und über die Wissenschaft als Produktivkraft, wurden intensiv diskutiert. Doch ein allgemeinverbindliches,  vorgeschlagenes Schulungsprogramm kam nie über die Anfänge hinaus. Die neuen Mitglieder und Sympathisanten nach Mitte  waren zweifellos mit den anspruchsvollen Schriften und Debatten nicht vertraut. Um sich links zu fühlen, genügte die Grundüberzeugung, der Kapitalismus sei eine Klassengesellschaft, deren Charakter durch eine Ideologie der Sozialpartnerschaft verschleiert werde. Aber es gab auch die, die mehr wissen wollten. Unter theoretisch lernwilligen SDSlern wurde seit Jahren Karl Korschs Marxismus und Philosophie  gelesen, der die Marx’sche Ideologiekritik auf den Marxismus selbst anzuwenden versprach. Nicht eine dogmatische, sondern eine historisch kritische Lektüre war notwendig. Als Raubdruck kursierte Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein. Man mag es kaum glauben: HansJürgen Krahls antiautoritäre Fraktion im Frankfurter SDS konsolidierte  Korsch ().  Lukács ().

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sich im Winter  über eine Projektgruppe, in der vor allem das Kapitel »Methodisches zur Organisationsfrage« aus dem  erschienenen Buch diskutiert wurde. In diesen Texten ließ sich eine andere intellektuelle Welt als die des Sowjetmarxismus entdecken. Lukács’ Titel Geschichte und Klassenbewußtsein wirkte wie ein Programm. Er diskutierte die Frage nach dem Klassenbewusstsein, das die Verdinglichung des kapitalistischen Alltags durchbrechen könnte, unter dem Gesichtspunkt der »Aktualität der Revolution«, die aber offensichtlich unter den spätkapitalistischen Bedingungen nicht gegeben war. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis war eben viel tiefer als zu Beginn der er Jahre. Wer die Dialektik der Aufklärung gelesen hatte, die man in Frankfurt gelesen haben »musste«, dem war klar: Die überlieferten Organisationsformen der Arbeiterbewegung konnten  in diesem Dilemma nicht weiterhelfen. Es ist schon schwierig, aus den Fragmenten, die der  bei einem Autounfall ums Leben gekommene Hans-Jürgen Krahl hinterlassen hat, eine einigermaßen konsistente Theorievorstellung zu rekonstruieren. Damals existierten Theorieversatzstücke, die auf Erkenntnis des Gesamtzusammenhangs ausgerichtet waren. Der Anspruch, eine kritische Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalität zu liefern, knüpfte an die Erneuerungsversuche der Marx’schen Theorie an, die mit der revolutionären Welle am Ende des Ersten Weltkriegs eingesetzt hatten. Die Aneignung dieser Theorien verlangte die Einbeziehung der geschichtlichen Erfahrung, ein Bewusstsein des nationalsozialistischen Siegeszuges in Deutschland und der Inversion der Oktoberrevolution in der Sowjetunion. Die Präsenz der Frankfurter kritischen Theoretiker stimulierte die Wiederentdeckung ihrer Schriften aus der Zeit des Exils. Die neuen Ideen von Jürgen Habermas zu Erkenntnis und Interesse und Technik und Wissenschaft als »Ideologie« erforderten ein Überdenken der traditionellen Vorstellungen einer kapitalistischen Klassengesellschaft. Eine Ahnung der abnehmenden Bedeutung körperlicher Arbeit warf neue Fragen auf. André Gortz’ und Serge Mallets Überlegungen zur »neuen Arbeiterklasse« kamen diesen Anforderungen entgegen. Der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz schien eine neue gesellschaftliche Rolle zuzukommen. Die Studenten kopierten die französische Praxis der Betriebsbesetzungen und probierten Konzepte von Gegenuniversitäten. Noch im Herbst  glaubten viele SDSler in wilden Streiks in Deutschland und Italien Zeichen einer neuen Zeit der Klassenkämpfe zu  Horkheimer/Adorno ().  Habermas (a), ders. (b).

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entdecken. Doch die Theoretiker sahen sich nun an den Rand gedrängt. Spontaneisten (Spontis) und maoistische Marxisten-Leninisten neuer Couleur (MLer) sahen in ihnen nur noch überholte Autoritäten. Der Spontaneismus wollte den Antiautoritarismus in einer aktionistischen Praxis noch steigern, der Maoismus wollte der antiautoritären Disziplinlosigkeit mit rigider, hierarchischer Organisation ein Ende machen. Alle SDS-Fraktionen setzten auf eine imaginierte »Basis« und verkannten die auch durch die Aktivitäten der Außerparlamentarischen Opposition (APO) politisch veränderte gesellschaftliche Landschaft. Zur Bundestagswahl  rief der SDS in einem Moment vollkommener Realitätsverleugnung zum Wahlboykott auf. Die westdeutschen Wähler wollten aber entscheiden; , Prozent gingen zur Wahl und ermöglichten ein Ende der Großen Koalition. Schon  sprachen realistische amerikanische Freunde vom »movement of the sixties«. Zwar hatte sich in allen westlichen Ländern eine breite außerparlamentarische Linke gebildet, die sich noch zu einzelnen Anlässen mobilisieren ließ, aber der Bewegungscharakter war verloren gegangen. Krahl hatte es im Januar , kurz vor seinem frühen Tod, treffend formuliert. Der SDS stand seit Ende  vor der Notwendigkeit, ein politisches Realitätsprinzip auszubilden. Stattdessen hatte man auf jede nur denkbare Weise versucht, eine Mobilisierung um jeden Preis anzufachen. Habermas’ harte Kritik am Aktionismus hatte schon im Herbst  einen wunden Punkt getroffen. In Frankfurt hatte der SDS im Januar  als Höhepunkt einer universitären Streikbewegung sogar das Institut für Sozialforschung, den institutionellen Stützpunkt der Kritischen Theorie, besetzt. Die Aktion erregte große massenmediale Aufmerksamkeit durch den provozierten Polizeieinsatz; doch ein über den Mobilisierungsakt hinausgehendes politisches Ziel gab es nicht. Adorno hat diesen Marsch in die Sackgasse damals sehr scharf gesehen. Wir nicht. Die Erfahrung einer Niederlage kann zur intellektuellen Ressource werden. Die meisten Akteure von »Achtundsechzig« haben lange gebraucht, sich über den Charakter der Revolte im Klaren zu werden. Allein schon die Einsicht, dass es sich um eine Revolte – und eben keine Revolution – handelte, fiel manchen schwer. Angestoßen durch das Beispiel von fernen Revolutionen standen die eigenen Aktivitäten stets unter dem Verdacht, nicht ausreichend zu sein. Schon der Vietnamkongress  in Berlin mit seiner Huldigung an Che Guevara verwies auf ein Missverhältnis von Rhetorik und Analyse. Die Vorstellung von Sozialismus hatte einen utopischen Charakter, blieb daher offen für Projektionen der eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Mit dem »real existieren155

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den Sozialismus« hatte man seine Erfahrungen. Erstaunlich viele SDSler waren als Flüchtlinge oder Kinder von Flüchtlingen aus der DDR gekommen. Im SDS fanden viele dieser Neuankömmlinge im Westen eine Möglichkeit, der Realität des Parteikommunismus sozialistische Ideale entgegenzuhalten. Unter älteren Unterstützern des SDS gab es erklärte Antistalinisten, die bei den Jüngeren auf offene Ohren stießen. Noch  kamen FDJ-Funktionäre zum Redneraustausch zu einer SDS-Veranstaltung in den Westen. Die Redner konnten einem leidtun; überzeugt haben sie so gut wie niemanden. Sie wirkten wie Sinnbilder des bürokratischen Sozialismus.

Sozialismus und Fantasie Die affektive Ablehnung des bürokratischen Sozialismus führte zu paradoxen Idealisierungen bis zu bizarren Realitätsverkennungen. Che Guevaras Verschwinden aus Kuba ließ sich als Abkehr von sozialistischer Realpolitik romantisieren. Die sich abzeichnenden Widersprüche der kubanischen Revolution, die Beibehaltung der agrarischen Monokultur im Austausch für sowjetisches Öl, ließen sich zur Not auf das amerikanische Embargo und die politische Einflussnahme der KPdSU zurückführen. Fidel Castros politische Verbeugung vor der Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in der ČSSR konnte man nur noch als Kotau vor dem sowjetischen Machtanspruch deuten. Die chinesische Kulturrevolution wurde von der westlichen Linken völlig verkannt. Maos lapidarer Satz »Rebellion ist gerechtfertigt« ließ sich leicht als Motto für einen antiautoritären Aufstand der Jugend gegen bürokratische Strukturen missverstehen. Die Tatsache, dass es sich bei der Kulturrevolution um einen mit barbarischen Mitteln ausgetragenen Machtkampf innerhalb der Kommunistischen Partei handelte, blieb undurchschaut. Nicht einmal der formelhafte Dogmatismus der Mao-Tse-tung-Ideen, inklusive ihrer positiven Bezugnahme auf Stalin, wirkte auf sonst scharfsinnige Kritiker des Sowjetmarxismus abschreckend. Informationen aus der Volksrepublik waren damals äußerst spärlich; selbst über Nordkorea weiß man heute mehr. Es gab nur wenige glaubhafte Augenzeugen des autoritären chinesischen Sozialismus; der brutal repressive Charakter des kommunistischen Kampagnensozialismus wurde von der westlichen Linken lange nicht wahrgenommen. Das heutige China stellt längst in den Schatten, was Horkheimer auf dem Höhepunkt des Stalinismus als »integralen Etatismus« skizziert hatte. 156

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Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die ČSSR im August  machte eine Kritik des sowjetischen Gesellschaftsmodells unumgänglich. Die Invasion fiel in die Semesterferien, die großen Sommerereignisse hatten die westlichen Protestbewegungen erschöpft. Aber es kam zu Demonstrationen. Die antiautoritären Linken in Chicago empfingen die Delegierten in der von der Polizei belagerten Innenstadt mit Plakaten wie »Willkommen in Prag«. In Westdeutschland formulierte Krahl die Position des SDS. Die Selbstgewissheit, mit der die Rätedemokratie als Gegenmodell zur Parteidiktatur propagiert wurde, mutet heute seltsam an. Aber noch war der Geist eines antiautoritären Sozialismus zu spüren. Warum aber die revolutionären Räte nach dem Ersten Weltkrieg entweder der Konterrevolution unterlegen oder aber von der Parteidiktatur unterworfen worden waren, fragten sich die antiautoritären Studenten nicht. Die Protestbewegung lebte in einer antiinstitutionellen Fantasiewelt, in der das Parlament als eine historisch überholte Institution galt. Genau diese Schwäche hatte sich in den Protesten des Sommers in Frankreich und Deutschland gezeigt. Die antiautoritären Bewegungen hatten  Revolten mit unabsehbaren Konsequenzen ausgelöst. Die Revolte konnte die traditionellen Mächte punktuell erschüttern, aber die Machtfrage selbst konnten die Akteure nicht beantworten, weil es keine konkreten Vorstellungen einer anderen Gesellschaft gab. »Phantasie an die Macht« war eben nur eine Wandinschrift, keine Strategie einer radikalen Gesellschaftsumwandlung. Auch in der Niederlage blieb der Anspruch an die Praxis sehr hoch. Praxis sollte nicht nur die Gesellschaft verändern, sondern auch die Gesellschaftsveränderer selbst. Parolen der Revolte wie »Selbstorganisation« und »Autonomie« hatten sich über den engen Kreis linker Studenten hinaus verbreitet. »Arbeiterselbstverwaltung« kam auf Umwegen auch in den Betrieben wieder in die Diskussion. Die autoritäre Hierarchiestruktur der Betriebe, krank machende Fließband- und Schichtarbeit, die entmündigende Behandlung durch Vorgesetzte und Werkschutz und die unwürdige Behandlung von Lehrlingen und Jungarbeitern boten reichlich Anlass zu Protesten. Ein subalternes Dasein als Lohnabhängiger wurde nicht mehr als Schicksal akzeptiert. Überraschend hatte die Vorstellung der »Autogestion« in Frankreich  zu einer Welle von Betriebsbesetzungen geführt. Mit zeitlicher Verzögerung formierte sich vor allem in Italien eine radikale Arbeiterbewegung, kulminierend im Autumno Caldo, dem Heißen Herbst . Selbst in Deutschland kam es zu wilden Septemberstreiks. In Frankreich und Italien spielte die Konkurrenz politisierter Richtungsgewerkschaften eine belebende Rolle. Auch die Arbeitsmig157

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ration hatte nach dem Ende des Algerienkriegs und dem Mauerbau neue, nicht traditionell sozialisierte Arbeitskräfte aus dem Süden in den Norden gebracht. In Italien sorgte das Wirtschaftswunder für eine verstärkte Binnenmigration. Die studentischen Protestbewegungen konnten in diesem veränderten gesellschaftlichen Klima stimulierend wirken. Doch den Protagonisten reichte das nicht. Wenn schon eine radikale Gesellschaftsveränderung in weiter Ferne lag, dann erwartete man von einer Selbstveränderung unmittelbare Erfolge. Konzepte antiautoritärer Erziehung wurden schnell im studentischen Milieu aufgegriffen. Neue Lebensformen, wie zum Beispiel Kommunen, wurden ausprobiert. Die geschlechtliche Arbeitsteilung wurde schon bald zum Stein des Anstoßes in einer Organisation, die Emanzipation auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Der spektakuläre Tomatenwurf auf Hans-Jürgen Krahl bei der Delegiertenkonferenz des SDS im September  gilt als Gründungstat der autonomen Frauenbewegung in Deutschland. Der Tomatenwurf folgte der Logik des Antiautoritarismus, der in einer tiefgreifenden Krise gesellschaftlicher Autorität begründet war. In allen westlichen Ländern war es am Beginn der er Jahre zu einem Anwachsen qualifizierten Arbeitskräftebedarfs gekommen, der mit einer Bildungsexpansion einherging. Aus der Ordinarienuniversität war eine Massenuniversität geworden, in die neue Bildungsschichten strömten. Beim Eintritt in die Institution wurde ein Anpassungsdruck spürbar, der die Studenten empfänglich machte für den Zweifel an überkommenen Lernformen. In einer Organisation wie dem SDS, in der theoretische Kenntnis wie praktische Militanz Prestige verschafften, musste die traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung einen Aufstand provozieren. Von dieser Revolte in der Revolte gingen Signale aus. Die gesellschaftliche Diskriminierung der Frauen wurde endlich zum öffentlichen Skandal: Abschaffung des Abtreibungsparagrafen, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe. Aufgeladen wurden diese Konflikte durch die Versprechen befreiter Sexualität. Die Rolling Stones und Wilhelm Reich begegneten sich. Simone de Beauvoir kam auch dazu.

Kalter Krieg Ohne den Kalten Krieg lässt sich »Achtundsechzig« gar nicht verstehen. Die Blockkonfrontation steckte den legitimatorischen Rahmen ab, in dem sich die Studentenbewegungen bewegten. Aus der Perspektive einer provinziellen Bundesrepublik erschienen die demokratischen Ide158

    

ale der angloamerikanischen Welt vorbildlich für das nachnationalsozialistische Deutschland. Gemessen an diesen Idealen hatte die Politik der westlichen Welt in der Dritten Welt ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die Beschwörung einer kommunistischen Bedrohung wurde von den regierenden Parteien in fast allen NATO-Ländern dazu benutzt, Diktaturen nicht nur in der Dritten Welt zu stützen. Das faschistische Spanien und das autoritär-kolonialistische Portugal wurden ebenso als Teil der »freien Welt« akzeptiert wie das von putschenden Obristen regierte Griechenland. Man musste kein Verschwörungstheoretiker sein, um nach dem bedrohlichen Besuch Charles de Gaulles bei General Jacques Massu in Baden-Baden während des Mai  die Pläne für eine Notstandsgesetzgebung in der Bundesrepublik als gefährlich zu empfinden. Die Protestbewegungen in der westlichen Welt waren Mitte der er Jahre aus einem gespürten Demokratiedefizit entstanden. Eine langanhaltende Phase von Prosperität hatte den Anspruch geweckt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die entstandene Konsum- und Freizeitkultur geriet in Konflikt mit den Anforderungen an Arbeitsdisziplin, Hierarchien in Betrieben, Erziehungsinstitutionen und Familie. Auch das Private wurde als politisch empfunden. Der Geist der Rebellion kam nicht nur in bürgerlichen Familien auf. Mit einer gewissen Zeitverzögerung erreichte er auch jugendliche Arbeiter, Lehrlinge und Fürsorgezöglinge. Bei den militanten Osterunruhen  nach dem Attentat auf Rudi Dutschke kamen sie in größerer Anzahl spontan zu den Blockaden des Springer-Verlags. Diese Erfahrung wurde von manchen im SDS dahingehend fehlgedeutet, Militanz sei der Schlüssel, die gesellschaftliche Isolation der Studenten zu durchbrechen. Der SDS hatte sich seit Jahresbeginn in der Falle des Verbalradikalismus befunden. In diesem rhetorischen Sumpf fand die RAF einen legitimatorischen Nährboden für ihre terroristischen Aktionen. Die Kritik der Gesellschaft wurde verkürzt zu Parolen. »Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muß weg!« wurde im Kampf gegen die Notstandsgesetze sehr populär. Dieser Slogan schürte das Gefühl einer Bedrohung, das aus dem Schrecken der Vergangenheit genährt wurde. Das Stichwort »Faschismus« ließ das nachnationalsozialistische Deutschland in einem internationalen Katastrophenzusammenhang erscheinen, verwischte aber auch die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Faschismen und der Spezifität des deutschen Nationalsozialismus. Auch die Bezeichnung eines jeden autoritären Verhaltens als faschistoid bereitete der Inflationierung der Kategorie »Nazi« den Weg. Der eigene Politisierungsprozess kann einen Hinweis darauf geben, wie es zu dem allgegenwärtigen 159

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Gefühl einer unaufgearbeiteten Vergangenheit kam. Der Geschichtsunterricht hatte mit dem Jahr  geendet, die Weimarer Republik galt in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit als Demokratie ohne Demokraten. Die Schrecken des Nationalsozialismus wurden mit dem Eichmann-Prozess und dem Auschwitz-Prozess vor Augen geführt. Hier hatte das Fernsehen einen beträchtlichen Anteil an der Aufklärung. Erwin Leisers Dokumentarfilm Mein Kampf und Die Ermittlung von Peter Weiss gruben sich in das Gedächtnis ein. Die vom SDS geförderte Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« machte auf das »Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie« (Adorno) aufmerksam. Das Erschrecken über den Nationalsozialismus war ein entscheidendes Politisierungsmoment vor , das auch Kinder aus bürgerlichen Elternhäusern zu sozialistischen Organisationen brachte. Das Versagen des deutschen Bürgertums angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung weckte das Interesse an einer gesellschaftskritischen Ursachenforschung. Vielleicht liegt darin auch eine Besonderheit der deutschen Protestbewegung, das starke Interesse an einer Theorie der zivilisatorischen Katastrophe. Emigranten und Remigranten wurden zur intellektuellen Ressource.

Der Blick auf die Welt Was vom Jahre übrig bleibt? Trotz aller politischen Irrungen und Wirrungen öffnete sich der Blick auf die Welt. Zur Entprovinzialisierung der Bundesrepublik trugen die ausländischen Studenten wesentlich bei. Austauschstudenten aus den USA hatten dem SDS die amerikanischen Protestformen nahegebracht. Angela Davis zum Beispiel studierte  in Frankfurt Philosophie; aus ihrem Munde konnte man etwas über den Rassismus in den USA erfahren. Italienische Studenten machten die deutschen Studenten mit dem Operaismo bekannt. Zu den Protesten gegen den senegalesischen Staatspräsidenten Léopold Senghor bei der Friedenspreisverleihung  wäre es nie gekommen, wenn nicht afrikanische Kommilitonen auf seine Politik und Philosophie aufmerksam gemacht hätten. Man muss zugeben: Wirklich beschäftigt mit Aimé Césaires und Frantz Fanons Kritik der Négritude hatten sich nur wenige; aber die Diskussionen ermöglichten ein Kennenlernen einer nicht eurozentrischen Weltwahrnehmung. Eine andere Sicht auf den Nahostkonflikt kam durch die im Frankfurter Kontext einzigartigen Kontakte zwischen jüdischen, arabischen und deutschen Studenten zustande – auch wenn am Ende die Realität des Konflikts im Nahen Osten die politischen 160

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Kapazitäten des SDS überforderte: Die Reduktion des Konflikts auf die israelische Besatzungspolitik unterschlug die Komplexität des Palästinaproblems. Es ging und geht in Palästina nicht um eine antikoloniale Revolution, sondern um die wechselseitige Anerkennung zweier Völker. In Westdeutschland sprach man damals noch vom . Mai als Tag der Kapitulation. Wer ihn Tag der Befreiung nannte, galt als Kommunist, der nur die Befreiung durch die Rote Armee meinte. Im SDS dagegen entwickelte sich ein Selbstverständnis, das bereit war, den Anteil der Roten Armee an der Befreiung vom Nationalsozialismus anzuerkennen, zugleich aber auch die Begründung demokratischer Institutionen durch die westlichen Alliierten zu begrüßen. Der Vorwurf an die Befreier galt der inkonsequenten Durchführung der Entnazifizierung, gerechtfertigt durch die Erfordernisse des Kalten Krieges. Alte Nazis befanden sich um  noch in vielen Institutionen der Bundesrepublik an führender Stelle. In der Bundeswehr hatten viele wehrpflichtige Studenten noch Erfahrungen mit alten Wehrmachtstraditionen machen können. Der von Rudi Dutschke propagierte »lange Marsch durch die Institutionen« sollte der Präsenz alter Nazis und Offiziere in den Universitäten, den Gymnasien, der Justiz und dem Gesundheitswesen begegnen. Aus der antiinstitutionellen Politik der Revolte entstand ein Zug zur partizipatorischen Demokratie, der trotz einiger Rückschläge bis heute anhält. Unmittelbar nach  bestimmte er das Reformklima, das die Bildung einer sozialliberalen Koalition ermöglichte. Die internationale Protestbewegung hat eine Empfindsamkeit für gesellschaftliche Diskriminierung erzeugt. Rassismus und Antisemitismus galten als die abscheulichsten Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Geschlechtliche Diskriminierung wurde in den westlichen Gesellschaften nun öffentlich thematisiert. Aus der Protestbewegung heraus entwickelten sich Frauen- und Homosexuellenbewegung. Aber gesellschaftliche Widerstände lassen sich nur schwer überwinden. Als schwache Reaktion auf das Andauern von Diskriminierungen hat sich eine Identitätspolitik entwickelt, die mehr auf das Selbstbild der Akteure abzielt als auf eine Beseitigung der gesellschaftlichen Ursachen. Die Wahrnehmung der Ethnoheterogenität westlicher Gesellschaften hat auch um  eingesetzt. Als bedrohliche Reaktion auf die naturwüchsige Diversifizierung der Gesellschaft hat sich eine nationale Identitätspolitik herausgebildet, die keineswegs nur von Ideologen der neuen Rechten propagiert wird. In der Gründung von Heimat- und Identitätsministerien in fast allen westlichen Ländern findet diese Tendenz ihren Niederschlag. Der Zeitzeuge sieht mit Erschrecken, welche Verwendung die intellektuellen Werkzeuge finden, die in emanzipatorischer Absicht entwickelt wurden. 161

Demokratisierung des Betriebs? Der Bundesverband der Deutschen Industrie und die paritätische Mitbestimmung V B Der folgende Artikel ist nur in einem weiteren Sinne ein Beitrag zur politischen und kulturellen Demokratisierung der Bundesrepublik, mit der sich meine Mitautorinnen und Mitautoren beschäftigen. Mir geht es um Fragen des Verhältnisses von Unternehmern und Gewerkschaften und dabei um die Diskussion über die Demokratisierung der westdeutschen Wirtschaft nach . Das ist ein Thema, das allzu leicht in den Hintergrund geschoben wird, obwohl es für ein Verständnis der bundesrepublikanischen Geschichte nicht weniger bedeutsam ist als die »Demokratisierung im Staat« und die »Demokratisierung der Gesellschaft«. Um dies zu illustrieren, greife ich zu einer Fallstudie, wobei es zugleich immer um die Machtbalance zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft geht – ein Verhältnis also, das man bei Analysen zur politischen und kulturellen Demokratisierung nicht aus den Augen verlieren sollte. Im Mittelpunkt sollen die Einstellungen und Tätigkeiten von HansGünther Sohl stehen, einem prominenten Industriellen bei den nach  entflochtenen Vereinigten Stahlwerken (VSt), ab  Vorstandsvorsitzender der August-Thyssen-Hütte (ATH), die er zum größten Stahlkonzern Europas ausbaute, schließlich von  bis  Präsident des einflussreichen Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Er war nicht nur der Mann, in dessen Amtsperiode das novellierte Mitbestimmungsgesetz von  fiel, sondern er hatte seit den späten er Jahren auch sehr unmittelbar mit der paritätischen Mitbestimmung zu tun, die zuerst  von den Engländern und den westdeutschen Gewerkschaften in der Montanindustrie eingeführt und dann  nach der Gründung des westdeutschen Staates per Bundesgesetz verankert wurde. Ich blicke damit zugleich auf die wirtschaftsdemokratische Entwicklung der Bundesrepublik – ein Thema, das immer wieder das Interesse von Norbert Frei gefunden hat – und habe dazu den Nachlass Sohls ausgewertet. Vor dem Hintergrund der Ursprünge des bundesrepublikanischen  ThyssenKrupp Archiv, Duisburg (TKA), Nachlass Hans-Günther Sohl (NLHGS). Ich danke Herrn Rasch und Herrn Zilt für Ihre großartige Unterstützung meiner Forschungen. Vgl. etwa Frei ().

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Mitbestimmungs- und Betriebsverfassungssystems untersuche ich zunächst, wie Sohl dieses System mit seinen Bestimmungen und Verpflichtungen mitgestaltete und dann während seiner Zeit als Chef der ATH handhabte. Anschließend geht es darum, welche Positionen er später als BDI-Präsident bei der Entstehung des Mitbestimmungsgesetzes von  einnahm. Die Ursprünge des nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Systems, das die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie den Belegschaften regelte, gehen auf die Weimarer Zeit und in Teilen sogar noch auf das Kaiserreich zurück. Vor allem im Anschluss an die Revolution von / gab es in der Arbeiterbewegung eine intensive Debatte über eine Neuordnung der Machtverteilung zwischen »Kapital und Arbeit«. Während bei der extremen Linken damals die Forderung nach einer sofortigen Enteignung und Sozialisierung der Produktionsmittel gestellt wurde, entwickelten die Sozialdemokraten und die Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) einen reformistischen Weg zur Transformation der kapitalistischen Wirtschaft, den Fritz Naphtali in seinem einflussreichen Buch über die Wirtschaftsdemokratie zu definieren versuchte. Doch dann kam  die NS-Diktatur; die Gewerkschaften und die SPD wurden verboten, ihre Führer ermordet, eingekerkert oder ins Exil gezwungen. Nach dem Sieg der Alliierten über das Dritte Reich und der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen bemühten sich die Engländer, denen das Rheinland und das Ruhrgebiet zugefallen war, in ihrer Zone das vorgefundene Chaos von bombenzerstörten Städten, Industrieanlagen und Verkehrswegen, von nach ihren Familien suchenden Soldaten, verbliebenen heimatlosen Zwangsarbeitern und von Ostflüchtlingen und Vertriebenen zu bändigen. Sie konnten sich bei dieser Aufgabe auf die Hilfsbereitschaft von Arbeiterführern stützen, die den Krieg im Konzentrationslager oder im Ausland überlebt hatten. Ihnen wurde von den Briten schnell die Wiedergründung von Gewerkschaften erlaubt, die jetzt politisch durchweg ausgesprochen links standen. Der Ruf nach einer Enteignung und Sozialisierung der Industrie, die für den Aufstieg und die Unterstützung des NS-Regimes sowie die Entfesselung des Weltkriegs mitverantwortlich gemacht wurde, waren bis in die CDU hinein zu hören.

 Naphtali (/).  Narr ().

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Diese Forderungen stießen bei den britischen Besatzungsbehörden zunächst auf viel Verständnis, dachten die  an die Macht gekommene Labour-Regierung unter Clement Attlee und die britischen Gewerkschaften doch ebenfalls an eine Verstaatlichung ihrer Schwerindustrie. Wie im übrigen Westeuropa befand man sich in den Westzonen sogar auf der Suche nach einem »Dritten Weg« zwischen dem Stalinismus, den man strikt verwarf, und dem amerikanischen Kapitalismus, dem man ebenfalls kritisch gegenüberstand. Die Hoffnung war, dass Europa eine Mittelstellung in Weltpolitik und -wirtschaft finden würde. Mit dem Beginn des Ost-West-Konflikts und dem Marshall-Plan, auch unter dem Eindruck von Washingtons militärischer Sicherheitsgarantie, die  in der Gründung der NATO gipfelte, kam es jedoch in der rheinischen Gewerkschaftsbewegung, die unter der Führung von Hans Böckler stand, zu einer Distanzierung von den Sozialisierungsvorschlägen. Anders als die Sozialdemokratie neigte Böckler zum auch von den britischen Besatzungsbehörden favorisierten Konzept einer »paritätischen Mitbestimmung«, das in Montan-Aktiengesellschaften ein Gleichgewicht zwischen »Kapital und Arbeit« herstellte, indem beide Interessengruppen gleich viele Vertreter in die Aufsichtsräte entsandten. Deren Leitung sollte bei einem neutralen Vorsitzenden liegen. Dem Management gehörte in diesem Modell ein »Arbeitsdirektor« an, der von den Belegschaften und Gewerkschaften vorgeschlagen wurde und nicht nur für soziale Fragen zuständig war, sondern gleichberechtigt alle Beschlüsse seiner Vorstandskollegen mittrug. Zwar versuchten die Montankonzernherren dieses Modell, das sie ablehnten, durch einen eigenen Vorschlag zu konterkarieren, doch Böckler und seine Kollegen entschieden sich für das »paritätische« Modell, das dann dank der gesetzgebenden Macht der Briten  an der Ruhr eingeführt und bis  praktiziert wurde. Mit der Gründung der Bundesrepublik gingen  die im Grundgesetz festgehaltenen Gesetzgebungsvollmachten an Bundestag und Bundesrat über. Danach dauerte es nicht lange, bis die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie auf der Tagesordnung der Bundestagsparteien und Länderparlamente sowie der unternehmerischen Interessenverbände erschien. Konrad Adenauer, der christdemokratische Bundeskanzler, hatte in seiner Regierungserklärung vom September  bereits auf das Konfliktpotenzial hingewiesen. Nachdem Böckler die Paritätik  befürwortet und die Unternehmer das Montanmodell abgelehnt hatten, waren schwere Konflikte fast unvermeidlich. Schon   Otto (), S. -.

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wollte die Unternehmerschaft das Montangesetz annulliert sehen, während Böckler und der inzwischen konsolidierte Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die paritätische Mitbestimmung auf alle größeren Unternehmen ausdehnen wollten. Bis zum Sommer  scheiterten mehrere Versuche, einen Kompromiss auszuhandeln. Im Herbst spitzte sich die Lage nicht zuletzt angesichts einer immer schärferen Ablehnung jeglicher Paritätik durch die Unternehmer weiter zu. Vor allem BDI-Vizepräsident Otto Vogel heizte den Streit an, als er meinte, es bestehe die Gefahr, dass sich »die Macht über die Gesamtwirtschaft in die Gewerkschaftszentrale nach Düsseldorf« verlagere. Dahinter stehe ein »so ungeheuerlicher totalitärer Machtanspruch«, für den es seit Hitler und Robert Ley kein »ähnliches Beispiel« gegeben habe. Mehr noch, »das Vergangene [müsse] als Vorstufe dieser viel größeren Machtentfaltung angesehen werden«. In dieser Atmosphäre war es verständlich, dass die Gewerkschaften um ihre seit  bestehenden paritätischen Rechte in der Kohle- und Stahlindustrie bangten. Sie sahen die Ratifizierung eines Gesetzes durch die konservative Bundestagsmehrheit voraus, das selbst die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie wieder abschaffte. Daraufhin griffen sie zu einer Streikdrohung, die sie im Herbst unmittelbar vorbereiteten. Diese Drohung sollte der Öffentlichkeit zeigen, wie ernst es ihnen mit ihren speziellen Neuordnungsvorstellungen der Arbeitsbeziehungen war. Eine Urabstimmung ergab, dass die Stahlarbeiter zu  Prozent hinter dieser Maßnahme standen, die Bergarbeiter zu  Prozent. Da Adenauer davon seine Verhandlungen über die Errichtung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bedroht sah, übernahm er im Januar  den Vorsitz einer Kommission, die eine Lösung ausarbeitete. Am Ende einigte man sich auf eine Lösung, die den Streik vermied und es dem Bundeskanzler obendrein ermöglichte, die EGKS durch den Bundestag zu bringen. Dank der Unterstützung durch einige Unternehmer, zu denen vor allem der Klöckner-Chef Günter Henle gehörte, wurde erstens die Gültigkeit der Montanmitbestimmung im Parlament angenommen und am . Mai  im Bundesgesetzblatt verkündet. Zweitens verzichteten die Gewerkschaften – wenn auch nicht für immer – auf eine Ausdehnung des Montanmodells auf die übrige Industrie, und drittens wurde den    

Siehe das Protokoll in Müller-List (), S.  ff. So Vogel auf einer Großkundgebung der BdA am .. in Köln. Otto (), S. . Thum (); Müller-List ().

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Gewerkschaften gewissermaßen als Kompensation die Vorlage eines Betriebsverfassungsgesetzes zugesagt. Dieses Gesetz, das  in Kraft trat, gab den Betriebsräten und Gewerkschaftsvertretern zwar nicht die weitreichenden Mitbestimmungsrechte, wie sie in Montanunternehmen galten, aber durchaus signifikante Informations- und Beratungsrechte in Betrieben mit mehr als  Mitarbeitern, sofern diese nicht ohnehin bereits in Tarifverträgen vereinbart worden waren. Dazu gehörten nicht nur Lohn- und Gehaltsfragen, sondern auch die Einführung technischer Neuerungen, die Verwaltung sozialer Einrichtungen, die Fürsorge für jüngere und ältere Mitarbeiter sowie Fortbildungs- und Umschulungsprogramme. Nach der Konstituierung dieses doppelten und gesetzlich verankerten Rahmens für die Beziehungen zwischen »Kapital und Arbeit« stellt sich die Frage, welche Rolle der BDI und besonders Hans-Günther Sohl im Winter / in der mit Adenauers Hilfe gelösten Krise einnahmen und welche Auswirkungen der neue Rechtsrahmen auf den betrieblichen Alltag bei der ATH hatte. Offenbar entstand im November  im Präsidium des BDI, der unter Fritz Berg inzwischen seine Position als Spitzenverband konsolidiert hatte, der Eindruck, dass Vogel mit seinen radikalen Worten über das Ziel hinausgeschossen war. Kontakte zu Viktor Agartz, dem DGB-Wirtschaftsexperten, deuteten darauf hin, dass Böckler die Streikdrohung nicht verwirklichen wollte und weiterhin zu Verhandlungen bereit war. Über den Mannesmann-Vorstandsvorsitzenden Hermann Winkhaus gab es zudem Verbindungen zur Führung der IG Metall, die den Streik ausrufen musste. In diesem Beziehungsgeflecht war Sohl im Vorstand der weiterhin bestehenden Vereinigten Stahlwerke tätig, die nach dem Willen der Westalliierten entflochten und in kleineren Kerngesellschaften neu geordnet werden sollten. Wie Sohl am . November  an Bundesinnenminister Robert Lehr schrieb, hielt er auch jetzt noch eine »tragbare Verständigung« mit dem DGB in der Mitbestimmungsfrage für möglich. Da aber die Kerngesellschaften noch nicht errichtet worden waren, hoffte er zu dieser Zeit offenbar auf eine Stornierung der paritätischen Mitbestimmung. Doch dann entschlossen sich Berg und die an diesen Gesprächen beteiligten Ruhrmanager, Adenauers Kompromissbemühungen den Vortritt zu lassen. Auch das Gespräch von Winkhaus mit der IG Metall, das  Vgl. z. B. Wolfrum (), S. , auch zu den Konflikten innerhalb der Gewerkschaften, die dieses Ergebnis auslöste. Siehe auch unten Anm. .  Zu Sohl vgl. die Studie von Pierenkemper (), S. -.  Sohl an Lehr, .., in: TKA, NLHGS, A.

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für den . Dezember verabredet war, wurde zugunsten einer Intervention des Bundeskanzlers abgesagt. Adenauer verdeutlichte seine Prioritäten auch symbolisch, indem er Böckler demonstrativ an seiner Seite platzierte. Obwohl sich der Kanzler durchsetzte und eine Lösung vereinbart wurde, die Böckler veranlasste, die Streikdrohung bis auf Weiteres zurückzuziehen, gab es wegen der Wahl des elften Mannes in den Montanaufsichtsräten noch Unklarheiten. Die Gewerkschaften hatten vorgeschlagen, dass der neutrale Aufsichtsratsvorsitzende »notfalls durch die Bundesregierung« bestimmt werden sollte. Doch glaubte der Bankier und Kanzlerberater Robert Pferdmenges, dass »die Sache in unserem Sinne in Ordnung gehe«, womit er offenbar die Wahl durch die Hauptversammlung der Aktionäre meinte. Auch berichtete Sohl darüber, dass im Bundestag besonders bei der FDP »Bestrebungen vorhanden« seien, »von den vier Arbeitnehmersitzen nur zwei durch die Gewerkschaften benennen zu lassen und die übrigen zwei unmittelbar durch den Betriebsrat ohne Mitwirkung der Gewerkschaften«. Sohl hatte Pferdmenges daraufhin geantwortet, »daß wir von uns aus natürlich eine Änderung der ursprünglichen Vereinbarung nicht betreiben könnten, andererseits aber keinen Anlaß hätten, den Abänderungswünschen des Parlaments in diesem Punkte zu widersprechen«. Es gab noch weitere Komplikationen bezüglich der Wahl des elften Mannes, wie Sohl vier Wochen später notierte. Die von Pferdmenges mit Adenauer vereinbarte Lösung sei jetzt zwar verbindlich, doch habe Henle soeben mitgeteilt, dass für den Fall, dass sich der Aufsichtsrat nicht auf einen Kandidaten einigen könne, ein paritätisch besetzter, aus vier Mitgliedern bestehender Vermittlungsausschuss zusammengerufen werden solle. Zudem sei »das Vetorecht der Arbeitnehmerseite bei der Abberufung des Arbeitsdirektors [… zwar] gefallen, bei der Berufung des Arbeitsdirektors jedoch bestehen geblieben«. Auch nachdem die paritätische Mitbestimmung im Mai  Bundesgesetz geworden war, die Bildung der Kerngesellschaften aber noch abgeschlossen werden musste, ließ Adenauer Gewerkschaften und VSt-Vorstand wegen des elften Mannes zunächst weiter miteinander verhandeln, behielt sich aber eine Intervention für den Fall vor, dass man sich nicht einigen konnte. Was den  Sohl an Lehr, .., ebd.  Sohl (), S. .  Vermerk Sohls für Wenzel, Linz, Schwede und Homberg, .., in: TKA, NLHGS, A.  Vermerk Sohls für Wenzel, Hueck, Linz, Schwede, Seelig und Homberg, .., ebd.

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Bundeskanzler ermutigte, war das Verhalten von Walter Freitag, dem Vorsitzenden der IG Metall, der »zum Erstaunen der anderen Gewerkschaftsmitglieder sich von einer außerordentlich liebenswürdigen Seite dem Bundeskanzler gegenüber gezeigt und seine Bereitwilligkeit zu einer Verständigung immer wieder betont habe«. Auch Christian Fette, der Nachfolger des im Februar plötzlich verstorbenen Hans Böckler, zeigte sich verständigungsbereit. Indessen stand er in seiner neuen Position unter dem Druck, »daß von ihm die Gewerkschaftsinteressen mindestens genauso gut« vertreten würden wie von seinem Vorgänger, ohne sich »von der SPD mißbrauchen zu lassen«. So kam es, dass der DGB-Vorstand am . August  in einem Schreiben an den Bundeskanzler noch einmal seine Kernforderungen auflistete. Nach dem neuen Gesetz übten die Aufsichtsräte ihre Tätigkeit »zum Wohle des Unternehmens und der gesamten Volkswirtschaft« aus. Folglich komme es darauf an, »Persönlichkeiten auszuwählen, die neben einer umfassenden Lebens- und Berufserfahrung den Aufgabenstellungen moderner Betriebsführung und sozialer Menschenbehandlung aufgeschlossen« gegenüberstünden. In Fettes Augen hieß dies, dass »Männer, die sich als grundsätzliche Gegner einer verständnisvollen Zusammenarbeit zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, wie sie das Mitbestimmungsgesetz vorsieht, bekannt haben«, für Aufsichtsratsund Vorstandsaufgaben bei den neu zu bildenden Montangesellschaften nicht in Frage kämen. Auf keinen Fall dürften nach Fettes Meinung »Persönlichkeiten« nominiert werden, deren »Name für weite Kreise der Bevölkerung eine überwundene Wirtschaftsauffassung« repräsentierte. Gerade für die Wahl des elften Mannes bedürfe es nach dem neuen Gesetz »der Zustimmung von mindestens je drei Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer«, wie überhaupt »der Aufsichtsratsvorsitzende ein besonders hohes Maß von Objektivität aufweisen und vom Vertrauen beider Seiten getragen sein« müsse. Entgegen Adenauers Hoffnungen konnten sich beide Seiten nicht verständigen, sodass der Bundeskanzler im September Pferdmenges, zwei Stahlmanager und Wirtschaftsstaatssekretär Ludger Westrick zusammen Vermerk Schmidts [?] für Sohl und Schwede betr. »Vertrauliche Information über Bürgenstock-Gespräch [Adenauers] mit den Gewerkschaften«, .., ebd.  Ebd.; siehe auch Thum (), S.  ff.  Fette an Adenauer (Abschrift), ... TKA, NLHGS, A. Das Schreiben wurde offenbar an den BDI weitergereicht und dort als Abschrift an Wenzel, Pferdmenges, Linz, Schwede, Seelig und Homberg verteilt.

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rief, um über seine Vorbesprechung mit dem DGB auf dem Bürgenstock in der Schweiz und in Bonn im Palais Schaumburg am . September zu berichten, hatten sich die Gewerkschaften doch beklagt, »daß eine Verständigung über den sogenannten ›. Mann‹ nach dem Geiste des Mitbestimmungsgesetzes nicht erreichbar sei«. Das betreffe vor allem die VSt, weil man dort ohne eine Diskussion von Alternativen »sogleich auf den letzten Ausweg abziele, den elften Mann durch die Hauptversammlung wählen zu lassen«. Die VSt-Vertreter antworteten dem Bundeskanzler, dass sie sich »unter erheblichen Zugeständnissen« um eine Verständigung mit den Gewerkschaften bemüht hätten, aber selbstverständlich »gern bereit [seien], zu einer Handhabung gemäß der Empfehlung des Bundeskanzlers« zu gelangen. Sie wollten jetzt »für jede einzelne Gesellschaft je fünf Namen nennen, und zwar von der Stahltreuhändervereinigung als der derzeitigen treuhänderischen Aktionärin der bereits bestehenden Kerngesellschaften und der Hauptgründerin der demnächst entstehenden Kerngesellschaften«. Allerdings erwartete man, »daß der andere Sozialpartner entsprechend verfahren« werde. Abschließend gaben die drei »der zuversichtlichen Hoffnung Ausdruck, daß die Verhandlung der zwei Mal fünf Männer bei jeder einzelnen Gesellschaft gewiß zu einer Verständigung wegen des elften Mannes und wegen des Vorsitzenden des Aufsichtsrats führen werde«. Hiernach äußerte Adenauer, »daß diese Haltung der VSt ihn befriedige« und er dieses Ergebnis dem DGB mitteilen werde, woraufhin dann tatsächlich eine Einigung zustande kam. Obwohl Sohl an diesen letzten Verhandlungen nicht direkt beteiligt war und es bis Oktober  dauerte, bis das Betriebsverfassungsgesetz verkündet werden konnte, bedeutete die Einigung, dass er sich bei seiner Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden der ATH als einer der neuen Kerngesellschaften im Innenbetrieb künftig um seine Beziehungen zum paritätisch besetzten Aufsichtsrat, zu den Betriebsräten der angegliederten Werke, zu den Gewerkschaften und schließlich auch zum Arbeitsdirektor, der mit ihm im Vorstand saß, zu kümmern hatte. Zudem hatte der DGB in seinem Schreiben vom . August  die moralischen Ver Niederschrift über die Besprechung Adenauers und Westricks mit Wenzel, Pferdmenges und Linz am . September  »über die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes auf die Kerngesellschaften«, .., ebd. Dort auch eine weitere, anders formatierte Niederschrift, sowie eine ungezeichnete und undatierte, aber detailliertere Niederschrift und ein nachträglicher korrigierender Vermerk von Linz für Sohl und Wenzel, ..: Die VSt hätten eine Verständigung nicht abgelehnt. Linz sah daher keine Veranlassung, als »reuige Sünder« dazustehen, die »vom Kanzler mit Recht zur Ordnung gerufen« worden seien.

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pflichtungen noch einmal deutlich formuliert. Allerdings dauerte es über ein Jahr, ehe sich die Gewerkschaften auf einen Arbeitsdirektor als Vorstandsmitglied geeinigt hatten. Diese Verzögerung deutet darauf hin, dass beide Seiten Lernprozesse zu bewältigen hatten. So mussten sich die Gewerkschafter im paritätisch besetzten Aufsichtsrat und in den Betriebsräten zunächst juristische und betriebswirtschaftliche Kenntnisse aneignen, um kompetent mitentscheiden beziehungsweise ihren Standpunkt überhaupt nachdrücklich vertreten zu können. Es dauerte somit einige Zeit, bis die gewählten Arbeitnehmervertreter das erforderliche Wissen in Seminaren, Schulungskursen und im Selbststudium erworben hatten. Diese Notwendigkeit zum Lernen traf indessen – wenn auch auf andere Weise – ebenso auf Sohl und seine Vorstandskollegen zu. Auch sie mussten ihr Verhalten anpassen. Den vielzitierten »Herr-im-Hause«Standpunkt, der vor  noch weithin gegolten hatte und der dann im Dritten Reich durch das Betriebsführer-Prinzip sogar noch verstärkt worden war, konnte Sohl im Thyssen-Konzern nicht mehr praktizieren. Dieser Wandel wurde nicht nur durch den gesetzlichen und institutionellen Rahmen, sondern wohl auch durch tiefere Einsichten beeinflusst, die Sohl schon vor dem Zusammenbruch der NS-Diktatur gewonnen zu haben scheint. Immerhin war er zuerst bei Krupp ab  Leiter der Rohstoffabteilung gewesen, ehe er  bei den Vereinigten Stahlwerken für den Einkauf von Eisenerz und Nichteisenmetallen zuständig wurde – eine Schlüsselposition im Konzern. Zwei Jahre später rückte er im VStVorstand zum Stellvertreter des Vorsitzenden Walter Rohland auf . Was er in dieser Spitzenposition miterlebte und direkt oder gerüchteweise hörte, sein Wissen um und die Mitverantwortung für das Leben und Sterben von Tausenden von Zwangsarbeitern in den VSt-Werken – das alles hinterließ Spuren bei diesem durchaus sensiblen Mann, der in den er Jahren noch daran gedacht hatte, Pianist zu werden. Sohl war der Überzeugung, dass eine solche Zeit in Deutschland auf keinen Fall wiederkommen durfte. Das betraf auch seine Einstellung zu den unter dem Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Gewerkschaftern. Er hatte erkannt, dass Gewerkschaften für eine demokratische Gesellschaft unerlässlich waren. Sohl hatte zuerst mit Böckler und dann zu dessen Nachfolgern im DGB und in der IG Metall gute Kontakte geknüpft, ebenso zu den Betriebsratsvorsitzenden der diversen Thyssen-Werke. Mit ihnen setzte er  Sohl (Anm. ), S. .  Dazu Urban ().

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sich immer wieder zusammen und suchte bei Konflikten nach Lösungen, die für beide Seiten akzeptabel waren. Die Gewerkschaftsvertreter mussten ihrerseits immer darauf achten, dass die gut organisierten und informierten Metallarbeiter in jeden Konsens eingeschlossen wurden. Gewiss gab es auch Kollegen wie etwa Hermann Reusch, den Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte, der sich  noch immer nicht an die Montanmitbestimmung gewöhnt hatte und bei einer Gelegenheit öffentlich gegen die »Erpressung« wetterte, aufgrund derer sie  eingeführt worden sei. Doch in der damaligen Bundesrepublik und auch in der Ruhrindustrie herrschten längst andere Machtverhältnisse als zu Weimarer Zeiten. Denn gegen Reuschs Interpretation der paritätischen Mitbestimmung traten die Metaller spontan in einen Proteststreik, den die anderen Stahlkonzerne in Verhandlungen dann so schnell wie möglich wieder beizulegen suchten. Ein Beispiel für die alltägliche Praxis der Kooperation: Im Dezember  fällte der ATH-Vorstand eine einsame Entscheidung über die Arbeitszeiten während der Weihnachts- und Neujahrsfeiertage. Diese widersprach einer Regelung, die der Personalchef mit dem Betriebsrat vereinbart hatte. Sohl musste sich daher sagen lassen, dass der Vorstand die bisherige gütliche Vereinbarung unterminiert habe und es in der Belegschaft zu bissigen Kommentaren gekommen sei. Sohl beraumte daraufhin eine Besprechung an, in der er den Fehler eingestand. Man einigte sich darauf, dass zwischen der Werksleitung und dem Betriebsrat ein »Mißverständnis« entstanden sei, das man nunmehr dadurch beseitigt habe, dass Letzterer in Zukunft derartige Feiertagsregelungen mit unterschreiben werde. Freilich sollte nicht verschwiegen werden, dass beide Seiten sich bei unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten auch deshalb gütlich einigen konnten, weil es in der damaligen Zeit des Booms in der Stahlindustrie relativ einfach war, Konzessionen zu machen und die Löhne und Sozialleistungen des Konzerns zur Zufriedenheit der Belegschaft zu verbessern. In Zeiten voller Kassen und notorischen Arbeitskräftemangels war es also leicht möglich, selbst das komplizierte paritätische Montanmodell zu praktizieren. Das änderte sich , als die bundesdeutsche Wirtschaft erstmals in eine Krise geriet. Noch schwieriger wurde es Anfang der er Jahre, als Sohl am . Januar  seine BDI-Präsidentschaft antrat. Der sozioöko   

Vgl. Berghahn (), S. . Betriebsrat an Sohl, .., in: TKA, NLHGS, A. Ebd. Wolfrum (), S.  ff.

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nomische Kontext ist hierfür wichtig: Durch die Kosten des Vietnamkriegs brach das westliche Währungssystem zusammen, das die USA  in Bretton Woods geschaffen hatten und aus dem sie sich jetzt zurückzogen. In Washington begann darüber hinaus mit dem Watergate-Skandal eine Verfassungskrise, die zum Rücktritt von Präsident Richard Nixon führte. Saudi-Arabien und die anderen ölfördernden Staaten griffen  zu einer drastischen Erhöhung der Ölpreise und verursachten dadurch eine weltweite Wirtschaftskrise. Auch in der bundesrepublikanischen Innenpolitik hatten sich im Zuge eines Generationenwechsels und der Kritik an der amerikanischen Außenpolitik, die sich in eine Kritik am westlichen Kapitalismus ausweitete, die politischen Gewichte verschoben. In der  von der SPD und der FDP geschlossenen Regierungskoalition gaben Kräfte den Ton an, die modernisierende Reformen durchführen wollten. Bundeskanzler Willy Brandt sprach davon, dass man »mehr Demokratie wagen« wolle. Der Linksrutsch ermunterte auch die Gewerkschaften, erneut grundsätzlichere Forderungen zu stellen, darunter besonders die Ausweitung des Montanmitbestimmungsgesetzes auf alle Industriezweige. Dieser Forderung schloss sich auch der linkskatholische Flügel der Christdemokraten an, der in den Sozialausschüssen organisiert war und die Position des Jesuitenpaters Oswald von Nell-Breuning teilte, der das System der westdeutschen Sozialen Marktwirtschaft nicht mehr »brechen«, sondern zugunsten der Arbeitnehmer »umbiegen« wollte. Sozialdemokraten und Gewerkschaften wollten die Partizipationsrechte der Belegschaften ohnehin stärken, und der beste Weg dorthin schien ein neues, für alle Branchen geltendes Mitbestimmungsgesetz zu sein. In dem Bestreben, bei den nun einsetzenden parlamentarischen Verhandlungen den Gewerkschaften halbwegs entgegenzukommen, bemühte sich vor allem die FDP als Koalitionspartnerin der SPD, eine Verschiebung der Gewichte im Aufsichtsrat gesetzlich zu verankern, indem sie den »leitenden Angestellten« neben den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat Stimmrechte einräumte; auch sollte der Aufsichtsratsvorsitzende mit einer Zweitstimme mögliche Pattsituationen aufheben können. Dahinter stand die Überlegung, dass die Vertreter der leitenden Angestellten in allen die Machtbalance betreffenden Fragen wohl mit den Aktionärsvertretern zusammengehen und so dafür sorgen würden, dass sich die Waage letztlich immer zugunsten der Eigentümer und Aktionäre senkte. So entstand ein Entwurf, der nach langwierigen Ver Nell-Breuning ().  Wolfrum (), S. .

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handlungen in den Ausschüssen schließlich im Mai  vom Bundestag mehrheitlich angenommen wurde. Er etablierte zwar nicht das volle paritätische Prinzip des Montanmodells zwischen »Kapital und Arbeit«, aber dieses Gesetz galt danach doch für alle größeren Unternehmen. Um diese Erweiterung der Mitbestimmung doch noch zu Fall zu bringen, reichte der BDI  eine Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Es dauerte bis , ehe das Gericht zur Enttäuschung der Kläger die Meinung vertrat, dass das Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Woher stammte dieser Druck gegen die Forderungen der Gewerkschaften? Dass die Opposition aus dem BDI kam, ist auf den ersten Blick durchaus verwirrend, weil dieser Verband von einem Mann geführt wurde, der die Montanmitbestimmung bei Thyssen im Einvernehmen mit seinen Betriebsräten, Arbeitsdirektoren und Gewerkschaften jahrelang zur allseitigen Zufriedenheit praktiziert hatte. Doch konnte Sohl seine an sich positive Einstellung niemals publik machen; er wusste, dass man jenseits der Montanindustrie strikt gegen jegliche Parität eingestellt war – selbst dann, wenn die leitenden Angestellten den Eigentümern und Aktionären zu einer gewichtigeren Stellung verhalfen. Nicht so sehr die Konzerne und Großunternehmen, sondern die mittelständischen Unternehmen machten innerhalb des BDI mobil. Sie stellten schon damals eine Macht dar, die von der Wirtschaftsgeschichtsschreibung erst in neuerer Zeit deutlicher erkannt worden ist. Standen bis dahin die Konzerne im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, entdeckte man zuletzt auch die mittelständischen Firmen, die sowohl von ihrer Zahl als auch in ihrer Rolle als innovative und hocheffiziente Motoren der westdeutschen Industriewirtschaft Einfluss und Macht gewonnen hatten. Da viele von ihnen zugleich Familienunternehmen waren, verwundert es nicht, dass der Widerstand gegen eine Ausweiterung der Montanmitbestimmung aus dieser Richtung kam. Diese Unternehmen standen in dem Ringen mit den Gewerkschaften in vorderster Linie. Mochten die Gewerkschaftsspitzen und die SPD-Minister in der Bundesregierung auch immer wieder versichern, dass sie die Soziale Marktwirtschaft anerkannten und diese lediglich verbessern wollten – die mittelständischen Unternehmer blieben bei ihrem Verdacht, dass weiter reichende Ziele bestanden. Wann immer ein Vertreter des linken Flügels der SPD Andeutungen in diese Richtung machte, wurde dies in den Industrieverbänden sofort als Beweis radikaler Absichten gedeutet. Für den unternehmerischen Mit Dazu Jäger/Link (), S. .  Herrigel (); Herrigel ().

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telstand waren etwa die Äußerungen des stellvertretenden SDS-Vizevorsitzenden Karsten Voigt vom August  das buchstäblich rote Tuch: Über die Mitbestimmung wollen »wir zur Selbstbestimmung gelangen«, die auf eine »Arbeiterselbstverwaltung« hinauslaufe, die wiederum in eine »gesamtgesellschaftliche Investitionsplanung« eingebettet sein müsse. Unter diesen Umständen sollte man sich nicht allein auf die Auseinandersetzungen zwischen den Unternehmern und der politischen Linken konzentrieren, sondern auch auf die Spannungen zwischen den Konzernherren und dem industriellen Mittelstand. Das zeigte sich recht deutlich , als die Diskussion um die Nachfolge von Fritz Berg begann, einem mittelständischen Eigentümerunternehmer, der allerdings enge geschäftliche Verbindungen zur Stahlindustrie an der Ruhr pflegte. Seit  hatte Berg die Interessen sowohl der Großindustrie als auch des Mittelstands mit manchmal recht undiplomatischem Gepoltere vertreten. Als er sich  zur Ruhe setzen wollte (oder als -Jähriger dazu ermuntert wurde), trat der Gegensatz, den Berg in seiner Person mehr oder weniger erfolgreich überbrückt hatte, wieder offen hervor. Für die Konzerne schien Sohl, der reiche Erfahrungen auch auf dem internationalen Parkett besaß, der beste Kandidat. Derweil wünschte sich der Mittelstand einen Vertreter aus seinen Reihen, etwa den bayerischen Brillenfabrikanten Rolf Rodenstock. In den Augen der Mittelständler spielte es nicht nur eine Rolle, dass Sohl aus der Stahlindustrie kam, sondern auch, dass er bei Thyssen jahrelang die paritätische Mitbestimmung praktiziert hatte. Dadurch entstand der Verdacht, dass er in der Diskussion um eine erweiterte Mitbestimmung womöglich nicht ganz bibelfest sei. Entsprechend setzte Sohl nach seiner Wahl alles daran, diesen Verdacht zu entkräften. Auf der anderen Seite brachte es die BDI-Präsidentschaft mit sich, dass Sohl in zahlreichen anderen politischen Fragen nicht nur die Interessen der Wirtschaft vertrat, sondern auch mit Ministern der sozialliberalen Koalition über Steuerfragen oder die Reaktion auf den Ölpreisschock verhandelte. So fand sich Sohl immer wieder von allen Seiten bedrängt, wobei er nicht ungerührt und hart lediglich die Interessen der Unternehmerschaft vertreten konnte. Von seinem Temperament, aber auch von seinen Erfahrungen her war er nicht der Typ, der sich stahlhart durchsetzte. Das zeigte sich auch bei der BDI-Klage gegen das Mitbestimmungsgesetz von , als Sohl ganz froh war, seine Präsidentschaft  Zit. in: HGS an Walter Arendt, .., in: TKA, NLHGS, A.  Am Ende setzte sich die Großindustrie durch, während Rodenstock zugleich zum Vizepräsidenten gewählt wurde.

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bereits zum . Januar  niederlegen zu können. Die Klage zu formulieren und beim Bundesverfassungsgericht einzureichen war dann die Aufgabe von Sohls Nachfolger Hanns Martin Schleyer. Auch wenn dieser aus einem anderen Holz geschnitzt sein mochte, konnte er die Klage nicht mehr vertreten, weil er von der RAF erst entführt und dann ermordet wurde. Diese Klage und das Drängen der Gewerkschaften auf Paritätik entbehren indessen nicht einer gewissen Ironie. Denn während sich die westdeutsche Unternehmerschaft und besonders der Mittelstand Sorgen machten, dass die bundesrepublikanische Soziale Marktwirtschaft durch das neue Mitbestimmungsgesetz in den Sozialismus schlittern könnte, bahnte sich in den USA zur gleichen Zeit die große Wende zum Neoliberalismus an, die die amerikanische und die britische Wirtschaft auf eine Entmachtung der Gewerkschaften, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Kürzungen des Staatshaushalts, Steuergeschenke an die Wohlhabenden, eine Deindustrialisierung und Favorisierung der international operierenden Investmentbanken sowie eine Abkehr vom Sozialstaat hinführte. Dass auch die Bundesrepublik in den Sog des Neoliberalismus geriet, zeigte sich daran, dass die Forderung nach einer erneuten Erweiterung der Mitbestimmung in der politischen Diskussion schon bald gar keine Rolle mehr spielte. Zu stark hat sich seither das relative Machtgleichgewicht zugunsten einer shareholder society und fort von einer stakeholder society entwickelt, auch wenn die Demontage des Wohlfahrtsstaats und die Privatisierung in Deutschland nie so weit getrieben wurden wie in den USA und in Großbritannien. Hatte sich die Balance in den frühen er Jahren begrenzt zugunsten der Gewerkschaften im Sinne einer größeren Teilhabe ihrer Mitglieder verschoben, folgte dem bald darauf ein deutlicher Machtanstieg der Eigentümer und Aktionäre, den der Zusammenbruch des Sowjetblocks dann noch beschleunigen sollte. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Dritten Reich gehörte Sohl noch zu einer Generation von Unternehmern, die die Mitbestimmung praktiziert hatten und daher zur Zusammenarbeit und zu Kompromissen mit den Gewerkschaften bereit waren, während Margaret Thatcher und Ronald Reagan diese bekämpften und schwächten. Auch sonst dachte Sohl immer strategisch, und so war es kein Zufall, dass er sich in einer seiner letzten Reden mit der Bedrohung der Umwelt und deren Schutz beschäftigte.  Zu Schleyers Karriere und seiner Ermordung vgl. Hachmeister ().  Vgl. dazu Stein ().

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Polen und die Demokratisierung der Deutschen Ein Versuch W B / J  P

Die Demokratisierung der Deutschen geht nicht nur die Deutschen an. »Angela Merkel May Be the Liberal West’s Last Defender« titelte die New York Times am . November . Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war dies ein bemerkenswerter Satz. Schon fünf Jahre zuvor hatte der damalige polnische Außenminister Radosław Sikorski mit der Aussage überrascht, dass ihn deutsche Passivität in Europa mehr beunruhige als deutsche Führungskraft. Solche Sätze spielen mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und an die beiden Weltkriege ebenso sehr wie mit der Einsicht, dass die westlichen Demokratien auf einander angewiesen sind. Gilt dies auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen? So viel vorweg: Die Demokratisierung der Deutschen hing nicht von Polen ab, wohl aber davon, ob und wie es Deutschland gelingen würde, angesichts enger historischer Verflechtungen und mörderischer Belastungen zu einem gefestigten staatlichen Nebeneinander mit seinem direkten Nachbarn im Osten zu finden.

 »Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legt?«, lautet einer der berühmtesten Sätze der Weimarer Republik. Das Zitat assoziieren heute nur noch Kenner mit Polen. Man denkt eher an die »Ehrenpunkte«, den Kriegsschuldparagrafen , an Demütigung, Reparationen und Verlust der Souveränität; nicht daran, dass Deutschland  einen Teil seiner Ostprovinzen an einen Nachbarn verlor, den man im Deutschen Reich spätestens seit der Aufklärung für eine quantité derart négligeable hielt, dass seine Absenz auf der europäischen Landkarte während des »langen« . Jahrhunderts niemandem mehr auffallen mochte. Auch nicht der deutschen Linken, die noch im Vormärz in Polen durchaus einen Pfeiler des gemeinsamen Kampfes gegen die Heilige Allianz gesehen hatte. Dieses Bündnis, im Deutschen bekannt als Periode der »Polenbegeisterung«, dauerte ganze  Jahre (-), bis es in der Frankfurter Paulskirche zum spektakulären Bruch kam. Es 176

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ging um die Provinz Posen, die seit den Teilungen Polens Bestandteil Preußens war. »Unser Recht [auf Posen] ist kein anderes, als das Recht des Stärkeren«, donnerte der liberale Abgeordnete Wilhelm Jordan, »das Recht der Eroberung. Ja, wir haben erobert. Die Deutschen haben polnische Länder erobert, aber diese Eroberungen sind auf einem Weg, auf eine Weise geschehen, daß sie nicht mehr zurückgegeben werden können. Es sind, wie man es schon so oft gesagt hat, nicht sowohl Eroberungen des Schwertes, als Eroberungen der Pflugschaar«. Jordans letztes Argument für das Begräbnis des Bündnisses der deutschen und polnischen Emanzipationsbewegung gegen den Absolutismus ging aber noch weiter: »Das Recht der Geschichte ist ein anderes, als das der Compendien. Es kennt nur Naturgesetze, und eins derselben sagt, daß ein Volktshum durch seine bloße Existenz noch kein Recht hat auf politische Selbständigkeit, sondern erst durch die Kraft, sich als Staat unter anderen zu behaupten. Der letzte Act dieser Eroberung, die viel verschriebene Theilung Polens, war nicht […] ein Völkermord, sondern weiter nichts als Proclamation eines bereits erfolgten Todes, nicht als die Bestattung einer längst in der Auflösung begriffenen Leiche.« Es waren nicht Otto von Bismarck und die preußischen Behörden, welche die Idee eines Bündnisses der deutschen und polnischen Demokraten begraben hatten, sondern die deutschen Liberalen. Kein Wunder, dass in den polnischen Emanzipationsbewegungen, mochten sie nun liberaler, demokratischer oder sozialistischer Prägung gewesen sein, die Hoffnung auf deutsche Geistesverwandte als Verbündete ab  keine Rolle mehr spielte. Auch die europaweit vorbildliche deutsche Sozialdemokratie konnte mit ihrem Zwergverbündeten im preußischen Teilungsgebiet wenig anfangen, ähnlich wie mit der polnischsprachigen Sekte in Oberschlesien. Beide blieben sowohl gegenüber den Sozialdemokraten in »Russisch-Polen« als auch im habsburgischen Galizien vernachlässigbare Größen. Und wenn schon jemand »aus dem Osten« kam, der wirklich etwas zu sagen hatte – etwa Rosa Luxemburg –, wurde es nur noch schlimmer. Die abtrünnige Aktivistin der polnisch-russischen Sozialdemokratie erklärte es der deutschen wie der europäischen Linken mit großen Buchstaben: Polen braucht keine Unabhängigkeit. Es braucht Sozialismus, und zwar als Bestandteil eines großen Russlands. Kein Wunder, dass die Wiederentstehung Polens im Herbst  keine Demokratisierung der Deutschen implizierte – der ohnehin kaum je Zit. nach Müller u. a. (), S.  f.

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mand östlich des Reiches traute –, sondern eine abermalige Verhärtung der Fronten. Ein altes Spiel der europäischen Politik erlebte eine Neuauflage: Mit den Teilungen wuchs Preußen auf Kosten des östlichen Nachbarn, / breitete sich die polnische Republik auf Kosten des westlichen Nachbarn aus. Daran mochten gutwillige Einzelgänger wie Harry Graf Kessler oder Hellmut von Gerlach nichts ändern: An Polen statt an Russland zu grenzen, betrachtete die deutsche Linke als Zumutung. Unter diesen Umständen wundert es nicht, dass die konservative Vossische Zeitung mit einem neuen, seit dem Aufkommen der »Polnischen Wirtschaft« wie des »Polnischen Reichstags« im . und . Jahrhundert alles andere als geschätzten östlichen Nachbarn nichts anzufangen wusste. Nicht nur in diesem Blatt rückten seit Anfang November  inexistente polnische »Legionäre« und »Banden« »raubend und plündernd« gegen Posen und Oberschlesien vor. Man konnte aber nur in der Vossischen bereits am . November  wörtlich lesen, was wohl die meisten deutschen Journalisten, Politiker und Militärs mit dem östlichen Nachbarn assoziierten: »Kaum verfügt die Warschauer Regierung über die Selbständigkeit des Landes, so machen sich bereits alle Anzeichen beginnenden Verfalls bemerkbar.« Der sozialdemokratische Vorwärts drückte es nicht so drastisch aus, entwarf aber mit ebensolcher Selbstverständlichkeit das Bild eines undankbaren, geistig minderbemittelten, darüber hinaus undankbaren Völkchens im Osten, das deutsche Großmut und Überlegenheit weder zur Kenntnis nehmen noch nutzen wolle: »Deutschland hat gewiß Lebensmittel aus Polen ausgeführt, aber in der Hauptsache Gemüse und Obst, die im freien Handel gegen teures Geld erworben wurden«, bilanzierte das Organ der SPD die drei Jahre deutscher Besatzung an der Weichsel. Verantwortlich für die Not waren aber nicht die »Ausfuhren«, sondern »die Abtrennung des industriereichen, dicht bevölkerten Nord- [was damit gemeint war, erschließt sich dem heutigen Leser nicht] und Mittelteils mit Warschau, Lodz und dem Kohlerevier von dem getreidereichen Lubliner Kreis«, den »die Oesterreicher« ausgeraubt hatten. Und Brot? »[E]s ist tatsächlich Getreide in erheblichen Mengen aus Polen nach Deutschland ausgeführt worden. Aber nicht nur [um] hier verbraucht, sondern in den leistungsfähigeren deutschen Mühlen – zum Nutzen des polnischen Volkes – ausgemahlen und dann nach Polen zurückgeschickt zu werden«. Das linke Polenbild unterschied sich von dem rechten nur in Nuancen.  Zit. nach Borodziej u. a. (), S. .  Vorwärts vom .., zit. nach ebd., S. .

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Auch die britische, die französische und die amerikanische Presse schrieben über die entstehende polnische Republik bisweilen kritisch bis sehr kritisch, vor allem, wenn sie auf die Pogrome eingingen. Nirgendwo außerhalb Deutschlands spielten aber Hass, Herablassung und Feindbilder eine vergleichbare Rolle wie im besiegten Reich. Anders formuliert: In keiner westlichen Demokratie spielte die Ablehnung Polens eine derart integrative Rolle – als eines der wenigen Themen, die alle politischen Strömungen von der sozialdemokratischen Linken bis zur extremen Rechten vereinten. Dass diese Rolle das / entstandene, selbstzerstörerische Potenzial der »Republik ohne Republikaner« förderte, sollte in den er Jahren ebenso virulent bleiben, wie es sich noch vor der Verabschiedung der Weimarer Verfassung und dem Versailler Vertrag abzeichnete. Die Dauerkonfrontation zwischen Deutschland und Polen gehörte zwischen  und  zu den Grundkonstanten der europäischen Politik. Die Annäherung zwischen dem nationalsozialistischen Reich und der autoritären polnischen Diktatur von  bis  hat mit unserem Thema nichts zu tun: Um eine Demokratisierung der Deutschen ging es hier auf keinen Fall. Zwar wurde das antipolnische Ressentiment aus der deutschen Öffentlichkeit verbannt, aus der Mentalität der Eliten verschwand es aber keineswegs. Der Generalstabschef des Heeres Franz Halder glaubte seinen Untergebenen im Frühjahr  »aus der Seele zu sprechen«, als er sagte, »daß uns mit dem Ende des ›Freundschaftsverhältnisses‹ mit Polen (bei dem ja auf beiden Seiten nicht die Herzen engagiert waren) ein Stein vom Herzen gefallen ist«. Die folgende Zeit des Weltkriegs, der deutschen Besatzung und der NS-Verbrechen ist schon so oft beschrieben worden, dass man sie an dieser Stelle übergehen kann. Ebenfalls belanglos sind im Kontext unseres Themas die Westverschiebung Polens sowie Flucht, Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus den nun polnisch gewordenen Gebieten östlich von Oder und Neiße.  standen sich beide Nationen verfeindet gegenüber. Weder gab es den Willen noch die Sprache, mit der man miteinander hätte kommunizieren können – sofern irgendjemand dies gewollt hätte.

 Zit. nach Borodziej (), S. .

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 Paradoxerweise eröffnete die Gründung der DDR  einen Gesprächsraum, der immerhin die Überwindung der Sprachlosigkeit im Rahmen einer »zwangsverordneten Freundschaft« (Basil Kerski) ermöglichte. Hermann Kant durfte erst nach dreißig Jahren seine Erlebnisse als polnischer Kriegsgefangener veröffentlichen (Der Aufenthalt, ). Der Held des langatmigen, heute kaum noch gelesenen Romans wird zur gleichen Zeit konfrontiert mit dem Status eines unschuldigen Verdächtigen, mit stalinistischer Indoktrination und wachsender Einsicht in die Massenverbrechen seiner Landsleute. Er hatte nicht einmal das Glück, das dem fast gleichaltrigen Wehrmachtssoldaten Heinrich Böll widerfuhr, der immerhin von der ars amandi der polnischen Prostituierten schwärmen konnte (»unheimliche polnische Huren, die allen Charme Frankreichs mit den Reizen der Halbwildheit vereinigen«). Belanglosigkeiten? Keineswegs. Böll interessierte sich auch in seiner Glanzzeit für Polen, schrieb ein nachdenkliches, wenngleich heute ein wenig naiv anmutendes Vorwort für einen der berühmtesten polnischen Romane des . Jahrhunderts. Kants Erinnerung an Warschauer Arreste und Kriegsgefangenenlager hingegen löste eine zwischen den sozialistischen Bruderländern ungewöhnliche Kontroverse aus, die im erstaunlicherweise erfolgreichen Protest Warschaus gegen die Aufführung der Romanverfilmung im Rahmen der Berlinale  mündete. Die »raue Freundschaft« DDR–VRP – wie im heutigen Polnisch permanente Spannungen zwischen theoretisch verbündeten politischen Akteuren genannt werden – ist inzwischen aktenmäßig gut belegbar. Das Freiheitserlebnis der Ostdeutschen, die auf polnischen Campingplätzen unzählige Dinge tun durften, die zu Hause mit einer Anzeige geahndet worden wären, sind in eher mittelmäßigen Romanen und in einem mehr als mäßigen Spielfilm (Die Schlüssel, ) festgehalten. Dass Freiheitserlebnis und Demokratisierung eine unübersehbare Schnittmenge verbindet, braucht an dieser Stelle nicht erklärt zu werden. Eine völkerrechtliche Altlast, welche die erste deutsche Republik (mit-)vergiftet hat und die mit den Potsdamer Vereinbarungen schier  Brief aus Bromberg vom .., zit. nach Schäfer (), S. .  Heinrich Böll: Vorwort zu Jerzy Andrzejewski, »Asche und Diamant«, in: Böll (), S. -.  Wie der Film Die Schlüssel verstümmelt worden ist und Der Aufenthalt zu einem ostdeutsch-volkspolnischen Politikum wurde, wird kenntnisreich erzählt in Heimann ().

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erdrückend geworden war, wurde ausgerechnet zwischen zwei von Moskau eingesetzten Diktaturen abgearbeitet. Bereits  einigten sich die DDR und das kommunistische Polen im sogenannten Görlitzer Vertrag auf die gegenseitige Anerkennung der zwischen beiden Staaten bestehenden Grenze. Und als erster Botschafter der DDR kam der linke Schriftsteller Friedrich Wolf (seine Söhne Konrad und Markus waren zu diesem Zeitpunkt  und  Jahre alt) nach Warschau, der heute ebenso zu Unrecht vergessen ist wie von Hellmut von Gerlach und ähnlich erfolglos war wie der erste Botschafter des demokratischen Deutschlands Harry Graf Kessler. Wolfs Nachfolgerin wurde übrigens  eine Aenne Kundermann;  Jahre bevor sich das Auswärtige Amt dazu durchrang, mit Ellinor von Puttkamer die erste Botschafterin in seiner Geschichte zu benennen. Deren durchaus polenbezogene Biografie als Historikerin wäre eine eigene Darstellung wert. All dies sind paths leading nowhere, anders formuliert: archäologische Spuren von ausgelöschten Kulturen. Denn aus polnischer Sicht blieb die DDR bis  zwar eine durchaus nützliche Erfindung Stalins, dennoch aber nicht das wirkliche Deutschland. Dieses hatte seinen provisorischen Sitz in Bonn. Die zweite deutsche Demokratie wurde  unter anderen Vorzeichen begründet als drei Jahrzehnte zuvor die erste, und Polen stand dabei diesmal bestenfalls am Rande. Die junge Bundesrepublik hielt zwar entschieden daran fest, auf lange Sicht die deutschen Ostgebiete mit zu vertreten. Das aber war kaum mehr als ein formaler Rechtsanspruch fernab jeglicher machtpolitischer Realitäten, zumal die Bundesrepublik nicht einmal direkt an Polen grenzte. Insofern nimmt es nicht wunder, dass Polen in der Gründungsphase nur eine marginale Rolle spielte. Und doch kam es im Parlamentarischen Rat zu einem bemerkenswerten Wortwechsel. Im Ausschuss für die Organisation des Bundes mahnte Rudolf-Ernst Heiland, ehemaliger Widerstandskämpfer, Trotzkist und nunmehr Sozialdemokrat, vor einer Formulierung zu einer zukünftigen Erweiterung des Bundes, bei der man darauf gefasst sein müsse, »daß uns die Polen sagen, wir verfolgen hier imperialistische Ziele«. Darauf Albert Finck von der CDU kurz und bündig: »Es ist sowieso ein Provisorium, und es weiß jeder, daß dieser Bund sich erweitern wird.«  Vgl. Puttkamer (); Puttkamer ().  Büttner (), S. ; Zur Rolle Heilands in den Debatten um Wolfgang Hedler vgl. auch Frei (), S.  ff.; Meyer (), S.  f.

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In diesen wenigen Worten war vieles von dem enthalten, was die Wahrnehmung Polens im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik ausmachte. Polen war potenziell lästig, im Grunde jedoch egal. Insofern bot sich wie bereits  der Status der Grenze als einer der wenigen Punkte an, auf die sich alle politischen Kräfte diesseits der Kommunisten einigen konnten. Allenfalls aus der Formulierung von »imperialistischen Zielen« ließ sich ein schwaches Echo deutscher Besatzungspolitik heraushören. Doch vorerst spielte das keine Rolle. Gut ein Jahr später kam Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung als frisch gewählter Bundeskanzler am . September  am Rande auch auf Polen zu sprechen: »Meine Damen und Herren! Wir sind durchaus bereit, mit unseren östlichen Nachbarn, insbesondere mit Sowjet-Rußland und mit Polen, in Frieden zu leben.« Zugleich bestand für ihn kein Zweifel, »daß wir nach unserer Herkunft und unserer Gesinnung zur westlichen Welt gehören«. Die Oder-Neiße-Grenze hatte er wenige Minuten zuvor als eine der Fragen benannt, »die uns in Deutschland außerordentlich am Herzen liegen und die für unser gesamtes Volk Lebensfragen sind«. Die Bundesrepublik könne sich unter keinen Umständen mit einer einseitig von der Sowjetunion und Polen vorgenommenen Abtretung der Gebiete östlich von Oder und Neiße abfinden. »Sehr richtig! und lebhafter Beifall rechts, in der Mitte und bei der SPD«, vermerkte das Protokoll. Es war der erste Beifall, den Adenauer von der SPD erhielt. Die parteiübergreifende Einigkeit bezüglich der Ostgrenze gehörte zum Gründungskonsens der bundesrepublikanischen Demokratie. Parteipolitisch ermöglichte sie der CDU die enge Zusammenarbeit mit dem BHE und den Vertriebenenverbänden. Eingebettet in eine antikommunistische Grundstimmung, erleichterte eine solche risikolose Frontstellung gegen Polen die Integration der politischen Rechten, allen voran ehemalige Nationalsozialisten. Angesichts der geringen Spielräume deutscher Außenpolitik und der Zuspitzung des Kalten Krieges wusste ohnehin jeder, dass es sich bei entsprechenden Bekenntnissen um mächtepolitisch irrelevante Rhetorik handelte. Zudem hatte Adenauer früh deutlich gemacht, dass er die Dinge nicht auf die Spitze treiben würde. Als wenige Tage nach seiner Regierungserklärung der bayerische Abgeordnete Alfred Loritz deutsche Ansprüche auf die Sudetengebiete erhob, erklärte Adenauer im Kabinett, dass er diese entschieden zurückweisen werde. »Wenn  BT-Protokolle, . WP, .., S. .  Ebd., S. .

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wir wieder damit anfangen, alles aufzuführen, was irgendeinmal deutsch gewesen ist, dann geben wir den Polen das Recht zu sagen, was alles einmal slawisch und polnisch gewesen ist.« So einfach ließ sich die Stabilisierung parlamentarischer Demokratie nach den Verbrechen des Dritten Reiches allerdings nicht bewerkstelligen. Zweimal kamen die deutschen Besatzungsverbrechen in Polen im Herbst  im Bundestag zur Sprache. Noch in der Aussprache über Adenauers Regierungserklärung meinte der Kommunist Walter Fisch mit einer Spitze nicht nur gegen Loritz, es sei »eine Geschmacklosigkeit sondergleichen, im Jahre  von den deutschen Leistungen in Polen und der Tschechoslowakei zu sprechen und daraus Gebietsansprüche abzuleiten«. Nachdem ihn Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid wegen des ehrverletzenden Begriffs der »Geschmacklosigkeit« unterbrochen hatte, setzte Fisch fort: »Ich meine, wenn man heute – im Jahre  – von Leistungen, die unter deutschem Namen in jenen Ländern vollbracht worden sind, spricht, dann hätte man die Pflicht, an die ›Leistungen‹ der Jahre  bis  zu denken. Das polnische Volk denkt bei Worten wie deutsche Leistungen an Lodz, an Auschwitz, an Warschau, an Lublin, und das tschechoslowakische Volk denkt bei diesen Formulierungen an den Namen Lidice.« Carlo Schmid selbst erklärte in einer Grundsatzrede zu Demokratie und Freiheit, das Recht, moralisch Anklage wegen des an Deutschen begangenen Unrechts zu erheben, hätten nur diejenigen, »die sich seinerzeit über Sauckel, über die Austreibung und Ausrottung der Juden und Polen, über Lidice, über Auschwitz und über Oradour wenigstens geschämt haben«. Auch wenn das Protokoll an dieser Stelle stürmischen Beifall aus der SPD und aus der Mitte verzeichnete, war dies doch eine Minderheitsposition. An deutsche Kriegsverbrechen in Polen wollte im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik kaum jemand erinnert werden. Von einem Sozialdemokraten, der aus seiner Ablehnung des Nationalsozialismus nie einen Hehl gemacht hatte, musste man solche Hinweise wohl hinnehmen. Wenn sie hingegen von kommunistischer Seite oder gar aus den trüben Quellen der DDR-Staatssicherheit kamen, ließen sie sich leicht als Propaganda abtun. Allerdings gab es einen direkten Zusammenhang zwischen der Integration der Heimatvertriebenen und deutschen Kriegsverbrechen, der  in der Affäre Oberländer zutage trat. Als dem langjährigen Vertrie Booms (), S. .  BT-Protokolle, . WP, .., S. ; Frei (), S. -.  BT-Protokolle, . WP, .., S. .

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benenminister in Ost-Berlin in Abwesenheit der Prozess gemacht wurde, weil er während des Krieges in Lemberg angeblich direkt an der Erschießung von Juden und Polen beteiligt gewesen war, war dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass es für eine sich als Demokratie verstehende Bundesrepublik auch gegenüber einem kommunistisch regierten Polen einiges zu klären gab.

 Erst die bundesdeutsche Sozialdemokratie hat sich diesem Komplex seit den späten er Jahren engagiert zugewandt. Willy Brandts Bekenntnis »mehr Demokratie wagen« hing eng mit der Ostpolitik zusammen. Beides richtete sich »an die im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen«. In seiner Regierungserklärung deutete Brandt nur an, dass er nicht nur das Verhältnis zur DDR, sondern auch das zu Polen aus der Verkrampfung lösen wollte. Auf welche Widerstände er dabei stoßen würde, lag auf der Hand, zumal die Gegner des Warschauer Vertrags sich hartnäckig auf das Grundgesetz beriefen. Auf lange Sicht ging es jedoch nicht um Rechtsfragen, sondern um Psychologie. »Die Bundesrepublik mit ihrer offenen Gesellschaft und der Möglichkeit, in ihr menschlich und ziemlich frei zu leben, ist ein Staat, an dem mitzuarbeiten und den mitzugestalten sich lohnt«, kommentierte Marion Gräfin Dönhoff den Warschauer Vertrag. »Aber Heimat? Heimat kann sie dem, der aus dem Osten kam, nicht sein.« Im Vorgriff auf Dolf Sternbergers Verfassungspatriotismus las sich das wie ein innerer Vorbehalt und gestand doch stillschweigend ein, dass schon die nächste Generation den unwiederbringlichen Verlust des ehemals deutschen Ostens auch innerlich akzeptieren könnte. Dass dieser Verlust auf das Konto der Nationalsozialisten und ihrer Verbrechen ging, daran ließ die preußische Gräfin keinen Zweifel. Insbesondere die Verbrechen an Polen hatten diesen Heimatverlust vorweggenommen. Den wissenschaftlichen Weg zu dieser Einsicht hatte Martin Broszat schon einige Jahre zuvor gewiesen, wenngleich zunächst ohne große Resonanz. Auch in den folgenden geschichtspolitischen Debatten bis hin zum Historikerstreit  BT-Protokolle, . WP, .., S. .  Marion Dönhoff: Ein Kreuz auf Preußens Grab, in: Die Zeit, .., zit. nach Schwarzer (), S.  ff., Zitat S. .  Vgl. Borodziej (), S. -.

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blieben die deutschen Verbrechen in Polen eine Randnotiz, sofern sie nicht direkt den Holocaust betrafen. Der Frankfurter Christdemokrat Clemens Riedel sorgte sich in einer Frage an die Bundesregierung im Dezember  darum, dass diese mit dem Warschauer Vertrag zugesagt haben könnte, die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht aus Polen stammender Emigranten einzuschränken. Eine Fußnote, gewiss, aber eine vielsagende. Bürgerrechte polnischer Emigranten waren nicht das zentrale Anliegen heimatvertriebener Christdemokraten (Riedel selbst war aus Breslau gebürtig). Dass die kommunistischen Herrscher Polens aus dieser Warte heikle Vertragspartner waren, verstand sich von selbst. Eine Antwort erhielt Riedel am . Dezember, just in den Tagen, als die Staatsmacht in Danzig und Stettin auf streikende Arbeiter schießen ließ. Ernsthafte Kontakte zur entstehenden polnischen Opposition entstanden ohnehin weniger am rechten als am linken Rand bundesdeutscher Politik, so auch in Frankfurt. Hier traf Adam Michnik  auf Rudi Dutschke, Wolf Biermann und Daniel Cohn-Bendit und sensibilisierte sie nach eigenem Bekunden für die Prozesse der Demokratisierung im östlichen Mitteleuropa. Vorerst nahm nur ein kleiner Kreis engagierter Linker wahr, was sich östlich der Oder anbahnte. Aber als streikende Arbeiter in Danzig eine freie Gewerkschaft erstritten, sah eine verblüffte westdeutsche Öffentlichkeit voller Überraschung und Sympathie, dass Polen nicht nur aus kommunistischen Betonköpfen bestand, die schlesische Bauernhöfe und ostpreußische Güter herunterwirtschafteten. Wer genauer hinsah, musste erkennen, dass die Vorgänge in Polen indirekt auch die deutsche Teilung in Frage stellten. Mehr Demokratie in ganz Deutschland, nicht nur im Westen, hing davon ab, wie viel Demokratie in Polen möglich sein würde.

 Kaum jemand am Rhein mochte noch im Frühherbst  genau hinsehen. Das kostbare Experiment Gorbatschows schien unvergleichlich wichtiger. Dennoch – und dessen ungeachtet – sollten die Minen auf dem polnischen Zwischenfeld endlich geräumt werden. Die seit dem  Vgl. BT-Protokolle, . WP, .., S. .  Gabrielle Lesser: »Wir kämpften für die Freiheit. Und nicht gegen Vietnam«, in: taz am Wochenende, ...

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. September  amtierende polnische Regierung von Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki war ebenfalls zu weitgehenden Zugeständnissen bereit, zumal auch sie davon ausging, es handele sich um obsolete Altlasten. Instinktiv mögen Mazowiecki und Helmut Kohl dasselbe geahnt haben: Die Demokratisierung Polens, seine damals vielbeschworene Rückkehr in den Westen, sei nur im Schatten einer deutschen Vereinigung unter Bonner Vorzeichen möglich, das heißt im Schatten einer Demokratisierung Ostdeutschlands. Die Vereinigung selbst stand noch nicht auf der Tagesordnung. So kam es zu jener denkwürdigen Szene am . November . Kohl war mit einer großen Delegation gerade in Warschau angekommen. Vor dem Treffen mit Mazowiecki traf er sich mit der Symbolfigur des neuen Polen Lech Wałęsa und seinem wichtigsten – nicht nur außenpolitischen – Berater Bronisław Geremek. Das Gespräch dürfte etwa zwei Stunden vor dem Auftritt Günter Schabowskis stattgefunden haben. Der Vortragende Legationsrat im Auswärtigen Amt Uwe Kaestner notierte: »Wałęsa: Die Entwicklung in der DDR sehe er als sehr gefährlich an. Man müsse dort zu bremsen versuchen. Er habe früher gesagt, daß es gut wäre, wenn die DDR an fünfter oder sechster Stelle unter den Reformstaaten zu finden sei. Er hätte [es] vorgezogen, daß die Entwicklung in einer gewissen Reihenfolge – mit Polen und Ungarn an der Spitze – erfolge. Nun aber stehe man unvorbereitet vor einer neuen Situation. Man brauche mutige Lösungen – etwa die völlige Öffnung. Jeder könne dorthin gehen, wo es ihm passe.« In der polnischen Perspektive bringe ein solches Szenario kaum Vorteile, da damit aus Bonner Sicht »die polnischen Reformen zwangsläufig in den Hintergrund gerieten. Der Bundeskanzler« – so die Aufzeichnung Kaestners – »wirft ein, dies sei nicht seine Politik – ohne die Entwicklung in Warschau hätte es diese Entwicklung in der DDR nicht gegeben – und wenn die Warschauer Reformen scheiterten, werde auch in der DDR nichts passieren. W[ałęsa] entgegnet, dies sei zwar logisch richtig, andererseits entwickle sich die Lage in der DDR mit schnellen Schritten und Sprüngen – er frage sich, was geschehen werde, wenn die DDR ihre Grenzen voll öffne und die Mauer abreiße – müsse dann die Bundesrepublik Deutschland sie wieder aufbauen?« Nach einem ebenso erratischen wie skurrilen Wortgeplänkel folgen laut Kaestners Aufzeichnung folgende Pointen: »W[ałęsa] hält ein zweites Ungarn in der DDR für nicht möglich – er bezweifele, ob die Mauer in ein bis zwei Wochen stehen wird. Der Bundeskanzler betont, der friedliche Ablauf der Demonstrationen habe sehr klar bewiesen, daß die 186

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Leute nicht radikal seien. […] Prof. Geremek wirft ein, die Frage stelle sich in der DDR wie in Polen: Die Gesellschaft wolle Freiheit und nicht Parteien. Wenn man die Probe aufs Exempel mache – wozu steht dann noch die Mauer?« Sie blieb bekanntlich nur noch wenige Stunden stehen. Auf ihren Fall folgten in beiden Ländern am . November  unvorhersehbare Prozesse: Deutschlands Vereinigung und damit die stillschweigende, gewissermaßen automatische EU-Erweiterung ; Polens lange Jahre verhandelter Beitritt zur NATO  und zur EU ; Deutschland als überfordertes Schlusslicht in den er und Vorbild in den er Jahren; Polen als Musterschüler der Transformation zur selben Zeit; abermalige Teilung in »altes« und »neues« Europa; zahllose erinnerungspolitische Auseinandersetzungen (die beide Öffentlichkeiten spalteten, ohne eine neue zu kreieren); neue Interessengemeinschaften und Renaissancen uralter Bedrohungsängste; Irak und USA, Russland und Ukraine als Bezugspunkte einer Neuverortung in Europa. Vieles mehr, was mit unserem Thema nur sehr bedingt zu tun hat.

 Wo stehen wir heute? Die politischen Entwicklungen in Polen werden in Deutschland mit großer Sorge betrachtet. Als die Brüder Kaczyński  die Wahlen gewannen (Lech wurde Staatspräsident, Jarosław im folgenden Jahre Ministerpräsident), mochten deren außenpolitischen Aktivitäten noch als Skurrilität belächelt werden. Die heutige Lage ist ernster. Denn mit dem andauernden Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz stehen der Rechtsstaat und mit ihm die parlamentarische, liberale Demokratie auf dem Spiel. Wenn die deutsche Öffentlichkeit sich heute für die polnische Politik in ähnlichem Maße interessiert wie etwa für Italien oder Österreich, kann dies nur als trauriger Erfolg verbucht werden – traurig auch deshalb, weil alte Klischees mangelnder demokratischer Reife und Tradition fröhliche Urständ feiern. Wie sehr die Gefährdung der Demokratie in Polen auch die Europäische Union herausfordert, ist hinlänglich bekannt. Aber dass sogar die deutsche Demokratie durch die Entwicklung ihres östlichen Nachbarn gefährdet wäre, lässt sich kaum ernsthaft behaupten. Wer die bundesrepublikanische Demokratie in

 Zit. nach Küsters u. a. (), S.  f.

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Frage stellt, lässt sich eher mit Marine Le Pen, Matteo Salvini oder Wladimir Putin als mit Jarosław Kaczyński blicken. Die deutsche Demokratie ist mit dem Blick gen Westen aufgebaut worden. In den USA, in Frankreich und Großbritannien hat sie seit  ihre verlässlichsten Stützen. Seit diese ins Wanken geraten, wächst die Sorge, dass auch Deutschland gegen rechtspopulistische Gefahren nicht gefeit sein könnte. Mit Polen hat diese Sorge jedoch eher wenig zu tun. Dass die deutsche Demokratie auch von Polen aus gefährdet sein könnte, ist in historischer Betrachtung wenig plausibel, zumal alle maßgeblichen politischen Kräfte in Deutschland die zentralen Fragen gefestigter Nachbarschaft als gelöst ansehen. Immerhin zeigt der Rückblick auf das . Jahrhundert, dass die Demokraten in Deutschland und Polen einander viel zu verdanken haben. Unter dem Strich aber ist die polnische Demokratie zu unseren Lebzeiten auf ein demokratisches Deutschland stärker angewiesen als umgekehrt. P. S.: Die Autoren sind sich bewusst, an der selbstgestellten Aufgabe insofern gescheitert zu sein, als es nun wirklich schwierig bis unmöglich ist, eine Demokratisierung der Deutschen durch ihre östlichen, südlichen wie nördlichen – und fast alle – westlichen Nachbarn nachzuweisen. Dänen oder Belgier, Niederländer oder Österreicher, Schweizer, Luxemburger und Tschechen – müsste da die Suche nicht ebenfalls in einer Sackgasse enden? So gesehen, sollte man unsere Skizze wohl am ehesten als einen produktiven Irrweg einordnen. Durch solche kommt die Wissenschaft bekanntlich ebenfalls weiter – was für die politisch-mediale Öffentlichkeit nur mit zahlreichen Vorbehalten zutrifft.

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Ein blinder Fleck? Zur relativen Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in den Geschichtswissenschaften C D

Am . Juni  wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse vor seinem Haus durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe ermordet. Lübcke hatte sich  für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt und bei einer Bürgerversammlung am . Oktober  eine geplante Flüchtlingsunterkunft unter anderem mit dem Argument verteidigt, wer die Werte der Verfassung ablehne, dem stehe es jederzeit frei, Deutschland zu verlassen. Diese Aussage wurde als Video aufgenommen und im Internet verbreitet. Seitdem erhielt Lübcke Morddrohungen. Als dringend tatverdächtig gilt der  in Wiesbaden geborene Stephan Ernst. Er hatte bereits seit den er Jahren immer wieder ausländerfeindliche Gewalttaten verübt und verschiedenen rechtsextremen Gruppierungen angehört. In einem Geständnis, das er später widerrief, gab Ernst an, dass Lübckes Aussage auf der Bürgerversammlung ein wesentliches Motiv für seine Tat gewesen sei. Der Anschlag auf den Regierungspräsidenten stellte nach dem Mordanschlag auf Henriette Reker am . Oktober , einen Tag vor ihrer Wahl als parteilose Kandidatin zur Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, das zweite rechtsextrem motivierte Attentat auf überregional bekannte Politiker und Politikerinnen in der Bundesrepublik dar. Am . Oktober  feierte die jüdische Gemeinde in Halle an der Saale mit einigen Gästen aus den USA den jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur. Den bisherigen Ermittlungen zufolge wollte der  in Eisleben geborene Stephan Balliet am höchsten jüdischen Feiertag mit Waffengewalt in die Synagoge eindringen, um alle hier zum Gottesdienst versammelten Juden und Jüdinnen zu ermorden. Als ihm dies nicht gelang, tötete der Beschuldigte die Passantin Jana L. und den Besucher  Vgl. zum öffentlich verfügbaren Wissen über diesen Fall etwa »Mordfall Walter Lübcke«, in: Spiegel Online, ..; Fraktion Die Linke, Kleine Anfrage. Der Mord an Walter Lübcke, BT-Drucksachen /, ...  Vgl. »In seiner Welt ein Held«, in: Zeit Online, ..; Annette Ramelsberger: Der Reker-Attentäter – rechthaberisch, aber kein Fanatiker, in: SZ Online, ...

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eines Döner-Imbisses, Kevin Sch. Weitere Schüsse auf andere Personen verfehlten ihr Ziel. Der Beschuldigte hatte vor der Tat ein englischsprachiges Bekennerschreiben im Internet veröffentlicht, filmte sein Gewalthandeln und übertrug das Video mitsamt eigenen Kommentaren und Musikuntermalung direkt ins Internet. Fünf Personen schauten ihm live zu. Aus seinen Äußerungen sowie den Vernehmungen durch den Generalbundesanwalt ging hervor, dass der Beschuldigte extrem antisemitische, rassistische und antifeministische, misogyne Einstellungen vertrat. Dieser Versuch eines rechtsextremen Terroristen, ein Massaker an Juden in einer Synagoge zu verüben, steht in einem inter- und transnationalen Kontext. Er hatte eine Reihe von Vorbildern: Das Massaker am Grab des Patriarchen, das Baruch Goldstein, ein ultranationalistischer amerikanischer Jude, im Februar  in Hebron verübte; das Massaker von Anders Behring Breivik im Juli  in Oslo und auf der Insel Utøya; der antisemitische Angriff auf die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh, Pennsylvania, im Oktober ; der Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland) im März ; der Anschlag auf die Chabad-Synagoge in Poway, Kalifornien, im April  sowie der rassistische Anschlag auf einen Walmart-Supermarkt in El Paso, Texas, im August . Dass es in Halle zu keinem Massaker kam, ist vor allem auf die Selbstschutzmaßnahmen der jüdischen Gemeinde zurückzuführen. Beide Gewalttaten, das Attentat auf Walter Lübcke und das verhinderte Massaker in der halleschen Synagoge sowie die Ermordung von Jana L. und Kevin Sch., lösten bei Politikern und Politikerinnen sowie in den Medien und in der Öffentlichkeit sowohl der Bundesrepublik als auch international Erschrecken und Erschütterung aus. Nicht selten wurden historische Vergleiche gezogen, um das Geschehen einzuordnen. So titelte die Berliner Morgenpost »Rechtsterrorismus: Es ist wieder Herbst in Deutschland« und stellte damit den Bezug zum Höhepunkt des RAF-Terrorismus im September und Oktober  her – bisher der  Vgl. zum Tathergang insbesondere »Auf einer Baustelle endet die Fahrt des Terroristen«, in: SZ-Online, ..; »Stream läuft«, in: Der Spiegel, ..; »Das Minutenprotokoll zum Anschlag in Halle«, in: Leipziger Volkszeitung Online, ...  Vgl. dazu einführend Hoffman (), S. -; Juergensmeyer (), S. . Zum Anschlag in Oslo und auf Utøya vgl. einführend Schmidt/Sturm (); Hartleb (/); zu den Anschlägen in El Paso, Christchurch und Pittsburgh siehe etwa »El Paso shooting: what we know«, in: The Guardian, ..; »Christchurch shootings: How the attacks unfolded«, in: BBC News, ..; » Killed in Synagogue Massacre«, in: New York Times, ...

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Inbegriff für eine terroristische Bedrohung und eine der schwersten Krisen der bundesrepublikanischen Geschichte. Nicht zuletzt angesichts der zeitlichen Nähe von zwei so brutalen Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund wurden beide Anschläge von weiten Teilen der Gesellschaft als Zäsur wahrgenommen, die deutlich zeigt, dass ein anderer Umgang mit rechtsterroristischer Gewalt in der Bundesrepublik nunmehr unaufschiebbar notwendig ist. Der Ruf danach, dieses Problem endlich ernst zu nehmen, richtete sich zuvorderst an die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder, ging jedoch vereinzelt auch darüber hinaus und zielte auf ein konsequentes Umdenken der Gesellschaft: »Viel wird in den kommenden Wochen davon die Rede sein, dass man Judenhass und Rechtsradikalismus jetzt entschiedener bekämpfen müsse«, schrieb etwa Hanning Voigts in der Frankfurter Rundschau. »Doch Zweifel sind angebracht, ob die deutschen Sicherheitsbehörden mit ihrem letztlich noch aus RAF-Zeiten stammenden Terrorismusbegriff und die deutsche Gesellschaft mit ihrer fatalen Blindheit für die lange Geschichte des Rechtsterrorismus seit  und ihrem Hang zur Verharmlosung des Antisemitismus willens und in der Lage sind, diesen Kampf anzutreten.« Uffa Jensen pflichtete ihm bei: »Das westdeutsche Terrorjahr war keineswegs der Deutsche Herbst  mit zehn Toten der RAF, sondern das Jahr  mit  Toten, die vor allem von Mitgliedern der Wehrsportgruppe Hoffmann und der RoederGruppe umgebracht wurden. Es geht nicht um Aufrechnung. Stattdessen ließe sich eine Geschichte der unterschiedlichen Wahrnehmungen durch die politische Elite und die Medien erzählen: Die RAF zielte auf Staatssekretäre und Arbeitgeberpräsidenten, die rechten Terroristen schon damals auf vietnamesische Asylbewerber, auf Juden oder auch auf Besucher des Oktoberfestes.« Diese Kritik schloss auch die Geschichtswissenschaft und die für diesen Zeitraum zuständige Zeitgeschichtsschreibung mit ein. Dabei gilt es zu konstatieren: Völlig neu sind solche Feststellungen von der – gelinde gesagt – relativen Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in der Historiographie der Bundesrepublik nicht. So stellte Her Hajo Schumacher: Rechtsterrorismus. Es ist wieder Herbst in Deutschland, in: Berliner Morgenpost Online, ...  Vgl. etwa »Antisemitismus und gefährdete Demokratie«, in: Hessenschau.de, ...  Hanning Voigts: Rechter Terror. Die deutsche Blindheit, in: FR Online, ...  Uffa Jensen: Die radikale Rechte gehört zu den Gewinnern der deutschen Einheit, in: SZ Online, ...

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mann Vinke schon  fest, dass Links- und Rechtsterror mit »zweierlei Maß« gemessen würden, und Gideon Botsch schrieb : »Während indes die Aktionen der RAF im ›kollektiven Gedächtnis‹ der deutschen Bevölkerung ihren festen Platz haben, ist die Erinnerung an ›Terror von rechts‹ weit weniger tief verankert.« Die Neuauflage des Buchs zum Oktoberfest-Attentat aus dem Jahr , in dem Ulrich Chaussy als Journalist des Bayerischen Rundfunks den Verlauf und die Ergebnisse seiner Recherchen darstellte, trug die »Verdrängung des Rechtsterrors« bereits im Untertitel, und mit seinem Film Der blinde Fleck, der im Januar desselben Jahres in die Kinos kam, spitzte Chaussy diese Beobachtung noch zu. Dass sich dies erst nach dem öffentlichen Bekanntwerden der Anschläge der rechtsterroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) im Jahr  änderte, zeigt eine vorläufige Bestandsaufnahme: Die relative Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in der Geschichtswissenschaft thematisierten  ein Dachauer Symposium und eine Sektion auf dem . Deutschen Historikertag in Hamburg. Zudem hat das NS-Dokumentationszentrum München mit der Ausstellung »Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit « das Thema für die Bundesrepublik bearbeitet; Daniel Schmidt und Michael Sturm haben eine Geschichte des Rechtsterrorismus für Italien und Deutschland im . Jahrhundert vorgelegt. Sodann bildet die Feststellung, dass »der bundesrepublikanische Rechtsterrorismus […] einen blinden Fleck in der Geschichtsschreibung« darstellt, einen wichtigen Ausgangspunkt für ein Projekt zum Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik im Zeitraum von  bis , das Barbara Manthe seit  bearbeitet. Zuletzt haben auch Norbert Frei, Franka Maubach,  Vinke (); Botsch (), S. ; ebenso Kopke (), S.  f.; Steinbacher (Hrsg.) (), S. .  Daniel Harrich (Regie), Ulrich Chaussy/Daniel Harrich (Buch): Der blinde Fleck. Täter, Attentäter, Einzeltäter? Nach einer wahren Geschichte (); Chaussy ().  Vgl. Steinbacher (Hrsg.) () und die von der Verfasserin organisierte und gemeinsam mit Daniel Schmidt, Constantin Iordachi, Michael Sturm und Christoph Kopke durchgeführte Sektion »Bausteine zu einer Geschichte des Rechtsterrorismus in Europa und den USA von  bis heute« auf dem . Deutschen Historikertag in Hamburg, .-. September ; Nerdinger/Grdanjski/Vollhardt (); Schmidt/Sturm ().  Vgl. https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/ (..); Manthe (). Des Weiteren untersucht Niklas Krawinkel in einem am Fritz Bauer Institut angesiedelten Projekt den »Rechtsradikalismus in Deutschland nach «: https://

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Christina Morina und Maik Tändler den Fokus auf die Geschichte von Rechtsextremisten und ihren Kampf gegen die demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik gerichtet. Phänomene rechter Gewalt – darunter auch rechtsterroristische Gewaltakte – bilden hier einen wichtigen Teil der Geschichte. Damit ist die Geschichte des Rechtsterrorismus aber noch längst nicht in der Mitte des Faches angekommen. Nicht nur, aber jetzt auch vor dem Hintergrund des Lübcke-Mordes sowie des Anschlags auf die Synagoge zu Halle erscheint deshalb eine selbstkritische Reflexion wünschenswert und notwendig, wenn nicht gar überfällig. Denn der Befund ist und bleibt in der Tat erstaunlich: Phänomene rechtsextremer Übergriffe und Gewalttaten – von Einschüchterungs- und Verleumdungskampagnen bis hin zu Mord und Massaker – durchziehen die Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis heute. So zählt Manthe allein für die Bundesrepublik  Tatbeziehungsweise Gruppenkomplexe rechtsterroristischer Gewalt für die zwanzig Jahre von  bis . Gideon Botsch zufolge fanden allein in den er Jahren über dreißig Menschen einen gewaltsamen Tod aufgrund rechtsterroristischer Gewalt, »darunter fünf Ausländer, drei Polizeibeamte, ein Jude und seine Lebensgefährtin sowie zwölf unbeteiligte Besucher des Münchner Oktoberfestes«. Die weiteren Todesopfer gehörten selbst der Neonazi-Szene an, »wobei zwei durch Polizeibeamte erschossen und mindestens zwei weitere durch Gesinnungsgenossen getötet wurden, während bei den übrigen von Selbsttötung ausgegangen wird«. Rechtsterroristische Gewalt war und ist in der Geschichte der Bundesrepublik in einem massiven Ausmaß präsent.

 

 

www.fritz-bauer-institut.de/forschungsprojekte/rechtsradikalismus-in-deutsch land-nach- (..). Auch am Lehrstuhl von Norbert Frei in Jena entsteht gerade ein Forschungsprojekt zur Geschichte des Antisemitismus und Rechtsradikalismus nach . Frei/Maubach/Morina/Tändler (). Diese historischen Phänomene sind bislang vor allem in den Sozialwissenschaften thematisiert worden, und zwar insbesondere von der Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung sowie von den Terrorismusstudien und der Kriminologie. Vgl. zum Rechtsextremismus generell einführend Pfahl-Traughber (); Schubarth/Stöss (); Grumke/Wagner (); Salzborn (). Zum Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik mit einer historischen Perspektive insbesondere Hoffman (); Hoffman (); Backes/Jesse (); Botsch (); Röpke/Speit (); Kopke (); Quent (); Piepenbrink (Hrsg.) (). Vgl. https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/ (..). Botsch (), S. .

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Dabei erreichten zu Beginn der er Jahre rechtsterroristische Gewaltakte gegen die Demokratie, gegen gesellschaftliche Minderheiten und gegen amerikanische Soldaten, die in Europa stationiert waren, einen ersten alarmierenden Höhepunkt – nicht nur, aber auch in Deutschland. Erinnert sei hier – notwendigerweise nur kursorisch – an den Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna am . August , bei dem  Personen getötet und  verletzt wurden, an den Anschlag auf das Münchner Oktoberfest am . September  mit  Toten und  Verletzten, an das Bombenattentat vor der Synagoge in der Rue Copernic in Paris am . Oktober , bei dem  Passanten getötet und  weitere verletzt wurden, an die Ermordung des Erlanger jüdischen Verlegers Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke am . Dezember , an das Bombenattentat auf die Synagoge von Antwerpen am . Oktober , bei dem zwei Personen getötet und  verletzt wurden, an das Bombenattentat am . Januar  auf ein von Juden gern frequentiertes Restaurant in West-Berlin, bei dem eine Person getötet und  verletzt wurden, sowie an die Anschläge auf amerikanische Soldaten (häufig Afroamerikaner), die in Deutschland stationiert waren. So eröffnete am . Juni  ein Neonazi das Feuer in einer Nürnberger Diskothek, wobei er drei Personen tötete und drei weitere verletzte; am . November  sowie am . und . Dezember folgten Bombenanschläge in Frankfurt, Butzbach, Fechenheim und Darmstadt, aufgrund derer zwei Personen verletzt wurden. Diese Auflistung ließe sich um weitere Gewalttaten ergänzen. Ungeachtet der Vielzahl und der Massivität dieser Akte rechtsterroristischer Gewalt findet sich von ihnen in den bisherigen Narrativen zur Geschichte der Bundesrepublik keine Spur. Während die terroristischen Gewaltakte der RAF zuverlässig in jede Gesamtdarstellung zur Geschichte der Bundesrepublik Eingang gefunden haben und die Autoren dieser Darstellungen vielfach sogar auf einzelne Mitglieder der RAF und ihre Sozialisation eingehen sowie die Reaktionen aus Politik und Gesellschaft interpretieren und kommentieren, sucht man nach dem Oktoberfest-Attentat, der Wehrsportgruppe Hoffmann, nach Karl Vgl. Hoffman (); Botsch (), Kap. II..; zum Oktoberfest-Attentat auch Ulrich Chaussy, Oktoberfest-Attentat, . September , publiziert am ..; in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikonbayerns.de/Lexikon/Oktoberfest-Attentat, . September  (..).  Vgl. etwa Glaser (), S. -; Görtemaker (), S. -; Winkler (), S. -; Jarausch (), S. -, -; Wehler (), S. ; Herbert (), S. -.

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Heinz Hoffmann, Gundolf Köhler, Manfred Roeder oder auch Opfern wie Shlomo Lewin in diesen großen Erzählungen vergeblich. Es findet sich keine Erwähnung, geschweige denn eine Analyse von Hintergründen oder Auswirkungen. Auf dem »Weg nach Westen« (Heinrich August Winkler) und angesichts der in der Tat beachtlichen »Umkehr« (Konrad Jarausch), die es in der Bundesrepublik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zweifellos gegeben hat und die es in der Geschichtsschreibung angemessen zu würdigen galt und gilt, passten die rechtsterroristischen Anschläge offenbar weder ins Selbstbild noch zu den vorherrschenden Erzählsträngen. Der Rechtsterrorismus fehlt in den Erzählungen über die bundesrepublikanische Geschichte. Wie lässt sich dieser erstaunliche Befund erklären? Spätestens seit der Mathematiker Emil Julius Gumbel zu Beginn der Weimarer Republik nachgewiesen hat, dass politisch motivierte Morde aus dem linken Spektrum deutlich strenger geahndet wurden als solche aus dem rechten politischen Lager, wird immer wieder die Frage gestellt, ob Justitia nur auf dem rechten Auge blind sei. Muss diese Frage auch für Klio gestellt werden? Ein solcher Generalverdacht liegt angesichts der vorangegangenen vorläufigen Bestandsaufnahme nahe, trägt aber wenig zum Verständnis des Phänomens bei und stünde somit auch seiner Veränderung eher im Wege. Deshalb stellt sich zunächst die Frage, ob es andere Erklärungsansätze für die relative Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in der Geschichtswissenschaft gibt. Denn das Ausloten solcher Hintergründe birgt die Chance, die unumgängliche selbstkritische Reflexion zu intensivieren und so eine stärkere Einbeziehung und Analyse des Rechtsterrorismus in der Geschichte der Bundesrepublik zu ermöglichen. Im Folgenden soll deshalb zunächst danach gefragt werden, warum die Zeitgeschichtsschreibung den Rechtsterrorismus ausblendete. Dabei wird zunächst darauf hingewiesen, dass Terrorismus für Historiker bis zum Beginn des . Jahrhunderts generell kein zentrales Thema war. Dieser Umstand erklärt sich nicht zuletzt aus der – zumindest bis vor wenigen Jahren – relativ komplizierten Quellenlage. Als weitere Gründe werden am Beispiel des Oktoberfest-Attentats der staatliche und politische Umgang sowie der mediale und öffentliche Umgang mit dem Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik erörtert. Abschließend werden einige wichtige Folgen der relativen Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik für die Geschichtsschreibung sowie für die Gesellschaft aufgezeigt.  Gumbel ().

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Mit Blick auf mögliche Erklärungsansätze für die relative Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in der Geschichtswissenschaft ist zunächst festzuhalten, dass die Geschichte des Terrorismus bis vor wenigen Jahren generell kein Thema gewesen ist, dem sich die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft intensiv gewidmet hätte. Diese Aussage gilt unabhängig davon, ob man nach historischen Forschungen zum Rechtsterrorismus, zum Linksterrorismus oder zum ethnisch-nationalistischen Terrorismus sucht: Die breit rezipierten Bücher und entscheidenden Untersuchungen zur RAF beispielsweise wurden zunächst von Journalisten und Sozialwissenschaftlern verfasst. Dagegen untersuchten Historiker zwar so gut wie jede andere Form politischer Gewalt – man denke etwa an politische Attentate, Coup d’États, Aufstände, Revolutionen, staatlichen Terror, Bürgerkrieg und Kriege zwischen Staaten und Imperien –, mit Studien zum Terrorismus hielten sich professionelle Geschichtswissenschaftler jedoch allgemein zurück. Eine Ausnahme von dieser Regel stellt die Osteuropäische Geschichte dar, wo das Thema angesichts seiner Bedeutung für die Geschichte des Zarenreichs im . Jahrhundert und angesichts der unmittelbar nach den Revolutionen einsetzenden geschichtswissenschaftlichen Forschungsarbeiten früh etabliert war. Hier bildet das Thema auch in der bundesrepublikanischen Forschung spätestens seit den er Jahren einen Schwerpunkt. Diese über lange Zeit geübte Zurückhaltung der historischen Zunft gegenüber dem Terrorismus hat Gründe, die selten ausgesprochen werden. Einer der wenigen Historiker, die geäußert haben, warum sie Terrorismus als Thema nach Möglichkeit vermeiden, ist der Militärhistoriker Michael E. Howard. Er stellte einst in einer Buchrezension fest: »[Terrorism is a] huge and ill-defined subject [that] has probably been responsible for more incompetent and unnecessary books than any other outside the field of sociology. It attracts phonies and amateurs as a candle attracts moths.« Aus dieser Bemerkung spricht sicher die Weltsicht eines Oxford Dons alter Schule, dem als Historiker bereits die Sozialwissenschaften suspekt sind. Gleichwohl könnte jeder, der ernsthaft zur Terrorismusgeschichte geforscht hat, aus eigener Erfahrung bestätigen, wie sehr seine Aussage zutrifft. Dabei stellt sich jedoch die Frage nach Ursache und Wirkung. Denn wie schon David Carlton bemerkte, ist womöglich gerade die lang gehegte Zurückhaltung der Fachwissen   

Prominent etwa Aust (); Kraushaar (Hrsg.) (). So zuletzt auch Schraut (), S. -. Vgl. etwa Hildermeier (); Borcke (); für die USA Naimark (). Michael E. Howard zit. nach Carlton (), S. .

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schaft auf diesem Feld dafür verantwortlich, dass weniger geschulte und ausgewiesene Autoren die Lücke füllen, welche die Wissenschaft hinterlassen hat. Dies sollte bei einem so hochgradig öffentlichkeitswirksamen, emotionalisierten und emotionalisierenden Gegenstand nicht überraschen. Insofern, so könnte man schlussfolgern, ist es gerade notwendig, dass sich die Geschichtswissenschaft dem Terrorismus als Thema widmet. Dem standen (und stehen) jedoch bisweilen größere Hindernisse im Weg, als dies auf den ersten Blick den Anschein hat. Denn jede ernsthafte historische Untersuchung beruht auf Quellen. Die Quellenlage in der Terrorismusgeschichte ist jedoch typischerweise speziell. Aus nachvollziehbaren Gründen gehen terroristische Personen und Gruppen nur in seltenen Fällen freigiebig mit Informationen um, zumindest nicht in ihrer aktiven Zeit und auf freiwilliger Basis. So sind umfangreiche Korrespondenzen zwischen Mitgliedern terroristischer Gruppen über Taktik, Pläne und Ziele, Nachlässe in Bibliotheken, privat organisierte Archive oder ausführliche Oral-History-Interviews untypisch. Doch auch staatliche Stellen lassen sich mit Blick auf ihre Strategien zur Terrorismusbekämpfung ungern in die Karten schauen. Der Verfassungsschutz etwa ist davon ausgenommen, seine Akten den Archiven und damit der Forschung zu übergeben; Klarnamen von V-Leuten sollten selbst parlamentarischen Gremien vorenthalten werden. Die Aktenbestände anderer Behörden unterliegen mindestens der Archivsperrfrist von dreißig Jahren, was bedeutet, dass die historische Erforschung der massiven rechtsterroristischen Anschläge zu Anfang der er Jahre unter Einbeziehung der staatlichen Überlieferung erst seit  möglich ist. Zeitnahe Forschungen sind deshalb in starkem Maße auf Medien und Dokumentationen von Gerichtsverhandlungen angewiesen, und diese Quellengruppen bleiben auch für Untersuchungen zur Terrorismusgeschichte generell

 Carlton (), S. .  Vgl. dagegen allerdings jetzt das  angelaufene Projekt »Wie ›Terroristen‹ lernen« von Carolin Görzig am MPI für Ethnologische Forschung in Halle (Saale), https://www.eth.mpg.de//rg_htl.  Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat inzwischen festgestellt, dass im Fall zweier Kleiner Anfragen aus dem Jahr  zum Oktoberfest-Attentat das parlamentarische Informationsinteresse überwog; vgl. Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. / vom .. zum Beschluss vom ..,  BvE /, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE//bvg-.html (..).

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von entscheidender Bedeutung. Folglich gibt es – auch abgesehen von der Reaktion auf das Bekanntwerden der Anschläge des NSU – triftige forschungsinterne Gründe dafür, warum sich die Geschichtswissenschaft vermehrt erst seit  dem Rechtsterrorismus zugewandt hat. Dies bedeutet jedoch auch: Seit  werden jedes Jahr weitere bedeutsame Bestände zur Geschichte des Rechtsterrorismus geöffnet, und ihrer historischen Erforschung steht nichts mehr im Wege. Ein weiterer Faktor für die Zurückhaltung der Geschichtswissenschaft speziell bei der Erforschung des Rechtsterrorismus ist im zeitgenössischen staatlichen und politischen sowie – daran anschließend – auch medialen und öffentlichen Umgang mit dieser Form von Gewalt zu sehen. Dies lässt sich exemplarisch am Anschlag auf das Oktoberfest zeigen. Bis heute handelt es sich dabei um den Einzelanschlag mit der größten Opferzahl. Er fand am . September  statt – nur neun Tage vor der Bundestagswahl. Dieser Wahl ging ein stark polarisierender Wahlkampf voraus, in dem der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß den amtierenden Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition Helmut Schmidt herausforderte. Das gesellschaftliche Klima war seit dem »Deutschen Herbst«  in starkem Maße vom Terrorismus der RAF geprägt. Noch in der Nacht vom . auf den . September ergaben die Untersuchungen des Bayerischen Landeskriminalamts, dass der Attentäter Gundolf Köhler mit der Wehrsportgruppe Hoffmann in Kontakt gestanden hatte. Diese  von Karl-Heinz Hoffmann in Oberfranken gegründete paramilitärische Gruppe war den Sicherheitsbehörden als Sammelbecken militanter Rechtsextremisten bekannt, weshalb sie im Januar  auf Initiative des Bundesinnenministers Gerhart Baum (FDP) verboten worden war. Festnahmen und Razzien innerhalb der Wehrsportgruppe, die unmittelbar nach dem Anschlag Köhlers vorgenommen wurden, ergaben allerdings keine direkten Indizien für eine Beteiligung am Anschlag, sondern lediglich Waffen- und Sprengstofffunde. Ein Bekennerschreiben gab es nicht. So wurden Hoffmann und die Mitglieder seiner Gruppe  Beides – die Bedeutung der Archivsperrfristen sowie auch die Bedeutung von Medien und Justiz als Quellen – gilt analog zum Beispiel auch für historische Forschungen zur RAF, die verstärkt seit der Mitte der ersten Dekade des . Jahrhunderts erschienen sind. Medien und Öffentlichkeit sind dabei als Thema nach wie vor zentral. Vgl. etwa Weinhauer/Requate/Haupt (Hrsg.) (); Balz (); Elter (); Terhoeven ().  Vgl. zu diesem Anschlag die Monographien von Heymann () und Neef (); vgl. auch Ulrich Chaussy, Oktoberfest-Attentat, . September  (wie Anm. ); Chaussy ().

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nach zwei Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Mitte November sagte dann ein Zeuge aus dem persönlichen Umfeld Köhlers aus, der Anschlag sei keine politische Tat gewesen, sondern das Werk eines Einzeltäters und das »Fazit einer persönlichen Katastrophe«. Ungeachtet einer Vielzahl gegenteiliger Hinweise und Aussagen legte sich das Bayerische Landeskriminalamt bereits Ende November  auf diese Einzeltätertheorie fest und stellte im Mai  die Ermittlungen ein. Die Generalbundesanwaltschaft fügte dem wenig hinzu und folgte mit einer Einstellung ihres Ermittlungsverfahrens im November . Damit galt der Anschlag auf das Oktoberfest von behördlicher Seite weder als terroristischer Anschlag noch überhaupt als eine politisch motivierte Tat. Diese Interpretation der Sicherheitsbehörden prägte den zeitgenössischen medialen und öffentlichen Umgang mit dem Anschlag nachhaltig. In den Tagen unmittelbar nach dem Oktoberfest-Attentat bis zur Bundestagswahl berichteten Printmedien aus dem gesamten politischen Spektrum intensiv und kritisch über den Anschlag sowie über die Vernachlässigung des Rechtsextremismus durch die Behörden, wie Daniel Schulze in seiner Untersuchung der Berichterstattung ausgewählter Printmedien gezeigt hat. Angesichts einer staatlich verordneten Nachrichtensperre nahm diese Berichterstattung zunächst die Form ausführlicher Hintergrundberichte an. Inhaltlich vertraten die Printmedien dabei die Position, das Gewaltpotenzial rechtsterroristischer Gruppen und insbesondere das der Wehrsportgruppe Hoffmann seien bis zum Oktoberfest-Attentat unterschätzt worden. So fragte Thomas Meyer in der Frankfurter Allgemeinen: »Ist die Bundesrepublik, ihre staatliche Ordnung oder zumindest die innere Sicherheit von rechts bedroht?«, um dann festzustellen, dass die Existenz einer rechten »Terrorgruppe« dem Oktoberfest-Attentat eine völlig andere Dimension gebe und dass durchaus Untergrundstrukturen vorhanden seien, welche in ihrem Gewaltpotenzial mit »dem Terrorismus von ›links‹, etwa der Roten Armee Fraktion«, vergleichbar seien. Und Dietrich Strothmann bezeichnete Köhler in der Zeit vom . Oktober  unmissverständlich als »Rechtsterrorist« und setzte seine Gewalttat in Bezug zum Sprengstoffanschlag auf den amerikanischen Soldatensender AFN in München, den Dieter  Ulrich Chaussy, Oktoberfest-Attentat, . September  (wie Anm. ).  Vgl. Schulze (), der die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Frankfurter Rundschau, den Spiegel, die Süddeutsche Zeitung, die taz sowie Die Zeit ausgewertet hat.  Thomas Meyer: Die alten Rechtsextremisten sind den jungen zu zahm, in: FAZ, .., zit. nach Schulze (), S. .

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Epplen – ebenfalls Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann – vier Jahre zuvor versucht hatte; dieser Anschlag war misslungen, weil die Bombe zu früh gezündet hatte. »Wenn es, bis jetzt, auch nicht erwiesen ist, daß der selbsternannte Major Karl-Heinz Hoffmann […] direkt an dem Münchner Massaker beteiligt gewesen ist – für seine geistige Urheberschaft gibt es viele Indizien«, so Strothmann, dessen Verwendung des Begriffs »Massaker« selbst in der kritischen Berichterstattung der ersten Tage nach dem Anschlag als ungewöhnlich auffällt. Michael Naumann fragte in der gleichen Ausgabe der Zeit: »Haben die zuständigen sicherheitspolitischen Landes- und Bundesbehörden im Kampf gegen den Terrorismus in letzter Zeit die Zügel schleifen lassen? Waren sie besonders auf dem ›rechten Auge blind‹?«, und präsentierte eine Analyse der Dynamiken zwischen Rechtsextremismus, Terrorismus und Maßnahmen zum Erhalt der inneren Sicherheit in der Bundesrepublik, die nach wie vor lesenswert ist. Schon wenig später nahmen die Medien ihre Warnungen vor einer rechtsterroristischen Gefährdung jedoch weitgehend zurück. Sie reagierten damit auf die Freilassung aller Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann sowie auf die Einzeltäterthese der Ermittlungsbehörden. Dieser These zufolge war der Anschlag nicht politisch motiviert. So veröffentlichte die Zeit nur zwei Wochen nach den eindringlichen Analysen von Strothmann und Naumann einen Beitrag mit dem Titel »Im Zweifel für Köhler«, in dem Hanno Kühnert selbstkritisch das eigene Blatt und den eigenen Stand dafür tadelte, Gundolf Köhler vorschnell als »Täter« und »Rechtsterrorist« bezeichnet und damit die im Rechtsstaat gebotene Unschuldsvermutung missachtet zu haben. Und derselbe Dietrich Strothmann, der noch am . Oktober  Köhler als Rechtsterrorist und den Anschlag als Massaker bezeichnet sowie sachkundig die Indizien für die geistige Urheberschaft Karl-Heinz Hoffmanns zusammengestellt hatte, berichtete vier Wochen später von einem Zusammentreffen westlicher Staatsschützer, die in Luxemburg zum ersten Mal »auch über Rechtsterrorismus und Rechtsverbindungen Erkenntnisse und Erfahrungen austauschten«. Anders als beispielsweise der israelische  »Wehrsportgruppe Hoffmann: Kein Märchen vom bösen Wolf«, in: Die Zeit, .., zit. bei Schulze (), S.  ff. Der Titel des Artikels bezieht sich auf eine zwölf Seiten starke Bombenbauanleitung mit dem zynischen Tarntitel »Das Märchen vom bösen Wolf«, die bei der Durchsuchung des Hoffmann-Schlosses Ermreuth bei Erlangen sichergestellt worden war.  Michael Naumann: Wie sicher ist Deutschland?, in: Die Zeit, .., zit. bei Schulze (), S. .  »Im Zweifel für Köhler«, in: Die Zeit, .., zit. bei Schulze (), S.  f.

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Ministerpräsident Menachem Begin und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlins, Heinz Galinski, angesichts der dicht aufeinanderfolgenden Anschläge von Bologna, München und Paris befürchteten, so referierte Strothmann die Überzeugung der Staatsschützer, gebe es keine Euro-Faschisten, keine »Schwarze Internationale« und auch kein »engmaschiges Netz militanter Neonazis, gespannt von Amerika bis Europa«. Stattdessen handle es sich »bei den Rabauken, Schlägern und Killern auf der extremistischen Rechten um Kleinstgruppen«, die »– mit Ausnahme von Großbritannien – keine Gefahr für die Sicherheit der jeweiligen Staaten« darstellten. Der Spiegel schließlich, der in den Tagen nach dem Anschlag ähnlich kritisch berichtet und analysiert hatte wie die Zeit, veröffentlichte Ende November wie zur Wiedergutmachung ein ausführliches Interview mit Karl-Heinz Hoffmann, in dem der »Chef« der verbotenen Wehrsportgruppe allen Raum für Selbstdarstellung und Dementi erhielt, den er sich nur wünschen konnte. Die Begriffe »Terrorist« und »Terrorismus« für Gundolf Köhler und seinen Gewaltakt, die ohnehin nur selten verwendet worden waren, verschwanden nun vollends und wurden durch die Begriffe »Täter« und »Attentäter« sowie »Attentat« und »Verbrechen« ersetzt. Nach der Bundestagswahl wurde es weitgehend still um das Thema. Die spontan geäußerte breite Kritik zeitigte angesichts der Einzeltäterthese eine geradezu kontraproduktive Wirkung. Die relative Vernachlässigung des Rechtsterrorismus, die die Medien in den ersten Tagen nach dem Oktoberfest  bis zur Bundestagswahl ausdrücklich formulierten, kritisierten und einer breiten Öffentlichkeit zu Bewusstsein brachten, schien plötzlich nur allzu berechtigt: die Freilassung Karl-Heinz Hoffmanns und seines Umfelds, die These vom psychisch gestörten, unpolitischen Einzeltäter, die Lagebeurteilung der Expertenkonferenzen – dies alles signalisierte, dass vom Rechtsterrorismus keine akute Bedrohung der demokratischen Ordnung ausging. Die Analysen und Warnungen der ersten Tage erschienen im Lichte der behördlichen Ermittlungsergebnisse als unbegründet und voreilig, und selbst kritikgewohnte Medien folgten den Sicherheitsbehörden in ihrer Einschätzung. Daher ist anzunehmen, dass nun Verunsicherung und Zurückhal »Nazis aller Länder …«, in: Die Zeit, ..:, teilweise zit. bei Schulze (), S. .  Vgl. »Mit Dumdum aus der Schußlinie« und »Wie Partisanen überall angreifen«, in: Der Spiegel, ...  »Ihnen wäre das Lachen vergangen«, in: Der Spiegel, ...  Schulze (), S. .

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tung die Folge waren. Das Oktoberfest-Attentat sowie der mediale und behördliche Umgang damit dürften die relative Vernachlässigung des Rechtsterrorismus also sogar weiter verstärkt haben. Dies gilt nicht nur für die Medien, sondern auch für die Geschichtswissenschaft. Solange das Oktoberfest-Attentat den offiziellen Ermittlungsergebnissen der Sicherheitsbehörden zufolge kein Rechtsterrorismus war und ist, bewegt sich auch die Geschichtsschreibung über Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik auf unsicherem Terrain. Jede historische Darstellung, die entgegen den offiziellen Ermittlungsergebnissen von Rechtsterrorismus gesprochen hätte, hätte sich damit umgehend dem Ruch ausgesetzt, unseriösen Verschwörungstheorien anzuhängen. Dies ist praktisch bis heute der Fall. Schon weil sich kein Historiker einen solchen Ruf leisten kann und will, eine eingehende Aufarbeitung auf der Grundlage von Quellen und mit Hilfe historischer Methoden jedoch erst seit wenigen Jahren möglich ist, fehlt der Rechtsterrorismus in den Erzählungen der bundesrepublikanischen Geschichte – im Gegensatz zum Linksterrorismus, der nicht zuletzt wegen der Bekennerschreiben schon zeitgenössisch von Politik, Medien und Öffentlichkeit klar als solcher identifiziert wurde und damit auch in den historischen Narrativen dargestellt und analysiert werden konnte, ohne die wissenschaftliche Seriosität aufs Spiel zu setzen. Die relative Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in den Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik kann jedoch nicht ohne Folgen für die Geschichtsschreibung bleiben. Diese Folgen betreffen sowohl die analytische Schärfe und Aussagekraft als auch die Themen dieser Geschichtsschreibung. Drei solche Folgen seien hier genannt: Die relative Vernachlässigung des Rechtsterrorismus verstärkt erstens die Tendenz, die Geschichte der Bundesrepublik als eine zielgerichtete Geschichte zu erzählen: als die von Gustav Radbruch im Januar  geforderte »Umkehr zur Humanität«, die nach einer »erstaunlichen Metamorphose« gesamtdeutsch in der Berliner Republik verwirklicht wurde, oder als letzte, oft mühsam errungene, aber schließlich doch erfolgreiche Schritte auf dem langen »Weg nach Westen«. Und in der Tat gab es in der Bundesrepublik seit ihrer Gründung unzählige Männer und Frauen, die ganz bewusst zu einer »Umkehr zur Humanität« beizutragen versuchten, die im Angesicht der totalen »Niederlage nach einem totalen Krieg« das »Lernpotential und die Flexibilität« besaßen, die »nie vollends bestandene, immer in die Zukunft offene Bewährungsprobe« anzuneh Jarausch (), S. , ; Winkler ().

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men und ihre eigene »Zukunftsfähigkeit« sowie auch die Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik als westliche Gesellschaft unter Beweis zu stellen. Sobald die Erzählung von der Abkehr vom deutschen Sonderweg und der Ankunft in der westlichen Moderne zur Normalität wird, besteht allerdings die Gefahr, das Ende des Sonderwegs selbstverständlich zu nehmen. Die »nie vollends bestandene, immer in die Zukunft offene Bewährungsprobe« jeder westlichen Gesellschaft gerät dann leicht aus dem Blick; ebenso die Tatsache, dass es auch in Gesellschaften, die mit der westlichen Moderne identifiziert werden (wie zum Beispiel Großbritannien, Frankreich und die USA), Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus gab und gibt. Hinzu kommt, dass Erzählungen über Wanderungen vom Dunkel ins Licht dazu tendieren, die Bewegung, die Entwicklung, die Diachronie zu betonen. Eine solche Betonung der Diachronie kann zu einer relativen Vernachlässigung von Prozessen führen, die eine stärker synchrone Perspektive erfordern – wie etwa Prozesse der Polarisierung und Radikalisierung. Diese finden in der Zeit statt, doch erfordert ihre Darstellung und Analyse, die dicht aufeinanderfolgenden Interaktionen zwischen verschiedenen Segmenten einer Gesellschaft in ihrer Gleichzeitigkeit und Breite zu beschreiben. Dabei ist der Fokus besonders – wenn auch nicht ausschließlich – auf die politischen Ränder zu richten. Denn Prozesse der Polarisierung und Radikalisierung beziehen sich soziologisch betrachtet auf interdependente Aktionen und Reaktionen unterschiedlicher politischer Akteure. Solche Interaktionen sind nur dann adäquat darzustellen, wenn alle relevanten Akteure Eingang in die Analyse finden. Blendet man bestimmte (Rand-)Segmente aus dem politischen Spektrum aus, wie dies in den Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik geschieht, in denen der Rechtsextremismus und der Rechtsterrorismus der er und er Jahre unerwähnt bleiben, muss die Analyse unvollständig und damit inadäquat bleiben. Nicht zuletzt deshalb kommt dem Nachweis von Massimiliano Livi, Daniel Schmidt und Michael Sturm, dass die er Jahre nicht nur ein »rotes«, sondern auch ein »schwarzes Jahrzehnt« waren, eine so wegweisende Bedeutung zu. Auf der Grund Wehler (), S. , .  Ebd., S. .  Für eine historisch-empirische Analyse von Polarisierungs- und Radikalisierungsprozessen am Beispiel der USA vor dem Bürgerkrieg vgl. Dietze (), S. -. Für einen soziologischen Ansatz siehe Khosrokhavar ().  Livi/Schmidt/Sturm (). Zu dieser Interpretation vgl. Kopke (), S. , und Schmidt/Sturm ().

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lage soziologischer Theorien zu Prozessen der Polarisierung und Radikalisierung sowie historischer Analysen, die die rechtsextreme Mobilisierung seit den er Jahren ernst nehmen und als zentralen Bestandteil in die Analyse einbeziehen, kann die Entstehung rechtsterroristischer Gruppen in jenem Jahrzehnt jedenfalls nicht mehr überraschen. Schließlich führt die relative Vernachlässigung des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus auch zu einer Ignoranz gegenüber den Erfahrungen und Perspektiven der Menschen, die Zielgruppen rechter Übergriffe und Angriffe sind. Da sind die – vielfach wiederkehrenden – Erfahrungen von Verleumdung, Mobbing, Verfolgung, Gewalt und Verlust sowie damit einhergehend das Durchleben von Verunsicherung, Ausgrenzung, Angst und Schmerz bei Juden, (Re-)Migranten, Homosexuellen, Frauen sowie denjenigen, die rechtsextreme Positionen zurückweisen und Rechtsextremisten entgegentreten, die sich mit denjenigen solidarisieren, die zur Zielscheibe rechter An- und Übergriffe werden, oder die innerhalb und außerhalb der politischen und gesellschaftlichen Institutionen die Prinzipien des Grundgesetzes und der Demokratie zu verwirklichen suchen. Diese Erfahrungen betreffen insbesondere Angehörige von Minderheiten wie Enver Şimşek und acht weitere Opfer des NSU, reichen aber bis weit in die Mitte der Mehrheitsgesellschaft hinein, wie der Anschlag auf Henriette Reker und der Mord an Walter Lübcke gezeigt haben. Spricht man der Geschichtsschreibung eine gesellschaftliche Relevanz zu, wird man davon ausgehen müssen, dass die genannten Folgen für sie auch Konsequenzen für die Gesellschaft gezeitigt haben. Dabei ist die Gefahr, das Ende des Sonderwegs für zu selbstverständlich zu nehmen und die »nie vollends bestandene, immer in die Zukunft offene Bewährungsprobe« aus dem Blick zu verlieren, keine theoretische Gefahr, die allein die Geschichtswissenschaft interessieren müsste, sondern als Denkhaltung, als Erfahrungsraum und Erwartungshorizont (Reinhart Koselleck) für eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure relevant. Wären die Erfahrungen und Perspektiven von Zielgruppen rechter An- und Übergriffe in Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik stärker berücksichtigt worden, hätte dies nicht nur zu Recht zu einer stärkeren Würdigung der vielen bekannten und unbekannten Männer und Frauen geführt, die die erstaunliche Metamorphose der bundesrepublikanischen Gesellschaft personifizierten oder sich für die »Umkehr zur Humanität«  Vgl. z. B. Dietze (), Kap. . und ..  Wehler (), S. .

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engagierten – oft ungeachtet hoher persönlicher Kosten. Es wären möglicherweise auch Vorbilder geschaffen worden, um gemeinsam mit ihnen und anhand ihrer Erfahrungen Resilienz in alltäglichen und außeralltäglichen Situationen zu erlernen. Die Bedeutung eines angemessenen Verständnisses der politischen Radikalisierungsprozesse in der Bundesrepublik für die politischen Entwicklungen seit  liegt auf der Hand: Denn auf der Grundlage einer genauen Kenntnis der Polarisierungs- und Radikalisierungsprozesse aus den er und er Jahren könnten die Polarisierungs- und Radikalisierungsprozesse zwischen islamistischen und rechten terroristischen Gruppen, die analog dazu zu interpretieren sind, nicht überraschen.

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Antifaschistische Klassenzimmer? Schule, Rechtsextremismus und Demokratie nach »Achtundsechzig« T K

Aufgeschreckt durch die Agitation rechtsextremer Jugendverbände und die Wahlerfolge der Partei »Die Republikaner« diagnostizierten bundesdeutsche Medien im Sommer  eine besorgniserregende Zunahme rechtsextremer Vorfälle an deutschen Schulen: Fremdenfeindliche Anfeindungen, Hakenkreuzzeichnungen und rechtsextreme Computerspiele seien vielfach Teil der Schulkultur geworden. An immerhin acht Prozent der nordrhein-westfälischen Schulen würden Neonazis offen in Klassenräumen auftreten. Jugendliche im Schulalter, so schien es, waren »besonders anfällig für neonazistische Heilslehren«. Die rassistischen Ausschreitungen nach der Wiedervereinigung schienen diese Sorgen zu bestätigen. Sie wurden von den Medien und einer pädagogischen Fachöffentlichkeit als Jugendphänomene wahrgenommen und oftmals als Teil einer »Jugendrevolte von rechts« interpretiert. Obwohl empirische Untersuchungen keine Korrelation zwischen Lebensalter und rechtsextremer Einstellung feststellten, drückte die Sorge um Rechtsextremismus den Jugend- und Schuldebatten der er Jahre ihren Stempel auf. Die Jugend- und Bildungsgeschichte hat sich bisher kaum mit Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik beschäftigt. Im Gegenteil, sie hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten gerade die Überwindung nationalsozialistischer Denkmuster und die Liberalisierung und Demokratisierung von Bildung und Erziehung in den Mittelpunkt ihrer Forschung gestellt. Schulen werden als wichtige Foren und Jugendliche als zentrale Akteure einer neuen liberalen Gesellschaftsordnung vorgestellt. In den er Jahren gerieten etablierte Autoritätsvorstellungen und Disziplinarpraktiken unter Veränderungsdruck, und neue partizipative Kommunikationsweisen hielten in den Klassenzimmern und Jugendorganisationen Einzug. Das Leitbild einer demokratischen Schule prägte eine neue Generation von Lehrerinnen und Lehrern ebenso wie viele Schülerinnen  »Bravo, Hitlerjunge«, in: Der Spiegel, ...  »Null in der Masse«, in: Der Spiegel, ..; »Bestie aus deutschem Blut«, in: Der Spiegel, ... Zusammenfassend: Langebach (), S. .

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und Schüler, die um  mit weitreichenden Forderungen einer Umgestaltung von Schule und Unterricht hervortraten. Widerstände gegen das umfassende Projekt einer Demokratisierung von Schule und Gesellschaft schienen vor allem von »ewiggestrigen« Lehrern und bornierten Eltern auszugehen, kaum jedoch von den Heranwachsenden selbst. Wie lassen sich diese optimistisch grundierten Beobachtungen einer Demokratisierung von Schule und Gesellschaft in den Nachkriegsjahrzehnten mit den zeitgenössischen Wahrnehmungen einer Schul- und Jugendkrise in Einklang bringen, die seit Mitte der er Jahre Massenmedien und Fachöffentlichkeit gleichermaßen dominierte und in dem Bild des jugendlichen Rechtsradikalen einen markanten Ausdruck fand? Diese Frage bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, die sich mit dem Wandel von Deutungen und pädagogischen Gegenstrategien gegen jugendlichen Rechtsextremismus vom Ende der Bildungsreformära Mitte der er Jahre bis zum Ende der er Jahre befassen. Die Geschichte von Schule, Jugend und Demokratie endete nicht »Achtundsechzig«. Vielmehr durchlief sie in den folgenden Jahrzehnten wichtige Metamorphosen, die sich schwerlich über die Deutungsmuster von Liberalisierung und Demokratisierung fassen lassen, die aber Aufschluss über den Wandel von Demokratieverständnis und Demokratiepraktiken in der Bundesrepublik versprechen. Jugendlicher Rechtsextremismus stand im Mittelpunkt von Kontroversen über die doppelte Frage, was Demokratie dem schulischen Raum bedeutete und wie ein demokratisches Gemeinwesen angesichts neuer Herausforderungen zu gestalten sei. Auch wirkte die Sorge vor einer rechtsradikalen Eroberung der Jugend als Katalysator einer neuen Welle innerer Schulreform, die sich in den frühen er Jahren mit widersprüchlichen Formen und Folgen Bahn brach. Die folgenden Ausführungen haben dabei explorativen Charakter, präsentieren also erste Deutungsangebote, nicht aber die Ergebnisse umfassender Forschung.

Die Entdeckung des rechtsextremen Jugendlichen Rechtsextremismus stellte sich für Zeitgenossen in den Nachkriegsjahrzehnten hauptsächlich als ein Phänomen ehemaliger Nationalsozialisten und ihrer politischen Organisationsversuche dar. Auch die Wahlerfolge  Siehe nur mit jeweils ausführlichen Literaturhinweisen: Levsen (); Jobs ().

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der NPD am Ende der er Jahre wurden kaum mit Jugend in Verbindung gebracht. Eine neue Generation »kritischer« Erziehungswissenschaftlerinnen und Studierender interessierte sich zwar brennend für das Weiterwirken des Nationalsozialismus, doch lag ihre Aufmerksamkeit entweder auf dem Wirken NS-belasteter Dozierender an den Hochschulen oder aber auf der Familie und der frühen Kindheit, die sie – beeinflusst von der Frankfurter Schule und von Wilhelm Reich – als Orte autoritärer Persönlichkeitsbildung ansahen. Um eine Wiederkehr des Faschismus langfristig zu verhindern und wahrhaft demokratische Persönlichkeiten zu bilden, galt es die frühe Kindheit von Zwang und Triebunterdrückung zu befreien. Die von der Forschung in den letzten Jahren vielbeachteten alternativen Kinderläden stellten den spektakulärsten Versuch dar, dieses Programm einer antiautoritären Erziehung in die Tat umzusetzen. Die Jugendphase zog demgegenüber zeitgenössisch wenig pädagogisch antifaschistisches Interesse auf sich. Unter dem Einfluss der studentischen Protestbewegungen um  wurde sie medial pauschal mit der politischen Linken identifiziert. Zugleich diskutierten Bildungspolitiker aller Parteien in der Hochphase der Bildungsreformära Demokratie im Wesentlichen in Bezug auf eine Ausweitung von Bildungszugängen und Chancengleichheit in Bildungsinstitutionen. All dies änderte sich ab Mitte der er Jahre. Innerhalb weniger Jahre verblassten die optimistischen Erwartungen einer fortschreitenden Ausgestaltung der Schule zu einer modellhaften res publica. Schule erschien ab Mitte der er Jahre zunehmend als ein demokratischer Problemort. Nicht Partizipation und Bürgersinn dominierten nun die Berichterstattung, sondern Apathie und Gewalt. In diesem Kontext entdeckten Erziehungswissenschaftler und Lehrerinnen Rechtsextremismus als ein spezifisches Jugendproblem. Alarmierende Berichte über schulischen Rassismus und rechtsradikale Jugendsubkulturen in Großbritannien kursierten in pädagogischen Zeitschriften, und lokale Initiativen und Verbände begannen seit etwa  rechtsextreme Vorfälle und Übergriffe auch an deutschen Schulen zu dokumentieren. Eine »Hitler Hans-Joachim Adomatis, NS-Renaissance. Alte Sprüche junger Schüler, in: betrifft: Erziehung , Juni ; Frei/Maubach/Morina/Tändler (), S. -.  Herzog (), S. -; Rahden (), S. -.  Rudloff (), S. -.  Christian H. Freitag: »Schickt sie zurück«, in: betrifft: Erziehung , April ; Hartmut Jabs: Am Ende bleibt die Diskriminierung, in: betrifft: Erziehung , April ; »Linke Lehrer – Rechte Schüler? Haben die Lehrerinnen bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus versagt?, in: NDS  (), H. .

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welle unter jungen Deutschen« schien sich Bahn zu brechen. Die VVN Münster erkannte am Ende der er Jahre eine neue rechtsextreme »Konzentration auf die Gewinnung der Jugend« und hielt besonders von der NPD-Jugend herausgegebene Schülerzeitungen für gefährlich. Eine Reihe von Faktoren trugen zu dieser »Entdeckung« des jugendlichen Rechtsextremismus bei. Erhöhte Werbeanstrengungen rechtsradikaler Organisationen unter Jugendlichen waren sicher eine Ursache. Doch bedurfte es einer neuen allgemeinen Krisenwahrnehmung, um in diesen begrenzten Aktivitäten bedrohliche Zeichen einer umfassenden politischen Gefährdung der Jugend zu erkennen. Rechtsextremistische Vorfälle erschienen am Ende der er Jahre weniger als Symptome politischen Wandels denn als Zeichen einer allgemeinen Jugend- und Bildungskrise. Nach einem Jahrzehnt optimistischer Reformpolitik im Zeichen von Bildungsexpansion, vermehrten Chancen für alle Jugendlichen und demokratischer Partizipation gerieten die Schattenseiten modernen Aufwachsens neu in den Blick. Jugendarbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven und das Schicksal unterbürgerlicher »Bildungsverlierer«, die in der Konkurrenz um neue, wissensbasierte Arbeitsplätze den Anschluss zu verlieren drohten, bestimmten nun die Debatten. Der »jugendliche Rechtsextreme« war somit ein spezifisches Produkt der Bildungs- und Gesellschaftsdebatten nach »Achtundsechzig«. Mit der ökonomischen Krise gewannen kultur- und bildungskritische Stimmen neues Gewicht: »Es gibt keine fröhlichen Kinder mehr«, betitelte  der Spiegel eine großangelegte Abrechnung mit Schule und Familie nach »Achtundsechzig«. Die Autoren formulierten vor allem zwei Vorwürfe, die jeweils spezifische Deutungen des jugendlichen Rechtsextremismus nahelegten. Erstens hätten die Bildungsreformen einer kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft auch im Bildungswesen zum Durchbruch verholfen. Die neue Schule habe ihre Humanität  »In Bergen-Belsen wurde kein Jude vergast«, in: Der Spiegel, ..; Rechtsextremismus unter Jugendlichen. Möglichkeiten antifaschistischer Jugendarbeit, hrsg. von der Ev. Jugendakademie Radevormwald, Januar  (zit. nach: Jugendarbeit und Neonazismus. »Hilfloser Antifaschismus«, in: betrifft: Erziehung , ). Zusammenfassend: Mehler (), S. -.  Neonazis in Münster. Dokumentation der VVN-Bund der Antifaschisten Münster-Münsterland,  (Nachdruck ), S. , .  Vgl. Castner/Castner (), S. -; Paul/Schoßig (Hrsg.) (); Meyer/Rabe (); vgl. auch die Fernsehdokumentation »Wotans Erben. Rechtsradikale Jugend in der Bundesrepublik« (Regie: Rolf Bringmann/Dirk Gerhard), WDR .  Vgl. hierzu Kössler ().

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verloren. Sie sei, symbolisiert in den massiven Betonstrukturen neuer Schulzentren, durch Anonymität, Gewalt und soziale Kälte gekennzeichnet, die sich rechtsradikale Agitatoren zunutze machen konnten. Zweitens habe »Achtundsechzig« eine Entfremdung zwischen Eltern und Kindern bewirkt. Modernes Familienleben sei durch ein falsch verstandenes Laissez faire gekennzeichnet und fördere Prozesse gesellschaftlicher Desintegration. Rechtsextreme Gruppierungen nutzten die Halt- und Orientierungslosigkeit Heranwachsender aus, indem sie ihnen verbindlich-eindeutige Strukturen und klare Weltbilder anböten. Die umfassende Defizitbeschreibung von Schule und Aufwachsen erwies sich als erstaunlich langlebig und bildete auch noch in den er Jahren den wenig hinterfragten Hintergrund der Debatten über Schule, Demokratie und Rechtsextremismus. Allerdings fiel es Zeitgenossen von Anfang an schwer, die Umrisse des Phänomens Rechtsextremismus zu bestimmen. Sie taten sich insbesondere schwer damit, »Einstellungen« präzise zu messen und ihre Popularität festzustellen. Da am Ausgang der er Jahre sozialwissenschaftliche Befunde noch kaum Eingang in die bildungspolitische Öffentlichkeit gefunden hatten, versuchten einige Lehrer zunächst sogar, mit Hilfe eigener Fragebögen die politischen Auffassungen ihrer Schülerinnen und Schüler zu ergründen. Sie wollten herausfinden, ob Hitlergruß und Hakenkreuz-Graffiti lediglich Ausdruck jugendlichen Protesthandelns oder aber Anzeichen eines sich verfestigenden rechtsradikalen Weltbildes waren. Allerdings konnten weder die handgemachten Fragebögen noch die wissenschaftlichen Erhebungen, die in den Folgejahren entstanden, diese Frage zufriedenstellend beantworten. Eine im Auftrag der sozialliberalen Bundesregierung erstellte SINUS-Studie aus dem Jahr  stellte bei mehr als fünf Millionen Deutschen und bei vielen Jugendlichen ein rechtsextremes »Einstellungspotential« fest, rief jedoch sogleich heftige Kritik hervor. Das Allensbacher Institut von Elisabeth Noelle-Neumann beispielsweise hielt die Ergebnisse für weit überzogen.  Vgl. hierzu auch die neuere Forschung zu Familie und Wertewandel: Neumaier (), S. -.  Peter E. Kalb, »Holocaust« im Hauptschulunterricht. »Aber das mit den Juden hätte wirklich nicht sein müssen«, in: betrifft: Erziehung , April ; Peter Dudek, Jugendlichen steht der Faschismus heute so fern wie die Französische Revolution. Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit heute? Ein Essay, in: PädExtra, ..; Mehler (), S. -.  Eike Henning: Sinus-Studie. Je älter desto rechter, in: betrifft: Erziehung , Juli-August ; zur Kritik: Virchow (), S. .

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Von der historischen Aufklärung zur akzeptierenden Jugendarbeit Mit der »Entdeckung« des jugendlichen Rechtsextremismus bildeten sich – auf der gemeinsamen Basis allgemeiner Krisenwahrnehmung – drei unterschiedliche Deutungen des Phänomens heraus, die mit jeweils unterschiedlichen pädagogischen Strategien zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Demokratiebildung verbunden waren. Erstens ist eine bildungsreformkritische Strömung zu nennen, die über eine »Humanisierung« der Schule die sozial-mentalen Folgeschäden des Reformjahrzehnts bekämpfen wollte. In der Förderung persönlicher und damit »humaner« Erziehungsverhältnisse stimmten konservative mit vielen linksalternativen Pädagoginnen und Pädagogen überein. Rechtsextremismus bildete kein explizites Thema dieser Debatten, doch das Ansinnen, sozialer Desintegration und jugendlicher Gewalt über verlässliche persönliche Kontakte und überschaubare Erziehungsverhältnisse entgegenzuwirken, lässt sich auch als Präventionsprogramm gegen Rechtsextremismus verstehen. Es waren dann, zweitens, jedoch vor allem linke Pädagogen, die Rechtsextremismus als schulisches Problem fassten. Einerseits machten sie in Anknüpfung an die Kritik der Achtundsechzigerbewegung weiterhin »autoritäre« Strukturen in Politik und Gesellschaft für die Erfolge rechtsextremer Mobilisierung verantwortlich. Sie diagnostizierten mit Sorge Sozialstaatsabbau, »autoritäre« Politikwende und eine »Re-Autoritarisierung« von Schule und Erziehung als Bedingungsfaktoren eines allgemeinen »Rechtstrends« unter Jugendlichen. Andererseits wurden sie bewusst oder unbewusst von zeitgenössischen Faschismusdeutungen beeinflusst, die den Erfolg des Nationalsozialismus nicht zuletzt auf seinen geschickten Einsatz von Propaganda zurückführten und von einer politisch weitgehend apathischen Bevölkerung ausgingen. Viele besorgte Lehrerinnen und Lehrer konnten zwar keine nennenswerten rechtsradikalen Aktivitäten an ihren Schulen feststellen, hielten aber einen raschen Einflussgewinn neonazistischer Gruppierungen für möglich, die etwa über Fußball-Fanclubs und harmlos aufgemachte Schülerzeitungen Jugendliche zu ködern verstünden. Rechtsextreme Ansichten als solche

 Hahn (), S. -; Hentig ().  Hans-Joachim Adomatis: NS-Renaissance. Alte Sprüche junger Schüler, in: betrifft: Erziehung , Juni .

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bildeten ihrer Meinung nach weniger eine Gefahr als deren unbewusstes Einsickern in die Alltagskultur der Schüler. Die linksalternativen Pädagogen zogen aus ihren Beobachtungen mehrere praktische Schlüsse. Zunächst waren sie überzeugt davon, dass der jugendlichen »NS-Renaissance« nicht mit den traditionellen Mitteln politischer Staatsbürgerkunde beizukommen sei. Vielmehr musste sich antifaschistische Bildungsarbeit einerseits mit autoritären Entwicklungen in der Gegenwartsgesellschaft, andererseits mit der politisch-historischen Apathie und Unwissenheit von Schülerinnen und Schülern beschäftigen. Demokratieerziehung sollte an die Alltagserfahrungen der Heranwachsenden anknüpfen, deren Lebenswelten es demokratisch umzugestalten galt. Auch sollte Projektarbeit jenseits des klassischen Schulunterrichts ein Bewusstsein für Dynamiken autoritärer Politik wecken. Die Evangelische Jugend Hamburg schlug etwa internationale Begegnungen von Jugendlichen »als Form der Einübung praktischer Toleranz [sowie] Veranstaltungen zu konkreten politischen Anlässen (Fußball-WM in Argentinien, Wandzeitungen über Kriegsspielzeug und Punkrock, Fragebogen zur Erfassung des ›Wissensstandes‹ der örtlichen Jugendlichen u. a.)« vor. Daneben sahen die Verbandsvertreterinnen auch »Ausstellungen, Arbeit in Gemeindetag oder Gemeindeabend, Verfassen von Stellungnahmen, Eingaben und Leserbriefen« als geeignete Mittel an, um rechtsextremistischen Anwerbeversuchen wirksam zu begegnen. Eine wichtige Rolle spielte die Aufarbeitung des Nationalsozialismus vor Ort. Viele Projektarbeiten nahmen den Aufstieg der NS-Bewegung, Judenverfolgung und Vernichtungspolitik als Lernobjekte in den Blick und sahen Besuche in Gedenkstätten und das Gespräch mit Zeitzeugen nationalsozialistischen Unrechts vor. Die Aufklärung über den historischen Nationalsozia Peter Dudek/Hans-Gerd Jaschke: Eine »neue« rechtsradikale Jugendpresse stößt auf unerwartete Schülerresonanzen, in: Westermanns Pädagogische Beiträge , Mai ; Dudek/Jaschke (); Hans-Joachim Adomatis: NS-Renaissance. Alte Sprüche junger Schüler, in: betrifft: Erziehung , Juni .  Peter E. Kalb: »Holocaust« im Hauptschulunterricht, »Aber das mit den Juden hätte wirklich nicht sein müssen«, in: betrifft: Erziehung , April ; Jugendarbeit und Neonazismus: »Hilfloser Antifaschismus«, in: betrifft Erziehung , .  Rechtsextremismus unter Jugendlichen. Möglichkeiten antifaschistischer Jugendarbeit, hrsg. von der Ev. Jugendakademie Radevormwald, Januar  (zit. nach: Jugendarbeit und Neonazismus: »Hilfloser Antifaschismus«, in: betrifft: Erziehung , ).  Vgl. Siegfried Däschler: Projektwoche. Begegnung mit dem Judentum, in: betrifft: Erziehung , April .

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lismus erschien als notwendige Grundlage, um ein neues, demokratisches Gemeinwesen vor Ort entwickeln zu können. In dem Bemühen, Jugendliche zu politischen Akteuren ihrer eigenen Lebenswelten zu machen, lassen sich viele Berührungspunkte zur Pädagogik der Friedensbewegung erkennen, die ein sehr ähnliches Programm der Bewusstseinsbildung und Aktivierung verfolgte. »Antifaschistische Jugendarbeit« als lebensweltliche Mobilisierung stand jedoch schon bald in der Kritik: Es handle sich um einen zwar gut gemeinten, aber »naiven« oder »hilflosen« Antifaschismus. Eine neue Kohorte von Jugendforschern, die eine dritte Deutung des jugendlichen Rechtsextremismus entwarfen, kam zu dem Schluss, dass diesem »nicht mehr mit Projektunterricht und Stadtrundfahrten zu ehemaligen Nazi-Quartieren beizukommen [sei]. Einer der geheiligten Mythen des Antifaschismus, je mehr ein Jugendlicher über Auschwitz wisse, desto resistenter sei er gegen den Rechtsextremismus, stimmt schon lange nicht mehr«. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der mehr als jeder andere die Debatten über jugendlichen Rechtsextremismus seit den späten er Jahren prägte, äußerte sich wiederholt kritisch zu Schulen, die »antifaschistische Wochen« veranstalteten, und zu Jugendhäusern, die sich zu »nazifreien Zonen« erklärten. Eine Beschränkung auf politische Bewusstseinsbildung führe in die Irre, da diese die Bedingungen des desolaten und bindungslosen Aufwachsens als eigentliche Ursachen rechtsextremistischer Einstellungen ausblendeten. Äußerungen und Handlungen rechtsextremer Jugendlicher seien nicht als Ausdruck politischer Einstellungen, sondern als »Kommentierungen ihrer Lebenssituation« zu verstehen: »Ausgangspunkt einer Jugendarbeit mit rechtsorientierten und rechtsextremistischen Jugendlichen ist […] das Grundverständnis, daß die Orientierungsmuster dieser Jugendlichen Produkte ökonomisch-sozialer Alltagserfahrungen sind, in denen sich in wachsendem und immer vielfältigerem Maße Verunsicherungen und Instabilitäten zeigen.« Erkennbar von Ulrich Becks Konzept der »Risikogesellschaft« beeinflusst, argumentierten die einflussreichen Jugendexperten um Heitmeyer und seinen Bielefelder Kollegen Klaus Hurrelmann, dass Demokratiebildung    

Schregel (), S. -. »Das Böse in den Genen«, in: Der Spiegel, ... »Angst kann man nicht wegdemonstrieren«, in: Der Spiegel, ... Heim u. a. (), S. ; in zugespitzter Form: »Die Gesellschaft löst sich auf«, in: Die Zeit, ...: »Das zentrale Problem sind soziale, berufliche und politische Auflösungsprozesse, die […] den Kern der Gesellschaft erfaßt« haben.  Wie Anm. .

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an den Tiefenschichten der jugendlichen Persönlichkeit ansetzen und vor allem lebensweltliche Unsicherheiten in den Blick nehmen müsse: »Angst ist ohnehin das zentrale Motiv für Rechtsextremismus.« Neonazismus wird in dieser einflussreichen Deutung somit weitgehend entpolitisiert. Politisch gut gemeinte Bildungsmaßnahmen erschienen in dieser Perspektive sogar als falsch, da sie »gefährdete« Jugendliche als Rechtsextreme abstempelten und damit weiter in Angst und Opposition trieben. Demgegenüber sollten pädagogische Maßnahmen kommunikative Angebote umfassen, die Ich-schwache und deshalb »gefährdete« Jugendliche in ihrer Persönlichkeit stärkten und ihnen zugleich Perspektiven einer (Re-)Integration in die Schul- und Jugendgemeinschaft aufzeigten. Ihre Stigmatisierung als »Neonazis« musste um jeden Preis vermieden werden. Stattdessen sollten wertschätzende Projekte Jugendlichen Zukunftsangst nehmen und ihre Bereitschaft fördern, soziale Bindungen auch jenseits ihrer Cliquen aufzubauen. Die Genese dieses Modells akzeptierender Jugendarbeit kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden, doch deutet vieles darauf hin, dass es an Ansätze der Jugendarbeit anschloss, die sich im Umkreis von Heimkritik und kritischer Sozialarbeit seit den er Jahren herausgebildet hatten. Zwei Beispiele unterstreichen die erhebliche praktische Wirkmacht dieses Ansatzes nach . Die sächsische Landesregierung unter Kurt Biedenkopf und seinem Innenminister Heinz Eggert beschloss im Frühsommer  angesichts der Eskalation fremdenfeindlicher Übergriffe eine »Konzeption zur Eindämmung und Zurückdrängung des Rechtsextremismus sowie der Gewaltbereitschaft«, welche sich konzeptionell sehr weitgehend an die Überlegungen Heitmeyers anlehnte. Der Aktionsplan sah nicht zuletzt die Einrichtung regionaler »Runder Tische der Jugend« vor, die, von Landtagspräsident Erich Iltgen moderiert, rechtsgerichteten Jugendlichen die Möglichkeit geben sollten, in einem vertraulichen Rahmen mit Vertreterinnen und Vertretern von Kommunalverwaltung, Kirchen und Polizei ihre Sorgen und Ängste zu diskutieren. Tatsächlich fanden mehr als ein Dutzend solcher Gesprächsrunden statt, auf deren Agenda bezeichnenderweise nicht Fragen rechtsextremer

 »Die haben richtig Angst«. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann über den Umgang mit Randalierern und Rechtsextremisten, in: Der Spiegel, ...  Steinacker (), S. -.

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Weltanschauung, sondern allgemeine Themen wie »Die Familie und ihr Gewaltpotential« standen. Die »akzeptierende Jugendarbeit« prägte auch die praktische Jugendarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen auf kommunaler Ebene. Ihr ging es wesentlich darum, Räume zu schaffen, die einen vertrauensvollen, »akzeptierenden« Austausch zwischen Sozialarbeitern und Jugendlichen ermöglichten. Oberstes Ziel war es, den Kontakt zu rechtsextremen Jugendlichen unter keinen Umständen abbrechen zu lassen. Dazu sei unter anderem jegliche Rhetorik zu vermeiden, die »Gegnerschaften und Feindschaften« impliziert und »nicht auf Förderung von Lern- und Entwicklungsprozessen angelegt« ist. Nicht zuletzt angesichts der NSUMordserie erscheint dieser Ansatz in der Retrospektive als problematisch und politisch naiv. Das NSU-Trio verbrachte einen Großteil seiner Freizeit in den frühen er Jahren in einem städtischen Jugendclub in JenaWinzerla, der dem Ansatz akzeptierender Jugendarbeit folgte. Zugleich irritiert die alleinige pädagogische Konzentration auf rechtsextreme Tätergruppen, während deren Opfer, von denen viele Zuwandererfamilien entstammten, weder in den medialen noch in den Fachdebatten größere Beachtung erfuhren. Doch in den frühen er Jahren erschien der Ansatz vielen Jugend- und Sozialarbeiterinnen als beste Möglichkeit, ohne den Einsatz polizeilicher Repressionen Jugendliche mit ihren Sorgen und Problemen ernst zu nehmen und sie über Gespräche in die bundesdeutsche Demokratie einzubinden.

Ausweitung und neue Aporien: Die er Jahre Die rechtsextreme Gewaltexplosion der frühen er Jahre verlieh der Debatte über jugendlichen Rechtsextremismus neue Dringlichkeit, ohne dass sich jedoch ein Konsens über Ursachen und geeignete Gegenmaßnahmen herausbildete. Die Debatte in den Massenmedien und Fachzeitschriften zeichnete sich vielmehr durch eine schillernde Vielfalt an  Siehe »Das Böse in den Genen«, in: Der Spiegel, ..; Sabine Etzold: Gewalt an den Schulen. Hilflose Ratgeber für hilflose Lehrer, in: Die Zeit, ...  Heim u. a. (), S. .  Siehe auch Lina Engel: Zum Umgang mit Neonazismus in der Jugendarbeit – Der NSU im Jugendclub Winzerla, Bachelorarbeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, ; zum Kontext Frei/Maubach/Morina/Tändler (), S. -.

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Beobachtungen aus. Obwohl diese oft gegensätzliche Analysen und Forderungen enthielten, drängten sie jedoch zusammengenommen auf eine Ausweitung der pädagogischen Maßnahmen. Der Schock über das Ausmaß fremdenfeindlicher Übergriffe machte für eine große Mehrheit an Bildungspolitikern und Pädagogen eine Intensivierung von Demokratiebildung an den Schulen und eine Weiterentwicklung der Ansätze der Bielefelder Jugendforscher erforderlich. Präventionsarbeit sollte ihrer Meinung nach nicht länger nur auf Gruppen »gefährdeter« Jugendlicher blicken, sondern an basalen Kommunikationsbeziehungen in den Schulen und Familien ansetzen. In der öffentlichen Meinung setzte sich zu Beginn der er Jahre die Auffassung durch, dass innere Schulreformen notwendig seien, um Rechtsextremismus wirkungsvoll zu bekämpfen. Sabine Etzold argumentierte etwa in der Zeit, »daß die Beschränkung der Aufmerksamkeit auf rechtsradikale ausländerfeindliche Bandengewalt viel zu kurz greift […]. Schulen [sind] nicht nur Angriffsziel und Abwehrinstanz, sondern zum Teil auch Urheber der Gewaltbereitschaft« und müssten deshalb in ihrer inneren Struktur reformiert und demokratisiert werden. Der Erziehungswissenschaftler Hurrelmann forderte im Spiegel ganz ähnlich eine »radikale Reform der Schule«, da in dieser »Streß und Langeweile die Schüler krank und aggressiv« – und damit anfällig für Rechtsextremismus – machten. Ebenfalls im Spiegel argumentierten die Mainzer Erziehungswissenschaftler Fritz Marz und Hans Maurer ausführlich, dass sich Rechtsextremismus und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen nur dann abbauen ließen, wenn die Schüler ein »neues positives Erleben der eigenen Person« erführen. Ideen einer Schul- und Unterrichtsreform zirkulierten, in deren Mittelpunkt »angstfreie« Kommunikation und Persönlichkeitsstärkung standen; Ressentiments und Vorurteile in der zwischenmenschlichen Kommunikation sollten abgebaut werden.  Selbst in demselben Text konnten gegensätzliche Erklärungsansätze und Forderungen unverbunden nebeneinanderstehen: »Null in der Masse«, in: Der Spiegel, ... Die Autoren des Artikels machen gleichzeitig eine unpolitische Konsumorientierung der Jugend, unverbindliche »Achtundsechziger«-Eltern als auch ein Nachgeben der Bundesregierung gegenüber asylpolitischen Forderungen rechtspopulistischer Kreise für das Erstarken rechtsextremer Strömungen unter Jugendlichen verantwortlich.  Sabine Etzold: Gewalt an den Schulen. Hilflose Ratgeber für hilflose Lehrer, in: Die Zeit, ...  »Reale Schwäche: Pädagogen versuchen mit neuen Methoden Fremdenhaß und Gewaltbereitschaft an den Schulen zu bekämpfen«, in: Der Spiegel, ...

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Die frühen er Jahre waren tatsächlich durch eine kaum zu überschauende Vielzahl an neuen schul- und unterrichtsreformerischen Maßnahmen gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit gekennzeichnet, die von Projektwochen und Thementagen bis hin zu Fortbildungsveranstaltungen und neuen Unterrichtsmaterialien reichten. Viele Ideen stammten aus den er Jahren, erhielten nun aber erstmals breite staatliche Förderung und stießen auf das Interesse vieler Lehrerinnen und Lehrer. Sie schlossen an ältere reformpädagogische Konzepte einer demokratischen Schule an, gaben ihnen jedoch eine neue Wendung. Drei Entwicklungen stechen besonders heraus. Erstens brach sich ein erweitertes Verständnis von Gewalt in der Schulpraxis Bahn, das nicht mehr nur körperliche Verletzungen durch Erziehungspersonen oder »auffällige« Schüler umfasste, sondern auch »strukturelle« psychische Gewaltverhältnisse und Gewaltbeziehungen wie Mobbing ernst nahm. An diese Diagnose schlossen Maßnahmen an, die auf Konfliktmanagement, AntiGewalttraining und soziales Lernen in der Gruppe zielten: »Der Auf bau von Ich-Identität und die Stärkung von Selbstwertgefühlen wird zu einer noch wichtigeren Aufgabe von Schule als je zuvor.« Zweitens rückten nach  verstärkt Geschlechterunterschiede und -diskriminierungen in den Fokus. Pädagoginnen und Pädagogen deuteten Rechtsextremismus nun als spezifische Ausdrucksform männlicher Jugendlicher im Angesicht von Frauenemanzipation und männlicher Rollenunsicherheit. Pädagogisches Handeln zielte vor diesem Hintergrund nicht nur auf eine Stärkung der Schülerinnen, sondern versuchte zugleich neue Konzepte emanzipierter Männlichkeit zu popularisieren. Drittens setzte man dem Rechtsextremismus zunehmend multikulturelles Lernen im Klassenzimmer entgegen: »Schule muss sich als multikulturelle Gesellschaft im kleinen verstehen. Sie respektiert alle kulturellen und religiösen Ausdrucksformen.« Auch von den Eltern wurde nun erwartet, wie die Sprecherin der Familienverbände in Nordrhein-Westfalen, Carola Schewe, hervorhob, »die Erziehungsziele Gewaltfreiheit, Gleichberechtigung und Toleranz« vorzuleben.  Steffens (), S. -.  Wahl (), S. ; Kaiser (), S. -.  Steffens (), S. -; Wolfgang Schweizer (): Rez. zu Schubarth, W./Melzer, W. (Hrsg.) (): Schule, Gewalt und Rechtsextremismus. Leverkusen , in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie , S. .  Hanne Pawlowski: Landespressekonferenz der GEW in Düsseldorf. Gewalt in der Schule, in: NDS  (H. /), .., S.  f.

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Welche Dynamik dieser Bewegung innewohnte, zeigt die Initiative »Schule gegen Rassismus«, die aus Belgien und den Niederlanden kommend seit  auch in Deutschland öffentlichkeitswirksam Schulen auszeichnete, die sich auf ein Reformprogramm im Zeichen von Zivilität und Toleranz verpflichteten. Die fraglichen Schulen sollten »Rassismus als fächerübergreifende Querschnittsaufgabe« verstehen, die es in »Projektarbeit, Aktionen, Begegnungen, Festen und kreativen Veranstaltungsformen« aufzugreifen galt. Bis Ende der er Jahre wurden bundesweit  Schulen ausgezeichnet; heute tragen  Schulen den Titel »Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage«. Die hier nur grob skizzierte Bewegung, die Schule und Unterricht auf eine neue Weise demokratisch gestalten wollte, veränderte die Bildungseinrichtungen langfristig, rückte allerdings mit dem Rückgang offen fremdenfeindlicher Übergriffe nach  sowie dem »PISA-Schock« um die Jahrtausendwende aus dem Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die mit ihr verbundenen neuen Ansprüche an Bildung und Erziehung riefen zugleich aber auch Kritik in Schule und Bildungspolitik hervor, die vor einer Überlastung von Lehrkörper und Schule mit immer neuen, sachfremden Gegenständen warnten. Schule geriet so, wie ein aufmerksamer Zeitgenosse schrieb, »in den Widerspruch, sich gegen die Überfrachtung mit Ansprüchen wehren zu müssen, und sich doch mit den Problemen [von Gewalt und Rassismus] auseinandersetzen zu müssen«. Rechtsextremismus mit pädagogischen Mitteln zu bekämpfen – das stellte sich vielen Zeitgenossen als eine ebenso anspruchsvolle wie zeitraubende Aufgabe dar, deren Inhalte zudem viele Lehrer und Eltern skeptisch beäugten. Dies trug dazu bei, dass Teile der Lehrer- und Elternschaft vor einer gesellschaftsreformerischen Überforderung der Schule warnten und eine Rückbesinnung auf die vermeintliche Kernaufgaben der Wissensvermittlung und Ausbildung forderten.

 Projekt: Schule ohne Rassismus, in: NDS  (H. /), S. ; Auskünfte des Trägervereins Aktion Courage e. V.: www.schule-ohne-rassismus.org/courageschulen/alle-courage-schulen (..).  Ulrich Hecker: »Linke Lehrer – Rechte Schüler?«, in: NDS  (H. /), .., S. .  Als Beispiel für eine Fundamentalkritik an der »neuen Schule« vgl. Hensel ().

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Fazit Rechtsextremismus unter Jugendlichen wurde erst am Ende der er Jahre zu einem Thema von Schule und Jugendarbeit, gewann aber bald eine ungeahnte Bedeutung als Katalysator neuer Leitbilder demokratischer Persönlichkeitsbilder und innerer Schulreform. In der Rückschau fallen Defizite der Neuansätze deutlich ins Auge: In der Fokussierung auf eine allgemeine Krise des Aufwachsens geriet Rechtsextremismus als politisches Phänomen weitgehend aus dem Blick, und das populäre Bild des »gefährdeten« Jugendlichen als Ich-schwache, verängstigte und sozial atomisierte Persönlichkeit führte zu einer systematischen Unterschätzung der politischen Mobilisierungsfähigkeit und sozialräumlichen Prägekraft rechtsextremistischer Jugendgruppen. Gerade die akzeptierende Jugendarbeit muss sich den Vorwurf gefallen lassen, rechtsextremen Gruppen einen Ort der Vergemeinschaftung gegeben und damit zu ihrer Verfestigung beigetragen zu haben. Auch die einseitige Beschäftigung mit den Tätern fällt auf, während die Opfer fremdenfeindlicher Gewalt pädagogisch kaum je Beachtung fanden. Zugleich wird damit deutlich, dass »Achtundsechzig« nicht den Endpunkt, sondern lediglich eine Wegmarke einer Demokratiegeschichte von Aufwachsen und Erziehung darstellt. Insbesondere die frühen er Jahre treten als eine weitere wichtige Epoche demokratischer Umformungen hervor. In dieser langfristigen Perspektive stoßen zugleich prozessgeschichtliche Deutungsmuster einer Liberalisierung oder Demokratisierung von Schule und Jugendarbeit an ihre Grenzen, da sie die Entwicklungen nach »Achtundsechzig« nicht mehr angemessen erfassen können. In der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus wird Demokratie vielmehr als ein Dauerproblem und permanenter Streitpunkt von Bildung und Gesellschaft erkennbar. Die jüngste Zeitgeschichte erscheint dabei durch ein Wechselspiel von wachsenden Ansprüchen und demokratischem Reformelan einerseits sowie Zumutungserfahrungen und Rückzugsbewegungen andererseits gekennzeichnet.

 Vgl. Salzborn (), S. .

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»Hochkonjunktur für Scheinheilige« Der Skandal um die »Hitler-Tagebücher« und der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den er Jahren D S

Die Bombe platzte kurz nach dem Mittagessen. Auf dem »Affenfelsen«, so nannten die Redakteure des Stern ihr Gebäude, herrschte seit Tagen kollektiver Wahnzustand. Auf der Redaktionskonferenz, die traditionell um  Uhr begann, hatte es bereits ordentlich gekracht. Es war der . Mai , und auf der Tagesordnung stand wie jeden Donnerstag die Blattkritik. Dieses Mal jedoch war es ein außergewöhnliches Treffen, ging es doch um den zweiten Teil eines spektakulären Fundes: die Präsentation der Hitler-Tagebücher. Die Reporter diskutierten die Aufmachung des Blattes: eine Geschichte über den sagenumwobenen Flug von Rudolf Heß nach London, hübsche Bilder Adolf Hitlers, zudem die lächelnden Visagen von Joseph Goebbels und Hermann Göring. War das die angemessene Art, die Geschichte des Nationalsozialismus darzustellen? Musste die Geschichte des Dritten Reiches tatsächlich, wie die Verlagsführung vollmundig verkündet hatte, umgeschrieben werden? Redakteure erhoben lautstarke Zweifel. Doch Chefredakteur Felix Schmidt wollte die Bedenken nicht hören. »Ich bin nie sicherer gewesen«, entgegnete er den Kollegen, und wer an der Zuverlässigkeit der Redaktion »Zeitgeschichte« zweifle, der befinde sich beim »falschen Blatt«. Und dann, um . Uhr, meldeten die Nachrichtenagenturen: Die »Hitler-Tagebücher« sind gefälscht! Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) persönlich hatte das Ergebnis einer umfassenden Prüfung durch das Bundeskriminalamt vorgetragen und war in Bonn vor die Presse getreten: Die physikalisch-chemische, drucktechnische und textilkundliche Prüfung war eindeutig. Der Stern stand da, blamiert bis auf die Knochen – und mit ihm der Verlag Gruner & Jahr, die Bertelsmann-Führung und all jene Experten, die dem »Scoop« ihren Segen gegeben hatten. »Hochkonjunktur für Scheinheilige«, überschrieb Henri  Bissinger (), S. .  Henri Nannen: Hochkonjunktur für Scheinheilige. Oder: Die Kritik der reinen Unvernunft, in: Stern, ...

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Nannen seine Kolumne, in der der Stern die Fälschung einräumte, und meinte dabei weniger sich selbst als all die anderen, die von Beginn an skeptisch gewesen waren. Die Geschichte der »Hitler-Tagebücher« ist eine Geschichte aus dem Tollhaus der alten Bundesrepublik, eine Geschichte klebriger Männerfreundschaften, brauner Fantasien, mangelhafter journalistischer Ethik und der Suche nach dem ganz großen Coup; eine Geschichte über Geld und den Marktwert des Horrors, eine Suche nach dem »privaten« Gesicht des Dritten Reiches und einer »wirklichen« Erklärung für all die ungelösten Fragen, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus verbanden. Natürlich könnte man die Geschichte der »Hitler-Tagebücher« vor allem als gelungene Köpenickiade Konrad Kujaus erzählen, dessen »Opfer« der Journalist Gerd Heidemann geworden war, und den dann schließlich sein Verlag zu opfern bereit war, um alle verlegerische Schuld von sich zu weisen. Diese Geschichte allein wäre es wert, erzählt zu werden. Oder waren es am Ende ein aus den Fugen geratener Journalismus und eine eigentümliche Faszination für die »alten Kämpfer« des Dritten Reiches, die alle Sicherheitswarnungen ausblendeten? In Schtonk () hat diese Geschichte journalistischer Distanzlosigkeit und unbekümmerter NS-Nostalgie ihre ultimativ komödiantische Fassung erhalten. Doch je mehr man auf die grotesken Seiten dieser Geschichte blickt, desto eher geraten die grundsätzlichen Fragen aus dem Blick, die sich aus der Veröffentlichung der »Hitler-Tagebücher« für die politische Kultur der Bundesrepublik und ihren Umgang mit dem Nationalsozialismus in den er Jahren ergeben. Erstens verweist die Suche nach den »Hintermännern« der Fälschung auf das hitzige Klima des »zweiten Kalten Krieges«: Die Frage, ob hinter dem Fälscher Konrad Kujau nicht viel mehr steckte, gar am Ende einer der östlichen Geheimdienste, gehörte schon unmittelbar nach der Veröffentlichung zu den vielfach kolportierten Erklärungsversuchen. War es am Ende die Stasi oder der KGB, die hier ihre Finger im Spiel hatten, um die westlichen Demokratien und ihre Presselandschaft zu diskreditieren? Die »Hitler-Tagebücher« als Teil östlicher Desinformationspolitik? Das mochten manche glauben, egal wie stichhaltig die Beweise waren. Zweitens verweist die Auseinandersetzung um »Wahrheit« und »Authentizität« der »Hitler-Tagebücher« auf die noch keineswegs fest etablierte Rolle der Zeitgeschichte als Teil öffentlicher Sinngebung und auf ihre Position im erinnerungskulturellen  In diese Richtung: Koch (), bes. S. .  So vor allem Kuby (); Bissinger ().

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Raum der »reifen« Bundesrepublik. Denn wie in kaum einem Konflikt zuvor pochten Historiker auf ihre öffentliche Deutungs- und Sinngebungskompetenz und damit auch auf den Anspruch einer spezifischen zeithistorischen Autorität gegenüber den Journalisten. Ein Gutteil der Konfliktdynamik rührte gerade aus dieser Konkurrenz. Drittens berührte der Streit um die Veröffentlichung die umkämpften und widersprüchlichen Aneignungsversuche der NS-Vergangenheit in den er Jahren in Deutschland, aber auch in Großbritannien und den USA, und damit auch das Verhältnis von Demokratisierung und Öffentlichkeit.

Vorgeschichte Einige wenige Worte zu den weithin bekannten Hauptdarstellern dieses geschichtspolitischen Dramas sollen an dieser Stelle genügen: Konrad Kujau,  in Löbau geboren, hatte nach seinem Abitur in Dresden an der Kunstakademie studiert und war dann in den Westen geflohen, wo er sein Studium in Stuttgart fortsetzte, allerdings nie abschloss. Schon früh geriet er ins Visier der Polizei, mal ging es um einen Einbruch, mal um den Streit mit einem Gastwirt. Kujau entzog sich der Fahndung, tauchte unter und übernahm unter dem Pseudonym »Konrad Fischer« erst eine Gaststätte, die bald wieder pleiteging, dann eine Gebäudereinigung. All seine Unternehmungen blieben ziemlich erfolglos. Seit den er Jahren pflegte Kujau Kontakte in das Milieu alter Militaria-Sammler und NS-Apologeten – ein Geschäftsbereich, der florierte und in dem er sich bald selbst betätigte, unterstützt durch seine Verwandten in der DDR. Erst in diesem Metier verbesserte sich seine wirtschaftliche Situation. Dabei gehörte der »kreative Umgang« mit NS-Devotionalien schon bald zu Kujaus Geschäftsmodell. Er fälschte Autogramme von NS-Größen, Urkunden und andere Dokumente und merkte früh, wie leicht ihm die Unterschrift Hitlers von der Hand ging. Er selbst formulierte das nachträglich so: »Wenn mir ein Stück gelungen war, dann habe ich das meistens eingerahmt und an die Wand gehängt. Die haben mir die Dinger nur so von der Wand abgehängt. Die sind ausgeflippt. Auch der Heidemann. Der hat die gleich samt Rahmen mitgenommen.«  Ausführlich dazu Eder ().  Angaben nach Bissinger (), S. -.  Zit. nach ebd., S. .

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»Der« Heidemann, von dem Kujau sprach, war der zweite Protagonist: jener Stern-Reporter, den seine Kollegen vielfach nur »die Spürnase« nannten. Gerd Heidemann war nicht irgendein Journalist beim Stern. Seit beinahe  Jahren gehörte er der Redaktion an und war nach Meinung seiner Kollegen ein zuverlässiger Rechercheur und hervorragender Fotograf, der für seine Reportage aus dem Kongo  den »World Press Photo Award« erhalten hatte. Heidemann, Jahrgang , arbeitete immer wieder an Geschichten über alte Nationalsozialisten – ein Thema, für das er offensichtlich brannte und das ihn sogar mit ehemaligen SSGenerälen auf Reisen Richtung Südamerika auf brechen ließ, um über dorthin geflohene NS-Funktionäre zu berichten. Alt-Nazis, Fluchtwege, Briefe des »Führers«, Devotionalien, Orden, Ölgemälde, Seilschaften – und mittendrin ein Reporter des Stern, der die nötige Distanz zum Objekt seiner Geschichten vermissen ließ. Dass Heidemann über andere zwielichtige Gestalten in Verbindung mit Kujau kam, passt in dieses Bild. Fritz Stiefel war so einer, ein Fabrikant, der zu Kujaus erstem Großkunden wurde und ihm in den Jahren vor dem Skandal vermeintliche Briefe von NS-Größen und eine Kassette mit  handgeschriebenen Seiten der angeblichen »Urschrift« von Hitlers Mein Kampf abkaufte. Schon  hatte Kujau dem Fabrikanten von einem Hitler-Tagebuch berichtet und dabei konkret von einem Halbband aus dem Jahr  gesprochen. Einige seiner Dokumente, darunter ein angebliches Gedicht des »Führers«, fanden auch Eingang in eine Dokumentation, die Eberhard Jäckel und Axel Kuhn herausbrachten und deren fragwürdige Herkunft bald nach der Veröffentlichung zum Gegenstand öffentlicher Kritik wurde. Auch die beiden Stuttgarter Historiker mussten bald erkennen, dass sie Fälschungen aufgesessen waren. Im Stern hätte man spätestens an diesem Punkt hellhörig werden müssen. Ursprünglich war wohl geplant, dass Heidemann die Geschichte selbst vermarkten sollte, und es brauchte etliche Gespräche mit Thomas Walde, dem Leiter des Ressorts Zeitgeschichte beim Stern, bis die beiden sich auf einen auch für sie profitablen finanziellen Modus einigten, mit dem sie der geheimnisvollen Spur nachzugehen beabsichtigten: Rund , Millionen Mark stellte Gruner & Jahr für das Projekt »Hitler-Tagebücher« bereit. Der Legende zufolge stammten die Tagebücher aus einem Flugzeug, das Berlin kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee mit der wertvollen  Jäckel/Kuhn (), S. ; Jäckel/Kuhn ().  Jäckel/Kuhn (), S.  f.

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Fracht verlassen hatte, dann aber über einem Ort namens Börnersdorf abgeschossen worden und in einem Acker gelandet war. Weil sich die Kontaktaufnahme zu Kujau alias Fischer zunächst schwierig gestaltete, begannen Heidemann und Walde, im Osten Deutschlands zu recherchieren, begleitet von der Staatssicherheit und allerlei Geheimniskrämerei. Denn dass die beiden diese Geschichte überhaupt weiterverfolgten, wussten beim Stern nur die Chefs in der Führungsetage des Verlags, nicht aber die Redaktion, in der es in den er und er Jahren eine Fülle kritischer Geister gab. Heidemann machte sich also, gedeckt von ganz oben, auf die Suche. Das erste Treffen mit Kujau fand schließlich am . Januar  statt, mehr als drei Jahre vor der Veröffentlichung der vermeintlichen Tagebücher. Nun floss Geld, mitgetragen von der Bertelsmann-Führung, die auch nicht darauf bestand, das eintrudelnde Material einer systematischen Prüfung zu unterziehen. Man begnügte sich bei Expertenbefragungen mit Auszügen, sodass am Ende auch das Vergleichsmaterial der Tagebücher aus der Hand Kujaus stammte und es letztlich diese Textbausteine und einzelne Dokumente waren, die die wenigen Experten lediglich für ein paar Stunden und dann in einer diskreten Schweizer Bankfiliale einsehen durften. Bedenken waren mit grober Hand beiseite geschoben worden. Und so kam es schließlich, dass der Stern zu jener legendären Pressekonferenz am . April  lud, auf der die Tagebücher unter riesigem internationalen Pressewirbel vorgestellt wurden.

Die »Hitler-Welle« und der Umgang des Stern mit dem Nationalsozialismus Dass diese Veröffentlichung einen solchen Rummel auslöste, mag zunächst nicht erstaunen. Aber der zeithistorische Kontext und auch der Moment, in dem Kujau und Heidemann ihre Aktivitäten mit Gegenständen und Geschichten aus dem braunen Sumpf begannen, waren nicht zufällig. Vielmehr handelte es sich um einen Moment radikalster Zuspitzung eines erinnerungskulturellen Booms, der seit Beginn der er Jahre zu beobachten war und für den sich bereits zeitgenössisch der Begriff der »Hitler-Welle« etabliert hatte – ein Begriff, dessen analytischer Mehrwert mehr als dürftig ist. Gemeint war damit eine  Dazu auch die Arbeit von Gaumer ().  Aus zeitgenössischer Perspektive Jäckel (), S. -.

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kaum zu überblickende Vielzahl sehr unterschiedlicher historiografischer, populärkultureller und biografischer Annäherungsversuche an die Person »Adolf Hitler« und den Nationalsozialismus, die sich einfügten in eine – viel weiter gehende – Welle der »Nostalgie«, wie Tobias Becker sie genannt und beschrieben hat. Dazu zählten Bücher ehemals aktiver Nationalsozialisten, Arbeiten von Hobbyhistorikern oder auch illustrierte Darstellungen wie das Magazin Das Dritte Reich aus dem Hamburger Jahr-Verlag, das in hoher Auflage erschien und an allen Kiosken zu erwerben war. Solche populärkulturellen Versuche, die Geschichte des Nationalsozialismus »neu« zu erzählen, gründeten auf unterschiedlichen Motiven. Die neuen Hitler-Darstellungen griffen insbesondere die Frage nach der »Größe« Hitlers auf. Sie versprachen ein vermeintlich »nüchternes« und »objektives« Bild des »dämonisierten« Führers und warben mit dem Einblick in dessen intimes Seelenleben. Das war auch der Anspruch der ebenso auflagenstarken wie umstrittenen Arbeiten Werner Masers, der in München an der Hochschule für Politik lehrte und in seinen HitlerStudien gerne auch einmal den »Führer« mit Napoleon verglich. Hitler sei, so seine These, im Vergleich zum französischen Eroberer »in sexueller Hinsicht sehr beherrscht« und ein Mann voller Fantasie, »schöpferisch, belesen und für viele geistige Fragen aufgeschlossen ohne allerdings bereit zu sein, eigene Vorstellungen zu korrigieren oder gar aufzugeben«. Solche »Erkenntnisse«, auf fünf Seiten in Tabellenform entworfen, zielten eben keineswegs nur auf »militärische« Leistungen, sondern auch auf Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, auf Hitlers Sexualität und seine Psyche. Wie oft also der »Führer« geweint habe, ja, wie »menschlich« er gewesen sei, das war das, worum es vielen dieser Publikationen ging, die seit den er Jahren ein wachsendes Publikum erreichten und deren ästhetische Wirkungen Saul Friedländer schon damals in einer klugen Analyse als »Nazi-Kitsch« heftig kritisierte. Zu diesen problematischen Versuchen, Hitler vor seinen eigenen Gefolgsleuten zu schützen, gehörte auch David Irvings  erschienenes Buch über Hitler’s War,  Becker (), bes. S.  f.  Stellrecht (). Im weiteren Sinne lassen sich auch Albert Speers Memoiren darunter fassen.  Maser (), S. -.  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Friedländer ().  Friedländer (), S.  f.

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in dem er versuchte, Hitler von der Verantwortung für den Mord an den europäischen Juden reinzuwaschen und die Schuld alleine bei den Generalen abzuladen. Von anderer Qualität, wenngleich bereits schon zeitgenössisch als teilweise »apologetisch« kritisiert und als Wegbereiter der Hitler-Welle wahrgenommen, waren die bereits  erschienene Hitler-Biografie Joachim Fests und der wenige Jahre später nicht minder problematische, weil ganz auf die angebliche »Verführung« setzende Film zum Buch über Hitler und die Deutschen. Der Verweis auf die vermeintliche Objektivität einer Geschichte der Persönlichkeit Hitlers war zugleich gekoppelt an die Frage, die ihre Bedeutung unmittelbar aus den geschichtspolitischen Debatten der Zeit bezog: Waren die Deutschen nun endlich so weit, als »mündige Bürger« der Verführungskraft Hitlers und der Faszination des propagandistischen Wirbels standzuhalten? Wie »reif« war also die junge Bundesrepublik? Und: Führten, wie einige Kritiker meinten, diese neuen Hitler-Darstellungen nicht letztlich zu einer Fortsetzung all jener Klischees über die Massensuggestionskraft der Propaganda, der das Volk gleichsam habe unterliegen müssen, ohne eigene Interessen, ohne je wirklich Nationalsozialisten gewesen zu sein – ein Drittes Reich ohne Überzeugte? Insofern waren Hitler-Welle und der Streit um Hitlers vermeintliche Tagebücher Teil der Auseinandersetzung um den Reifegrad der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft und um die Frage, wie breit das demokratische Fundament der Bonner Republik vierzig Jahren nach Kriegsende war. Wie komplex und wenig eindeutig diese Phase der NS-Nachgeschichte war, in der neben manch apologetischen auch kritischere Stimmen zu hören waren, lässt sich auch an der Geschichte des Stern selbst erkennen. Dessen Geschichtsdarstellung spiegelt jedenfalls diese Ambivalenzen wider: Im Stern der späten er und er Jahre gab es Redakteure, die aus ihrer Sympathie gegenüber der Studentenbewegung keinen Hehl machten und deren Reportagen zur Ikonisierung des Studentenprotestes maßgeblich beigetragen haben dürften. Das Hamburger Magazin brachte kritische Geschichten über den Zustand der Republik, aber auch billigen Klatsch über Karl Marx, Recherchen über alte  Graml (), S. -.  Fest ().  Zur Auseinandersetzung um die TV-Serie Heimat von Edgar Reitz vgl. Confino (), S. -; Palfreyman ().  Bösch (), S. -; Siedler ().

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Nazis in Südamerika, die einerseits auf Enthüllung setzten, andererseits eine merkwürdige Nähe zu den Protagonisten nicht verhehlen konnten. Gerd Heidemann hatte  in Bolivien den geflohenen Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, interviewt und sich dann devot bei ihm für die hetzerische Sprache entschuldigt, die die Redaktion über seinen Text gelegt habe. Das war ihm auch deshalb so wichtig, weil er sich Barbies Unterstützung in eigener Sache sichern wollte. Er habe sich nämlich eine Reihe von Dokumenten und Gegenständen aus Hitlers Besitz sichern können, darunter auch die »Blutfahne«, auf der die Gefallenen von  aufgeführt seien und die noch im Originalkoffer mit Messingtafel läge. Wo nur, wollte Heidemann von Barbie wissen, könne diese »Reliquie in Sicherheit« und vor dem Zugriff staatlicher Stellen geschützt werden? Auch öffnete der Stern seine Fotoseiten für Goebbels’ Großfilmemacherin Leni Riefenstahl, die  eine bizarr exotisierende Reportage und Titelgeschichte über den sudanesischen Stamm der Nuba veröffentlichte und deren Körperästhetik in vielerlei Hinsicht an ihre Bilder aus den er Jahren erinnerte. Im selben Jahr hatte die Stern-Redaktion Albert Speer eine große Homestory gewidmet und ihn ganz ohne jede kritische Rückfrage seine Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Beziehung zu Hitler erzählen lassen. Und doch ist die Sache nicht ganz so einfach. Denn oftmals trennten solch kitschige, verharmlosende, bisweilen naiv-gefährliche Geschichten nur wenige Seiten von einer bemerkenswert kritischen, auch subtilen Berichterstattung. Der Stern war jedenfalls kein monolithischer Block. Es gab durchaus Reporter, die mit großer Schärfe gegen die Lügen und Ausflüchte jener kleineren und größeren NS-Eliten anschrieben, die sich allzu schnell angepasst und rasch wieder Karriere gemacht hatten.  veröffentlichte Heinrich Jaenecke eine besorgte Reportage über den neuen »Hitler-Kult« in der Bundesrepublik und neonazistische Umtriebe einer »neuen Rechten«. In scharfer Form geißelte der Stern auch die Verdrängungsstrategien des baden-württembergischen Ministerpräsi Zit. nach Bissinger (), S.  ff., hier S. .  Jörg Steinert/Leni Riefenstahl: Das Fest der Liebe und der Messer, in: Stern, ...  Peter Grubbe: Notizen aus der Spandauer Zelle, in: Stern, ...  »Herr Schultz und sein Schatten. In Hamburg sollte ein Richter Karriere machen, der im Dritten Reich Juden wegen ›Rassenschade‹ ins Zuchthaus schickte«, in: Stern, .. .  Heinrich Jaenecke: Wie tot ist Hitler?, in: Stern, ...

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denten Hans Filbinger und berichtete ausführlich über dessen Urteile als Marinerichter im Zweiten Weltkrieg. Jedenfalls lassen sich heftige Attacken gegenüber der bundesrepublikanischen Larmoyanz in Sachen NS-Vergangenheit, eindringliche Geschichten über Juden in Deutschland und ausführliche Recherchen über nationalsozialistische Verbrechen ebenso finden wie merkwürdig nostalgische Sinnerkundungen nach einem »menschelnden« Hitler. Das mag erklären, weshalb es einerseits an der Spitze und bei einigen Journalisten das Verlangen nach einer solchen »heißen« Story wie den Hitler-Tagebüchern gab, zugleich aber auch manche Vorbehalte, später dann auch Häme gegenüber jenen Kollegen, die sich von der »Hitler-Welle« hatten hinwegtragen lassen. Eine besondere Rolle beim Versuch der Authentifizierung der Tagebücher spielten die Historiker selbst. Denn natürlich war auch den SternLeuten klar, dass es ohne Expertensiegel nicht ging. Allerdings sprach aus Sicht der Eingeweihten der journalistische »Scoop« gegen eine transparente Prüfung; jedenfalls war die Befürchtung groß, etwas käme an die Öffentlichkeit, womit der Überraschungseffekt und die erhofften Millionen einfach weg gewesen wären. Bei den deutschen Hitler-Experten glaubte man von vornherein eine allzu große Skepsis zu erkennen, aber auch die Angst vor möglicher Deutungskonkurrenz spielte eine Rolle. Zunächst zogen die Stern-Verantwortlichen daher einen deutschen Kriminalwissenschaftler, dann einen amerikanischen Schriftexperten zu Rate, allerdings ohne ihnen das ganze Material vorzulegen oder gar die komplette Überlieferungsgeschichte mitzuteilen, die stets im deutsch-deutschen Nebel blieb. Schließlich, so hatte es Konrad Kujau Gerd Heidemann berichtet, stammten die Dokumente ja aus der DDR und aus den Händen eines führenden NVA-Generals, den es in Wirklichkeit freilich nicht gab. Beim Stern suchte man vor allem nach britischen und amerikanischen Hitler-Experten und fand sie in Gerhard L. Weinberg und Hugh Trevor-Roper. Beide hatten die Dokumente in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in einer Züricher Bank zu sehen bekommen, dazu einige der schriftlichen Gutachten über die angebliche Echtheit der Schriftproben. Eine echte Chance auf eine umfassende Prüfung ließen ihnen die geheimniskrämerischen Verlage nicht, gleichwohl stimmten beide Historiker trotz Bedenken dem Verfahren zu.

 Armin von Manikowsky/Jochen von Lang: Vergangenheitsbewältigung. »Ausgerechnet der nette Filbinger«, in: Stern, ...

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Trevor-Roper gehörte zu den prominentesten britischen Historikern. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er als Nachrichtenoffizier für den britischen Militärnachrichtendienst gearbeitet und in dessen Auftrag die Frage recherchiert, was mit Adolf Hitler am Ende des Krieges geschehen war – eine Recherche, die zu einem der ersten großen »Klassiker« der Geschichte des Zweiten Weltkriegs werden sollte und das Fundament seiner akademischen Karriere bildete. Trevor-Roper war ein Konservativer mit imperialer Haltung, dessen Bücher breite Aufmerksamkeit erhielten, aber nicht unumstritten waren. Mit ihm, das spielte für den Stern ebenfalls eine wichtige Rolle, sollte der so wichtige britische Absatzmarkt befriedigt werden. »Hitler sells« – besonders auch in Großbritannien, da war sich Rupert Murdoch sicher, der sich für die Sunday Times die Abdruckrechte gesichert hatte. Dort erschienen die übersetzten Tagebuchauszüge dann auch tatsächlich – bis die Fälschung aufflog. Trevor-Roper rechtfertigte sich kurze Zeit nach dem Skandal damit, dass er die Versicherung des Stern gehabt hätte, sowohl die Handschrift und das Papier als auch die Herkunft der Dokumente seien von unabhängigen Sachverständigen überprüft worden. Er bekannte aber auch: »However, I have refused to make any complaint or excuse on these grounds, for I recognize that I should have been firm and have refused to commit myself in the circumstances which actually obtained.« Tatsächlich war er von seiner Haltung schon während der ersten Präsentation der Hitler-Tagebücher abgerückt und hatte, entgegen seiner ersten Einschätzung, deutliche Zweifel zu erkennen gegeben. Am . Mai  schrieb Trevor-Roper über seine Erfahrungen in jenem Moment: »Jedes rationale Argument sprach gegen die Echtheit, und ich glaubte niemals, dass sie echt sein könnten, aber dann wurde ich durch einen seltsamen psychologischen Zwang bekehrt!« Besonders schwer wog die Formulierung von der »Notwendigkeit«, die Geschichte des Nationalsozialismus umschreiben zu müssen, die Eingang in die Titelgeschichte gefunden hatte. Trevor-Roper jedenfalls fühlte sich von den Stern-Leuten hinters Licht geführt, die ihm diesen Satz gleichsam untergeschoben hätten.  Trevor-Roper (); Harris (), S. -.  Ebd., S. -.  Trevor-Roper an Frank Giles, . Juli , in: Davenport-Hines/Sisman (), S.  ff., hier S. .  Zitate nach Gina Thomas: Trevor Roper und die Hitler-Tagebücher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ..; darin die übersetzten Zitate aus den Notizen Trevor-Ropers.

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Das Institut für Zeitgeschichte und die »Hitler-Tagebücher« Im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) begleiteten die Verantwortlichen die Veröffentlichung mit äußerster Skepsis. Gerüchte über angebliche Tagebücher kursierten auf unterschiedlichen Kanälen bereits seit der Jahreswende /, aber der zuständige Archivleiter Hermann Weiß spürte schon, dass diejenigen, die sie kolportierten, alles waren, nur eben keine seriösen Historiker. Von David Irving, der zu dieser Zeit im IfZ noch ein und aus ging, kamen solche Geschichten, und auch von anderer Seite, zum Beispiel vom ehemaligen NSDAP-Hauptarchivleiter August Priesack. Im Januar  informierte Weiß den damaligen Direktor Martin Broszat über den Stand der Dinge. Es handle sich, das schickte Weiß vorweg, um allerlei Gerüchte, die insgesamt mit äußerster Vorsicht zu genießen seien. Ganz offenkundig glaubte Weiß nicht daran, dass es solche Hitler-Tagebücher geben könne, nachdem es bisher in den verschiedenen Archiven dafür keinerlei Belege gegeben hatte. Zu dieser Zeit war man im IfZ mit anderen Fragen beschäftigt: Es waren vor allem die ganz realen Tagebücher Joseph Goebbels’, die das Institut publizieren wollte und deren urheberrechtliche Fragen für erhebliches Kopfzerbrechen sorgten. Dass es sich bei den Hitler-Tagebüchern wahrscheinlich um Fälschungen handelte, schien auch deshalb plausibel, weil erst wenige Jahre zuvor in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte ein Aufsatz über die Quellenedition von Eberhard Jäckel und Axel Kuhn erschienen war, in dem die Autoren einräumten, dass ein Teil der von ihnen publizierten Hitler-Dokumente ganz offenkundig gefälscht war. Broszat jedenfalls hegte von Beginn an – wie auch mancher seiner Kollegen – erhebliche Zweifel an der Echtheit der Dokumente. Im Februar  – beim Stern liefen die Recherchen gerade auf Hochtouren – fragte eines der Beiratsmitglieder des IfZ bei Broszat an, ob an der Geschichte über die sich angeblich in Privatbesitz befindlichen Tagebücher Hitlers etwas dran sei, von denen David Irving in einem Leserbrief an die Frankfurter Rundschau im Dezember  berichtet hatte. Vorsicht gegenüber der Geschichte sei schon allein wegen des Überbringers der Nachricht geboten, aber trotzdem wäre Klarheit hilfreich. In seiner Antwort, die Hermann Weiß verfasste, wurde deutlich, was man in München dachte: »Offen gestanden halten wir im Institut wenig von den Meldungen über Hitler-Tagebücher, wobei die Gründe für diese Einstel Jäckel/Kuhn ().  Hockerts an Broszat, .., in: Archiv des IfZ, ID /.

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lung vielfältiger Art sind. Natürlich sind wir aber bemüht, keine noch so verrückt klingende Notiz ungeprüft auf die Seite zu legen. Solange aber von den ›Hitler-Tagebüchern‹ kein Original auftaucht, bleiben alle Meldungen darüber sehr unglaubwürdig.« Diese »Gründe vielfältiger Art« betrafen nicht nur die Publikationsstrategie des Stern. Es war vor allem dieses »banalisierte, verharmlosende, verkleinerte Hitlerbild«, wie Martin Broszat in einer Diskussionssendung im österreichischen Fernsehen beklagte, das empörte. Die seichte Stern-Story und die verkürzten historischen Einordnungen des Dritten Reiches würden die »mühevolle Arbeit und Anstrengung der Historiker« im Ringen um ein differenziertes Geschichtsbild unterlaufen. Eine »falsche Emotionalisierung« führe dazu, Hitler entweder nur als grobschlächtige Fratze zu dämonisieren oder, nicht weniger schlimm, der Legende aufzusitzen, der »Führer« hätte eigentlich von gar nichts so richtig gewusst, vom Mord an den europäischen Juden schon gar nicht. Noch bevor die Tagebücher offiziell als Fälschungen identifiziert worden waren, erkannte Broszat in der Stern-Story nicht zuletzt ein Problem massenmedialer Geschichtsdarstellung. Schließlich würden »die Grenzen zwischen Realität und Fiktivität verwischt« und die »Tatsachenfrage« aufgelöst. Denn was sollte man davon halten, dass der Stern in seiner ersten Nummer der »Hitler-Tagebücher« unkommentiert solche Passagen druckte, die Hitler anlässlich der Novemberpogrome  gleichsam als Schutzpatron der deutschen Juden präsentierten. Hier brauchte es gegen den »Nazi-Kitsch« eine kritische, gesellschaftliche Selbstaufklärung. Und dieser hatte der Stern einen Bärendienst erwiesen. Hart attackierte Broszat in einem öffentlichen Schreiben den SternChef Henri Nannen und forderte die Herausgabe aller Dokumente, um sie dem Bundesarchiv zur Prüfung vorzulegen. In den Tagen nach der Veröffentlichung – der Wind begann sich bereits zu drehen – glaubte Nannen sich anfangs noch mit dem Hinweis auf die Exklusivität des Materials dem Druck entziehen und darauf verweisen zu können, dass eine Prüfung den Marktwert »seiner« Dokumente senken würde. In einer Besprechung des IfZ-Institutsrats, für dessen Protokoll ein damals junger Historiker mit den Initialen NF verantwortlich war (und der später auch »Festbeauftragter« seines Instituts werden sollte), machte Broszat     

Weiß an Hockerts, .., in: Archiv des IfZ, ID /. Broszat (), S. -, hier S. . Stern, .., S.  f. Broszat an Nannen, .., in: Archiv des IfZ, ID /. Nannen an Broszat, .., ebd.

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deutlich, dass sich neben dem Bundesarchiv auch das IfZ an der Prüfung der Dokumente beteiligen müsse. Zudem sei besondere Vorsicht geboten, denn schließlich dürfe die wissenschaftliche Expertise keineswegs zu einer Art Alibi für die Stern-Leute werden. Insgesamt lässt sich die Auseinandersetzung um die »Hitler-Tagebücher« auch als Teil eines diskursiven Deutungswettstreits unterschiedlicher historischer Sinnstifter in einer sich pluralisierenden Erinnerungslandschaft verstehen, in dem die Zeitgeschichte über viele Jahre keineswegs eine so wichtige Funktion – auch nicht in den Zeitungsredaktionen – einnahm wie später in den Geschichtsredaktionen der er Jahre. Noch bildeten die NS-Geschichtsschreibung und ihre öffentlichen Stimmen ja eine Minderheit unter den Neuzeithistorikern, bisweilen kritisch beäugt, bisweilen auch noch bekämpft und in beherzter Konkurrenz zu den noch lautstarken Zeitzeugen der »Erlebnisgeneration« stehend, zu denen Heidemann und die Stern-Leute so engen Kontakt hatten und von denen sie sich einen »authentischen« Einblick versprachen. Die Fotostory, die der Stern in seiner exklusiven Enthüllungsgeschichte vom . April abbildete und dabei den Weg der »Recherche« nachzeichnete, war zu einem Gutteil mit Aufnahmen ehemaliger Nationalsozialisten aus dem Umfeld Hitlers bebildert. Die »alten Herren«, rüstige Rentner und ehemalige SS-Generäle, gaben der Geschichte die nötige »Authentizität«; interessiert blätterten sie im Tagebuch ihres »Führers« und kamen aus dem Staunen offenkundig nicht heraus. Näher konnte man Hitler nicht mehr kommen: Seine privatesten Aufzeichnungen in den Händen seiner privatesten Helfer und mittendrin der investigative Reporter des Stern. Dass sich auch renommierte Historiker wie Eberhard Jäckel vom Hitler-Fieber anstecken ließen und selbst den Kontakt in das dumpfe Militaria-Umfeld nicht scheuten, macht umso deutlicher, vor welch schwierigen Arbeitsbedingungen die noch junge Zeitgeschichte stand: Wie weit sollte man sich auf diese »alten Kämpfer« einlassen? Was konnte man ihnen glauben? Wo lag die Schwelle zur Nostalgie, wo zur Verharmlosung und Manipulation? Und wie veränderten die massenmedialen Verkaufsstrategien und der »Verkaufswert Hitler« die Geschichtsdarstellung? Dass Martin Broszat öffentlich auf die (selbstverständliche) Einhaltung quel Protokoll der Institutsratssitzung, .., in: Archiv des IfZ, ID /, Bl. . Dort auch der Brief an Henri Nannen, ...  Broszat an Booms, .., in: Archiv des IfZ, ID /; zur Rolle des Bundesarchivs und der Aktenprüfung vgl. Henke (), S. -.  »Wie Sternreporter Gerd Heidemann die Tagebücher fand«, in: Stern, ...

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lenkritischer Regeln auch im Umgang mit NS-Dokumenten beharrte, machte ihn schon fast zu einem dieser, wie der Stern meinte, »ArchivAyatollhas« – solch blinden Historikern, die sich eben einer unbequemen Recherche, wie der Stern sie betrieben habe, verweigerten. Im Kern der Auseinandersetzung ging es deshalb nicht einfach »nur« um eine Fälschung, sondern auch um die Standards der Wissensproduktion über den Nationalsozialismus und die Rolle einer kritischen Geschichtsschreibung über Hitler und das Dritte Reich.

Der Prozess Der Tagebuch-Skandal empörte die Republik nur wenige Monate nach den Gedenkfeiern zum . Jahrestag der »Machtergreifung«, und nicht wenige fürchteten, dass mit der konservativen Wende unter Helmut Kohl nun auch die Geschichtspolitik in den Niederungen der Deutschtümelei versinken würde. Insofern kreuzten sich im Stern-Debakel unterschiedliche geschichtspolitische Konflikte und Deutungskontroversen der späten er und frühen er Jahre. Nachdem der Skandal aufgeflogen war, die Chefredakteure mit hohen Abfindungen den Verlag verlassen und sich auf die Suche nach den Schuldigen gemacht hatten, kam es  vor dem Hamburger Landgericht zum Prozess gegen Konrad Kujau und Gerd Heidemann. Es war ein ungewöhnlicher Prozess, der nach  Verhandlungstagen seinen Abschluss fand; ungewöhnlich, weil Kujaus Strafverteidiger Kurt Groenewold ihn von Beginn an zu einem politischen Prozess zu machen versuchte. Groenewold attackierte in seiner geschickten Verteidigung den Verlag Gruner & Jahr und durchkreuzte dessen Pläne, Kujau als betrügerischen Einzeltäter zu präsentieren und alle Last auf ihn abzuschieben. Groenewold, der unter anderem zusammen mit Otto Schily die RAF in Stammheim vertreten hatte, dann aber von der Verhandlung ausgeschlossen worden war, führte den Kujau-Prozess so, wie er es in den USA gelernt hatte. Von dort brachte er die Idee mit, die Verteidigung seines Mandanten nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch in der Öffentlichkeit zu betreiben. Die Prozessstrategie zielte nicht ohne Erfolg darauf, das verantwortungslose Gebaren der Redakteure und der Verlagsspitze zu skandalisieren und die Verteidigung  Peter Koch: Editorial, in: Stern ...  Ausführlich dazu Bahnsen ().  Kritisch zur Rolle Groenewolds vgl. auch Terhoeven (), S.  f., ausführlich dazu Kapitel . Aus eigener Perspektive Groenewold (), S. -.

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Kujaus für eine Abrechnung mit dem massenmedialen Versagen und ihrer dubiosen Arbeitspraktiken zu nutzen. Nur so war es möglich, dass aus dem Angeklagten Kujau am Ende ein zwar verurteilter, aber dennoch beinahe »sympathischer Betrüger« werden konnte, dessen zweiter Karriere als öffentlich anerkanntes Schlitzohr bald nichts mehr im Wege stand. Die offensive Verteidigungsstrategie machte aus dem Gerichtssaal einen Ort, an dem über mehr als »nur« über den Fall Kujau verhandelt wurde. Die journalistischen Pflichten der Presse in einer demokratischen Gesellschaft, die Form der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Rolle Hitlers für das Geschichtsbild der Deutschen – darum, so hoffte es die Verteidigung, sollte es primär gehen. Das juristische Argument im Sinne der Verteidigung lautete dabei: Es handelte sich nicht um Betrug, weil der Verlag genau wusste oder gewusst haben konnte, worauf er sich mit den »Hitler-Tagebüchern« eingelassen hatte. Schließlich, so Groenewold in seinem Plädoyer, hätte es der Chefetage von Gruner & Jahr klar sein müssen, dass es sich um unterschlagenes Gut handele und eine Verwertung unter dem Gesichtspunkt des Urheberrechts unzulässig sei. Jedenfalls hatte der Verlag, so Groenewolds Argument, keine Skrupel, die Rechte an den Tagebüchern zu verkaufen, ohne sich um die Frage nach dem Eigentümer zu kümmern. Bei einem rechtlich einwandfreien Deal hätte er die gekaufte Ware nicht verkaufen dürfen. Einfacher gesagt: Die »Hitler-Tagebücher« seien zwar eine Fälschung, aber eben keine Täuschung. Die Große Strafkammer  des Landgerichts wollte dieses Argument nicht anerkennen und konzentrierte sich vor allem darauf, zu klären, wohin das viele Geld für welche Leistung geflossen war. Den unterschiedlichen Spuren, die die Tagebuchfälschungen mit einem Netzwerk alter »brauner« Seilschaften in Verbindung brachten, ging das Gericht ebenso wenig nach wie den Indizien, dass die Staatssicherheit ihre Finger im Spiel gehabt hätte. Die Verhandlungsführung, so beklagten es schon zeitgenössisch politische Kommentatoren, laufe auf eine Form der Depolitisierung des Stern-Skandals hinaus und lasse zu viele Punkte ungeklärt. Heidemann wurde zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten wegen schweren Betrugs verurteilt, Kujau zu vier Jahren und sechs Monaten. Betrogen habe, so das Gericht, nicht nur Kujau, sondern eben auch Heidemann. Allerdings, auch dies erklärte der Richter, trage  Folgendes nach Bahnsen (), S. -. Dort finden sich Teile des Plädoyers.  Karl-Heinz Janßen: Für jede Millionen ein Jahr, in: Die Zeit, ..; ders.: Anträge im Stern-Prozess, in: Die Zeit, ...

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der Verlag eine, wie es im Urteil hieß, »erhebliche Mitschuld«: »Die Verantwortlichen haben gewußt, daß man Sachen kaufte, an denen man keinerlei Rechte hatte, weder im Hinblick auf den Besitz noch bezüglich der Verwertung.« Kein Freispruch also für Kujau, zugleich eine scharfe Rüge für den Verlag und ein massiver Verlust an Glaubwürdigkeit. Heidemann und Kujau, die beide schon seit Mai  in Untersuchungshaft saßen, wurden aufgrund von Haftverschonungsbeschlüssen freigelassen und mussten sich alle zwei Wochen bei der Polizei melden. Der Prozess gegen den Fälscher und vermeintlichen Betrüger Kujau hatte sich zum Tribunal über die Sorgfaltspflicht journalistischer Arbeit und damit ganz grundsätzlich zur kritischen Bilanz der »vierten Gewalt« gewandelt. Publizistisch begleitet wurde er von ersten Büchern, die die Hintergründe des Skandals beleuchteten, aber gewissermaßen selbst zu einer Art von Skandal wurden, zumindest eines kleinen. Das galt besonders für Erich Kubys Der Fall Stern und die Folgen, das schon im August  unter großem Medienrummel erschien und für das der ehemalige Stern-Mitarbeiter und bekannte Journalist einen Vertrag bei Hoffmann und Campe erhalten hatte. Kuby, mit Heidemann bestens aus gemeinsamen Recherchen vertraut, schrieb sein Buch in wenigen Wochen und ging dabei hart mit dem Verlag, vor allem aber mit Henri Nannen ins Gericht. Der Stern sei »immer dann moralisch und politisch zusammengebrochen«, sobald er sich mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus beschäftigt habe. Schließlich sei das angeblich so liberale Blatt »von genau der gleichen Impotenz wie die Bundesrepublik im ganzen«, so dass schließlich auch Hitler umarmt worden sei. »Das ist das Land, das ist das große Magazin, wo die Nazi-Freunde blühen!«, so Kuby scharf . Nannen als Opportunist, als »Schwein«, die Zeitschrift und der Verlag als Brutstätte faschistischer Denkweisen und Verharmlosungsstrategien – das war Kubys Antwort auf die Frage, weshalb es zum Stern-Skandal hatte kommen können, und ein Vorwurf, mit dem sich das Verlagshaus nicht gemein machen wollte. Hoffmann und Campe hatten im Vorfeld mehrere Gutachten in Auftrag gegeben, die das Manuskript dahingehend prüfen sollten, ob die Vorwürfe justiziabel seien. Die rechtliche      

Zit. nach Bahnsen (), S. . »Echt falsch«, in: Der Spiegel, ... Kuby (), S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. .

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Prüfung war indes nicht eindeutig. Doch letztlich kam der Verlagsinhaber Thomas Ganske zu dem Urteil, dass er das Buch in der vorgelegten Version »nicht verantworten und eine Veröffentlichung nicht verteidigen« könne. Es sei »nicht die Überzeugung, die dem Buch zugrunde liegt, sondern das Mittel der Diffamierung und Herabwürdigung einzelner Personen und ganzer Personengruppen, mit dem diese Überzeugung illustriert wird, das eine[r] Veröffentlichung im Hoffmann und CampeVerlag« entgegenstünde. Kubys Abrechnung stand am Ende einer langen und schwierigen Beziehung des prominenten Autors zu »seinem« Blatt, für das er von  bis  in unterschiedlichen Funktionen gearbeitet hatte. Mit Nannen verband Kuby nicht gerade eine freundschaftliche Beziehung, vor allem aber warf er ihm gerade im Umgang mit der NS-Geschichte vor, das Blatt den falschen, nämlich viel zu wenig distanzierten Leuten überantwortet zu haben – für Kuby Ausdruck einer allgemeinen Verrohungsgeschichte des Stern. Er habe jedenfalls, so Kuby in seiner Zeugenaussage im SternProzess über seinen früheren Kollegen Gerd Heidemann, den Eindruck, dass dieser »das ganze nationalsozialistische Regime mit seinen führenden Personen (einschließlich Hitler) sozusagen verinnerlicht« habe. Vor allem aber vermutete er, dass seine eigenen, deutlich kritischen Geschichten über den Nationalsozialismus, die er für den Stern / hatte schreiben wollen, der geplanten Veröffentlichung der wesentlich seichteren »Hitler-Tagebücher« zum Opfer gefallen seien. Der Verlag Hoffmann und Campe fürchtete offenkundig auch die juristische Auseinandersetzung mit Gruner & Jahr, die sicher bei so mancher Formulierung gedroht hätte, und kündigte den Vertrag mit Kuby. Nun hatten die »Hitler-Tagebücher« noch einen neuen Skandal produziert: die »Zensur« eines Buches, das dann im »konkret Verlag« erschien. Die Geschichte der gefälschten Hitler-Tagebücher verweist nicht nur ins Dunkel altgewordener NS-Nostalgiker und brauner Netzwerke, die am Beginn der er Jahre offenkundig noch recht lebendig waren. Sie deutet auch die wachsende Bedeutung von Zeithistorikern als Experten  Gutachten der Kanzlei von Geyso & Ahlberg: Erich Kuby, der Fall Stern und die Folgen, .., in: Literaturachiv Monacensia, Bestand Erich Kuby, EKuB.  Hoffmann und Campe an Kuby, .., in: Literaturachiv Monacensia, Bestand Erich Kuby, EKuB.  Aussage Erich Kuby vor dem Hamburger Staatsanwalt, .., in: Literaturarchiv Monacensia, Bestand Erich Kuby, EKuB .  Kuby an Nannen, .., in: Literaturarchiv Monacensia, Bestand Erich Kuby, EKuB .

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und Authentifizierungsagenten im öffentlichen Raum an, die sich ihre Autorität gerade auch in der Auseinandersetzung mit den »Zeitgenossen« erstreiten mussten. Die Gruppe derjenigen, die Zeitgeschichte als »Demokratiewissenschaft« und Geschichte auch als eine Form der Gesellschaftskritik verstanden, war zu Beginn der er Jahre noch recht überschaubar. Nicht zuletzt ging es in der öffentlichen Auseinandersetzung und auch im Prozess um die marktwirtschaftlichen Bedingungen des »Selling Hitler«. Mit dem »Führer« als Geschäftsmodell ließ und lässt sich Geld machen, zumindest gilt er als Versprechen auf gute Gewinne. Diese ökonomische Verwertung der »Marke Hitler« begann bereits in den er Jahren, und sie fand und findet ihre Fortsetzung auch in den erklecklichen Honoraren, die Angehörige einstiger NS-Größen als Rechteinhaber in Form von Tantiemen abschöpfen – und das bis in die Gegenwart.

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Normalisierung und Kritik Zum »Geschichtsboom« seit den er Jahren F M

Das Bild fängt Zeitgeist ein: Im Sommer  öffnete im West-Berliner Gropius-Bau die erste große Geschichtsschau der Bundesrepublik. Fast eine halbe Million Menschen strömte in die Ausstellung Preußen: Eine Bilanz, die nur drei Monate gezeigt wurde; weil die Mauer den Haupteingang versperrte, mussten die Besucher den Seiteneingang nehmen. Gleich nebenan hatte bis  das Prinz-Albrecht-Palais gestanden. Auf dessen Brache hatten die Ausstellungsmacher in Anspielung auf das Agrarland Preußen Getreide gepflanzt, und jetzt, im Erntemonat August, wogten die Ähren. Dass dort nach  der Sicherheitsdienst der SS und später das Reichssicherheitshauptamt ihren Sitz gehabt hatten, wurde in der Ausstellung eher inszeniert als erklärt: Von einem Fenster des Raumes , in dem Zusammenhänge zwischen Preußen und dem Nationalsozialismus thematisiert wurden, ging der Blick des Ausstellungsbesuchers auf das weite Feld. Dennoch lenkte die Preußenausstellung erstmals Aufmerksamkeit auf jenes Gelände, das in den folgenden Jahren archäologisch erschlossen, museumspädagogisch genutzt und schließlich auch neu bebaut wurde. Heute befindet sich dort die »Topographie des Terrors«. Diese komplexe Gemengelage auf dem Kreuzberger Gelände verweist auf fundamentale und ambivalente Veränderungen von Geschichtsdiskurs und Geschichtskultur, die bereits in den er Jahren einsetzten, aber erst im folgenden Jahrzehnt virulent wurden. Verschiedene Epochen (absolutistisches Preußen, wilhelminisches Kaiserreich, Nationalsozialismus, deutsche Teilung) waren gleichzeitig präsent und überlagerten einander. Überall tauchte Vergangenheit auf, Epochen und Ereignisse in Hülle und Fülle, die vergegenwärtigt, in Kontexte gesetzt  Vorher hatten bereits große regionalgeschichtliche Ausstellungen zu den Staufern () und den Wittelsbachern () zahlreiche Besucher angelockt. Die Preußenausstellung hatte der Regierende Oberbürgermeister Dietrich Stobbe (SPD) initiiert, für Planung und Durchführung zeichneten die Berliner Festspiele verantwortlich, Kurator war der Volkskundler Gottfried Korff.  Das betont Andreas Nachama, der Direktor der Topographie. Vgl. Ein Treffen im Sprechzimmer der Geschichte (), S. -, hier S.  f.

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und verknüpft oder in ihrer Widersprüchlichkeit und Kontingenz gezeigt wurden. Über die Bundesrepublik brach ein »Geschichtsboom« herein, wie ihn zuletzt vielleicht das späte Kaiserreich erlebt hatte, ein Neo-Historismus auf allen Ebenen, der die Gesellschaft prägte und Geschichte erfahrbar machte, aber mittelfristig auch Fragen nach der gesellschaftlichen Geschichts- und Erinnerungskultur auf die wissenschaftliche Agenda brachte. Altbauten und Stuckdecken, Flohmärkte und Geschichtswerkstätten, Denkmalschutz und Preußen, »Holocaust« und »Heimat«, nationale Historie und deutsche Teilung – Geschichte wurde plötzlich auf eine irritierend vielfältige Weise aktuell. Sie lief nicht mehr nur auf den Fluchtpunkt »« zu und hielt sich auch nicht mehr an die Teleologie eines negativen »deutschen Sonderwegs«. Die Forschung hat vor allem die geschichtspolitische und -wissenschaftliche Polarisierung betont, jenen Widerstreit zwischen nationalkonservativen und linksliberal-aufklärerischen Positionen, der / mit dem Historikerstreit in einen veritablen »Kulturkampf um die deutsche Geschichte« eingemündet sei. In dieser Lesart, die zeitgenössische Frontstellungen reproduziert, wurde die konservative, bereits in den er Jahren und nicht zuletzt in Reaktion auf »Achtundsechzig« einsetzende Wende von einer kritischen Gegenbewegung begleitet, die am Ende bis auf Weiteres den Sieg davontrug. Hier soll stattdessen eine Perspektive erprobt werden, die Vorstellungen einer dichotomen Lagerbildung unterläuft oder zumindest aufweicht. Denn die Vielfalt und Dynamik des Geschichtsdiskurses entstand gerade aus dem Zusammenspiel der Positionen, die aufeinander reagierten, einander bedingten und verstärkten. Das »Bedürfnis nach Apologie und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit« hätten, so jüngst Norbert Frei, in der Bundesrepublik seit  stets »nah beieinander« gelegen: »ein gleichsam dialektisches Verhältnis, das sich auch und gerade in den geschichtsbewegten achtziger Jahren fortschrieb«. In diesem Prozess weiteten sich, so möchte ich argumentieren, das historisch Erforschbare wie das gesellschaftlich Sag- und Zeigbare aus. Erstmals seit  entstand wieder die Vorstellung einer »ganzen« deutschen Geschichte, und auch wenn die Tendenz zur »Normalisierung« die Gefahr einer Relativierung der NS-Geschichte barg, führte sie doch auf lange  Vgl. Wolfrum (b), S. ; das Zitat bei Wirsching (), S. , der insgesamt ein eindrucksvolles Panorama der bundesdeutschen Kultur in den er Jahren entfaltet.  Frei/Maubach/Morina/Tändler (), S. .

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Sicht dazu, dass das gesellschaftliche Wissen über diese Zeit nicht ab-, sondern zunahm. Auch in der DDR vollzog sich unter dem Stichwort »Erbe und Tradition« eine folgenreiche Öffnung für Themen, die bislang als reaktionär gegolten hatten – ein Prozess, der zugleich aus dem Wettstreit mit der Bundesrepublik resultierte und, paradoxerweise, die Verständigung von ost- und westdeutschen Historikern, Publizisten oder Politikern über die gemeinsame deutsche Geschichte erleichterte und förderte. Aus dieser Perspektive erscheinen die er Jahre als Schwellenjahrzehnt, in dem ein neuer, bis heute einflussreicher Umgang mit der deutschen Geschichte entstand. In welchem Verhältnis aber standen Traditionsstiftung und Sonderwegthese, Normalisierung und Kritik, die hellen und die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte? Welche gesellschaftlichen Dynamiken entstanden in dem Versuch, Bilanz zu ziehen, also in einer Art historischen Buchführung Positiva und Negativa zu verzeichnen – und zu verrechnen? Und wie wird deutsche Geschichte seither erzählt?

Diagnose: Geschichtslosigkeit Die Öffnung hin zur ganzen deutschen Geschichte beruhte auf einer zeitgenössisch kurrenten Diagnose, die nicht erst Michael Stürmer auf den einprägsam polemischen Begriff von der Bundesrepublik als einem »geschichtslosen Land« brachte. Als der Erlanger Historiker die Sentenz  als Titel für ebenjenen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen wählte, der neben Ernst Noltes Thesen den Historikerstreit einleitete, war sie längst nicht mehr originell. Die Vorstellung, dass das Land nicht mehr Demokratie, sondern mehr Geschichte brauche, bildete sich etwa seit Mitte der er Jahre, als Gegenwartskrise und Zukunftsängste Prozesse der historischen Rückversicherung stimulierten. Dabei ist dieser Prozess vor allem, aber längst nicht nur als Reaktion auf den Linksruck der Gesellschaft um und nach  zu verstehen. Insgesamt wurde die Bindekraft der politischen und wirtschaftlichen Nachkriegsordnung  Vgl. Meier/Schmidt (). Die Preußenrenaissance in der DDR wurde zeitgenössisch aufgegriffen von Stürmer (); vgl. auch Wolfrum (); Keil ().  Vgl. Michael Stürmer: Geschichte in geschichtslosem Land, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., S. .  Vgl. die entsprechenden Abschnitte, jeweils unter dem Titel »Rückkehr der Geschichte«, bei Conze (), S. -; Herbert (), S. -; Wirsching (), S.  ff.

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schwächer, wozu Krisen (und Krisenwahrnehmungen) auf unterschiedlichen Ebenen beitrugen: die Rezessionen nach den Ölpreisschocks von  und , der Umbau der Ökonomie, die »Grenzen des Wachstums« und die »Risikogesellschaft«, die Angst vor Konkurrenz durch Gastarbeiter und Ausländer in einem »Einwanderungsland wider Willen«, der linksextreme (und etwas später auch rechtsextreme) Terror, aber auch das Unbehagen an der Parteiendemokratie, Politikverdrossenheit und eine sinkende Wahlbeteiligung. Die Legitimation der Bundesrepublik aus sich selbst heraus schien nicht mehr zu verfangen. Nicht zuletzt Politiker forderten als Ausweg aus dem Dilemma der vermeintlich traditionslosen Bundesrepublik »mehr Geschichte«, vor allem eine Nationalgeschichte, die sich nicht in negativen Bezugnahmen auf den »deutschen Sonderweg«, auf »« und »Auschwitz« erschöpfen, sondern zur positiven Identifikation eignen würde. »Wir sind«, meinte Bundespräsident Walter Scheel in seiner Rede zur Eröffnung des Mannheimer Historikertags , »in Gefahr, ein geschichtsloses Land zu werden.« In Geschichtslehrbüchern dürfe es keine Tabus geben, kein bloß einseitiges Geschichtsbild, denn Geschichte sei »Kampf, Kampf der Ideen, der Völker, der Klassen«. Auch die Wissenschaft, schrieb er der versammelten Community ins Stammbuch, dürfe nicht zur Ideologie verkommen oder mit der Struktur- und Sozialgeschichte lediglich eine einzige Methode »verabsolutieren«. Während der Bundespräsident hier gewissermaßen über die Bande der Forderung nach einem Pluralismus der Themen und Zugänge für ein positiveres, identifikationsfähiges Geschichtsbild optierte, dürfte Hans Filbinger (CDU) ein ganz anderes und ureigenes Interesse an einer weiten Nationalgeschichte jenseits von  gehabt haben. Der baden-württembergische Ministerpräsident meinte mit Blick auf die erste große Ausstellung zur Geschichte der Staufer in Stuttgart, dass diese einen Beitrag leisten solle »zur Wiederbelebung ernsthaften geschichtlichen Denkens«, denn: »Eine Ideologie der Geschichtslosigkeit, der Stunde Null, ist eine falsche Lehre.« Das war genau ein Jahr vor der Affäre um seine Vergangenheit als NS-Militärrichter, die am Ende zu seinem Sturz führte. Ebenfalls im Jahr darauf jährte sich der Republikgeburtstag zum dreißigsten Mal, aber die Glückwunschadressen fielen verhalten aus: Der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer beispielsweise diagnostizierte eine  Vgl. Bade (); Beck ().  Scheel (), S.  f.  Vorwort des Ministerpräsidenten, zit. nach Große Burlage (), S. .

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»Stimmung der Resignation, der Skepsis und des Pessimismus«, die auch das Geschichtsbewusstsein betreffe. Wie »ein erratischer Block« habe sich der Nationalsozialismus »zwischen die Gegenwart des geteilten Deutschland und seine Vergangenheit geschoben« und störe den »Sinn für historische Kontinuität«, der »schwer entbehrlich« zu sein scheine für die »Ausbildung eines Geschichtsbewußtseins«. Sontheimer wollte eine Art bundesrepublikanisch begrenzten Patriotismus etablieren, der an der Geschichte seit  »ein eigenes historisches Bewußtsein« entfalten würde, und bewegte sich damit dicht an dem zeitgleich von Dolf Sternberger vorgetragenen Plädoyer für einen »Verfassungspatriotismus«. Aus dem Rückblick schien gerade dieser Begriff auf das Bedürfnis nach historischer Sinnstiftung mit dem enthaltsamen Rückbezug auf das Erreichte zu reagieren. Andere Intellektuelle, darunter auch solche, die zeitgenössisch eher dem linksliberalen Spektrum zugerechnet wurden, gingen darüber hinaus und nahmen Positionen des konservativen Normalisierungsdiskurses der er Jahre vorweg; die Dialektik reichte nicht selten bis in die Individuen hinein. Martin Walser beispielsweise vertrat in seinem Eröffnungsbeitrag für die von Jürgen Habermas herausgegebenen Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit« die Auffassung, dass »unsere nationale und gesellschaftliche Ratlosigkeit« eine »Folge unserer Entfernung von unserer Geschichte« sei, und artikulierte sein Bedürfnis nach »geschichtlicher Überwindung des Zustands Bundesrepublik«. In der gediegenen Tiefdruckbeilage der Frankfurter Allgemeinen dramatisierte Karl Heinz Bohrer, die deutsche Kultur sei »allein gelassen«, »ohne den alten Begriff von sich selbst«. Die Stuttgarter Staufer-Ausstellung las er als »Indiz« für »die Möglichkeit einer historischen Renaissance« und sinnierte darüber, ob Deutschland »noch eine geistige Möglichkeit« sei. Und Botho Strauß dichtete im selben Tenor bundesrepublikanischer Traditionslosigkeit, aber mit der ihm eigenen raunenden Emphase: »Kein Deutschland gekannt zeit meines Lebens. / Zwei fremde Staaten nur, die mir verboten, / je im Namen eines Volkes der Deutsche zu sein. / So viel Geschichte,  Dieses und das folgende Zitat Sontheimer (), S. ; im Tenor ähnlich Sontheimer ().  Dolf Sternberger: Verfassungspatriotismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., S. ; dazu Müller ().  Walser (), S. , .  Karl Heinz Bohrer: Deutschland – noch eine geistige Möglichkeit. Bemerkungen zu einem nationalen Tabu, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., S.  f.

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um so zu enden?« Die rhetorische Frage am Schluss ließ sich als Kritik an der vermeintlichen Tabuisierung von Teilen der deutschen Nationalgeschichte und als Forderung lesen, den weiten Raum der deutschen Geschichte wieder frei durchmessen zu dürfen. Nicht nur in der Diagnose, auch in der Therapie war man im Grunde einig: Es bedurfte einer identifikationsfähigen Nationalgeschichte, die mehr sein sollte als das nüchtern-rationale Bekenntnis zur bundesrepublikanischen Ordnung, zum Bruch mit der deutschen Geschichte von  und zum »Nie wieder«. Identität, gerade auch historische Identität, avancierte zum Zauberwort der Zeit; der Philosoph Hermann Lübbe sprach sperrig und dennoch oft zitiert von der »Identitätspräsentationsfunktion von Geschichte«. Aber was bedeutete die Forderung, in der deutschen Geschichte jenseits von  und  Rückversicherung zu suchen, jeweils genau? Sie konnte in konservativer Weise auf die Wiederaneignung der Geschichte Preußens oder des Kaiserreichs zielen und auf eine Kritik an der These eines »deutschen Sonderwegs« hinauslaufen. Oder sie konnte sich in der Tradition Gustav Heinemanns, der  in Rastatt die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte eröffnet hatte, darauf richten, der Bundesrepublik ein historisches Rückgrat zu verschaffen und an verschüttete Kapitel der deutschen Freiheitsgeschichte zu erinnern. Und sie konnte schließlich auch, wie in der jüngeren Generation der Aktivisten und Aktivistinnen aus den Geschichtswerkstätten oder bei Emigranten wie Fritz Stern, bedeuten, der verdrängten Realgeschichte des Nationalsozialismus einen adäquaten Platz einzuräumen. Die Kritik an der »Abwehr der Geschichte« (Carl Améry) oder am »Verlust der Geschichte« (Fritz Stern) bezog sich dann auf eine ganz spezifische Verdrängungsleistung: Denn das, was zwischen  und  geschehen war – vor allem der Holocaust –, war bis dato weder ausreichend erforscht noch gesellschaftlich hinreichend präsent. So wurde das Unbehagen an der vermeintlichen bundesrepublikanischen Traditionslosigkeit von Intellektuellen aller Couleur artikuliert, die Diagnosen dessen aber, woran es der Bundesrepublik eigentlich mangele und wie diesem Mangel beizukommen sei, unterschieden sich diametral. Aus dieser dynamischen Konstellation  Strauß (), S. ; Botho Strauß: Der letzte Deutsche, in: Der Spiegel. ...  Vgl. Lübbe ().  Améry und Stern werden hier zitiert nach Martin Greiffenhagen/Sylvia Greiffenhagen: Das schwierige Vaterland.  Jahre Bundesrepublik, in: Der Spiegel, .., S. .

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resultierten in den folgenden Jahren vitale Historisierungsschübe, wie sich an der Preußenrenaissance zeigen lässt. In auffälliger Weise und auf vielen Ebenen beherrschte die Semantik der gemischten Bilanz den Diskurs über die preußische Geschichte.

Gemischte Bilanzen: Preußenrenaissance in Ost und West Heute, in Zeiten einer weitgehend von Gedenkjahren getriebenen gesellschaftlichen Beschäftigung mit der deutschen Geschichte, scheint es ganz unvorstellbar: Das parallel zur Preußenausstellung ausgerufene »Preußenjahr«  kam ohne jeden Jahrestag aus. Fast ironisch bezog sich das Faltblatt zur Ausstellung auf diese Tatsache: »Anlässe gäbe es genug!«, hieß es da, »viele Anlässe, um einen historischen Hintergrund, der nicht verdrängt werden kann, eingehend zu untersuchen«. Und dann ließen die Ausstellungsmacher kleine und größere Ereignisse vor , ,  Jahren fast nach dem Zufallsprinzip Revue passieren: von der ersten elektrischen Straßenbahn, die  durch Berlin gefahren war, bis zum . Geburtstag von Karl Friedrich Schinkel, dem Architekten des preußischen Berlin, der gewissermaßen den Hauptanlass lieferte. Die große Aufmerksamkeit für die Preußenschau im Gropius-Bau und ihre über dreißig Berliner Begleitausstellungen speiste sich aus der verbreiteten Sehnsucht nach einer deutschen Geschichte, in der Preußen nicht nur Station war auf dem Weg in den Nationalsozialismus. Das zeigten auch die durch die er Jahre hindurch hohen Absatzzahlen von Preußenliteratur etwa aus der Feder Christian Graf von Krockows oder Filme und Dokumentationen über das Königreich. Hinzu kam der Wettstreit mit der DDR, wo man bereits seit dem Ende der er Jahre ehemals als reaktionär verstandene Kapitel der historisch-materialistischen Geschichtserzählung einer Revision unterzog. Diese Öffnungsbewegung war Teil des größeren Versuchs, der nach dem Machtantritt von Erich Honecker  reklamierten »sozialistischen  Dieses und die folgenden Zitate: Faltblatt der Ausstellung, Landesarchiv Berlin B Rep. .  Damit einher ging eine genuin geschichtswissenschaftliche Neubetrachtung der preußischen Geschichte; vgl. etwa den (kritisch auf die Preußenrenaissance reagierenden) Band von Puhle/Wehler ().  Vgl. hier nur den Bestseller: Krockow (). Im Jahr der Preußenausstellung hatte er noch einen mahnenden Essay vorgelegt: Krockow ().

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Nation« ein breiteres historisches Traditionsfundament zu verschaffen. Als vermeintlich befriedete, sozialistisch konsolidierte Gesellschaft sollte sie dezidiert alle Schichten ansprechen, gerade auch die bürgerlichen: »Von der Geschichte, der Kultur und der Sprache werden wir nichts preisgeben, was es an Positivem zu erhalten und zu pflegen gibt«, so Honecker vor dem Zentralkomitee der SED Ende Mai . In den er Jahren ging diese Politik mit Ansätzen lokaler Traditionspflege und Heimatgeschichte einher, die zwar unter anderen gesellschaftspolitischen Vorzeichen standen als der zeitgleiche Boom lokalgeschichtlicher Spurensuche im Westen, aber dennoch eine ähnliche Tendenz anzeigten. In diesem Zusammenhang eignete man sich auch die preußische Geschichte wieder an, deren Erinnerungsorte zum großen Teil auf dem Gebiet der DDR lagen und nun für Touristen aus dem eigenen Land, aber auch für solche aus dem Westen erschlossen wurden. Bereits  hatte Ingrid Mittenzwei ihre Biografie Friedrichs II. vorgelegt und darin den preußischen König als fortschrittlichen Reaktionär gezeichnet: »Reaktion und Fortschritt sind in der Geschichte«, hieß es in der zweiten Auflage fast lakonisch, »nicht immer reinlich voneinander getrennt.« Zugleich förderte der Kurswechsel dringend notwendige konservatorische Arbeiten an der verwitterten preußischen Architektur oder die Rückführung von Denkmälern an ihre alten Standorte. In einem kurz vor der Eröffnung der Preußenausstellung verhandelten Kulturgüteraustausch erhielt die Bundesrepublik das Archiv der Königlichen Porzellan-Manufaktur und die DDR als Gegengabe die Figuren der alten Schlossbrücke, die jetzt als Marx-Engels-Brücke auf den Palast der Republik zuführte. Das Reiterstandbild Friedrichs II., den man wieder »den Großen« nennen durfte, war bereits im November  an seinen alten Standort Unter den Linden zurückgesetzt worden. Auch wenn sie höchst fragmentarisch blieben: Die frühen, im Rahmen des -jährigen Stadtjubiläums  etwa im Nikolaiviertel weitergetriebenen Rekonstruktionsarbeiten am historischen Berlin leiteten einen Prozess ein, der nach / forciert werden und schließlich in der Wiedererrichtung des Schlosses gipfeln sollte.  Dieser Prozess war etwa von Michael Stürmer mit Interesse beobachtet worden; vgl. Stürmer ().  Hier zit. nach Engel/Ribbe (), S. .  Mittenzwei (), S. ; vgl. auch Mittenzwei ().  Vgl. »Honecker spricht von Friedrich dem Großen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., S. .

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Hüben wie drüben hatte »Preußen« lange in abstrakter Weise lediglich als Symbol einer dunklen Vorgeschichte gedient. Jetzt, Anfang der er Jahre, wurden die Bezugnahmen auf die Geschichte des Königreichs nicht nur ambivalenter, sondern auch konkreter und anschaulicher, weil sie dem Alltag und den subjektiven Erfahrungen der Menschen näher rückten; »Mut zum Anfassen von Geschichte« nannte das der ehemalige Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe (SPD). Während die fast zeitgleich im Juli  eröffnete neue Dauerausstellung im Ost-Berliner Museum für Deutsche Geschichte Friedrichs fingerlosen Schnupftabakhandschuh ausstellte, präsentierte das Musée Sentimentale de Prusse, eine der Begleitausstellungen im Preußenjahr, in ironisch gebrochener, popkultureller Manier eine Zigarettenkippe Wilhelms II. Daneben wurde herausgestellt, was aus der jeweiligen Perspektive als positiv gelten mochte: die Volksnähe Friedrichs II. , die Offenheit für Religionsflüchtlinge wie die Hugenotten und das Toleranzedikt, die preußischen Tugenden als Antidot in einer verlotterten Nach-Achtundsechziger-Gesellschaft oder der Widerstand preußischer Adliger am . Juli . Die preußische Geschichte war jetzt nicht mehr nur schwarz und weiß, sondern herausfordernd bunt oder grau, ganz wie man wollte. Die Vorstellung einer gemischten Bilanz, die überkommene Polarisierungen überwinden und so der historischen Wahrheit näher rücken würde, wird im fünfbändigen Begleitkatalog zur Preußenausstellung variantenreich formuliert. Im Geleitwort des Regierenden Bürgermeisters Richard von Weizsäcker hieß es etwa, die Ausstellung solle dazu beitragen, »das geschichtliche Phänomen Preußen aus der Sphäre emotionaler Verherrlichung ebenso herauszulösen wie aus unkritischer Abneigung«. Einseitige Urteile wurden vermieden – oder das Urteil überhaupt verweigert. Letzteres war die Pointe einer fünfteiligen Reihe, die das ZDF im Frühjahr  unter dem Titel Preußen. Ein Prozess in fünf Verhandlungen ausstrahlte. Zwar hielten Ankläger und Verteidiger zu verschiedenen Bereichen der preußischen Geschichte – preußischer Militarismus, preußische Reformen und ein weiteres Mal die notorischen preußischen Tugenden – engagierte Plädoyers mit allen Pros und Contras. Das Urteil des Richters aber bekamen die Zuschauer nicht mehr zu hören; es begann die Zeit der offenen Enden. Nicht zuletzt auf dem Weg der Auseinandersetzungen mit Preußen entwickelte sich ein auch in den folgenden Jahrzehnten wirkmächti Stobbe (), S. .  Weizsäcker (), S. .

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ger Modus im Umgang mit der deutschen Geschichte. Dabei wurde die These eines »deutschen Sonderwegs« immer wieder als einseitig und deterministisch, moralisch und politisch kritisiert; oft dienen solche Argumente in der Geschichtswissenschaft bis heute als Beleg für eine innovative Perspektive, die freilich über die Jahre stereotyp geworden ist.

»Heimat« und »Holocaust«: Die ganze deutsche Geschichte Nicht nur über Preußen, auch über das Kaiserreich stritten Historiker seither heftig. Schon Mitte der er Jahre hatte sich eine Auseinandersetzung an Hans-Ulrich Wehlers schmaler Gesamtdarstellung entzündet, die der Münchner Historiker Thomas Nipperdey im ersten Heft von Geschichte und Gesellschaft einer kritischen Prüfung unterzog: Statt eines vom fixen Blickpunkt gegenwärtiger Überzeugungen aus gezeichneten Schwarz-Weiß-Bildes brauche es eine lebendige Erzählung des . Jahrhunderts; die Epoche sei nach eigenem Recht zu verstehen.  forderte Nipperdey einen neuen Objektivismus, der dazu dienen sollte, die Geschichte in einer Art neohistoristischer Epochenschau in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu präsentieren. Damit sollte in Bewegung gebracht werden, was in Nipperdeys Augen andernfalls in Glaubenssätzen zu erstarren drohe. Geleitet von diesen dicht am Zeitgeist formulierten Überlegungen legte er  den ersten Band seiner Geschichte des . Jahrhunderts vor. Mag sein, dass Wehler seine große Geschichtserklärungsoffensive der Deutschen Gesellschaftsgeschichte gegen den von ihm so verstandenen Relativismus auf mehreren Ebenen startete: gegen die konservative Normalisierung der deutschen Geschichte ebenso wie gegen die linksbewegte Alltags- und Kulturgeschichte. In einem Prozess, der bis heute anhält, veränderten sich seither zentrale Deutungen: Das Kaiserreich erschien liberaler, den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten viele zu verantworten, und Weimar wurde wie Vgl. zeitgenössisch Eley/Blackbourn (). Für gegenwärtige Reperkussionen sei nur verwiesen auf das Panel beim . Historikertag in Hamburg () von Hedwig Richter und Tim B. Müller: Volkslauf auf dem Sonderweg? Deutsche Demokratiegeschichte von  bis .  Vgl. Nipperdey ().  Vgl. Nipperdey ().  Vgl. Nipperdey (); dazu Nolte ().  Vgl. hier nur den ersten Band Wehler (); dazu Nolte ().

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der stärker zum demokratischen Experiment mit ungewissem Ausgang. Der Konnex zwischen den Epochen, vorher zusammengehalten von der Suche nach strukturellen Ursachen für den Nationalsozialismus, wurde aufgelöst. Es entstand ein weites Geschichtspanorama, das – nicht nur, aber auch – die bis heute aktuelle Sehnsucht nach einer normalnationalstaatlichen Identität bediente, worauf der hunderttausendfache Erfolg von Christopher Clarks dickem Protokoll der  Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verweist. Zwar erleichterte diese Entwicklung rechtskonservative Relativierung und Apologie, weil Traditions- und Geschichtskritik, die selbstkritische Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst, eine geringere Deutungshoheit besitzen. Die Gefahr dieser antidemokratischen Instrumentalisierung muss – und kann – der radikal pluralisierte Geschichtsdiskurs in der Bundesrepublik aber aushalten. Denn in dem Maße, wie die Sonderwegdeutung kritisiert wurde, rückten die NS-Diktatur und vor allem der Holocaust ins Zentrum der Forschung wie der öffentlichen Aufmerksamkeit, auch weil sich zwischen  und  die Geschichte des Regimes zum fünfzigsten Mal jährte. Eingeleitet wurde dieser Prozess durch die  ausgestrahlte amerikanische Familiensaga Holocaust, die für das Handeln der Täter und vor allem für das Leiden der Opfer und damit für individuelle Erfahrungen sensibilisierte. Die Serie wiederum rief Gegenerzählungen auf den Plan: Edgar Reitz beispielsweise sah Holocaust als eine Enteignung, ja als Veräußerung der eigenen Geschichte; die Amerikaner hätten, schrieb er , »mit Holocaust uns Geschichte weggenommen«.  wurde sein im fiktiven Hunsrückdorf Schabbach spielender Gegenentwurf Heimat ausgestrahlt: als Plädoyer für die Beachtung der komplizierten historischen Konstellationen vor Ort. Die Geschichte der durchaus zahlreichen jüdischen Bevölkerung im Hunsrück spielte dabei kaum eine Rolle. Während in Schabbach der Holocaust weit weg schien, setzte das, was man als neue kritische Heimatgeschichte der Geschichtswerkstätten, Schülerwettbewerbe und Oral-History-Projekte bezeichnen könnte, Impulse für die Thematisierung und Erforschung des Nationalsozialismus. Man denke nur an das in der ersten Hälfte der er Jahre durchgeführte Projekt Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet (LUSiR),  Zu Weimar ausführlicher Maubach (); vgl. auch den Beitrag von Martin Sabrow in diesem Band.  Vgl. Clark ().  Vgl. Bösch ().  Das Zitat: Reitz (), S. , dazu Emmerich (), S.  ff.

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in dessen Rahmen eine Forschergruppe um Lutz Niethammer Hunderte Interviews mit Arbeitern im Ruhrgebiet führte, die sich weit widersprüchlicher und affirmativer an den Nationalsozialismus erinnerten, als es die linksbewegten Historiker und Historikerinnen erwartet hatten. Eher abstrakten Vorstellungen vom deutschen Geschichtsverlauf wurde die Aneignung jener konkreten Vergangenheiten entgegengesetzt, die man vor der eigenen Haustür fand. Dabei traten immer wieder herausfordernde Ambivalenzen zutage – ähnlich wie die Preußenausstellung im Gropius-Bau die Aufmerksamkeit auf das Gestapo-Gelände nebenan gelenkt hatte. All diese gesellschaftlichen Verhandlungen waren produktiv, weil sie widersprüchlich waren. Mehr als je zuvor seit Kriegsende waren verschiedene Geschichten gleichzeitig präsent, standen im Widerstreit und traten in Konkurrenz zueinander, ein Prozess, der sich in den er Jahren – man denke nur an die Debatten über die Deutschen als Opfer von Luftkrieg und Vertreibung oder an die »Aufarbeitung« der DDR-Diktatur – noch zuspitzen sollte. Zugleich wurzelten in den geschichtsversessenen er Jahren neue teleologische Meistererzählungen; vom Bedürfnis nach Normalisierung bis zur »Erfolgsgeschichte« war es kein weiter Weg.

Schluss In der formativen Phase der er Jahre etablierten sich neue Formen des Geschichtsdiskurses, die über die Zäsur von / hinaus relevant blieben und bis heute wirksam sind. Verschiedene Zeitphasen und Epochen vor  – Preußen ist dafür das prototypische Beispiel – beanspruchten, nach eigenem Recht und in ihrer Vielfalt wahrgenommen und erzählt zu werden. Geschichte wurde pluralistischer, allerdings wuchs auch die Gefahr einer Relativierung des Nationalsozialismus, vor der Skeptiker wie Hans-Ulrich Wehler immer wieder warnten. Im Rückblick zeigt sich allerdings, dass das gesellschaftliche Wissen über den Nationalsozialismus keineswegs ab-, sondern im Gegenteil zunahm. Auch für die Behandlung der Geschichte des Nationalsozialismus wie seiner Aus- und Nachwirkungen stellen die er Jahre eine wesentliche Schwellenphase dar.

 Vgl. hier nur den ersten Band: Niethammer ().  Mit Blick auf die Preußenrenaissance vgl. Wehler ().

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Am Ende steht ein paradoxer Befund: Auf der einen Seite entstand im Zuge der neuen historischen Selbstverständigung ein Bewusstsein für die ambivalente Vielfalt der Ereignisse und Epochen, Akteure und Entwicklungen. Nicht zufällig entwickelte sich zeitgenössisch das Genre der Geschichtsmontage, das Ereignisse eher willkürlich dokumentierte statt diachron deutete. Protagonisten dieser Darstellungstechnik waren Walter Kempowski oder Alexander Kluge, der  mit dem avantgardistischen Dokudrama Die Patriotin Zuschauer und Zuschauerin mit einem verwirrenden Reigen historischer Ereignisse konfrontierte. Indes: Die postmoderne Vieldeutigkeit, die Feier von Ambivalenz und offenen Enden, die Betonung von historischer Kontingenz und der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« waren Projekte einer intellektuellen Avantgarde und für die Allgemeinheit, wenn überhaupt, eher schwer verdaulich. Auf der anderen Seite verstärkte die Hyperpräsenz von Geschichte das binnenwissenschaftliche wie gesellschaftliche Bedürfnis nach orientierenden Synthesen. Das Genre einer neu entdeckten Nationalgeschichte, das nach der Vereinigung boomte, hat hier seinen Ursprung. Man denke nur an die ab  bei Siedler erscheinende Prachtbandreihe Die Deutschen und ihre Nation, der sich viele weitere Beispiele an die Seite stellen ließen. In diesen Gesamtdarstellungen wich die Betonung einer offenen Geschichte wieder einer stärker abgeschlossenen nationalen Erfolgserzählung. Die deutsche Geschichte wurde in die große Erzählung der liberalen Demokratien westlicher Provenienz eingeschrieben – zwar war der Weg dorthin länger gewesen, aber angekommen war man doch. Dabei wurden die normativen Grundlagen der Demokratiegeschichte kaum kritisch hinterfragt und die historischen Herausforderungen liberaler Demokratien nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Gerade die zugespitzte Krisenlage seit dem Ende der er Jahre hatte ja dazu geführt, dass der Versuch, Nationalgeschichte neuerlich als Ressource der Identitätsstiftung zu verstehen, verfangen hatte. Fast könnte man meinen, dass die in der Zeit um  wurzelnde, nach / breit rezipierte Erfolgsgeschichte als Deckerzählung fungierte, die ihren krisenhaften Anlass überformte und vergessen machte. Dort, wo diese Darstellungen teleologischen Erzählweisen allzu glatt folgten, reduzierten sie die grundlegenden Ambivalenzen und Diskontinuitäten, die vielleicht gerade das Signum der deutschen Geschichte sind. Sich der »ganzen«  Als Erstes veröffentlicht wurde der Band zur Geschichte Weimars: Schulze (). Den Band zum Kaiserreich schrieb Stürmer ().  Vgl. Wolfrum ().  Vgl. hier nur Winkler () sowie die Einführung zu diesem Band.

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Geschichte zu stellen bedeutete beides: eine fundamentale Öffnung der Epochen und Gegenstände wie den Versuch ihrer Ordnung. Daran darf erinnert werden, wenn es jetzt darum geht, die Erfolgs- und Demokratiegeschichte aus einer kritischen Perspektive zu revidieren. Vielleicht wird die Kunst weniger darin bestehen, eine ganz neue Erzählung der deutschen Geschichte zu präsentieren, als darin, Krisen- und Erfolgsgeschichte in einer möglichst komplexen Synthese zu vereinen.

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Vollendung des Projekts?

Stolz, Scham und Wut DDR-Erzählungen durch die Zeiten D W

Im April  besuchten Lutz Niethammer, Alexander von Plato und ich die Industriestädte Karl-Marx-Stadt, Bitterfeld und Eisenhüttenstadt, um dort mit Arbeitern der Geburtsjahrgänge  bis  lebensgeschichtliche Interviews zu führen. Wir kehrten auf unseren Visa bis zum Jahresende mehrmals zurück und zeichneten mit Unterstützung (und unter der Aufsicht) unserer DDR-Kollegen Jörn Schütrumpf, Peter Hübner, Jochen Czerny, Dagmar Semmelmann und Petra Clemens am Ende fast  Lebensgeschichten auf, die wir abends im Interhotel oder Arbeiterbettenhaus teilweise mit den DDR-Historikern besprachen und in den folgenden Jahren bei diversen Treffen in Ost und West systematischer diskutierten. Keiner von uns erwartete, dass die DDR Ende  zusammenbrechen würde, obwohl Lutz Niethammer  einen nachdenklichen Artikel geschrieben hatte, in dem er auf den Umstand aufmerksam machte, dass der antifaschistische Aufbaumythos der frühen DDR ein generationsspezifisches Phänomen war, das unter den Bedingungen der realen DDR in den folgenden Generationen nicht nur seine Wirkung verloren, sondern auch bei den Älteren angesichts politischer, ökonomischer und ökologischer Krisen zunehmend zu einer Desillusionierung geführt hatte. Auch in den Interviews wurde spätestens am Ende der Lebensgeschichte die aktuelle Situation freimütig kommentiert, wenn vor allem industrielle Leitungskader über den erschöpfenden Kampf gegen den täglichen Stress bei der Durchsetzung der Jahrespläne, die fehlenden Materialien, die zusammengebrochene Technik und den aggressiven Unwillen der Arbeiter klagten – ein Stress, der bei vielen zur freiwilligen Versetzung auf eine niedrigere Hierarchiestufe geführt hatte. Die Unmöglichkeit, »gute Arbeit« zu leisten – wegen Materialmangels und veralteter Technik –, war Thema der Produktionsarbeiter, und viele Frauen waren durch  Vgl. Niethammer/Plato/Wierling (); Der Band enthält eine Auswahl von Porträts, welche die Bandbreite unserer Interviews widerspiegelt.  Vgl. Niethammer (), S. -; ebenfalls veröffentlicht in Lüdtke (), S. -; neu abgedruckt in Niethammer ().  Lüdtke ().

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ihre Mehrfachbelastung bei unzuverlässigem Warenangebot überfordert, während die Schattenwirtschaft blühte, die Verfügung über sogenannte »Originalwährung« (= Westgeld) klassische Schichtgrenzen durchkreuzte und von vielen die sozialpolitischen Befriedungsgesetze gnadenlos genutzt wurden, weil jeder Glaube an ein sinnvolles persönliches Engagement für das gemeinsame Ganze, die DDR, verschwunden war. Vergleichsmaßstab war  nicht nur der Westen oder der andere Osten, sondern auch die eigene Geschichte, die anstrengende, aber interessante Aufbauarbeit in den er Jahren, die beginnende Konsumgesellschaft der er Jahre sowie die »guten« er Jahre, als Neubauten entstanden, Kinderkrippen und Babyjahre den Müttern das Leben erleichterten und zu den Feiertagen verlässlich Südfrüchte zu kaufen waren. Was immer der . Parteitag der SED  verkündet hatte und was immer die offiziellen Statistiken die Welt glauben machten: An der Basis und bei der Stasi wusste man, was los war, und auch die aufmerksamen DDRHistoriker, die abends mit uns ungarischen Weißwein tranken, schwankten zwischen Trauer, Hoffnung und Zynismus. Die DDR war nicht mehr zu retten, aber das schien zugleich unvorstellbar.

Die »Wende«: Leipzig Anfang der er Jahre Im April  ging ich nach Leipzig und blieb dort bis Ende . Hier sollte ich die erneute Befragung möglichst vieler unserer Interviewpartner von  organisieren; hier führte ich auch den größten Teil der lebensgeschichtlichen Interviews, die später die Grundlage für mein Buch über den Geburtsjahrgang  bilden sollten. Was das erste Projekt anging, so scheiterte es auf interessante Weise: Nur ein sehr kleiner Teil  Mary Fulbrook hat in ihren Arbeiten zur Gesellschaftsgeschichte der DDR immer wieder auf dieses vordergründig unpolitische Meckern (»grumbling culture«) verwiesen; vgl. Fulbrook (). Der Titel der deutschen Übersetzung – Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR (Fulbrook ) – verweist direkter auf diese Kultur und rief übrigens beträchtliche Kritik wegen vermeintlicher Verharmlosung der DDR hervor. Auch wir waren  erstaunt über die Offenheit, mit der unsere Interviewpartner sich zu den Versorgungsmissständen und der maroden Infrastruktur äußerten; vgl. z. B. im Portrait des -jährigen Produktionsleiters Siegfried Homann (pseud.) in: Niethammer (), S. , bes. S.  ff.  Vgl. Wierling (); die erste Anregung dazu kam von Lutz Niethammer, was ich merkwürdigerweise im Buch zu erwähnen vergaß. Es soll deshalb zumindest an dieser Stelle nachgeholt werden.

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der vormals Interviewten war zu einem Zweitinterview bereit – typischerweise Mitglieder der Blockparteien, Bürgerliche und ein Pfarrer. In anderen Worten: Menschen, die hofften, ihre »DDR-Biografien« glaubwürdig mit den neuen Anforderungen an eine »Wendebiografie« verknüpfen zu können. Die SED-Mitglieder, aber auch die unpolitischen Arbeiter und kleinen Angestellten reagierten nicht auf unsere Anfrage oder ließen sich durch ihre Kinder entschuldigen. Sie hatten jetzt andere Sorgen. Diejenigen aber, die sich auf ein erneutes Interview einließen, erzählten, entgegen unserer naiven Erwartung und trotz der radikalen Veränderung des gesamten Rahmens, im Kern dieselbe Geschichte wie wenige Jahre zuvor. Hier ging es um biografische Sinnbildung, die nicht einfach durch ein politisches Datum obsolet geworden war. An den ern interessierte mich, wie Menschen, die ihr gesamtes Leben in der DDR verbracht hatten und sich in der Mitte des Lebens befanden, als diese »verschwand«, über ihre Erfahrung sprachen, zum Beispiel über »«. Paula Bernau (pseud.) erzählte, sie sei im Sommer  aus der SED ausgetreten und habe später im Herbst an den Leipziger Montagsdemonstrationen teilgenommen. »Die ganze Atmosphäre und so« sei wunderbar gewesen, aber »das muss man erlebt haben«. Und fast entschuldigend fügte sie hinzu: »Es hat ja niemand gewusst (lacht verlegen), was auf uns zukommt.« Als die Mauer geöffnet wurde, ist sie »nicht gleich in den Westen gefahren. […] Theoretisch war’s nicht möglich. Also theoretisch schon, aber nicht praktisch. […] Naja, der Drang war sicher da, um das mal zu sehen, irgendwie. Es war ja eine andere Welt für uns, die bis dahin verschlossen war und wir praktisch nur vom Fernseher her kannten […]. Und in der Nacht der Maueröffnung selber, was haben Sie da für Gefühle gehabt? Eigentlich, würde ich sagen, nur positive. Dazumal. Dazumal !« Viele erzählten schon  über den Rausch des Novembers , als lägen die Ereignisse Jahrzehnte zurück, als gehörten sie einer ganz anderen Zeit an – anno dazumal! Während die Euphorie dieser Tage in Fernsehbildern immer weiter am Leben gehalten wird, wurde »« von vielen Ostdeutschen schon wenig später als ein Moment der Ahnungslosigkeit und der Täuschung über die unmittelbaren Folgen erzählt, mit denen sie noch nicht fertig geworden waren:  hatten Frau Bernau und ihr Mann sich scheiden lassen, die gemeinsame Wohnung aber behalten.  wurde die Robotron-Abteilung ihres Mannes in den Westen  Vgl. Wierling (), S. -.  Zit. nach Wierling (), S.  f.

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verlegt, wo er seitdem arbeitete. Sie selbst hätte als Sachbearbeiterin in ihrem Betrieb bleiben können, kündigte aber, eingeschüchtert von den neuen Anforderungen. Das gesamte Ersparte und Umgetauschte ging in ein West-Auto. Plötzlich wieder aufeinander angewiesen, heirateten sie nochmal, aber das hat »nichts genützt. Die Probleme sind die gleichen geblieben. Wie gesagt nur ich bin finanziell gesichert. Das ist das Einzige.« Auf »« angesprochen, erzählt Bärbel Johnas (pseud.) nicht vom Herbst, sondern vom Januar dieses Jahres, als sie mit ihrer Schwester eine Tante im Westen besuchen durfte. »Das war nun, also das war ein Moment, das kann man eigentlich gar nicht schildern, ja? Das war so über-, überströmt und so, so, also, das ist so ergreifend irgendwie, wenn man sich die ganzen Jahre nicht gesehen hat und bloß immer den Briefverkehr miteinander hatte. Ja, da gab’s eben viel zu erzählen, ja? […] Also es war, es war (lacht) anstrengend aber so beeindruckend, ja? Ich glaube, das werde ich nie vergessen, die, die Phase […]. Also das, das ist gar nicht so, dass man sagt, Ost – West so, hier so getrennt. Nee. Wir waren irgendwie wie eine Familie, ja? Das war wie so ne Euphorie, kann man wirklich – es war ne Euphorie. Und es war ne glückliche, schöne Zeit. Man wusste ja auch nicht, was uns bevorsteht.« Auf die Frage nach dem . November  antwortete sie merkwürdig verhalten: »Ach es war eigentlich schön. Ich hab mich gefreut, dass wir, dass die Mauer sich, der Eiserne Vorhang war hässlich. Das, das fand ich wirklich belastend. Ja, mein Mann, muss ich sagen, hat sich eigentlich auch gefreut. Ich meine, was nun im Detail auf uns zukam, das konnte man ja damals – dass es nicht einfach wird, war klar. Aber in dem Moment, wo die Mauer fiel, war ich eigentlich glücklich.« Das wiederholte »eigentlich« ist nicht nur eine Form der Distanzierung und Einschränkung, nachdem man ja nun weiß, »was auf einen zukam«. Es ist auch der Versuch, sich doch daran zu erinnern. Wenn auch die Fernsehbilder die Stimmung auf den unfassbaren »Wahnsinn« des Moments verkürzen, lohnt sich die Vergegenwärtigung einer euphorischen Phase, in der zwei Erfahrungen die Menschen überwältigten: die Erfahrung der Angstfreiheit, eines plötzlichen Selbstbewusstseins gegenüber denjenigen, die einen bis dahin beherrscht, missachtet, benutzt, gedemütigt und eingeschüchtert hatten – was für eine Befreiung, jetzt  Ebd., S. . Da sie unter den neuen Bedingungen des westdeutschen Scheidungsgesetzes heirateten, hatte Frau Bernau höhere Versorgungsansprüche an ihren Mann. Was ihn motivierte, bleibt unklar.  Zit. nach Wierling (), S.  f.

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selbst die Straße zu beherrschen, Achtung verlangen zu können, selbstbewusst Forderungen zu stellen, seine Würde wiedergewonnen, seine Angst verloren zu haben – Wahnsinn. Und zweitens die unerwartete Erfahrung, plötzlich ins Offene gelangt zu sein, wo man Wünsche, Pläne, Ansprüche geltend machen konnte, um sein Leben vollständig zu ändern; wo man Biografien neu planen, Beziehungen entwickeln, Zukunft gestalten konnte – Wahnsinn. Ein kurzer Herbst der Befreiung, der Ermächtigung, des Stolzes, der Würde und des Glücks. In den Jahren , ,  konnte »« nicht mehr erzählt werden, wie es erlebt worden war. Das war als Gefühl und Erfahrung überlagert von ökonomisch begründeten Ängsten, sozialen und Verhaltensunsicherheiten und neuer Kränkung durch eine Macht, die – in der Wahrnehmung vieler Ostdeutscher (und auch einiger Westdeutscher) – oft fast nahtlos an die Stelle der alten getreten war, wenn sie sich auch anders legitimierte. Auf die Frage an meine Interviewpartner/innen des Jahrgangs , worauf sie, die jetzt Anfang  waren, stolz seien, hatten alle eine ähnliche Antwort, zum Beispiel Marianne Bader (pseud.): »Besonders stolz bin ich auf meine zwei Kinder. Und – eigentlich auch auf meinen Garten und auf mein Häusel. Das haben wir beide selber gebaut, mit eigenen Händen. Da bin ich also, da bin ich stolz drauf.« Es geht darum, zu zeigen, was man vorzuweisen hat als Bilanz von  Jahren, und fast alle nennen ihre Kinder. Frau Baders »Häusel«, das sie mit ihrem Mann und ihren eigenen Händen baute, ist zwar »eigentlich« nur eine Datsche, aber wer in der DDR lebte, weiß, was für eine Leistung darin steckte. Frau Bader erzählt auch, sie habe, in der Nacht bevor sie mit ihrem Mann das erste Mal in den Westen fuhr, geträumt, »dass ich unten war in, in meinem Garten und da kam der Kohl, ja? […] Da kam der Kohl, und da hat er gesagt, ›das muss man alles wegmachen, das zählt alles nichts, was ihr hier gemacht habt.‹ Ich sag, ›na Mensch, wir können doch nicht alles wegmachen, das Häusel kann doch stehen bleiben, so schlecht ist es doch nicht !‹ Und da hab ich mich mit ihm rumgestritten. Und haben Sie gewonnen? Jaja. (Sohn: Hast ihn rausgeschmissen!) Ja. Ich sage, ›Ihr dürft nicht alles, was, was gut war, könnt Ihr nicht alles‹ – das hab ich eben dann so eingebracht.« Offensichtlich hat Frau Bader den Traum mit ihrer ganzen Familie geteilt, und es kann durchaus sein, dass er im Zuge des Erzählens an Klarheit, Glätte und Entschlossenheit gewonnen hat. Aber darum geht es hier nicht. Die Traumerzählung verweist auf den Anfang der er Jahre weit geteilten Wunsch, angesichts des scheinbaren Scheiterns nicht nur der DDR, sondern auch der eigenen Biografien auf eine Lebensleistung 259

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zu verweisen, die man unter widrigen Bedingungen erreicht hatte und die man nun in die Auseinandersetzung mit den Westdeutschen »einbringen« wollte – verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung ihrer beruflichen Leistungen, der Familie, eines bescheidenen Wohlstands, all dessen, worauf sie »eigentlich« stolz waren.

Retrospektive DDR-Identifikation und »Ostalgie« Die meisten Menschen möchten eine Geschichte über sich und ihr Leben erzählen, mit der sie selbst gut leben können. Eine solche Geschichte ist gut, wenn sie von einem gelungenen Leben berichten kann. Der Wunsch, ein solch gelungenes Leben zu erzählen, stellte allerdings für Menschen, die in der DDR aufgewachsen waren, in den er Jahren eine besondere Herausforderung dar. Sofort bildeten sich ja zwei gegensätzliche, allerdings stark aufeinander bezogene und sich wechselseitig verstärkende Erzählungen heraus. Die eine war eine öffentliche, überwiegend von Westdeutschen, aber auch von Dissidenten der DDR formulierte Deutung, die vor allem auf das völlige Scheitern und den repressiven Charakter der SED-Diktatur abzielte; die andere Erzählung entstand innerhalb der ostdeutschen Mehrheitsgesellschaft und entwarf ein Bild der DDR, das sich auf die dort garantierte soziale Sicherheit und erfahrene Gemeinschaft berief und mit immer neuen Details und in immer neuen Varianten zu einer populären Deutung und Erzählung führte, die dann bald als »Ostalgie« charakterisiert wurde. Die Forschungserfahrung von  zur »Volkseigenen Erfahrung« half uns, diesen Trend schon zu erkennen, als die Verachtung der materiellen Kultur der DDR durch ihre Bewohner (die sogenannte, allerdings sehr kurze »Müllphase«) und die Massenauswanderung nach Westen gleich nach der Maueröffnung von vielen Westdeutschen zunächst als Beweis für das völlige Fehlen einer inneren Bindung der Ostdeutschen an die DDR gedeutet wurden. Zur Frage nach einer spezifischen DDR-Identität war nämlich schon früh eine neue, retrospektive »Trotz-Identität« zu bemerken, wobei es nicht nur um das trotzige Bestehen auf einer »DDR-Identität« nach dem Zusammenbruch des Staates ging, sondern auch darum, eine Erzählung zu entwickeln, die es erlaubte, das in der DDR gelebte Le Vgl. Wierling (), S.  ff., zudem Kapitel »Bilanzen«, Zitate Frau Bader S.  f.  Vgl. Ahbe ().  Vgl. Hessler ().

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ben gegen Vorwürfe ebenso wie gegen herablassendes Mitleid als lebenswert und lohnend zu verteidigen. Wie konnte man unter diesen Rahmenbedingungen eine persönliche Geschichte – füreinander und für den »Westen« – entwickeln, die nicht nur sozial, sondern auch für einen selbst akzeptabel war? Zwar erzählten Interviewpartner in Projekten zur DDR-Erfahrung ihr Leben immer als eine Mischung aus guten und schlechten Erfahrungen. Ein »gutes« Leben erzählen heißt nämlich nicht nur über Gutes sprechen, sondern auch über Anstrengungen, Ergebnisse, Glück (im doppelten Sinn von Glück gehabt zu haben und glücklich geworden zu sein). Wurde aber nicht das »Glück« in der DDR im Westen als der zweifelhafte Anspruch auf ein »richtiges Leben im Falschen« gedeutet? Allerdings gibt es in jeder Lebensgeschichte Grenzen des Erzählbaren – Erfahrungen, über die zu sprechen unbedingt vermieden wird, auf die auch keine versteckten Hinweise gegeben werden. Am Beispiel von DDR-Geschichten stellt sich die Frage: Gibt es eine allgemeinere Kategorie solcher Erfahrungen, über die nicht oder nur sehr ungern gesprochen wird? Obwohl nach meiner Kenntnis systematische empirische Forschungen dazu nicht vorliegen, möchte ich auf der Grundlage von eigenen und anderen Erfahrungen mit autobiografischen Erzählungen eine mögliche Antwort auf diese Frage vorschlagen. Sie lautet, dass solche Erzählungen vermieden werden, die mit Erfahrungen von Schwäche, Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Verletzung der persönlichen Würde und Integrität verbunden sind. Auf die narrativen Strategien, solche Erzählungen zu vermeiden, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Stattdessen konzentriere ich mich im Folgenden auf den sich dahinter verbergenden Erfahrungstyp, und zwar insbesondere im Hinblick auf das Leben in der DDR.

 Vgl. Wierling ().  Vgl. Adorno (), S. ; zur Geschichte dieses »besonders strengen und dichten« Satzes vgl. die unterhaltsame Analyse von Mittelmeier ().  Dazu ist ein Beitrag für einen Band in Vorbereitung, der auf eine Tagung im April  am Historischen Kolleg München zurückgeht; Kolloquium Professor Dr. Monica Rüthers: Gute Erinnerungen an böse Zeiten – Nostalgie in »posttotalitären« Erinnerungsdiskursen, https://www.historischeskolleg.de/veranstal tungen//gute-erinnerungen-an-boese-zeiten-nostalgie-in-posttotalitaerenerinnerungsdiskursen-nach--und-.html (..).

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Beschämung und Scham An dieser Stelle möchte ich die Kategorie der »Scham« einführen. Im Deutschen ist der Begriff mehrfach besetzt: einmal als Scham infolge von Schuld – man schämt sich einer Normverletzung; zum Zweiten als Scham angesichts der unerwünschten Aufmerksamkeit, dem auf das Ich gerichteten Blick, der verlegen macht; und schließlich die Scham, die aus der Beschämung, der Herabsetzung und Demütigung durch ein Gegenüber entsteht. In jeder Form ist Scham ein als extrem unangenehm empfundenes Gefühl, das durch die als negativ wahrgenommene Konfrontation des Ichs mit seiner menschlichen Umwelt – einem einzelnen Gegenüber oder einer Gruppe beziehungsweise Öffentlichkeit – hervorgerufen wird. Deshalb haben sich alle Wissenschaften vom Menschen mit dem Phänomen befasst, wobei die Geschichtswissenschaft der Scham erst seit Kurzem systematischere Reflexionen widmet. Georg Simmel hat  einen ersten Versuch über die »Psychologie der Scham« gewagt und darauf aufmerksam gemacht, dass Scham ein starkes Bewusstsein über das Ich voraussetzt, das sich der Aufmerksamkeit, des (kritischen) Blicks der anderen schmerzlich bewusst ist.  entwickelte die amerikanische Ethnologin Ruth Benedict eine einflussreiche Theorie, die recht grob zwischen Schuld- und Schamkulturen unterschied, wobei erstere einer Gesellschaft der Individualität zugeordnet wurden, in welcher der Einzelne die moralischen Normen internalisiert hat und über seine Normverletzung autonom reflektieren kann – nämlich als persönliche Schuld. Demgegenüber seien Schamkulturen, so die These, typisch für vormoderne oder autoritäre Systeme, in denen eine hohe Außenkontrolle existiert und nur die Konfrontation mit dem Urteil anderer Schuldgefühle und Scham – als Angst vor sozialer Ächtung – auslöse. Solche klaren Zuordnungen sind allerdings empirisch unhaltbar. Sie vernachlässigen völlig jenes Selbst-Bewusstsein, auf das Simmel aufmerksam machte und das ja gerade auf der Verletzbarkeit des individuellen Ichs beruht, weil es die sozialen Normen verinnerlicht hat. Jenseits der SchuldScham gibt es aber eben auch die aus Demütigung entstehende Scham, die als Beschämung, als Angriff auf die eigene Würde wahrgenommen wird.  Vgl. Frevert (); ebenso die Ausstellung im Deutschen Hygienemuseum Dresden zu »Scham.  Gründe, rot zu werden«, November  – Juli .  Vgl. Simmel ().  Ruth Benedict entwickelte ihr Konzept der »Schamkultur« im Gegensatz zum Westen am Beispiel Japans; vgl. die deutsche Übersetzung der amerikanischen Veröffentlichung von : Benedict ().

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Diese Scham hat nichts damit zu tun, dass man einen anderen, eine Gemeinschaft oder eine Pflicht verletzt hat, sondern dass man selbst verletzt wurde und das aus einer Position von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein hat zulassen müssen. Die Scham vergewaltigter Frauen oder von Folteropfern entsteht aus der mit diesen Verbrechen verbundenen psychischen Gewalt als Vernichtung der inneren Person. Bei dieser Scham geht es um die Verletzung des Ichs durch Herabwürdigung, Verachtung, Respektlosigkeit und deren öffentliche Zurschaustellung. Es handelt sich um einen totalen Angriff auf die persönliche Integrität. Diese Erfahrung stellt sich nicht nur in jenen extremen Fällen ein, die ich hier zur Erläuterung skizziert habe. Vielmehr nimmt sie oft die gewaltlose und scheinbar harmlose Form der bloßen Anpassung an eine Machtinstanz an, des freiwilligen Mitmachens oder sogar der Teilhabe an der Macht, von der Beschämung ausgeht. In seinem Roman Der Lärm der Zeit hat Julian Barnes über die Erfahrungen des Komponisten Schostakowitsch in der Sowjetunion zwischen  und den er Jahren geschrieben.  lebte Schostakowitsch in der »schlimmsten Zeit«, in der er zu Recht fürchtete, demnächst verhaftet zu werden – das sichere Todesurteil. Aber , als er außer Gefahr war, erkannte er, dass eigentlich »dies die schlimmste Zeit« war, in der er sich Stalin unterwarf, und damit die Lebensgefahr gebannt hatte. Die »allerschlimmsten« Zeiten aber waren die er Jahre, in denen er seine politische Karriere machte und als Funktionär in den Westen reisen durfte, wo er linientreue Reden hielt. Zwar handelt es sich hier um die Charakterisierungen des (amerikanischen) Autors, die dieser seinem Protagonisten unterstellt – aber sie verweisen auf den Umstand, dass die Scham – als Selbstverletzung – umso größer wird, je mehr sich der Einzelne scheinbar selbst entmachtet, sich als innerlich Unterworfener äußerlich einordnet und seine Würde damit quasi freiwillig aufgibt. Auch der indische Kulturphilosoph und Psychologe Ashis Nandy hat Demütigung als Erfahrung einer Verletzung analysiert, deren Gelingen davon abhängig ist, dass der Betroffene sie überhaupt bemerkt, dass also dessen (An-)Erkennung und damit Duldung der Demütigung die Voraussetzung für deren Gelingen ist. Nandy hat diese Überlegungen bezogen auf das koloniale und postkoloniale Indien entwickelt, also weniger mit Bezug auf dramatische Einzelerlebnisse als auf gesellschaftliche Strukturen, in denen Demütigung und Beschämung in geringer  Barnes (), S.  (»this was the worst time«), S.  (»this was the worst time«), S.  (»this was the worst time ever«).  Vgl. Nandy ().

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Dosierung, aber dauerhaft erlebt werden. Auch diese scheinbar harmlosen Erfahrungen aber hinterlassen Narben, die als Scham langfristig schmerzen. Im sozialen Akt des Erzählens wird das Sprechen über Demütigungen in der Regel deshalb vermieden, weil im Kommunizieren darüber die ursprüngliche Beschämung zwangsläufig aktualisiert wird.  brachte die Zeitschrift Psychosozial ihr erstes Heft zum Thema »Abschied von der DDR« heraus. Darin erschien ein Artikel der Psychoanalytiker Hans Becker und Sophinette Becker mit dem merkwürdigen Titel Die Wiedervereinigung der Schuld . Im Kommentar der Autoren zu den Demonstranten in der DDR unmittelbar nach dem Mauerfall ging es aber um etwas anderes: »Die Heftigkeit des nicht differenzierten Hasses auf die Stasi und alle ›Roten‹ […] entspricht dem Ausmaß von Scham, das bei denen besonders groß ist, die sich bei gleichzeitig tiefsitzendem, zum Teil noch aus dem NS stammenden Antikommunismus, so aktiv und kritiklos an den real existierenden Sozialismus angepasst hatten.« Und der Leipziger Rezensent des Heftes, Thomas Ahbe, fügte dem ein Zitat Wolf Biermanns hinzu, der  über seine Landsleute urteilte: »Wer  Jahre lang alles schluckte, spuckt jetzt endlich mal große Töne. Brave Bürger, die zur sogenannten Wahl gingen wie Kälber am Strick, brüllen jetzt wie Löwen. Nach Rache schrien die, die sich nie wehrten.« So unangenehm die Arroganz (und oberflächliche historische Erklärung) der Beckers und die Verachtung Biermanns kurz nach dem Mauerfall auffallen, so sehr leuchtet die Diagnose der Scham als Motor der Wutausbrüche kurz nach dem Mauerfall ein. Es geht um die DDR als spezifischen Fall, bei dem eine »Politik der Demütigung« (Ute Frevert) im Alltag funktionierte, sei es durch öffentliche Herabwürdigungen vor Zeugen, Diffamierung durch die Begegnung mit einem mächtigen Gegenüber oder scheinbar aus eigener Unterwerfungsinitiative. Darin liegt – so meine These – auch der Kern dessen, was später im ostalgischen Sprechen erzählerisch überdeckt wurde. »Beschämung« – und in der Folge »Scham« sind für die DDR-Erfahrung zentrale Kategorien, weil es sich hier, anders als im Nationalsozialismus, nicht um ein System gehandelt hat, in dem viele Menschen schuldig geworden sind, denn in der DDR ging es nicht um die Ausführung von Gewaltverbrechen gegen eine bestimmte soziale Gruppe oder ein anderes Volk. Vielmehr handelte    

Einige empirische Beispiele habe ich verarbeitet in Wierling (). Vgl. Becker u. a. (). Ebd., S. . Zitiert bei Ahbe (), S. .

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es sich um einen Staat, dessen Repressionsapparat sich gegen die eigene Bevölkerung richtete. Während die allermeisten Deutschen die nationalsozialistische Diktatur bis weit in den Krieg hinein unterstützten und sich der »Volksgemeinschaft« zugehörig fühlten, gilt für die gesamte Zeit des DDR-Regimes das Gegenteil; Walter Ulbrichts Idee einer »sozialistischen Menschengemeinschaft« entfaltete keine positive Wirkung. Selbst in den besten (er) Jahren konnte sich das Regime der mehrheitlichen Zustimmung seiner Bevölkerung nicht sicher sein. Andererseits hat die SED zu keinem Zeitpunkt ein Unterdrückungssystem ähnlich dem der Sowjetunion installiert, selbst nicht auf dem Höhepunkt des Spätstalinismus der er Jahre. Das Regime hat zwar anfangs auch auf krasse Rituale der Unterwerfung (und damit Beschämung) gesetzt und in den frühen Jahren peinliche Rituale der Selbstkritik erzwungen sowie Praktiken des Zeitungsprangers angewandt. Aber spätestens seit dem Bau der Mauer wurden solche Methoden subtiler, allerdings auch systematischer und verbreiteter – es entstand ein generelles Regime der Beschämung, das unabhängig von oppositionellem Verhalten auf alle, und auf SEDMitglieder sogar in besonderem Maße, angewandt wurde. Die Grundhaltung der Regierung gegenüber ihren Bürgern drückte sich nun in einer Erziehungsdiktatur aus, in der das ganze Volk als ein kollektives, infantiles Objekt pädagogischer Anleitung und Kontrolle imaginiert wurde. Der Schriftsteller Uwe Johnson hat nach seiner Ausreise seine Wahrnehmung der DDR als »strenge Erzieherin« eindrucksvoll beschrieben. Noch Ende der er Jahre erklärte uns eine ältere DDR-Historikerin, auf die bei unseren Interviewpartnern – besonders den Arbeitern unter ihnen – fehlende Identifikation mit dem DDRSozialismus angesprochen, diese bedürften natürlich noch der Erziehung. Überhaupt war »Erziehung« ein zentraler Begriff, mit dem die Machtinstanzen gegenüber dem Volk auftraten. Deren Methoden beruhten weitgehend auf Beschämung. Sie konnte die Form öffentlicher Bloßstellung annehmen: vor dem »Kollektiv«, am Schwarzen Brett, beim schulischen Morgenappell; Eltern mussten sich vor ihrer »Brigade« für die Streiche ihrer Kinder rechtfertigen; die SED verfügte über ein eigenes System parteiinterner Beschämung und Sanktionen. Das hatte nicht nur für diejenigen Folgen, die selbst eine »Rüge« erhielten. Es gehörte dazu ja der erzwungene Verrat, die erpresste Komplizenschaft, die beschämende Entsolidarisierung, wenn das jeweilige Kollektiv der Erziehungsmaß-

 Vgl. Johnson ().

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nahme zustimmen musste. Selbstverpflichtungen, politische Bekenntnisse oder Versprechen – etwa kein Westfernsehen zu konsumieren, dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR zuzustimmen oder den Arbeitsplatz immer sauber zu halten – wurden systematisch erzwungen; sie enthielten nur zum Teil politische Lügen, betrafen aber alle Bereiche des »Lebens im Sozialismus« bis in die Privatsphäre. Auch außerhalb der Staatssicherheit mussten Lehrer und Vorgesetzte über ihre Schüler, Kollegen und Freunde berichten und sie unter Druck setzen. Wenn diese Methoden auch im Laufe der er Jahre immer weniger griffen und insbesondere bei der Arbeiterschaft völlig unwirksam wurden, so waren sie doch während unseres Forschungsaufenthalts  noch deutlich spürbar im Verhalten von Polizisten, Kellnern und Schaffnern; und ebenso in den Erzählungen der frühen er Jahre über »freiwillige« Selbstverpflichtungen und die Verhängung von Parteistrafen. Beschämung war eben nicht nur ein Element der politischen Unterwerfung. Die systematische Infantilisierung hatte breitere Auswirkungen auf die DDR als Gesellschaft und tiefere auf jeden Bürger. Ein großer Teil der Bevölkerung war in das Beschämungssystem aktiv eingebunden, zum Beispiel als staatliche Erzieher von der Kinderkrippe bis zur Universität; andererseits verfügten bestimmte Berufsgruppen situativ über die Macht, dem Einzelnen einen Anspruch zu verweigern oder zu gewähren. Ich selbst erinnere mich an eine Situation im Sommer , als ich während unseres Interviewprojekts ein Wochenende allein im Bitterfelder Interhotel verbrachte und zum Essen an einen Tisch mit zwei jungen Männern gesetzt wurde (bei mehreren freien Tischen), was diese in nicht geringe Verlegenheit versetzte. Einer von ihnen steckte sich eine  Auch Schüler wurden angehalten, öffentlich Kritik und Selbstkritik zu üben. Dazu forderte zum Beispiel Mitte der er Jahre Helmut Preisler in einem Gedicht direkt auf. In diesem beschuldigt der Kipper Manfed K., ein »Bummelant«, seinen Freund, dass dieser vor Jahren geschwiegen habe, als K. von der Brigade »sein dreckiges Innen« und seine »lumpige Seele« vorgeworfen wurde. »Damals warf ich ihm vor, dass er sich scheute, mich zu verteidigen; heut’ werf ’ ich ihm vor, dass er sich scheute, mich anzuklagen. Aber ich werfe ihm heute wie damals vor, dass er neutral blieb«; zit. nach Bauer (), S.  f.; zit. bei Wierling (), S. .  Diese Angstfreiheit der Arbeiterschaft, die von der DDR nichts wollte, aber vieles fordern konnte, machte sie für Intellektuelle, die normalerweise unter erheblichen politischen Zwängen arbeiteten und lebten, besonders attraktiv. Das spiegelt sich u. a. in den großen Dokumentarfilmen der er Jahre, z. B. der Wittstock-Serie, wider; vgl. Volker Koepp: Der Wittstock-Zyklus, -, sieben Filme, hrsg. v. Ralf Schenk .

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Zigarette an und klopfte die Asche in die von der Packung abgezogene Cellophanhülle, als der ebenfalls junge Kellner kam und diesen Gast in unfreundlich herablassendem Ton aufforderte, dafür gefälligst einen Aschenbecher zu benutzen, den er allerdings nicht zur Verfügung stellte. Anstatt sich darüber nun zu beklagen, versuchte der beschämte Gast, seine Zigarette irgendwie auszudrücken. Wir schwiegen. Am folgenden Tag erfuhr ich von der jungen Frau an der Rezeption, der betreffende Kellner stehe im Moment selbst unter Druck, da er einen Ausreiseantrag gestellt habe und seitdem von seinen Vorgesetzten besonders schlecht behandelt werde. Beschämungserfahrungen konnten sich also fortsetzen, indem der Beschämte die Kränkung bei nächster Gelegenheit an einen anderen weitergab. Dieses System gesellschaftlicher Entsolidarisierung wurde noch durch den Umstand verschärft, dass gewohnte beziehungsweise erwartbare soziale Hierarchien nur begrenzt Geltung hatten und dass die situativen Vorteile, die man über andere hatte, quer zur sozialen Schichtung liegen konnten. Die Verfügung über Westgeld oder der Zugang zu knappen Gütern schufen Ansehen und Macht – und auf der Gegenseite Abhängigkeit und Kränkung.

Dresden : »Wir sind das Volk« Als sich im Jahr  die sogenannten Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) formierten, skandierten sie auf ihren Dresdener »Spaziergängen« unter anderem den Slogan »Wir sind das Volk«. Das löste, neben der allgemeinen Verurteilung der politischen Ziele dieser fremdenfeindlichen Gruppierung, besondere Empörung aus. »Wir sind das Volk!« hatten die Leipziger Demonstranten anfänglich gerufen und damit ihren Anspruch auf demokratische Teilhabe lautstark angemeldet. Nach dem Fall der Mauer war dieser Ruf allmählich von dem Slogan »Wir sind ein Volk« abgelöst worden, wobei es auf den Leipziger Montagsdemonstrationen darüber auch zu Konflikten und gegenseitigem Niederschreien gekommen war. Der Wechsel von einem »Wir« zum andern wurde und wird allgemein mit den Veränderungen in der Volksstimmung der DDR gleichgesetzt, die von dem Wunsch einer kleinen oppositionellen Minderheit, die einen reformierten und demokratisierten Sozialismus anstrebte, zur mehrheitsfähigen Option der Wiedervereinigung überging. Die Tatsache, dass  Jahre später diese erste, demokratische Drohung gegen das SED-Regime vom Wutgeschrei einer rechtsextremen »Bewegung« aufgegriffen wurde und sich an eine demokratisch gewählte Regie267

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rung, insbesondere an deren Spitze (»Merkel muss weg!«), richtete, wurde häufig als illegitime Aneignung, Anmaßung und Missbrauch kritisiert, so als hätten die Demonstranten vom Herbst  das copyright auf den Slogan. Tatsächlich ist der Volksbegriff von Anfang an mehrdeutig gewesen: Er bezeichnete sowohl das Volk als Staatsbürger, das »einfache Volk« im Gegensatz zu den »gebildeten Schichten«, das revolutionäre Volk im Kampf um die Macht als auch das ethnisch homogene Volk im Sinne der völkischen Bewegung. In allen Nutzungsformen war das »Volk«, wenn auch in unterschiedlicher Richtung, normativ aufgeladen. Im Pegida-/AfD-Zusammenhang ist es gerade die Mehrdeutigkeit des Slogans, die ihn so wirksam gemacht hat – und zwar sowohl bei den Anhängern als Instrument der Vergemeinschaftung als auch bei den Adressaten als bedrohliche Waffe. Obwohl kein Zweifel bestehen kann, dass der völkische Aspekt dabei eine Rolle spielt, so wirkt der Spruch auch als Wiederaufführung jener Demonstrationen von , deren »Wir« sich gegen einen übermächtigen Staat, gegen Entmündigung und Missachtung durch die SED richtete. Mit der Wiedernutzung des Slogans wird nicht nur die »Merkel-Regierung« mit der SED-Herrschaft gleichgesetzt, sondern eine gesamte politische Klasse, welche die Interessen und Sorgen des »Volkes« ebenfalls missachtet; an sie richtet sich die Drohung, dass auch ihre Tage gezählt sind. Es bringt offensichtlich wenig, die Demonstranten belehren zu wollen, dass Merkel nicht Honecker und die westdeutsche politische Klasse nicht die sozialistische Dienstklasse der DDR sind. Was mich hier interessiert, ist die Wirkung dieser »Aufführung« auf die Akteure selbst: das Spiel mit der Drohung, dass die damalige sogenannte friedliche Revolution noch nicht vollendet ist, dass die Kränkungen und die Wut von damals noch nicht überwunden, sondern im Zuge der »Transformationskrise« weiter genährt worden sind und dass die unermüdliche und aufwändige Geschichtspolitik zur DDR  hatten dagegen zwei rechtsradikale Norderstedter – zunächst erfolgreich – beantragt, den Slogan als Marke (WSDV) schützen zu lassen. Daraufhin klagte die Stadt Leipzig, ebenfalls erfolgreich, sodass der Spruch wieder »Allgemeingut« wurde; vgl. Susanne Kailitz: Wir sind das Volk! Wem gehört der famose Schlachtruf von ? Wie die Revolution ein Fall für das deutsche Patent- und Markenamt wurde, in: Zeit online, .., https://www.zeit.de///montagsdemonstration-schlachtruf-patent (..).  Zum gegenwärtigen Wortfeld »Volk« knapp und klug vgl. Wildt ().  Zur Rolle und Bedeutung der AfD in Ostdeutschland und deren Grundlage in den Transformationserfahrungen der er Jahre siehe die Diskussion zwischen Jana Hensel und Wolfgang Engler in: Engler u. a. (), S. -.

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Vergangenheit ohne entsprechende Erfahrungsgrundlage nichts gebracht hat. Anfang Juni  lancierte die Bundesregierung eine Presseerklärung zum -jährigen Jubiläum der »friedlichen Revolution«. Darin wurde der »Mut der Bürgerrechtsbewegung gewürdigt«, die gleich darauf mit der gesamten DDR-Bevölkerung gleichgesetzt wurde: »Die Bürger in der DDR« verdienten »Wertschätzung« für dieses »Jahrhundertereignis«; um dann unbestimmter zu folgern, »unser Land« schulde »den Mutigen in der DDR Respekt und Dank«. Der Versuch, mithilfe der »Friedlichen Revolution« (mit großem »F« zum erinnerungspolitisch geschützten Markenzeichen gemacht) den Stolz, das Selbstbewusstsein und damit die Zustimmung der Ostdeutschen aufzubauen, muss aber scheitern, solange die realen Verlust- und Verletzungserfahrungen im Zuge der Transformation nicht anerkannt werden und zugleich der öffentliche Diskurs über den zunehmenden Rechtsextremismus diesen oft fast ausschließlich in Ostdeutschland verortet und in diesem Kontext bewertet. Selbstverständlich darf die Tatsache, dass »Pegida« nirgendwo so große Auftritte hatte wie in Dresden und die AfD im Osten  Vgl. auch Frei/Maubach/Morina/Tändler (), bes. Einführung und Kapitel : »Wir sind das Volk!« Demokratie und Polarisierung im vereinigten Deutschland, S. -; dort wird auch auf andere »Wiederaufnahmen« verwiesen, wie z. B. die Montagsdemonstrationen als Protest gegen die sozialpolitischen »Agenda-«-Maßnahmen der Großen Koalition.  dpa-Meldung vom . Juni , zit. nach: »Bundestag würdigt friedliche Revolution in der DDR«, in: SZ online, .., https://www.sueddeutsche.de/ politik/bundestag-berlin-bundestag-wuerdigt-friedliche-revolution-in-der-ddrdpa.urn-newsml-dpa-com---- (..). Die Meldung beruhte auf einem längeren Antrag der Regierungsparteien, in dem immer wieder vom »Mut« der DDR-Bürger die Rede ist sowie von der »Anerkennung« und »Würdigung«, die ihnen dafür zukommt. Das Dokument schließt mit einem umfangreichen Maßnahmenplan sowohl zur Wiedergutmachung für Opfer der SED-Diktatur als auch zur politischen Bildung und zum Gedenken an die DDR und ihr Ende; vgl. dazu Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD.  Jahre Friedliche Revolution, in: Deutscher Bundestag.  Wahlperiode – Drucksache / vom .., http://dipbt.bundestag.de/doc/ btd///.pdf (..).  Die sogenannte Transformationsforschung in Bezug auf die Post-DDR-Gesellschaft steckt noch in den Anfängen. Dabei geht es um mehr als um die Geschichte der »Treuhand«. Zu den diversen Forschungsfragen und laufenden Projekten sowie Versuchen der Konzeptionalisierung vgl. zeitgeschichte-online, .., https://zeitgeschichte-online.de/thematische-klassifikation/trans formation?page= (..).

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deutlich stärker vertreten ist als in Gesamtdeutschland, nicht ignoriert werden. Allerdings gilt es, die besonderen gesellschaftlichen und historischen Umstände zu analysieren und nicht einfach in einer Haltung der Verachtung zu verharren, die in Ostdeutschland eine lange Vorgeschichte hat: die Erfahrung von Unterwerfung, beschämender Anpassung und Komplizenschaft sowie offener Missachtung durch die Mächtigen dreier politischer und ökonomischer Regime – Nationalsozialismus und Krieg, sowjetische Besatzung und SED-Herrschaft, aber auch die Überführung in kapitalistische Wirtschaft und parlamentarische Demokratie, die zwar für alle Bürgerrechte und ökonomische Verbesserung brachten, aber für viele schmerzhafte biografische Brüche, den Zerfall sozialer Netzwerke und die Erfahrung von Ohnmacht und langfristiger Zweitklassigkeit in einem Land, das nun angeblich auch ihres war. Auch dagegen richtet sich der Ruf »Wir sind das Volk!«. Eine Zeitlang bestand Hoffnung, dass das Problem sich bald erledigen könnte. Eine Sozialanalyse der Pegida-Teilnehmer zeigte , dass die Altersgruppe der über -Jährigen mehr als die Hälfte der Demonstranten ausmachte: eine deutliche Verschiebung seit dem Beginn der Demonstrationen ein Jahr zuvor, zu Ungunsten der Jüngeren. Ein Viertel der Demonstranten waren Rentner. Das heißt aber auch, dass eine Mehrheit der Demonstranten (unterstellt, dass sie alle aus Ostdeutschland stammten) ihre Kindheit, Jugend und einen Teil ihres Erwachsenenlebens noch in der DDR verbracht hatte, dass ihre Eltern im Nationalsozialismus aufgewachsen waren und den Krieg und die Besatzungszeit als junge Menschen bewusst erlebt hatten; und dass die Demonstranten selbst als Erwachsene und Erwerbstätige von der Transformationskrise betroffen waren. Diese Befunde verweisen zumindest auf eine lange Vorgeschichte. Die Tatsache allerdings, dass bei den Landtagswahlen in Thüringen im Herbst  die AfD vor allem bei jüngeren Wählern punkten konnte, heißt, dass wir uns auch auf eine lange Nachgeschichte einstellen müssen.  Vgl. dazu die Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführt wurde und ergab, dass sich noch immer ein Drittel der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse versteht, während dies nur von weniger als einem Fünftel der Westdeutschen anerkannt wird. Ostdeutsche sehen sich damit auf einer Stufe mit eingewanderten Muslimen, während Westdeutsche beide Gruppen abwerten, dies jedoch bei Muslimen stärker als Problem anerkennen; vgl. Foroutan u. a. ().  Vgl. Institut für Demokratieforschung Georg-August-Universität Göttingen (), S. .

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Die »aktuelle Verfassungslage« im April  M S

Am . April  fand im damaligen Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts, Berlin, Hardenbergstraße , eine »Sondertagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer« statt. Es war eine ungewöhnliche Veranstaltung, nicht nur, weil der jährliche Rhythmus der Tagungen – stets Anfang Oktober – unterbrochen wurde, sondern auch durch den direkten politischen Bezug, dokumentiert zudem durch die Anwesenheit des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Traditionell verhandelte die Vereinigung Anfang Oktober ein grundsätzliches staatsrechtliches und verwaltungsrechtliches Thema mit je zwei Referenten, die fast ein Jahr lang Zeit hatten, sich vorzubereiten. Hiervon konnte nun keine Rede sein. Der Münchner Staats- und Steuerrechtler Klaus Vogel () hatte am . November  – einen Tag nach der Öffnung der Grenze, als sich Tausende Ost- und Westdeutsche in den Armen lagen – die Initiative ergriffen und mit den Kollegen des Vorstands (Volkmar Götz, Göttingen, und Hans-Jürgen Papier, Bielefeld) beschlossen, diese Sondertagung einzuberufen. Wie richtig und wichtig dies aus der Sicht des Vorstands war, erschließt sich sofort, wenn man sich die Dramatik der internationalen und nationalen Ereignisse seit  noch einmal in Erinnerung ruft: Am . Mai  öffnete sich der »Eiserne Vorhang« in Ungarn. Die DDR geriet zunehmend unter Druck, und von Seiten der UdSSR unter Michail Gorbatschow wurde sie alleingelassen. Ein »Prag « sollte sich nicht wiederholen. In Leipzig begannen die Montagsdemonstrationen, Bürgerbewegungen entstanden, am . Oktober  trat Erich Honecker zurück, kurz darauf das gesamte Politbüro der SED und die Regierung Stoph. Am . November öffnete sich die innerdeutsche Grenze, veranlasst wohl ein wenig durch Ungeschick der Ansage, primär aber durch die evidente Schwäche des SED-Regimes. Nun wurden die Takte immer schneller. Die Rufe nach Freiheit und Selbstbestimmung wandelten sich in Rufe nach Wiedervereinigung. Ein Verfassungsentwurf für die DDR, verfasst vom »Runden Tisch« (. März ), verblasste alsbald. Die DDR war nicht zu halten. Eine Woche später (. März) gewann ein konservatives Parteienbündnis unter Führung der westlichen CDU die Wahlen zur DDR-Volkskammer. Lothar de Maizière (CDU) wurde Ministerpräsident (. April ). 271

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Bis zu diesem Punkt waren die Dinge also gediehen, als man sich am . April  in Berlin traf. Wie es weitergehen sollte, wusste man nicht genau, aber die Richtung war durch die Volkskammerwahlen deutlich zu erkennen. Das Ende der Staatlichkeit der DDR war besiegelt. Alle Überlegungen zu einer wie immer gearteten deutsch-deutschen »Konföderation« verloren ihren Sinn. Die am . Mai  tagende Zwei-plusvier-Konferenz in Bonn wurde gerade vorbereitet, ebenso der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, mit dessen Annahme die Würfel für ein Ende der DDR eigentlich schon gefallen waren. Am . August  fand die Unterzeichnung des Einigungsvertrags statt, am . Oktober schließlich trat die DDR der Bundesrepublik nach Art.  Grundgesetz bei. Die Berliner Tagung kennzeichnet also eine Schwebelage – Ende April – mit einem fast schon als gewiss erwarteten und mehrheitlich erhofften Ausgang. Die Spannung war hoch. Jeder im Raum spürte das. Man konzentrierte sich auf die Vorträge, die ganz der Frage gewidmet sein sollten, was aktuell zu tun sei, welche Bindungen des Völkerrechts und des Europarechts es gebe und welche Wege der Vereinigung vom Grundgesetz möglich oder geboten seien. Deshalb folgte auch die Auswahl der vier Referenten einer erfolgsorientierten Sicht. Es sollten im internationalen Recht, Staats- und Europarecht erfahrene Kollegen sein, politisch gleichsam im mittleren regierungsfreundlichen Segment. Sie sollten dasjenige öffentlich verhandeln, worüber man sich aber in der Regierung und in Kontakten zu einzelnen Staatsrechtslehrern hinter den Kulissen schon einigermaßen einig war. Dass man keine Staatsrechtslehrer beiziehen sollte, die Richter am Bundesverfassungsgericht waren, erschien selbstverständlich; denn es war nicht abzusehen, ob nicht die sich überstürzenden Ereignisse später zu Verfassungsstreitigkeiten führen konnten. Rollenkonflikte waren also tunlichst zu vermeiden. Auch erklärte Gegner der Wiedervereinigung, Befürworter einer »Konföderation«, Mitwirkende am »Runden Tisch« oder auch nur Kollegen mit dezidierten Vorbehalten gegen eine Vereinigung kamen nicht in Frage. Denn die tragende Stimmung, von Josef Isensee treffend formuliert, war eine in Fachsprache gekleidete große Freude, dass die »Wiedervereinigung«, auf die man so lange gewartet hatte, nun endlich greifbar nahe war. Westdeutschland sollte bereit sein, den Beitritt  Aus dem . Senat wäre theoretisch neben dem Präsidenten Roman Herzog nur Dieter Grimm in Frage gekommen, aus dem . Senat Ernst Wolfgang Böckenförde, Paul Kirchhof und Hans Hugo Klein.

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der DDR rasch zu ermöglichen, um der Menschen willen und möglichst unter Vermeidung internationaler Verwicklungen. Das lag im Sinne des lange verteidigten »Wiedervereinigungsgebots« des Grundgesetzes, war aber auch eine tiefsitzende patriotische Hoffnung der älteren Generation, die Krieg und Nachkriegszeit miterlebt hatte. Ihr – und auch mir selbst – war die deutsche Teilung stets als »widernatürlich« erschienen. Darzustellen und mit Handlungsanweisungen zu versehen war also das aus westlicher Sicht verfassungsrechtlich Machbare. Dafür waren Erfahrungen auf internationalem Parkett ebenso erwünscht wie ausgewogene Positionen in der Mitte, zwar nicht zwingend in der erklärten Nähe zur amtierenden Regierung unter Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl, aber bestimmt nicht außerhalb des Konsenses, wie er sich im damaligen Gedränge internationaler Kontakte abzeichnete. Zeit war nicht zu verlieren. In diesem Sinne war die Auswahl der Referenten aus der Sicht des Vorstands der Vereinigung der Staatsrechtslehrer nicht überraschend. Jochen A. Frowein (Heidelberg) vertrat als Direktor am Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht die weithin anerkannte Kompetenz im internationalen Recht. Josef Isensee (Bonn), intellektuell herausragender Stimmführer des konservativen Flügels, und sein Kollege Christian Tomuschat (Bonn), wie Frowein ein weltweit anerkannter Völkerrechtler, widmeten sich den staatsrechtlichen Kernfragen, für Tomuschat wohl eher ungewohnt, denn ein spezieller Exeget der Art.  und  GG war er nicht. Das war allerdings niemand; denn beide Artikel des Grundgesetzes waren bis dahin kaum beachtet worden. Der Völkerrechtler Albrecht Randelzhofer (Berlin) schließlich hatte im Grundgesetzkommentar Maunz-Dürig-Herzog-Scholz die Kommentierung des alten Art.  GG von Theodor Maunz () übernommen und sie, zusammen mit der Kommentierung des neuen Art. a GG, modernisiert. Auch die Kommentierung des Art.  GG von Maunz () setzte er fort. Er war also zwar kein genuiner Europarechtler, aber vertraut mit den Fragen der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die europäische Ebene – und bekennend konservativ. Im Ergebnis sprachen also drei Professoren, die im Schwerpunkt Völkerrechtler waren, während Isensee den wichtigsten staatsrechtlichen Akzent setzte. Schon in der Anlage des Ganzen ging es also um argumentative Hilfestellung für die Bundesregierung, deren Kanzler Helmut Kohl dabei war, einen Zipfel des »Mantels der Geschichte«, sozusagen eine säkularisierte Schwundform des »Mantels Gottes«, zu ergreifen.  Stamm-Kuhlmann (), S. -, bes. S. . Vgl. auch Bahners (); Sittner ().

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Jochen A. Frowein legte die längst zur herrschenden Meinung gewordene These vom Fortbestand der juristischen Person des Deutschen Reiches seit / in Form der Bundesrepublik zugrunde. Die Entstehung der DDR und ihre stufenweise Verselbstständigung bis hin zur Aufnahme beider deutschen Staaten in die Vereinten Nationen deutete er nun als versuchte und letztlich misslungene Abtrennung (Sezession) von dieser juristischen Staatsperson. Auch Isensee sah es so. Man hätte dagegen den fiktiven Charakter der Fortbestandsthese, die gesamte Vertragspolitik der Bundesrepublik seit , die nationale und internationale Anerkennung der DDR und die Herausbildung besonderer deutscher zwischenstaatlicher Beziehungen ins Feld führen können, aber nun, angesichts des Zusammenbruchs der SED und des von ihr beherrschten Staates, spielte dies keine Rolle mehr. International erwartet und durch die westlichen Alliierten auch von Anfang an festgelegt war der erhoffte Übergang zu einem freiheitlichen, demokratischen Modell. Völkerrechtlich trennte Frowein nun diejenigen Materien, bei denen die sogenannten alliierten Vorbehaltsrechte bedeutsam waren, von denjenigen, die der innerdeutschen Souveränität unterlagen. Die Vorbehaltsrechte würden mit der Wiedervereinigung entfallen. Zum Fortbestand der Oder-Neiße-Grenze sollten beruhigende Erklärungen abgegeben werden, die unterschiedliche Fortgeltung der völkerrechtlichen Verträge von Bundesrepublik und DDR sei zu beachten, und zwar so, dass diejenigen der Bundesrepublik sich auf das gesamte Territorium erstreckten, während die Vertragsbindungen der DDR (mit Ausnahme der sogenannten radizierten Verträge) erlöschen würden. Wirtschaftsbezogene Verträge der DDR seien schonend abzuwickeln, Schulden der DDR würden übernommen – das waren deutliche diplomatische Hinweise nach Osten: Am Geld sollte es nicht scheitern! In der momentan wichtigsten Frage, welchen Weg man verfassungsrechtlich bei der Wiedervereinigung einzuschlagen habe, tendierte Frowein zu einer Kombination von Art.  und  GG. Auch eine Volksabstimmung nach dem Beitritt zugunsten des Grundgesetzes wäre wünschenswert. Isensee jedoch, um dies vorweg zu sagen, widersprach der Kombination von Art.  und  GG verfassungspositivistisch überzeugend; denn Art.  führe zu einer territorialen Ausdehnung der westlichen Verfassung, während Art.  eine neue, gemeinsam geschaffene Verfassung im Auge habe. Man könne dem Art.  nicht den Art.  »draufsatteln«. Spätere Änderungen sollten über Art.  GG erfolgen, also gebremst durch den stärksten Filter der doppelten Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat. 274

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Insofern setzte sich also die Position Isensees durch, die sich mit derjenigen der Bundesregierung deckte. Mit suggestiver Rhetorik akzentuierte dieser den »Nationalstaat« sowie die im Grundgesetz und von der herrschenden Meinung festgehaltene einheitliche Staatsangehörigkeit (Art.  GG). Die von der DDR geschaffene eigene Staatsangehörigkeit wurde nun gewissermaßen überrollt durch die westdeutsche, stets als »gesamtdeutsche« festgehaltene Position, nicht zuletzt vom Bundesverfassungsgericht. Isensees gedanklicher Ausgangspunkt war und ist der Staat, die primäre ordnungschaffende Institution, die erst im zweiten Schritt als Verfassungsstaat Gewaltenteilung, Rechtsstaat und demokratische Mitgestaltung realisieren könne. Staatseinheit rangiere (zeitlich und faktisch) vor Verfassungseinheit. Dieser »Staat« ist Nationalstaat, im deutschen Fall nach  gespalten in jene zwei »Teilvölker«, die nun wieder zueinanderfinden und zusammen die »staatsethische Solidareinheit der Nation« als »Fundament der staatsorganisatorischen Entscheidungs- und Handlungseinheit« bilden. Dieser Rückgriff auf eine staatsethische Solidareinheit, die trotz aller zwischenzeitlichen Anerkennung der Staatlichkeit der DDR gewissermaßen freischwebend vorhanden war, erinnerte im Duktus an das leidenschaftliche Tübinger Plädoyer Günter Dürigs von  für eine transpersonale »objektive geistige Tradition«, die es zwingend erscheinen lasse, ein »Kontinuum der Einheit Deutschlands« trotz des vorübergehenden Zusammenbruchs der Staatlichkeit und der fortdauernden Teilung anzunehmen. Nun war die Lage  freilich eine andere. Die Wiedervereinigung wurde greifbar, die Fortbestandslehre, um die  noch gerungen wurde, war längst akzeptiert. Deshalb ging es für Isensee eigentlich nur um den konkreten verfassungsrechtlichen Weg, also um die Entscheidung über »Beitritt« (Art.  GG) oder eine den Einigungsprozess abschließende neue Verfassung mit Zustimmung aller Deutschen (Art.  GG).

 Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom . Februar  i. Vb. m. Art.  Abs.  DDR-Verfassung v. . April  i. d. F. v. . Oktober .  Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL)  (): »Deutschlands aktuelle Verfassungslage«. Darin: Leitsätze des . Berichterstatters (Josef Isensee) über: Deutschlands aktuelle Verfassungslage – Staatseinheit und Verfassungskontinuität, S. -, hier Leitsatz . Auf diesen Band, der alle hier aufgeführten Zitate enthält, sei für das Folgende verwiesen.  Isensee, Leitsatz , ebd.  Dürig (), S. -.

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In dieser Frage nach dem »Weg« optierte Isensee für Art.  GG und nur für diesen. Dazu räumte er geschickt alle argumentativen Schwierigkeiten beiseite: Da ein in sich identischer (West-)Staat bestehe, der eine anerkannte Verfassung habe, bedürfe es keiner neuen, gemeindeutsch beschlossenen Verfassung, wie sie Art.  voraussetze. Eine Nationalversammlung bedeute Zeitverlust und, wichtiger noch, die prinzipielle Infragestellung einer Verfassung, die sich in vier Jahrzehnten als austarierte Rechtsform einer freiheitlichen Demokratie bewährt habe. Es komme also nur auf eine Erweiterung des Geltungsbereichs des Grundgesetzes an. Das gewährleiste eine Verfassungskontinuität, zu der auch der Diskussions- und Reflexionsbestand von vier Jahrzehnten Verfassungsrechtsprechung gehöre. Auch ein »förmliches Verfassungsplebiszit« sei überflüssig; denn für die Zustimmung genüge das (in der Tat klar genug ausgefallene) Wahlergebnis zur letzten Volkskammerwahl, auch wenn eine entsprechend begründete Motivation der Wähler unbekannt sei. Ein Referendum wäre insoweit »selbstzweckhafte Akklamation«, die nicht integriere, sondern »destabilisiere«. Belege für diese Sicht gab es freilich nicht. Wegen der unterschiedlichen Ausrichtung der Art.  und  könne man, so Isensee, »Beitritt« und Volksabstimmung auch nicht kombinieren. Insofern genüge es, den alten Schlusssatz der Präambel zu streichen, ebenso den durch Erfüllung leer gewordenen Art.  – eine deutliche Botschaft an das Ausland, dass an weitere »Beitritte« früherer deutscher Gebiete nicht mehr zu denken sei. Den Vorschlag auch einer Streichung von Art.  GG begründete Isensee damit, künftige Verfassungsänderungen könnten wieder den Weg des Art.  GG gehen; denn würde man den Art.  GG offenhalten, verlöre das GG »seine bisherige normative Kraft«. Nun hatte auch bisher Art.  GG seine normative Kraft nicht verloren, aber diese Kraft kam, wie Isensee mit Recht sagte, aus der in der Vergangenheit nicht erloschenen Hoffnung auf die Wiedervereinigung. Werde diese aber erreicht, könne Art.  GG gestrichen werden. Diese Position, immer wieder literarisch bekräftigt, war  Das Argument, Art.  GG sei mit dem Beitritt des Saarlandes  konsumiert und funktionslos geworden, ließ sich von vornherein wegen des Wortlauts nicht halten. Vgl. Maunz (), Rdnr.  ff.  Isensee, Leitsatz  b (wie Anm. ).  Das . Änderungsgesetz des Grundgesetzes reagierte mit Wirkung vom . September  hierauf, indem es durch einen eingeschobenen Relativsatz die Geltung des Grundgesetzes nach der erreichten »Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk« bestätigte, aber zugleich den

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Ausdruck des Wunsches, die Beitrittsfrage rasch zu lösen, aber auch jede Möglichkeit einer Revision des Grundgesetzes durch »linke« Kräfte (Vertreter der ehemaligen SED, neuer linker Gruppen, »Runder Tische«, aber auch Teile der westdeutschen SPD) zu verschließen. Das entsprach der Überzeugung der Regierungskoalition, aber auch weiten Teilen der öffentlichen Meinung in West und Ost, die auf rasche, wirtschaftlich wirksame Maßnahmen drängten und eine denkbare »Nationalversammlung« zur Formulierung eines neuen Grundgesetzes überflüssig fanden. Isensees Fazit, changierend zwischen Normauslegung und politischem Statement, lautete demnach: Was die DDR einbringe, sei unvereinbar mit dem Grundgesetz. Empfohlen werde der Beitritt der DDR nach Art.  GG, ohne Bekräftigung durch Plebiszite, ohne Offenhaltung einer großen Verfassungsreform nach Art.  GG, ohne gleichzeitige Änderungen des Grundgesetzes in Detailfragen. Alles könne später diskutiert und erledigt werden, vor allem auch durch Einbeziehung der künftigen Bundesländer. Auffällig ist dabei, dass Isensee gleichwohl schon damals als Postulat einstreute, es solle auch keine Rückgewährund Entschädigungsansprüche wegen früherer rechtswidriger Enteignungen geben – eine Frage, die später noch viel Unruhe und Erbitterung schaffen sollte. Tomuschat konzentrierte sich als dritter Redner ganz auf die genannten beiden Wege des Verfassungsrechts, die Wiedervereinigung zu verwirklichen. Hypothetisch erwog er auch noch einen weiteren Weg, falls eine Blockade eintrete; in diesem Fall wäre es denkbar gewesen, einen Staatsvertrag zu schließen und diesen von beiden Parlamenten billigen zu lassen. Auch eine deutsch-deutsche Konföderation sei denkbar, oder auch nur ein Beharren auf der gerade vereinbarten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Diese Spielarten eines »dritten Weges« erwähnte er jedoch nur, um sie sogleich beiseitezulegen; denn sichtlich lief alles auf die Frage der Wege nach Art.  oder  GG hinaus. Weg einer irgendwann zu beschließenden neuen Verfassung offenhielt. Siehe hierzu die Kommentierung durch Dreier (a), Rdnr. ,  ff.  In dieser Richtung sogar die Behauptung der Nichtigkeit der DDR-Verfassung, ausgenommen die staatsorganisatorischen Teile: Josef Isensee, Wenn im Streit über den Weg das Ziel verlorengeht, in: FAZ, ... In dieser Richtung auch Hans H. Klein: Die Verfassung der DDR ist obsolet, in: FAZ, ...  BVerfGE , - ( BvR / und BvR /) vom ... Anders in der darauffolgenden Debatte nur Michael Sachs.  Ernst-Wolfgang Böckenförde/Dieter Grimm: Nachdenken über Deutschland, in: Der Spiegel, .., S.  ff.

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Tomuschat favorisierte dabei von Anfang an Art.  GG, und zwar in Form eines Beitritts der gesamten DDR. Einzelne (neu oder »wieder« zu errichtende) Länder könnten es zwar theoretisch auch sein, aber nur im Gesamtakt, nicht als Alleingänge gegen den Willen der Volkskammer der DDR. Die Gebiete östlich von Oder und Neiße kamen nicht in Betracht, ebenso wenig eine separate Behandlung von Berlin. Auch eine dem Beitritt vorhergehende Anpassung der DDR-Verfassung an die Standards des Grundgesetzes sei überflüssig. Das Grundgesetz werde sich nach dem Beitritt schon »durchsetzen«. Der Beitritt erfolge freiwillig und müsse dies auch. Von »Anschluß« oder »Vereinnahmung« zu reden sei »töricht« und zeuge von »arger Verwirrung in Köpfen« – die Fußnote erklärt: »Besonders schlimm in seiner niveaulosen Polemik J. Habermas …«, eine Äußerung, die vielleicht nur der damaligen politischen Anspannung entsprang. Was die Rechtswirkung des Beitritts und die Folgen anging, so explizierte Tomuschat als Völkerrechtler, wie sich der Beitritt nach Art.  GG auf die internationale Vertragslage auswirken werde, was noch an gesetzgeberischen Entscheidungen zu tun sei und wo künftige Probleme liegen könnten. Manches erledigte sich bald darauf von selbst, etwa die Erwartung, die DDR werde einen Katalog von Bedingungen nennen oder es würden Sonderrechte für Länder der DDR geschaffen werden. Auch andere Details des Ablaufs der Wiedervereinigung entwickelten sich unerwartet – kein Wunder angesichts der damaligen politischen Unsicherheiten. In der Frage, ob Art.  oder Art.  GG der richtige Weg sei, entschied sich Tomuschat gegen eine Volksabstimmung, die allenfalls über das Änderungsverfahren des Art.  GG möglich sei. Das war eine wohl nur zur Illustration angeleuchtete Sackgasse. Auch die Kombination von »Beitritt« und anschließender »Volksabstimmung« wurde für »ausgeschlossen« erklärt. Dieser Ausgangslage entsprechend, unterstrich er auch die mit Art.  GG verbundenen Schwierigkeiten, also solche der Fortdauer der innen- und außenpolitischen Doppelstaatlichkeit während der Beratungen einer Nationalversammlung, die Modalitäten der Entscheidungsfindung während der Beratungen sowie einer abschließenden Volksabstimmung. Im Ergebnis also verdiene das Beitrittsmodell den Vorzug. Es vermeide Zeitverlust, und es ermögliche einen fairen Interessenausgleich durch vorgeschaltete Verhandlungen. Alle künftig noch geplanten Verfassungsänderungen könnten später in Ruhe beraten werden, und was dringend sei, könne auch über die normale Verfassungsänderung nach Art.  GG erledigt werden. Dass Letzteres eine enorme 278

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Erschwerung von Veränderungen bedeutete, war allen klar, und man kann sagen, es war auch so gewollt. Albrecht Randelzhofer blieb in der zentralen Frage nach dem verfassungsrechtlichen Weg der Wiedervereinigung auf dieser Linie. Sein Referat spielte die komplexen denkbaren Lösungen auf den Feldern des Europarechts und des Völkerrechts durch. Die Leitfrage, ob die europarechtlichen Bindungen der Bundesrepublik oder gar die Ergebnisse der KSZE-Konferenz die Wiedervereinigung erschweren könnten, verneinte er. Alle externen Bindungen seien zwar als Verhandlungsmasse relevant, nicht jedoch für die nationale Frage der innerdeutschen Einigung. Die völkerrechtliche Einordnung des Vorgangs als Inkorporation präjudizierte dieses Ergebnis, denn in diesem Fall gab es kein neues Rechtssubjekt. Die um die DDR vergrößerte Bundesrepublik bleibe Mitglied der europäischen Gemeinschaften, innerhalb derer es auch keine Stimmenverschiebung geben solle, wie die westdeutsche Politik bereits flankierend erklärt habe. Gewiss habe die Inkorporation der DDR eine Reihe europarechtlicher Folgeprobleme, weil das sozialistische Wirtschaftsmodell umgestellt werden müsse, aber das sei Verhandlungssache nach außen, während im Inneren die Bundesrepublik für Homogenisierung gemäß Art.  GG zu sorgen habe. Am Ende hielten also alle vier Referenten den verfassungsrechtlichen Weg über Art.  GG für gangbar und vorzugswürdig. Alle setzten die Grenzgarantie gegenüber Polen als akzeptiertes Faktum voraus, selbst wenn man meinte sie noch einmal bekräftigen zu müssen, um die entscheidende Frage der Wiedervereinigung nicht zu gefährden. Eine wirkliche Differenz gab es nur insofern, als Frowein als Einziger eine plebiszitäre Bestätigung der Wiedervereinigung befürwortete und mit Art.  GG für kompatibel hielt. Um diese Frage drehte sich auch die folgende Debatte. In ihr wurden viele bekannte Positionen wiederholt, und es zeigten sich implizit parteipolitische Präferenzen. Zu einer offenen Konfrontation kam es aber nur marginal. Darin mag man eine Art professionalisierter Selbstdisziplin sehen, aber es war sicher auch eine Auswirkung des Grundgefühls, man befinde sich in einer präzedenzlosen Situation an einem Wendepunkt der deutschen Geschichte. Gleichwohl enthielten die Wortwechsel Spurenelemente symbolischer Selbstbestätigung und Realitätsferne. Denn man spürte auch, dass der Debatte keine entscheidende Bedeutung zukam. Randelzhofer ließ in seinem Referat durchblicken, die Regierungen der beiden deutschen Staaten beabsichtigten, »die Einheit auf dem Wege des Art.  S.  GG herbeizuführen«. In der Diskussion bestätigte 279

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Winfried Brohm nebenbei, »wahrscheinlich ist die Erörterung des Weges über Art.  eine rein theoretische Frage, weil die politische Entwicklung über Art.  schon angelaufen ist«. Man darf davon ausgehen, dass alle Referenten aufgrund ihrer guten Kontakte zur Bundesregierung dies auch wussten. Die Debattenredner aber waren offenbar weniger informiert. Sie bestätigten zunächst immer wieder die Richtigkeit der »siegreichen« westdeutschen Fortbestandstheorie, die / geschaffene juristische Staatsperson sei über alle Wendepunkte (/, , , , ) in Form der Bundesrepublik identisch geblieben. Dieser Staat komplettiere sich nun wieder durch Aufnahme eines Gebiets, dessen »Sezessionsversuch« gescheitert sei (Oppermann, Doehring, Quaritsch, Rauschning, Ress, Dolzer u. a.). Dadurch änderten sich die »beweglichen Vertragsgrenzen« der Bundesrepublik. Nur Eckart Klein wandte sich gegen die These von den beweglichen Vertragsgrenzen; denn die DDR sei international anerkannte Staatsperson geworden, das Ganze »schreie geradezu nach einem vertraglichen Ausgleich«. Die Mehrheit der völkerrechtlichen Spezialisten plädierte jedoch, national oder realpolitisch gestimmt, für die Inkorporationsthese und erklärte, welchen verfassungsrechtlichen Weg man zur Wiedervereinigung beschreite, sei eine innerdeutsche Angelegenheit, also eine Frage des nationalen Selbstbestimmungsrechts. Die völkerrechtlichen Bindungen der DDR müssten demnach erlöschen, ausgenommen Fälle besonderen Vertrauensschutzes und ihre territorialbezogenen »radizierten« Verträge. Mit der EWG sei ein vertraglicher Ausgleich zu suchen (Ress). Wegen der längst an Polen und an die Sowjetunion gefallenen Gebiete bedürfe es aber noch einer vertraglichen Regelung (Rauschning, E. Klein, Fiedler), andere wollten insoweit nur eine Bestätigung des rechtlich längst Akzeptierten für angebracht halten, ersichtlich aus diplomatischen Gründen in der damaligen prekären Situation (Bothe, Frowein). So blieb die Hauptfrage »wohin mit dem Volk«, »mit welchem Volk« und »wann«? Sollte man sich dem in Art.  GG vorausgesetzten nationalen Plebiszit aussetzen, aller Zeitnot und allen Risiken zum Trotz? Rasch wurde erkennbar, dass die Mehrheit für Art.  GG plädierte (Brohm, Badura, Stern, Scholz, Rudolf, Riedel u. a.). Die Erwägungen dazu waren unterschiedlich – teils, weil sich nun das nationale Selbstbestimmungsrecht durchsetze und die Bevölkerung der DDR ihren Willen in den ersten freien Wahlen ausgedrückt habe, teils wegen der »Einfachheit« dieses Weges unter den Bedingungen des äußeren Drucks, vor allem aber, weil man bei der Öffnung des Weges zu einer verfassungs280

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gebenden Nationalversammlung eine Flut von Änderungswünschen am Grundgesetz befürchtete. Der Blick auf den Verfassungsentwurf des »Runden Tischs« schien das zu bestätigen. Deshalb kam man auch mehrheitlich überein, alle Veränderungswünsche entweder auf die Zukunft (unter den erschwerten Bedingungen des Art.  GG) oder auf die beweglicheren Formen der künftigen östlichen Länderverfassungen zu verweisen (Badura, Stern, Rudolf ). Auch eine zeitlich gestreckte Form der Inkraftsetzung des Grundgesetzes wurde als Milderung der zu erwartenden Härten empfohlen (Burmeister). Demgegenüber plädierten mehrere Teilnehmer für eine Kombination von vorrangigem »Beitritt« (Art. ) und nachfolgender »Volksabstimmung« (Art. ), so etwa Peter Häberle, der allerdings die verfassungsrechtliche Begründung in der Schwebe hielt, aber auch so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Meyer, Murswiek, Kirn, E. Küchenhoff, Lange, Sachs und Steiger. Dabei äußerte sich Hans Meyer mit heftigen, aber in der Diagnose zutreffenden Worten gegen die Mehrheitstendenz, dem Art.  »die Garotte um den Hals zu legen«. Er erkannte in ihr den Willen, »den status quo unserer sozialen Machtverteilung nach dem Grundgesetz festzuschreiben«. Auch Hartmut Maurer hielt eine plebiszitäre Bestätigung des Beitritts nach Art.  für möglich und sinnvoll, denn es beuge späterer Legendenbildung vor. Er »verstehe die Befürchtungen in dieser Hinsicht nicht so richtig«. In dieser Gruppe, die eine plebiszitäre Beteiligung des ganzen deutschen Volkes befürwortete, gab es freilich deutliche Unterschiede. Die einen wollten den raschen Beitritt, aber »dann« entweder eine neue Verfassung, nach einem Staatsvertrag (Lange), oder nach Wahlen und »in Ruhe« (Riedel), oder nur eine Akklamation für die Beibehaltung des (vielleicht etwas modifizierten) Grundgesetzes. Die anderen, die eine neue Verfassung nach dem Muster des »Runden Tisches« und eine Vermeidung des Weges nach Art.  GG für richtig hielten, schwiegen, mit einer Ausnahme (Küchenhoff ). Auch kam die Position nicht zu Wort, Art.  GG sei gar nicht anwendbar, weil es Länder der DDR nicht mehr gebe. Die Politik war hier schon weiter, indem sie die Länder wiederherstellte. Die Theorie erklärte, die Worte »in anderen Teilen Deutschlands« (Art.  GG a. F.) könnten sowohl  Zuvor Häberle (), S.  ff.  Karl Bönninger, Auf vernünftigem Weg zu einer einheitlichen deutschen Rechtsordnung, in: Neues Deutschland, ..; Günter Frankenberg, Die Rechnung soll ohne das Volk gemacht werden, in: Frankfurter Rundschau, ... Zu Karl Bönninger, einem bemerkenswert rechtsstaatlich denkenden Verwaltungsrechtler der DDR, vgl. Stolleis (), bes. S.  f. und passim.

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künftige wiedererstandene Bundesländer als auch die gesamte ehemalige DDR umfassen. Der dritte, dem Europarecht gewidmete Teil der Debatte enthielt zwar viele europafreundliche Feststellungen samt Verhandlungsbereitschaft, aber auch durchweg eine Bestätigung des nationalen Selbstbestimmungsrechts (Kaiser, Hailbronner). Übergangsfristen wurden nahegelegt (Vedder, Pernice). Den europarechtlich-völkerrechtlichen Feststellungen Randelzhofers wurde nicht widersprochen, zumal diese in der Kernfrage des Art.  auch denen der Mehrheit entsprachen. In den vier Abschlussbemerkungen setzte Isensee wiederum deutliche (und in Nebenbemerkungen auch einige scharfe) Akzente. Er wehrte alle aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes begründeten Einwände ab, berief sich – dem Grundempfinden fast aller entsprechend – auf die Konsolidierung des ehemaligen »Provisoriums« durch Praxis und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Art.  GG sei für die Beibehaltung des Grundgesetzes der einzig richtige Weg, weil er der DDR die Freiheit des Beitritts belasse, eines Beitritts vielleicht in abgestufter Form, aber jedenfalls ohne Übernahme von SED-Elementen. Art.  GG sei damit nicht kombinierbar, es sei ein anderer, mühsamerer und riskanterer Weg, bei dem aber letztlich die Deutschen aus der DDR in der Minderheit sein würden – eine Art Wink mit dem Zaunpfahl! Derzeit aber habe sich das (Teil-)»Volk« deutlich genug artikuliert, es gelte, mit der nötigen Virtù im Sinne Machiavellis die flüchtige Fortuna beim Schopf zu ergreifen. Tomuschat schloss sich ihm mit nur geringen Modifikationen an. Er räumte ein, es spreche »verfassungspsychologisch« zwar manches für eine Beteiligung des Volkes, aber dabei erliege man nur dem Mythos der Direktdemokratie. Der Weg über Art.  GG stelle das heutige Grundgesetz in Frage, ja nehme ihm »die normative Kraft«, weil hinter der Akzeptanz des Grundgesetzes dann doch wieder die Vision einer zu schaffenden neuen Verfassung erscheine. Einen Grund für Modifikationen, etwa bei Übergangsproblemen oder der Geltung der Grundrechte, sah er nicht. Randelzhofer reagierte noch einmal auf einzelne völkerrechtliche Einwände, empfahl schonende diplomatische Übergänge, aber vor allem den Weg nach Art.  GG. Demgegenüber wurde nun Frowein, im Anschluss an Hans Meyer, noch etwas deutlicher: Der Weg über Art.  GG schließe den über Art.  GG nicht aus. Eine Gesamtrevision des Grundgesetzes stehe nicht an, doch der Grundgedanke des Art.  lege es in der einzigartigen gegenwärtigen Situation nahe, das Volk zu beteiligen. Es wäre gut, sagte 282

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er, »diese Volksentscheidung, die wir in der Anfangsphase des Grundgesetzes alle vermißt haben und die wir durch die freien Wahlen in der Bundesrepublik für das Volk der Bundesrepublik bestätigt gesehen haben, bei dieser Gelegenheit nachzuholen. Ich habe keine Angst und keine Sorge, die Verfassungsparteien sind anders als in Weimar bei uns durchgängig mehrheitlich vorhanden. Die Verfassung würde damit eindeutig legitimiert.« Damit ging man auseinander. Die Tore des Bundesverwaltungsgerichts schlossen sich wieder. Die meisten waren mit gefestigten Ansichten gekommen und hatten ihre Positionen auch an diesem Tag nicht geändert. Es hatte einen Austausch gegeben, in sehr zivilisierten Formen, an dessen Ende man wissen konnte, dass die Mehrheit der deutschen Staatsrechtslehrer und vor allem die mit höchster Intensität handelnde Politik sich durchsetzen würden. Eine relevant erscheinende Opposition gab es nicht, auch nicht eine solche, die mit dem so oft praktizierten »Gang nach Karlsruhe« drohte. Eine Volksabstimmung fand nicht statt. Es gab sie nicht als Abschluss des Einigungsprozesses und als Zustimmung zu einem von einer Nationalversammlung vorgelegten neuen Grundgesetz. So war es wohl bei der ursprünglichen Formulierung des Art.  erwogen worden, als West und Ost nur provisorisch getrennt schienen. Dass eine gänzlich neue Verfassung weder in kurzer Zeit zu erstellen noch überhaupt notwendig war, leuchtete im April  den meisten ein. Aber es wurde erstaunlicherweise damals auch nicht erwogen, eine im Bundestag und in der Volkskammer der DDR durch ein beiderseits koordiniertes einfaches Gesetz beschlossene Abstimmung dem Volk vorzulegen, und zwar rasch und mit der Frage, ob das Grundgesetz nun als gesamtdeutsche Verfassung in Kraft treten solle. Es wäre dies eine (nur) konsultative Volksbefragung gewesen, die keine rechtliche Bindungswirkung entfaltet, aber wohl doch jenen damals erhofften Zugewinn an Legitimität erbracht hätte. Wäre dies von den »Verfassungsparteien« (Frowein) als gesamtdeutsches »Ja« einmütig unterstützt worden,  Die österreichischen und schweizerischen Mitglieder der Vereinigung der Staatsrechtslehrer beteiligten sich nicht an der Debatte, vermutlich in der zutreffenden Einschätzung, hier werde ein genuin innerdeutsches Problem verhandelt.  Zum Buchtitel erhoben durch Wesel ().  Selbst solche nicht bindenden Befragungen werden auch heute noch für verfassungswidrig gehalten, und zwar mit dem Argument, durch eine konsultative Befragung des Volkswillens werde unzulässiger Druck auf die gewählten Repräsentanten des Volkes ausgeübt; vgl. Krause (), Rdnr. . Anderer Ansicht ist Dreier (a), Rdnr. .

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wäre die Zustimmung in Ost und West auch sicher gewesen, zumal im Schwung der Begeisterung über die nach vier Jahrzehnten Wartezeit und Entbehrungen endlich erreichte Wiedervereinigung. Sicherlich kann man gegen appellative Befragungen manches einwenden, vor allem ihren Missbrauch nach  oder das Argument, man degradiere dadurch den Souverän zum Statisten (Bernhard Schlink), doch hätte eine solche Befragung in der Situation des Jahres  als Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls einer bisher getrennten Nation ein wichtiges verfassungspolitisches Zeichen setzen können, ein symbolisches Siegel gewissermaßen, wichtiger als die bekannten (und notwendigen) materiellen Begleitumstände der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Gewiss, rückblickend mag man zweifeln, ob dieser Akt der plebiszitären Akklamation im Vergleich zu späteren Ereignissen nachhaltige Wirkungen erzeugt hätte. Vermutlich waren die anschließenden Erfahrungen der Ernüchterung, etwa der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, die hohe Arbeitslosigkeit und die Wanderungsbewegung nach Westen, die Verkäufe des »Volksvermögens« durch die Treuhand an zum Teil unsolide Käufer, das Empfinden der »Kolonialisierung« durch den Westen und dessen oft unsensible Vertreter letztlich stärker als jenes erste Staunen und die Glücksempfindungen in der Nacht vom . auf den . November .

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Verfassungsreform und direkte Demokratie im deutsch-deutschen Einigungsprozess T S

Der Zusammenbruch der DDR und die Gestaltung der Wiedervereinigung waren vielleicht noch nie so umstritten wie heute, wo fast dreißig Jahre vergangen sind. Obwohl die ehemaligen Akteure in der geschichtspolitischen Debatte längst mit einer aktengestützten Forschung konkurrieren, hat die jüngste politische Entwicklung dem Thema doch zu ungeahnter Virulenz verholfen: Dazu trugen Dresdener Demonstranten bei, die den er-Ruf »Wir sind das Volk !« jetzt in einen Kontext der fundamentalen und rassistisch grundierten Systemkritik stellten, vor allem aber die Wahlerfolge der rechtspopulistischen AfD. Diese stellt sich inzwischen in die Tradition der Bürgerrechtsbewegung und versucht die Linke als ostdeutsche Regionalpartei zu beerben. Hier wie dort stellen die entsprechenden Kampagnen jenen Mangel an Anerkennung ganz in den Mittelpunkt, der den deutsch-deutschen Einigungsprozess fraglos prägte und der inzwischen auch Zeithistoriker von einer »Übernahme« sprechen lässt. Sozialwissenschaftler gehen noch weiter und analysieren die »kapitalistische Landnahme« in den Begriffen des Kolonialismus – die Treuhandanstalt figuriert dann beispielsweise als »Kolonialbehörde«, die deutschdeutsche Binnenmigration als postkoloniales Phänomen. Kern solcher Analysen ist ein unterkomplexes Bild, das Austausch- und Transferprozesse entweder nur in West-Ost-Richtung konstatiert oder aber unterstellt, dass es eine Phasenverschiebung gegeben habe. So rekonstruiert etwa Philipp Ther einen Prozess der »Co-Transformation«, in dem der ostmitteleuropäische Umbruch von / als Anwendungs- und Experimentierfeld für jene marktradikalen Reformideen hervortritt, die dann erst mit zeitlicher Verzögerung auf den Westen zurückwirkten. Besonders groß sei der zeitliche Abstand in Deutschland gewesen, wo die

 Kowalczuk ().  Tagung: Kolonie Ost? Aspekte von »Kolonialisierung« in Ostdeutschland seit , https://www.hsozkult.de/event/id/termine- (..).

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Wiedervereinigung aus einer Stimmung der westlichen Siegesgewissheit heraus gestaltet worden sei. Im Folgenden soll dies als Ausgangspunkt dienen, um genauer nach Wissens- und Ideentransfers zwischen Ost und West zu fragen. Im Mittelpunkt wird dabei die Debatte über die Reform des Grundgesetzes stehen, in der sich eben nicht nur eine frühzeitige Festlegung auf den weitgehend unveränderten Fortbestand der westdeutschen Ordnung spiegelt. Vielmehr ist von einem weitaus komplexeren Zusammenspiel auszugehen, das hier am Beispiel der direkten Demokratie genauer betrachtet wird. Eine neue Parteienkritik hatte im Verein mit einer Reihe von Skandalen bereits im Laufe der er Jahre dazu beigetragen, dass die Legitimität der westdeutschen Parteiendemokratie schon vor dem Einigungsprozess in Frage stand. Ein populärer Lösungsweg bestand im Ausbau von direkten Partizipationsmöglichkeiten und plebiszitären Verfassungselementen. Ganz gleich, ob man auf die Migrationspolitik, die Familienpolitik oder gar auf die »Krise des Sozialstaats« schaut – die Notwendigkeit grundlegender Strukturreformen war in der Bundesrepublik ab Mitte der er Jahre immer deutlicher sichtbar geworden. So begann das Jahr  für die Regierung Kohl mit einem Weckruf: Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus schickten die Wähler die regierende CDU nicht nur in die Opposition, sondern verhalfen den rechtspopulistischen Republikanern zu elf Mandaten. Franz Schönhubers Partei spielten nicht nur die Themen Asyl und Zuwanderung in die Hände. Sie profilierte sich auch mit einer pauschalen Parteienkritik, deren Popularität ganz unterschiedliche Ursprünge hatte. Neben der abnehmenden Bindekraft der beiden Volksparteien und einer sinkenden Wahlbeteiligung sorgte im Laufe der er Jahre eine besondere Häufung politischer Skandale dafür, dass das Thema in den Fokus rückte: Flick-Affäre, Vetternwirtschaft und Missmanagement bei den Gewerkschaftskonzernen Neue Heimat und Coop, schließlich die Kieler Barschel-Pfeiffer-Affäre. Den Ton der Kritik von rechts hatte Richard von Weizsäcker erstmals im Frühjahr  gesetzt. Vor dem Publikum der Stuttgarter Robert-BoschStiftung sprach er über »Krise und Chance unserer Parteiendemokratie« und argumentierte in weiten Teilen verfassungsrechtlich – die Praktiken der illegalen Parteienfinanzierung, die zu dieser Zeit durch immer neue  Ther (), S. .  Wirsching ().  Frei/Ahrens/Osterloh/Schanetzky (); vgl. die Beiträge in Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ().

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Enthüllungen in der Flick-Affäre bekannt wurden, musste er offenbar mit keinem Wort erwähnen. Und obwohl er betont nüchtern formulierte, enthielt das Manuskript doch einen immer wieder zitierten Satz, der Weizsäckers elitäre Kritik in populistischer Eingängigkeit zusammenfasste: Der Einfluss der Parteien habe sich »fettfleckartig« über »nahezu alle staatlichen Institutionen« ausgebreitet. Andere stießen sich bald darauf an der inhaltlichen Beliebigkeit der Volksparteien, die sich nur noch an dem orientierten, was ihnen von Demoskopen als »Wählerwille vorgehalten« werde. Das mochte vornehmer formuliert gewesen sein, aber im Grunde wurden hier dieselben Ressentiments erkennbar, mit denen bald auch ein Populist wie Franz Schönhuber zu hantieren begann. Wichtiger jedoch war die Kritik von links. Ausdrücklich als »AntiParteien-Partei« gegründet, hatten die Grünen den beiden Volksparteien und der FDP erstmals das Etikett der »Altparteien« angeheftet. Die innerhalb der Neuen Sozialen Bewegungen durchaus umstrittene Parteigründung reflektierte diese Haltung einerseits durch eine ganze Reihe organisatorischer Vorkehrungen, darunter die Trennung von Amt und Mandat und das Rotationsprinzip, das die Amtszeiten begrenzte. Zugleich diente die innerparteiliche Basisdemokratie als Ausgangspunkt für mehr Partizipation in der Gesellschaft: Mehr direkte Demokratie war aus Sicht der Grünen das wirksamste Korrektiv zum Verdruss an illegitimer Parteienmacht. Dies ging auf Überlegungen von Aktivisten zurück, die häufig anthroposophischen Lehren anhingen wie etwa die Gründer der »Aktion Volksentscheid«. Manche fahndeten nach dem »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus; andere fühlten sich eher der Idee einer »sozialen Skulptur« verbunden, wie sie Joseph Beuys und seine Schüler propagierten. Bald jedoch wuchs der Einfluss von Realpolitikern wie dem grünen Bundesgeschäftsführer und späteren Vorstandssprecher Lukas Beckmann. Gemeinsam mit Gerald Häfner und einigen weiteren Bonner Vertrauten gründete er  die »Initiative Demokratie Entwickeln« (IDEE). Das war ein Professionalisierungsschub, weil nun hauptamtliche Lobbystrukturen entstanden, die später in den bis heute aktiven Verein »Mehr Demokratie« münden sollten. Maßgeblich von  Weizsäcker (), S. -; Konrad Adam, »Dazu gibt es keine Alternative«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...  Im Digitalarchiv der FAZ findet sich der Begriff erstmals als Zitat in einer Äußerung von Georg Otto; vgl. »Die GLU will sich gesundschrumpfen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...  Mende (); Mayer/Stüttgen (); Riegel ().  Gründungsprotokoll, .., in: HBS, Beckmann, .

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der Heinrich-Böll-Stiftung finanziert, war IDEE offiziell hingegen eine überparteiliche Einrichtung. Entsprechend distanzierte man sich bald von den schrillen Tönen der »Aktion Volksentscheid«. Diese Seriosität war nützlich, weil sich der Ausbau der direkten Demokratie jetzt zu einer anerkannten Lösung für die Krise der Repräsentation im Parteienstaat und damit zugleich zu einem ernsthaften verfassungspolitischen Projekt zu entwickeln begann. Dass sich damit zugleich ein generationeller Umbruch ankündigte, demonstrierte besonders die SPD. Trotz einer stetigen Annäherung an die Grünen blieb die Partei in den er Jahren zwischen jüngeren Befürwortern der direkten Demokratie und älteren Anhängern des Repräsentativsystems gespalten. Zwar bekannte sich das Grundsatzprogramm vom November  erstmals vorsichtig zu Volksbegehren und -entscheiden. Aber das wichtigere Signal gab die Landespolitik: Seit  regierte die SPD in Schleswig-Holstein mit absoluter Mehrheit, und schon die parlamentarische Aufarbeitung der Barschel-Affäre mündete in den Aufruf, über institutionelle Reformen nachzudenken. Ende Juni  setzte der Kieler Landtag daraufhin eine Enquetekommission ein, die »Möglichkeiten zur wirksamen Kontrolle der Regierung« und zur »verstärkten Beteiligung« der Bürger untersuchen sollte. Im Frühjahr  stand dann ein Kompromiss mit der Opposition: Die neue Landesverfassung ermöglichte ein dreistufiges Volksgesetzgebungsverfahren; auch senkte man die finanziellen und administrativen Hürden der direkten Demokratie. Dabei trat IDEE über einen eigens gegründeten Landesverband als sachkundige Beratungsinstitution auf. Dem grünen Bundestagsabgeordneten Gerald Häfner gelang so das Kunststück, als Sachverständiger von einem Landesparlament gehört zu werden, in dem die Grünen gar nicht vertreten waren. Die Reform der Kieler »Landessatzung« gilt der sozialwissenschaftlichen Literatur heute als wichtige Weichenstellung für den Ausbau der direkten Demokratie – zunächst in den Landesverfassungen der fünf neuen Länder, die zwischen Juni  und Oktober  verabschiedet  HBS, E./, »Macht Stimmvieh Mist«, in: Stern, ..; Mayer an Info, o. D.  Berliner Grundsatzprogramm der SPD, beschlossen am .., Bonn ; vgl. zum Kontext Sturm ().  Kellmann (), S. -.  IDEE Schleswig-Holstein: Kommissionsvorlage, .. (KVorl /, /); Niederschrift Sitzung des Sonderausschusses »Verfassungs- und Parlamentsreform« am ...

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und in Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern anschließend per Verfassungsreferendum angenommen wurden. Wenig später habe diese Reformwelle Ost dann Rückwirkungen auf den alten Westen gehabt, weil nun auch Niedersachsen, Berlin und Hamburg ihre Verfassungen ergänzten oder die praktischen Hürden vorhandener direktdemokratischer Instrumente senkten wie in Bremen, NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz. Wenn dabei sogar die Kieler Reformanstrengungen in einen direkten Zusammenhang zum Einigungsprozess und zu den »Wir sind das Volk«-Rufen gestellt werden – kann dann der Ausbau der direkten Demokratie als Beispiel für einen höchst seltenen Ost-West-Transfer gelten? In Wirklichkeit gestaltete sich das Zusammenspiel weitaus komplizierter, denn mitunter steckte in vermeintlich ostdeutschen Initiativen ein beträchtlicher Anteil westdeutschen Know-hows. Nirgends wurde dies so deutlich wie im »Weimarer Memorandum« vom Herbst , das ein durch und durch westdeutsches Projekt war. Zwei Jahre lang hatten sich Aktivisten aus dem Kontext der »Aktion Volksentscheid« in die DDR-Verfassung vertieft und waren zu dem Schluss gelangt, dass sich die Notwendigkeit zum Aufbau einer Volksgesetzgebung unmittelbar aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Gründungsidee der DDR ergebe. Im Vorfeld des . Republikjubiläums sollten die DDRBürger mit Eingaben an die Volkskammer eine Reformstimmung schaffen. Angesichts der tatsächlichen Entwicklung des Sommers  war die von langer Hand vorbereitete, aber über die Lebenswirklichkeit in der DDR bemerkenswert uninformierte Kampagne dann ohne Realisierungschance. Eigentlich hatte sie über den Umweg des Ostens immer auf die westdeutsche Öffentlichkeit gezielt: Auch über ein Scheitern der Initiative würden Journalisten berichtet haben, und »schon damit wäre ein wichtiger Zweck erreicht gewesen«. Wichtiger für das sozialwissenschaftliche Transferargument sind hingegen die DDR-Bürgerrechtsbewegung und besonders die Verfassungsreformbemühungen des Zentralen Runden Tisches. Bereits in seiner konstituierenden Sitzung vom . Dezember  hatte dieser einen Unterausschuss gebildet, der bis zum Frühjahr  einen Verfassungsentwurf ausarbeitete. Im Mittelpunkt stand dabei zunächst die Frage, wie die DDR-Verfassung geändert und zur Grundlage für den Reform Kellmann (), S. .  Weimarer Memorandum, Vorwort vom .., http://www.volksgesetzgebungjetzt.de/weimarer-memorandum (..).

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prozess gemacht werden könnte. Weil man dabei anfangs noch die Fortexistenz der DDR unterstellte, wurden diese Anstrengungen bald von der Dynamik des Einigungsprozesses überrollt: Die massenhafte Abwanderung in den Westen verengte die Handlungsspielräume der Regierung Modrow, und am Vorabend der vorgezogenen Volkskammerwahl lag der Verfassungsentwurf noch längst nicht fertig vor. Als sich der Runde Tisch am . März  schließlich auflöste, präsentierte die Arbeitsgruppe stattdessen ein vorläufiges Papier mit »Gesichtspunkten für eine neue Verfassung«, das ganz unter dem Eindruck eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus stand, einen Ausbau direktdemokratischer Verfassungselemente vorschlug und für die DDR-Bürger einklagbare soziale Rechte ebenso vorsah wie einen gleichberechtigten Einigungsprozess. Was in der späteren Debatte, die den Verfassungsentwurf des Runden Tisches gern als Ausdruck eines besonderen, plebiszitären demokratischen Moments charakterisierte, gern übersehen wird: Hier konvergierten west- und ostdeutsche Reformideen, weil sich in die Arbeit am Verfassungsentwurf auch eine Reihe von linken oder liberalen Experten aus Westdeutschland eingeschaltet hatten – darunter Bernhard Schlink, Helmut Simon und Ulrich K. Preuß. Als der Verfassungsentwurf am . April  schließlich vorlag, lehnte die neugewählte Volkskammer mit knapper Mehrheit ab, sich überhaupt mit ihm zu befassen. Die mit nur wenigen Sitzen vertretenen Bürgerrechtler sahen in dem Entwurf zwar ebenso wie die Abgeordneten der PDS und der Bauernpartei eine Chance, die Verhandlungsposition der DDR gegenüber dem Westen zu stärken, aber aus Sicht der Allianz für Deutschland und der Sozialdemokratie passte das ganze Vorhaben nicht mehr in die Zeit: Das Wählervotum war im März eindeutig für eine schnelle Vereinigung ausgefallen, und damit würde sich die Staatlichkeit der DDR ohnehin bald erledigt haben. Kritiker stellten bereits zu dieser Zeit heraus, dass der Entwurf parteipolitisch nicht neutral sei. Viele Forderungen seien taktischer Natur und zielten auf eine bald anstehende Revision des Grundgesetzes: Die Modernisierung des Grundrechtekatalogs, Friedensstaatlichkeit als Verfassungsprinzip, ein bedingtes Aussperrungsverbot, verfassungsmäßige Rechte für Bürgerbewegungen, Volksbegehren und Volksentscheid – hier seien vor allem Ideen von Beratern  Rödder (), S. ; Schröder (), S.  ff.; Banditt (); Fischer (), S. ; Preuß (), S. -.  Arbeitsgruppe Neue Verfassung, April , in: HBS, E./().  Scholz (), S. -, hier S.  ff.

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verwirklicht worden, die »eher der Bonner Opposition als den Regierungsparteien nahestanden«. Mit welcher Geschwindigkeit sich die Geschäftsgrundlagen der Politik im Frühjahr  veränderten, demonstrierte nicht zuletzt die Festlegung auf den verfassungspolitischen Modus der Wiedervereinigung. Das Grundgesetz hatte dafür zwei Möglichkeiten eröffnet: Nach Artikel  bestand die Möglichkeit, neue Länder in seinen Geltungsbereich aufzunehmen – dies war  zuletzt mit dem Beitritt des Saarlandes geschehen; demgegenüber sah Artikel  vor, dass das Grundgesetz als Provisorium »an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist«, seine Gültigkeit verliere. Helmut Kohl hatte noch im Februar betont, den Weg nach Artikel  beschreiten zu wollen. Aber kaum drei Wochen später verständigte sich die Bonner Koalition darauf, den Beitritt nach Artikel  zu gestalten – nur so schien ein schneller Vollzug der Wiedervereinigung möglich. Folglich hatte das Ergebnis der Volkskammerwahl bald auch als Plebiszit über die Geschwindigkeit und die rechtliche Form des Einigungsprozesses zu gelten. Begleitet wurde diese Entscheidung von einer lebhaften Debatte unter Verfassungs- und Staatsrechtslehrern, die rechtliche Argumente gegeneinander abwogen, im Kern jedoch politische Entscheidungen diskutierten – entsprechend vieldeutig war zunächst das Bild, das sich auf Sondertagungen, in öffentlichen Entschließungen, offenen Briefen und einer Fülle von Pressebeiträgen zeigte. Die Mehrheit der Juristen stand freilich bald an der Seite der Bonner Regierungskoalition und übte sich in der Affirmation des Grundgesetzes als erfolgreicher Ordnung, für die kein grundlegender Revisionsbedarf erkennbar sei. So hielt der Bonner Staatsrechtslehrer Josef Isensee die Verfassungsreformdiskussion schon bald für »künstlich herbeigeredet«. Andere Stimmen – anfangs zunächst bei den Linken, später äußerten aber auch Unionspolitiker wie Lothar Späth und Kurt Biedenkopf Sympathie für dieses Vorgehen – plädierten für eine Kompromisslinie: Auch im Westen sei durchaus eine Reformnotwendigkeit gegeben, und wenn schon der Vollzug der Einheit als Bei Fischer (), S. .  Banditt (); Teltschik (), S. .  Erklärung von  deutschen Staatsrechtslehrern auf Initiative von Josef Isensee, Klaus Stern u. a., in: Die Welt, ..; Nohfeldener Erklärung, in: Frankfurter Rundschau, ...  Scholz (a).  Isensee (), S.  ff.

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tritt gemäß Artikel  gestaltet werde, tue man gut daran, die Verfassung anschließend einer Revision zu unterziehen und das Ergebnis schließlich auch in einer Volksabstimmung zur Abstimmung zu stellen. Einerseits schlug jetzt die Stunde der Exekutive. Andererseits gelang es den Bonner Oppositionsparteien, DDR-Bürgerrechtlern und einer kritischen Öffentlichkeit im Laufe des Sommers , die Revision des Grundgesetzes zum Bestandteil des Einigungsvertrages zu machen. Auf einer Tagung in Bad Boll sprach Manfred Stolpe davon, eine neue Verfassung könne als »neuer Gesellschaftsvertrag« die Integration der Ostdeutschen fördern. Und als wichtige Lobbygruppe gründete sich am . Juni  ausdrücklich als »erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative« das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder. Es setzte sich dafür ein, auf der Basis des Grundgesetzes und »unter Berücksichtigung des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches für die DDR« eine neue, gesamtdeutsche Verfassung auszuarbeiten. Auch müsse bald eine »verfassunggebende Versammlung« einberufen und die gesamtdeutsche Verfassung durch Volksentscheid angenommen werden. Zu den Teilnehmern des Gründungstreffens gehörte neben Akteuren der Bürgerrechtsbewegung eine ganze Reihe westdeutscher Intellektueller, darunter Jürgen Habermas, Günter Grass, Walter Jens, Margarete Mitscherlich und Horst-Eberhard Richter. Die Organisatoren erhielten allerdings auch Absagen. So hielt Monika Maron eine gemeinsame Verfassung zwar »für das Selbstbewusstsein« für wünschenswert, fragte sich aber zugleich, ob »die in demokratischen Denk- und Verhaltensformen wahrlich nicht geübte DDR-Bevölkerung« dazu viel beitragen könne. Gesamtdeutsch besetzt war der Sprecherkreis, dem anfangs Tatjana Böhm, Lea Rosh, Wolfgang Ullmann, Ulrich Vultejus und Wolfgang Templin angehörten, wobei Böhm, Ullmann und Templin bereits am Verfassungsentwurf des Runden Tisches mitgearbeitet hatten. Die Initiative stellte das Thema »Verfassung mit Volksentscheid« anfangs ganz in den Mittelpunkt und setzte auf eine Unterschriften- und Anzeigenkampagne. Der westdeutsche Einfluss war auch hier nicht eben gering: So lieferte die Bonner Initiative Demokratie Entwickeln nicht nur das Konzept; dem Arbeitsausschuss des Kuratoriums gehörten auch die IDEE-Gründer Gerald Häfner und Lukas Beckmann an. Mit Angela von Bandemer übernahm eine weitere IDEE-Gründerin die hauptamtliche Geschäftsführung. Die »gesamtdeutsche Bürgerinitiative« finan Guggenberger/Stein ().  Aufruf vom .., in: HBS, E./ ().

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zierte sich nur zum kleineren Teil aus Spenden; für laufende Kosten, Büroräume und hauptamtliches Personal kam die Heinrich-Böll-Stiftung auf, während die Friedrich-Ebert-Stiftung Tagungen und redaktionelle Tätigkeiten bezuschusste. Der Einigungsvertrag schien dem Kuratorium zunächst einen Ansatzpunkt für seine Arbeit gegeben zu haben, weil er in Artikel  festgelegt hatte, dass binnen zwei Jahren eine Revision des Grundgesetzes erfolgen müsse. Die Regierung Kohl entschied sich jedoch für ein formalistisches Verfahren, das größere Änderungen von vornherein ausschloss: Im November  setzten Bundesrat und Bundestag eine Gemeinsame Verfassungskommission ein, die zwei Jahre lang tagte. Um Empfehlungen für Verfassungsänderungen auszusprechen, musste sie diese ihrerseits mit Zwei-Drittel-Mehrheiten verabschieden und war so auf eine Kompromisslinie festgelegt – im Ergebnis kam es lediglich zu kosmetischen Änderungen etwa bei den Staatszielen; die wichtigsten Veränderungen betrafen daneben vor allem die Stärkung der Länder im föderativen Staat und die verfassungspolitischen Voraussetzungen für die entstehende Europäische Union. Wilhelm Hennis hat den Geburtsfehler der Gemeinsamen Verfassungskommission bündig zusammengefasst: Die Union hielt sie für unnötig; die Oppositionsparteien hatten unrealistische Erwartungen; die Länder verfolgten ihr Eigeninteresse. Wie sehr die Reformvorstellungen von Teilen der Opposition und besonders der im Kuratorium organisierten Interessen an dieser institutionellen Ordnung abprallten, zeigte sich nirgends deutlicher als im Bereich der direkten Demokratie. Die Etablierung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebene war das wichtigste Reformanliegen des Kuratoriums, und wie effektiv es arbeitete, erkennt man besonders an der Zahl der Bürgereingaben, die der Gemeinsamen Verfassungskommission im Laufe ihrer Arbeit zugingen und hinter denen ganz überwiegend Kampagnen von Gewerkschaften und anderen Lobbygruppen standen. Lediglich  Einsendungen widmeten sich dem Föderalismus und der Europäischen Einigung – also dem Themenfeld der wichtigsten Grundgesetzänderungen. Jeweils rund   Eingaben befassten sich mit Minderheitenrechten, Gleichberechtigung und Gleichstellung sowie dem Abtreibungsrecht;   Bürger setzten sich für den Tierschutz als  Bandemer-Naumilkat an Diekmann, .., in: HBS, E./; Vermerk Finanzen, .., in: ebd., E./; Vermerk Finanzen, o. D., in: ebd., o. D.  Stern (); Scholz (b), S.  ff.; Voscherau (), S.  ff.  Hennis (), S. -.

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Staatsziel ein. Für direkte Demokratie im Bund sprachen sich   Zusendungen aus. Die besondere Zugkraft des Themas ergab sich während der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission wohl nicht zuletzt aus dem Wiederaufleben der Parteienkritik. Den Hintergrund dafür bot zunächst die Vereinigungskrise: Rapide steigende Abgaben bei sprunghaft zunehmender Arbeitslosigkeit, Wahlerfolge populistischer Parteien, Kritik an der Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt, rassistische Ausschreitungen wie in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen, schließlich der Mordanschlag von Mölln – dies alles trug dazu bei, dass die Zeit im November  rückblickend von einem »Jahr der Politikverdrossenheit« sprach und die Gesellschaft für Deutsche Sprache den neuen Begriff zum Wort des Jahres wählte – dicht gefolgt von »Fremdenhass« und »Rassismus«. Zu dieser Wahrnehmung hatte ein weiteres Mal Richard von Weizsäcker kräftig beigetragen, diesmal jedoch als amtierender Bundespräsident. Seine Verachtung für den »Parteienabsolutismus« teilten hingegen auch jene Kritiker der »Zuschauerdemokratie«, für die ein Ausbau der direkten Demokratie nicht nur ein Korrektiv, sondern der vielleicht wichtigste »Beitrag zu einer auf Selbstorganisation und Eigeninitiative gerichteten demokratischen Kultur« war. Blickt man genauer auf die entscheidende Plenardiskussion der Verfassungskommission über die Frage der direkten Demokratie vom Mai , wird deutlich, dass die Idee von Ost-West-Transfers auch hier nur bedingt weiterhilft. Zwar zitierte die Süddeutsche Zeitung im Vorfeld aus demoskopischen Befunden, wonach inzwischen jedermann wisse, welche »Schwierigkeiten viele Menschen in der früheren DDR haben, sich in ihrem Staat zurechtzufinden. Für sie nämlich ist die ›Bundesrepublik‹ besetzt mit der Vorstellung, daß es sich nun einmal um den westdeutschen Staat handelt, um einen anderen also.« In Umfragen votierten  Prozent

 Fischer (), S. .  Werner A. Perger: Der Kanzler hat weiter Spaß, in: Die Zeit, ..; Maier ().  Bär/Tereick (), S.  f.  Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, Frankfurt am Main ; vgl. auch Hofmann/Perger ().  Hofgeismarer Entwurf, Stiftung Mitarbeit, Bonn , in: HBS, E./; vgl. auch die Beiträge im APuZ-Themenheft B/ vom ...

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der Ostdeutschen für eine neue Verfassung. Die Debatte aber zeigt: Ob man in einer neuen Verfassung oder im Ausbau der direkten Demokratie nun passende Instrumente erkannte, um etwas gegen Parteienverdruss und ostdeutsche Anerkennungsprobleme zu tun, oder diese vehement ablehnte, hing kaum von der Frage ab, ob ein Ost- oder ein Westdeutscher sprach, sondern eher vom partei- und gesellschaftspolitischen Standpunkt. Dabei war mit Händen greifbar, dass Ostdeutsche in der Gemeinsamen Verfassungskommission notorisch unterrepräsentiert waren: Unter den  Mitgliedern, die von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion entsandt wurden, fand sich kein einziger Ostdeutscher; die SPD-Fraktion nominierte zwei frühere DDR-Bürger. Männer wie Wolfgang Ullmann oder Wolfgang Thierse brachten die Erfahrung ein, mit Bürgerengagement den »vermeintlich allmächtigen Staat« gestürzt zu haben. Ihre Schlussfolgerungen deckten sich mit den Ideen jener westdeutschen Akteure, in deren Demokratieverständnis engagierte Bürger eine »Zivilgesellschaft« etablierten. Demgegenüber malten die Redner der Unionsfraktion das Schreckgespenst des Populismus an die Wand und lobten das Repräsentativsystem, das immer auch als Absicherung vor den Gefahren einer »Stimmungsdemokratie« zu verstehen sei. So berichtete der sächsische Justizminister Steffen Heitmann, seit  CDU-Mitglied, aus eigener Erfahrung: Er habe am . Oktober  in Dresden miterlebt, wie Sicherheitskräfte die Demonstranten einkesselten und wie aus dieser Gruppe heraus  Personen als Sprecher benannt worden waren, die daraufhin eine Führungsrolle übernommen hätten. Heitmann sah daraus jedoch ungelöste Legitimitätsprobleme erwachsen: Das Volk sei ein »abstrakter und diffuser Begriff. Auch die Demonstranten, die zusammengeströmt waren, waren ja nur ein Teil des Volkes.« Verfassungen müssten den Normalfall regeln, und dort sei der bewährten Repräsentativverfassung des Grundgesetzes der Vorzug zu geben. Rupert Scholz spitzte dieses Argument weiter zu: Wer glaube, den Ruf »Wir sind das Volk« umkehren und »gegen ein freiheitliches demokratisches System« richten zu können, der verkenne »die Berechtigung, die Legitima-

 Hans Heigert: Die Menschen in Ost und West brauchen gemeinsame Visionen, in: Süddeutsche Zeitung, ...  Raufer ().  Fischer (), S. ,  ff.

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 

tion eben jenes Rufes, und er verkennt vor allem unser demokratisches System.« Die Geschichte der direkten Demokratie im Einigungsprozess kann man auf doppelte Weise erzählen. Eine Möglichkeit besteht darin, die verpassten Chancen herauszustellen. Die sich  ergebende Chance auf grundlegende Strukturreformen in der Verfassungsordnung der alten Bundesrepublik wurde verspielt, weil das kurzfristige Management des Einigungsprozesses Vorrang hatte; Selbstkritik am »siegreichen« System schien im Moment seines vermeintlich größten Erfolges unerwünscht, und wichtige Entscheidungen fällte die Regierung Kohl auch mit wahltaktischem Kalkül. Dies wäre die Geschichte von den ausgebliebenen Transfers und der verzögerten Co-Transformation; erst im Laufe der er Jahre habe ganz allmählich ein Bewusstsein für den Veränderungsbedarf der bundesrepublikanischen Ordnung heranzuwachsen begonnen. Die dahinterstehende Haltung hatte Niklas Luhmann bereits im August  auf den Punkt gebracht, als er einen kurzen »Nachruf« auf die alte Bundesrepublik anstimmte, die nun ebenso an ihr Ende gekommen sei wie die DDR – mit dem Unterschied allerdings, dass die Westdeutschen »leicht auf die Idee« kämen, es sei »bisher gut gewesen und werde nun kontinuierlich immer besser«. In Summa ist dies das Narrativ vom kolonialen Westen, der sich die DDR und ihre Bürger rücksichtslos einverleibt habe. Selbst zu symbolischen Handlungen der Anerkennung waren die westdeutschen Eliten nicht bereit – das Scheitern der Verfassungsreform ist für diese Ignoranz ein paradigmatisches Beispiel. Das alles ist richtig, und dennoch ließe sich dieselbe Geschichte auch ganz anders erzählen. Dies wäre eine Geschichte, in der Gut und Böse nicht ganz so eindeutig verteilt sind, denn der genauere Blick auf das Konzept einer direktdemokratischen Beteiligung der Bürger hat ja gezeigt, wie komplex die Ideentransfers tatsächlich abliefen. Mehr direkte Demokratie entwickelte sich im Laufe der er Jahre in Westdeutschland zu einer Rezeptur, die einfache Lösungen für drängende Probleme der Politikverdrossenheit und des Parteienstaates versprach. Bereits vor  handelte es sich – jedenfalls auf Länderebene – um ein verfassungspolitisches Reformprojekt, das maßgeblich von jüngeren Sozialdemokraten, besonders aber von den Grünen und ihren Lobbygruppen vorangetrieben wurde. Einige der westdeutschen Aktivisten aus den Neuen  Tilman Evers: Das Scheitern war vorhersehbar, ja gewollt, in: Frankfurter Rundschau, ...  Niklas Luhmann: Dabeisein und Dagegensein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ... Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Annette Weinke.

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Sozialen Bewegungen nutzten das von Michail Gorbatschow geschaffene Reformklima bereits ab , um die westdeutsche Öffentlichkeit auf dem Umweg über den Osten zu beeinflussen. Umgekehrt gehörte die Forderung nach mehr direkter Demokratie zu den Ideen, die auch von vielen Bürgerrechtlern in der DDR auf der Suche nach dem »dritten Weg« zwischen Sozialismus und westlicher Demokratie favorisiert wurden. Schon im Verfassungsentwurf des Runden Tisches, mehr noch aber im Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder konvergierten die Reformideen des Westens mit der lebensgeschichtlich beglaubigten Programmatik der Bürgerrechtler. Deren Engagement scheint auf den ersten Blick kaum Spuren hinterlassen zu haben: Die Gemeinsame Verfassungskommission schmetterte entsprechende Ideen umstandslos ab; eine Volksgesetzgebung im Bund sieht das Grundgesetz bis heute nicht vor. Schaut man jedoch auf die Länderverfassungen und vor allem auf die Praxis der direkten Demokratie, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Neben dem Pionierfall Schleswig-Holstein gaben die Landesverfassungen der fünf neuen Länder das Muster ab, nach dem bald in den meisten westdeutschen Ländern direktdemokratische Mechanismen eingeführt oder die Hürden der vorhandenen Verfahrensregeln gesenkt wurden – mit quantifizierbaren Effekten. Vor  gab es durchschnittlich pro Jahr kaum  Bürgerbegehren in der Bundesrepublik. Bis Mitte der er Jahre stieg dieser Wert dann sprunghaft auf fast , um sich seither bei etwa  pro Jahr zu stabilisieren. Insgesamt lassen sich in der Geschichte der Bundesrepublik rund  solche Verfahren zählen. Nur  davon fanden vor  statt. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Spätestens am Ende des Jahrzehnts galten Partizipation und direkte Demokratie als eine Art Allheilmittel gegen Demokratieverdrossenheit und Parteienkritik – nicht nur in Deutschland. Zuletzt hat sich dieses Bild allerdings beträchtlich eingetrübt: Das Brexit-Referendum, die Schweizer Kampagne gegen »Masseneinwanderung« und die rechtspopulistische Kritik an Parteienstaat und Repräsentativdemokratie unterstreichen nachdrücklich, dass es sich bei direktdemokratischen Verfahren um Formen handelt, die mit ganz unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden können. Die jüngere politische Entwicklung lässt zudem die zeitgebundene Normativität jener Idee von »Zivilgesellschaft« hervortreten, die zu Beginn der er Jahre eine so  Mehr Demokratie e. V. ().  Vgl. den Überblick bei Altman ().

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reibungslose Verständigung zwischen westdeutschen Linken und ostdeutschen Oppositionellen ermöglichte und die dann ab  sogar zu einem programmatischen Bezugspunkt der Regierungspolitik werden sollte. Wenn man hier also von einem gemeinsamen Reformprojekt sprechen will, lag diesem ein in Ost und West geteiltes Menschenbild zugrunde, das stark an die generationelle Erfahrung der Neuen Sozialen Bewegungen gebunden ist. Den Bürger stellten sich deren Protagonisten als mündigen, aufgeklärten und bildungsbeflissenen Aktivisten vor. Dass auch ein ganz anderer Bürgertypus seinen direktdemokratischen Einfluss geltend machen kann, haben Pegida-Demonstranten, Volksverräter-Rufe und vor allem die geradezu hilflosen politischen Reaktionen darauf überdeutlich gezeigt – zuletzt in Sachsen, wo der wahlkämpfende Ministerpräsident die Idee eines »Volkseinwands« aus der Taufe hob.

 Bonn (), S. -.  Norbert Frei: In Ostdeutschland wird der »Volkswille« glorifiziert, in: Süddeutsche Zeitung, ...

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Deutsche Zeitgeschichtsjubiläen als historische Selbstvergewisserung M S

Ihr -jähriges Jubiläum feierte die Bundesrepublik , und sie besteht damit länger als jede ihrer Vorgängerordnungen seit dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation .  Jahre währte die Zeitspanne von der Auflösung des Alten bis zur Gründung des Zweiten Reiches, das es selbst wiederum nur auf knapp  Jahre seiner Existenz brachte, zu schweigen von der nur  Jahre umspannenden Weimarer Republik und den zwölf Jahren der NS-Herrschaft. Die nun fast ein Menschenalter umfassende Geschichte der Bundesrepublik ist oft mit auffächernden Konzepten eingefangen worden. »Mehr als eine Erzählung« lautet der Titel einer Zusammenstellung zeitgeschichtlicher Perspektiven auf die Bundesrepublik, die vor wenigen Jahren erschien. »Fünf Möglichkeiten, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen«, diskutierte der  verstorbene Zeithistoriker Axel Schildt zum . Jahrestag der Staatsgründung  in einem vielfach rezipierten Aufsatz, um einen bemerkenswerten Befund zu begründen, der über Jahrzehnte galt und erst jüngst an Geltung verloren hat: »Die Geschichte der alten Bundesrepublik, vor allem in der zweiten Hälfte ihres Bestehens, wird aber auch von der westdeutschen Bevölkerung nur sehr verschwommen erinnert, als quasi nach hinten verlängerte saturierte Gegenwart. Markante historische Fragestellungen, dieser Eindruck drängt sich zuweilen auf, scheinen erst eigens konstruiert und künstlich implantiert werden zu müssen.« Schildt sah den Grund in der Einsträngigkeit der fünf von ihm idealtypisch herausgeschälten Narrative der bundesdeutschen Geschichte, denen sämtlich ein gleichbleibendes lineares Verlaufsmuster zugrunde lag, gleichviel, ob die Bundesrepublik als »Erfolgs-« oder »Misserfolgsgeschichte«, als »Modernisierungs-«, »Belastungs-« oder »Verwestlichungsgeschichte« erzählt wird. Die diesem Beitrag zugrundeliegende Überlegung lautet, dass diese Zeitordnung ins Wanken geraten ist und das Narrativ der linearen Ent Bajohr u. a. (Hrsg.) ().  Schildt (b), S.  f.  Ebd., passim.

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wicklungsgewissheit durch eine neu aufkommende Zukunftsungewissheit in Frage gestellt wird. Nun steht die Zukunft dem Historiker nur begrenzt, nämlich im Sinne Lucian Hölschers als »vergangene Zukunft« analytisch zu Gebote, und deswegen lässt sich dieser Frage nur im bundesdeutschen Umgang mit der Vergangenheit nachgehen. Im Folgenden soll das kalendarische Zusammenspiel von drei Jubiläen der deutschen Zeitgeschichte im Jahr  dazu dienen, den Wandel von der Gewissheit zur Ungewissheit nachzuzeichnen: des . Jahrestags der Gründung der Weimarer Republik am . August , des . Jahrestags der Gründung der Bundesrepublik am . Mai  und des . Jahrestags des Mauerfalls und des Endes der SED-Diktatur.

Vergewisserung durch Kontinuität Jubiläen dienen der rückblickenden Selbstvergewisserung, und sie kamen als Traditionsfeiern erst in der Neuzeit im Zuge der Nationalstaatsgründungen auf. Zu ihren Jahrestagen suchten sich erst die beiden deutschen Staaten und nach  das vereinigte Deutschland auf einen zeithistorischen Begriff zu bringen und in ihrer jeweiligen Identität zu versichern. Mit Hilfe von Jubiläen streben Staaten und Institutionen nach Legitimitätsgewinn, wie die DDR dies schon in den er Jahren mit ihrem fünften und zehnten »Republikgeburtstag« vorführte, und sie können durch missratene Jubiläen entscheidend an Reputation verlieren, wie wieder das SED-Regime veranschaulichte: Mit seinem Versuch, den . Jahrestag der DDR-Gründung am . Oktober  pompös und störungsfrei zu feiern, hinderte es sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit selbst an einem noch härteren Vorgehen gegen die Opposition, die wiederum aus dem gespenstischen Gegensatz zwischen der Feierfröhlichkeit ihrer Führung und der traurigen Wirklichkeit im Lande wachsende Empörungsstärke zog. Die bundesdeutsche Geschichtskultur hingegen stand dem Jubiläum nach  zunächst fremd und abwehrend gegenüber. Allein das Gedenken zum . Geburtstag Goethes  konnte in seiner deutsch-deutschen Konkurrenz an die Resonanz der Dichterfeiern des . Jahrhunderts anknüpfen; aber schon die Veranstaltungen zum . Todestag und zum . Geburtstag Friedrich Schillers  und  konnten es nicht mehr mit dem begeisterten Zuspruch aufnehmen, den die Schillerfeiern  im deutschen Bürgertum und  in der Arbeiterschaft gefunden 300

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hatten. »Dem historischen Jubiläum war, so scheint es, der Boden entzogen«, resümierte Winfried Müller, weil nach  und dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch kein Anlass mehr zum Jubel gegeben war. Als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz noch am späten Abend des . Mai  beschlossen wissen wollte, tat er dies nicht, um an den . Mai  zu erinnern, sondern, um ihn zu überformen, um das Böse durch das Gute auszulöschen. »Es ist wohl in Wahrheit«, beendete Adenauer die Sitzung nach der turbulenten Abstimmung, »für uns Deutsche der erste frohe Tag seit dem Jahre . Wir wollen von da an rechnen und nicht erst von dem Zusammenbruch an, so schwer die Jahre des Zusammenbruchs auch waren.« Auch der . Juli ließ sich nicht zu einem Staatsfeiertag ausgestalten, und ebenso wenig schaffte es der . Mai als Tag der  wiedererlangten Souveränität zum nationalen Feiertag. Den . Mai betrachtete nicht nur Bundeskanzler Ludwig Erhard  lediglich als einen Tag, »so grau und trostlos wie so viele vor oder auch nach ihm«; und nicht anders setzte Willy Brandt den zur selben Zeit in der DDR inszenierten Befreiungsfeiern ein entschiedenes Verzichtbekenntnis auf historische Antijubiläen entgegen: »Zwanzig Jahre sind genug – genug der Spaltung, genug der Resignation und genug des bloßen Zurückschauens.« Den . Jahrestag der Zweiten Deutschen Reichsgründung nutzte Bundespräsident Gustav Heinemann  lediglich, um sich gegen den »ungerufenen Gedenktag« zu verwahren. Die Ursachen dieser Traditionsskepsis liegen auf der Hand: Jubiläen stillen Kontinuitätsbegehren. Je klarer die Vorstellung eines durch keine Wiedergutmachung zu heilenden Zivilisationsbruchs in das Denken der Zeit eindrang, desto obsoleter wurden alle Bemühungen einer jubilarischen Identitätsvergewisserung. Dieser Wandel musterte nicht nur im Sinne Heinemanns das Arsenal vordemokratischer Jubiläen aus, sondern erschwert gerade positiv bewerteten Geschehnissen eine tiefer gehende Verankerung im öffentlichen Bewusstsein. Diese Feststellung gilt für die Bauernaufstände des . Jahrhunderts ebenso wie für das Hambacher  Vom Bruch (), S.  ff.  Müller (), S. -, hier S.  f.  . Mai : Ansprache des Präsidenten des Parlamentarischen Rates nach der Schlussabstimmung über das Grundgesetz, http://www.konrad-adenauer.de/ dokumente/reden/ansprache-parlamentarischer-rat (..).  Zit. nach Seuthe (), S. ; Müller (), S. .  Zit. nach Wolfrum (), S. .  »Uns ist aber nicht nach einer Hundertjahrfeier zumute.« Zit. nach Müller (), S. .

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Fest  oder die Versuche, den . März zur Erinnerung an die erste deutsche Revolution von  zu einem staatlichen Gedenktag zu erheben. Es bedurfte der Herausbildung des Trauer- und Mahnjubiläums, um die Erinnerungsfeier an das nicht mehr mimetisch, sondern kathartisch angelegte Geschichtsverständnis unserer Zeit anzupassen. Die Integration des Jubiläums in den »kontrastiven Katastrophendiskurs«, der sich der jüngeren Vergangenheit mit Schmerz und Scham statt mit Stolz und Genugtuung entsinnt, vollzog sich in der Spanne einer Generation von den er bis zu den er Jahren. Greif bar wird sein Abschluss in Richard von Weizsäckers berühmter Rede zum . Jahrestag des Kriegsendes , die den . Mai vom Tag der Kapitulation mit präsidialer Autorität zum Tag der Befreiung umwertete, und ebenso in dem  öffentliche Deutungshoheit gewinnenden – und Bundestagspräsident Philipp Jenninger durch ungeschickten Vortrag sein Amt kostenden – Bekenntnis zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vom . November . Mit der Anerkennung des Holocaust als geschichtskulturellen Gründungsfundaments der Bundesrepublik und seiner sichtbaren Verankerung im Regierungsviertel der Bundeshauptstadt hat dieser Prozess seinen vorläufigen Abschluss gefunden, in dem sich nach einer treffenden Formulierung Peter Reichels Erinnerungslast in Erinnerungslust verwandelte. Für den damit einhergehenden Übergang vom Feierjubiläum zum Trauerjubiläum steht der durch Bundespräsident Roman Herzog  eingeführte Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, dessen Eigenart die baden-württembergische Landeszentrale für politische Bildung auf ihrer Website so erläutert: »Der . Januar ist kein Feiertag im üblichen Sinn. Er ist ein ›DenkTag‹: Gedenken und Nachdenken über die Vergangenheit schaffen Orientierung für die Zukunft.« Erst mit dieser Umwertung von der Mimesis zur Katharsis konnte die historische Selbstvergewisserung durch Jubiläen und Gedenktage  »Die Verankerung der Erinnerung an den . März im öffentlichen Raum Berlins ist – cum grano salis – nach wie vor jedoch wenig entwickelt«, resümierte jüngst ein der »Aktion . März« verbundener Autor, der die zahlreichen Bemühungen schildert, die Märzrevolution stärker in das öffentliche Bewusstsein zu heben; Hamann (), S. -, hier S. .  Wolfrum (a), S. ; ders. (b), S. .  Kirsch (), S.  ff.  Reichel (), S. .  Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Denktag . Januar, http://www.lpb-bw.de/auschwitz.html (..).

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zum eigentlichen Motor der öffentlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit namentlich des . Jahrhunderts werden, den sie heute darstellt. Einen letzten Widerschein dieser Ambivalenz des Jubiläums veranschaulicht die Nachkriegsgeschichte des deutschen Nationalfeiertags.  erstmals begangen, war der . Juni seit  durch Proklamation des Bundespräsidenten »nationaler Gedenktag des deutschen Volkes«, der Freiheitsstolz und Leidgedenken in sich vereinte. Als mit dem Zusammenwachsen des geteilten Deutschland  seine Neubestimmung anstand, fand der Tag des Mauerfalls am Ende keine Aufnahme in den Einigungsvertrag; er galt der politischen Mehrheit damals noch als problematisch, weil er neben dem hellen eben auch das dunkle Gedächtnis abbildet und neben Republikausrufung  und Mauersturz  auch den Hitlerputsch  und den reichsweiten Judenpogrom  in Erinnerung ruft. Die gesellschaftliche Anerkennung hat die staatliche Skepsis mittlerweile Lügen gestraft; tatsächlich ist neben dem . Oktober als Tag der Deutschen Einheit auch der . November zu einem zentralen deutschen Erinnerungstag geworden, an dem sich das Land der deutschen Demokratietradition von  und der Diktaturüberwindung von  erinnert, ohne das Leid der Judenverfolgung aus dem Bewusstsein zu verlieren.

Vergewisserung durch Abgrenzung Dennoch: Über Jahrzehnte gründete das bundesdeutsche Selbstverständnis nicht so sehr auf Kontinuität, sondern auf Abgrenzung. Für die NSZeit verstand sich dies von selbst, aber auch die Weimarer Republik bildete in Ost wie in West »eine Art Negativfolie, um sich ihrer demokratischen Stabilität zu versichern. Weimar war ein paradigmatisches Lehrstück für Machtverlust und Selbstaufgabe der Demokratie«, wie Andreas Wirsching  zum Auftakt der Artikelserie »Weimarer Verhältnisse« in der Frankfurter Allgemeinen schrieb. Vom demokratischen Neubeginn nach  an dominierte in beiden deutschen Staaten ein teleologisches Weimarbild, das vom verheißungsvollen Anfang / nicht reden konnte, ohne das unrühmliche Ende  im Blick zu haben. Welche  Andreas Wirsching: Weimarer Verhältnisse? Appell an die Vernunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...  So noch ein Forschungsüberblick im Jahr : »Über alle Beschäftigung mit diesem Zeitraum schwebt wie ein Menetekel das Wissen um den Zusammenbruch der Republik. Es wirft Fragen nach den Ursachen auf und verstärkt zu-

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Chancen die Weimarer Republik verpasst hatte, welche Lehren aus ihrem Scheitern zu ziehen waren, solcher Art waren die Fragen, die sich von bundesdeutscher Warte an das -jährige Zwischenspiel der Demokratie richteten und in die titelgebende Formel eines  erschienenen Buchs von Fritz René Allemann mündeten: »Bonn ist nicht Weimar«! Mit wachsendem Abstand und besonders mit dem Auslaufen der Sonderwegsdebatte über Deutschlands belastete Ankunft in der Moderne aber verlor die Frage nach den verpassten Chancen und nachwirkenden Defiziten der ersten deutschen Republik ihre Bedeutung. Für dreißig Jahre wirkte die Weimarer Republik wie aus der Zeitgeschichte herausgefallen und wurden ihr ihre zukunftsweisenden Errungenschaften eher undeutlich zugerechnet. Dass sie, kaum ausgerufen, noch in den Tagen der Novemberrevolution eine wegweisende Tarifpartnerschaft begründete und unter Finanzminister Matthias Erzberger die umfangreichste Reform der deutschen Finanzgeschichte zuwege brachte, auf der die deutsche Steuergesetzgebung noch heute fußt; dass sie mit der deutsch-französischen Verständigung und mit der Ausbildung des Europagedankens supranationale Handlungsräume öffnete, die noch unser heutiges Denken bestimmen; dass die Weimarer Verfassung mit der Kodifizierung von Grundrechten auch das Selbstverständnis der Bundesrepublik begründete – all das ist im öffentlichen Geschichtsbewusstsein kaum noch präsent. Das zeithistorische Interesse in Deutschland richtet sich auf die Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit, nicht aber auf die Selbstbehauptungskämpfe der ersten deutschen Demokratie: Wie wenig die Versailler Friedensverhandlungen von  bloßes Siegerdiktat waren, wie nah das Attentat auf Walther Rathenau  das Land an den Rand des Bürgerkriegs, aber auch zu einer historisch unerhörten und sich nie wiederholenden Aktionseinheit der drei Arbeiterparteien führte, wie sehr schon  der Barmat-Skandal und  der Sklarek-Skandal die Republik um ihren Kredit brachten, wie weitgehend nicht Brünings Sparpolitik, sondern Dawes- und Young-Plan die Krise der Weltwirtschaft so unbeherrschbar machten, all diese einst leidenschaftlich debattierten Vorgänge haben keine dauerhafte Historisierung erfahren, die ihnen einen gleich den Wunsch, durch die in Weimar begangenen Fehler und Versäumnisse Ähnliches für die Gegenwart auszuschließen.« Büssgen (), S. . Vgl. auch Erdmann (); Balke/Wagner (Hrsg.) ().  Und im einen Fall einen früheren Reichskanzler (Gustav Bauer) desavouierten, im anderen einen mächtigen Oberbürgermeister (Gustav Böß); vgl. Malinowski (), S. -.

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festen Platz im nationalen Gedächtnis angewiesen hätte. Sie sind im Sinne von Ernesto Laclau zu »leeren Signifikanten« geworden, sie bilden eine »kulturelle Gedächtnislücke«, kondensiert zu kurzen und überdies sachlich oft unhaltbaren Formeln, nach denen etwa der Versailler Vertrag die Republik ruinierte, der Rathenau-Mord antisemitisch motiviert war, das Personal der Weimarer Politik sich als korrupt und unfähig erwies, die Härte der Wirtschaftskrise durch Brünings Sparpolitik verursacht wurde und die Weimarer Demokratie an der Unreife ihrer Bürger scheiterte. So blieb die vergessene Weimarer Republik weitgehend ortlos, und dieser Zustand hat sich auch in den letzten Jahren nur zögernd gewandelt – etwa mit der Gründung des Vereins »Orte der Demokratiegeschichte« oder der Eröffnung des »Hauses der Weimarer Republik – Forum für Demokratie« in Weimar zum . Jahrestag der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung. Immer noch aber ist die bundesdeutsche Geschichtspolitik auf Identität durch Abgrenzung gegründet; in der  verabschiedeten und  fortgeschriebenen Gedenkstättenkonzeption heißt es: »Der Bund fördert aufgrund von Beschlüssen des Deutschen Bundestages Gedenkstätten und zukünftig auch Erinnerungsorte zur nationalsozialistischen Herrschaft und zur SED-Diktatur.« Als herausragendes Förderkriterium gilt »die Exemplarität für einen Aspekt der Verfolgungsgeschichte der NS-Terrorherrschaft oder der SED-Diktatur«. Orte der Weimarer oder Bonner Demokratie sind nicht Gegenstand der Förderung.

Vergewisserung durch Aufarbeitung Neben der Vergewisserung durch Abgrenzung, die die ersten Jahrzehnte bestimmte, hat die Bundesrepublik einen zweiten Pfeiler seiner historischen Selbstverständigung geschaffen: die Vergewisserung durch Aufarbeitung. Der Begriff Aufarbeitung verbindet sich vor allem mit Theodor W. Adorno, der »die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit« in seinem berühmten Vortrag von  noch eher widerstrebend musterte, weil sie »sich während der letzten Jahre als Schlagwort höchst verdächtig gemacht hat«. Denn: »Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man  Wirtz (), S. .

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will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen.« Gegen diese tradierte Auffassung des Aufarbeitens als eine aus der Handwerkssprache entlehnte Metapher der auffrischenden Instandsetzung einer abgenutzten Sache setzte Adorno eine Neudefinition der Aufarbeitung, die sich gegen das Nachleben des Nationalsozialismus in der Gegenwart richtete. Seither hat der Begriff eine semantische Karriere ohnegleichen gemacht. Seine Anlehnung an Sigmund Freuds tiefenpsychologisches Konzept des erinnernden Durcharbeitens formulierte einen durchschlagskräftigen Appell zur Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, der die Abschüttelung der Vergangenheit als »Unfähigkeit zu trauern« mit gefährlichen politischen Konsequenzen zu lesen erlaubte. Vergangenheitsvergegenwärtigung als Weg zur Gesundung – aus dieser erfolgreichen Einbettung des Umgangs mit der jüngsten Geschichte in einen sozialen wie politischen Krankheitsdiskurs erklärt sich der Erfolg des Begriffs Aufarbeitung, der andere Formen der Vergangenheitsüberwindung etwa durch Vergessen und Tabuisierung in den diagnostischen Rahmen von Störung und Verdrängung stellte. Dabei machte der Begriff Aufarbeitung allerdings eine bemerkenswerte Verschiebung durch. In der Tiefenpsychologie gilt das erinnernde Durcharbeiten bekanntlich als Schritt zur endgültigen Heilung mit dem Ziel des psychischen Überwindens und Loslassens. Im gesellschaftlichen Aufarbeitungsdiskurs hingegen ist nicht loslassendes Vergessen das Ziel, sondern die fortwährende Auseinandersetzung. Ganz im Gegensatz zu dem Bestreben, die traumatisch erfahrene Vergangenheit durchzuarbeiten, um sie am Ende loslassen zu können, versteht sich das Konzept der »Aufarbeitung« als dessen genaues Gegenteil – nämlich als dauerhaften Auftrag zur Erinnerung. Ihren eigentlichen Durchbruch erzielte die Vergangenheitsaufarbeitung erst nach dem Ende des zweiten großen europäischen Diktatursystems und insbesondere im Zuge der Auseinandersetzung um den Umgang mit den Stasi-Unterlagen, und sie hatte lange mit der Konkurrenz des übermächtigen Gegenbegriffs der Vergangenheitsbewältigung zu kämpfen. Auch dann noch galt vielen Historikern die »emotionale Wirksamkeit« des Terminus »Bewältigung« gegenüber der technisch kalten Aufarbeitung für schützenswert: »Benutzt man ›bewältigen‹«, schrieb Bert Pampel noch , »so fühlt man geradezu die Last des Problems, mit der man fertig werden muß. ›Bewältigung‹ wirkt sprachlich persön Adorno (), S. .

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licher und belastender als das nüchterne und distanzierte ›Aufarbeiten‹. Aus dieser Perspektive heraus erscheint es keineswegs mehr zufällig, daß die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit das Prädikat ›bewältigen‹ verlangte, während man die DDR-Geschichte mehrheitlich ›nur‹ ›aufarbeiten‹ will.« Entsprechend lesen sich die programmatischen Bekenntnisse heutiger Bundesregierungen. »Ohne Erinnerung keine Zukunft – zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland gehören die Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur, der deutschen Kolonialgeschichte, aber auch positive Momente unserer Demokratiegeschichte«, heißt es etwa im Koalitionsvertrag der . Legislaturperiode. Das schon im vorangegangenen Koalitionsvertrag von  weiter zu findende Bekenntnis, »die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden voran[zu]treiben«, führte zu einer seltsamen Verkehrung der Beziehung zwischen Politik und Wissenschaft und macht auf diese Weise die identitätsstiftende Kraft der Aufarbeitung sichtbar. Mittlerweile gilt die Behördenprüfung auf ihren NS-Umgang hin als eine Art Gütesiegel, um das alle Ministerien mit einer Leidenschaft konkurrieren, die binnen zehn Jahren zu einem eigentümlichen Rollentausch geführt hat:  noch standen Teile des Auswärtigen Amtes den bohrenden Fragen der Historiker in kritischer Abwehr gegenüber; heute drängen oberste Verfassungsorgane mit Macht darauf, den Grad ihrer postfaschistischen Belastung prüfen zu lassen, und halten den zögernden Historikern die braunen Flecken auf ihrer Behördenweste entgegen, um die Plausibilität ihres Anliegens zu unterstreichen. In der Aufarbeitung zeigt uns die verpfuschte Vergangenheit, wie es in Zukunft besser zu machen ist. Das Bewusstsein, aus der Vergangenheit gelernt zu haben, hat die absurde Annahme, dass Geschichte Lehren bereithalte, die man beherzigen müsse, um vor Wiederholung gefeit zu sein, zu einem quasireligiösen Glaubensartikel gemacht, der parteiübergreifend der Politik unserer Zeit ihre wertbezogene Letztbegründung verleiht. In diesem Sinne forderte Bärbel Bohley nach der Volkskammer Pampel (), S. .  Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. . Legislaturperiode, S. , https://www.bundesregierung.de/bregde/themen/koalitionsvertrag-zwischen-cdu-csu-und-spd- (..).  Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. . Legislaturperiode, S. , https://www.bundestag.de/resource/blob/ /ffdffbfbde/koalitionsvertrag-data.pdf (..).

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wahl vom . März , dass die neugewählten Abgeordneten auf eine frühere MfS-Zusammenarbeit überprüft würden, um nicht zum Opfer der politischen Erpressung durch geheimdienstliche Seilschaften der alten DDR-Eliten zu werden: »Wenn die Geschichte jetzt nicht aufgearbeitet wird, dann wiederholt sich bei uns, was nach  in Westdeutschland mit dem Überleben der alten Nazis im Staatsapparat – und nicht nur da – verbunden ist. Wir wollen auf unser  nicht zwanzig Jahre warten wie ihr.« Im selben Denkmuster begründete das Bundesministerium für Bildung und Forschung im vergangenen Jahr eine Ausschreibung zur DDR-Aufarbeitung mit dem programmatischen Leitsatz: »Wer seine Vergangenheit kennt, kann Zukunft gestalten.« Im Glauben, durch Abgrenzung von der eigenen unheilvollen Vergangenheit und ihrer Aufarbeitung vor dem historischen Rückfall gefeit zu sein, fußt mit dem Selbstverständnis der geläuterten Nation auch der Geltungsanspruch Deutschlands als einer soft power, die eine wertgebundene Außenpolitik für sich in Anspruch nimmt, deren oberste Norm die Menschenrechte seien und nicht das Nationalinteresse. Ausnahmen bedürfen starker geschichtspolitischer Begründung – mit der Gefahr einer Wiederholung von Auschwitz begründete Bundesaußenminister Joschka Fischer  die Beteiligung deutscher Truppen am NATO-Einsatz im Kosovo. Abgrenzung und Aufarbeitung bilden seit über drei Jahrzehnten Leitvorstellungen des bundesdeutschen Selbstverständnisses. Ein prägnantes Beispiel bietet der von Jahrfünft zu Jahrfünft sich steigernde Feierkult um den Jahrestag des Mauerfalls . Das zeithistorische Erfolgsnarrativ schreibt den Herbst  in die großen Traditionen der deutschen Frei Bärbel Bohley: Damit sich Geschichte nicht wiederholt. Keine Stasi-Mitarbeiter in die neue Volkskammer, in: die tageszeitung, ...  »Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind Vergangenheit«, sagte Christiane Wirtz, Staatssekretärin im Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, bei einer Veranstaltung des Rosenburg-Projekts zur Aufarbeitung des Justizministeriums. »Sie werden sich nicht wiederholen. Aber es gibt kein Ende der Geschichte. Auch heute gibt es Gefahren für Humanität und Freiheit, auch in unserem demokratischen Rechtsstaat und nicht nur hier, sondern auch in unseren Nachbarländern. Wir können aus der Geschichte lernen.« Pressemitteilung: Wissenslücken über die DDR schließen, .., https://www. bmbf.de/de/wissensluecken-ueber-die-ddr-schliessen-.html (..).  »Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen. Deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen.« Auszüge aus der Fischer-Rede, in: Der Spiegel, ...

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heitsgeschichte ein: »Was  noch scheiterte (und  blutig niedergeschlagen wurde), fand  ein glückliches, erfolgreiches Ende.« Es deutet »« als glücklichen Ausgang aus dem  begonnenen Katastrophenjahrhundert und Endpunkt einer Epoche, »die Europa und die Welt nach den verheerenden Kriegen und Krisen der ersten Jahrhunderthälfte im eisernen Griff des Ost-West-Konflikts gehalten hatte.« Das -jährige Jubiläum des Mauerfalls  markierte den vorläufigen Höhepunkt dieses Freiheitsnarrativs. Ein von Hunderttausenden gefeiertes Lichterfest ließ mit seinen Tausenden in den Himmel strebenden Heliumballons noch einmal die euphorische Leichtigkeit aufsteigen, mit der ein Vierteljahrhundert zuvor das eben noch unüberwindlich scheinende Bollwerk überwunden worden war, und euphorisierte auch die Presse: »Selten fühlte sich ein Gedenktag in Deutschland so leicht an wie dieser.« Bundeskanzlerin Angela Merkel feierte bei der Eröffnung einer neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Berliner Mauer am . November  die Macht der nur scheinbar Ohnmächtigen; Wolf Biermann sang im Bundestag und nutzte die Gunst der Revolutionsfeierstunde für einen Seitenhieb auf die Linkspartei als »den elenden Rest dessen, was zum Glück überwunden ist«.

 Eppelmann/Grünbaum (), S. .  Rödder (), S. . Ebenso die Darstellung bei Winkler (), S. .  Annett Meiritz/Christoph Sydow: Mauerfall-Jubiläum. Berlin erinnert, Berlin jubelt, in: Spiegel online, .., https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ mauerfall-jahrestag-berlin-gedenkfeier-am-brandenburger-tor-a-.html (..).  »Es ist eine Botschaft der Zuversicht, heute und künftig weitere Mauern einreißen zu können – Mauern der Diktatur und der Gewalt, der Ideologien und der Feindschaften. Zu schön, um wahr zu sein? Ein Tagtraum, der wie eine Seifenblase zerplatzt? Nein, der Mauerfall hat uns gezeigt: Träume können wahr werden. Nichts muss so bleiben, wie es ist – mögen die Hürden auch noch so hoch sein.« Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Berliner Mauer am . November  in Berlin, in: Die Bundesregierung, Bulletin -, .., https://www.bundes regierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angelamerkel- (..).  »Mauerfall-Gedenken Bundestag: Biermann beschimpft Linke als Drachenbrut«, in: Zeit online, .., https://www.zeit.de/politik/deutschland/-/bier mann-mauerfall-gysi-bundestag (..).

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Die Rückkehr der Ungewissheit Fünf Jahre später scheint alles anders. »Die stetige Erosion der demokratischen Kultur setzt sich an diesem Wahlsonntag ungebremst fort«, kommentierte die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, das Ergebnis der Thüringer Landtagswahl vom . Oktober , bei der die AfD von , auf knapp  Prozent hochgeschnellt ist, während CDU und SPD zusammen nur noch  Prozent der Wählerschaft zu binden vermochten. Der polarisierende Umgang mit der Massenflucht nach Europa, der Aufstieg des Rechtspopulismus und die schrankenlose Verfügbarkeit der sozialen Medien haben die politische Kultur der Bundesrepublik erschüttert. Auch in Bezug auf die Vergangenheit ist alte Gewissheit neuer Ungewissheit gewichen, wie sich am Umgang mit dem -jährigen Jubiläum der Weimarer Republik ebenso offenbart wie mit dem . Jahrestag des Mauerfalls.

Die Renaissance der Weimarer Republik Der Befund einer vergessenen Republik gilt nicht mehr. Weimar hat in den letzten zwei oder drei Jahren im Gegenteil eine erstaunliche Renaissance erfahren und ist zu einem allgegenwärtigen Bezugspunkt von Feuilletondebatten, Jubiläumsausstellungen und Gedenkveranstaltungen avanciert. Wie aktuell die Sorge vor der Wiederkehr Weimars in der öffentlichen Diskussion unserer Zeit ist, lehrt die im April eröffnete und Hans Kelsens Buchtitel von  nutzende Ausstellung »Vom Wesen und Wert der Demokratie« im Deutschen Historischen Museum Berlin, die ihre Besucher mit einer Eingangstafel empfängt: »Die liberale Demokratie ist heute nicht mehr selbstverständlich, sondern wieder in Gefahr.« Die Ausstellung fügt sich in ein zeithistorisches Erzählmuster, das die Wiederkehr unheilvoller Tendenzen aus der Weimarer Republik beschwört und in den letzten drei, vier Jahren überraschend an Zugkraft gewonnen hat. So wie die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP schon seit den Reichstagswahlen vom . Juni  keine Reichstags »Die Demokratie sortiert sich neu«, in: Die Welt, .., https://www.welt. de/politik/deutschland/live/Thueringen-Wahl--live-Die-Demo kratie-sortiert-sich-neu.html (..).  Helmuth Kiesel: Hässlich entstellt in den Untergang. Berlin ist nicht Weimar, heißt es. Zu Recht?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...

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mehrheit mehr besaß, hat auch die Große Koalition der Bonn-Berliner Republik ihre Mehrheit mittlerweile verloren. Insbesondere der atemberaubende Niedergang der SPD ruft Parallelen zur Weimarer Republik in Erinnerung, als die SPD zwischen den Maiwahlen  und den Novemberwahlen  von , auf , Prozent sank und ihr ewiges Spannungsverhältnis zwischen visionärer Programmatik und staatspolitischer Pragmatik  unter Reichskanzler Hermann Müller nicht anders diskutierte als das heutige: Wieder geht es um die Differenz von Wahlversprechen und Handlungszwängen, wieder scheint –  wie  – besonders der Parteibasis die Glaubwürdigkeit der Partei nur durch den Abschied von der Macht wiederherstellbar. Das zweite Zeichen einer alarmierenden Parallelität liegt im schockierenden Anwachsen des Rechtspopulismus, der mittlerweile förmlich zu einer neuen Ost-West-Spaltung geführt hat und in Sachsen und Thüringen, aber auch in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg breite Zonen der sozialen Einschüchterung geschaffen hat. Voller Furcht schaute das politische Berlin auf die ostdeutschen Landtagswahlen der letzten Wochen und Monate , bei denen die AfD zwar nicht zur führenden Kraft im Osten aufsteigen konnte, die übrigen Parteien aber doch in Zweckbündnisse zwang, die wenig programmatische Schnittstellen haben. Von »Weimarer Verhältnissen« orakelte die Presse vor dem Urnengang in Thüringen, und dies nicht nur wegen des Umstands, dass jeder vierte Wähler in einem Land, in dem die NSDAP  ihre erste Regierungsbeteiligung erreichte, seine Stimme einer Partei gab, deren dezidiert rechtsextrem auftretender Spitzenkandidat ungeniert mit seiner politischen Nähe zum Nationalsozialismus kokettiert. Der sorgenvolle Weimar-Vergleich reicht weiter: »Aber in Thüringen nun scheinen tatsächlich Weimarer Verhältnisse auf – die Situation nämlich, die in der ersten deutschen Republik zur Politikblockade geführt hatte: Zwei Parteien, eine links, die andere weit rechts, die koalitionspolitisch nichts voneinander wissen wollen, sind zusammen stärker als die Parteien dazwischen, also die breite Mitte.« Der Weimar-Bezug hat zudem seine Abgrenzungskraft verloren. Das in die Krise geratene Selbstverständnis der Bundesrepublik zeigt sich auch darin, dass sie wieder einen legitimen Platz für Weimar sucht, um sich der unvermuteten Erfahrung der eigenen Zukunftsoffenheit historisch zu versichern. Sie kompensiert den erschütterten Glauben an den  Albert Funk: Wer mit wem in Thüringen nach der Wahl? Land der begrenzten Möglichkeiten, in: Der Tagesspiegel, ...

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Bruch mit der Diktaturvergangenheit durch neue Kontinuitätslinien, die die Novemberrevolution als Beginn unserer Demokratie (Wolfgang Niess) beleuchten und Weimar als unterschätztes Modell liberaler Demokratie (Jens Hacke) diskutieren. Die erste deutsche Republik dient nunmehr als zeithistorischer Spiegel, um den Paradigmenwechsel von der Gewissheit zur Fragilität zu beglaubigen, der sich als neue demokratische Großerzählung abzeichnet.

Erschöpfte Aufarbeitung Ins Wanken geraten ist auch der Glaube an die Kraft der Aufarbeitung. In Bezug auf den Nationalsozialismus ist der alle politischen Lager übergreifende Erinnerungskonsens der Gegenwart durch das Aufkommen des Rechtspopulismus und seine partielle Verschmelzung mit dem Extremismus der Alten Rechten mit verstörender Wucht gesprengt worden. Seither mehren sich öffentlich geäußerte Zweifel, ob der Glaube an die Geltungsmacht der Aufarbeitung nicht womöglich ein naiver Selbstbetrug gewesen sei. Auch im Fall der DDR stellt sich die Frage nach einem möglichen Versagen der Aufarbeitung. Das sich besonders in Ostdeutschland immer weiter ausbreitende Klima von Intoleranz und Menschenverachtung befördert das publizistische Schnellurteil, dass die Aufarbeitung »ihre Aufgabe, Demokratie zu befördern, verfehlt« habe. Das Urteil einer zumindest im Osten Deutschlands weitgehend gescheiterten Vergangenheitsaufarbeitung kann sich auf eine jüngste Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach stützen, der zufolge nur  Prozent der Ostdeutschen gegenüber  Prozent der Westdeutschen die in Deutschland gelebte Demokratie für die beste Staatsform halten. Viele Ostdeutsche  Vgl. exemplarisch Albrecht von Lucke: Nach Jamaika. Die fragile Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, /, S. -, hier S. .  »Wenn man sich heute das extremistisch, vorwiegend rechtsextremistisch infizierte Ostdeutschland anschaut – NSU und Pegida sind nur die Leuchttürme der auf lange Zeit verstrahlten Regionen, die im gesamten ehemaligen Ostblock nationalistische und rechtsextreme Pendants und Bewegungen kennen –, dann kann man ja gar nicht anders, als zu konstatieren, dass der geschichtspolitische Auftrag der staatlich geförderten Aufarbeitung gescheitert ist.« Ilko Sascha Kowalczuk: Die Aufarbeitung ist gescheitert, in: die tageszeitung, ...  Ilko-Sascha Kowalczuk: »Und was hast du bis  getan?« Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit sollte die Demokratie befördern. Sie hat ihr Ziel verfehlt. Und das ist nicht mal das Schlimmste, in: Süddeutsche Zeitung, ...

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fühlten sich »immer noch fremd im eigenen Haus«, interpretierte Renate Köcher das Umfrageergebnis, und Angela Merkel kommentierte: »Das Land war vielleicht nie so versöhnt, wie man dachte.« In der Tat findet die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nach übereinstimmender Feststellung vieler Beobachter »in einer Parallelwelt statt«, die die breite Öffentlichkeit wenig interessiert und in starkem Maße selbstreferenzielle Züge trägt. Sie wird in Ostdeutschland zudem bevorzugt als »eine westdeutsche Idee« angesehen, wie sich als gängiges Urteil insbesondere im Zuge der juristischen Verfolgung von SED-Unrecht und in der öffentlichen Auseinandersetzung um den diskreditierenden Vorwurf der Stasi-Mitarbeit an zahllosen Beispielen herausbildete. Die nicht zuletzt von der Sorge vor einer zweiten Vergangenheitsverdrängung getriebene Gleichsetzung beider deutscher Diktaturen, die etwa das MfS-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen von einem »Dachau des Kommunismus« sprechen ließ, stellt sich vielen Beobachtern rückblickend als »Bevormundung durch eine fremdbestimmte Aufarbeitung« dar, mit der »die ehemaligen DDR-Bürgerrechts-Kreise und diverse öffentlich finanzierte Akteure aus dem Westen […] das SEDRegime und die DDR-Gesellschaft bis ins kleinste Detail unter die historische Lupe legten«, um so zu »vermeiden und zugleich wiedergut[zu] machen, was in Westdeutschland nach  zunächst geschehen war: Verdrängung, Vertuschung, Vergessen«. In der Folge dieser geschichtspolitischen Normierung zeitgenössischer Erfahrung traten öffentliches und privates Gedächtnis weit auseinander. Unter den Auspizien der Aufarbeitung entwickelte sich ein aus der Gegnerschaft zum SED-Staat erwachsenes Diktaturgedächtnis, das die DDR  Renate Köcher: Ostdeutsche haben wenig Vertrauen in Staat und Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...  »Parität erscheint mir logisch«. Offen wie selten spricht Angela Merkel mit der Autorin Jana Hensel über Feminismus, das Regieren als Frau und die mangelnde Anerkennung für die Lebensleistung vieler Ostdeutscher, in: Die Zeit, ...  Jana Hensel: Erich währt am längsten. Wie soll man an die DDR erinnern?, in: Die Zeit, ...  Ilko-Sascha Kowalczuk: Zur Gegenwart der DDR-Geschichte. Ein Essay, in: Zeitgeschichte online, .., https://zeitgeschichte-online.de/thema/zur-gegenwart-der-ddr-geschichte (..).  Ebd.  Arno Orzessek: Aufarbeitung der SED-Vergangenheit. Kann Vergessen nicht auch heilsam sein?, in: Deutschlandfunk Kultur, .., https://www. deutschlandfunkkultur.de/aufarbeitung-der-sed-vergangenheit-kann-vergessennicht..de.html?dram:article_id= (..).

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als historischen Unrechtsstaat konturiert und ihre Geschichte aus dem fundamentalen Unterschied von Freiheit und Unfreiheit, von Gesetzlichkeit und Willkür, von Zwangsherrschaft und Demokratie erzählt. Das Diktaturgedächtnis beherrscht den Raum der öffentlichen Erinnerung, aber es deckt sich nicht mit dem Erfahrungshorizont jenes großen Teils der DDR-Bevölkerung, der vom Umbruch  mehr passiv erfasst wurde, als dass er aktiv auf ihn hingearbeitet hätte, und der neben dem Gewinn auch die Kosten des Zusammenwachsens von Ost und West bilanziert. Neben der Diktaturerinnerung und vielfach in direkter Opposition zu ihr entfaltete sich nach  ein lebensgeschichtliches Deutungsmuster, das den Umbruch von  nicht in den heroischen Narrativen der mutigen Machtüberwindung fasst, sondern vor allem als unvermuteten Einbruch in die vertraute Lebenswelt. Dieses Arrangementgedächtnis beharrt auf der Idee eines richtigen Lebens auch unter den falschen Umständen und erzählt die Geschichte der DDR weder allein vom guten Aufbauwillen noch vom restlosen Scheitern her, sondern von den Ambivalenzen eines sozialistischen Systems, in dem Hoffnung und Enttäuschung, offene Mitmachbereitschaft und versteckte Verweigerung, Integration und Ausgrenzung nahe beieinanderlagen und das gerade darin seine eigene sinnweltliche Normalität geschaffen hatte. Die Krise der Aufarbeitung beruht entscheidend auf dem Umstand, dass diese beiden Gedächtnisse nicht nur weitgehend unverbunden nebeneinander bestehen, sondern sich wechselseitig die Existenzberechtigung absprechen. Wer die DDR-Aufarbeitung als »Endlosabrechnung« schmäht, die ihrem »Wesen nach SED-Propaganda mit umgekehrten Vorzeichen« sei, negiert ihre Leistung ebenso radikal, wie sie umgekehrt ein Bundespräsident monopolisiert, der wie  Christian Wulff bemängelte, dass »der menschenverachtende Charakter der SED-Diktatur noch nicht ausreichend im öffentlichen Bewusstsein verankert sei«. Die Folgen zeigten sich in der Vorbereitung des . Mauerfall-Jubiläums. Auf der einen Seite stehen die Bemühungen, den Durchbruch zur Freiheit noch weiter zu steigern. Die Planungen sahen eine ganze »Festivalwoche zum Jubiläum des Mauerfalls« vor, die etwa in Berlin das KaDeWe zu einer Schaufensterausstellung über den . November aus der Sicht des Kaufhauspersonals veranlasste. Im Berliner Zentrum wurde ein  Krauß (), S. . Vgl. Andreas Fritsche: Wozu die DDR-Aufarbeitung dient. Der Potsdamer Journalist und Buchautor Matthias Krauß glaubt an ein Ablenkungsmanöver, in: Neues Deutschland, ...  »Bundespräsident warnt vor Verharmlosung der SED-Diktatur«, in: Frankfurter Rundschau, ...

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noch nicht dagewesenes Feuerwerk von Reportagen und Zeitzeugenforen entlang der einstigen innerstädtischen Grenze gezündet, das in Echtzeit von Günter Schabowskis verunglückter Ankündigung am . November  um . Uhr bis zur Öffnung des Schlagbaums an der Bornholmer Straße um . Uhr reichte. Auf der anderen Seite aber weckten die Vorbereitungen zum -jährigen Jubiläum  im Vergleich zur Gedenkeuphorie  deutlich weniger Begeisterung, sondern spiegelten bis hin zu der vergessenen Einstellung von Haushaltsmitteln im Bundesinnenministerium Assoziationen zu der sich hinschleppenden Errichtung eines deutschen Freiheits- und Einheitsdenkmals auf der Berliner Schlossinsel. Wichtig allerdings ist, dass sich der fachliche wie öffentliche Rückblick auf »« zunehmend von einer isolierten Jubiläumsperspektive zu lösen begonnen und um eine diachrone Dimension erweitert hat, die die Vor- und Nachgeschichte des Umbruchs von  hervorhebt und den kritischen Anschluss an die sozialwissenschaftliche Transformationsforschung sucht. Zunehmend sehen sich die dramatischen Ereignisse des revolutionären Herbstes in eine »lange Geschichte der ›Wende‹« eingebettet und gewinnt im öffentlichen Bewusstsein die soziale Revolution von oben Konturen, die der politischen Umwälzung von unten folgte und die euphorische Hochstimmung der ostdeutschen Selbstbefreier in eine »tiefe Sinnkrise« umschlagen ließ. Aus dem wachsenden zeitlichen Abstand heraus präsentiert sich die Überwindung der SED-Herrschaft von / nicht nur als glücklicher Abschluss eines »kurzen« . Jahrhunderts, sondern zugleich als problembehafteter Anfang eines »langen« . Jahrhunderts. Mit dem Ruf nach Freiheit auf den Leipziger Montagsdemonstrationen im Oktober und November  trat auch Pegida ins Leben, und im Umschwung von »Wir sind das Volk« zu »Wir sind ein Volk« steckt die Forderung nach Zugehörigkeit ebenso wie nach Ausgrenzung, die in den Worten  Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Transformationsforschung vgl. Christopher Banditt: Quantitative Erforschung der ostdeutschen Transformationsgeschichte, in: Zeitgeschichte, .., https://zeitgeschichte-online.de/thema/ quantitative-erforschung-der-ostdeutschen-transformationsgeschichte (..).  Marcus Böick/Kerstin Brückweh: Einleitung »Weder Ost noch West«. Zum Themenschwerpunkt über die schwierige Geschichte der Transformation Ostdeutschlands, in: ebd.  So schon Jarausch (), S.  ff. Vgl. auch Christoph Lorke: Die Einheit als »soziale Revolution«. Debatten über soziale Ungleichheit in den er Jahren, in: Zeitgeschichte online, .., https://zeitgeschichte-online.de/thema/dieeinheit-als-soziale-revolution (..).

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Thomas Hertfelders der revolutionären Romanze von  ihre »beunruhigende Zweideutigkeit« verleiht. Dass sich die Zentren des mutigen Aufstands gegen das SED-Regime außerhalb Berlins heute vielfach mit den Hochburgen der rechtspopulistischen Erregung überlappen, erklärt sich aus einer Kontinuität von Eigensinn und Staatsverachtung, die sich  gegen die SED-Diktatur richtete und heute gegen den demokratischen Staat der Bundesrepublik:  Prozent der AfD-Wähler – dreimal so viele wie in der deutschen Wählerschaft insgesamt – halten nach jüngsten Umfragen die DDR für einen eigentlich ganz erträglichen Staat. Ihnen gilt die Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur wenig oder nichts. Hier wird die Kontinuität einer sozialen Ichbezogenheit sichtbar, die mit dem Staat nichts anfangen kann – und immer dort, wo es ihm ans Leder geht, mit grimmiger Häme und feixender Freude reagiert. Diese Skepsis gegen »die da oben« und der Unwille, mitzumachen, hat seine Wurzeln nicht allein in der Vereinigungskrise nach , sondern auch im Leben unter diktatorischen Bedingungen vor . Verlorene Abgrenzung von Weimar, desillusionierte Aufarbeitung von NS-Herrschaft und SED-Diktatur – in beiden Entwicklungen offenbart sich ein Zerfall der Gewissheiten, die die Bundesrepublik eine Generation lang und seit ihrer Fundamentalliberalisierung begleitet und stabilisiert haben. An ihre Stelle ist eine neue Fragilität getreten, die mit der allenthalben beschworenen Krise und Vertrauenskrise der Demokratie und ihrer »seit zwanzig Jahren dominanten Meistererzählung« korrespondiert. Das muss zum . Jahrestag eines demokratischen Neuanfangs in Deutschland kein schlechtes Zeichen sein. Dass Demokratie weder selbstverständlich ist noch selbstgefällig werden darf und dass sie neben wohlgeordneten auch ruppige und schmutzige Verhältnisse kennt, zählt zu ihrem Wesen, wie Paul Nolte mit Recht betont. Krisen sind auch Chancen, und für die Geschichtsschreibung eröffnen sie die Möglichkeit, die Weimarer Republik nicht mehr nur auf  hin zu erzählen, sondern über  hinaus bis zur Gegenwart zur verfolgen, und den Untergang der DDR nicht mehr nur als politischen Sieg über die Unfreiheit zu verstehen, sondern auch als kulturellen Umbruch mit langfristigen Folgen. Neubefragung statt Routineantworten – wie anders sollte sich  Thomas Hertfelder:  Jahre Bundesrepublik. Aufstieg und Krise einer Meistererzählung. Vortrag Stuttgart, ... Ich danke Thomas Hertfelder für die Einsichtnahme in das Vortragsmanuskript.  Ebd.  Paul Nolte: Die Zeiten sind rau, aber das ist normal, in: Der Tagesspiegel, ...

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das Land einer Zukunft öffnen, die mehr sein will als bloße Verlängerung der Gegenwart, wie sie François Hartog als Gefahr eines präsentistischen Stillstands beschrieb?

 »En plongeant la société dans un présent sans passé ni futur, le présentisme accélère le travail inexorable du temps. Quand il résiste, le passé n’est généralement plus qu’un objet de commercialisation et de consommation à travers sa patrimonialisation, son exploitation touristique ou sa mise en spectacle (les chaînes spécialisées du câble, les parcs à thème). En précipitant l’amnésie, ce présentisme favorise puissamment le retour des monstres d’antan.« Serge Gruzinski: Les périls du présentisme, in: Libération, ...

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»In Deutschland herrscht Apartheid« Solingen, Mölln und der Kampf um politische Partizipation J S. E / D S

»Was ist eigentlich mit den Türken los?« Es ist üblich geworden, dass deutsche Journalisten diese Frage stellen, wenn es etwa um das Wahlverhalten vieler Türkeistämmiger in Deutschland geht, um deren Unterstützung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan oder die Rolle von DITIB in Deutschland. Man muss nicht einmal zu denjenigen gehören, die in der Springer-Presse die Ausbürgerung des deutschen Staatsbürgers Mesut Özil wegen eines durchaus kritikwürdigen Auftritts mit Erdoğan fordern, um den Türkeistämmigen selbst die Schuld an einer fehlgeschlagenen »Integration« zu geben, sie als »Sorgenkinder der Integration« zu beschreiben oder mangelnde Loyalität gegenüber der Berliner Republik zu beklagen. Zwar machen verständnisvollere Kommentatoren mangelnde wirtschaftliche Perspektiven für die emotionale Distanz zwischen Türkeistämmigen und der Bundesrepublik verantwortlich, aber auch sie argumentieren mit einem Modell, das nach der Inte Celine Lauer u. a.: Türken sind die Sorgenkinder der Integration, in: Die Welt, ... Vgl. auch Esra Özer: Deutschtürken. Fremd in der Heimat, in: Panorama, o. D., https://daserste.ndr.de/panorama/archiv//DeutschtuerkenFremd-in-der-Heimat,unseretuerken.html.  Wer von »den Türken in Deutschland«, »den Deutschtürken« oder »den türkischen Deutschen« spricht, verschleiert, dass es sich hierbei um eine äußerst heterogene Gruppe von Menschen handelt, die man am treffendsten mit dem Begriff »türkeistämmig« beschreiben kann. Hier steht vor allem der (ererbte) Bezug zum Staatsgebiet der Türkei im Vordergrund, schließt aber Menschen mit oder ohne türkische Staatsangehörigkeit, ob hierzulande oder in der Türkei geboren, mit ein und umfasst auch ethnische und religiöse Gruppen wie Kurden, die in der Türkei selbst als Minderheiten gelten; vgl. z. B. Hanrath ().  Vgl. Hannah Beitzer: Wenn Ihr uns nicht wollt, dann eben Erdoğan, in: Süddeutsche Zeitung, ...  Vgl. Patrick Bahners: Wie Mesut Ö. ausgebürgert werden sollte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...  Celine Lauer u. a.: Türken sind die Sorgenkinder der Integration, in: Die Welt, ...  Vgl. Markus C. Schulte von Drach: Immer mehr Deutschtürken betrachten die Türkei als Heimat, in: Süddeutsche Zeitung, ...

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grationsfähigkeit beziehungsweise -willigkeit einer Minderheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft fragt. Bei der Suche nach historischen Erklärungen für die Diagnose einer defizitären Integration Türkeistämmiger ist man schnell bei der rassistischen Gewalt der er Jahre. Ulrich Herbert, der zu den wenigen Historikern gehört, die sich mit der jüngeren Migrationsgeschichte befasst haben, kommt zu dem Schluss: »Für den Prozess der Integration insbesondere der aus der Türkei stammenden Zuwanderer bedeuten die Morde und Anschläge der er Jahre einen bis heute nachwirkenden tiefen Bruch, der Wunsch nach Integration in diese ihnen offenkundig so feindlich gegenüberstehende deutsche Gesellschaft hat sich vor allem bei den Jüngeren deutlich vermindert.« Ganz unabhängig davon, ob man der empirisch von Herbert nicht weiter unterfütterten Argumentation folgt – der von ihm postulierte Zusammenhang ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Daran wird erkennbar, wie sehr eine erfahrungsgeschichtliche Perspektive auf die jüngere Migrationsgeschichte nottut. Um den Nationalismus und die Gewalt der er Jahre in der deutschen Geschichte verorten zu können, kommt man nicht umhin, nach den Erfahrungen und Reaktionen migrantischer Gruppen zu fragen. Doch anders, als Herbert dies nahelegt, führt ein solcher Perspektivenwechsel letztlich weg von der Diagnose defizitärer Integration, die es mithilfe der Gewalterfahrung der er Jahre zu erklären gelte. Nimmt man nämlich die Perspektive der migrantischen Bevölkerung in Deutschland zum Ausgangspunkt historischen Fragens, stehen nicht die im Integrationsdiskurs verhandelten Anpassungserwartungen der Mehrheitsgesellschaft im Vordergrund. Für migrantische Kommentatoren und Kommentatorinnen war die Gewalt der er Jahre nämlich keine Frage der Integration. Viel eher stellten sie das Problem ungleich verteilter politischer Partizipationsmöglichkeiten in den Mittelpunkt. Dieser Beitrag erzählt deshalb nicht die Geschichte einer verhinderten Integration, sondern zielt vielmehr darauf, die Heterogenität der Erfahrungen, Deutungen und Reaktionen Türkeistämmiger vor dem Hintergrund rassistischer Gewalt im wiedervereinten Deutschland herauszuarbeiten. Diese Geschichte wird hier als Teil eines Kampfes um politische Partizipation gedeutet. Angesichts der Forschungslage kann es sich dabei jedoch nur um einen ersten essayistischen Aufschlag handeln. Denn  Herbert (), S.  f.  Zur Forderung, Migrationsgeschichte zu einem selbstverständlichen Bestandteil deutscher Geschichte zu machen, vgl. Alexopoulou ( und ).

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während die Sozialwissenschaften bereits seit Längerem migrantische Perspektiven ernst nehmen, hat die deutsche Zeitgeschichtsforschung diesem Blickwinkel lange Zeit kaum Beachtung geschenkt. Wie verhält es sich also, wenn man die Perspektive wechselt und die Frage ins Zentrum stellt, wie Türkeistämmige den deutschen Staat und die bundesrepublikanische Mehrheitsgesellschaft in den letzten dreißig Jahren erfahren haben? Wie haben sich insbesondere die Erfahrung rechtsradikaler und rassistischer Gewalt in der frühen Nachwendezeit und die Reaktionen des Staates darauf auf das Verhältnis der Türkeistämmigen zu diesem Staat ausgewirkt? Was waren Nachwirkungen des Rassismus im vereinten Deutschland? Und schließlich: Was sagt dies über die Entwicklung der Demokratie und der Demokratisierung der Deutschen seit / aus?

Aus Gewalt lernen Der Hochschullehrer, Bürgerrechtler und Politiker Hakki Keskin fand nach dem Mordanschlag vom ./. Mai  in Solingen drastische Worte, um die Situation der , Millionen Türkeistämmigen in Deutschland zu beschreiben: Hierzulande seien sie »Menschen zweiter Klasse«. Insbesondere für diejenigen, die zwar in Deutschland geboren worden seien, aber dennoch die Staatsbürgerschaft nicht innehätten, sei die Bundesrepublik nur mit Südafrika vergleichbar: »In Deutschland herrscht Apartheid.« Und er führte weiter aus: »Die Deutschen glauben nicht, daß sich ein Nichtdeutscher, auch wenn er seit Jahrzehnten hier lebt, wie ein Deutscher fühlt oder sich für ihre Belange einsetzen könnte. Da bleibt ein Misstrauen gegenüber den Minderheiten. Die Türken sind ausgegrenzt, nicht einmal in der Freiwilligen Feuerwehr von Mölln sind sie willkommen.« Für die Türkeistämmigen in Deutschland markierten die Anschläge von Mölln und Solingen, bei denen insgesamt acht türkeistämmige Menschen ums Leben kamen und  teils schwer verletzt wurden, einen tiefen Einschnitt. Die Gewalt der frühen er Jahre fügt sich zum einen in die lange Geschichte der Rassismuserfahrungen migrantischer Deutscher und nichtdeutscher Migranten. Gleichzeitig stellten Solingen und Mölln aber auch eine neue, bedrohliche Form der Eskalation dieser  Vgl. ebd.  »Hier herrscht Apartheid«, in: Der Spiegel, .., S. .

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Rassismuserfahrungen dar. Der Brandanschlag von Mölln markierte den bis dato tödlichsten rassistisch motivierten Gewaltakt im wiedervereinigten Deutschland. Die beiden Täter, die Neonazis Michael Peters und Lars Christiansen, hatten in der Nacht auf den . November  zwei von Türkeistämmigen bewohnte Häuser mit Brandsätzen angezündet. Während die Bewohner des ersten Hauses noch rechtzeitig entkommen konnten, kamen im zweiten Haus drei Menschen ums Leben: die zum Tatzeitpunkt -jährige Bahide Arslan und ihre beiden Enkelinnen, die zehn- und vierzehnjährigen Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz. Schon vor dem Anschlag hatte es im schleswig-holsteinischen Mölln Spannungen zwischen einigen türkeistämmigen Bewohnern und Skinheads gegeben, bei denen es gelegentlich auch zu Schlägereien gekommen war. Dabei hatten die Skinheads keineswegs immer die Oberhand behalten, sondern es herrschte, so wurde berichtet, eine Art »Gleichgewicht« zwischen den gewaltbereiten Grüppchen in der Kleinstadt. Die überwiegende Mehrheit der etwa  Türken sowie deren in Deutschland geborene Kinder in Mölln, einer Stadt mit rund   Einwohnern, sah sich bis zum Anschlag zwar nicht physisch bedroht, aber spürbar durch die »unsichtbare Apartheid deutscher Kleinstädte« diskriminiert. Aus der Sicht vieler von ihnen war der Anschlag daher ein eindeutiger Beweis für die tiefsitzende Feindseligkeit der deutschen Mehrheitsbevölkerung gegenüber den Türkeistämmigen. Dies zeigte sich etwa in dem Vorwurf, die Möllner Freiwillige Feuerwehr hätte mehr Kraft darauf verwandt, die von Deutschen bewohnten Nachbarhäuser vor einem Übergriff der Flammen zu bewahren, als Leben zu retten. Noch während des Gerichtsverfahrens gegen Peters und Christiansen, die jeweils die Höchststrafe erhielten, ermordeten vier Neonazis im bergischen Solingen fünf türkeistämmige Menschen, wiederum durch einen Brandanschlag. Die Täter, Markus Gartmann, Felix Köhnen, Christian Reher und Christian Buchholz, hatten in der Nacht vom . auf den . Mai  das Wohnhaus der Familie Genç angezündet. Zwar konnten  Menschen aus dem brennenden Haus lebend, teilweise schwer verletzt entkommen, aber Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und die erst vierjährige Saime Genç kamen bei dem Anschlag ums Leben. Die Täter, die zum Tatzeitpunkt teilweise noch un Vgl. Frei/Maubach/Morina/Tändler (), S. -.  Vgl. z. B. Oliver Tolmein: Hartes Urteil im Möllner Brandstifter-Prozess, in: Deutschlandfunk Kultur, ...  Cordt Schnibben: »So müßt’ die Welt untergehn«, in: Der Spiegel, .., S. -.

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ter das Jugendstrafrecht fielen, erhielten Haftstrafen zwischen zehn und fünfzehn Jahren, ein Urteil, das viele Türkeistämmige als zu milde erachteten. Mit »Solingen« wurde schockartig klar, dass der Anschlag von Mölln kein tragischer Einzelfall gewesen war, sondern tödliche Gewalt gegen Türken in Deutschland zu einem wiederkehrenden Phänomen zu werden drohte. Plötzlich gehörten Sicherheitsvorkehrungen und Diskussionen darüber, das Land zu verlassen, zum Alltag. Die älteren türkeistämmigen Deutschen, die sich nach Jahrzehnten des Lebens zwischen zwei Ländern von der Vorstellung, irgendwann einmal in die Türkei zurückzugehen, verabschiedet hatten, verloren nach Mölln und Solingen ihr »mühsam errungene[s] Gleichgewicht«. So berichteten die Kinder der Familie Altintas aus Hessen: »Unser Vater […] wacht jede Nacht auf und kann nicht mehr schlafen.« Die Angst vor erneuten Anschlägen prägte Mitte der er Jahre den Alltag. Die Signale, die aus Politik und Behörden kamen, waren nicht dazu angetan, der Verunsicherung der migrantischen Bevölkerung entgegenzuwirken. Zwar bezog Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf der zentralen Trauerfeier eindeutig gegen den Terror der Neonazis Stellung und stellte einen Zusammenhang zwischen den beiden Anschlägen auf Türkeistämmige in Deutschland her: Diese seien nicht »unzusammenhängende, vereinzelte Untaten«, sondern entstammten einem »rechtsextremistisch erzeugten Klima«. Auch hatte Weizsäcker, so Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, dazu aufgerufen, »den türkischen Bürgern in Deutschland das Gefühl zu nehmen, Bürger zweiter Klasse zu sein«. Helmut Kohl hingegen fuhr einen Kurs, den man im besten Fall als einen aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbaren Mangel an Empathie interpretieren kann. Der Bundeskanzler erschien weder zu den Trauerfeiern in Deutschland noch zu denen in der Türkei. Als Grund für seine Abwesenheit in Solingen wurde eine Kabinettssitzung angegeben, auf deren Tagesordnung Themen wie der Hörfunküberleitungsvertrag und der Entwurf des Gesetzes zur Reform des Weinrechtes     

Hans-Werner Loose: Schuld im Übermaß, in: Die Welt, ... Özdemir (), S.  f.; Mekhennet (), S.  f. »Bleib weg von Fadime«, in: Der Spiegel, .., S. -. Vgl. z. B. Özdemir (), S.  f. Reiner Burger: Eine Nacht, die nicht vergeht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ...  Heribert Prantl: Wie der Hass entstand, in: Süddeutsche Zeitung, ...

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standen. Bei der Trauerfeier für die Opfer von Mölln, die in Hamburg stattgefunden hatte, wurde Kohl von Regierungssprecher Dieter Vogel mit Hinweis auf die »weiß Gott anderen wichtigen Termine« des Bundeskanzlers entschuldigt – und Vogel schob nach, man wolle nicht »in Beileidstourismus ausbrechen«. Hinzu kam der Tenor der in etwa zeitgleich stattfindenden Asyldebatte, in der seit dem Sommer  ein Bedrohungsszenario durch »Flüchtlingsmassen« heraufbeschworen wurde; deutsche Politiker, so Heribert Prantl später, hätten sich geradezu einen »Katastrophenjargon« angeeignet, wenn sie von Flüchtlingen sprachen. Nicht nur in der Union konnte man solche Stimmen vernehmen, wo etwa der bayerische Innenminister Edmund Stoiber eine besonders harte Linie verfolgte; auch die SPD schwenkte auf diesen Kurs ein, indem sie dem sogenannten »Asylkompromiss« Ende  zustimmte, der das Grundrecht auf Asyl einschränkte. Die äußerst heftig geführte Asyldebatte wurde von nicht wenigen als Katalysator rechter Gewalt gesehen. Der ehemalige SPD-Innenminister Nordrhein-Westfalens, Herbert Schnoor, meinte im Rückblick, die Politik habe »eine Art Beihilfe zur Stärkung« der Gewalt geleistet: »Wenn junge Menschen erleben, wie Politik über Flüchtlinge und Ausländer spricht, dann muss man sich nicht wundern, wenn Jugendliche diese verbale Gewalt in brutale Gewalt übersetzen.« Auch wenn sich Ende  Hunderttausende Menschen in deutschen Großstädten zu Lichterketten zusammenschlossen, um gegen Ausländerhass zu demonstrieren, schürte das Verhalten der deutschen Spitzenpolitiker doch erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit des demokratischen Rechtsstaats. Insbesondere die Bereitschaft des deutschen Staates, seine ausländischstämmige Bevölkerung zu schützen, erschien vielen als fraglich. Diese Zweifel wurden durch gravierende Fehler der Ermittlungsbehörden in Mölln und Solingen noch verstärkt. Ähnlich wie später bei den NSU-Morden vermuteten die Behörden im Fall Mölln die Täter zunächst unter den Angehörigen der Opfer. Und auch zwischen den  »Trauer in Köln. Kohl in Bonn«, in: die tageszeitung, ...  Barbara Dribbusch u. a.: Zwölf Gründe, diese Regierung abzuwählen, in: die tageszeitung, ...  Heribert Prantl: »Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch«, in: Süddeutsche Zeitung, ...  Poutros (), S. -; Herbert (); Panagiotidis ().  Zit. nach Prantl (wie Anm. ).  Jean-Pierre Ziegler: Gedenken an den Anschlag in Mölln. Mahnmal der Schande, in: Spiegel Online, ...

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Ermittlungen zu Solingen und denen zum NSU gab es Parallelen, denn in beiden Fällen war es zu gravierenden Ermittlungspannen gekommen, und in beiden Fällen stand der Verdacht im Raum, ein involvierter V-Mann des Verfassungsschutzes habe zur Radikalisierung der Täter beigetragen beziehungsweise diese zu ihren Taten angestiftet. Für viele Türkeistämmige fügten sich die Reaktionen von Behörden und Politik nahtlos in ihre Erfahrungen mit institutionellem Alltagsrassismus ein. Den Gang zum Rathaus oder zur Schulbehörde beschrieben Frauen mit Kopftuch immer wieder als eine demütigende Tortur. Kinder aus türkeistämmigen Familien hatten es trotz guter Noten schwerer, eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Behörden beharrten ausdrücklich darauf, Personen mit Migrationshintergrund nicht über ihre Rechte zu informieren. Es verwundert deshalb kaum, wenn sich türkeistämmige Deutsche Mitte der er Jahre in ihren Vorbehalten gegenüber einem Staat bestätigt sahen, der Ausländer und Menschen mit ausländischen Wurzeln nicht nur in der politischen Debatte zu Sündenböcken machte, sondern offenbar auch nur zögerlich bereit war, Verbrechen zu verhindern oder diese aufzuklären. Wenn die Kieler Lehrerin Melek Lanksch-Erbel, die  bereits  Jahre in der Bundesrepublik gelebt hatte, in einem offenen Brief nach Bonn schrieb, sie hätte das »Vertrauen in die Zukunft« angesichts der zögerlichen Haltung der Bundespolitik verloren, dürfte sie damit vielen Türkeistämmigen aus der Seele gesprochen haben. Andere zogen weiter gehende Schlussfolgerungen aus ihren Rassismuserfahrungen. Ein in zweiter Generation in Solingen lebender Arbeiter brachte seine Wahrnehmung der Parteienlandschaft recht drastisch zum Ausdruck: »Wenn man sich Wahlen anguckt, dann sagt das eigentlich alles. […] Ich stell’ mal immer die Dings, die CDU oder CSU oder egal, welche Politik-Dings, außer die SPD vielleicht noch, gleich mit den Rechtsextremisten. Für mich ist das kein Unterschied.« Jugendliche in Hamburg waren überzeugt: »Alle Polizisten schützen Nazis.« Nach der Vorführung eines Films über die Identitätsvorstellungen junger muslimischer »Gastarbeiterkinder« kam ein Kritiker zu dem Schluss: »Vor dem

    

Prantl (wie Anm. ). Vgl. z. B. die qualitativen Interviews in Demirtaş (). »Bleib weg von Fadime«, in: Der Spiegel, .., S. -. Demirtaş (), S. . »Hört bloß auf mit Lichterketten«, in: die tageszeitung, ...

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Hintergrund von Mölln und Solingen scheint es für die Türkinnen im Film nur rassistische Deutsche zu geben.« Wachsende Skepsis gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihrem demokratischen Rechtsstaat war jedoch nur eine Facette der Wirkungsgeschichte von Mölln und Solingen. Die Anschläge zeitigten durchaus auch mobilisierende Effekte. Der ehemalige FDP-Politiker Mehmet Daimagüler erklärte  in einem Interview: »So wie der Tod Benno Ohnesorgs eine ganze Generation politisiert hat, haben die rechtsextremen Anschläge von Mölln und Solingen und die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda eine Generation von Deutschtürken politisiert.« Diese Politisierung fand auf verschiedenen Ebenen Ausdruck und nahm viele Formen an. Vielerorts organisierte die türkeistämmige Community Demonstrationen gegen rassistische Gewalt oder verbreitete Plakate, die die Gewalt verurteilten. Die Politisierung ging jedoch weit darüber hinaus. Verstärkten Zuspruch erfuhren kollektive Identitätsangebote, die es Türkeistämmigen erlaubten, der eigenen kulturellen Prägung eine besondere Bedeutung zu geben. In einer Umfrage unter türkeistämmigen Jugendlichen gaben über  Prozent der Befragten an, dass die Anschläge in Solingen und Mölln dazu führen müssten, sich enger zusammenzuschließen. Die Suche nach Identität und Zusammenhalt war vielgestaltig. Eine Jugendliche gab  zu Protokoll: »Wenn hier ein paar Hunde verbrannt wären […,] wär’ mehr passiert als bei fünf Türken.« Daher wolle sie nur noch Zeit mit »meinen Leuten« verbringen, denn wenn es »hart auf hart kommt […,] würden mir die Deutschen nicht helfen«. Faruk Şen vom Essener Zentrum für Türkeistudien konstatierte, dass gerade junge Männer »nationalistischer und aggressiver« geworden seien und sich zunehmend von der nicht türkeistämmigen Bevölkerung abkapselten. Religion spielte eine wichtige Rolle. Die Beobachtung eines Kölner Hauptschullehrers dürfte beispielhaft für eine spezifische Form der Identitätssuche gewesen sein. Er bemerkte eine Veränderung bei vielen seiner Schüler: Auf dem Schulhof tauchten vermehrt religiöse und nationale Symbole auf. Eine Schülerin schrieb Gedichte über das Leiden der bos Rebecca Hillauer: Nachschlag. Ansichten junger Türkinnen: Filmisches Edutainment im Arsenal, in: die tageszeitung, ...  Montagsinterview mit Mehmet Daimagüler: »Ich habe zwanzig Jahre lang die Schnauze gehalten«, in: die tageszeitung, ...  Demirtaş (), S. .  Zit. nach: »Bleib weg von Fadime«, in: Der Spiegel, .., S. -.  Ebd.

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nischen Muslime, und ein Schüler erklärte: »Nach Solingen ist es wichtig, daß wir wissen, wer wir sind, und daß wir gut sind.« Junge Frauen entdeckten das Kopftuch oder die Verschleierung als Mittel, ein gesellschaftspolitisches Statement abzugeben. Die ältere Generation stellte erstaunt fest, dass die Jungen konservativer und religiöser wurden. Ähnliche Entwicklungen ließen sich auch in anderen muslimischen Gesellschaften innerhalb und außerhalb Europas beobachten. Diese fanden ihren Ausdruck nicht zuletzt in grenzübergreifenden Solidaritätsbekundungen, etwa mit den bosnischen Muslimen. Vor allem in der Türkei nutzten verschiedene religiöse Bewegungen das Ende des staatlichen Medienmonopols für eine Ausweitung ihrer Aktivität. Außerdem verwandelten sich religiöse Gruppierungen wie die Gülen-Bewegung, die bis dahin lediglich in der Türkei aktiv gewesen waren, zu transnationalen Akteuren. Die rassistische Gewalt in der Bundesrepublik muss deshalb als ein Faktor unter mehreren verstanden werden, welche die dezidiertere Hinwendung zum Islam erklären. Viele Türkeistämmige standen einer stärkeren Betonung religiöser Identitäten als Antwort auf Gewalt allerdings skeptisch gegenüber. Stattdessen setzten sie auf mehr Selbstorganisation zwecks effektiverer Vertretung eigener Interessen in Staat und Gesellschaft. Eine zu starke Betonung religiöser Themen gefährdete einen solchen Ansatz. Zu heterogen war die Community, zu der Sunniten, Schiiten und Alewiten gehörten. Die Ereignisse in der Türkei bestätigten das. Im Sommer  spitzten sich dort die Spannungen zwischen Alewiten und Sunniten zu, und kurz nach Solingen kam es in Sivas zu einem Brandanschlag, bei dem  Alewiten getötet wurden. Die Türkische Gemeinde in Deutschland, die unter anderem in Reaktion auf Solingen und Mölln gegründet worden war, verstand sich deshalb explizit als nichtreligiöse Interessenvertretung. Auch auf lokaler Ebene blühten türkeistämmige Initiativen auf und erfuhren neue Aufmerksamkeit. Und auch hier betonten die Mitglieder explizit den nichtreligiösen Charakter ihres Engagements.

 Vera Gaserow: Die Freundschaft zersplittert, in: Die Zeit, ...  Ebd.; Gesprächsnotizen von Gizem Acikgöz, Februar ; Barbara Supp: Die Integrierten, in: Der Spiegel, ...  Kuru ().  Vgl. z. B. »Druck machen auf die Politik«, in: Süddeutsche Zeitung, ..; Roland Kirbach: »Das tut weh«, in: Die Zeit, ...

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Der Kampf um Mitbestimmung Nicht zuletzt auf landes- und bundespolitischer Ebene gerieten die Dinge infolge der rassistischen Anschläge in Bewegung. Anfang der er Jahre gab es keine der breiten Öffentlichkeit bekannten türkeistämmigen Politiker. Das begann sich nun zu ändern. Hakki Keskin, bis dahin Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, wurde  in die Hamburgische Bürgerschaft gewählt. Cem Özdemir nannte Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen als entscheidende Gründe für seine Kandidatur um ein Bundestagsmandat.  war er der erste türkeistämmige Abgeordnete.  wählte die FDP Mehmet Daimagüler, der bis dahin Assistent der Parteigranden Gerhart Baum, Wolfgang Kubicki und Burkhard Hirsch gewesen war, in den Bundesvorstand. Ekin Deligöz wurde  für die Grünen in den Bundestag gewählt. Sie alle waren Ausdruck eines allgemeineren Trends. Noch Ende der er Jahre hatte es sich bei der Mehrzahl der Abgeordneten im Bundestag und in den Länderparlamenten, die über einen sogenannten Migrationshintergrund verfügten, um Vertriebene gehandelt.  gab es nur fünf Landtagsabgeordnete, die in der ersten oder zweiten Generation in Deutschland lebten und nicht zu dieser Gruppe gehörten. Im Laufe der er Jahre änderte sich das.  waren es bereits , fünf Jahre später  Abgeordnete. So schuf die politische Debatte, die durch die Anschläge angestoßen worden war, neue Handlungsräume für türkeistämmige Politiker. »Ausländerpolitik« war plötzlich ein viel diskutiertes Feld, für das glaubwürdige Kandidaten und Talkshowgäste gesucht wurden. Keskin jedenfalls kam zu dem Schluss, dass die SPD »gerade nach den Morden von Mölln, Solingen und anderswo« mit seiner Kandidatur »ein Signal gegen Ausländerfeindlichkeit setzen« wolle. Und Daimagüler beschrieb seine Erfahrungen in der Politik Mitte der er Jahre rückblickend: »Wir waren jung und neu, wir wurden gehypt.« Ein politisches Projekt verband diese Gruppe von Politikern über Parteigrenzen hinweg: die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Neu war die Forderung nicht, sie erfuhr allerdings im Zuge der rassistischen Anschläge Anfang der er Jahre enormen Auftrieb. Die Taten lösten eine    

Özdemir (), S.  f. Wüst/Heinz (), S. . »Signal nach Solingen«, in: Der Spiegel, .., S. . Montagsinterview mit Mehmet Daimagüler (wie Anm. ).

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intensive Debatte über die Integration von Migranten aus. Türkeistämmigen wurde vorgehalten, die Anschläge seien nicht zuletzt eine Reaktion auf ihre mangelnde Integration. Dem setzten türkische Interessenvertretungen und die junge Kohorte türkeistämmiger Politiker eine eigene Lesart entgegen: Die Einwanderer hätten einen wesentlichen Beitrag zum Auf bau des Landes geleistet. Da sie aber nur unter großen Schwierigkeiten die türkische Staatsbürgerschaft aufgeben könnten und eine doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland nicht möglich sei, bleibe ein großer Teil der Bevölkerung von der politischen Partizipation ausgeschlossen. Wegen des Abstammungsprinzips sei es selbst für die in Deutschland geborene zweite Generation schwierig, deutsche Staatsbürger zu werden. Deutschland müsse deshalb sein Staatszugehörigkeitsrecht reformieren und neben der doppelten Staatsbürgerschaft auch das Geburtsortsprinzip einführen. Das Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung erklärte, es sei verhängnisvoll, wenn »große Gruppen der Gesellschaft nicht in die politische Verantwortung« einbezogen würden. Es rechnete vor, dass   der , Millionen Einwohner NordrheinWestfalens Türken seien; in Duisburg stellten sie mit über   Einwohnern sogar ein Zehntel der Stadtbevölkerung. Dadurch sinke nicht zuletzt der demokratische Legitimitätsanspruch des Staates. Politikern wie Özdemir, Keskin und Daimagüler waren die Schwierigkeiten nur allzu bekannt, mit denen sich türkische Staatsbürger konfrontiert sahen, wenn sie Deutsche werden wollten. Sie alle hatten diesen Prozess durchlaufen und ihn als zutiefst erniedrigend empfunden. Dem noch jugendlichen Pazifisten Özdemir erklärte man im türkischen Konsulat, dass man ihn erst ernst nehmen könne, wenn er in der Türkei den Militärdienst absolviert habe. Als sein Vater ihn schließlich begleitete, warf man diesem vor, seinen Sohn falsch erzogen zu haben. Die Weigerung des türkischen Konsulats, eine Ausbürgerungsurkunde zu erstellen, erzeugte wiederum Schwierigkeiten bei den deutschen Behörden. Deren Beharren auf Formalia empfand Özdemir als Missachtung seiner deutschen Identität und seiner sprachlichen Fertigkeiten. Erst die Intervention »verschiedener Honoratioren« seines Heimatortes Bad Urach  Vgl. z. B. »Offener Brief an die  Abgeordneten, die am .. im Bundestag gegen die Änderung des Grundgesetzartikels  und Verschärfung der Asylgesetzgebung gestimmt haben«, in: die tageszeitung, ..; Heide Platen: Anknüpfen an die Tradition der Emanzipation, in: die tageszeitung, ..; Ozan Ceyhun: Der Umweg über die Parteien, in: die tageszeitung, ...  Roland Kirbach: »Das tut weh«, in: Die Zeit, ...  »Signal nach Solingen«, in: Der Spiegel, ...

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ermöglichte Özdemirs Einbürgerung und ebnete so auch den Weg für seine politische Karriere. Nun konnte er wählen und gewählt werden. Auch brauchte er auf Demonstrationen nicht mehr dieselbe Vorsicht wie zuvor walten lassen, um nicht durch eine Festnahme den eigenen Einbürgerungsprozess zu gefährden. Erfahrungen wie diese trugen die Kampagne für eine doppelte Staatsbürgerschaft. Vor dem Hintergrund der rassistischen Gewalt stieß die Forderung nach mehr politischer Partizipation zunächst parteiübergreifend auf positive Resonanz. Horst Eylmann, CDU-Abgeordneter und Vorsitzender des Bundestagsrechtsausschusses, unterstützte die doppelte Staatsbürgerschaft und auch das volle Wahlrecht für Ausländer. Hans Stercken, Eylmanns Parteikollege und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, stimmte ihm weitgehend zu, wenn auch mit der Einschränkung, dass die zweite Staatsbürgerschaft ruhen müsse. Cornelia Schmalz-Jacobsen, Ausländerbeauftragte der Bundesregierung und FDP-Mitglied, forderte eine schnelle gesetzliche Regelung zur Möglichkeit der Doppel-Staatsbürgerschaft. In einem parteiübergreifenden »Memorandum für eine emanzipierte Gesellschaft« forderten namhafte Wissenschaftler und Politiker wie Gesine Schwan, Wolfgang Thierse oder Dieter Oberndörfer unter Verweis auf Mölln und Solingen, das deutsche Staatsbürgerrecht zu ändern. Doch die Zustimmung von Vertretern der Parteien – und mochten sie auch respektable Posten bekleiden – hieß noch lange nicht, dass CDU oder FDP zu einer Gesetzesinitiative bereit gewesen wären. Nach der Bundestagswahl von  mieden beide Parteien das Thema. Die Forderung nach einer doppelten Staatsbürgerschaft hielt sich dennoch hartnäckig und erfuhr immer wieder neue Aufmerksamkeit – etwa als die türkische Regierung im Sommer  ein Gesetz erließ, das die Annahme einer neuen Staatsbürgerschaft erleichtern sollte. Dann kam die Bundestagswahl . Der Wahlkampf fiel zusammen mit dem fünfjährigen Gedenken an den Brandanschlag von Solingen. »Wo sind unsere Rechte, wo bleibt unser Wahlrecht?«, rief Mevlüde Genç, die bei dem Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren hatte, bei einer

 Özdemir (), S. -.  »Auch Stimmen für doppelte Staatsbürgerschaft mehren sich«, in: Saarbrücker Zeitung, ...  »Memorandum für eine emanzipierte Gesellschaft«, in: die tageszeitung, ...  Hans Engels: Türken, werdet Deutsche, in: die tageszeitung, ...

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Veranstaltung im Solinger Rathaus. Mittlerweile stießen solche Forderungen nur noch im linken Spektrum auf Gehör. Der Wahlsieg von Rot-Grün schien schließlich der so lange geforderten Reform des Staatsbürgerschaftsrechts den Weg zu ebnen. Im Koalitionsvertrag erklärten SPD und Grüne unter dem Titel »Sicherheit für alle – Bürgerrechte stärken«, die Rechte von Minderheiten zu einem Thema machen zu wollen. Im Zentrum dieser Politik werde »die Schaffung eines modernen Staatsangehörigkeitsrechts stehen«. Neben der Einführung des Geburtsortsprinzips, wonach ein Staat die Staatsbürgerschaft allen auf seinem Territorium Geborenen verleiht, sollte auch den bereits länger in Deutschland Lebenden der Zugang zu einem deutschen Pass so leicht wie möglich gemacht werden. Sicherheit und Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts zusammenzudenken entsprach allerdings nicht den herkömmlichen Deutungsmustern der Mehrheitsgesellschaft, wie sich schon bald zeigen sollte. Verstehen lässt sich diese Verbindung vor dem Erfahrungshintergrund der türkeistämmigen Communities und der Debatte über rassistische Gewalt. Innenminister Otto Schily hatte seinen Gesetzentwurf zur Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft noch nicht vorgelegt, da machte die Opposition bereits mobil. Bundesweit startete die Union Ende  eine Unterschriftenaktion unter dem Motto »Ja zur Integration – Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft«. Im hessischen Wahlkampf nutzte die CDU das Thema, um gegen die Gesetzesinitiative der Regierung Stimmung zu machen. Wie schon Anfang der er Jahre verschärfte sich der Ton. Edmund Stoiber, nun bayerischer Ministerpräsident, erklärte etwa, die doppelte Staatsbürgerschaft werde die Sicherheit stärker gefährden als die RAF in den er Jahren; sein Staatskanzleichef verwies in diesem Zusammenhang auf bis zu   »mögliche PKK-Kämpfer« in Deutschland. Der Topos von Migration als Bedrohung der Sicherheit ließ sich offenbar selbst dann bedienen, wenn die Ereignisse in der Bundesrepublik eigentlich den Umkehrschluss nahelegten, nämlich dass Migranten bedroht waren: Auf dem Höhepunkt der Kampagne jagten Jugendliche im brandenburgischen Guben drei Asylbewerber durch den Ort und ermordeten einen Algerier. Die Grünen warnten: »In der Bun »Dieses Leid kann niemand lindern«, in: Bonner Generalanzeiger, ...  Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins . Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und BÜNDNIS /DIE GRÜNEN, Bonn, . Oktober , www.gruene.de/ueber-uns/dokumente-publikationen.html, S.  f.  DLF-Interview mit Erwin Huber, ...

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desrepublik leben mehr als sieben Millionen Menschen ohne deutschen Paß. Sie können elementare Bürgerrechte, z. B. Wahlrecht, nicht nutzen, aber auch in praktischen Dingen des täglichen Lebens sind sie benachteiligt. […] Wenn Rostock, Solingen und Hoyerswerda und Mölln noch nicht gereicht haben sollten, dann müßten nach dem jüngsten Beispiel Guben die Alarmglocken schrillen.« Wenige Monate später schlug der NSU erstmals zu und platzierte eine Rohrbombe in einer Gastwirtschaft. Der türkeistämmige Besitzer wurde leicht verletzt. Wie auch bei den folgenden Anschlägen wollten die Ermittlungsbehörden keinen ausländerfeindlichen Hintergrund erkennen. Die Kommentatoren waren sich weitgehend einig darüber, dass die Kampagne gegen den »Doppel-Pass« wesentlich zum Wahlsieg der CDU in Hessen beitrug. Dadurch veränderten sich auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Grüne und SPD konnten ihr Vorhaben nicht mehr wie geplant umsetzen. Am Ende stand ein reformiertes Staatsbürgerschaftsrecht, das erstmals das Geburtsortsprinzip anerkannte, allerdings um den Preis, dass gleichzeitig das Prinzip der Vermeidung der doppelten Staatsbürgerschaft festgeschrieben wurde.

Fazit Was bedeuteten die rassistische Gewalt der frühen er Jahre und die gesellschaftlichen Reaktionen darauf für den Demokratisierungsprozess in der Bundesrepublik? Ohne Zweifel sperrt sich diese Geschichte gegen Erfolgsnarrative wie das von der »geglückten Demokratie«, das zentrale migrantische Erfahrungen und Stimmen ausblendet. Versteht man die Ausweitung gesellschaftlicher Partizipation als Indikator für Demokratie, dann kann man dieses Narrativ mit seinen Leerstellen auch als Ausdruck einer mangelhaften Demokratisierung der Geschichtswissenschaft selbst deuten – einer Disziplin, die sich schwer damit tut, Perspektiven wie die der türkischstämmigen Communities in ihren Interpretationen zu berücksichtigen. Die Reaktionen auf die rassistische Gewalt und die gesellschaftlichen Prozesse, die sie auslöste, waren offenbar zu ambivalent, als dass man sie in eine so glatte Erzählung hätte einfügen können. Zu dieser Geschichte gehört die Politisierung eines Teils der türkeistämmigen Deutschen – eine Entwicklung, die sowohl in der gesteigerten Bedeu »Memorandum«, in: die tageszeitung, ...  Wolfrum ().

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tung religiöser Institutionen und nationalistischer Identifikationsangebote als auch in den politischen Karrieren von Politikern wie Cem Özdemir und der Ausweitung politischer Partizipation zum Ausdruck kam. Und dazu gehört auch die heftige Gegenwehr, auf die der Kampf um mehr demokratische Teilhabe in Teilen der deutschen Gesellschaft stieß. Wer die in Teilen der türkeistämmigen Community zu beobachtende Demokratieskepsis verstehen will, die nicht zuletzt in der Euphorie gegenüber Erdoğans Politik zum Ausdruck kommt, wird deren Erfahrungen mit dem deutschen Rechtsstaat und seinen Institutionen ebenso wie die verbale und physische Gewalt näher in den Blick nehmen müssen, mit der viele Deutsche die Teilhabe an diesem Gemeinwesen zu beschränken suchten. Gleichzeitig gilt allerdings: Wo sich die Skepsis gegen einzelne Institutionen der deutschen Demokratie richtete, wirkte sie als unerlässliches Korrektiv. Während Polizei und Verfassungsschutz bei der Aufklärung der NSU-Morde versagten, waren es gerade die Netzwerke der türkeistämmigen Communities, die schon früh Hinweise auf den rechtsextremen Hintergrund zusammentrugen und sich für eine Aufklärung einsetzten. Ebenso drängt sich die Frage auf, ob der Zuspruch, den Pegida und AfD unter den heute - bis -Jährigen erfahren, nicht ebenfalls dem Kontext der rassistischen Gewalt der er Jahre entstammt. Lässt sich das fremdenfeindliche Engagement und ein entsprechendes Wahlverhalten gar als Lerneffekt einer spezifischen Erfahrungsgemeinschaft deuten, einer »Generation Hoyerswerda«, die sich in den er Jahren politisierte? Es spricht einiges dafür, dass damals viele Jugendliche die Reaktionen aus ihrem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld, aber eben auch aus der Politik, auf rassistische Gewalt als Zustimmung auffassten; einige Gewalttäter äußerten sich entsprechend. So gesehen sind Hoyerswerda, Mölln, Solingen, die Staatsbürgerschaftskampagne, die Erdoğan-Verehrung, die NSU-Morde, Pegida und die AfD sämtlich Ausdruck eines Kampfes um politische Partizipation, der sich bis in unsere Gegenwart erstreckt.  So wurde die AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen  bei Wählern zwischen  und  Jahren zur stärksten Kraft. Ähnlich verhält es sich bei der Gruppe der Wähler zwischen  und  Jahren. Vgl. Annick Ehmann u. a.: Männlich, Arbeiter, AfD-Wähler, in: Zeit Online, ...  Kleffner/Spangenberg ().  Vgl. z. B. Gisela Friedrichsen: Eine Tat ohnegleichen, in: Der Spiegel, .., S. . Vgl. auch Herbert (), S.  f.; Poutros (), S.  f.

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Koloniale Objekte und deutsche Vergangenheitspolitik R G / W K

Das Deutsche Historische Museum (DHM) hat heute seinen Sitz an einem zentralen Ort in Deutschland: »Unter den Linden«, zwischen Berliner Dom und Humboldt-Universität. Als die Institution  entstand, gehörte dieser Ort noch zur DDR, und kaum jemand vermutete zum Zeitpunkt der Gründung, dass das Museum seinen Platz nur wenig später im Osten Berlins finden würde. Sowohl das Museumsprojekt selbst als auch die Begründungen für ein solches Vorhaben führten zwischen  und  zu Auseinandersetzungen. Bereits die Idee, in der Bundesrepublik ein nationales Museum zu entwickeln, war umstritten. Es war vor allem Bundeskanzler Helmut Kohl, der die Pläne für eine Museumsgründung vorantrieb. Im Werben für ein neues Nationalmuseum wurde gern auf das Vorbild anderer europäischer Länder verwiesen. Viele Befürworter waren überzeugt, dass die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer repräsentativen Demokratie unbedingt ein solches Museum brauche: Für den Fortbestand dieses demokratischen Staates sei eine Kultur gemeinsamer Erinnerung unabdingbar. Helmut Kohl machte sich so mit seinem Einsatz für das Museum zum Sprecher von Auffassungen, die damals in der Bundesrepublik von vielen Menschen geteilt wurden. Andere widersprachen. Auch sie vertraten wichtige politische Strömungen in der Bundesrepublik. Bei ihrer Kritik am Museumsprojekt verwiesen sie auf die besondere Geschichte Deutschlands, auf die Rolle, die es im Ersten und insbesondere im Zweiten Weltkrieg gespielt hatte, schließlich auf die Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus. Und die Kritiker argumentierten mit der besonderen Situation Deutsch Stölzl (); Mälzer ().  Kohl thematisierte den Plan eines Deutschen Historischen Museums in seiner Regierungserklärung vom . Mai  und setzte sich in der Folgezeit durch immer neue Interventionen für die Verwirklichung ein. Regierungserklärung des Bundeskanzlers am . Mai , zit. nach Mälzer (), S.  f.  Sie kamen in vielen Äußerungen zum Ausdruck. Zum Beispiel in einer öffentlichen Diskussion, veranstaltet von der Fraktion der Grünen im Deutschen Bundestag und der Fraktion der Alternativen Liste Berlin im Reichstagsgebäude in

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lands, die in ihren Augen die Idee eines Nationalmuseums schlechthin als problematisch erscheinen ließ. Zu dem Zeitpunkt, als Kohl sich für die Idee eines Nationalmuseums einsetzte, gab es zwei deutsche Staaten. Diese gehörten einander gegenüberstehenden militärischen Blöcken an, die um die Vorherrschaft in der Welt kämpften und sich wechselseitig mit Zerstörung drohten. Solch vollständige Zerstörung war technisch mit der Entdeckung und Entwicklung atomarer Waffen möglich geworden. Jedoch, so wusste man, war sie im Falle eines Krieges zwischen den zwei großen Atommächten nur um den Preis des Überlebens der menschlichen Gattung insgesamt zu haben. Dieses »atomare Patt« funktionierte dadurch, dass jeder Block dem anderen mit der vollständigen Vernichtung drohte. Die Vorstellung der atomaren Apokalypse bildete so den andauernden Horizont der Blockkonfrontation. Er blieb durch all ihre Wendungen bis zu ihrem Ende, dem Zerfall des Ostblocks, über drei Jahrzehnte prägend für die Lebenswirklichkeit sehr vieler Menschen. Berlin, der Ort, an dem Kohl das Museum angesiedelt sehen wollte, war in die politische Einheit West-Berlin und in einen östlichen Teil geteilt, der von der DDR-Regierung zur Hauptstadt der DDR erklärt worden war. Der Kanzler ging davon aus, dass das Museum in West-Berlin stehen sollte. Es sollte damit zugleich auch die Antwort sein auf ein Projekt der DDR, das sich im Osten Berlins befand. Dort gab es bereits seit Anfang der er Jahre ein zentrales historisches Museum: das Museum für Deutsche Geschichte im Zeughaus Unter den Linden. Sein Gründungsdatum, der . Januar , war nicht zufällig gewählt: Am . Januar  hatte man im Spiegelsaal von Versailles die Gründung des Deutschen Reiches proklamiert, und dort war auch, ebenfalls am . Januar, die Friedenskonferenz von Versailles eröffnet worden. Ein Grund für das Regime der DDR, sehr kurze Zeit nach Vernichtungskrieg und Holocaust ein neues nationales Geschichtsmuseum in Deutschland zu gründen, lag in der besonderen Bedeutung, die es der Geschichtsphilosophie beimaß. Der Marxismus-Leninismus, seit Mitte der er Jahre offizielle Staatsdoktrin der Sowjetunion, war in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR verbindliche Ideologie geworden. Zu seinen Kernbeständen gehörte die – auf Hegel zurückgehende – Auffassung, dass Geschichte sich in Konflikten und WiBerlin am . April , in: Stölzl (), S. -; auch prägnant Habermas ().  Mälzer (), S.  f.

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dersprüchen zwischen verschiedenen Kräften vollziehe, letzten Endes aber vom Gesetz des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit geprägt sei. Im dialektischen Materialismus der Sowjetstaaten war diese Auffassung in eine »materialistische« Überzeugung modifiziert worden: dass es sich bei der Geschichte um einen Fortschrittsprozess handelte, dass dieser von der Entwicklung der Produktivkräfte getrieben werde und dass diese letzten Endes zur Aufhebung der Klassen und zur Herbeiführung einer klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft führen könne. Eine umfassende Kenntnis der Geschichte, ein Bewusstsein von Gegenwart und Vergangenheit sollten gewährleisten, dass die »progressiven« Kräfte der Welt deren Widersprüche im Sinne der Doktrin nutzen und den geschichtlichen Prozess richtig steuern würden. Welche Bedeutung einem Museum für deutsche Geschichte in der Geschichte der frühen DDR zugesprochen wurde, wird schon daran deutlich, dass das Museum zunächst sogar die Rolle des »organisierenden Zentrums der Geschichtswissenschaft« übernehmen sollte. In der Ideologie war unterstellt, dass mit dem Sieg des Sozialismus – ein Sieg, der nicht zuletzt durch die Existenz der NVA und der sowjetischen Streitkräfte herbeigeführt werden sollte – auch die wesentlichen Fragen nationaler Zugehörigkeit und Selbstbestimmung gelöst werden würden. Und weil man der Überzeugung war, dass die DDR all das, was zu Krieg, Holocaust, Großmachtstreben, Kolonialismus und Imperialismus geführt hatte, von sich abgestreift und damit also allein das positive Erbe der deutschen Nation übernommen habe, glaubte man auch, in der Lage zu sein, die »richtigen« Elemente der spezifisch deutschen Nationalgeschichte angemessen darstellen zu können. Während in der Bundesrepublik die Bedeutung der Geschichte des deutschen Kolonialismus zunächst eher eine geringe, jedenfalls keine problematische Rolle spielte, fand dieser einen festen Bestandteil in der DDR-Historiographie, die den Kolonialismus als Vorläufer von Faschismus und Nationalsozialismus verstand. Insofern war die heute diskutierte These »von Windhuk nach Auschwitz« hier schon vorgezeichnet. Die DDR bezog sich relativ direkt auf die Position der radikalen Linken in der Weimarer Republik, die sich in ihrer Kolonialismuskritik an der Lenin’schen Formel orientierte, dass der Kapitalismus in seinem höchsten Stadium notwendig zu Imperialismus und dieser wiederum zu Ko-

 Ebd., S. .  Zimmerer ().

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   /  

lonialismus führe. In der Bundesrepublik gab es zwar keine Weiterführung der Position der revisionistischen politischen Rechten der Weimarer Zeit, die die Überzeugung geteilt hatte, mit dem Vertrag von Versailles auch um das vermeintliche Recht, koloniale Herrschaft auszuüben, betrogen worden zu sein. Aber es gab in der frühen Bundesrepublik durchaus eine gewisse koloniale Nostalgie, die sich in Spuren bis in die Gegenwart aufrechterhalten hat. Im Unterschied zur DDR tat sich die Bundesrepublik mit der Gründung eines historischen Museums wie auch mit der Darstellung deutscher Geschichte insgesamt weitaus schwerer. In allen Diskussionen, die die Gründung des DHM begleiteten, war es immer wieder die Frage nach der Darstellung der deutschen Geschichte als Nationalgeschichte, die Unsicherheit, Streit und neue Überlegungen auslöste. Welche Aufgabe sich der Gesellschaft durch die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit stellte, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie der noch zu Anfang der er Jahre deutlich nationalistisch und konservativ gesinnte Philosoph Karl Jaspers im Jahr  den Deutschen die Aufgaben vor Augen zu führen versuchte, die sich nach seiner Auffassung aus den NS-Verbrechen ergaben. Mit dem weltweiten Bekanntwerden der deutschen Verbrechen konnte es für Deutsche, so machte Jaspers zu Anfang seiner Schrift Die Schuldfrage deutlich, keinen »gemeinsamen Boden« mehr geben. Das Projekt einer Fortsetzung deutscher Geschichte als Nationalgeschichte, deutscher Kultur als Nationalkultur war, wie er durchaus überzeugend feststellte, unwiderruflich unglaubwürdig geworden, weil in dieses Projekt die Gründe für die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus unauflösbar eingewoben gewesen waren. Angesichts dieser Situation empfahl Jaspers die Besinnung auf Grundbedingungen des Miteinandersprechens als der einzigen Ressource, die einer gemeinsamen Besinnung noch zur Verfügung stehen konnte – eine Empfehlung, die wenige Zeit später von einer jüngeren Generation aufgegriffen und zu einem besonderen theoretischen Ansatz in der Moralphilosophie erklärt werden sollte. Wie die Auseinandersetzungen um die Vergangenheitspolitik die Geschichte der Bundesrepublik prägten, hat Norbert Frei in vielen Studien herausgearbeitet. Vom Ende des Krieges bis zur Zeit der Gründung des Deutschen Historischen Museums und noch darüber hinaus bis heute    

Lenin (). Jaspers (). Ebd., S. . Um nur zwei zu nennen: Frei (); Frei ().

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wurden Konflikte um die zunächst nur sehr kurze Zeit zurückliegende nationalsozialistische Epoche ausgetragen. Anders als in der DDR war im Westen Deutschlands die Einschätzung der Vergangenheit nicht schon durch eine geschichtsphilosophische Doktrin vorgegeben, und die Frage, wie sich die Gesellschaft der neuen, von den westlichen Besatzungsmächten etablierten Demokratie zur nationalsozialistischen Vergangenheit verhalten sollte, wurde Gegenstand einer Vielzahl von Diskussionen. Während in öffentlichen Stellungnahmen zumeist betont wurde, wie entschieden sich die Gesellschaft der Bundesrepublik vom Nationalsozialismus abgelöst habe, gab es sowohl in den Institutionen als auch in der gesamten Gesellschaft der Bundesrepublik – wie selbstverständlich auch in der DDR – starke personelle Kontinuitäten und ein beträchtliches Fortwirken verschiedener Formen nationalsozialistischer Einstellungen. Diesen Kontinuitäten standen in Westdeutschland von Anfang an Versuche gegenüber, Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Verbrechen herbeizuführen. Es waren auch, aber sicher nicht nur, verschiedene Opferverbände, die die Thematisierung der NS-Verbrechen betrieben und damit immerhin dazu beitrugen, dass die Frage, wie und auf welche Weise sich der neue Staat darstellen sollte, welche Bedeutung Geschichte für die Darstellung und Selbstdarstellung der Republik einnehmen sollte, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit andauernd umstritten war. Diese Auseinandersetzungen prägten auch die Gründungsphase des DHM, die sich von Hearing zu Hearing, über öffentliche Auseinandersetzungen und politische Initiativen fast über ein ganzes Jahrzehnt hinzog. Bereits der Titel der ersten Geschichtsausstellung »Fragen an die Deutsche Geschichte« im Gebäude des ehemaligen Reichstags in WestBerlin, die als Vorläufer des Museumsprojekts angesehen werden kann und von den konservativen Historikern Lother Gall und Theodor Schieder konzipiert wurde, macht die besondere Vorsicht deutlich, mit der sich jede Konzeption eines Nationalmuseums im Westen auseinanderzusetzen hatte. Einerseits sollte es darum gehen, Fragen nach den »demokratischen und liberalen Traditionen Deutschlands« zu stellen und sich auf die freiheitlichen Bewegungen in Deutschland zu beziehen. Zugleich aber war die Forderung nach einer Geschichtsschreibung, die von einer irgendwo in der Geschichte angelegten nationalen Aufgabe ausging, ebenso wenig verschwunden wie die Vorstellung eines »wirklich  Zum neueren Forschungsstand Mentel/Weise ().  So Hans-Dietrich Genscher, zit. nach Mälzer (), S. .

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geschichtlichen Denken[s]«, in dem »Geschichte als die Form, in der eine Nation, ein Volk, eine Gesellschaft über sich selbst Rechenschaft« ablegen sollte, verstanden wurde, als ein Suchen nach »Befestigung politischer und gesellschaftlicher Identität«. Und so verschieden die Vorstellungen über die Ausrichtung und den Zweck des Museums waren, so verschieden waren auch die Vorstellungen darüber, was die Aufgabe eines Museums sein und wie dieses entsprechend gestaltet werden sollte. In den er Jahren geriet die Bedeutung des Völkermords an den europäischen Juden zunehmend in den Mittelpunkt der bundesdeutschen Diskussion um die Erinnerung an den Nationalsozialismus. Damit wuchs das Bewusstsein für die Singularität der deutschen Verbrechen. Nationalsozialismus und Faschismus konnten nun nicht mehr einfach gleichgesetzt werden. So wurde an der Inszenierung der Versöhnung mit US-Präsident Ronald Reagan, die  nach dem Wunsch Helmut Kohls über den Gräbern auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg stattfand, vor allem kritisiert, dass damit auch Soldaten der Waffen-SS, also direkte Täter des Holocaust, in die Versöhnung einbezogen werden sollten. Im Historikerstreit wurde wenig später die Bedeutung der Singularität des Völkermords an den europäischen Juden zum Gegenstand direkter Auseinandersetzungen. Die Einsicht in die Singularität des Geschehens wurde auf diese Weise für die Erinnerung an den Holocaust seit den er Jahren prägend – und sie beeinflusste damit die Beurteilung deutscher Geschichte insgesamt. Kritiker fürchteten, das DHM könnte den Holocaust und die zwölf Jahre der NS-Herrschaft unter den  Jahren deutscher Geschichte begraben. Entgegen diesen Befürchtungen entwickelte sich das Haus sehr rasch zu einem angesehenen Diskussionsort über europäische und deutsche Geschichte.

Museen und Restitution Bei manchen, vielleicht sogar bei vielen Museumsdirektoren und Sammlungsleitern löst die Forderung nach Restitution Unruhe oder auch Unbehagen aus – ganz gleich, von wem diese Forderungen ausgehen. Sie ha So Lothar Gall in seiner Einführung zum Katalog der Ausstellung »Fragen an die deutsche Geschichte«, Berlin, Stuttgart , zit. nach Mälzer (), S. .  Boockmann u. a. (), S. .  Ebenda, S. .  Augstein (). Siehe dazu Diner ().

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ben Angst um Bedeutung und Wert ihrer Sammlungen. Das kann man nachvollziehen: Museumsleiter fühlen sich für Wachstum und Erhalt »ihrer« Sammlungen verantwortlich. Daher reagieren sie aus ihrer beruflichen Rolle heraus auf die Frage nach Restitution oder auf die Forderung nach der Erforschung ungeklärter Provenienz oft mit Angst, vielleicht sogar mit Abwehr. Es kommt ein anderer Aspekt hinzu, der im gegebenen Zusammenhang wichtiger erscheint. Er hängt mit der Geschichte der Museen und der Geschichte der Historiographie zusammen, und er trägt dazu bei, dass gerade Restitutionsansprüche, die in Zusammenhang mit historischem Unrecht stehen, besonders schwer durchzusetzen sind. Geschichte wurde generell in den letzten  Jahren überwiegend als Nationalgeschichte betrieben, und Archive und Sammlungen wurden daher oft als Teil des nationalen Gedächtnisses verstanden. Inzwischen sieht man das in der Historiographie ebenso wie in der Kulturpolitik anders – in den letzten Jahren haben die Bemühungen, Geschichte transnational zu betrachten, sie von vornherein als Globalgeschichte zu entwickeln, deutlich zugenommen. Und auch wenn sich die Verhältnisse in einigen Ländern gerade wieder zu ändern scheinen (etwa wenn man an die jüngere Auseinandersetzung um das Danziger Museum zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs denkt), scheint es doch überzeugend anzunehmen, dass sich auf lange Sicht die Tendenz, Geschichte als Globalgeschichte zu betrachten, weiter durchsetzen wird, weil sie letzten Endes darauf zurückzuführen ist, dass Historiographie eine Wissenschaft ist, deren Ergebnisse und Befunde sich in einer weltweiten Fachöffentlichkeit bewähren müssen. Jedoch fällt diese Ablösung von einem »nationalen« oder einem spezifisch gruppenbezogenen Verständnis von Geschichte nicht leicht. Man stößt auf ein Bündel von Emotionen, die umso stärker wirken, je weniger Geschichte und Geschichtsschreibung als eine Angelegenheit von Weltöffentlichkeit betrachtet, je mehr sie also auf die Interessen und das Selbstbild bestimmter Gemeinschaften bezogen werden. Und schon der kurze Blick auf die Gründungsgeschichte des DHM macht deutlich, welche Besonderheiten die Diskussion über die Überwindung nationaler Einstellungen und Traditionen noch einmal hat. In der Sammlung des DHM befand sich ein Gegenstand von einigem Gewicht. Es handelt sich um eine Säule, deren Spitze ein Kreuz bildet. Die Säule hat eine Höhe von über , Meter und wiegt fast eine Tonne. Auf Lateinisch und Portugiesisch trägt sie die Inschrift: »Seit der Erschaffung der Welt sind  Jahre vergangen und seit Christus , da hat 339

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der erhabenste und allerlauchteste König Johann der Zweite von Portugal den Befehl gegeben, dass dieses Land entdeckt werde und dass die Padrao durch Diego Cao, Ritter seines Hauses, hier errichtet werde.« Diese Säule wurde  von portugiesischen Seefahrern an der Südwestküste Afrikas, auf dem Gebiet des heutigen Namibia, errichtet. Weithin sichtbar, diente sie damals als ein Zeichen zur Orientierung für nachfolgende Seefahrer, die die Küste Afrikas umrundeten und an vielen Stellen Handelsstützpunkte errichteten. Sie hatte aber noch einen anderen Sinn. Sie manifestierte einen Herrschaftsanspruch. Er richtete sich an andere Mächte, zunächst an die europäischen Mächte, dann aber auch an die islamischen Seefahrer, die die Küste befuhren. Ihnen gegenüber wurde deutlich gemacht, dass es der portugiesische König war, der diese Küste für die Christenheit erkundet und daher am ehesten Anspruch auf das Gebiet hatte – damals ging es noch um die Errichtung von Handelsstützpunkten. Aus Form und Inhalt der Erklärung, die auf der Säule zu lesen ist, wird deutlich, dass die im Land lebenden Einwohner zu der Frage, wer das Land zu beanspruchen hatte, gar nicht erst gefragt werden mussten – gehörten sie doch nicht zur Christenheit. Dass es sich um portugiesisches Hoheitsgebiet handelte, war dem portugiesischen Herrscher  von Papst Nikolaus V. zugesichert worden. , als das Land, in dem die Portugiesen die Säule errichtet hatten, zum deutschen »Schutzgebiet« – die Kolonie Deutsch-Südwestafrika – erklärt wurde, brachte die Kaiserliche Marine sie nach Berlin. An der Stelle, an der sie sich befunden hatte, ließen die Deutschen eine Granitreplik aufstellen. An ihr brachten sie den Vermerk an, sie sei »an Stelle der ursprünglichen im Laufe der Jahre verwitterten Säule« errichtet worden. Die Originalsäule blieb von nun an in Deutschland: vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die DDR bis zum vereinigten Deutschland. Über einige Umwege gelangte sie in den Bestand des Museums für Deutsche Geschichte der DDR. Von dort aus ging sie dann  in das Eigentum des DHM über.  erging nun eine Note des Botschafters von Namibia an die deutsche Bundesregierung, in der offiziell die Rückgabe der Säule gefordert wurde. Restitutionsansprüche in Bezug auf die Säule waren jedoch von afrikanischer Seite schon weitaus früher geäußert worden, so bereits in den Jahren  und  und dann wiederholt seit der Unabhängigkeit Namibias im Jahr .

 Vgl. dazu Witt ().

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Die Anfrage von  wurde jedoch in einem seit  beträchtlich veränderten Kontext gestellt. Während auch noch zu Anfang des . Jahrhunderts das Interesse der Deutschen an ihrer Kolonialgeschichte und dem in deren Zuge geschehenen Unrecht eher als eine Angelegenheit von Experten erschienen war, hatte sich in den folgenden  Jahren eine deutliche Veränderung vollzogen. Das wird zunächst an der Geschichte der Diskussion über den Völkermord deutlich, der von den Truppen des Deutschen Reiches unter Generalleutnant Lothar von Trotha in Deutsch-Südwestafrika, also jener Kolonie, in der die Säule gestanden hatte, an den Völkern der Herero und der Nama in den Jahren  bis  begangen worden war. Ende des . Jahrhunderts war das Deutsche Reich nach Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden zur viertgrößten Kolonialmacht weltweit geworden und eignete sich Gebiete in Afrika, Nordostchina und im Pazifik an. Dieser schnelle Aufstieg zur Kolonialmacht fällt zeitlich zusammen mit dem, was man den »Scramble for Africa« genannt hat: Mit dem Übergang von einem eher informellen zu einem direkten Imperialismus gerieten die europäischen Mächte in eine Konkurrenz, in der es darum ging, möglichst viele Territorien in Afrika und anderen Ländern außerhalb Europas in direkte politische Abhängigkeit zu bringen. Nach der Reichsgründung von  hatte sich auch in Deutschland das zuvor eher schwächere politische Interesse an dem direkten Erwerb von Kolonien deutlich verstärkt. Diese politische Wende wurde auch von einer starken gesellschaftlichen Bewegung unterstützt. Die Herrschaftspraxis des Deutschen Reiches fiel in den verschiedenen Kolonien sehr unterschiedlich aus – von einer vergleichsweise friedlichen Machtausübung wie auf den Marianeninseln bis hin zu dem blutigen Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika  bis  mit einer daraus resultierenden Hungersnot. Aber bei allen Unterschieden kann man doch sagen, dass sie immer auch von rassistischen und imperialistischen Überzeugungen begleitet war. Für die Akteure war es ganz selbstverständlich, dass Deutschland zum Kreis der »zivilisierten« europäischen Mächte gehören müsse, die berufen waren, andere Gebiete zu kontrollieren und die Geschicke der ganzen Welt mit zu bestimmen, weil die »weißen« Deutschen den »Schwarzen«, den »Eingeborenen«, überlegen seien. Südwestafrika, das heutige Namibia, war  zum ersten deutschen »Schutzgebiet« geworden. Die Initiative ging auf den deutschen Kaufmann Adolf Lüderitz zurück, der an der Küste mit Waffen handelte und das Gebiet der heute noch so genannten Lüderitzbucht ein Jahr zuvor erworben hatte. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Land im Norden aus 341

   /  

kleineren Königreichen, in denen man Ackerbau, Viehzucht und Fischfang betrieb, während weiter südlich Hirten, Jäger und Sammler lebten. Die Deutschen schlossen mit verschiedenen Gruppen der einheimischen Bevölkerung sogenannte Schutzverträge ab, von denen sich die Oberhäupter der indigenen Gemeinschaften Schutz vor feindlichen Nachbarn versprachen, für die sie aber zugleich Gerichtsbarkeit, Land- und Schürfrechte an die Deutschen abtraten. Je mehr aber die deutsche Herrschaft gesichert war, desto mehr deutsche Siedler zogen ins Land. Der Plan war, dass ihnen drei Viertel des Landes zur Verfügung gestellt werden sollte; nur noch ein Viertel sollte gleichsam als Reservat für die lokale Bevölkerung dienen. Als so das Weideland zusehends geschrumpft und ein Großteil ihrer Rinderherden der Rinderpest zum Opfer gefallen war, entschlossen sich die Herero zum Krieg gegen die kolonialen Besatzer. Nach Anfangserfolgen wurden sie von deutschen Truppen in der Schlacht am Waterberg geschlagen. Die besiegten Herero flohen in die Wüste. Daraufhin gab der befehlshabende Generalmajor von Trotha den Befehl, ihnen den Weg zu den Wasserstellen abzuschneiden. »Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. […] Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero.« Als sich eine andere Gruppe, die Nama, unter Hendrik Witbooi dem Kampf anschloss, antworteten die Deutschen mit einem weiteren Krieg, bei dem etwa  Prozent der Angehörigen der Nama getötet wurden. Seit Verabschiedung der Genozid-Konvention der UNO  kämpften Herero und Nama darum, dass das an ihren Vorfahren von den Deutschen während der Kolonialherrschaft verübte Verbrechen als Völkermord anerkannt werden sollte. Dieses Ansinnen traf in Deutschland sehr lange Zeit auf taube Ohren. Noch als Helmut Kohl  als erster deutscher Kanzler Namibia besuchte, vermied er ein Zusammentreffen mit Abgesandten der Herero. Erst  erklärte das Auswärtige Amt den Satz »Der Vernichtungskrieg in Namibia von  bis  war ein Kriegsverbrechen und Völkermord« zur künftigen Leitlinie der deutschen Bundesregierung. Ende  wurden von Namibia und Deutschland Sondergesandte ernannt, die die Vergangenheit aufarbeiten sollten. Im Juli  schließlich erkannte die deutsche Regierung erstmals auch in einem offiziellen Dokument die Massaker an den Herero und Nama  Rust (), zit. nach Krüger (), S. 

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als Völkermord an, betonte jedoch zugleich, dass die Völkermord-Konvention nicht rückwirkend gelte. Diese Veränderung in der Aufmerksamkeit – die zunächst ja vor allem die Seite der ehemaligen Kolonialmacht betrifft – hat mehrere Ursachen. Die wichtigste ist wohl die Tatsache, dass mit zunehmender Globalisierung die Kolonialgeschichte als ein Vorläufer einer global vernetzten Welt in den Blick geraten ist. Das hat zu einer Thematisierung kolonialen Unrechts geführt und – in den postcolonial studies – zu der Frage, wie weit unsere Gesellschaft der Gegenwart noch von diesem Unrecht geprägt ist. Eine andere Ursache, die die Wahrnehmung der Verantwortung für den Völkermord betrifft, geht auf die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Holocaust zurück. Juristen wie Herschel Lauterpacht und Raphael Lemkin trugen erheblich dazu bei, dass der Tatbestand der Crimes against Humanity (Lauterpacht) respektive Genozids (Lemkin) weltweit völkerrechtlich geahndet wurde. Auf diese Konventionen konnten sich die Vertreter der Herero und Nama in ihrer Auseinandersetzung mit dem deutschen Staat dann berufen. Diese Veränderung des historischen und normativen Bewusstseins vollzieht sich jedoch nicht geradlinig. Sie ist von Widersprüchen und Gegenläufigkeiten durchzogen, wie man etwa an der sehr kontroversen Diskussion über die Bedeutung der deutschen Kolonialgeschichte für die Genese des Holocaust sehen kann. Wie wenig das Bewusstsein über die Bedeutung der kolonialen Vergangenheit in Deutschland noch vor wenigen Jahren entwickelt war, wird daran deutlich, wie die Säule in der Dauerausstellung des DHM platziert wurde: Sie ist dort nämlich in die Geschichte der »Entdeckungen« eingeordnet. Ganz selbstverständlich wurde bei der Erstellung dieser Ausstellung von den Kuratoren noch vorausgesetzt, dass europäische Geschichte und Menschheitsgeschichte dasselbe sind. Der Gedanke, dass der Vorgang für die Menschen, die damals dort lebten, alles andere war – nur eben nicht eine Entdeckung ihres Landes –, tauchte damals noch gar nicht auf. Sicherlich gab es für diejenigen, die die Säule an diesem Ort platzierten, keinen Zweifel daran, dass alle Menschen gleich und moralisch gesehen auch gleichberechtigt sind. Aber mit der Rahmenerzählung der »Entdeckung« tradierten sie eine Einstellung weiter, die auf ganz anderen Voraussetzungen beruhte und in der die Mitglieder der damaligen lokalen Bevölkerung zum Teil einer bis dahin unentdeckten Natur wurden. Als historische Subjekte, als gleichberechtigte Mitglieder der Menschheit existierten sie nicht mehr. Damit enthielt die Rahmenerzählung eine normative Haltung, die der Auffassung, dass alle Menschen gleich sind, genau entgegengesetzt war. 343

   /  

Recht, Ethik und Politik Wie sollte nun das Museum auf das Ersuchen der namibischen Regierung um Rückgabe der Cape-Cross-Säule reagieren? Wir haben am DHM einen Weg beschritten, der, wenn wir es richtig sehen, zumindest von einem deutschen Museum in diesem Kontext noch nicht gegangen wurde. Wir haben die Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Rückgabe der Säule ergeben, zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion gemacht, eines Symposiums, zu dem wir verschiedene Experten aus Afrika und aus Europa eingeladen haben. Wir haben das getan, weil wir der Überzeugung waren und sind, dass alle Aufträge, die ein historisches Museum hat – Sammlung, Bewahrung und Ausstellung –, mit seiner zentralen Aufgabe zu tun haben, unser aller Wissen von der Geschichte in unseren Entscheidungen der Gegenwart zur Geltung zu bringen und so unsere Urteile über Gegenwart und Vergangenheit zu schärfen. Dabei haben wir nicht nur die Geschichte der Säule und die verschiedenen Kontexte, aus denen heraus sie betrachtet wird, zur Diskussion gestellt, sondern auch die normativen, also rechtlichen und moralischen Horizonte, in denen sich eine Entscheidung über ihren Verbleib vollzieht. Zunächst zu den rechtlichen Vorgaben. Gehen wir allein nach deutschem Recht, hat die Republik Namibia keinen Herausgabeanspruch auf die Säule. Die Tatsache, dass diese auf dem Gebiet des heutigen Namibia errichtet wurde, ändert hieran nichts. Als die Portugiesen die Säule errichteten, erhob niemand direkt Anspruch auf den Grund, auf dem sie errichtet wurde, und auch die heutige Republik Namibia behauptet nicht, dass sie schon damals Eigentümerin des Grundes gewesen sei. Mit dem Grenzvertrag zwischen dem deutschen Kaiserreich und Portugal stimmte Portugal einer Grenzziehung der beiderseitigen afrikanischen Kolonialgebiete zu, mit der das Gebiet des späteren Deutsch-Südwestafrika dem Deutschen Reich zur »Freiheit der Aktion behufs stetiger Entwicklung der kolonisatorischen Thätigkeiten« zugesprochen wurde. Auch wenn dieser Vertrag keine spezifischen Regelungen über portugiesisches Staatseigentum oder portugiesische Hoheitszeichen enthielt, ist doch klar, dass mit der Überlassung der Region die Säule in das Eigentum des Kaiserreiches überging. Von dem Verzicht Deutschlands im Versailler Vertrag auf alle Rechte und Ansprüche bezüglich seiner überseeischen Besitzungen ist die Säule wiederum nicht betroffen, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt längst auf dem Gebiet des Kaiserreichs befand und niemand gegen die Verbringung der Säule Einspruch erhoben hatte. 344

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Auch im Völkerrecht gibt es keine verbindlichen Regelungen, die den Anspruch Namibias auf die Säule unterstützen würden. Das liegt nicht nur daran, dass das Völkerrecht ganz allgemein auf Fragen historischer Gerechtigkeit nur in sehr wenigen Fällen befriedigende Antworten gibt. Es liegt auch daran, dass das Völkerrecht allein für die Fragen nach der Provenienz kolonialer Objekte im näheren und weiteren Sinn keine gute Orientierung gibt. Nach den im . Jahrhundert gültigen Rechtsvorstellungen galt die Mitnahme der Säule, die nach dem Völkergewohnheitsrecht zwischen europäischen Staaten widerrechtlich gewesen wäre, aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika schon deshalb nicht als illegal, weil Kolonien nicht als souveräne Staaten angesehen und behandelt wurden. Das Völkerrecht ist in dieser Hinsicht ein »Recht des globalen Nordens«; es zur Richtschnur zu machen würde bedeuten, die historischen Ungerechtigkeiten, die in das Recht eingeschrieben wurden, zu verlängern. Noch verfehlter wäre es, das damalige Kolonialrecht – etwa die »Schutzverträge«, die das Deutsche Reich für die Kolonien abgeschlossen hat – zur Grundlage einer Entscheidung zu machen. Würde man dies tun, ließe sich daraus übrigens keine Rückgabepflicht ableiten, obwohl in ihnen dem Deutschen Reich kein explizites Recht zur Mitnahme von Objekten im Jurisdiktionsbereich der lokalen Bevölkerung, mit Ausnahme der Schürfrechte im Bergbau, eingeräumt wurde. Und auch neuere Konventionen, wie etwa die  verabschiedete UNESCOKonvention über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzuverlässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung, werden der Problematik nicht gerecht. Sie betreffen allein Kulturgüter, die nach  nach Deutschland gekommen sind. Die Rechtslage ist also insofern eindeutig, als sich aus ihr, sowohl aus dem nationalen wie aus dem Völkerrecht, keine Gründe für eine Rückgabepflicht ergeben. Zugleich machte aber die Erörterung der Rechtslage auf dem Symposium deutlich, wie wenig Anhaltspunkte für eine gute Entscheidung über koloniale Objekte und speziell in Bezug auf die Säule sich aus der Rechtslage allein ergeben. Für eine Rückgabe sprachen aber ethische und politische Überlegungen. Als der wichtigste Gesichtspunkt für die Frage nach der Rückgabe erwies sich für das DHM die Frage nach seiner eigenen Haltung zur historischen Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte in Namibia. Insbesondere ging es hier um die Auseinandersetzung mit den an ver Schönberger ().  Meyer, L. ().

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schiedenen Bevölkerungsgruppen Namibias verübten Verbrechen gegen die Menschheit. Die Entscheidung über die Säule, so wurde auf dem Symposium immer wieder deutlich, lässt sich nicht von diesem Kontext ablösen. Dabei ging es weder um »Wiedergutmachung« noch um irgendeine Form von Kompensation. Maßgeblich für die Entscheidung, die Anfrage der Regierung Namibias positiv zu beantworten, die wir nach dem Symposium fällen konnten, war die Bedeutung, die die Säule für Namibia – und für die Beziehung Namibias zu Deutschland und umgekehrt die deutsche Beziehung zu Namibia – hat. Die Geschichte des deutschen Kolonialismus ist eine Geschichte, die Deutschland mit Namibia verbindet. Das DHM sieht es als seine Aufgabe an, diesen Teil der Geschichte in seiner Dauerausstellung zu präsentieren. Die Übergabe der Säule sollte dementsprechend nicht den Abschluss dieser Aufgabe dokumentieren. Sie ist vielmehr Ausdruck für ein seit einiger Zeit zunehmendes Interesse an einer Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Folgen der Geschichte der Kolonialpolitik auch in Deutschland. Erst diese Auseinandersetzung hat es ermöglicht, die Gründe für das Interesse Namibias an der Säule angemessen zu würdigen. In diesem Kontext sollte die Übergabe insbesondere auch die Beziehungen zwischen deutschen und namibischen Museen fördern. Es scheint im Kontext der gegenwärtigen Debatten um den Umgang mit kolonialen Objekten wichtig, dass die Entscheidung für die Übergabe der Säule an die Regierung von Namibia nicht eine einfache Fortsetzung der DDR-Haltung »von Windhuk nach Auschwitz« meint und auch keine gegenwärtige Variante dieser Position. Die Diskussion über die Erinnerung an das Erbe ehemaliger Kolonialmächte und die Diskussion über die Erinnerung an den Holocaust haben, bei aller Verschiedenheit, einige Merkmale gemein. In beiden Fällen geht es um historisches Unrecht. In beiden geht es um die Frage, welche Verpflichtungen oder auch nur Orientierungen aus diesem Unrecht für die Gegenwart entstehen. In beiden geht es darum, dass die Wirkungen des historischen Unrechts auf die eine oder andere Art noch andauern. Und schließlich handelt es sich bei beiden Formen historischen Unrechts um solches Unrecht, in dem in vielfältigen Ideologien Gruppen von Menschen einander gegenübergestellt wurden, bei denen die Gewalt der einen Gruppe gegen die andere bis hin zu den Verbrechen, die schließlich verübt wurden, gerechtfertigt wurde. Daher dreht sich ein wichtiger Teil der gegenwärtigen Diskussion um das historische Geschehen und seine Wirkungen in beiden Fällen immer auch um die Frage, wie weit die Rechtfertigungsideologien, die die Verbrechen rechtfertigen und durch346

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führen halfen, noch in das Selbstverständnis der gegenwärtigen Gesellschaften und in die alltäglichen Verhaltensweisen eingeschrieben sind. Die beiden Geschehen sind aber auch sehr unterschiedlich und erschließen sich erst in der konkreten historischen Betrachtung: Die Fortführung der Kolonialismusthesen der Linken aus der Weimarer Zeit und ihre Anwendung durch die DDR-Theoretiker auf Auschwitz veränderte diese erheblich. Die Auffassung, dass der Krieg des kaiserlichen Militärs gegen die Herero und Nama der »erste Krieg« war, »in dem der deutsche Imperialismus diejenigen Methoden des Genozids praktizierte, mit denen er es später zu trauriger Berühmtheit brachte«, projizierte die historische Erfahrung der deutschen Verbrechen an den Juden, die tägliche fabrikmäßige Ermordung Tausender von Menschen, die Verfolgung über ganz Europa und die Massenerschießungen von Hunderttausenden von Menschen durch Einsatzkommandos auf die Ereignisse des Kolonialkriegs zurück. Sie führte zu einer Verstellung. Sie unterschlug die Zäsur, die Auschwitz bedeutete, und sie suggerierte, dass man über das Kaiserreich auch schon Auschwitz verstanden hätte. Sie diente auch dazu, die gesamtdeutsche Verantwortung für Auschwitz auf die als Statthalterin des kolonialen Erbes dargestellte Bundesrepublik zu verschieben. Aber nicht nur verstellte die Projektion den Blick auf die Verantwortung der DDR für Auschwitz – sie verstellte auch den Blick auf die besonderen Aspekte der Menschheitsverbrechen in den ehemaligen Kolonien. Es ist interessant zu sehen, wie häufig die falsche Projektion aus der DDR-Zeit heute wieder vertreten wird. Insbesondere nach den vielen vergangenheitspolitischen Debatten der er und er Jahre würde man bei Vergleichen mit dem Nationalsozialismus größere Behutsamkeit und Genauigkeit erwarten. Die Projektion verstellt dabei nicht nur den Blick für die Verschiedenheit und Besonderheit der jeweiligen historischen Vorgänge, sondern sie erschwert dadurch auch die Urteile in Bezug auf einen angemessenen Umgang mit der Geschichte heute. In diesem Zusammenhang ist es auffällig, wie häufig Begriffe, die aus der Auseinandersetzung mit dem Holocaust stammen, einfach auf die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus übertragen werden, für die sie oft nicht passen. Für das DHM bedeutet dies, dass wir bei der Konzeption unserer neuen Dauerausstellung sehr genau über das Verhältnis von Kolonialis Bürger (), bes. S. -: »Genozid erzählen«.  Drechsler (), S. .  Vgl. Bürger (), S. -.

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mus, Rassismus, Antisemitismus, Nationalsozialismus und Holocaust nachdenken müssen. Die Säule vom Cape Cross steht heute nicht mehr am falschen Platz in der Dauerausstellung, sondern befindet sich in Namibia. Damit ist unsere Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus natürlich nicht beendet. Vielmehr ist die Frage, wie dieser in der neuen Dauerausstellung präsentiert werden soll, noch offen.

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Anfechtung und Beharrung

Aus dem Gehäuse des Kalten Krieges Zeitdiagnostisches zu einer Welt von gestern D D

Die Bundesrepublik war Gesellschaft, nicht Nation. Der ausgesprochen gesellschaftliche Charakter des alten Gemeinwesens war der Teilung des Landes geschuldet. Mochte diese eine ereignisgeschichtliche Folge des Weltkrieges gewesen sein, so war ihre Geburt von der an ihrer Wiege Pate stehenden Konstellation des vierzig Jahre währenden Kalten Krieges befördert worden. Trotz seiner kurzen Dauer kommt dem Kalten Krieg Epochencharakter zu. Um eine historisch eigenständige Epoche, um eine eigentümliche Sonderzeit handelte es sich beim vierzigjährigen Kalten Krieg insofern, als er bei allen ihm eigenen kurzzeitigen Modi politischer Handlungsund Reaktionsgeschwindigkeit Ingredienzien eines gleichsam hermetisch in sich geschlossenen Zeitblockes aufweist. Dem Kalten Krieg sind zwei binär konstruierte Wesensmerkmale eigen : der ideologisch eingefärbte Antagonismus zwischen »Ost« und »West«, zwischen »Freiheit« und »Gleichheit«, zwischen »Kapitalismus« und »Kommunismus« sowie der waffentechnologisch bipolar formierte Gegensatz der Supermächte in Gestalt der nuklearen Abschreckung. Der ideologische Antagonismus wie der nuklear bewehrte bipolare Gegensatz waren miteinander zwar affin, nicht aber identisch gewesen. So mochte der ideologische Gegensatz zwischen der Idee der liberalen Freiheit einerseits und dem Ideal einer buchstäblichen sozialen Gleichheit andererseits die jeweiligen Blöcke und die ihnen zugehörigen Gemeinwesen als Klassen- und/oder Parteiengegensätze durchziehen – in der Fläche beziehungsweise auf dem Globus waren sie durch den nuklearen, sprich militarisierten Gegensatz räumlich voneinander getrennt. In Unterscheidung zu wie vor dem Hintergrund vorausgegangener historischer Zeiten bietet es sich an, die Epoche des Kalten Krieges als eine Epoche der Neutralisierung zu verstehen – einer Neutralisierung bis Zur Genese des Ost-West-Konflikts vgl. Winkler (), S. -. Zur Begriffsgeschichte Stöver (), S. .  Diner (), S. ; Senghaas (), S. -; Cioc ().  Alperowitz (), S. -.

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lang als primär erachteter Gegensätze. Eine solche systematische Unterscheidung mutet insofern paradox an, als die Epoche des Kalten Krieges ihrerseits im Prinzip eines Gegensatzes begründet ist – ebenjenes ideologischen wie nuklear sich verdichtenden Antagonismus. Indes handelt es sich hierbei um einen übergreifenden Gegensatz, mittels dessen alle anderen, zuvor als primär erachteten Gegensätze gleichsam überwölbt und damit stillgestellt, neutralisiert werden. Als neutralisiert gelten vornehmlich staatlich verfasste und als solche von der traditionellen Staatenordnung regulierte Gegensätze nationalen Charakters – kurz, all jene Phänomene, die dem Paradigma der Nation beziehungsweise dem Nationalen folgten und ihre in historischer Semantik artikulierten Ursprünge in der Neuzeit beziehungsweise im »nationalen Saeculum«, sprich: im . Jahrhundert haben. Das Phänomen der Neutralisierung im Zeichen des Kalten Krieges trug nicht nur zur Ausbildung von Wirtschaftsblöcken und Militärbündnissen entlang der Merkmale ideologischer Unterscheidung bei, sondern auch – und davon angestoßen – zur Ausbildung von Subsystemen. Ein solches dynamisch verfasstes Subsystem ist der mit der Verfestigung und Strukturbildung der Unterscheidungen von »Ost« und »West« einhergehende Prozess der europäischen Einigung. Genau besehen handelt es sich hierbei um eine zweite, gleichsam sekundär generierte Neutralisierung. Ideengeschichtlich und sich in den politischen Biografien der handelnden Personen und Persönlichkeiten spiegelnd, ist der europäische Gedanke freilich bei weitem älter als die Konstellation des Kalten Krieges. Recht eigentlich geht er auf die generationelle Erfahrung des Ersten Weltkriegs als eines »europäischen Bürgerkriegs« zurück, dessen »Fraktionen«, sprich: die sich gegenseitig zerfleischenden Nationalstaaten, unter dem Dach einer sie vereinenden Idee zusammengeführt werden sollten, um Derartiges in Zukunft auszuschließen. Dass diese Idee nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zuge kam, war in geringerem Maße ebenjener Katastrophe geschuldet als der sich aufbauenden Konstellation des Kalten Krieges. Dieser stellte mithin das politische Gefäß, das institutionelle Gehäuse bereit, in dem der Prozess der (west-)europäischen Einigung sich vollzog, sich vollziehen konnte. Der militärische Schirm dieses im Gehäuse des Kalten Krieges sich verei    

Schmitt (), S. , -. Maier (), S. -; Diner (), S. -. Steil (). Wyrwa (); Gollwitzer (), S.  ff. Churchill/Gilbert (), S.  ff.; Churchill/Churchill (), S. -.

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nigenden Europas wurde von der NATO und damit von den Vereinigten Staaten gestellt. Dies war für die Konstellation ebenso signifikant wie die Tatsache, dass Europas Vereinigung ihren Anfang nicht, wie beabsichtigt, politisch und militärisch, sondern als zunehmend sich integrierender Wirtschaftsraum nahm. Die Neutralisierung des Nationalen in der durch den Kalten Krieg bestimmten Nachkriegsordnung sollte sich in der politischen Sprache, mehr noch – und die Tiefenschichten der Gemeinwesen durchdringend – in den gleichsam hegemonial gewordenen gesellschaftlichen Semantisierungen niederschlagen. Dies gilt für das jeweils gültige Politische, aber auch für die Modi der Deutung vergangener wie gegenwärtiger Lebenswelten. Dass dies für die ordnungspolitische Verfasstheit der durch Teilung bestimmten Gemeinwesen wie der Bundesrepublik auf der einen und der DDR auf der anderen Seite evident gewesen war, dürfte auf der Hand liegen. Die Wirkung jener sozial beziehungsweise gesellschaftlich semantisierten Tiefenschichten ist in den verschiedenen Bereichen des westlichen Gemeinwesens zu beobachten. So im Bereich der Legitimität, zu dessen Kernbereichen die Institutionen des Rechts, der kulturellen Selbstvergewisserung, der akademischen Bildung ebenso wie der wissenschaftlichen Inspektion des Gesellschaftlichen gehören. Damit kam der Soziologie ein höheres Maß an Deutungsmacht zu als der noch am nationalen Paradigma haftenden Geschichtswissenschaft. Dass diese sich in der hohen Zeit der bundesrepublikanischen er Jahre als historische Sozialwissenschaft neu erfand, war durchaus eine das Gemeinwesen verwestlichende Akkulturationsleistung – und dies auch dann, als die hierfür in Anschlag gebrachten Kategorien wie die der Klasse einer »östlichen« Deutung der Lebenswirklichkeit näher zu stehen schienen als beabsichtigt. Die zunehmende Akzeptanz der Bundesrepublik durch ihre ihr wesentlich in Opposition gegenüberstehende intellektuelle Elite erfolgte mittels eines paradoxen Manövers: Indem rhetorisch vom parlamentarisch-repräsentativ verfassten Gemeinwesen mittels politischer wie Sozialkritik Distanz genommen wurde, womöglich mit dem antagonistischen Zwillingsstaat jenseits der Systemgrenze, wenn auch nur verhalten, sympathisiert worden war, betrieb man darüber deren Verwestlichung.  Pankoke (), S. -.  Münkler (), S. -.  Schulze (), S. -.  Frei (b), S.  ff.; Iggers/Wang/Mukherjee (), S. -.

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Auf beiden Seiten der »Zonengrenze« wurde, des jeweils herausgestellten gesellschaftlichen Charakters der beiden Gemeinwesen wegen, das Wort »Deutschland« klein geschrieben. Im Westen, indem es gleichsam hinter der institutionellen Bezeichnung seiner selbst, der »Bundesrepublik«, verschwand; im Osten, indem es allein als Adjektiv in Kombination mit einem anderen Adjektiv in Erscheinung trat: Das eigentliche Gemeinwesen, die Republik, wurde als ebenso demokratisch wie »deutsch« denominiert. Die Denominationen des jeweiligen Gemeinwesens waren Phänomene der Teilung und damit des gleichsam ausschließlichen gesellschaftlichen Charakters der beiden deutschen Staaten. Als komplexer, weil verborgener, erwies sich die Selbstzuschreibung der verschämt als »Volksrepubliken« sich bezeichnenden kommunistischen Gemeinwesen im politischen Osteuropa. Dies rührt daher, dass dem Wort vom »Volk« semantisch zweierlei Bedeutungen zukommen: eine soziale, womit wesentlich die niederen Klassen gemeint sein wollen, und eine nationale, genauer: eine ethnonationale und damit Herkunft und kollektive Genealogie herausstellende Zuschreibung. Dass im Kommunismus ausschließlich Ersteres evoziert werden sollte, hat sich spätestens im Rückblick als Täuschung herausgestellt. Und dies, zumal die dort und damals existierenden, im Zeichen eines zunehmend sich verfestigenden Gegensatzes zwischen Ost und West etablierten Regime und Gemeinwesen es als ihre vornehmste Aufgabe ansahen, im Zeichen einer sozialistisch verfassten Ordnung, genauer: eines sozial eingefärbten nationalen Kollektivismus, sich als ethnisch homogene Gemeinwesen zu konstituieren. So paradox sich eine solche Deutung ausnehmen mag: Erst die soziale Kollektivierung im Sinne einer buchstäblichen gesellschaftlichen Vereinheitlichung (»Gleichheit«) brachte im Bereich Mittel- und Ostmitteleuropas national homogene Gemeinwesen hervor, wie sie den Erwartungen der in der Zwischenkriegszeit virulent gewesenen Vorstellungen integraler Nationalismen entsprochen haben mochten. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende der bipolar strukturierten Weltordnung machte die andere, die eigentliche Seite der Zuschreibung vom Volk von sich Reden – die ethnische.    

Hahn (), S. -, -, -. Hartung (). Gerber (), S. ,  f.,  f., . Vgl. hierzu z. B. Troebst (), S. -; Troebst (), S. -.

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Wie sehr die Kontinuität des Nationalen auch durch die Vergangenheiten neutralisierende Wirkung des Kalten Krieges hindurch ihre Geltung zu bewahren wusste, kann anhand eines zentralen Bestandteils des wohl bedeutendsten der von der Bundesrepublik abgeschlossenen »Ostverträge« verdeutlicht werden – des Warschauer Vertrags. Dort wurde die bislang als offen geltende Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen in einer Weise reguliert, als handele es sich hier um zwei unmittelbar aneinandergrenzende Nachbarstaaten, jedenfalls so, als sei zwischen ihnen kein weiterer, kein dritter Staat gelegen – die DDR. Dass dem letztendlich so werden sollte, als dieser durch Auflösung unterging, bezeugt den Charakter der deutschen Teilung als ideologische ebenso, wie sie die historische Vorläufigkeit, die Sonderheit der mit dem Kalten Krieg verbundenen Ordnung bestätigt. Die DDR war der einzige Staat im politischen Osteuropa, der in einem ausschließlichen Sinne Gesellschaft war. Auf der politökonomischen Kategorie der Klasse fußend sowie die Weimarer Geschichte der KPD ebenso wie die politische Opfererfahrung im »Faschismus« territorialisierend, bedeutete der epochale Niedergang des Kommunismus, verbunden mit der Rückbildung der Sowjetunion zu Russland, das regelrechte Ende eines allein in sozialer Nomenklatur gründenden Gemeinwesens. Während die anderen »Volksrepubliken«, soweit sie als einheitliche Nationalstaaten überlebten, das blieben, was sie zuvor, vor der Epoche des Kalten Krieges, genauer: in der Zwischenkriegszeit, gewesen waren und sich eher durch Sezession und an ethnonationalen Zuschreibungen entlang vervielfachten, wurde die DDR regelrecht ausgelöscht. Dies geschah in einer Art »juristischer Sekunde« ihrer politischen Annullierung durch Vereinigung mit der Bundesrepublik, die sich nun territorial erweitert als deutscher Nationalstaat, als »Deutschland«, wiederfand. Diese in der Tat singuläre Entwicklung war wiederum jener Sonderlage geschuldet, die in der historischen Teilungskonstellation ihren Ursprung hatte, nämlich das einzige Gemeinwesen in Europa gewesen zu sein, in dem die Gesellschaft Nation war. Das Schicksal der DDR als eigenständiges politisches Gemeinwesen stand von vornherein unter »sozialem« Vorbehalt. Damit war es von seiner Entstehung an das strukturell schwächste staatliche Gebilde in Europa.    

Winkler (), S.  f. Eitel (). Danyel (), S. -. Eisen/Stitz ().

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Der Zusammenbruch des Kommunismus trat in jener Art »juristischen Sekunde« ein. Die Einschnitte des politisch eingetretenen Systemwandels haben sich als Gedenktage in das Gedächtnis eingeschrieben. Von dieser Transformation sollte der »Westen« auf Dauer nicht verschont bleiben. Gleichwohl lässt der im Gefolge des zersprungenen Gefäßes des Kalten Krieges im Westen ausgelöste Wandel im Unterschied zur einschneidenden Zeitmetapher der »juristischen Sekunde« sich als schleichender, sich zunehmend beschleunigender Prozess institutioneller Krisen beschreiben – oder in Verschränkungen geologischer und klimatologischer Metaphorik: als eine nach der großen Schmelze sichtbar werdende, sich langsam hinziehende Endmoräne einer untergehenden Zeit. Sichtbar wird diese Schmelze anhand des Verfalls politischer Institutionen, genauer: anhand des Niedergangs der demokratischen Repräsentationskultur. Diese weist zwei erkennbare Ursachen auf. Die eine ist direkter Ausfluss jenes zerbrochenen Gefäßes des Kalten Krieges – der durch das Ende des Systemgegensatzes eingetretene Verlust des Gerüsts, der politischen Einhausung und Einrüstung von Werten und Institutionen. Die andere Ursache ist technologischen Ursprungs. Sie steht mit dem Aufkommen der digitalen Kommunikationskultur in Verbindung, die neben vielem anderen die Instanzen regulierender Abstraktion und damit auch die der politischen Repräsentation aushöhlt. Auch hier, im Bereich des Technologischen, stand der Kalte Krieg insofern Pate, als damals und von Staatswegen elektronische Instrumente der Kommunikation entwickelt worden waren, die den nuklearstrategischen Maßgaben einer dezentralen Befehlsstruktur entsprechen sollten. So war das die Globalisierung ermöglichende Internet aus dem technologischen Milieu des militärischen Intranets erwachsen. Die auf die hohe Zeit des Kalten Krieges zurückgehende Technologie sollte erst nach seinem Ende und von durch den Systemgegensatz bedingten Kautelen befreit ihre ganze Wirkungsmacht entfalten und dabei alle lebensweltlichen Bereiche durchdringen. Dass sie auch und gerade das Politische ergreift und einen nicht unerheblichen Anteil an jenem sichtbaren Verfall demokratischer Institutionen der Repräsentation und damit der Vermittlung (agency) hat, trägt zu einer Herrschaft des Konkreten, des Unmittelbaren  Winkler (), S.  ff.  Koch (), S. -.  Dan Diner: Die Zeit der Volksparteien ist vorbei, in: Welt am Sonntag, ...  Schmitt (), S. -.

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bei. Das unscharfe, als Teil des Problems sich erweisende Wort vom »Populismus« ist in seinem Kern Ausdruck ebenjener zur Herrschaft strebenden Konkretion direkter Unmittelbarkeit. Die durch die Wucht der Unmittelbarkeit und Konkretheit angerichtete Zerstörung des Abstrakten ergreift die traditionellen Instanzen von Vermittlung und Regulierung des politischen Willens – die politischen Parteien. Verstärkt artikuliert sich ein Empfinden, das anthropologisch anmutende Prinzip der (sozialen) Anwartschaft, das wesentlich, jedenfalls institutionell, durch die im . Jahrhundert in der Verschränkung von National- und Wohlfahrtsstaat ihre ordnungspolitische Begründung fand, werde ausgehöhlt. Diese Entwicklung betrifft die westlichen Gemeinwesen und dort vor allem die über Jahrzehnte in der Zeit des Kalten Krieges das Gemeinwohl repräsentierenden, »Volksparteien« genannten Verbände. Solch anthropologisch anmutende, auf eine Legitimität der langen Dauer sich berufende Anwartschaft auf kalkulierbare Lebensplanung ist mithin der traditionellen Verschränkung von National- und Wohlfahrtsstaat eigen. Deren zukünftige Geltung scheint indes im Zeichen von Individualisierung, Globalisierung und Migration nicht mehr gewährleistet, und dies auch dann nicht, wenn gegenwärtig (noch) nicht mit realen sozialen Einbußen zu rechnen ist. Vielmehr handelt es sich um die Wirkung einer antizipierten, in die Zukunft projizierten Ungewissheit. Diese facht eine Stimmung von Krisenerwartung an. Solche negative Erwartung macht sich an Sichtbarkeiten wie der Migration fest – ist diese auch nicht ihr eigentlicher Grund. Der mittellose, jeglichen Schutzes jenseits individueller Menschenrechte bare Migrant wird insofern zur phantomhaften Bedrohung, als er die Zeichen jener mit Furcht behafteten Krisenerwartung gleichsam am Leibe trägt. Der Verfall traditioneller Parteienverbände ist ubiquitär. Er ist Ausdruck von Auflösung vorpolitischer, oftmals konfessionell verhafteter Milieus. In Deutschland wie auch anderswo waren Parteien im . Jahrhundert aus dem Humus des für das Land signifikanten Vereinswesens erwachsen. Heute, in einem Zeitalter beschleunigter Individualisierung und physischer Entortung vermögen sie ihrer Aufgabe des gesellschaftlich-institutionellen Transfers von Anteilen beharrender wie sich wandelnder Lebenslagen in politischen Willen nicht mehr gerecht zu werden.  Anselmi (), S. -; Canovan (), S. -, -.  Agamben ().  Langewiesche ().

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Parteien, die traditionelle, nicht zuletzt auch ortsgebundene Milieus von inzwischen überholten Arbeits- und Lebensformen vertreten und diese in die jeweilige politische Repräsentanz hineintragen, verlieren an Halt und Zustimmung. Ihre gesellschaftliche Ankerfunktion bricht. An ihrer Stelle treten wenig verbindliche Wahlbündnisse auf, die ebenso wenig an stabilisierender politischer Ressource verheißen. Der den Kalten Krieg fokussierende referenzielle Blick meint in der zeitgenössischen Entwicklung eine Wiederkehr solcher Gedächtnisse zu erkennen, die auf die Zwischenkriegszeit zurückgehen, so, als seien sie niemals vergangen. Es scheint, als hätten sie allenfalls dem Druck des Kalten Krieges entsprochen, seien durch ihn in eine vorübergehende Reglosigkeit hinein stillgelegt worden. So wirkte sich das bipolare, nur scheinbar allein nach außen gerichtete Ordnungsprinzip auch im Westen stabilisierend aus. Umso mehr werden die Folgen seines Verfalls sichtbar. In Italien zerfiel mit dem Ende des Kalten Krieges das ebenso nach innen gerichtete regulative Prinzip von »Ost« und »West«, von »links« und »rechts« bereits in den frühen er Jahren. Die weiterhin noch existierenden, aus dem Humus der Vergangenheit hervorgegangenen, in die Gegenwart hineinragenden Restparteien werden auf sich gestellt nicht mehr mehrheitsfähig sein können. Frankreichs Stabilität scheint, bei fortschreitendem Niedergang der historischen, noch von politischen Traditionen der Vierten Republik zehrenden Parteien, von einer Präsidialverfassung garantiert zu werden, die aus einer der Dekolonisierung geschuldeten Bürgerkriegskonstellation hervorgegangen war. Hierbei handelt es sich freilich um eine Stabilität, die in Frankreich bei einem rein parlamentarischen Regierungssystem wohl kaum hätte gewahrt werden können. Dass das Pariser Präsidialregime dabei seinerseits zur Schwächung von zuvor in Milieus und Tradition verankerten Parteien beigetragen hat, ist eine französische Besonderheit, die zur allgemeinen Verfallsgeschichte der parlamentarischen Repräsentation beiträgt. Dass altehrwürdige politische Traditionen im Westen in einer auch für den informierten Beobachter befremdlichen Weise verfallen, wird durch das britische Beispiel in extremer Weise sinnfällig. So hatte die vergleichende Regierungslehre stets und im Vertrauen auf gesichertes Wissen darauf verwiesen, dass während des fin de siècle das wilhelmini   

Poguntke (); Lucke (). Schmid (); Masala (). Loth (); Renken (), S. -. Patterson ().

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sche Deutschland im Unterschied zu Großbritannien, zumindest was das Wahlverfahren angeht, demokratischer, das britische hingegen parlamentarischer war. Ein Unterschied ums Ganze zudem insofern, als der britische Parlamentarismus mit seinem wenig demokratischen Mehrheitswahlrecht ein Ausbund von Stabilität, vor allem in Krisenzeiten, war. So konnten in der krisengeschüttelten Zwischenkriegszeit radikale Parteien und Bewegungen vom Parlament ferngehalten werden. Dass im Vereinigten Königreich der Entscheidung in einer für das Gemeinwesen existenziellen Frage wie Verbleib oder Ausstieg aus dem Verband der Europäischen Gemeinschaft mittels eines Referendums stattgegeben wurde, mochte demokratischen Prinzipien entsprochen haben, widersprach aber zutiefst der parlamentarischen Tradition des Königreichs. Dass im Land der sogenannten »Westminster-Demokratie«, einem Gemeinwesen mit absoluter Parlamentsherrschaft und den ihr eigenen komplexen Verfahren der Gesetzgebung, eine für demagogische Beeinflussung offene Volksbefragung angesetzt wurde, die mit dem ihr eigenen Entscheidungsmodus des einen und einzigen Schrittes als einem apodiktischen »Ja« oder »Nein« und mit einer von kurzfristigen Stimmungsschwankungen abhängigen geringfügigen Mehrheit entschieden wurde, und dies in einer für das Gemeinwesen existenziellen Frage, macht besorgt. Dass ein derart fundamentaler Traditionsverlust im Land der »Mutter aller Parlamente« hingenommen wurde, dürfte in seiner Bedeutung tiefer reichen, als von den durch das Ende des Kalten Krieges herbeigeführten Verwerfungen im westlichen Institutionengefüge nahegelegt wird. Eher scheint der mittels eines Referendums zutage getretene institutionelle Traditionsverlust in Britannien auf frühere, tiefer liegende Konvulsionen zu verweisen, die der vom Kalten Krieg herbeigeführten Stilllegung wegen erst nach Nachlassen von dessen anästhesierender Wirkung unverstellt an die Oberfläche treten und dabei an Entziehungsreaktionen gemahnen, die institutionelle Selbstzerstörungen historischen Ausmaßes nach sich ziehen. Gemeint ist ein zeitlich verschoben eingetretenes, ein das Empire betreffendes Verlustempfinden, dessen reales Ende politisch just zu einer Zeit erfolgte, als der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erklomm und alle hierfür angemessenen Regungen hat erstarren lassen. In einer Zeit dro   

Kolb (), S. -. Marshall (), S. . Barnett (), S.  f.; Simms (), S. -. Westad (), S. -, -.

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hender Apokalypse eines globalen atomaren Armageddon wurde jener Verlustschmerz unterdrückt. Heute scheint ein solcher Schmerz verzögert nachempfunden zu werden – und dies anhand der Projektionsfläche des europäischen Projekts, das vielen konservativen Briten wie ein nachträglicher Sieg historischer Kontinentalmächte über die vormals weltenbeherrschende Seemacht erscheinen will – recht eigentlich als Sieg einer ganz besonderen, wenn auch im europäischen Gewand erscheinenden Kontinentalmacht: Deutschland. Ein solches Sinnen dürfte eher auf das Ereignis des Ersten Weltkriegs, auf den Britischen Inseln stets als der Große Krieg tituliert, zurückgehen denn auf das des Zweiten. Nach  Jahren Distanz zum Ereignis und seinem Ergebnis macht sich auf den Britischen Inseln das Gefühl breit, angesichts des mit dem Ende des Kalten Krieges sichtbar gewordenen Aufstiegs Deutschlands in Europa um den  errungenen Sieg gebracht worden zu sein, wobei die Erinnerung an Britanniens »Finest Hour« vom Sommer  den aktuellen Trotz gegen das zu einem Bild eines kontinentalen Zwangssystems verzerrten politischen Europa befeuert. Es scheint, als werde der im Gehäuse des Kalten Krieges real eingetretene Verlust des Empire heute und in generationeller Verschiebung gleichsam als Phantomschmerz empfunden. Dass dies parallel zum Rückzug Amerikas aus seiner globalen Verantwortung erfolgt, will wie eine Bestätigung jener Konstellation des Zweiten Weltkriegs erscheinen, als die Unterstützung Großbritanniens durch die Vereinigten Staaten (lend-lease) jenes Potenzial ersetzte, das dem Empire seit dem paradoxen Sieg des Jahres  verloren gegangen war. Dass die Vereinigten Staaten sich ihrer mittels des Ost-West-Gegensatzes selbst auferlegten Rolle als System- und Hegemonialmacht zu entledigen trachten, rührt an die Fundamente der seit  gültigen Ordnung der Welt. Diese war den Prinzipien der im Sommer  vor Neufundland erklärten Atlantik-Charta und den dort verkündeten Freiheiten einer als liberal zu verstehenden Weltordnung hervorgegangen. Hierzu gehörten / Institutionen wie das internationale Währungssystem von Bretton Woods, gefolgt von Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds, zudem die Weltorganisation der Vereinten Nationen. All diese die Ordnung der Nachkriegswelt (vor Andrew James Johnston: Churchill erwacht, in: Zeit Online, .., https:// www.zeit.de/politik/ausland/-/brexit-abkommen-theresa-may-gross britannien-identitaet-macht (..).  Allen (), S. -; Weinberg (), S. -.  Mawdsley (), S.  f.

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nehmlich im Westen) regulierenden Einrichtungen standen im Zeichen der Gestaltungsmacht der im Kriege zur Führungsmacht sich aufschwingenden Vereinigten Staaten von Amerika. Bei aller grundlegenden institutionellen Internationalisierung war es der anhebende Kalte Krieg, der Amerika an den europäischen Kontinent band und mittels Marshallplan und hintergründiger Beförderung einer sich anbahnenden (west-)europäischen Einigung die Neutralisierung traditioneller europäischer Konfliktlagen nach sich zog. Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor auch die demokratische Sendung Amerikas ihr liberales Telos. Zunehmend machte sich eine erst schleichende, dann abrupte Kehre nach innen hin bemerkbar – eine Tendenz, die dem amerikanischen Selbstverständnis durchaus eigentümlich ist und nicht zuletzt auch in den topographischen Lagen der unterschiedlichen »Amerikas« im Inneren des Gemeinwesens ihre Gründe hat. Dass sich Amerika im Jahr  der Welt gegenüber institutionell verschloss – eine Isolation, die zwanzig Jahre später von Franklin D. Roosevelt mit großem präsidialem Geschick unterlaufen wurde, um dann durch den Kriegseintritt der USA  endgültig gebrochen zu werden, gehört ebenso zum Selbstverständnis dieser letztendlich von Emigranten geformten Nation wie die mit und durch den Kalten Krieg hergestellte politisch-kulturelle Dominanz der amerikanischen Ostküste mit ihrer ausgeprägten Nähe zum Alten Kontinent. Diese liberaldemokratische, als transatlantisch bekannt gewordene, nicht zuletzt durch »neue« Emigranten aus den als totalitär verstandenen Gemeinwesen und Systemen des alten Europa vertretene Tradition mit ihren Denkfabriken, universitären Anbindungen und wirkungsvollen Publikationsorganen standen inneramerikanisch für ebenjene als Epoche des Kalten Krieges zu verstehende historische Sonderzeit. Dass Amerika auch andere, »nativistische«, isolationistische Traditionen kennt, Traditionen, die Roosevelt in den späten er Jahren zu überwinden suchte, um die Vereinigten Staaten in die Welt, konkret: in den Zweiten Weltkrieg zu führen, ist eine zeitgenössisch-generationell zwar wenig gewohnte, gleichwohl durchaus lebenswirkliche Variante Amerikas. Mit dem Ende jener als Sonderzeit ausgewiesenen Epoche des Kalten Krieges stehen auch die Verhältnisse in Europa vor einem Wandel. Die im Gehäuse des Kalten Krieges und durch die NATO bereitgestellte  Bordo (), S. -.  Suri ().  Smuckler ().

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Ressource kollektiv verbürgter Sicherheit erlaubte es dem europäischen Einigungsvorhaben und seinen sich zunehmend verdichtenden Institutionen über Jahrzehnte, Fragen des Politischen und damit auch der militärischen Integration transatlantisch auszulagern. Dabei ist die als erster größerer Schritt unternommene wirtschaftliche Integration Europas, eingeleitet durch die Römischen Verträge , eher als Ausdruck einer Verlegenheit zu verstehen, die durch das Scheitern des Vorhabens der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) an der französischen Nationalversammlung  erforderlich geworden war. Die der Logik des Wirtschaftlichen eigenen Modi des Quantifizierens erleichterten es zudem, zwischen den Mitgliedsstaaten jene Kompromisse zu erzielen, die ein bekömmliches Miteinander von durchaus verschiedenen Mitgliedsstaaten erlaubten. Im Unterschied dazu sind Fragen der militärischen Sicherheit existenziellen Charakters und damit von anderer Qualität. Diese rührt an die jeweilige Substanz der in der Union zusammengeführten Gemeinwesen, an ihre politischen Kulturen und die sie jeweils imprägnierenden unterschiedlichen Gedächtnisse, die letztendlich in den großen europäischen Kriegen, vor allem im Zweiten Weltkrieg, ihren unterschwellig wirkenden Resonanzboden finden. Der Kalte Krieg war ein Gehäuse der Neutralisierung, das systemische Milieu, der Raum, in dem sich die politische Verwandlung, die »Verwestlichung« Deutschlands vollzog. Zuerst als Teilstaat, als ein ausschließlich in seiner Verfassung verankertes Gemeinwesen gesellschaftlichen Charakters, und dies – bei aller anderslautenden Rhetorik – nicht als deutsche Nation. Es war die institutionelle Formatierung der Bundesrepublik, mittels derer die Transformation der (West-)Deutschen gelang. Als sich die Vereinigung zutrug, hatte sie sich nach vierzig Jahren Verwandlung – die emblematische Zahl einer biblischen Generation – erfolgreich gehäutet. Die neue Bundesrepublik Deutschland hatte sich, entgegen allen geäußerten Befürchtungen, auch mit der Einverleibung der auf dem vormaligen Territorium der untergegangenen DDR etablierten Gebietskörperschaften als »neue Bundesländer« nicht aus jener Verankerung gerissen, die sich unter den pressierenden Bedingungen des Kalten Krieges in historisch relativ kurzer Zeit eingestellt hatte. Derart verwandelt, wird Deutschland gehalten sein, in Zukunft in Europa zunehmend die Rolle eines geläuterten Hegemons einzunehmen. Erinnerungspolitisch  Loth (), S. -; Thoß (); Maier ().  Zum Gedächtnis des Krieges und der Unterscheidung von Opfern, von Tod und Tod vgl. Diner (); Leggewie ().

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wird hierfür ein erhöhtes Bewusstsein von Unterscheidung im Sinne von historischem Urteilsvermögen nötig sein – so etwa die Unterscheidung zwischen Krieg und Krieg und damit auch die erinnerungspolitisch ebenso brisante wie relevante Unterscheidung zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg. Überhaupt werden sich Fragen der Sicherheitspolitik, der militärischen Kultur sowie der Imponderabilien und Dilemmata der Anwendung militärischer Gewalt zu Wort melden. Dass all dies im europäischen Rahmen erfolgen möge, ist ein der historischen Läuterung geschuldeter Wunsch.

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Die Europäische Union als Schreckgespenst der Demokratie H J Die Verteufelung der Europäischen Union durch ihre Kritiker lebt von der Behauptung, sie unterscheide sich nicht wesentlich von totalitären Systemen, die Europa zu beherrschen suchten. Es fänden sich darin ebenso Elemente der nationalsozialistischen »Neuen Ordnung« wie des sowjetischen Imperiums. Diese Ansicht beruht auf einer beträchtlichen Verzerrung der Geschichte. Die wachsende EU-Kritik in den zehn Jahren nach der Finanzkrise speist sich aus ganz anderen Quellen, die in diesem Aufsatz untersucht werden sollen: Die populistische, vermeintlich demokratische Kritik an Europa und seinen Verflechtungen beruft sich häufig auf pseudohistorische Legitimationen. Die Vergangenheit ist immer eine Quelle passender Mythen. Fangen wir mit dem Problem an. Dass die Europäische Union unoder antidemokratisch ist, ist keineswegs evident. Die Gründer der Vorläufer der EU, vor allem der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die durch die Römischen Verträge entstand, wollten auf einem Kontinent, der vor Kurzem Demokratie und Freiheit aufgegeben und den Weg in die Barbarei eingeschlagen hatte, die Demokratie fördern. Dieses Bestreben ist keineswegs verschwunden, es ist immer noch da und wird weiterhin mit Nachdruck formuliert. Die Präambel des jüngsten Vertrags, des Lissabon-Vertrags von , erklärt: »SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, EINGEDENK der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen, IN BESTÄTIGUNG ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit.« Wie jede überzeugende Darstellung eines demokratischen Rahmens – der festlegt, wie Völker ihre Regierung wählen und zur Rechenschaft ziehen – setzt auch der Vertrag von Lissabon der Demokratie einen Rahmen von Rechten und Werten. Es gibt Grenzen für die Möglichkeiten 364

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demokratischer Mehrheiten – sie dürfen weder Minderheiten unterdrücken noch sich zur permanenten Verkörperung eines Volkswillens erklären. Natürlich bedeutet allein die Behauptung, man sei eine Demokratie, nicht notwendigerweise, dass man auch eine Demokratie ist, man könnte auch ein anderes Demokratieverständnis haben, so wie in den alten Volksdemokratien im Osten. Der realistische und völlig plausible Einwand gegen die EU ist ein anderer: Er sieht die EU als Beispiel für eine ganz eigene Version des modernen Verwaltungsstaats. Demokratisch gewählte Regierungen, die sich vor einem Parlament verantworten müssen, delegieren ihre Autorität an administrative und regulatorische Behörden, Zentralbanken, Gerichte und manchmal auch internationale Institutionen. Legitimiert wird dieser Prozess durch die Ergebnisse; es kommt zu einer »Output-Legitimität«. Dieser Prozess des Regierens durch die Verwaltung findet großenteils im staatlichen Rahmen statt. Aber öffentliche Güter wie saubere Luft und sauberes Wasser – oder auch die Landesverteidigung – lassen sich nicht im Rahmen eines Flickwerks von als »Nationalstaaten« verstandenen Einheiten bewältigen. Vielmehr entscheiden diese nationalen Kollektive gemeinsam an der Wahlurne, wie das öffentliche Wohlergehen durch Delegation und Repräsentation verwirklicht werden kann. Es gibt, wie Andres Moravcsik so treffend gesagt hat, eine »symbiotische Beziehung« zwischen nationaler und europäischer Politik. Angesichts der verwirrend komplexen Entwicklung der modernen Staatlichkeit und des Transnationalismus sehnen sich manche Menschen nach einer einfacheren, klareren Welt. Sie suchen nach Narrativen, die ihnen erklären, wo sie stehen, aber ihnen auch alternative Möglichkeiten aufzeigen könnten. Es ist nicht überraschend, dass historische Anspielungen – und Historiker – eine herausragende Rolle in der entstehenden Debatte gespielt haben. Geschichte und Emotionen sind miteinander verflochten. Fachhistoriker sollten jetzt begreifen, dass sie dafür verantwortlich sind, vor dem Missbrauch der Geschichte zu warnen und die reale Komplexität scheinbar einfacher Narrative aufzuzeigen. Gelegentlich wird die EU als Nachfolgerin historischer Verwaltungsformen betrachtet – vor allem als Erbin der nur teilweise demokratisierten österreichisch-ungarischen Monarchie. Das habsburgische Reich wurde zum starken Symbol für die Integrationsprobleme einer multinationalen, multisprachlichen und multiethnischen Gesellschaft. Nach  Eine überzeugende Analyse bietet Tucker ().  Moravcsik ().

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seinem Zusammenbruch entwickelten viele frühere Bewohner eine nostalgische Sehnsucht nach einem Setting, das einen Gegensatz zu dem intoleranten Nationalismus der Nachfolgestaaten bildete; aber in den letzten Jahrzehnten des Reichs herrschten unter den meisten Untertanen der Monarchie nur noch Unzufriedenheit und Ablehnung. In den Werken von Joseph Roth, Stefan Zweig und Felix Salten finden sich viele literarische Beschwörungen der Welt der Habsburger, und zu den eindrucksvollsten, erst kürzlich in westliche Sprachen übersetzten Werken zählt die Siebenbürger Trilogie des ungarischen Politikers Miklós Bánffy, die in Ungarn zwischen  und  erschienen ist. Sie ist eine flammende Anklage gegen das Versagen der herrschenden Klasse. Der zweite Band, Verschwundene Schätze, beginnt mit einer Debatte  in Ungarn über die Notwendigkeit einer eigenen Nationalbank und über die Zollunion in der ungarischen Hälfte der Doppelmonarchie. Es ist von einer Neuformulierung die Rede, der gemäß die Zollvereinbarungen als Zollvertrag und nicht als Zollunion bezeichnet werden sollen. Die Gefühle, aber auch die ständige Suche nach Neuformulierungen zur Überbrückung tiefer Interessengegensätze wirken im modernen Europa unheimlich vertraut. Wie das Habsburgerreich ist auch die EU unvollständig und instabil. Aber wie das Habsburgerreich hat sie stärker mit dem Prinzip der Nationalität als mit dem Funktionieren der Demokratie zu kämpfen. Der Slogan von der antidemokratischen EU ist zum zentralen Merkmal vieler kritischer Kampagnen von rechts wie von links geworden, so wie die Forderung nach nationaler Demokratie für Deutsche, Ungarn, Tschechen und Polen in Mitteleuropa vor . Die Beschwerde über fehlende Demokratie ist ein Kernbestandteil im Gebräu dessen, was wir heute als »Populismus« bezeichnen, was sich aber in der Praxis auf eine Form des Nationalismus oder Partikularismus stützt. Es gibt Populisten, die ihren Wunsch nach Eliminierung aller Aspekte des Verwaltungsstaats sehr deutlich artikulieren. Er war ein Kernbestandteil der programmatischen Erklärung von Steve Bannon, dem ehemaligen Berater von Präsident Trump, die er mit nach Europa nahm, wo er eine neue populistische (und antieuropäische) Internationale aufbauen wollte. Es gibt vier Erklärungen für die Tatsache, dass das Argument der mangelhaften oder fehlenden Demokratie zentrale Bedeutung für die moderne EU-Politik bekam. Die einfachste ist die Anziehungskraft eines farbigen Narrativs, das schon vor einiger Zeit entstand, aber in der Zeit der sozialen Medien mit ihren Möglichkeiten zum gezielten Messaging viel effektiver geworden ist. In diesem Narrativ versuchen aufdringliche, verantwortungslose und ehrgeizige Bürokraten, ihre Autorität zu steigern 366

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und zu erweitern, auch wenn das Ergebnis eine erzwungene absurde Uniformität ist. Die zweite Erklärung behauptet spezifischer, dass Demokratie nur in souveränen Nationalstaaten voll und ganz möglich ist und sein kann. Als es zwischen EU-Mitgliedern, vor allem im Gefolge der Finanzkrise, zu Spannungen bei Verteilungsfragen kam, wurde das souveräne Verständnis der nationalen Demokratie an beiden Enden des politischen Spektrums sehr viel stärker geltend gemacht. Auch die dritte Erklärung ist seit der Finanzkrise sehr viel deutlicher erkennbar, ist aber mit der Durchsetzung dessen verbunden, was Menschen wirklich wollten: Angeblich sind traditionelle Werte die wahren Werte des wahren Volkes, auch wenn nicht eindeutig feststeht, dass diese Werte im strengen Sinne irgendeine Mehrheit repräsentierten. Eine vierte Quelle des populistischen Backlash gegen die EU entstand aus der Diskussion über Demokratie: Mit steigender Anti-EU-Rhetorik machen sich EU-Befürworter Sorgen um die Demokratie in der EU, um dann mit antidemokratischer Rhetorik zu arbeiten. Solche Äußerungen lassen sich in den Echokammern der Medien verstärken und führen leicht zu der Schlussfolgerung, dass die EU für antidemokratische Eliten ein Mechanismus zur Verlängerung ihrer bösartigen Herrschaft sei und sich die EU damit funktional nicht von der alten Sowjetunion unterscheide.

Die EU als Absurdistan Am . Mai  erschien auf der ersten Seite der konservativen britischen Zeitung The Daily Telegraph ein Artikel ihres Brüsseler Korrespondenten Boris Johnson mit der Schlagzeile »Delors will Europa regieren«. Für den Kollegen Charles Grant vom Economist veränderte dieser Artikel die europäische Geschichte. Danach schrieb Johnson eine lange Serie von Artikeln aus Brüssel, in denen er die Absurditäten europäischer Regularien aufs Korn nahm: Pläne zur Harmonisierung von »Eurosärgen«, eine »Bananenpolizei«, die Rekrutierung von »Schnüfflern, die dafür sorgen sollen, dass europäischer Dung gleich riecht«. Er behauptete, die »Eurokraten« hätten italienische Kondome verboten, weil sie nicht exakt  cm lang seien. Als Ex-Bürgermeister von London und Parlamentsmitglied griff er  in einer Kolumne für den Daily Telegraph auf diese Art Jour Sara Helm: Brussels chuckles as reality hits mythmaker, in: Independent, ...  Martin Fletcher: The joke’s over – how Boris Johnson is damaging Britain’s global stature, in: New Statesman, ...

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nalismus zurück und drängte darauf, dass das Vereinigte Königreich die EU verlässt. Diese Kolumne führte bei der Kampagne zum Brexit-Referendum wahrscheinlich zur entscheidenden Wendung: »Manchmal sind diese EU-Regeln einfach lächerlich, etwa das Verbot, einen Teebeutel zu recyclen, oder die Regel, dass Kinder unter acht Jahren keine Luftballons auf blasen dürfen.« Solche Regeln wären tatsächlich absurd, nur gibt es, worauf viele sofort hinwiesen, solche Regeln in der EU nicht. Aber diese einfache Tatsache änderte nichts an der Macht des Narrativs. Die Aufnahme demokratischerer Aspekte in den er Jahren machte Johnson noch wütender auf die EU, vor allem, als das Europäische Parlament mehr Macht bekam und sich die Koordinationsbemühungen in Richtung auf Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit in einem breiten Themenfeld intensivierten. Beide Entwicklungen implizierten, dass Gesetze und Regeln zunehmend außerhalb des Nationalstaats beschlossen werden konnten und werden würden. Johnson gab dann zu, es wäre ihm lieber gewesen, es hätte kein Europäisches Parlament gegeben: »Vor Jahren, als es nur  Länder in der EU gab […], berichtete ich aus dem Europaparlament, und ich fürchte, dass es für einige Journalisten unter uns eine Art Witz war. Italienische Hardcore-Pornostars, die über die Liste ins Parlament gekommen waren, saßen neben cholerischen ehemaligen SS-Männern und merkwürdigen Tiroler Grünen mit Filzhüten und Lederhosen. Das Parlament verabschiedete bedeutungsschwere Erklärungen, die Dinge völlig außerhalb seines Machtbereichs verurteilten, wie Hungersnöte und Erdbeben.« Wie immer bei Johnson waren die Fakten dubios. Der einzige gewählte italienische – tatsächlich italienisch-ungarische – Pornostar, Ilona Staller alias Cicciolina, war  ins italienische Landesparlament eingezogen. Johnson erklärte: »Mehrheitsabstimmungen sind das System, mit dem die Wünsche der britischen Regierung – und deshalb des britischen Volkes – am Brüsseler Tisch vernichtet werden können.« Sie brächten »mehr unaufhaltsame und schädliche Regulierungen« mit sich, »mit mehr vorstellbaren Mehrheitsentscheidungen bei technologischen, Bildungs- und sozialen Fragen und bei Giscards Lieblingsplan für eine anständige europäische Weltraumrakete.«  Boris Johnson: There is only one way to get the change we want – vote to leave the EU, in: The Daily Telegraph, ...  Boris Johnson: The Euro parliament is no longer a joke for bored hacks, in: The Daily Telegraph, ...  Boris Johnson: The French must give Giscard a rocket, in: The Daily Telegraph, ...

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Die ständig verbreitete Botschaft wurde zum Allgemeinplatz; Meinungsumfragen zeigten regelmäßig, dass die britische Bevölkerung die Erzählungen von der Überregulierung glaubte. Großbritannien hatte im Eurobarometer bei den Umfragen zu ihrem Verhältnis zur EU die höchsten Werte bei »gleichgültig« (mit  Prozent  und  Prozent ) und die niedrigsten bei »hoffnungsvoll« ( Prozent  und  Prozent ). Anders ausgedrückt: Die Gefühlslage der Öffentlichkeit ist im Großen und Ganzen konstant geblieben und hat sich auch durch größere politische Schocks, die globale Finanzkrise oder die wachsende Bedeutung von Sicherheitsfragen nicht verändert. Dieses Gefühl wurde – wie die Auszüge aus Johnsons Text deutlich machen – auch mit der Behauptung assoziiert, die EU sei ineffizient. Er formulierte es so: »Warum ist Europa so schwach? Warum kann Brüssel nichts auf die Reihe bringen? Die Antwort lautet, Europa ist keine natürliche politische Einheit.« Echte politische Einheiten waren nur Nationen; für ein supranationales Allgemeinwohl gab es keinen Platz. Die Botschaft wurde sogar von notorisch proeuropäischen britischen Politikern akzeptiert, als Großbritannien versuchte, Elemente einer älteren Souveränitätsdoktrin zu beanspruchen. Auf dem Höhepunkt der europäischen Schuldenkrise hielt Premierminister David Cameron eine große »Europarede«. Sie sollte die Versöhnung zwischen Großbritannien und der EU einleiten, markierte aber tatsächlich den Beginn des Abschieds der britischen Regierung von der EU. Cameron sagte: »Es gibt eine wachsende Frustration, weil die EU als etwas gesehen wird, das Menschen angetan wird, anstatt etwas für sie zu tun. Und das wird verstärkt durch ebendie Lösungen, die es braucht, um die wirtschaftlichen Probleme zu lösen. […] Die Menschen sind extrem frustriert, weil Entscheidungen, die in immer größerer Entfernung von ihnen getroffen werden, dazu führen, dass ihr Lebensstandard durch erzwungene Austerität sinkt oder man Regierungen auf der anderen Seite des Kontinents mit ihren Steuergeldern aus der Patsche hilft.« Der Vorwurf richtete sich also nicht mehr auf die verrückte Gesetzgebung zugunsten eines falschen Harmoniebedürfnisses in der EU, sondern auf die angeblich unfaire Verteilung der Konsequenzen der EU-Politik zwischen den Mitgliedsstaaten.  Eurobarometer data: http://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/index. cfm/Chart/getChart/themeKy//groupKy/ (..).  Boris Johnson: Europe – my part in its downfall, in: The Daily Telegraph, ...  Nicholas Watt/Juliette Jowit: Cameron postpones big speech on Europe, in: The Guardian, ...

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Die EU als Sado-Monetarismus Politikwissenschaftler, die die EU konventionell und korrekt untersuchen, analysieren, wieweit sie kein Staat ist. Ihre größten Stärken und ihre Macht liegen in der Regulierung; ihre Effektivität liegt vor allem in der Implementierung einer Wettbewerbspolitik, die in der Vergangenheit eine Quelle von Dynamik und Innovation war und in der Gegenwart die beste Möglichkeit für Europäer ist, die sich gegen die Monopole der (überwiegend amerikanischen, aber potenziell auch chinesischen) Big-Data-Firmen wie Google, Amazon und Facebook – oder Baidu, Alibaba oder Tencent – wehren wollen. Die EU hat kein substanzielles Budget – eine Tatsache, die sie möglicherweise weniger fähig zu einer entschiedenen Reaktion auf die Finanzkrise nach  gemacht hat. Nach  und vor allem in der Staatsschuldenkrise nach  wurde aus der Krise des Finanzsektors eine fiskalische Krise. Damit bekamen Regulierungs- statt Verteilungsfragen zentrale Bedeutung. Die Länder betrachteten die EU jetzt anhand der Höhe ihres Beitrags und des Verlusts für die Steuerzahler. Der Blick auf Kosten und Nutzen wurde zur Basis für die Diagnose dessen, was in Griechenland, Südeuropa und der EU insgesamt falschgelaufen war. Die Analyse produzierte bequeme Klischees – die »faulen Griechen« –, die dann bei Griechen und anderen Südeuropäern entsprechende Klischees über die »grausamen« oder auf Bestrafung bedachten Deutschen auslösten. Der Norden verlangte den Abbau eines aufgeblähten Staatsapparats und eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit. Aber aus griechischer oder allgemein aus südeuropäischer Perspektive hatte Nordeuropa von Jobs profitiert, die für den Export nach Südeuropa entstanden waren, genauso wie von der Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen Produktion. Daraus hatte sich eine Serie von Forderungen ergeben, die einfach abgeschrieben werden sollten, um einen Neustart zu ermöglichen. Die europäischen Rettungspakete (die der Norden als Hilfeleistung betrachtete) halfen nicht den Südeuropäern, sondern trugen nur dazu bei, öffentliche Mittel zur Rettung privater Schuldner einzusetzen, die bereits profitiert hatten. Amerikanische Kritiker hatten von Anfang an diagnostiziert, die finanzielle Integration, vor allem der Schritt zur Währungsunion , könne zu gefährlichen und unkontrollierbaren Spannungen führen.  hatte das Sprachrohr der amerikanischen außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs, Martin Feldstein, die umstrittene Behauptung aufgestellt, der Euro könne zum Krieg führen. Der Politikwissenschaftler Larry Siedentop hielt in seinem Buch von  die Währungsunion und den Vor370

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rang des Marktdenkens, den er damit assoziierte, für die Achillesferse Europas. Er schrieb: »In dem Maße, in dem die liberale Demokratie so wahrgenommen wird, dass sie diese Tyrannei der ökonomischen Kategorien duldet – und zum ›Komplizen‹ der Zentralisierung wird –, riskiert sie ihre eigene Glaubwürdigkeit. Sie beginnt, der durchsichtigen Fassade düsterer Kräfte zu ähneln, als die sie der Marxismus immer gesehen hat.« Das griff Wolfgang Streeck später sehr viel vorwurfsvoller auf, als er belegen wollte, dass die EU das Konzept des Staatsvolks durch das des Marktvolks ersetzt habe. Europa sei nur ein besonders krasses Beispiel dafür, dass die Entkoppelung der Massendemokratie vom Management der Wirtschaft mit internationaler Politik leichter möglich sei als mit nationaler. Und er fuhr fort: »Von der Demokratie, definiert als die institutionalisierte Möglichkeit der Ungewaschenen, die Gewaschenen an ihre Existenz zu erinnern, existieren noch Reste auf der nationalen Ebene – vgl. die Brexit-Abstimmung –, ohne die Aussicht, sich auf die höheren Kreise der Junckers und Draghis auszudehnen, ob aus institutionellen, organisatorischen, sprachlichen oder anderen Gründen. Ich behaupte, dass Demokratie wichtiger ist als Globalisierung und dass, da globale Demokratie nicht mehr als ein frommer Wunsch ist, ein bisschen weniger Globalisierung ganz in Ordnung ist, wenn sie uns ein bisschen mehr Demokratie bringt.« Diese Kritik klingt eher akademisch, und es ist schwer zu erkennen, warum sie sich allein oder hauptsächlich gegen Europa und seine Institutionen richtet. Der Fokus eines Großteils dieser Kritik könnte sich auch auf Nationalstaaten richten, die vor ähnlichen geldpolitischen Entscheidungen mit Folgen für die Verteilung und vor Bankenrettungen standen, die sich leicht als Rettung der Reichen darstellen ließen. Streecks tiefer gehendes Argument über die Marktorientierung der Politik galt für die neue Bundesrepublik nach  genauso wie für die alte, die ihre Legitimität in den er und er Jahren zunehmend auf die Folgen des Wirtschaftswachstums stützte.  beklagte Jürgen Habermas in der Zeit den »DM-Nationalismus«. Im Jahr davor veröffentlichte ich ein Buch, in dem ich zeigte, dass die destruktive und potenziell instabile Verbindung von Nation und nationalem Wirtschaftswachstum auf die Reichsgründung  zurückgeht. Tatsächlich war es ein Merkmal al    

Siedentop (), S. . Streeck (), S. ; auch Streeck (). Streeck (). Jürgen Habermas: Der DM-Nationalismus, in: Die Zeit, ... James ().

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ler industriellen Demokratien, die Aufgabe der Regierung primär in der Generierung von Wirtschaftswachstum zu sehen. »It’s the economy, stupid«, lautete eine Variation des Satzes, den Bill Clintons Stratege James Carville formuliert hatte. Im Verlauf der Eurokrise aber reichten die Sorge um eine nachhaltige Wirtschaft und die Angst vor Ansteckung sehr viel weiter. Bei zwei Gelegenheiten Ende , als die Angst vor der Ansteckung ihren Höhepunkt erreicht hatte, sah es so aus, als setzten französische und deutsche Regierungschefs demokratisch gewählte politische Führer in südlichen Ländern ab. Am . November  traf sich der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi beim G--Gipfel in Cannes privat mit Präsident Nicolas Sarkozy und Kanzlerin Angela Merkel. Bei diesem Gespräch empfahl man ihm nachdrücklich ein deutliches Handeln. Internationale Institutionen erwogen ein IWF-Programm für Italien, was Berlusconi als Schritt zu seiner Diskreditierung verstand. Für Berlusconi war zudem das Gipfeltreffen insgesamt eine öffentliche Demütigung, vor allem, weil Merkel und Sarkozy sich über einen Pressehinweis auf die italienische Führung zu amüsieren schienen. In Italien war eine große Protestbewegung gegen Berlusconi entstanden; er hatte seine Mehrheit im Parlament verloren und würde eine Vertrauensabstimmung nicht überstehen. Art und Mechanismus seines Sturzes nährten allerdings den Verdacht, Deutschland habe Italien seine Forderungen und Entscheidungen aufgezwungen. Am . November  telefonierte Kanzlerin Merkel mit dem Präsidenten der Republik, Giorgio Napolitano (dessen Amt überwiegend symbolisch war, der aber bei einer Instabilität der Regierung eine beträchtliche Rolle spielte). Einen Tag später, am . November, trat Berlusconi zurück. Das geschah nur wenige Tage nach dem Sturz des griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou, der eine Volksabstimmung über das Rettungspaket vorgeschlagen hatte und dann von den europäischen Führern aufgefordert worden war, diese Maßnahme direkter Demokratie zurückzunehmen. Papandreou entschied sich für den Rücktritt und wurde von dem technokratischen Interimspremier Lukas Papadimos abgelöst, ehemals Vizepräsident der Europäischen Zentralbank. Berlusconis Nachfolger in Italien, Mario Monti, war ein Akademiker und frommer Katholik mit einem im Vergleich zu dem Sumpf der fiskalischen und sexuellen Skandale unter Berlusconi makellosen persönlichen Leben, besaß aber als sehr erfolgreicher früherer EUKommissar für Wettbewerbspolitik auch das Vertrauen der europäischen Eliten. Die Ereignisse in Italien und die Parallelen zum Regierungswechsel in Griechenland ließen Verschwörungstheorien entstehen, wonach Eu372

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ropa, anders gesagt: die europäischen Beamten in Brüssel, vor allem aber Deutschland, dem demokratisch ausgedrückten Willen des Volkes Vorlieben von außen aufgezwungen hätten. Berlusconi sprach von einem »Coup«, und diese Interpretation wurde selbst von vielen seiner Kritiker aufgegriffen. Europa wurde jetzt aus der Perspektive konkurrierender nationaler Einheiten und deren Mythen betrachtet. Eine historische Komponente dieses Bildes war die größere Verbreitung der Auffassung, die EU sei Ausdruck eines alten deutschen Strebens nach Vorherrschaft. Die Ursprünge des vereinten Europas wurden im nationalsozialistischen »Großwirtschaftsraum« gesehen. Britische Reaktionen auf die Wiedervereinigung von  schlossen oft Verweise auf das Vierte Reich ein. Der irische Journalist Conor Cruise O’Brian schrieb am . Oktober , im Augenblick des Zusammenbruchs der DDR, dass »im neuen stolzen, vereinten Deutschland die Nationalisten das Vierte Reich proklamieren, denn während der Begriff Reich mit Sieg und Zeiten deutschen Aufstiegs assoziiert ist, wird Republik mit Niederlage und dem Aufstieg fremder Werte verbunden.« Die Balkankriege der er Jahre führten zu einer neuen, entscheidenden Beschäftigung mit der deutschen Außenpolitik. Mit der Finanzkrise wurde die Sprache sehr viel heftiger. Marine Le Pen erklärte, Kanzlerin Merkel bringe Flüchtlinge als Sklavenarbeiter für die deutsche Wirtschaft nach Europa. Jean-Luc Mélenchon, der weit links stehende Kandidat der französischen Präsidentschaftswahl von , der in der ersten Runde , Prozent der Stimmen gewann (gegenüber Le Pen mit ,), hatte ein Buch mit dem Titel Der Bismarckhering oder das deutsche Gift geschrieben, in dem er behauptete, der deutsche Umgang mit Griechenland nähme nur vorweg, was Angela Merkel mit Frankreich vorhabe. Und in Großbritannien sprach Norman Lamont von der den Griechen aufgezwungenen deutschen »Sado-Austerität«.

 Conor Cruise O’Brien: Beware the Reich is Reviving, in: The Times, ...  Mélenchon ().  Tim Sculthorpe: Norman Lamont claims German ›sado-austerity‹ is pushing support to the far right after Michael Gove warns the EU is fuelling ›Hitler worshippers‹ in Europe, in: Daily Mail, ...

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Die EU als Perversion Ein anderer Vorwurf gegen die EU ist bei jenem großen Teil der Populisten verbreitet, für den die EU kulturellen Liberalismus, Multikulturalismus und unbegrenzte Einwanderung fördert, zusammen angeblich eine toxische Mischung, die »traditionelle« europäische Werte bedrohe. Parteien mobilisierten zunehmend nicht mehr entlang der klassischen sozioökonomischen Fragen, die die Politik in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts prägten, sondern entlang von Identitätsgefühlen, und die Angst vor Einwanderung (sowie der Zorn über Korruption) bildet fast immer ein zentrales Merkmal der Anti-Eliten-Rhetorik. Ein einfaches gemeinsames Modell gibt es jedoch nicht. Teile Westeuropas, vor allem die Niederlande mit ihrer kulturell sehr offenen Tradition, sehen die Gefahren bei der Integration des Islam gerade in dessen Opposition zu Frauenrechten und Homosexualität. Der moderne holländische libertäre Populismus hat seinen Ursprung in der Bewegung des schrillen homosexuellen Politikers Pim Fortuyn, der den Islam wiederholt als rückwärtsgewandte und feindselige Religion bezeichnete und  beim Anschlag eines holländischen Umweltschützers, der kein Moslem war, ums Leben kam. Geert Wilders, der ursprünglich zur Mitte-rechts-Fraktion gehörte, baute dann die Partei für die Freiheit (Partij voor de Vrijheid) auf, die viele Themen der Fortuyn-Bewegung übernahm. Eine der führenden Politikerinnen der deutschen AfD, die sich durchgängig als Verfechter des deutschen Traditionalismus darstellt, ist Volkswirtin und lebt in der Schweiz in einer lesbischen Beziehung mit einer (nicht weißen) Partnerin. Im Gegensatz dazu stützt sich die Opposition gegen den Islam in Osteuropa, vor allem in Polen und Ungarn, auf die Vorstellung, dass sich die nationale Gesellschaft auf christliche (oder jüdisch-christliche) Werte gründen sollte. Tatsächlich hat sich die Bedeutung des Begriffs »jüdischchristlich« so verändert, dass er jetzt das Gegenteil des Ausgegrenzten meint – des Islam (ähnlich wie »christliche« Bewegungen Anfang des . Jahrhunderts oft eine Möglichkeit zur Mobilisierung des Antisemitismus boten). Vor allem nach der Massenflucht von  versuchte Viktor Orbán in Ungarn, gestützt auf seine Ablehnung muslimischer Einwanderer, die Führung in einer breiten Anti-EU-Bewegung zu übernehmen. Polen kündigte an, syrische Christen aufzunehmen, nicht aber Moslems auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg. Die Diskussion über die deutsche  Vgl. Polk u. a. ().

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Vorherrschaft in der EU veränderte sich hin zur Opposition gegen einen »deutschen Plan« zur Verteilung von Migranten in der EU. Aber man sollte die Ost-West-Differenzen nicht überbetonen. Fortuyn näherte sich am Ende seines Lebens stärker dem Katholizismus an, und für Wilders, der als Katholik aufwuchs, sich jetzt aber als Agnostiker definiert, sind Christen Verbündete im Kampf um die Begrenzung der islamischen Zuwanderung. Doch sind weder der Katholizismus noch das Christentum erkennbar mit der neuen Bewegung verbündet. Johannes Paul II., der in großen Teilen der polnischen Gesellschaft immer noch verehrt wird, war ein Pionier nicht nur der christlich-jüdischen Versöhnung, sondern auch der verbesserten Beziehungen zwischen katholischer Kirche und Muslimen; er sprach oft von den drei abrahamitischen Religionen. Teile der polnischen Kirche folgen immer noch seiner zutiefst europäischen Orientierung, während andere sich dem nationalen Katholizismus zugewandt haben. Die russisch inspirierten Angriffe auf die EU griffen Teile dieses neuen Gemischs auf, vor allem nach der Annexion der Krim  und den von Russland unterstützten Kämpfen in der Ostukraine. Russische Medien stellten die EU als »verlogen, multikulturell und dekadent« dar und trugen diese Botschaft dann in den traditionellen Medien weiter – vor allem im internationalen Sender Russia Today (später unter dem Markennamen RT), der unterhaltendes und visuell attraktives Fernsehen bietet. Russische Medien berichteten viel über echte oder angebliche Angriffe junger Muslime auf europäische Frauen. Zudem nutzte Russland viele weitere Kanäle, einschließlich Spenden und Kredite für Anti-EU-Parteien, darunter die National Front, die italienische Lega, UKIP und die deutsche radikal rechte populistische Partei. Das erfolgreichste Vehikel zur Einflussnahme war die aggressive Nutzung der neuen sozialen Medien – Twitter und Facebook. Die globale Finanzkrise fiel mit der Markteinführung des iPhone von Apple (im Juni ) zusammen, mit dem die Nutzer auf völlig neue Weise mit breiteren Kontaktgruppen aus Gleichgesinnten kommunizieren konnten. Die neue russische Weltsicht präsentierte im Wesentlichen drei Narrative über die Probleme des »alten Westens«: Die EU sei aggressiv und interventionistisch und hätte einen Propagandakrieg gegen Russland und gegen traditionelle Werte angezettelt, stehe kurz vor dem Zusammenbruch und fördere bizarres, mit einem traditionellen Verständnis des Christentums unvereinbares Verhalten wie Homosexualität, Pädophilie und sogar Zoophilie (Kopulation mit Tieren). Bei einem Treffen im Waldai-Club, bei dem Putin gern seine Weltsicht präsentiert und diskutiert, 375

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brachte er Schwulenrechte mit einem westlichen Modell in Verbindung, das »einen direkten Weg zu Erniedrigung und Primitivität eröffnet und zu einer tiefen demografischen und moralischen Krise führt«. Gleichzeitig aber präsentierte er sich selbst zunehmend als Verkörperung unverfrorener traditioneller Männlichkeit. Der ungarische Premierminister Viktor Orbán, der zur europäischen Inkarnation eines neuen Politikstils wurde, folgerte, dass »die Stärke der amerikanischen Soft Power« schwinde, liberale Werte heute »Korruption, Sex und Gewalt« verkörperten und als solche »Amerika und die amerikanische Modernisierung« diskreditierten.  legte die polnische Regierung ihr Veto gegen die europäische Menschenrechtserklärung ein, weil sie Bezug auf Schwule nahm, aber nicht auf Christen und Juden. PiS-Führer Jarosław Kaczyński erklärte in einem Interview mit dem katholischen Sender TV Trwam vor der Wahl von : »[Es gibt] in Polen kein Wertesystem, das realistisch […] mit den Lehren der Kirche konkurrieren kann. Wer dieses System bekämpft, begünstigt den Nihilismus, unabhängig davon, ob er gläubig ist oder nicht.« Bei der Wahl bekam er , Prozent der Stimmen. Zweifellos sind diese traditionalistischen Ansichten weit verbreitet, aber es ist keineswegs sicher, dass sie wirklich als demokratischer Wille bezeichnet werden können, der von Brüssel frustriert wird. Es ist ein üblicher politischer Schachzug der Populisten, eine partielle Sicht als einzig wahren Ausdruck des »Volkes« darzustellen, ohne jede Beratung oder Diskussion. Sie sind kein Spiegel einer Entzauberung der Europäischen Union, in der Indikatoren für die »Bindung« hoch sind: Laut Eurobarometer empfanden  nur vier Prozent der Befragten in Polen und elf Prozent in Ungarn »überhaupt keine« Bindung an die EU, während in Polen  Prozent eine »relative« und  Prozent eine »starke« Verbindung angaben. Die höchsten Verbindungswerte gab es in Litauen mit  Prozent.

 Treffen des Waldai International Discussion Club, .., http://en.kremlin.ru/ events/president/news/; vgl. auch Snyder ().  Viktor Orbán’s speech at Băile Tuşnad, https://budapestbeacon.com/full-text-ofviktor-orbans-speech-at-baile-tusnad-tusnadfurdo-of--july-/ (..).  Justyna Pawlak: Polish vote marks resurgence of conservative Catholic values, in: Reuters, .., https://www.reuters.com/article/uk-poland-electionchurch-idUKKCNSLB (..).  Eurobarometer, http://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/index.cfm /Chart/getChart/themeKy//groupKy/ (..).

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Die EU als Hybris Mit der wachsenden Irrationalität – und Destruktivität – der EU-Kritik bekam man bei einigen der leidenschaftlichsten Verfechter der föderalen Sache den Eindruck, sie wendeten sich gegen die nationale demokratische Praxis. Dieser beängstigende Schritt – die anmaßende Formulierung eines überlegenen und übergeordneten Prinzips – schürte in einer Spirale der Eskalation den Zorn und den Ärger der Populisten. Großbritannien wurde – mitten in der Brexit-Debatte – zum besten und offensichtlichsten Testfall für diese Dynamik. Nach der Abstimmung am . Juni , bei der  Prozent dafür stimmten, die EU zu verlassen, und der Parlamentswahl , als beide Parteien das Ergebnis des Referendums akzeptierten, richteten viele Anhänger der EU-Mitgliedschaft ihre Argumente zunehmend gegen die Demokratie. Der Philosoph A. C. Grayling schrieb in einem Tweet: »Unsere Regierung selbstmörderisch. Sie handelt nicht im Interesse des Landes. Sie sollte abgesetzt & Vernunft wiederhergestellt werden.« Der konservative proeuropäische Journalist und ehemalige Abgeordnete Matthew Parris schrieb: »Tories wie ich, und ich glaube, wir waren in der Mehrheit, verstehen unter guter Regierungsführung das Bemühen, mit der Demokratie und nicht durch die Demokratie zu leben. Deshalb sind wir so zurückhaltend mit Volksabstimmungen. Wir sind misstrauisch gegen die Bevölkerung und instinktiv feindlich gegen die Instinkte des Mobs. Wir betrachten den Volkswillen als eine gelegentlich gefährliche Sache, mit der man umgehen, die man lenken und die man bei wichtigen Gelegenheiten (subtil) vereiteln muss.« Abschließend bemerkte er, es geh bei der Debatte darum, »dem Volk zu vertrauen. Das tue ich nicht. Habe ich nie getan und werde ich nie tun.« Aber vergleichbare und parallele Debatten entstanden auch anderswo. Dem passionierten proeuropäischen österreichischen Schriftsteller Robert Menasse, dessen Romanbestseller Die Hauptstadt als Verteidigung europäischer Prinzipien gedacht war, wurde vorgeworfen, einem der wichtigsten Architekten der europäischen Integration, Walter Hallstein, ziemlich verächtliche antidemokratische Aussagen in den Mund gelegt zu haben: »Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung der Nationalstaaten« und »Ziel ist und bleibt die Überwindung  @acgrayling tweet : AM – ...  Matthew Parris: Why I don’t, never have, and never will trust the people, in: Spectator, ...

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der Nation und die Organisation eines nachnationalen Europa«. Menasse mag ein postnationales Europa für eine gute Idee gehalten haben, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass Hallstein das auch tat. Und der Schriftsteller verschlimmerte das Problem nur, als er behauptete, er habe »eine Diskussion provoziert und einen Denkraum des Möglichen eröffnet, den es vorher nicht gab, einfach dadurch, dass ich eine Autorität zu meinem Kronzeugen erklärt habe, der nichts dagegen gehabt hätte«. Hallstein hat genauso wenig die Abschaffung von Nationalstaaten gefordert wie die berühmte Präambel des deutschen Grundgesetzes, in der es heißt: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.« Menasse aber ging sicherlich in eine antidemokratische Richtung. Der Historiker Heinrich August Winkler verurteilte ihn als »falschen Freund Europas«. Diese Positionen stützten die Forderung antieuropäischer Gestalten, man sollte ihre Aktionen als Verteidigung der Demokratie gegen die Europäische Union und eine realitätsferne, privilegierte globalistische Expertenelite interpretieren, deren Position der des Ancien Régime im . Jahrhundert ähnele. So schrieb der britische Historiker Robert Tombs: »All die Staaten des Ancien Régime wurden von erfahrenen, weltklugen Profis geführt, und alle sind sie auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Und was ist mit ihrem heutigen Nachfahren, der Europäischen Union selbst, diesem Magneten für Europas neue, postnationale Aristokratie? […] Ihre supranationale Macht unterminiert Europas fragile, schmerzhaft erworbene Demokratien – die wahre Gefahr für Recht und Ordnung.«

Die Ausbreitung der Krise der Demokratie Damit wurde der Brexit nach  zur effektivsten Fallstudie für die neue Krankheit, den Versuch von Intellektuellen (und insbesondere Historikern), Geschichten aus der Vergangenheit, manchmal der weit entfernten Vergangenheit zu konstruieren, die ihren Gefühlen narrative  »Darum geht es in dem Fall Robert Menasse«, in: Der Spiegel, ...  Heinrich August Winkler: Europas falsche Freunde, in: Der Spiegel, ...  Robert Tombs: Extreme Remainers reject democracy itself in their attempt to subvert Brexit, in: The Sunday Telegraph, ...

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Plausibilität verliehen. Die Krise der Demokratie wurde von dem weit über die Kreise der »Brexiteers« hinausreichenden Konsens angetrieben, wonach die EU gleichzeitig scheitere, korrupt und aggressiv gefährlich sei. Aber der Prozess, in dem man versuchte, den antidemokratischen Grenzen Europas zu entkommen, offenbarte sehr rasch die Grenzen der Demokratie im Vereinigten Königreich. Vor dem Referendum hatte man kaum auf die Gestaltung des Prozesses, die Formulierung der Frage, die Beschreibung des Szenarios für das Verlassen der EU oder die Definition einer Wahlentscheidung geachtet. In föderalen Ländern gibt es fast immer demokratische Mechanismen, die verhindern, dass wesentliche Teile des Landes überstimmt werden. Im US-Senat ist jeder Staat gleich vertreten, sei es Wyoming mit weniger als   oder Kalifornien mit fast  Millionen Einwohnern. Schweizer Volksabstimmungen brauchen nicht nur eine Mehrheit der Wähler, um gültig zu werden, sondern auch der Kantone. Aber bei der Wahl  in Großbritannien reichte die einfache Mehrheit, obwohl zwei Teile der Union, Schottland und Nordirland, für den Verbleib in der EU stimmten. Die Historikerin Linda Colley analysierte: »Dass die EU in mancher Hinsicht unter einem Defizit an Demokratie leidet, ist unbestritten. Aber auch Großbritannien leidet unter einem demokratischen Defizit, und das immer stärker.« Als die Brexit-Verhandlungen auf die Frage der Wiederherstellung einer physischen Grenze zwischen Nordirland und der irischen Republik fokussierten, schien der prekäre, in den er Jahren ausgehandelte Frieden gefährdet, der auf der Aufhebung der Grenze basierte. Schottland und die Schottische Nationalpartei wurden zur effektivsten Stimme gegen den Brexit. Der Prozess des Austritts aus der Europäischen Union kann am Ende durchaus die Einheit des Vereinigten Königreichs zerstören. Das Dilemma der demokratischen Praxis und des Versuchs, Volksabstimmungen zu nutzen, ist auch anderswo unübersehbar. Am . Juli  führte die Koalitionsregierung in Griechenland (vermutlich entgegen der Verfassung) sehr kurzfristig ein Referendum über die Annahme des Rettungspakets der internationalen Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds durch. Eine große Mehrheit (, Prozent) lehnte die Bedingungen ab. Aber man glaubte auch – ohne einen Beratungsmechanismus, um diese Annahme zu überprüfen –, eine große Mehrheit der Griechen hätte Angst vor den Konsequenzen, das heißt dem Verlust ihrer Sparkonten,  Linda Colley: Brexiters are nostalgics in search of a lost empire, in: The Financial Times, ...

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nach dem Verlassen der Währungsunion. Die Regierung musste die Bedingungen des Vertrags rasch neu verhandeln und verabschiedete im Parlament ein sehr viel härteres Programm als das, was am . Juli abgelehnt worden war. Bei der Präsidentenwahl  in Frankreich hatte Marine Le Pen mit demselben Problem zu kämpfen, und aus Angst, sie könne aus dem Euro aussteigen, versammelten sich die Wähler massiv hinter dem Zentristen Emmanuel Macron. In Italien kam  eine populistische Regierungskoalition aus einer rechten (Lega) und einer linken (Cinque Stelle) antieuropäischen Gruppierung an die Macht, aber auch sie musste klarstellen, dass sie den Euro und die EU nicht verlassen würde. Die Entflechtung einer komplexen Verbindung mit einem supranationalen Verwaltungsstaat erwies sich als schwierig, vielleicht sogar unmöglich. Bei so vielen existierenden Verbindungen konnte kein bürokratischer Prozess das Ausmaß der Folgen ihrer Auflösung vernünftig einschätzen. Parallel zum administrativen Versagen gab es eine unübersehbare politische Sackgasse. Auch wenn das Parlament in Großbritannien darin übereinstimmte, die EU zu verlassen, gab es keine Einigkeit darüber, was das bedeutete, und genauso wenig schien eine solche Einigkeit möglich. War es von essenzieller Bedeutung, die Souveränität des Volkes gemäß dem Prinzip »die Kontrolle zurückgewinnen« wiederherzustellen? Oder war es wichtiger, sich vor unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Schocks dadurch zu schützen, dass man ein Element des Verwaltungsstaats beibehielt, mit all seinen spezifischen regulatorischen Vorschriften? Aber dann müsste die europäische Rechtsprechung weiterhin eine Rolle spielen können. Die Spaltung innerhalb der existierenden Parteien ging tief, so dass der Schritt zum Brexit wie ein neuer revolutionärer Prozess aussah – ein Bruch mit allen Arten von Verbindungen – regulatorisch, administrativ, bürokratisch – zwischen Großbritannien und der EU und zur eigenen Vergangenheit. Auf die Frage, wie sich die Verbindungen der komplexen Probleme nationaler (und subnationaler und lokaler) Gesellschaften mit den damit verflochtenen Problemen anderer Länder lösen lassen, gibt es keine einfache Antwort. Klar ist aber, dass sie nicht grundsätzlich im Nationalstaat selbst liegen und dass selbst relativ große europäische Nationalstaaten in einer Ära globaler Vernetzung machtlos und ohne Stimme sind. Die Suche nach dem Allgemeinwohl mag durchaus neue Finanzierungsmodelle erfordern, die aussehen, als ob sie traditionelle Bedenken zur nationalen Souveränität mit Füßen träten. Der Aufstand gegen eine angeblich undemokratische Union beschleunigt so die Desintegration der Demokratie. Man muss festhalten, dass es 380

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sich um ein weltweites Phänomen handelt. Der Widerstand angeblicher Graswurzel- oder Basisdemokraten gegen Eliten, Experten und den Verwaltungsstaat (alias deep state) ist für die US-Politik genauso charakteristisch wie für Teile Europas. Die Polarisierung bei der Wahl  in den USA war dieselbe Spaltung zwischen Staatsvolk und Marktvolk wie in der EU: Nur  Wahlkreise stimmten für Hillary Clinton,  für Donald Trump, aber diese kleine Zahl der Wahlkreise repräsentierte  Prozent der amerikanischen Wirtschaftskraft. Gibt es eine Chance, Demokratie, Partizipation und die Politik als Eigentum des Volkes zu retten? Am notwendigsten wäre es offensichtlich, die Beziehung zwischen demokratischen Prozessen und der Arbeit des Verwaltungsstaats zu überdenken: Klärung der Verträge, die ausbuchstabieren, wie Verantwortung und Rechenschaftspflicht funktionieren. Diese Rettung der Demokratie ist eine europäische Aufgabe, aber auch eine drängende Aufgabe für die nationale Politik.

 Mark Muro/Sifan Liu: Another Clinton-Trump divide. High-output America vs low-output America, in: Brookings blog, .., https://www.brookings. edu/blog/the-avenue////another-clinton-trump-divide-high-outputamerica-vs-low-output-america/ (..).

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Vom Sinn des Vergeblichen Demokratiekritik und Zivilgesellschaft seit dem Umbruch / C M

Dies sei die »erste Republik von Dauer«, schrieb die Zeit im Mai  anlässlich des . Jahrestags der Verabschiedung des Grundgesetzes. Nach dem Scheitern der Weimarer Republik sei die Demokratie in Deutschland nun in einem »zweiten Anlauf« geglückt – zumindest im westlichen Teilstaat. Doch mit dem Mauerfall rückte die politische Ordnung der »Bonner Republik« am Ende dieses Epochenjahres auf unerwartete Weise ins Zentrum der Zukunftsdebatten einer lange nicht nur entlang ostwestlicher Gräben aufgewühlten und zunehmend gesamtdeutschen Öffentlichkeit. In rasanter Weise verdichtete sich in jenen Monaten ein jahrzehntelang angestauter Gesprächsbedarf über die verfassungsmäßigen Grundlagen der beiden deutschen Staaten, von dem einer im Oktober  mit dem Beitritt zur Bundesrepublik sein Ende fand. Dieser Gesprächsbedarf war vielschichtig: Unter bundesdeutschen Staatsrechtlern, Politikerinnen und Bürgerbewegten ging es um die Frage, inwiefern sich das  als Provisorium verabschiedete Grundgesetz inzwischen als »Integrationsfaktor« und »Konsensbasis der politischen Konkurrenten« bewährt hatte oder ob »« nicht vielmehr eine historische Chance bot, dessen Vorläufigkeitscharakter und etwaige Mängel im Zuge einer gesamtdeutschen Verfassungsgebung zu überwinden. Unter ostdeutschen Bürgerrechtlern wandelte sich das am Runden Tisch begonnene Nachdenken über eine neue DDR-Verfassung zum Engagement für einen »Beitritt« auf Augenhöhe – die Übernahme eines unveränderten Grundgesetzes für ein vereinigtes Deutschland erschien ihnen undenkbar. Was diese Ideen einte, war ihr kometenhafter Auf- und Abstieg im Laufe der elf Monate zwischen der Maueröffnung und dem durch die März-Wahlen ermöglichten Vollzug der Einheit nach Artikel  – just ohne den Versuch, eine gesamtdeutsche Verfassung zu schaffen. Jeglicher damit verbundene Diskussionsbedarf wurde mittels des Einigungsvertrags in die Zukunft verlegt.  Grimm (), S. .

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   

Die Zeitgeschichte hat sich bisher wenig für die in der Demokratisierungsgeschichte Deutschlands nach  einzigartige Verfassungsbewegung des Umbruchs / interessiert, wohl auch deshalb, weil sie – nicht erst in hindsight – als vergeblich betrachtet wird. In Zeitzeugenberichten und existierenden Darstellungen erscheint sie meist als verfassungstheoretischer Eliten- und Randdiskurs, dessen markanteste Forderungen etwa zu Staatszielen oder direktdemokratischen Verfahren schon damals gern als »Kinkerlitzchen« und »politische Verlegenheitsaktionismen« abgetan wurden. Doch der in dieser Debatte nicht nur von Intellektuellen und kritischen Juristinnen, sondern vor allem auch von einzelnen Bürgern, Vereinen und Initiativen mit unterschiedlichsten Wünschen und Erwartungen verfolgte »Traum von einer gerechteren Gesellschaft« (Wolf Biermann) bietet als historiographisches Neuland die Chance, die Geschichte der Demokratisierung der Deutschen nach  aus einer integrierten Perspektive neu zu konturieren. Aus Sicht des jungen . Jahrhunderts und der stark unter Druck geratenen politischen Kultur im gegenwärtigen Deutschland (sowie in den liberalen Demokratien weltweit) erscheint sie als eine zu Unrecht vergessene Etappe der großen »Umkehr«. Sie war nach der zweierlei, von außen angestoßenen re-education im geteilten Nachkriegsdeutschland eine zwar kurzfristig gescheiterte, aber langfristig folgenreiche Episode wahrhaft eigenständiger, demokratischer self-education.

Die Zäsur als zivilgesellschaftlicher Möglichkeitsraum In den Monaten nach dem Mauerfall verfestigten sich zwei anfangs parallel laufende und dann zunehmend konvergierende zivilgesellschaftliche Aufbrüche, deren gemeinsamer Fluchtpunkt die Frage nach den verfassungsmäßigen – das heißt verrechtlichten normativen – Grundlagen einer nicht länger geteilten deutschen Gesellschaft war. Dabei taugt der damals bald zentrale »Zielbegriff« (Reinhart Koselleck) der Zivilgesell Vgl. z. B. Jarausch (); Herbert (); Wolfrum (). Das Thema findet auch in Spezialstudien keine Berücksichtigung, obwohl es als eine »Arena des Übergangs« gelten kann; vgl. Großbölting/Lorke (), S.  ff.; jüngst aus aktuellem Anlass aufgegriffen in Kowalczuk (), S. -.  So Otto Graf Lambsdorff am .. im Neuen Deutschland; siehe auch Isensee (), S. .  Heitmeyer (); Zick/Küpper/Berghan (); Foa/Mounk ().  Jarausch ().

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 

schaft – nicht nur Politik und Bürgerbewegungen, sondern auch »social scientists and historians became enamoured with ›civil society‹ as a result of « – als analytischer Begriff jedoch nur, wenn man ihn nicht statisch, sondern dynamisch konzeptualisiert. Anders als formelhafte Bezüge auf die Ereignisse vom Herbst  als »Wiederherstellung der Zivilgesellschaft« suggerieren, sollte eine zivilgesellschaftliche Perspektive nicht auf die Beschreibung eines gesellschaftlichen Ist- oder Sollzustands abheben, sondern auf die Analyse eines politischen Prozesses. Zivilgesellschaft interessiert mich hier als soziale Praxis und damit nicht als Ergebnis oder Evidenz von Demokratisierung, sondern als Demokratisierungsinstanz. Sie ist ein »spezifische[r] Typus sozialen Handelns«, das auf die Stärkung der gesellschaftlichen Konfliktlösungsfähigkeit von unten gerichtet ist. Ähnlich wie im Fall des Konzepts der »politischen Kultur« kann nur eine präzise Definition derartig voraussetzungsreicher, normativ geladener und alltagssprachlich verwässerter Begriffe helfen, sie für die Historiographie fruchtbar zu machen. Eindrücklich legen das die Überlegungen des Soziologen Jeffrey C. Alexander nahe, der von einem idealistischen Standpunkt aus (»Civil solidarity – that is the real utopia«) fundierte theoretische Impulse für die Zivilgesellschaftsforschung gegeben hat. Er definiert civil society als »a solidary sphere, in which a certain kind of universalizing community comes to be culturally defined and to some degree institutionally enforced. […] Such a civil community can never exist as such; it can only be sustained to one degree or another.«  Maier (), S. . Auch die Befürworter der Grundgesetzreform benutzten den Begriff mit entsprechend visionärer Aufladung, vgl. etwa Preuß (), S. , der unter Verfassung »ein wechselseitiges Versprechen von Bürgern […], die sich dadurch als ›Zivilgesellschaft‹ konstituieren«, verstand. Zur Begriffsgeschichte Kocka (), S. -.  Wolfrum (), S. . Ähnlich Jarausch (), S. , der von »Reaktivierung der Zivilgesellschaft« spricht. Diese Ansätze implizieren, dass Zivilgesellschaft einst existierte, ohne dass diese Vorgeschichte aber näher betrachtet wird.  Kocka (), S.  f.  Vgl. Pollack/Müller (). Auch Adloff fasst das Zivilgesellschaftskonzept viel weiter, so mit Blick auf die NS-Zeit: »Quasi durch Infiltration und Anwerbung kaperten die Nazis eine Vielzahl von Assoziationen und überbrückten die Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Parteipolitik.« Vgl. Adloff (), S. .  Alexander (), S.  f.  Ebd., S. . Ähnlich Kocka (), S. : Zivilgesellschaft sei »niemals identisch mit real existierenden Gesellschaften«, sondern bezeichne einen »Moment bzw. ein Bündel von Strukturelementen real existierender Gesellschaften, die immer auch anderes enthalten: Staat, Markt und Intimität, aber auch Gewalt, Fanatis-

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   

Es spricht vieles dafür, dass die deutsch-deutschen Verfassungsdebatten in der Bürgerbewegung, am Runden Tisch und in den frühen er Jahren einen in diesem Sinne hohen Grad von »Verzivilgesellschaftung« indizieren. Die folgenden Überlegungen sollen zur Historisierung dieses Prozesses einige erste Anregungen geben. Zunächst lag ein knapper und kontrovers ausgetragener Prozess der innerwestdeutschen Selbstverständigung zwischen Helmut Kohls Diktum vom Februar , man werde eine »neue Verfassung zu schaffen haben«, die das »Bewährte« beider Seiten zusammenführe, und der Relegation der Verfassungsfrage in den Artikel  des Einigungsvertrags und damit in die Zeit nach dem Beitritt. CDU/CSU sowie weite Teile der FDP traten im Laufe des Jahres  immer dezidierter dafür ein, das Grundgesetz nicht anzutasten. Einerseits verwies man darauf, dass es sich bewährt habe und in der (bundesdeutschen) Bevölkerung breite Akzeptanz genieße. Andererseits galt ein offener Verfassungsfindungsprozess quer durch alle Lager als in hohem Maße unberechenbar: Von rechts gaben die jüngsten Landtagswahlsiege der SPD und ihr damit steigender bundespolitischer Einfluss Anlass zur »Sorge«; von links wurde bezweifelt, ob ein neuerlicher Verfassungsversuch das »gleiche hohe Bewußtsein und die gleichen einzigartigen Garantien« wie etwa das Asylrecht hervorbringen würde. Für eine solche »regelrechte Neugründung der vergrößerten Bundesrepublik« gab es seinerzeit (und auch seither) keine politische Mehrheit. Ein dritter, weniger offensichtlicher Grund für die Verfestigung dieses ablehnenden Konsenses lag in der vermeintlichen Fixierung der Grundgesetzreformer auf die Einführung plebiszitärer Bürgerbeteiligungsverfahren. Derlei »alte kontroverse Fragen« würden nicht nur den »Prozeß der deutschen Verfassungseinheit« belasten, mutmaßte einer der späteren Vorsitzenden der aus dem Einigungsprozess hervorgegangenen Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK), Rupert Scholz (CDU), im Frühsommer . Auch und gerade um das »Wir sind das Volk !« der Herbstrevolution angereichert, flankierte der Staatsrechtler Josef Isensee, würden derartige Forderungen »leicht zur Formel für antidemokratische Anmaßung und für antiparlamentarischen Affekt«. Viele befürchteten,

   

mus und Chaos. Gesellschaften unterscheiden sich nach dem Maß und der Art, in denen sie Zivilgesellschaften verwirklichen.« Leicht (), S.  f. Herbert (), S. . Vgl. Klages/Paulus (), S. -; Raufer (), S.  ff. Frowein/Götz (), S. , .

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 

dass damit der repräsentativ-parlamentarische Charakter der bundesrepublikanischen Ordnung aus den Angeln gehoben werden sollte. Dabei stellten die Forderungen nach mehr »Volksbeteiligung«, insbesondere jene aus der DDR-Bürgerbewegung (die aufgrund der fehlenden verfassungspolitischen Diskussionsroutine diese Herausforderung noch nicht einmal theoretisch formulierten) überwiegend nicht die repräsentative Demokratie an sich in Frage, sondern waren auf ihre Weiterentwicklung ganz im Sinne deliberativer Demokratiemodelle gerichtet. Dem Urbefund des Neuen Forums vom September  folgend – »In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört« –, diskutierten sie Partizipationsformen, die neben Parlament und Parteien als zentralen Foren politischer Willensbildung zusätzliche Räume zur Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte eröffnen sollten. Es war dann das Ergebnis eines deutsch-deutschen Lernprozesses, wenn die gar nicht so wenigen politisch einflussreichen Veteranen der Bürgerbewegung im Laufe der Verfassungsreformdebatten zunehmend eindringlich versuchten, der reflexhaften Ablehnung partizipativer Reformvorschläge nicht nur mit demokratietheoretischen, sondern auch mit sozialpsychologischen Argumenten zu begegnen. Es gehe nicht um eine »Delegitimierung des parlamentarischen Systems«, versicherte Wolfgang Thierse auf der ersten GVK-Sitzung im Mai , die sich der Plebiszit-Frage widmete. Es gehe vielmehr »um dessen Ergänzung, Bereicherung, Differenzierung, Öffnung, um dessen Sensibilisierung für die konkreten Bürgerinteressen«, und nicht zuletzt korrespondiere die »positive Erfahrung« des demokratischen Aufbruchs in Ostdeutschland, die bewahrt werden müsse, »auf eine überraschende Weise mit einem Schwächezustand der Parteiendemokratie in der alten Bundesrepublik«. Mit anderen Argumenten und auf andere Erfahrungen verweisend, ging es auch den meisten westdeutsch sozialisierten Befürwortern einer intensiveren Bürgerbeteiligung keineswegs um eine gänzlich andere politische Ordnung. Mitnichten sollte »das glückliche Erbe des Grundgesetzes« verspielt, sondern um eine bessere Republik gerungen werden.

 Wolfgang Thierse auf der . GVK-Sitzung, .., in: Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (), S.  f.  Zitat Isensee (), S. . Einige Belege dafür in Klages/Paulus (), S.  ff., .

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»Wir alle«: Bürgerschaftliche Öffentlichkeit in der späten DDR Um dies zu belegen, sei zunächst an die Demokratisierungsvorstellungen der seit dem Sommer  entstehenden Oppositionsgruppen erinnert. Deren Forderungen, die ja überwiegend auf die Reform der DDR und einen neu zu denkenden »demokratischen Sozialismus« ausgerichtet waren, sind hinreichend bekannt. Hier soll vor allem auf den relativ eng umgrenzten gesellschaftlichen Raum (die solidary sphere) hingewiesen werden, in dem diese entstehende, spezifisch ostdeutsche universalizing community nach demokratischer Kommunikation und Reform (nicht Revolution!) strebte. Im Grunde verstand man in der Bürgerbewegung quer durch alle Lager hinweg »das Volk« als politische Großfamilie. Die ersten Aufrufe und Appelle waren an ausnahmslos »alle Menschen in der DDR« adressiert und mit dem Wunsch verbunden, es »Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen« zu ermöglichen, »sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen«, so das Neue Forum. Das »ganze Volk« müsse in eine »gesamtgesellschaftliche Diskussion über die Grundwerte und Ziele eines wirklich demokratischen Sozialismus« einbezogen werden, forderte der Demokratische Aufbruch. »Schreiben Sie uns Ihre Meinung und Ihre Kritik […]. Lassen Sie uns zusammengehen und gemeinsam die Hoffnung wieder aufrichten in unserem Land«, wünschten sich die Gründer von Demokratie Jetzt. Um derlei Forderungen Nachdruck zu verleihen, wandte man sich gelegentlich auch direkt an bestimmte Gruppen innerhalb dieser politischen Großfamilie, das Neue Forum etwa an die »zwei Millionen Mitglieder der SED: Ihr bildet die größte und wichtigste politische Körperschaft in unserem Land«, oder der Demokratische Auf bruch an alle Kinder: »Verzeiht uns, den Erwachsenen, daß wir so lange gewartet und geschwiegen haben. Jetzt wollen wir vieles verändern. Dazu gehört Mut. Diesen Mut braucht Ihr auch in Eurer Klasse, Eurer Kindergruppe.« Auch über konkrete bürgerschaftliche Mitwirkungsformen machte man sich Gedanken. Es müsse möglich werden, dass sich »Bürger in Bürgerkomitees« zusammenfinden, damit eine »viel stärkere basisorientierte Demokratie« entstehen könne, forderte Demokratie Jetzt. Und wenn sich perspektivisch politische Parteien gründen dürften, dann solle es »allen Bürgern« offenstehen, in »zu bildenden Facharbeitskreisen mitzuarbeiten, die die Grundsätze der Partei anerkennen, ohne Mitglied dieser zu werden«, so ein Vorschlag des Demokratischen Auf387

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bruchs. Die neu gegründete Sozialdemokratische Partei wünschte sich überhaupt Bürger, die »selbständig ihre Verantwortung für unsere Wirklichkeit erkennen und bereit sind, sie wahrzunehmen«. Die Dichotomie zwischen (familiärer) Privatheit und (politischer) Öffentlichkeit, die Hannah Arendt einst luzide herausgearbeitet hat, scheint hier auf merkwürdige Weise relativiert. Es entstand in jenen Monaten eine spezifische, freilich ephemere Vorstellung von »öffentlichem Raum«, die man als panfamiliäre Öffentlichkeit bezeichnen könnte. Dieser »Wir alle«-Idealismus und der darin aufgehobene emphatische Volksbegriff, der nicht zuletzt Ausweis für die große gesellschaftliche Reichweite eines zentralen SED-Ideologems (»unsere Menschengemeinschaft«) ist, basierten auf der Vorstellung eines gemeinsamen und gemeinschaftlich überschaubaren Erfahrungsraums. Man findet sie ganz ähnlich in Ego-Dokumenten, beispielsweise Briefkonvoluten aus jener Zeit einer besonderen, noch durch die Mauer umschlossenen, aber sich innergesellschaftlich immer klarer und selbstbewusster formierenden Öffentlichkeit. Wie inklusiv diese Wir-Imagination tatsächlich war, sei dahingestellt; die im Herbst  verhandelte Gemeinschaft von »Freunden, Mitbürgern, Mitbürgerinnen und Mitbetroffenen« bezog sich wohl überwiegend auf die einheimische DDR-Bevölkerung und kaum etwa auf Vertragsarbeiter oder andere dort lebende Ausländer. Entsprechend klar – und dramatisch forciert durch die parallel in Ausreise- und Demonstrationswellen manifest werdende Veränderungsmacht jedes Einzelnen – waren sodann die Forderungen nach der Verankerung von Bürgerbeteiligung in einer zukünftigen Verfassung. Sie fanden ihren geradezu vollkommenen Ausdruck in jenem Entwurf, den die Arbeitsgruppe »Neue Verfassung« des Zentralen Runden Tisches ausarbeitete. Die von Christa Wolf formulierte Präambel sprach anders als jene des Grundgesetzes nicht von der »verfassunggebenden Gewalt« des  Gänzlich zit. nach Rein/Böhme (), S.  f., ,  f., , , , . Freilich muss eine umfassende Analyse weiter zurückgreifen und die Diskurse vor allem der er Jahre in den Blick nehmen.  Arendt (), S. -. Vgl. zu »Öffentlichkeit« in Diktaturen Requate (), S. -.  Vgl. dazu Jessen ().  Gruner (); Krone (). Auch DDR-Erhebungen können – bei kritischer Lektüre – relevant sein, vgl. z. B. Förster (); ferner Fulbrook (), S. .  So die Anrede im ersten Aufruf von »Demokratie Jetzt«, zit. nach Rein/Böhme (), S. . Zu dieser Ambivalenz vgl. Frei/Maubach/Morina/Tändler (), S. -.

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»Deutschen Volkes«, sondern erklärte »bescheidener«, dass sich »die Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik diese Verfassung« gäben. Im Text selbst rangierten im Abschnitt »Gesellschaftliche Gruppen und Verbände« die »Vereinigungen, die sich öffentlichen Aufgaben widmen und dabei auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken (Bürgerbewegungen)« ganz oben, noch vor Parteien und Gewerkschaften. Sie sollten »als Träger freier gesellschaftlicher Gestaltung, Kritik und Kontrolle den besonderen Schutz der Verfassung« genießen (Art. , Abs. ) und bei der Erstattung von Wahlkampfkosten den Parteien gleichgestellt sein (Art. , Abs. ). Zu diesem Komplex gehörte auch das weitgehende Informationsrecht von Bürgerbewegungen (Art. , Abs. ) sowie jedes Bürgers (Art. , Abs. ), ferner – die »Eingabe«-Praxis der DDR fortschreibend – das »Recht, sich einzeln und in Gemeinschaft mit anderen mit Anregung, Kritik und Beschwerde an jede staatliche Stelle zu wenden«, samt »Anspruch auf Gehör und begründeten Bescheid in angemessener Frist« (Art. , Abs. ), sowie der besondere Schutz der Privatsphäre (Art. , Abs. ). Und Artikel  sah ein Volksbegehren vor, das beim Präsidenten als »ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf« eingebracht werden konnte. Das Quorum lag mit   Personen oder sechs Prozent der Stimmberechtigten recht hoch. Hingegen war die Hürde für einen über ein Volksbegehren erwirkten Volksentscheid (Art.  Abs. ) relativ niedrig: Die einfache Mehrheit sollte ausreichen, um ein Gesetz oder gar eine Verfassungsänderung zu beschließen. So wie das Grundgesetz als Antwort auf die Erfahrungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus formuliert worden war, enthielt dieser Entwurf – der ansonsten viele Bestimmungen der Weimarer Verfassung (vor allem zur Sozialstaatlichkeit) und des Grundgesetzes (Staatsorganisation) übernahm – Antworten auf die Erfahrungen mit SED-Herrschaft und Staatssicherheit. Auf den Sinn und die gesellschaftliche Notwendigkeit einer solchen zweiten, verfassungsrechtlich manifesten Antwort ist seither immer wieder verwiesen worden, ohne dass es dafür je eine politische Mehrheit gegeben hat.  Preuß (), S. .  Knapper hingegen Art.  GG: »Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.«  Vgl. Klages/Paulus (), S.  ff.  Vgl. z. B. die Beiträge in Guggenberger/Stein ().

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Repräsentation und Partizipation im deutsch-deutschen Verfassungsdiskurs Der Entwurf des Runden Tisches wurde am . April  von der frei gewählten Volkskammer mit knapper Mehrheit abgelehnt. Weil es trotz des Vereinigungsdrucks anhaltende Forderungen nach einer eigenständigen »Übergangsverfassung« gab, berief Justizminister Kurt Wünsche (LDPD), der in selbiger Funktion schon  an der DDR-Verfassungsreform beteiligt gewesen war, hastig eine ost-westdeutsche Arbeitsgruppe, die auf einer Wochenendklausur den Text von seiner »verfassungspolitischen Wirrnis« befreien sollte. Bernhard Schlink, der damals als Sachverständiger dabei war, berichtet, dass die Bonner Ministerialbeamten jeden Verweis auf die Ideen des Runden Tisches »mit gequälter Geduld, die uneinsichtigen Kindern gilt«, verworfen hätten. Das »heterogene Gebilde«, das am Ende dieses unschönen Wochenendes vorlag, wurde nicht einmal mehr in die Volkskammer eingebracht. Die Arbeit des daraufhin im Frühsommer  gegründeten »Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder« und die ihn begleitenden Debatten dokumentieren dann eine Entwicklung, die sich bereits in den Auseinandersetzungen um diesen »Wünsche-Entwurf« gezeigt hatte: die Entgrenzung der DDR-Gesellschaft samt ihrer spezifischen Öffentlichkeit und die Genese einer weitaus unübersichtlicheren und diversifizierteren gesamtdeutschen Öffentlichkeit. »Mauer, Stacheldraht und Minenfelder sind verschwunden. Andere Mauern aber erweisen sich als beständiger«, so die »Denkschrift« zum  vorgelegten Verfassungsentwurf des Kuratoriums – Mauern sozialer, ökonomischer und zwischenmenschlicher Art. Zudem fehle es dem Grundgesetz ohnehin an demokratischer Legitimation, weil das Volk nie darüber abgestimmt habe. Mit dem Beitritt der DDR habe sich nun die Frage der Verfassungsgebung keineswegs erübrigt. Vielmehr sei sie »dadurch überhaupt erst möglich – und nötig! – geworden«. Im Kuratorium engagierten sich nun neben Bürgerrechtlern, darunter Mitglieder und Sachverständige der Verfassungsarbeitsgruppe des Runden Tisches, Grünen- und SPD-Politikern auch eine Reihe von westdeutschen Initiativen und Einzelpersönlichkeiten, die mit Verweis auf den »Modernisierungsbedarf« des Grundgesetzes einen bunten Strauß an gesellschaftspolitischen Forderungen einbrachten. Dezidiert ostdeutsche Positionen, wie  Schlink (), S.  f.  Kuratorium (), S.  f.

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etwa die der Dresdener Demokratie-Initiative , die mit einer Flugblattaktion im Sommer  daran erinnerte: »Wir sind das Volk! Nicht vergessen!«, verloren innerhalb der verfassungspolitischen solidary sphere, die das Kuratorium vorübergehend zu verstetigen wusste, zunehmend an Bedeutung. Diese Entwicklung liegt auch darin begründet, dass sich der Fokus in Bezug auf Bürgerbeteiligungsformen im Laufe der Monate bis zur Gründung der GVK auf die Frage der »Volksgesetzgebung« verengte; kleinteiligere Formen bürgerschaftlichen Engagements spielten eine immer marginalere Rolle. Schon der erste Kongress des Kuratoriums im September  in Weimar stand zugespitzt unter dem Titel »Verfassung mit Volksentscheid«. Und der  vorgelegte Entwurf enthielt nur eine modifizierte Forderung nach Volksbegehren und -entscheid. Von der »partizipatorischen Lebendigkeit« (Bernhard Schlink) des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches blieb deutlich weniger übrig, als man angesichts der Entstehungsgeschichte dieser Initiative hätte erwarten können. In Denkschrift und Entwurf waren entsprechende Forderungen bündig formuliert: Die »Stärkung der Demokratie und der unmittelbaren Mitwirkungsrechte« über Informations- und Kontrollrechte bis hin zum Volksbegehren sei auch ein »Vermächtnis der Revolution, der Bürgerbewegungen und der Runden Tische in der ehemaligen DDR«. Über »klassische demokratische Mitwirkungsrechte« wie Wahlrecht, Meinungs- und Versammlungsfreiheit hinaus sah der Entwurf ein »Recht auf demokratische Teilhabe« in »Staat und Gesellschaft« (Art. , Abs. ) vor. Damit sei eine »gesonderte Sicherung von Mitwirkungsrechten überall dort« gewährleistet – und hier konvergierten ostdeutsche Diktatur- und westdeutsche Liberalisierungserfahrungen –, wo »der Mensch Ordnungen unterworfen ist, die ihn entmündigen oder seine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit einschränken könnten«. Diese umfassende Wehrhaftmachung des Bürgers gegen den Staat bezog sich auf Unternehmen ebenso wie etwa auf Kinderheime oder Behinderteneinrichtungen und sollte über ein »Recht auf Einwände, Beschwerden, eigene Vorstellungen und […] Mitwirkung« abgesichert werden. Sie verankere damit jene Mitbestimmungsmöglichkeiten, die in den vergangenen Jahrzehnten (West) in vielen gesellschaftlichen Bereichen erkämpft worden waren.

 Zum Teil in den Beständen des RHA überliefert: SW ; HL /-; WU ; WA . Das Dresdener Flugblatt findet sich in WU , Bl. .  Kuratorium (), S. ,  f.

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Von diesen noch deutlich die Ideen der Bürgerbewegung fortschreibenden Vorschlägen sind dann jedoch nur noch die Überlegungen zu plebiszitären Verfahren auf Bundesebene in die Verhandlungen der zwischen  und  tagenden GVK eingebracht worden. Sie wurden dort (stets unter hohem Zeitdruck) kontrovers diskutiert und fanden in der Kommission keine beziehungsweise nur im Fall der Volksinitiative auf Bundesebene eine knappe Mehrheit. Die überlieferten Bürgerbriefe an die GVK vermitteln ein Bild von der zivilgesellschaftlichen Flankierung dieser parlamentarischen »Arena des Übergangs«; sie enthalten vielfältige Beteiligungskonzepte auch jenseits des bundesweiten Volksbegehrens. Am Ende waren die auf plebiszitäre Verfahren reduzierten Ideen zur Bürgerbeteiligung in der Kommission nicht mehrheitsfähig, nicht zuletzt, weil diesen Ideen spezifische Menschenbilder sowie Gesellschafts-, Staats- und Rechtsvorstellungen zugrunde lagen, die einerseits zu mehr als nur flüchtigen Allianzen zwischen west- und ostdeutschen Bürgerbewegungen führten, andererseits aber mit den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft und der sie repräsentierenden Parteien nicht übereinzubringen waren. Gemeint ist damit vor allem ein gesellschaftliches Harmoniebedürfnis, das auf der Annahme einer grundsätzlichen Entwicklungsfähigkeit aller Menschen hin zu mündigen und selbstbestimmten Bürgerinnen und Bürgern beruht. In diesen Überzeugungen trafen sich – etwas plakativ formuliert – westdeutsche »Linke« und ostdeutsche Sozialismus-Reformer, die beide in ihren jeweiligen Teilgesellschaften um / herum politisch gesehen eine Minderheit ausmachten. Die historische Forschung sollte sich eingehender mit diesen Wertvorstellungen befassen und dafür auch die politik- und sozialwissenschaftliche Forschung zur Kenntnis nehmen. So zeigen vergleichende Studien zum Politik- und Selbstverständnis von Kommunalpolitikern, wie stark derartige Prägungen fortwirken und politisches Handeln präfigurieren. Zentral ist dabei die Differenz zwischen der eingeübten Streitkultur der westdeutschen Repräsentativdemokratie und konsensdemokratischen Vorstellungen von »Volksvertretung« in Ostdeutschland, die weit zurückreichen und nicht zuletzt im Umbruch von / eine spezifische  Vgl. GVK (); sowie Schmack-Reschke ().  Zur »Arena« vgl. Großbölting/Lorke (). Von den   Eingaben sind nur ca.  erhalten; unklar ist, nach welchen Kriterien archiviert wurde. Offenbar kamen weniger als zehn Prozent der Briefe aus Ostdeutschland. Vgl. Parlamentsarchiv PA-DBT , GVerfK /-/. Volksgesetzgebungsverfahren wurden jedoch in alle neuen Länderverfassungen aufgenommen.  Hartmann (); Pollach u. a. ().

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Formung erfuhren. So begründete die bereits erwähnte Dresdener Demokratie-Initiative  ihre Vorstellungen von »direkter Demokratie« mit der Notwendigkeit, zwischen Regierung und Bevölkerung einen »ständigen Konsens mit getroffenen Entscheidungen zu garantieren«. Das anhaltende »Fremdeln« etwa von ostdeutschen Bürgermeistern mit konflikt- beziehungsweise konkurrenzdemokratischen Verfahren im Angesicht einer Überfülle von gesellschaftlichen Herausforderungen könnte ein Grund für die starke Polarisierung und Verrohung der politischen Auseinandersetzung dort sein – quasi als paradoxe Spätfolge einer Mischung aus reformsozialistischem »Wir Alle«-Idealismus und zwischenmenschlicher, gleichsam vorpolitischer Konfliktscheu.

Lob der »Vergeblichkeit«, oder: Realisierung von Zivilgesellschaft im Modus der Demokratiekritik Die hier in Umrissen skizzierte Verfassungsbewegung nach dem Ende der Teilung hatte trotz ihres politischen Scheiterns eine hohe gesellschaftliche Reichweite. Sie stellt einen in der deutschen Demokratiegeschichte einmaligen Moment genuin zivilgesellschaftlichen Engagements dar, mit dem einige überaus relevante Fragen verknüpft sind. So dürfte sie stark zu der singulären, aber derzeit völlig unbeachteten Tatsache beigetragen haben, dass Ostdeutsche seit  nur und gerade im »staatspolitischen Sektor«, also den Führungsebenen von Parteien, Legislative und Bundesexekutive, überdurchschnittlich repräsentiert sind. Zugleich hat es für ostdeutsche Demokratiehoffnungen und Gesellschaftsvorstellungen stets zu wenig Raum und Aufmerksamkeit gegeben, was zu zweierlei Verkennung geführt hat: Einerseits verstellt das Paradigma der Transformationskatastrophe den Blick für den gerade ohne Marshallplan und Wirtschaftswunder und trotz wirtschaftlich-sozialer Schlechtwetterlage erreichten Demokratisierungsgrad in Ostdeutschland; andererseits herrscht in Bezug auf die wunden Punkte der Repräsentativdemokratie, die hohe Zahl von Nichtwählern und das Misstrauen gegenüber Parteien eine beunruhigende Ratlosigkeit. Mithin fehlt es heute genau an jener demokratietheoretischen Fantasie, die in der Verfassungsdiskussion zwischen  und  so allgegenwärtig war.  RHA, WU , Bl. -.  Zwischen  und  lag die Quote bei  bis  Prozent (Bevölkerungsanteil ca.  Prozent); vgl. Kollmorgen (), S.  f.

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Konstruktive Demokratiekritik ist eines der wirksamsten Mittel gegen Demokratieverachtung. Der weitere historisch-politische Sinn dieser »vergeblichen« Bewegung liegt darin, dass sich in diesem spezifischen Modus der Demokratiekritik Zivilgesellschaft vorübergehend realisierte und diese damit unstrittig als Demokratisierungsinstanz wirkte. Die von ostdeutschen Bürgerrechtlern und westdeutschen Demokratiereformern getragenen Ideen zu mehr bürgerschaftlicher Teilhabe stellten nicht die repräsentative Demokratie an sich in Frage, sondern zielten auf ihre behutsame (eben deliberative) Ergänzung angesichts veränderter gesellschaftlicher Realitäten ab – und bleiben damit bis heute relevant. Ein solches Resümee ist auch ein Plädoyer dafür, über die meist diskurs- und rechtsgeschichtlichen Darstellungen hinaus stärker an einer politischen Kulturgeschichte von unten zu schreiben, in der jene zivilgesellschaftlichen Momente sichtbar werden, die die »Vereinigungsgesellschaft« mit ihrer demokratisierungsgeschichtlich gesehen doch recht gemischten Bilanz bis heute ebenso stark bereichern wie belasten.

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Verbrechensgeschichte begreifen V K

Zwei Thesen bilden den Ausgangspunkt meiner Ausführungen. Erstens: Das Bedauern des endgültigen Verlustes der Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager ehrt die Republik. Zu lange galten diese Menschen als lästige Zeugen einer Anklage und für eine Erfahrung, von der die wenigsten in Deutschland sich betroffen fühlen wollten. Das hat sich zum Glück seit Ende der er Jahre zunehmend geändert. So wichtig die Begegnung und das Gespräch mit den Überlebenden gewesen sein wird, so wenig lassen sich aber die Herausforderungen einer nachhaltigen, gegenwarts- und zukunftsrelevanten Gedenkstättenarbeit auf diesen Punkt reduzieren. Zweitens: Erinnerung als solche und allein ist nicht der Königsweg für Demokratie- und Menschenrechtserziehung, sondern wäre stattdessen eine Sackgasse für die historisch-politische, ethische Bildung. Das Schwinden der Zeitzeugen wird seit dem Beginn forcierten Ringens um KZ-Gedenkstätten am historischen Ort in der Bundesrepublik beklagt, also seit Beginn der er Jahre. Schon auf der ersten Bundesgedenkstättenkonferenz im Oktober  war davon zu Recht die Rede. Denn nicht nur junge, sondern auch ältere Menschen sind in die Lager verschleppt worden. Für viele Verfolgtengruppen – etwa deutsche politische Häftlinge der ersten Stunde – stehen schon seit vielen Jahren keine Zeugen mehr zur Verfügung. Als man sie hätte fragen können, wurden sie von der Mehrheit der Bevölkerung eher gemieden als gesucht. In Wirklichkeit haben überlebende Zeuginnen und Zeugen den Alltag der gedenkstättenpädagogischen Arbeit in der Bundesrepublik kaum mehr prägen können. Zum einen, weil es sie in der näheren Umgebung der Gedenkstätten nur selten noch gab. Vielmehr mussten sie aus der ganzen Welt eingeladen werden. Zum anderen haben der Ausbau und die staatliche Förderung von Gedenkstätten am Ort der ehemaligen Lager mit Nachdruck erst nach  begonnen, nicht zuletzt deshalb, weil die Bundesrepublik sich dem Druck ausgesetzt sah, mit den großen Na Dieser Text geht auf ein Impulsreferat des Autors zurück, das für ein Kamingespräch im Rahmen der Kultusministerkonferenz am . Juni  in der Gedenkund Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt gehalten wurde.

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tionalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR – Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen – umzugehen. Erst aus Anlass der . Jahrestage der Befreiung  sind Überlebende der Lager in höherer Zahl nach Deutschland eingeladen worden. Seitdem spielten sie eine größere Rolle, aber vor allem begrenzt auf besondere Momente wie etwa Veranstaltungen zu den Befreiungstagen der Lager oder im Rahmen von Veranstaltungen aus Anlass des  in der Bundesrepublik etablierten Gedenktags an die Opfer des Nationalsozialismus. Es führte deshalb in die Irre, sich Gedenkstättenarbeit ausschließlich in der Form eines gleichsam permanenten Gesprächs mit Zeitzeugen vorzustellen. Dass nur Zeitzeugen Geschichte und historische Erfahrung vermitteln können, entspricht letztlich einem vormodernen Geschichtsverständnis und ist nicht zuletzt eine kulturindustrielle, mediale Konstruktion. Wenn ich dies feststelle, dann nicht, weil ich sagen will, es ginge mit den Zeuginnen und Zeugen nichts verloren. Für mich und viele andere bedeutet dieser Abschied den Verlust von Freundinnen und Freunden, von Diskurspartnerinnen und -partnern, die uns klüger gemacht haben. Der Abschied bedeutet auch den Abschied von einer gewichtigen politisch-moralischen Instanz, auch einer Veto-Instanz gegen die Leugnung und Verzerrung von Geschichte. Auch markiert der Abschied symbolisch einen Epochenwechsel, den Eintritt in die Zeit nach der Zeitgenossenschaft, konfrontiert mit der Frage nach angemessenen und unangemessenen Formen der Historisierung. Einen elementaren Umbruch für die pädagogische Arbeit hingegen, schon gar einen Umbruch, der Arbeit und Existenzberechtigung der Gedenkstätten in Frage stellte, markiert der Abschied von den Zeitzeugen hingegen nicht, zumal die audiovisuell aufgezeichneten personalen Zeugnisse und Dokumente ebenso bleiben wie die anderen Quellenbestände. Jedenfalls ist das so lange so, wie es staatlich und gesellschaftlich gewollt ist, und so lange, wie die Mittel dafür – einschließlich der lege artis-Erschließung und -Konservierung – aufgebracht werden. Das hier angedeutete Missverhältnis zwischen dem Topos vom Abschied der Zeitzeugen und der Realität ist selbst ein Symptom. Es zeigt, wie vage die Vorstellungen von zeitgenössischer, fachlich fundierter Gedenkstättenarbeit immer noch sind und wie sehr das historische Erinnern in der Gesellschaft einerseits und geschichtswissenschaftlich wie didaktisch reflektierte Gedenkstättenarbeit andererseits auseinanderklaffen. Nachhaltige, einer best practice verpflichtete Gedenkstättenarbeit erschöpft sich nämlich keineswegs darin und zielt auch nicht darauf, 396

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Menschen a priori dazu zu verpflichten, sich mit den einzelnen Erzählungen von Opfern zu identifizieren, quasi in deren autobiografische Erinnerung einzutreten und diese weiterzutragen, zu – wie es ein weiterer Topos besagt – »Zeugen der Zeugen« zu werden. Nicht nur Jugendliche lehnen solche vordergründigen Identifizierungsgebote als moralisierende Übermächtigung ab. Insofern handelt es sich bei solchen Setzungen um schlechte Pädagogik. Um schlechte Historiographie handelt es sich bei solchen Ansätzen zudem, weil auch noch so viele aneinandergereihte beziehungsweise nebeneinanderstehende personale Erinnerungen keine begreif bare Geschichte (Historie) ergeben. Sie sind in der Regel nicht einmal konsistent, sogar widersprüchlich, auch weil sich Verfolgung veränderte oder sich die Zustände und Funktionen der Lager wandelten. Selbst die personalen Erinnerungen von aus gleichen Gründen Verfolgten sind deshalb mikrozeitlich geprägt. Dass uns die Erinnerungsforschung zudem gelehrt hat, dass auch personale Erinnerungen kein einfaches Abbild von Vergangenheit sind, sondern dass sie sich im Laufe des Lebens, im Lichte neuer Erfahrungen und im Kontext kultureller und sozialer Verhältnisse verändern, sei wenigstens am Rande erwähnt. Kurz: Erfahrungsgeschichtliche Zeugnisse von Überlebenden sind elementare Dokumente und Quellen. Als nichts weniger, aber auch als nichts mehr sollten sie Eingang in Geschichtskultur und pädagogische Arbeit finden. Macht man sich von den hier angedeuteten Missverständnissen frei, lassen sich drei miteinander verschränkte elementare Herausforderungen zukünftiger Gedenkstättenarbeit – aber auch der schulischen und außerschulischen historischen Bildung – besser fassen: Erstens: Spätestens mit der Erfahrungsferne von mehr als siebzig Jahren läuft jede Erinnerungsrhetorik leer. Die Aufforderung, sich zu erinnern, wie sie nach  entstanden ist, richtete sich an Zeitgenossen und Beteiligte und wandte sich konfrontativ gegen das notorische »Davon haben wir nichts gewusst« der Mehrheit der Deutschen. Die Aufforderung hatte gewissermaßen forensischen Charakter. Zeitgenossen aber gibt es nicht mehr. Eine ihnen gegenüber angemessene Praxis auf die Zukunft zu übertragen – und sei es »nur« in Gestalt zur Routine gewordener Sprechweisen – ist nicht nur pädagogisch widersinnig. Zweitens: Der aufklärerische Wahrheits- und Gerechtigkeitsanspruch, der sich vermeintlich natürlich mit Erinnern und Erinnerung verbindet, gründet in Deutschland in der eben angedeuteten, besonderen Entstehungsgeschichte des Erinnerungsimperativs. Diese Geschichte und die damit verbundene Konnotation verdecken aber die aggressiven Nacht397

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seiten des Erinnerns und der Erinnerung, verdecken deren Ambivalenz. Erinnerung kann nicht nur ein Mittel sein, die Geschichte von Verfolgten gegen deren Verwischung oder Verzerrung in überlieferten offiziellen Quellen aus der Hand der Verfolger zu vergegenwärtigen. Erinnerung kann auch ein Mittel der Tradierung und Verstetigung von Unrecht und Gewalt sein, der Legitimierung von illegitimer Herrschaft, der angeblich authentischen Begründung faktisch unhaltbarer Geschichtsbilder. Das gegenwärtige Zerplatzen emphatisch-illusionärer Vorstellungen von Erinnerungskultur angesichts der forcierten Revitalisierung von Erinnerung als Waffe – als Waffe zur Begründung von Ansprüchen etwa auf Überlegenheit, Führung und Raum oder als Waffe zur Begründung von Zugehörigkeit und Ausgrenzung – führt diese nie verschwundenen Nachtseiten des personalen und historischen Erinnerns scharf vor Augen. Dass Erinnerung der Königsweg für die Demokratie- und Menschenrechtserziehung sei, ist wenig mehr als eine normative Behauptung. Drittens: Kaum zu unterschätzende Herausforderungen resultieren auch aus dem Übergang von der kritisch-diskursiven Aufarbeitung der Vergangenheit – als selbstkritischem gesellschaftlichem Auseinandersetzungs- und Lernprozess – hin zu einer »etatistisch-repräsentativen Memorialkultur« (Norbert Frei) mit der Tendenz zur affirmativen Verengung. Mit affirmativer Verengung ist die deutliche Tendenz gemeint, die staatlich-politische, die gesellschaftliche Gegenwart als in jeder Hinsicht von der Vergangenheit abgetrennt und in sich vollendet positiv darzustellen. In dieser Perspektive dominiert der Abstand zur Vergangenheit, die Auffassung von ihrer endgültigen Überwindung. Fortwirkende Virulenz und Nähen geraten dabei aus dem Blick. Geschichtsbewusstsein wird stumpf, insofern sich willentliche Selbstbeunruhigung an historischer Erfahrung, an einer Geschichte, die nicht hätte geschehen dürfen, aber geschehen ist (Hannah Arendt), durch Selbstzufriedenheit ersetzt wird. Willentliche Selbstbeunruhigung an historischer Erfahrung aber ist ein Lebenselixier für Demokratie und demokratische Kultur. Das lehrt nicht zuletzt die Geschichte der DDR. So entstand noch kurz vor deren Ende – ausgelöst von Beobachtungen in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, dass deren Arbeit Jugendliche kaum mehr erreichte – eine nicht zur Veröffentlichung vorgesehene Untersuchung zum Bewusstsein dieser Jugendlichen. Der Tenor war eindeutig: Wenn Geschichte sowieso gesetzmäßig zur Durchsetzung des Kommunismus führe und wenn die DDR eo ipso das andere, bessere Deutschland sei, in dem der Faschismus mit seinen Wurzeln für immer ausgerottet sein 398

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sollte, warum müssten sie sich dann noch mit dieser Zeit beschäftigen und Gedenkstätten besuchen, zumal alles, was dort gesagt würde, bekannt und erwartbare Routine wäre? – So glücklich wir über die deutlichen Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der demokratischen Bundesrepublik sein können: Diese Fehler sollten wir dennoch nicht wiederholen.

Auswege Statt pauschalisierend von Erinnerung oder Erinnerungskultur zu sprechen, ist es angeraten, begrifflich und konzeptuell zumindest drei Dimensionen auseinanderzuhalten. Einmal geht es um die personale Erinnerung, die an eine jeweils konkrete Lebensgeschichte und deren Verarbeitung gebunden ist. Davon zu unterscheiden ist das historische Erinnern in der Gesellschaft, etwa in Gestalt von Denkmalen, Gedenktagen, Straßennamen, Jubiläen oder Gedenkzeremonien. Das historische Erinnern ist – von Fall zu Fall – mehr oder minder durchmachtet, mehr oder minder ausgehandelt, mehr oder minder an methodisch geleitete Vernunft gebunden. Eine dritte Dimension bildet die geschichtsund bildungsdidaktisch begründete Arbeit für ein kritisch-reflexives Geschichtsbewusstsein auf der Basis gesicherten historischen Wissens einerseits und dem historisch-politischen, ethischen Durcharbeiten und Begreifen von Geschichte, ihrer Erfahrung, Deutung und Bedeutung andererseits. Das personale lebensgeschichtliche Erinnern und dessen soziale und kulturelle Formung wie auch das historische Erinnern in der Gesellschaft sind für die Bildung von Geschichtsbewusstsein zwar wichtige Bezugspunkte, Rahmungen und Kontexte – aber sie sind damit nicht identisch. Darüber hinaus gilt es, sich immer wieder bewusst zu machen, dass teleologische Auffassungen und Darstellungen der Geschichte nicht nur sachlich unhaltbar sind, sondern dass sie die historische Neugier lähmen und die Entwicklung von kritisch-reflexivem Geschichtsbewusstsein blockieren – und damit auch demokratische Initiative und gesellschaftliches Engagement. Wie wir morgen leben werden, ist nicht vorgezeichnet, sondern hängt eben doch von unserem heutigen Denken und Handeln, Ausblenden und Unterlassen ab. Lernen an Geschichte, die nicht hätte geschehen dürfen, bedarf deshalb immer des doppelten Blicks: des Blicks für das mental und strukturell Überwundene an dieser Geschichte wie des Blicks für Nach- und 399

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Fortwirkendes – oder anders gesagt: Aufmerksamkeit für Abstand und Nähe zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ein Bewusstsein von der prinzipiellen Ungesichertheit des erreichten Standes der Abständigkeit. Die politischen Regressionen der Gegenwart in völkische »Verheißungen«, Ultranationalismus oder ins Staatsautoritäre sind dafür bedrückendes Zeugnis. Gute Gedenkstättenarbeit hat sich vor dem Hintergrund und in Auseinandersetzung mit dem bisher Skizzierten entwickelt. Abschließend möchte ich wenigstens einige von deren elementaren Merkmalen – auch in praktischer Perspektive – antippen. Zunächst im Rahmen der Neukonzeption der ehemaligen ostdeutschen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen kollegial entwickelt, verstehen sich KZ-Gedenkstätten als Institutionen, die die spezifischen Aufgaben einer Gedenkstätte mit denen eines Geschichtsmuseums mit historisch-politischem, ethischem Bildungsauftrag für die Gegenwart verbinden. Sie machen – etwa durch Überformungen – nicht vergessen, dass sie sich an einem Tat- und Leidensort befinden. Sie nehmen, gerade gegenüber Nachkommen, auch humanitäre Aufgaben wahr. Aber sie sammeln, bewahren und erforschen auch, sie realisieren Ausstellungen, Vortragsreihen und andere Formate öffentlich argumentierender Intervention. Sie kooperieren dazu national und international und mit den unterschiedlichsten kulturellen Einrichtungen und der Zivilgesellschaft. Stichworte für die Bildungsarbeit sind etwa »Gedenken braucht Wissen« oder »Forschendes Lernen« – auch unter Einbezug der Sammlungen, des Archivs oder von Praktiken der zeithistorischen Archäologie. Kognitive und sinnlich-praktische Methoden des Lernens werden dabei miteinander verbunden. Bezügen zur eigenen Gegenwart, zur eigenen Alltags- und Lebenswelt wird nachgegangen. Wissensvermittlung zielt auf elementare Sachkenntnis, nicht auf einen erkenntnisarmen Positivismus des Grauens oder äußerliche Daten. Wissen ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für Begreifen und Urteilen. Was war und was es bedeutet – etwa für unser Verständnis von Recht, Politik, Staat, gesellschaftlicher Verfassung, letztlich für die Ermöglichung fundamentaler Mitmenschlichkeit und deren politisch-gesellschaftlicher Absicherung –, das ist das elementare Thema. Dazu ist die geschichtswissenschaftliche, bildungs- und geschichtsdidaktische Bestimmung dessen notwendig, was elementar an der Geschichte von Staats- und Gesellschaftsverbrechen als historische Erfahrungen – auch kontrafaktisch – begriffen werden kann. Begreifen meint hier, kurz gesagt, die sich als Geschichtsbewusstsein realisierende, reflek400

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tierte Verknüpfung von historischem Wissen mit Gegenwartsrelevanz. Aus der Geschichte lassen sich dabei natürlich nicht unmittelbare Handlungsrezepte für die Gegenwart ableiten, aber es lässt sich doch begreifbar machen, was man besser nicht tut, damit Staat und Gesellschaft ihren humanen Atem, ihre menschenwürdige Verfassung nicht verlieren. »Jedem das Seine« lautete das Motto, das der SS-Lagerkommandant Karl Otto Koch seinerzeit in das Tor des KZ Buchenwald einschmieden ließ. So wurde nicht nur ein ehrwürdiger römischer Rechtsgrundsatz in sein Gegenteil verkehrt, sondern es lässt sich an dieser Verkehrung auch einsichtig machen, welche Folgen völkisch-rassistische Harmonieversprechen zwangsläufig haben. Statt gesellschaftliche Eintracht und Harmonie zu erzeugen, erzeugen sie unablässig Aggressivität – durch Selektion und Ausgrenzung als Grundlagen dieser »Harmonie«, forciert noch durch die vorangegangene Zerstörung der Fundamente ziviler Konfliktaustragung: demokratische Verfassung, Rechtsstaat, Grundrechte, Gewaltenteilung, demokratische Öffentlichkeit. Lager können in dieser Perspektive – und auch das gehört zu guter Gedenkstättenarbeit – nicht als von der Gesellschaft abgetrennt behandelt werden. Es kann nicht allein um die »Welt hinter dem Stacheldraht« gehen. Vielmehr geht es um das Beziehungsgeflecht zwischen draußen und drinnen, um die Kontaktzonen und Verschränkungen, um die Frage nach dem Charakter der Weltanschauung, des Staats, der Gesellschaft, die solche Lager für notwendig, zweckdienlich und legitim hielten, die kalt oder gleichgültig ihren Nutzen aus ihnen zogen. Historisches Lernen in Gedenkstätten ist deshalb – pointiert gesagt – forensisches, detektivisches Lernen. Täter und Opfer werden als solche nicht geboren oder fallen vom Himmel. Eine Ausgangsfrage ist: Wie werden Staatsverbrechen und gesellschaftliche Beteiligung, Zustimmung, Hinnahme fabriziert? Wer? Warum? Wozu? Um welchen Preis? Mit welchen Folgen? Das elementare Ziel der hier umrissenen Praxis ist es, Geschichte und historische Erfahrung zu erschließen für die diskursive Plausibilisierung von Recht und Werten – im Gegensatz zu deren Top-down-Verordnung oder abstrakten Herleitung. Einsicht schafft intensivere Zustimmung und eine höhere Verbindlichkeit als Identifikationsgebote oder scholastisches Durchdeklinieren. Die Menschenrechte beispielsweise lassen sich dann als unter spezifischen (welt-)politischen Umständen rechtlich kodifizierte Form von Verbrechens- und Leiderfahrung lesen. Und warum das Grundgesetz allem voran die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, wird so erst wirklich verständlich. Außerdem hat die Plausibili401

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sierung von Recht, Werten und darauf beruhender politischer Verfassung und Kultur – im Gegensatz etwa zu kultur- oder religionsspezifischen Aspekten – prinzipiell universalistischen Charakter. Das ist nicht zuletzt für die Arbeit am Geschichtsbewusstsein in der (Post-)Migrationsgesellschaft von Bedeutung. Gedenkstätten und insbesondere deren pädagogische Zentren – wie beispielsweise internationale Jugendbegegnungsstätten mit ihren besonderen pädagogischen Infrastrukturen und Möglichkeiten – sind deshalb immer auch Arenen, Foren für den offenen Austausch und die freie Diskussion der angedeuteten Fragen, Orte der Einübung und Entwicklung von Mündigkeit. Sie sind aber auch Orte der bereichernden, mitmenschlichen Überraschung über Grenzen hinaus, etwa wenn der eigene Blick sich weitet, bereichernde Erfahrungen mit bis dahin Unbekannten gemacht werden, Freundschaften entstehen. Gedenkstätten sind nicht nur Lernorte, sie sind – in diesem Sinne – auch Lebensorte. Aber: Diese Form von Gedenkstättenarbeit steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit von Staat und Gesellschaft, die sie sich leisten; ihrer Glaubwürdigkeit, nicht Wasser zu predigen und selbst Wein zu saufen. Kurz: für sich selbst ernst zu nehmen und sich daran zu halten, was in Gestalt des historischen Erinnerns und der Gedenkstätten als »Lehren aus der Geschichte« benannt wird. Dabei geht es nicht um Lippenbekenntnisse, sondern letztendlich um die Bereitschaft, sich selbst immer wieder am negativen Horizont einer Geschichte, die nicht hätte geschehen dürfen, zu prüfen, selbst zu vergewissern und auch zu korrigieren. Angesichts der gegenwärtigen politischen Regressionen steht die eigentliche Bewährungsprobe für historisches Erinnern und Gedenkstättenarbeit noch bevor, beziehungsweise wir befinden uns mitten darin. Die hier umrissene Form von Gedenkstättenarbeit lässt sich – ich möchte das unterstreichen – am besten umsetzen nur in intensivpädagogischen Formaten, in Seminaren und Workshops von drei Tagen und mehr. Für diese Formate braucht es Förderung und müssen die Möglichkeiten geschaffen werden. Die ehemaligen Orte der Verbrechen wirken nicht augenblickskathartisch, und ein Gedenkstättenbesuch kann auch nicht ausgleichen, was in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen nicht geleistet wird. Vielmehr sind solide Vor- und Nachbereitung von Gedenkstättenaufenthalten eminent wichtig, und kluge Kooperation stärkt die Wirkung. Ein Abbau von Geschichtsunterricht schlägt auch auf die Möglichkeiten der Gedenkstätten durch – was natürlich auch umgekehrt gilt. Dass Gedenkstätten – auch in Kooperation mit anderen Bildungsund Kultureinrichtungen – angesichts der zukünftigen Herausforde402

 

rungen und Chancen auch didaktische Laboratorien sein sollten, dass Raum für methodisches Experimentieren ebenso notwendig ist wie die Stärkung von Forschung und Vermittlung und die Stärkung der pädagogischen Möglichkeiten der Gedenkstätten überhaupt, haben wir – das heißt der Stiftungsrat der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, das wissenschaftliche Kuratorium und die Leitung der Stiftung – in einem gemeinsamen Workshop zu Anfang des Jahres  übereinstimmend diskutiert. Diese Übereinstimmung von Bund, Land und Stiftung freut mich und spornt an – gern über Thüringen hinaus.

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»Umwerfende Beweise« Ursula Haverbeck, die Standort- und Kommandanturbefehle von Auschwitz und die »Auschwitz-Lüge« S S Der KZ-Kommandant von Auschwitz war mit seinem Personal oft unzufrieden. Denn immer wieder kam es vor, dass seine SS-Männer ihren Dienst nachlässig versahen, sich ohne Erlaubnis außerhalb des Standorts aufhielten oder Privatpersonen in den Lagerbereich mitnahmen. Sein Ärger schlug sich dann in heftigen Ermahnungen nieder, bisweilen drohte er auch mit Ausgangs- und Urlaubssperre, nicht selten zudem mit Arrest und einer Anklage vor dem SS- und Polizeigericht. Wenn Rudolf Höß seinen Wachleuten Vorhaltungen machte, aber auch, wenn er ihnen Nachrichten überbrachte und einigen von ihnen Belobigungen aussprach, dann tat er das im Wege schriftlicher Mitteilungen. Die Bürokratie in Auschwitz funktionierte gut. Die Anweisungen des Kommandanten, Standort- und Kommandanturbefehle genannt, wurden sämtlichen Dienststellen im stetig wachsenden Lagerkomplex über einen großen Verteiler zugestellt. Hektographierte Blätter waren das, auf Matrizen getippt, ein bis zwei, manchmal auch gleich drei, vier und mehr Seiten lang, alle verfasst im Anordnungsstil. Nicht nur ihre formelhafte Sprache, sondern auch ihr äußeres Erscheinungsbild blieb stetig gleich. Manche Befehle enthielten ein Dutzend und mehr Regelungen, manche dagegen nur eine einzige Anweisung von wenigen Zeilen. Ihr Zweck lag darin, den Dienstbetrieb in Auschwitz zu lenken, das binnen Kurzem zum größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager anwuchs und obendrein eine Drehscheibe des Zwangsarbeitseinsatzes war. Die Standort- und Kommandanturbefehle waren gewissermaßen die »Hausmitteilungen« des Chefs an seine Truppe. Den ersten Befehl erteilte Höß Anfang Juni , etwa einen Monat nachdem das Konzentrationslager Auschwitz (noch als Haftstätte für polnische politische Häftlinge) eingerichtet und er von Heinrich Himmler zum Kommandanten ernannt worden war. Anfangs ergingen die Befehle im wöchentlichen Turnus, eine Zeitlang monatlich, von April  an etwa alle vier oder fünf Tage, nur im Frühjahr  nahezu täglich. Höß’ Nachfolger Arthur Liebehenschel und Richard Baer behielten die Praxis bei; ihre Befehle wurden weiterhin zigfach vervielfältigt und ka404

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men alle paar Tage heraus. Mitte Januar , als Auschwitz sich schon in Auflösung befand, erging der letzte Befehl. Schon am Tag danach rückte die Rote Armee an und befreite das Lager. Was ihren historischen Quellenwert angeht, so geben die Standortund Kommandanturbefehle Einblick in den Alltag der Lager-SS von Auschwitz, über den ansonsten kaum etwas bekannt ist. Sie gehören zu den wenigen erhaltenen Dokumenten der Truppen und zeigen den Betrieb im Lager aus der Perspektive der Wachmannschaften, den Alltag, die täglichen Routinen, überdies die Versuche der Kommandanten, die Abläufe stetig zu verbessern. Und sie lassen Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen dem Lagerchef und seinen Untergebenen zu. Kommandant Höß maßregelte seine Leute oft: für unsoldatisches Auftreten, mangelnde Disziplin, Kleinkriminalität, Alkoholgenuss, Korruption und nicht selten auch für den Haarschnitt, der nicht militärisch kurz genug ausfiel; selbst für diejenigen, die ihre Fahrräder nicht ordnungsgemäß abgestellt hatten, gab es Ärger. Besonders wichtig war ihm auch die Kleiderordnung. Höß regte sich in seinen Befehlen zudem darüber auf, wenn SS-Leute Blüten von den Fliedersträuchern auf dem Lagergelände abgerissen hatten, denn die Natur zu schonen war ihm wichtig. Gern rief er dazu auf, dass doch die SS-Diensträume mit Blumen geschmückt werden sollten. Viel ist in den Dokumenten auch zu erfahren über Dienst- und Urlaubsregelungen, den Sold, die Verteilung von Lebensmittelmarken und den Besuch von Familienangehörigen der SSLeute, was zeigt, wie kleinteilig organisiert und akribisch geregelt das Leben der Wachmannschaften war. Auch von den Häftlingen ist darin die Rede, dann etwa, wenn es um ihre Bekleidung, ihr Schuhwerk und ihre Arbeitszeiten im Zwangseinsatz für die deutsche Kriegswirtschaft geht. Nicht selten kam es vor, dass ein SS-Wachposten einen fliehenden Häftling erschoss. Davon war dann auch in den Befehlen zu lesen, unter der Überschrift »Belobigungen«. Was die Dokumente freilich nicht offenbaren, ist die systematische Mordpraxis im Lager. So enthalten sie keinerlei direkte Anweisung zum Massenmord an den europäischen Juden, dessen Zentrum Auschwitz im Laufe des Jahres , spätestens  wurde, und auch nicht an anderen Opfergruppen. Insgesamt wurden im Lagerkomplex Auschwitz mindestens , Millionen Menschen ermordet, davon fast eine Million Juden aus ganz Europa. Ohnehin unterlag die »Endlösung der Judenfrage« strikter Geheimhaltung. Die Annahme, dass ausgerechnet in den seriell hergestellten und in großer Zahl im Lagerbereich verteilten Standort- und Kommandanturbefehlen der Massenmord zur Sprache kam, ist 405

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daher abwegig. Allenfalls finden sich einige wenige etwas verdeckte, aber heute klar zu deutende Hinweise auf das systematische Töten. So ist beispielsweise zu erfahren, dass es im August  zu einem Arbeitsunfall im Lager kam, als ein SS-Mann sich bei seiner (nicht näher bezeichneten) Tätigkeit eine Blausäurevergiftung zuzog, an der er zwar nicht starb, die aber doch so heftig ausfiel, dass er dienstunfähig wurde. Das Ereignis veranlasste Kommandant Höß zu einem Sonderbefehl, in dem er zur Vorsicht mahnte, denn »das jetzt verwendete Gas« enthalte »weniger beigesetzte Geruchstoffe« und sei »daher besonders gefährlich«. Wer »beim Öffnen der vergasten Räume« keine Maske aufhabe, müsse mindestens fünf Stunden lang einen Abstand von  Meter einhalten, wobei besonders auf die Windrichtung zu achten sei. Das Blausäuregift Zyklon B, der Schluss liegt nahe, wurde in Auschwitz eben nicht mehr nur zur Entlausung von Kleidungsstücken verwendet, sondern auch für andere Zwecke, genauer: für die Tötung von Menschen. Ungewöhnlich deutlich wurde Höß, als er im August  in einem Standortbefehl unter dem Stichwort »Dienstbetrieb« seiner gesamten Truppe für eineinhalb Tage Sonderurlaub gewährte – »als Anerkennung für die in den letzten Tagen von allen SS-Angehörigen geleistete Arbeit anläßlich der Sonderaktion«. Mit »Sonderaktion« war der Mord an Tausenden Juden aus Ostoberschlesien gemeint, die Anfang August  aus den liquidierten Ghettos in Sosnowitz und Bendzin ins Lager deportiert worden waren. Geradezu beiläufig finden in den Befehlen auch die technischen Einrichtungen des Massenmords Erwähnung, wenn es beispielsweise im August  heißt, einige Fahrradständer seien »in den Hof des außer Betrieb gesetzten Krematoriums I« im Stammlager gebracht worden, wo Räder ab sofort abzustellen seien. Dass das Drahthindernis um die Krematorien III und IV in Birkenau mit elektrischem Strom geladen worden war, war aus einem Befehl im Juni  zu erfahren.

 Frei/Grotum/Parcer/Steinbacher/Wagner (Hrsg.) (), S. , Kommandantursonderbefehl ... Die Schreibweise »Geruchstoffe« wurde in der Edition aus dem Dokument übernommen.  Ebd., S. , Standortbefehl /, ...  Vgl. Steinbacher (), S. -.  Wie Anm. , S. , Standortbefehl /, ...  Ebd., S. , Standortbefehl /, ...

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Keine Neuentdeckung Die Standort- und Kommandanturbefehle von Auschwitz waren in der Nachkriegszeit über mehrere Archive im Westen wie im Osten des geteilten Europas verstreut. Ein Teilbestand war von den Sowjets aus dem befreiten Lager mitgenommen und später in Moskau verwahrt worden, ein anderer lag im bald nach Kriegsende entstandenen Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Auch das Institut für Zeitgeschichte München und die Abteilungen des Bundesarchivs verwahrten Teilüberlieferungen. Der Justiz und auch der Zeitgeschichtsforschung wurden die Befehle rasch nach dem Krieg bekannt. Sie spielten bereits  in der polnischen Rechtsprechung eine Rolle, als in Krakau vor dem Obersten Nationalen Tribunal  Angehörige der Lager-SS von Auschwitz vor Gericht gestellt wurden, darunter der ehemalige Kommandant Arthur Liebehenschel. Die polnische Historikerin Danuta Czech zog die Unterlagen heran, als sie  in den Heften von Auschwitz die Dokumentation der Lagergeschichte begann; später fanden sie Eingang in ihr tausendseitiges Kalendarium der Ereignisse in Auschwitz-Birkenau. In Westdeutschland erhielten die Befehle im Frankfurter Auschwitz-Prozess (-) wichtige Bedeutung. Höß’ Adjutant Robert Mulka, der Hauptangeklagte, hatte viele davon in Vertretung seines Chefs unterschrieben. Für die ermittelnden Justizbehörden waren die Standort- und Kommandanturbefehle eine Fundgrube, vor allem wenn es um die Namen von belobigten SS-Mördern ging. In anderen Konzentrationslagern gab es ebenfalls Standort- und Kommandanturbefehle; überliefert sind sie neben Auschwitz nur für das KZ Stutthof. Als in den er Jahren die Archive in Osteuropa für westliche Forscher zugänglich wurden, lag es nahe, nach den Dokumenten aus Auschwitz zu suchen, die verschiedenen Teilüberlieferungen zusammenzuführen und in einer möglichst vollständigen Edition herauszubringen. Nicht um die Neuentdeckung von Quellen ging es dabei, sondern darum, die längst bekannten Dokumente in übersichtlicher Form Wissenschaft und Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Maßgeblich initiiert und vorangetrieben hat das Projekt Norbert Frei. Auf mehr als  Druckseiten erschien die Edition der Standort- und Kommandanturbefehle von Auschwitz schließlich im Sommer  in der vom Institut für Zeitgeschichte publizierten Reihe »Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz« im Münchner Verlag K. G. Saur. Ein Reprint kam   Vgl. Czech ().

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bei De Gruyter in Berlin heraus, der den K. G. Saur Verlag übernommen hatte, und auch ein E-Book entstand. Nach der Erstveröffentlichung des Buches vergingen etwa eineinhalb Jahrzehnte, bis Holocaustleugner darauf aufmerksam wurden. Seither vergreifen sie sich buchstäblich daran. Ihnen dient es, man glaubt es kaum, als ultimativer »Beweis« dafür, dass Auschwitz ein Arbeits- und kein Vernichtungslager gewesen sei. Nun ist die »Auschwitz-Lüge« alles andere als neu. Sie hat in der Bundesrepublik vielmehr eine lange Geschichte. Schon seit Ende der er Jahre leugnen rechtsradikale Apologeten den Massenmord an den Juden und an anderen Opfergruppen. In Netzwerken organisiert, treten sie unter der Selbstbezeichnung »Revisionisten« international auf. Bücher, Zeitschriften, »Institute« und in besonderem Maße das Internet dienen der Verbreitung ihrer Propaganda weit über die organisierten Zirkel hinaus. Ausgangspunkt und Kern ihrer mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhobenen und in Zitierkartellen weitergegebenen geschichtsfälschenden Thesen sind aggressiver Nationalismus und rassistischer Antisemitismus. Überlebende Zeugen werden diskreditiert, die Geschehnisse bagatellisiert und Dokumente verzerrend interpretiert, andere kurzerhand erfunden. Ziel ist es, Zweifel zu säen und durch wilde Mutmaßungen Widersprüche zu produzieren, um Forschungserkenntnisse über die Verfolgung und Ermordung der Juden zu entstellen und zu entkräften. Im Mittelpunkt revisionistischer Leugnungen steht, stellvertretend für alle Massenverbrechen des Dritten Reiches, das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Die Aktivitäten der Revisionisten zielen im Kern auf die Destabilisierung der Bundesrepublik, namentlich der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie. Sie zählen seit Anbeginn zu den Gefährdungen der Demokratisierung der Deutschen. Bis heute ist an die Leugnung des Holocaust die Deutung geknüpft, die Demokratie sei ein Oktroi der Alliierten und der Massenmord an den Juden eine damit verbundene Erfindung »jüdisch gesteuerter« Politik, deren Ziel es sei, die Bundesrepublik politisch wie finanziell »erpressbar« zu machen. Geschichtsdeutungen sind für die Sicherung sogenannter kollektiver Identität von herausragender Bedeutung. Sie werden von den Revisionisten emotional aufgeladen und strategisch eingesetzt, um ihren Forderungen nach Deutungshoheit Nachdruck zu verleihen. Verkündet wird, dass »Umerziehung« und »Schuldkult« in Deutschland ein Ende nehmen müssten. Zum Gerede vom »Schlussstrich« kommt das Geschrei nach einer natio Vgl. Steinbacher (), S.  ff.; Bastian (), S. -.

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nalstolzen deutschen »Leitkultur« hinzu. Die Parolen sind alt und haben sich über die Jahrzehnte kaum verändert. Seit ein paar Jahren jedoch finden sie Anklang und Widerhall, nicht nur bei der äußerten Rechten, sondern zunehmend auch in der Mitte der Gesellschaft. Das ist neu und bedenklich. Im Folgenden wird danach gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass die Edition der Standort- und Kommandanturbefehle von Auschwitz den Holocaustleugnern als Beleg ihrer Verdrehungen und Unwahrheiten dient.

Trophäe der Holocaustleugner Bereits die Verfasser der frühen, / erschienenen publizistischen Machwerke des »Revisionismus«, namentlich Maurice Bardèche, Paul Rassinier, Robert Faurisson und Austin J. App, bestritten die Existenz von Gaskammern in Auschwitz und folgerten, die hohe Zahl der Toten dort sei nicht auf systematische Vernichtung, sondern auf Unterernährung und Krankheiten zurückzuführen. Überhaupt ist die Frage nach der Opferzahl ein zentrales Thema der Geschichtsfälscher. Die Liste ihrer Publikationen ist lang und reicht vom  erschienenen Hexen-EinmalEins einer Lüge von Emil Aretz über Die Auschwitzlüge. Ein Erlebnisbericht von Thies Christophersen () zu Wilhelm Stäglichs Der AuschwitzMythos – Legende oder Wirklichkeit (), um nur einige zu nennen, die in Westdeutschland Verbreitung fanden. Die Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen war hier bis  durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, wird seither jedoch als Straftatbestand geahndet, zunächst als Beleidigung, seit  als Volksverhetzung. Um die »Auschwitz-Lüge« gleichsam naturwissenschaftlich-technisch zu untermauern, veröffentlichte Fred R. Leuchter, ein amerikanischer Konstrukteur von Hinrichtungsanlagen, vornehmlich Gaskammern,  einen Bericht, wonach Gesteinsproben aus den Ruinen der »Krematorien« genannten Vergasungsanlagen in Auschwitz-Birkenau, die er während einer dreitägigen Exkursion – unbefugt – entnommen hatte, keine Rückstände von Blausäure aufwiesen. Beauftragt und bezahlt hatte ihn  Zur Entwicklung von Nationalismus und Rechtsradikalismus in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg vgl. Frei/Maubach/Morina/Tändler (); zur Geschichte rechtspopulistischer Topoi in Deutschland vgl. Weiß (); zu rechten Organisationen vgl. Botsch (); zur jüngsten Entwicklung vgl. Heitmeyer ().  Vgl. (auch zum Folgenden) Steinbacher (), S.  ff.; Bastian (), S. -.

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Ernst Zündel, ein Deutscher, der sich in Toronto jahrzehntelang durch den Vertrieb rassistischer Schriften ein erkleckliches Zubrot verdiente. Der Leuchter-Report gilt in revisionistischen Kreisen bis heute als »Beweis« für die Nicht-Existenz der Gaskammern in Auschwitz. Der neonazistische Publizist und Verleger Udo Walendy besorgte seine Übersetzung ins Deutsche, das Vorwort verfasste Robert Faurisson. Germar Rudolf bestätigte im »Rudolf-Gutachten« Leuchters Befunde. Der britische Publizist David Irving, der in diversen Prozessen als gerichtlicher Sachverständiger für Ernst Zündel agiert hatte (der  nach Deutschland abgeschoben wurde und dort  verstarb), verfasste das Vorwort der englischen Ausgabe des Leuchter-Reports und avancierte damit zum intellektuellen Aushängeschild der internationalen Holocaustleugner. Irving lebt heute in Florida und bestreitet nach wie vor, dass die Massenvernichtung stattgefunden habe. Zur Masche der Holocaustleugner gehört es, dass sie authentische Quellen für gefälscht erklären. Im Fall der Standort- und Kommandanturbefehle von Auschwitz ist das hingegen anders. Die Dokumente sind geradezu eine Trophäe in den Händen derer, die die »Auschwitz-Lüge« verbreiten. Zwar ziehen sie deren Echtheit nicht in Zweifel, lesen aber freilich nur das heraus, was in das geschichtsrevisionistische Denkmuster passt. Die Entdeckung der Befehle für die rechte Szene geht auf Ursula Haverbeck zurück, die seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik im Dienst der »Auschwitz-Lüge« tätig ist und bei einschlägigen Veranstaltungen als Stargast, ja als Ikone gefeiert wird. Haverbeck ist sozusagen Deutschlands führende Holocaustleugnerin. Die heute -Jährige nahm die Existenz der Edition zwar spät, dafür aber umso begeisterter wahr. Im Frühjahr  äußerte sie sich vor laufender Kamera im Norddeutschen Rundfunk (NDR) dazu und wird seither nicht müde, in der Öffentlichkeit zu verbreiten, die Dokumente bewiesen, dass es in Auschwitz keine Massenvernichtung gegeben habe. Das Buch – im Fernsehmagazin Panorama des NDR wird es im Beitrag Wohltäter Hitler: Besuch bei Auschwitz-Leugnern eingeblendet – habe ihr erhellende Antworten darauf gegeben, was eigentlich der Holocaust und was eigentlich Auschwitz sei: ein Arbeitslager eben, und – so der Moderator, der ihre Deutung (durchaus verwundert) ausspricht – »wo gearbeitet wurde, wurde nicht getötet«. Von Gaskammern sei in den Befehlen nicht die Rede, »und deshalb kann es sie auch nicht gegeben haben«.  Panorama, NDR, .., »Wohltäter Hitler: Besuch bei Auschwitz-Leugnern«, www.youtube.com/watch?v=FfcoxBFpwQU (..).

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Als die NDR-Reporter Frau Haverbeck in ihrem Haus in Vlotho besuchen, um mehr über ihre Erkenntnisse aus den Standort- und Kommandanturbefehlen zu erfahren, sitzt sie auf dem Sofa, das Buch auf ihrem Schoß, und erklärt im Plauderton, wie »umwerfend« sie die Dokumente finde. Denn die Befehle lieferten »den letzten, noch vielleicht ausstehenden Beweis dafür, dass Auschwitz kein Vernichtungslager, sondern ein Arbeitslager war, in dem alle Kräfte, die dort waren, eigentlich unentbehrlich für die Rüstungsindustrie waren«. Kam das Gespräch dann auf Vergasungen in Auschwitz, berief sie sich auf Faurisson, Leuchter und Rudolf, die allesamt »Nachweise« geführt hätten, dass es dort keine Gaskammern gegeben habe. Mehrmals liest sie aus den Befehlen vor und kommt zu dem Schluss, wie gut es die Häftlinge in Auschwitz doch gehabt hätten. Norbert Frei, vom NDR für die Sendung befragt und über Haverbecks Interviewaussagen in Kenntnis gesetzt, rückte die Dinge zurecht. Natürlich seien die Befehle kein Beweis für die Nichtexistenz des Holocaust. Über die Behauptung könne man nur den Kopf schütteln. Anders als in den Dokumenten angedeutet wurde nie ein Häftling, wenn er fleißig gearbeitet hatte, aus Auschwitz entlassen. Und wenn es in einer von Haverbeck gern angeführten Anordnung vom Februar  heißt, die SS-Leute hätten Häftlinge pfleglich zu behandeln, dann sei das eben kein Verweis darauf, wie gut es die Insassen von Auschwitz hatten, sondern vielmehr darauf, dass für die deutsche Rüstungsindustrie zu diesem Zeitpunkt jeder nur irgendwie arbeitsfähige Häftling zählte. In der Sendung mutmaßt die alte Dame, die Herausgeber hätten die Edition wegen der Brisanz ihres Inhalts unter der Decke gehalten. Wären sie mutig, allen voran Professor Frei, dann würden sie öffentlich bekennen, mit den Befehlen den wissenschaftlichen Nachweis dafür veröffentlicht zu haben, dass in Auschwitz keine Massenvernichtung stattgefunden habe.

 Das vom NDR für die Sendung Panorama im März  gedrehte Interview ist in der vollen Länge von fast  Minuten im Internet abzurufen: www.daserste.ndr. de/panorama/aktuell/Plattform-fuer-Holocaust-Leugner,holocaustleugner. html (..); ferner www.youtube.com/watch?v=VglmcZSslU (..).  Wie Anm. ; zum gesamten Interview mit Norbert Frei vgl. www.daserste. ndr.de/panorama/archiv//Da-kann-man-eigentlich-nur-Kopf-schuet teln,frei.html (..).

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Ein Ehepaar in Vlotho Viel ist über den Werdegang der  in Nordhessen geborenen Ursula Wetzel nicht bekannt. Weil sie das Kriegsende wohl in Ostpreußen erlebte, wurde sie, wie sie stets betont, zur »Heimatvertriebenen«. Sie ging nach dem Krieg zum Studium nach Schweden, später nach Schottland. Zurück in Deutschland, lernte sie Werner Georg Haverbeck kennen, mit dem sie die Begeisterung für den Nationalsozialismus teilte und dessen Lebensgefährtin sie  wurde. Haverbeck, Jahrgang , hatte sich schon als Schüler in Bonn den Nationalsozialisten angeschlossen und deren Jugendbund angehört, aus dem später die Hitlerjugend hervorging. Ende der er Jahre wurde er Mitglied der NSDAP und der SA, und im Nationalsozialistischen Studentenbund stieg er in die Führungsriege auf. Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter, holte Haverbeck  in die Reichsleitung der NSDAP, wo er in unterschiedlichen Funktionen für die Volkstumsarbeit zuständig war. Von Himmler erhielt Haverbeck ein Stipendium, mit dem er in Heidelberg in Geschichte, Volkskunde und Staatswissenschaften promovieren konnte, kurz darauf folgte die Habilitation, zuvor schon die Aufnahme in die SS. Im Krieg war er für das Auswärtige Amt tätig, wurde Rundfunkattaché in Kopenhagen, später in Buenos Aires, Berlin und Preßburg, jeweils zuständig für die deutsche Rundfunkpropaganda. Bald nach Kriegsende trat Haverbeck der Anthroposophischen Gesellschaft bei, ließ sich zum Priester weihen und war in diesem Beruf bis Ende der er Jahre bei der Christengemeinschaft in Marburg tätig. Danach wurde er Publizist und schließlich Dozent in der Erwachsenenbildung, denn  gründete er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ursula das »Collegium Humanum«. Die Einrichtung nannte sich »Institut für angewandte Menschenkunde und Betriebspädagogik«, ab  dann »Akademie für Umwelt und Lebensschutz«. Nicht lange, und ein bunt gemischtes Publikum pilgerte nach Vlotho nordöstlich von Bielefeld, wo das Collegium Humanum residierte, registriert als eingetragener und gemeinnützig anerkannter Verein. Tagungen und Seminare, Fortbildungen und Umschulungen wurden an der »Heimvolkshochschule« ausgerichtet. Anthroposophen, Naturmystiker und Esoterikfreunde zählten zu den Teilnehmern, aber auch friedensbewegte Linke, Atomkraftgegner, junge Leute aus der Ökologiebewegung, Gewerkschafter und Anhänger rechter Gruppen. Die Namen bekannter Personen aus Politik und Kultur sind darunter, so  Vgl. Mende (), S. .

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etwa der Künstler Joseph Beuys, der anthroposophischen Lehren und deren völkischen Ausläufern zugetan war und gern von der »Auferstehungskraft« des deutschen Volkes redete. Petra Kelly, Vertreterin der neuen Frauenbewegung, sprach in Vlotho über »Frauen und Umweltschutz«. Rudi Dutschke suchte die Haverbecks auf, die seit  ein Ehepaar waren, um mit ihnen die Gründung einer Umweltschutz-Partei zu erörtern. Das Collegium Humanum, mit  Betten und Platz für  Gäste ausgestattet, erlangte in den er Jahren überregionale Bedeutung und avancierte zu einem Zentrum der braun-grünen Szene. Das gelang auch deshalb, weil Werner Georg Haverbeck es verstand, das Collegium mit dem »Weltbund zum Schutze des Lebens« zu verbinden, dessen Präsident in Westdeutschland er  wurde und den er eine Zeitlang auch international anführte. Die Organisation verbreitete unverhohlen ein völkisch-biologistisches Menschen- und Weltbild, und in ihren Reihen tummelten sich reichlich Alt- und Neonazis, darunter ein ehemaliger Arzt der »Euthanasie«-Anstalt Grafeneck. Haverbeck machte auch als Wissenschaftler Karriere. Seit Ende der er Jahre lehrte er an der Fachhochschule Bielefeld, wo er  zum Professor für angewandte Sozialforschung berufen wurde, ein Amt, das er bis zu seiner Pensionierung sechs Jahre später behielt. Weil er gute Kontakte auch zur SPD unterhielt, war er gemeinsam mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann  an der Gründung des Deutschen Rats für Umwelt- und Lebensschutz beteiligt. Egon Bahr, Mitte der er Jahre Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, unterstützte er als Berater in Umweltfragen. In Brokdorf trat Haverbeck bei Demonstrationen gegen Atomkraftwerke als Redner auf. Schon früh war der Weltbund zum Schutze des Lebens mit dem Collegium Humanum als seiner Zentrale ein maßgeblicher Träger der Anti-Atombewegung. Gemeinsam gaben die Institutionen die Zeitschrift Lebensschutz-Informationen LSI – Stimme des Gewissens heraus. Zeitweise war das Collegium Humanum

 Vgl. Riegel (), S.  f., - und passim, Zitat S. .  Vgl. Mende (), S. -.  Vgl. Norbert Frei: Holocaustleugnen ist keine Meinung, sondern straf bares Unrecht, in: Süddeutsche Zeitung, ..; vgl. Geden (), S.  f., -; Röpke/Speit (), S.  ff.; Röpke/Speit (), S. .  Zum Weltbund zum Schutze des Lebens vgl. Geden (), S.  ff.  Vgl. ebd., S.  f.

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auch als Einrichtung anerkannt, an der Wehrdienstverweigerer ihren Zivildienst leisten konnten. Unter den Begriffen »Natur«, »Umwelt« und »Lebensschutz« taten sich in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang rechte und rechtsradikale Gruppen zusammen. Das Collegium Humanum war Teil dieses völkisch-nationalistisch aufgeladenen »Lebensschutzes« – und das Ehepaar Haverbeck eine wichtige Anlaufstelle dafür. Das Leben an sich, nicht allein die Umwelt galt demnach als bedroht. Gemeint war freilich gesundes Leben, genauer: die »Volksgesundheit«. Dass die Haverbecks sich gegen Atomkraft einsetzten, lag an der Gefahr, die von den Strahlungen ausging – für die Erbgesundheit der Deutschen. Der Ethnopluralismus, für dessen Verbreitung das Ehepaar sorgte, folgte der Grundidee, dass jede Ethnie ihren angestammten Lebensraum habe, mit einer besonderen Ausprägung von Identität und Kultur, Tradition und Werten, die es zu bewahren gelte. Umweltschutz, verstanden als Lebens- und Völkerschutz, strebte mithin nach der Bewahrung »nationaler Identität«. Ausländer waren daher nicht zuletzt ein ökologisches Problem. Im Jahr  unterzeichnete Werner Georg Haverbeck das »Heidelberger Manifest«, das vor der »Unterwanderung des deutschen Volkes« sowie vor der »Überfremdung« der deutschen Sprache, der Kultur und des »Volkstums« warnte. Initiiert und getragen wurde die Erklärung von gut einem Dutzend weiterer westdeutscher Professoren; nach öffentlicher Kritik musste der Text abgewandelt werden, fiel im Jahr darauf aber nicht weniger rassistisch aus. Haverbeck unterschrieb ihn einmal mehr. Seine Überzeugungen trug der für Umwelt-, Lebens- und Völkerschutz aktive Professor auch in die / gegründete Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die er als wissenschaftlicher Berater unterstützte und der er (ebenso wie seine Frau) auch beitrat. Das Collegium Humanum zog in den er Jahren weiterhin ein buntes Spektrum von Gesinnungsfreunden an. Die Einrichtung entwickelte sich nun von einem Sammelplatz (rechts-)ökologischer Kreise zur Plattform von Rechtsradikalen unterschiedlicher Couleur. Die Nationaldemokratische Partei Deutsch   

Vgl. Mentel (a), S. . Vgl. Geden (), S. . Vgl. ebd., S.  ff.,  f. »Gastarbeiter als ökologisches Problem« lautet der Titel eines Memorandums, das  in der Zeitschrift Lebensschutz-Informationen erschien; vgl. ebd., S. .  Vgl. Burgkart ().  Zur Gründung der ÖDP vgl. Geden (), S. . Die Haverbecks wurden  auf Betreiben mehrerer Landesverbände aus der Partei ausgeschlossen.

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lands (NPD) erarbeitete hier  ihr »Ökologisches Manifest«, in dem sie sich »gegen den Bau von Atomkraftwerken und für Volksgesundheit« aussprach. Die Truppe um den Neonazi-Anführer Michael Kühnen tagte  in den Räumen, um Vorbereitungen zur Feier von Hitlers . Geburtstag zu treffen. Im Jahr darauf wurde der einstige Präsident des SS-Ahnenerbes Hermann Wirth mit einem Symposium im Collegium Humanum geehrt. Die Wiking-Jugend, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei und andere radikale Rechte wie die Freien Kameradschaften hielten hier ihre Treffen ab. Eingebettet waren Veranstaltungen wie diese in ein breitgefasstes Programm aus anthroposophischen, neuheidnischen, überhaupt esoterischen Themen, die die »Bildungsstätte« in Vlotho anbot, darunter auch Lehrgänge zu homöopathischen Heilmethoden und zur Umstellung auf ökologischen Landbau. Ursula Haverbeck mischte stets mit, vor allem auch publizistisch, trat öffentlich aber noch eher selten auf. Ihrem Mann folgte sie  als Präsidentin der bundesdeutschen Sektion des »Weltbundes« nach. Im öffentlichen Gespräch über den Umweltschutz wollte sie die »guten Seiten des Nationalsozialismus« gewürdigt wissen. Besonders setzte sie sich auch gegen »Kulturentfremdung« und »Asylflut« ein. Eines war evident: Es gelang den Haverbecks nachhaltig, die schon vom Dritten Reich gepflegte Verbindung von Ökologie und Nationalsozialismus neu zu beleben, theoretisch zu fundieren und durch ihre Aktivitäten im Collegium Humanum auch zu popularisieren.

Zentrum der Revisionisten Ursula Haverbeck trat stärker in die Öffentlichkeit, nachdem ihr Mann  kurz vor seinem . Geburtstag gestorben war. Rechte Ökologie und Friedensbewegung gerieten nun etwas in den Hintergrund, in den Mittelpunkt ihres Interesses rückte die offen neonazistische und geschichtsrevisionistische Betätigung. Besonders aktiv war sie in dem  von ihr mitgegründeten Verein, der diejenigen unterstützte, die wegen Verbreitung der »Auschwitz-Lüge« strafrechtlich verfolgt wurden. Die Mitgliedsliste des Vereins, der unter dem Wortungetüm »Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten« daher Ausführlich vgl. Geden (), S.  ff.  Vgl. ebd., S. , .  Vgl. Röpke/Speit (), S. .

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kam, liest sich wie ein Who’s who der Geschichtsrevisionisten. Von  stammt auch ein Foto, das Ursula Haverbeck auf der Wartburg zeigt, wie sie gemeinsam mit rechten Gesinnungsfreunden ein großes Plakat hochhält mit der Aufschrift »Den Holocaust gab es nicht«. Den »Weltbund« und dessen Zeitschrift Lebensschutz-Informationen LSI – Stimme des Gewissens überführte sie  in das Collegium Humanum. Die »Bildungsstätte« in Vlotho stand ab  unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, ebenso wie ihre Teilorganisation »Bauernhilfe e. V.« und der Verein, der die Holocaustleugner schützte. Alle Institutionen waren eng miteinander verflochten, und Ursula Haverbeck saß in sämtlichen Führungsgremien. Bis  verlief für sie alles ungestört, und so lange erhielten die Organisationen, alle als gemeinnützig anerkannt, auch steuerliche Förderung. Dann endlich wurden sie vom Bundesinnenministerium verboten. Dass das Collegium Humanum schließen musste und Immobilien sowie das weitere Vereinsvermögen (auch das seiner angeschlossenen Einrichtungen) beschlagnahmt wurden, hielt Ursula Haverbeck allerdings nicht davon ab, weiterhin die »AuschwitzLüge« zu verbreiten. Im Jahr  musste sie sich zum ersten Mal vor Gericht verantworten. Weitere Verfahren folgten, in denen sie stets mit Geld- und Bewährungsstrafen davonkam oder Revision einlegte, so dass Urteile vorerst nicht rechtskräftig wurden. In dieser Zeit avancierte sie zur Galionsfigur der Holocaustleugner. Rasch hatte sie ihre eigene (inzwischen von Deutschland aus nicht mehr zugängliche) Homepage, auf der sie verkündete, dass »der Holocaust die größte und nachhaltigste Lüge in der Geschichte ist«. Das Hetzblatt Stimme des Gewissens erschien mit gleichem Inhalt weiterhin, jetzt unter dem Titel Stimme des Reiches. Ursula Haverbeck marschierte bei Neonaziaufmärschen mit, trat als Rednerin

 Vgl. Röpke/Speit (), S.  f.; Mentel (b); Philip Austen: Ursula Haverbeck. Die Macherin des Collegium Humanum – ein Portrait, in: Der rechte Rand. Magazin von und für Antifaschisten, Nr. , März/April , S. . ARD Mittagsmagazin, .., darin Foto von der Gruppe mit dem Plakat.  www.youtube.com/watch?v=MZpMWpERk (..).  Vgl. Mentel (a).  Gezeigt in: Panorama, NDR, .., Wohltäter Hitler: Besuch bei AuschwitzLeugnern. www.youtube.com/watch?v=FfcoxBFpwQU (..).  Vgl. Röpke/Speit (), S.  ff.

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auf und war als Angehörige der »Erlebnisgeneration« eine gefragte Referentin für »Zeitzeugenvorträge«. Auf Provokation legt sie es an, und die Gerichtsprozesse dienen ihr als Forum für ihre Botschaften. Das Amtsgericht Hamburg verurteilte sie wegen ihrer Aussagen in der Sendung Panorama im November  zu einer Haftstrafe ohne Bewährung. Im Jahr darauf erging zunächst vom Amtsgericht Bad Oeynhausen und dann vom Amtsgericht Verden ebenfalls ein Urteil auf Haft ohne Bewährung. Wiederum ein Jahr später sprach das Amtsgericht Detmold eine Haftstrafe gegen sie aus, die das dortige Landgericht im Berufungsverfahren bestätigte, ebenfalls  verurteilte sie auch das Amtsgericht Berlin-Tiergarten zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Weil sie nach dem Urteil in Verden, das auf zwei Jahre Gefängnis lautete, zum Haftantritt nicht erschien, holte die Polizei sie im Mai  aus ihrem Haus in Vlotho ab und brachte sie in die Justizvollzugsanstalt. Die Verfassungsbeschwerde, die Haverbeck danach einlegte, wies das Bundesverfassungsgericht ab und befand, sie sitze zu Recht in Haft, denn von ihren Aktivitäten gehe eine Gefährdung des öffentlichen Friedens aus. Seit Haverbeck in Bielefeld im Gefängnis sitzt, hat die rechte Szene schon mehrmals Solidaritätsdemonstrationen für sie organisiert und ihre Freilassung gefordert. Haverbecks . Geburtstag im November  war Anlass, sie bei einer Kundgebung als Heldin und Märtyrerin zu feiern, die wegen eines »Meinungsdelikts« in »Gesinnungshaft« genommen worden sei. Die neonazistische Partei »Die Rechte« kürte sie bei der Europawahl  zu ihrer Spitzenkandidatin. In der rechtsextremen Online-Enzyklopädie Metapedia firmiert Haverbeck als »Bürgerrechtlerin« und »BRD-Dissidentin«. Björn Höcke, in Thüringen Fraktionsvorsitzender der Alternative für Deutschland (AfD) und Kopf des  Vgl. Bastian Brandau: Wenn die rechte Szene zu Zeitzeugenvorträgen lädt, in: Deutschlandfunk, ... www.deutschlandfunk.de/sachsen-wenn-die-rechteszene-zu-zeitzeugenvortraegen-laedt..de.html ?dram :article_id= (..).  »Geburtstag im Knast«, in: Jungle World, ...  Vgl. Röpke/Speit (), S. .  Metapedia ist eine seit  bestehende rechtsextreme Online-Enzyklopädie, die in der gleichen Aufmachung wie Wikipedia daherkommt. Verbreitet werden darin geschichtsrevisionistische und den Nationalsozialismus verharmlosende Texte. Metapedia wurde  im Verfassungsschutzbericht Nordrhein-Westfalens als rechtsextrem eingestuft, bisher aber nicht verboten. Zum Eintrag über Ursula Haverbeck https://de.metapedia.org/wiki/Haverbeck-Wetzel,_Ursula (..). Dort auch der Begriff »Gesinnungshaft«.

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völkisch-nationalen »Flügels« der Partei, verteidigte sie schon vor ihrer Inhaftierung öffentlich. Bei einer Kundgebung in Gera sagte er im November  in Anspielung auf Delikte, die er Personen mit Migrationshintergrund zuschrieb: »Für die sogenannten, es kann keinen Zweifel geben, für die sogenannten Meinungsdelikte, da wandert man manchmal jahrelang in diesem freien demokratischen Rechtsstaat hinter Gitter. Für verschnittene Genitalien und zertrümmerte Hirnschalen bekommt man Bewährung, wenn man den richtigen Hintergrund hat. Und diese Unverhältnismäßigkeit hat nicht mehr viel mit einem funktionierenden Rechtsstaat zu tun, das, liebe Freunde, ist allerdings nichts anderes als schreiende Ungerechtigkeit.« Wie lange Ursula Haverbecks Stern in der rechten Szene noch leuchten wird, ist schwer zu sagen. Auch, weil nicht leicht festzustellen ist, welchen Stellenwert die Holocaustleugnung innerhalb des Spektrums hat und inwiefern transnationale Bezüge, die ohne Zweifel eine zentrale Rolle in der rechten Szene spielen, hier einwirken. Vor dem Gefängnis in Bielefeld war die Zahl der Gegendemonstranten zu ihrem . Geburtstag im November  jedenfalls um ein Zigfaches höher als die der Alt- und Neonazis. In Thüringen deutet inzwischen manches darauf hin, dass mit der Gedächtnisstätte Guthmannshausen im Landkreis Sömmerda ein Zentrum nach dem Vorbild des Collegium Humanum entstehen soll. Das ehemalige Rittergut, seit der Jahrtausendwende frisch saniert, wurde  vom Freistaat an den »Verein Gedächtnisstätte« verkauft. Dass das eine rechtsradikale,  von Ursula Haverbeck gegründete, gut zehn Jahre lang von ihr auch geleitete und mit den Institutionen um das Collegium Humanum unmittelbar verknüpfte Organisation ist, wurde nicht weiter ernst genommen. Und das, obwohl der Verein Gedächtnisstätte bundesweit unter Beobachtung der Verfassungsschutzbehörden stand. Der Thüringer Landesverfassungsschutz war über die Organisation informiert, ließ den Verkauf des Anwesens aber geschehen. Der Verein Gedächtnisstätte hält heute im Herrenhaus von Guthmannshausen Seminare, Vortragsveranstaltungen und Konferenzen ab, im großen Garten werden Feste gefeiert, rechte Rockfestivals ebenso wie Kinderpartys und Sonnwendfeiern. Der Versuch des Freistaats Thüringen, den Verkauf der Gutsanlage vor Gericht wieder rückgängig zu machen, scheiterte . Dass Guthmannshausen sich zur Heimstatt von Neonazis und Holocaust Höcke auf einer Kundgebung in Gera am .., www.youtube.com/watch?v =smyKyZxIMY (..).  Ralf Fischer: Gedenken mit Holocaustleugnern, in: Jungle World, ..; »Nach den rechten Häusern sehen«. Die Gedächtnisstätte in Guthmannshau-

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leugnern entwickelt, scheint sich seither abzuzeichnen. Im Verfassungsschutzbericht Niedersachsens von  (die Behörde ist zuständig, weil der Vorsitzende des Vereins von dort stammt) heißt es über das einstige Rittergut, es stelle »ein rechtsextremistisches Veranstaltungs- und Schulungszentrum dar, dessen Vernetzung durch die vielfältigen, generationsübergreifenden Verbindungen des Vereins zu rechtsextremistischen Gruppierungen und Parteien sowie in die rechtsextremistische Skinheadund Kameradschaftsszene belegt wird.« Dem Verein Gedächtnisstätte wird attestiert, er agiere im Widerspruch zur freiheitlichen-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik, da er anstrebe, »ein anderes Staatswesen« zu erzeugen, weshalb er verfassungsfeindlich sei.

»Dienstliche Befehle einer deutschen Organisation« Die Geschichtsrevisionisten blieben auch nicht untätig, seit sie die Edition der Standort- und Kommandanturbefehle von Auschwitz für ihre Zwecke entdeckten. Auf ihren Internetseiten lässt sich die Sammlung seit  herunterladen, genauer: eine Sammlung ohne Einleitung, Fußnoten und Register. Alle erläuternden, wissenschaftlich einordenden Teile, die Norbert Frei und die anderen Herausgeber verfasst hatten, wurden kurzerhand entfernt. Was blieb, sind  Seiten Befehle der Kommandanten von Auschwitz. Das Machwerk, für jedermann bis heute ohne Weiteres im Netz zugänglich, beginnt mit der (namentlich nicht gezeichneten) Vorbemerkung eines sogenannten Reichsbürgers, einer Gruppe, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnet, sich außerhalb der Rechtsordnung sieht und autonome Rechte für sich in Anspruch nimmt. Der Anschaulichkeit halber seien dessen »Anmerkungen zu dieser Veröffentlichung« zur Gänze wiedergegeben: »Im Original wurde dieses Buch vom Institut für Zeitgeschichte im Jahre  herausgegeben. ›Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) ist eine im Jahre  unter dem Namen ›Deutsches Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit‹ von den alliierten Besatzern errichtete und unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit mit der Umerziehung sen«, .., www.endstation-rechts.de/news/nach-den-rechten-haeusern-sehen-die-gedaechtnisstaette-in-guthmannshausen.html (..).  Verfassungsschutzbericht Niedersachsen , Ministerium für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz, Hannover , S. -; www.verfas sungsschutz.niedersachsen.de/startseite/aktuelles_service/publikationen/publi kationen-.html (..).

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des deutschen Volkes beauftragte Einrichtung in München.‹ (Quelle: Metapedia.org) Da dieses Institut vom deutschen Volk finanziert wird und es sich bei den Dokumenten um dienstliche Befehle einer deutschen Organisation handelt, liegen die sog. Urheberrechte für die Befehle beim deutschen Volk! Die Kommentare des Institutes, welche der Diffamierung des deutschen Volkes dienen sollen und in ihrer Art den Tatbestand des Hoch- und Landesverrates gemäß § , f RStGB und § , b RStGB erfüllen, sind nicht Bestandteil dieser Ausgabe! Wir stellen diese unverfälschten Dokumente zur deutschen Geschichte kostenfrei allen Interessierten zur Verfügung. Hiermit sehen wir unsere Pflicht erfüllt, uns zur Kenntnis gelangte Beweise für die Unrichtigkeit aller Behauptungen der Sieger den Völkern zur Verfügung zu stellen. Der Herausgeber. Deutsches Reich im März .« Als sei dies alles nicht schon genug, kursiert seit  auch ein Druckwerk unter dem Titel Kommandanturbefehle – eine Betrachtung, verfasst von einem Ernst Böhm, vermutlich das Pseudonym des mehrfach wegen Volksverhetzung (zuletzt im Herbst ) verurteilten Holocaustleugners Henry Hafenmayer. In rechten Kreisen firmiert der -Jährige als »langjähriger Begleiter« von Ursula Haverbeck. Hafenmayer alias Böhm präsentiert darin eine Auswahl der Standort- und Kommandanturbefehle, stellt seinem Sortiment eine apologetische Einleitung voran, fügt entsprechende Kommentare hinzu und endet mit dem Kapitel »Ungereimte Aussagen im IfZ-Buch«. Klickt man die auf dem Buchtitel prangende Adresse »www.Ende-der-Luege.com« an, so erscheint die Website des Autors mit dessen Konterfei vor dem Torgebäude von Birkenau, und zu lesen ist der nicht weniger geschmacklose Satz »Nur die Wahrheit macht uns frei !«. Dass Hafenmayer alias Böhm auch schon der Initiator der ins Netz gestellten, ihrer Annotationen beraubten kompletten Sammlung der Befehle war, legt die Vorbemerkung im Buch nahe, die der oben zitierten sehr ähnelt. Über Ursula Haverbeck heißt es da Die Seite ist abzurufen unter: www.archive.org/details/StandortUndKommandan turbefehleDesKonzentrationslagersAuschwitz (..); ferner unter www.ia.us.archive.org//items/StandortUndKommandanturbefehle DesKonzentrationslagersAuschwitz/Standort-undKommandantur befehleDesKonzentrationslagersAuschwitz-.pdf (..).  »Haftstrafe für antijüdischen Hetzer«, in: Blick nach rechts, .., www.bnr. de/artikel/aktuelle-meldungen/haftstrafe-f-r-antij-dischen-hetzer (..).  Böhm ().  Abzurufen (auch auf Russisch) unter www.endederluege.blog////kom mandanturbefehle-eine-betrachtung/ (..).

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rin, sie habe »die zeitgeschichtliche Bedeutung dieser Kommandanturbefehle wie kaum eine andere Geschichtsforscherin erkannt und publik gemacht«. Dass Holocaustleugner ungehindert die Möglichkeit besitzen, im Internet, in Büchern und auf Veranstaltungen ihre Geschichtslügen in die Welt zu posaunen und sich dabei der Dokumente aus Auschwitz zu bedienen, ist schier unglaublich. Wenn es noch eines Beweises bedurft hatte, damit strenge rechtliche Regelungen für geschichtsrevisionistische Publikationen im Internet angewandt werden, dann ist es die zu Zwecken der Auschwitz-Lüge zugerichtete Edition der Standort- und Kommandanturbefehle. Im Netz kursierten eine Zeitlang gleich mehrere Versionen davon. Der Verlag De Gruyter erreichte mittlerweile, dass einige entfernt wurden. Aber auf Servern, deren Betreiber im Ausland registriert sind, kann das Machwerk weiterhin verbreitet werden. Weil es Geschichtsrevisionisten mit der Auschwitz-Lüge um ethnische Reinheits- und Homogenitätsfantasien, antisemitische Verschwörungstheorien, Nationalradikalismus und stets um die Verunglimpfung der offenen Gesellschaft wie auch der liberalen Demokratie geht, ist anzunehmen, dass sich nationale Identität damit in jenen Kreisen leicht beschwören lässt, die heute in Deutschland von »kultureller Überfremdung«, »Bevölkerungsaustausch« und einer erinnerungspolitischen »Kehrtwende« reden. Vermittelt werden von den Holocaustleugnern überhaupt Sicherheit, Selbstentlastung und Identitätsgewissheit – mithin »Werte«, die es in einer ambivalenten Moderne gar nicht geben kann.

 Vgl. Böhm (), S. .  So die schriftliche Information des Verlags, E-Mail vom ...

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Das kosmopolitische Dilemma Migration, digitale Medien und Erinnerungspolitik in Deutschland W K

Die AfD wartet Anfang März  auf ihrer Homepage mit einer stimmungsvollen Diashow auf: ein Panoramablick auf Berlin bei Sonnenuntergang mit Alex und Dom, der Weihnachtsmarkt in Lindau mit Blick auf Leuchtturm und Bodensee, die Seebrücke Heringsdorf auf Usedom mit vereistem Strand. Die der Jahreszeit angepassten Stimmungsbilder sind mit einem ebenso deutlich emotionalisierenden Text unterlegt: »Es geht um uns – Unsere Tradition – Unsere Heimat – Unsere Zukunft !« Prominente Erinnerungsorte, die Geschichte und Identität zu einem idyllischen Wir-Gefühl verdichten. Auf der Homepage haben die Medienagenturen der AfD ganze Arbeit geleistet. Beim Thema Migration geht die AfD mit ebenso viel Mediengeschick zu Werk. Aufhänger ist im Frühjahr  vor der Europawahl der Migrationspakt, ein unverbindlicher Maßnahmenkatalog, auf den sich eine große Mehrzahl der Mitgliedsstaaten der UN im Dezember  verständigt hat. In einem professionell gestalteten, kurzweiligen Zeichentrickfilm bringt die AfD ihre Position auf den ideologischen und visuellen Punkt. In dem mit lustigen dunkelhäutigen und noch lustigeren hellhäutigen Zeichentrickfiguren bevölkerten Narrativ werden alle Stereotype über Migration auf eine nette, unaufgeregte Art bedient und Aufwendungen für Migranten geschickt gegen Wohnungsmangel und sinkende Gehälter in Deutschland aufgerechnet. Stacheldraht, Zeltstädte, Burkas, Refugees-welcome-Demonstranten und Wir-sind-das-Volk-Plakate – der stets freundlich formulierte Einsatz migrationsrelevanter Ikonogra-

 Homepage der Alternative für Deutschland (AfD), https://www.afd.de (..).  Nadine Lindner/Katharina Hamberger: Die Kanzlermacher, in: Deutschlandfunk, .., https://www.deutschlandfunk.de/agenturen-im-wahlkampf-diekanzlermacher..de.html?dram:article_id= (..).  The Global Compact for Migration, https://www.iom.int/global-compact-mig ration (..).

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phie ist ein Lehrbeispiel für den effektiven Gebrauch kollektiver Erinnerungssymbolik und populären Rassismus.

Gefährdeter Konsens Die AfD-Rhetorik und -Ästhetik präsentiert die Nation als einen natürlichen und unbeschwerten Erinnerungsort in einer Weise, wie dies auf Bundesebene in den letzten vierzig Jahren nicht geschehen ist. Diktatur, Angriffskrieg, Holocaust und Teilung hatten die deutsche Nation zumindest vorübergehend in ein problematisches symbolisches Gebilde überführt. Nach Jahrzehnten erinnerungspolitischer Debatte und Hilflosigkeit beschlossen die höchsten Vertreter der Bundesrepublik diese Ambivalenz explizit in den Erinnerungsort Deutschland einzuschreiben. Spätestens seit Mitte der er Jahre hat die Bundespolitik der deutschen Nation ganz offiziell gleichzeitig als eines Horts freiheitlicher Traditionen, vielfältiger Kultur und wirtschaftlicher Erfolge und als Ursprungspunkt extremen Rassismus, diktatorischer Gewalt und aggressiven Militarismus gedacht. Nach der Logik der Erinnerungskultur in der späten Bundesrepublik und im vereinten Deutschland erforderte dieses außerordentliche Zerstörungspotenzial permanente Selbstreflexion und entschiedenes multilaterales Engagement, das konsequent am normativen Rahmen der Menschenrechte ausgerichtet ist. Die auf diese Weise entstandenen Grundsätze kosmopolitischen Erinnerns haben Deutschland und die EU geprägt, auch wenn sie im Laufe der Jahrzehnte an Selbstreflexivität verloren und oft einem neuem Erinnerungsstolz Vorschub geleistet haben, der Deutschlands vermeintlich vorbildlicher Erinnerungskultur huldigt. Die AfD ist ein Symptom einer sich verändernden Erinnerungskultur, die vierzig Jahre selbstkritischer Vergangenheitspolitik im Rückblick als  https://www.afd.de/migrationspakt-stoppen/ (..); zum freundlichen Gesamteindruck trägt auch die helle, gewollt nichtprofessionell geschulte Stimme des Sprechers aus dem Off bei. Zur Kollektivsymbolik der Migration vgl. Kreutzer () und Link ().  Frei/Maubach/Morina/Tändler (), S.  f.  Wolfrum (b), S.  ff.; Kansteiner (), S.  f.  Levy/Sznaider (); zur Historisierung und Kontextualisierung des Menschenrechte-Paradigmas Frei/Weinke ().  Sierp (), S. .  Becker (), S.  ff.; Assmann (), S.  f.

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eine Ausnahmephase postnationalistischer Erinnerung erscheinen lässt. So bietet die Politik keine überzeugenden Antworten auf die wichtige Frage, wie die Verbindung zwischen kosmopolitischer Erinnerung, Menschenrechten und Migration rechtlich konsequent, ethisch verantwortlich und politisch mehrheitsfähig gedacht werden kann. Gemessen an seinem Reichtum, humanitären Ansprüchen und wirtschaftlichen Interessen müsste Deutschland bei der Lösung globaler Migrationsprobleme großzügig handeln, aber für einen solchen konsequenten Einsatz gibt es in der gegenwärtigen sozialen und erinnerungspolitischen Verfassung der deutschen Gesellschaft keine Mehrheiten. Deshalb versuchen fast alle dem kosmopolitischen Konsens verpflichteten politischen Parteien die Ausformulierung kosmopolitischer Verpflichtungen zu vermeiden, ohne dabei den mittlerweile als unproblematisch empfundenen Erinnerungsort Holocaust mitsamt dem damit verbundenen kosmopolitischen Selbstlob aufzugeben. Genau in dieser Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit etabliert sich die Erinnerungspolitik der AfD, die auf konventionelle und für viele Menschen intuitiv anschlussfähige Weise auf antagonistische Unterscheidungen zwischen uns und den anderen, zwischen westlicher und islamischer Kultur und zwischen schwarz und weiß besteht. Weil die Widersprüche zwischen kosmopolitischer Theorie und pseudokosmopolitischer Praxis so viel Angriffsfläche bieten, kann die AfD einen vermeintlich fest verankerten transnationalen Wertekodex mit Hilfe herkömmlicher nationalstaatlicher und europäischer demokratischer Werkzeuge aushebeln. Die AfD ist nicht erfolgreich, weil sie so gut ist (obwohl einige ihrer Medienkampagnen gut durchdacht sind und insbesondere in digitalen Medienkontexten effektiv umgesetzt werden) oder weil die digitale Medienlandschaft per se die Demokratie zerstört (obwohl auch in Deutschland beunruhigende Manipulationsversuche gerade seitens der AfD stattfinden). Die AfD ist so erfolgreich, weil ihre politischen Gegner so hilflos sind. Ohne die Zusammenhänge zu verstehen, entlarvt die AfD ein grundlegendes erinnerungspolitisches und insbesondere kosmopolitisches Dilemma: eine moralisch überzeugende Erinnerungskultur führt keinesfalls automatisch zu guter Politik. In Abwesenheit einer konsequenten Einwanderungspolitik erweist sich der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis als Achillesferse deutscher Politik, weil zum    

Fitzgerald (). Portes (). Aus der Innenperspektive Schreiber (), S. -. Bhambra ().

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ersten Mal seit vielen Jahrzehnten eine medienkompetente Partei eine konsequent national ausgerichtete Erinnerungspolitik betreibt, die mit der tatsächlichen migrationspolitischen Praxis weitgehend geschlossener EU-Grenzen und weithin geteilten Fantasien über sichere Außen- und Obergrenzen perfekt harmoniert und für viele Wähler entsprechend vernünftig erscheint.

Erinnerung im digitalen Zeitalter Der kometenhafte Aufstieg der AfD fällt mit einem intensiven Einsatz digitaler Medien in der politischen Kultur der Bundesrepublik zusammen. Die AfD ist in dieser Hinsicht besonders aktiv. Sie kommuniziert im Netz nachdrücklicher mit ihren Anhängern als die politische Konkurrenz und gibt Anlass zu der Sorge, dass ihr Erfolg dem manipulativen Einsatz digitaler Medien geschuldet ist. Zu diesem Thema bietet die sozial- und populärwissenschaftliche Literatur eine Reihe interessanter Hypothesen. Die Echokammern des Internets betten Wähler in einen angenehmen Kokon aus von ihnen präferierten politischen Meinungen ein, der durch einschlägige Algorithmen beständig an Homogenität, Radikalität und Unterhaltungskraft gewinnt – so lautet eine beliebte These zur politischen Willensbildung im Zeichen des Mikrochip. Eine andere weitverbreitete These weist in gegenläufige Richtung. Nicht die einseitige Auseinandersetzung mit Politik, sondern das ständige und unversöhnliche Aufeinanderprallen konträrer Meinungen in Mikroblogs, Upload-Plattformen und sozialen Netzwerken stellt das eigentliche Risiko dar, weil es die Solidarität untergräbt, die eine demokratische Gesellschaft funktionsfähig erhält. Eine dritte These macht die Popularität digitaler Medien für eine fortschreitende Entpolitisierung des Wahlvolks verantwortlich. Gerade jüngere Wähler, so wird vermutet, reduzieren ihr politisches Engagement als Resultat des umfangreichen, auf ihren individuellen Geschmack zugeschnittenen Unterhaltungsangebots im Netz. Und dann finden sich natürlich auch optimistischere Stimmen, die glauben beweisen zu können, dass digitale Medien den Informationsfluss  Fuchs/Middelhoff (), S. -; mit präzisen Twitter-Daten: Netzpolitik.org, https://netzpolitik.org//treue-gefolgschaft-so-twittert-die-afd/ (..).  Sunstein (); Pariser (); kritisiert in Bruns ().  Prior ().  Arceneaux/Johnson ().

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und Meinungsaustausch in einer demokratischen Gesellschaft begünstigen. Die Memory Studies haben einige anschlussfähige, noch weitreichendere Thesen zur Veränderung kollektiver Erinnerung durch digitale Medien entwickelt. Der Übergang von einer analog-elektronischen zu einer digitalen Medienlandschaft hat dynamische soziale Erinnerungsprozesse in Gang gesetzt, die fundamentale Parameter kollektiver Erinnerung verändern. So erfordere die enge Verschränkung von Mensch, Computer und künstlicher Intelligenz ein Überdenken landläufiger Vorstellungen über die Handlungsträger kollektiver Erinnerungsprozesse. Es sei nicht mehr der Mensch als Subjekt, der sich unter Zuhilfenahme verschiedener Medientechnologien seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versichert. Vielmehr bestimmen zunehmend posthumane Hybride aus Mensch und Maschine die Vektoren der sozialen Erinnerung. Dabei sind herkömmliche Subjekt-Objekt-Konstellationen nicht die einzigen liebgewonnenen Dualismen, die es zu hinterfragen gilt. Die klickenden, likenden und uploadenden Digital Natives im Verbund mit ihren Maschinen zerstören auch klare Zeitstrukturen. Neue Posts und an die Oberfläche gespülte digitale Altlasten vermischen sich im Netz fortwährend zu attraktiven Medienkonstellationen, die einerseits Erinnerung prägen, aber andererseits keine lineare Chronologie oder einen deutlichen Unterschied zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem markieren. Die posthumanen Hybride bauen sich ihre Erinnerung ständig aus verschieden alten Versatzstücken neu. Das bedeutet wahrscheinlich auch, dass sich Rhythmen und Halbwertszeiten kollektiver Erinnerung beschleunigt haben. Soziale Erinnerungsprozesse sind mehr kommunikativ als kulturell geprägt (pace Jan Assmann) und orientieren sich weniger an historischer Erinnerung. Ähnliches gilt für die gewohnte Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Gedenken. Die posthumanen Hybride sind auf Vergesellschaftung im Netz angewiesen und laufen deshalb beständig Gefahr, durch ihr Bemühen um die Konstruktion und Wahrnehmung ihrer eigenen Identität und Erinnerung einen Shitstorm loszutreten.

    

Greenwood u. a. (). Hoskins (a). Lagerkvist (). Pogačar (). Hoskins (b).

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Geschichtspolitik anno  Die Europawahl von  bietet im Hinblick auf die Verschränkung von Migrations- und Erinnerungspolitik einen interessanten Testfall. Über weite Teile des Wahlkampfs stand das Thema Migration im Mittelpunkt des Interesses, und die nationalistischen Erinnerungspolitiker der AfD konnten ihren defensiv agierenden kosmopolitischen Konkurrenten die Show und die Wähler stehlen. Wie schon in früheren Wahlkämpfen kontrollierte die AfD das Thema Migration nach Belieben. Trotzdem blieb der erwartete Super-GAU aus, und zwar nicht aufgrund einer wundersamen kosmopolitischen Läuterung der Bevölkerung, sondern weil ein anderes Politikfeld mit einer eigenen erinnerungspolitischen Dynamik das Thema Migration kurzfristig in den Hintergrund drängte. Plötzlich spielte das Thema Klimakrise, der neue Erinnerungsort »Greta« und das präfigurative Erinnerungsnarrativ Anthropozän eine entscheidende Rolle. In den Wochen und Tagen vor der Wahl rückte die Frage in den Vordergrund, wie wir uns an die Klimakatastrophen der Zukunft »erinnern« sollen, um sie noch verhindern zu können. Eine qualitative und quantitative Analyse der Auftritte der Parteien auf Webseiten, Upload-Plattformen (Youtube), Mikroblogs (Twitter) und konventionellen Wahlprogrammen im Vorlauf zur Europawahl  ergibt ein ernüchterndes Bild. Da ist die Regierungspartei CDU, die nicht im digitalen Zeitalter ankommen will. Sie bietet eine lauwarme, widersprüchliche Mischung aus Nationalismus, NATO- und Europaverpflichtung und Sicherheitsobsession, die den Status quo lobt und keinerlei Enthusiasmus hervorruft. Die CDU erwähnt in ihrem Wahlprogramm pflichtschuldig die »immerwährende Aufgabe« der Erinnerung »an die Folgen von Gewaltherrschaft« in altbewährten Passivkonstruktionen und wartet mit einer ebenso dreisten wie effektiven diskursiven Strategie auf, um den eklatanten Widerspruch zwischen bundesrepublikanischen kosmopolitischen Ansprüchen und bundesrepublikanischer Realpolitik zu umschiffen. Menschenrechte und Flüchtlingskrise werden einfach  Goerres u. a. ().  Crownshaw ().  Z. B. CDU.TV live: Werkstattgespräch: Migration, Sicherheit und Integration, https://www.youtube.com/watch?v=ojIoxBrKo (..); Annegret KrampKarrenbauer (akk): » Jahre @NATO sind  Jahre Verteidigung gemeinsamer Werte«, in: Twitter, ...  CDU: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm -, S. , siehe auch S. .

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nicht miteinander in Verbindung gebracht. Das Wort Menschenrechte findet oft Erwähnung, aber nur im Zusammenhang mit nichtssagenden Floskeln. Der Migrationspakt hat deshalb auch keine Bedeutung für Deutschland, denn die meisten Menschen auf »Wanderschaft« – eine clevere Verharmlosung – kämen ja gar nicht nach Deutschland. Die sogenannte Migrationskrise von  bietet folgerichtig eine seltene Gelegenheit zu entschiedener Selbstkritik: »Eine Situation wie im Jahre  soll und darf sich nicht wiederholen, da alle Beteiligten aus dieser Situation gelernt haben.« Im Endeffekt befindet sich die CDU im Hinblick auf fast alle quantitativen Parameter digitaler Kommunikation näher am Schlusslicht Die Linke als am Klassenprimus AfD. Aber hinter dieser Webpräsenz scheint Kalkül zu stecken. Die CDU vermeidet Experimente und Kontroversen und versucht, den Eindruck verlässlicher, langweiliger und unausweichlicher Regierungsarbeit zu erwecken. Da ist die ehemalige Volkspartei SPD, die sich über das Netz ebenso unbeholfen wie lebhaft mit dem schwindenden harten Kern ihrer Anhänger austauscht, aber mit ihrem verspäteten Ruf nach einem verbesserten Sozialstaat und mit ihrem Plädoyer für Forschung und Gedenkstättenarbeit zur Geschichte der beiden deutschen Diktaturen über die Kommunikation mit diesem harten Kern hinaus wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Die SPD gebärdet sich in Sachen Migration besonders hilflos – und ehrlich. Dem Bekenntnis zum Recht auf Asyl und Integration folgt die Forderung nach einem effektiven Schutz der Außengrenzen der EU und der naiv anmutende Vorschlag, Beratungsangebote für potenzielle Flüchtlinge in deren Heimatländern einzurich UN-Migrationspakt: eine internationale Lösung für eine globale Herausforderung, https://www.cdu.de/artikel/un-migrationspakt-eine-internationale-loesungfuer-eine-globale-herausforderung (..).  Wie Anm. , S. .  Vergleichsdaten über Benutzerströme zu den Webseiten von CDU, SPD, Die Linke, Die Grünen und AfD, erhoben am .. mit Hilfe der Website Traffic Estimators VisitorsDetective und SiteWorth; Vergleichsdaten zu den Twitter-Accounts der Politikerinnen Alice Weidel, Andrea Nahles, Annegret KrampKarrenbauer, Annalena Baerbock und Petra Kipping, erhoben am .. mit Hilfe der Twitter-Analytics-Application Foller.me.  Homepage der CDU, https://www.cdu.de (..).  Homepage der SPD, https://www.spd.de (..).  Z. B. Ein neues deutsches Wir, https://www.youtube.com/watch?v=aLgHtRGs (..); Andrea Nahles (AndreaNahlesSPD): »Mit vonhier startete sie eine breite Diskussion über Rassismus. Nun hat @FerdaAtaman mit ›Ich bin von hier‹ ein lesenswertes Buch veröffentlicht«, in: Twitter, ...

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ten, um ihnen aufzuzeigen, »welche Alternativen es für sie zur Flucht gibt«. Diese Regierungsparteien werden von ehrlichen Kosmopoliten (Die Linke), etwas verschämten Kosmopoliten (Die Grünen) und konsequenten Nationalisten (AfD) herausgefordert. Grüne und Linke begründen ihre Grundwerte und Kernforderungen häufig mit Hinweisen auf die Geschichte des Nationalsozialismus. So rechtfertigen sie die besondere Bedeutung multilateraler Verträge und Organisationen, den Ausbau der Menschrechte inklusive des Rechts auf Asyl, den Schutz der verfassungsrechtlich verbrieften Freiheitsrechte und eine Bestandsgarantie für Israel mit zahlreichen expliziten Verweisen auf nationalsozialistische Verbrechen. Allerdings geht nur die Linke in der Einschätzung des Migrationspaktes und in ihren allgemeinen politischen Einlassungen konsequent kosmopolitisch zu Werk. Sie benennt die menschenrechtlichen Defizite bundesrepublikanischer Regierungspolitik deutlich und fordert legale und sichere Fluchtwege nach Europa, eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für alle sich in Deutschland befindenden Menschen, verbunden mit einer völligen rechtlichen Gleichstellung und gleichberechtigten politischen Partizipation derselben. Allein, es fehlt auch hier eine überzeugende, digitale Kommunikationsstrategie. Die Grünen scheinen sich in Sachen Migration durch eine vielschichtige und widersprüchliche Kommunikation aus der Affäre ziehen zu wollen. Der Begriff Migrationspakt findet im optimistisch und optisch ansprechend grünen Webimperium keine Erwähnung. Wenn man sich Anfang März  auf den Webseiten der Grünen umschaute, schienen sie das Themenfeld Migration–Integration–Einwanderung–Flucht weit SPD: Zeit für mehr Gerechtigkeit. Unser Regierungsprogramm für Deutschland, , S. .  Bündnis /Die Grünen: Zukunft wird aus Mut gemacht. Bundestagswahlprogramm , S. , , , , ; Die Linke: Sozial.Gerecht.Frieden.Für Alle. Die Zukunft, für die wir kämpfen, Langfassung des Wahlprogramms zur Bundestagswahl , S. , , , , .  Ebd., S. .  In die richtige Richtung, aber nicht weit genug, https://www.die-linke.de/the men/flucht-und-migration/zum-un-pakt-fuer-eine-sichere-geordnete-undregulaere-migration/ (..); unterhaltsam und kontrovers, aber auch nicht innovativ der Bundestagsdebattenausschnitt des Linken-Politikers Stefan Liebich über AfD und Migrationspakt: https://www.youtube.com/watch ?v=thsWrPlTCHU (..). Der Liebich-Beitrag ist einer der wenigen kosmopolitisch ausgerichteten Clips, die im Frühjahr  mehr Likes als Dislikes generierten.

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gehend hinter sich gelassen zu haben. Erst nach weiterem Durchklicken eröffnet sich das digital verkleidete, analoge Fundament grüner Migrationspolitik, das Bundestagswahlprogramm von , das vor kosmopolitischer Erinnerung und Integrität nur so strotzt. Hier wird immer wieder betont: »Das Leitbild unseres außenpolitischen Engagements sind die Menschenrechte.« Folgerichtig ist grüne Migrationspolitik eingebettet in eine grundsätzliche Neuausrichtung weltpolitischer Parameter, darunter eine gerechte Verteilung von Wohlstandsgewinnen, eine effektive Kontrolle der »entfesselten Finanzmärkte und große[n] Konzerne« und ein nachhaltiger und fairer Welthandel. Die Einlassungen der AfD sind auch voller Widersprüche, aber die AfD hat ein Alleinstellungsmerkmal: Sie ist die einzige Partei, die den Widerspruch zwischen kosmopolitischer Theorie und antagonistischer Praxis durch eine Stärkung von Nationalismus und eine Verabschiedung vom kosmopolitischen Wertekanon aufheben will. In Bezug auf deutsche Erinnerungskultur beschwört die AfD Nationalstaat, deutsche Leitkultur, Christentum, Antike, Humanismus und Aufklärung und schlägt einen schnellen rechten Bogen um das Dritte Reich. Die »Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiv identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst« – so lautet der einzige Satz im AfD-Programm zum Thema Nationalsozialismus, mit dem die Partei zur Schleifung der vermeintlichen Bastionen kosmopolitischer Erinnerung aufruft. Zudem setzt die AfD entschlossen auf visuelle, stark emotionalisierende digitale Kommunikationsstrategien.  Bündnis /Die Grünen: Zukunft wird aus Mut gemacht. Bundestagswahlprogramm , S.   Ebd., S. ; »Ein neues deutsches Wir«, https://www.youtube.com/watch?v =aLgHtRGs (..).  AfD: Programm für Deutschland . Wahlprogramm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am . September , S. .  Siehe z. B. den Tweet von Alice Weidel vom .., in dem die Veröffentlichung positiver Kriminalstatistiken durch Verbreitung eines Videoclips konterkariert wird, der angeblich den Angriff auf einen Obdachlosen durch Immigranten darstellt, Alice Weidel (Alice_Weidel): »›Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt‹, wusste Innenminister Seehofer gestern zu verkünden, als die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) vorgestellt wurde. Wirklich?«, in: Twitter, ...

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Durch alle politischen Programme zieht sich ein neuer, unerwarteter Erinnerungsort, der die Bedeutung und die Grenzen kosmopolitischer Erinnerung illustriert: das Mittelmeer. Die Bilder von kenternden Booten und ertrinkenden Menschen scheinen bei vielen deutschen Politikern ein kulturelles Trauma, eine veritable kollektive Sinnkrise auszulösen, weil die Bilder sich nicht mit dem positiven Selbstbild einer humanitären, kosmopolitisch selbstreflektierten Nation in Einklang bringen lassen. Auch die AfD weicht dem neuen Erinnerungsort Mittelmeer nicht aus, so wie sie es in Bezug auf den alten Erinnerungsort Nationalsozialismus befürwortet. Ihr gelingt es vielmehr, die kosmopolitische Logik der Konkurrenz zu unterlaufen, indem sie die vermeintlichen Opfer unsichtbar macht. Die AfD verlangt, dass Frontex und Bundeswehr »ihre Schlepper-Hilfsdienste auf dem Mittelmeer beenden und alle Flüchtlingsboote an ihre Ausgangsorte zurückbringen, anstatt die Passagiere nach Europa zu befördern«. In einem schlauen kollektivsymbolischen Schachzug werden die Ertrinkenden zu Passagieren, die nach Kreuzfahrtlogik wieder in den Heimathafen zurückgebracht werden. Wer leere kosmopolitische Worthülsen sät, muss darauf gefasst sein, antagonistische nationalistische Propaganda zu ernten. Nur die Grünen und die AfD setzen Webseiten und soziale Medien durch den Einsatz von bewegten Bildern und aufwändiger Farbgestaltung konsequent als Unterhaltungs-, Wohlfühl- und Skandalisierungsmedien ein. Die digitale Webpräsenz der AfD gibt allerdings Anlass zur Sorge. Die hohe Zahl der Likes und Zugriffe bei niedrigem Vernetzungsgrad, die relativ hohe Zahl der Zugriffe aus dem Ausland und die ungewöhnlichen Stoßzeiten lassen vermuten, dass die Benutzerzahlen digital manipuliert sind. Solche plumpen Manipulationen zugunsten der AfD sind nachgewiesen und mögen mit den Interessen Dritter (Putin)  CDU: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm -, S. , ; SPD: Zeit für mehr Gerechtigkeit. Unser Regierungsprogramm für Deutschland, , S. ; Bündnis /Die Grünen: Zukunft wird aus Mut gemacht. Bundestagswahlprogramm , S. ; Die Linke: Sozial.Gerecht.Frieden.Für Alle. Die Zukunft, für die wir kämpfen, Langfassung des Wahlprogramms zur Bundestagswahl , S. , .  AfD: Programm für Deutschland . Wahlprogramm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum Deutschen Bundestag am . September , S. .  Ein Interview mit Jörg Meuthen zum Thema Migrationspakt war auf Youtube bis zum .. angeblich über  -mal aufgerufen worden: https://www. youtube.com/watch?v=qsSNykEF (..).

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und der Eitelkeit der Parteiführung in Verbindung stehen, aber es ist schwer zu entscheiden, »welchen Anteil die rechten Netzaktivisten am Ausgang von Wahlen haben«. Im deutschen öffentlichen Diskurs hat sich auf diese Weise ein dysfunktionales Spektrum mit zwei klaren Polen etabliert. Linke und Grüne haben aus alten Erinnerungsorten (Nationalsozialismus) und neuen Erinnerungsorten (ertrinkende Menschen im Mittelmeer) eine konsequente kosmopolitische Position entwickelt, die den Schutz von Flüchtlingen in Europa als Menschenrecht einfordert und Freizügigkeit innerhalb Europas feiert. Die SPD laboriert an einem hilf- und haltlosen Kosmopolitismus, der ständig mit den unwillkommenen Erinnerungsorten sozialdemokratischer Realpolitik (Erdoğan-Deal, EU-Außengrenzen) kollidiert und deshalb keine Wirkungsmacht entfalten kann. Die CDU versucht sich mit einigem Geschick an der Konstruktion eines völlig inhaltslosen kosmopolitischen Grundbekenntnisses, das Wertefestigkeit signalisiert, ohne die Handlungsflexibilität der Regierung in irgendeiner Form einzuschränken – eine Art Kosmopolitismus ohne (Menschen-) Rechte für Nicht-EU-Bürger. Am anderen Ende des Spektrums, aber nicht weit entfernt von der CDU bezieht die AfD eine konsequent nationalistische Position, die mit vielfältigen antagonistischen Erinnerungsorten (alt, neu und auch mal überraschend) und großem Mediengeschick eine deutliche Alternative zum vermeintlichen kosmopolitischen Grundkonsens der Bundesrepublik skizziert. Wenn das Spitzenpersonal der AfD in seinen Medienauftritten nicht so unappetitlich rassistisch und dummdreist unwahr zu Werk ginge, könnte die Partei wahrscheinlich noch mehr Wähler gewinnen. Wir mögen nicht sicher sein, wer da auf den Webseiten, Upload-Plattformen und sozialen Netzwerken verkehrt, aber egal ob Mensch, Hybrid oder Bot: Es ist besorgniserregend,  Netzpolitik.org, https://netzpolitik.org//twitter-datenanalyse-bei-der-afd-diefalsche-balleryna/ (..).  Fuchs/Middelhoff (), S. .  Z. B. Annalena Baerbock (ABaerbock): »Millionen EuropäerInnen nutzen Europa nicht nur, sie leben Europa täglich, in dem sie grenzüberschreitend arbeiten, studieren, reisen«, in: Twitter, ...  In der lebhaften Online-Diskussion, ausgelöst durch einen Tweet von Alice Weidel vom .. (siehe Anm. ), antwortete ein AfD-Anhänger auf den Nazismusvorwurf eines Kritikers z. B. mit einer von der AfD hergestellten Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, die nach  als Bundestagsabgeordnete der neugegründeten demokratischen Parteien reüssierten, und dem Einwurf »Hier hast du deine Nazis, du Wurst«.

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dass die AfD die Webkommunikation mit ihren Anhängern am besten organisiert hat.

Rassismus als Erinnerungsleistung Wie Ann Rigney argumentiert, ist der Aufstieg und die Stabilisierung jeder politischen Bewegung oder Partei, also auch der Aufstieg der AfD, eine erinnerungspolitische und aktivistische Mammutaufgabe. Die Akteure der Partei müssen die Interessen und Identitäten ihrer wachsenden Wählerschichten ansprechen, sich dabei in der erinnerungspolitischen Landschaft Deutschlands positionieren und gleichzeitig sowohl historische als auch parteigeschichtliche Erinnerungsorte markieren, die geeignet sind, die Partei nach innen und außen zu integrieren. Diese Aufgabe wird dadurch komplizierter, dass die AfD in ihrer kurzen Geschichte eine rasante Entwicklung von einer wirtschaftskonservativen Euroskepsis-Partei zu einer immigrationsfeindlichen, konventionell rechtsradikal orientierten Partei durchlaufen hat. Um auf nationaler Ebene erfolgreich zu bleiben, gilt es ein umfangreiches Spektrum an Erinnerungsangeboten abzudecken. Die besondere Präsenz in Ostdeutschland erlaubt und erfordert eine Anbindung an DDR-spezifische Widerstandsgeschichte und -rituale (»Wir sind das Volk«) und ostalgische Erinnerungsstrategien. Zudem bieten Teile der Rechten, so etwa die Identitäre Bewegung oder die Burschenschaften, die Möglichkeit der Anknüpfung an neue spontihafte Erinnerungsorte und neuerfundene alte Traditionen (zum Beispiel das »Neue Hambacher Fest«). Ganz zentral bleibt der Nationalsozialismus als Erinnerungsort, und zwar zum einen in der radikalen Abwendung von der selbstkritischen Holocausterinnerung der Bundesrepublik durch gezielte Tabubrüche (»erinnerungspolitische Wende um  Grad«, »Vogelschiss«, »Mahnmal der Schande«), die zu eigenständigen Erinnerungsorten werden, und zum anderen durch die Aneignung traditionell rechtsradikaler Erinnerungen an Wehrmacht und NSDAP, so etwa durch die Bezeichnung der AfD als »Bewegungspartei«. Ebenso bedeutsam ist das häufige Ausagieren grundlegender Erinnerungsreflexe. Es ist für den Erfolg der AfD unabdingbar, dass Vorwürfe     

Rigney (). Kleinert (); Arzheimer/Berning (). Frei/Maubach/Morina/Tändler u. a. (), S. ,  f.; Göpfarth (). Langebach/Sturm (); Fuchs/Middelhoff (), S. . Quent (), S. .

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gegen Migranten und Regierung im Netz durch eine ständige Flut von entsprechenden Einwürfen mobilisiert werden. So bleiben Ausländerfeindlichkeit und Rassismus über kurz- und langfristige Erinnerungsleistungen verständlich, erfahrbar und erfühlbar, denn die Konstruktion von Rassismus und seine Verankerung im Alltag ist eine Erinnerungsleistung. Rassismus muss erlernt werden, und das geht nur über Erinnerung an konkrete Ereignisse und die Anbindung an die für die jeweilige Gesellschaft passende Bildsprache und Narrative. In diesem Kontext führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass der explizite Rassismus der AfD mit dem impliziten strukturellen Rassismus der deutschen Gesellschaft kompatibel ist. Es handelt sich hier um zwei sich gegenseitig stützende Erinnerungskulturen, die im Verbund die kosmopolitische Erinnerungskultur unterminiert haben. Wie begegnet man rassistischen Meinungsäußerungen in einem Land, das – in einem globalen Kontext betrachtet – rassistische Politik betreibt, aber gleichzeitig die Existenz dieses Rassismus auf breiter Front leugnet? Ist das Wahlvolk dazu befugt, auf demokratischem Wege einen vermeintlichen kosmopolitischen Konsens aufzukündigen, der ohnehin nur als Worthülse existiert? Die Auflösung kosmopolitischer Gewissheiten schreitet auch deshalb so schnell voran, weil viele Kosmopoliten befürchten, dass die Antagonisten am Ende recht behalten werden und dass eine deutliche Verminderung der materiellen Ungleichheit zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden, mit der man Mobilitätsursachen bekämpfen könne, den angenehmen kosmopolitischen Lebensstil im Norden vernichtet. Deshalb betreibt die Regierung die Anti-Migrationspolitik der AfD. Das ist feige, aber im reichen Norden nicht undemokratisch.

Kosmopolitisches Defizit Es ist schwer, auf der Basis der hier berücksichtigten Daten eine präzise Einschätzung der Bedeutung digitaler Medien für den Zustand und die Zukunft der Demokratie vorzunehmen. Zuerst einmal lässt sich konstatieren, dass digitale Medien in der Tat neue chronotopische Erinnerungsstrukturen und neue Erinnerungsakteure begünstigen. Im Vergleich zu elektronischen Medienökologien scheinen digitale Medienökologien  Stevens u. a. ().  Rohrdantz ().

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einer Beschleunigung und Relativierung sozialer Erinnerung Vorschub zu leisten, weil verschiedene, recht banale politische Zeitmodelle, wie zum Beispiel die entleerten Fortschrittsgesten von CDU und SPD, die aktivistische, nostalgische Beharrlichkeit der AfD und die vorauseilende Erinnerung der Grünen in Verbindung mit digitalen Kommunikationstakten eine chronotopische Unübersichtlichkeit schaffen, in der Gleichzeitiges nicht von Ungleichzeitigem zu unterscheiden ist. Und wir wissen nicht, wer die Takte vorgibt. Handelt es sich um genuine Maschinenzeiten oder um soziale Zurichtungen digitaler Technologien, die wir im Prinzip anders gestalten könnten? Darüber hinaus stehen Digital Natives der Medienökologie von  tatsächlich in einem anderen symbiotischen Verhältnis zu ihren Kommunikationsgeräten als die Wähler und Fernsehzuschauer von . Dieser Umstand wirft spannende Fragen für die repräsentative Demokratie auf, die auf den freien Gewissensentscheidungen der Wähler basiert. Sind posthumane Hybride zu dieser Gewissensentscheidung in der Lage? Ab welchem Grad digitaler Vernetzung muss man sich um die Wähler Sorgen machen? Oder sind posthumane Hybride zu konsequenten Gewissensentscheidungen vielleicht sogar besser befähigt, als elektronisch verlinkte Menschen es jemals waren? Wenn man sich die einzelnen dummen Tweets der AfD anschaut, ist es schwer vorstellbar, dass sie irgendeinen Wähler zu einem AfD-Anhänger machen, der es vorher noch nicht war. Aber das ist die falsche analytische Perspektive, denn der mögliche negative (erinnerungs-)politische Effekt entsteht ja erst in der Serialität, Selektivität und Unübersichtlichkeit von unzähligen Posts und Tweets in Kombination mit einem Zustand erheblicher politischer Frustration und ökonomischer Furcht vor sozialem Abstieg. Trotzdem wäre eine Einschränkung politischer digitaler Kommunikation unsinnig, weil der begrüßenswerte Erfolg der Grünen ja mit ähnlichen Medienstrategien und von ähnlichen posthumanen Hybriden bewerkstelligt worden ist. Die Algorithmen der verschiedenen Plattformen entstehen auf undemokratischen und wenig transparenten Wegen, aber sie betreffen alle Parteien. Ich bin nach der tour d’horizon über Webseiten und Netzwerke deshalb davon überzeugt, dass die AfD nicht Wahlen gewinnt, weil sie Medienprofis anheuert, Likes kauft und Bots einsetzt, sondern weil sie die Meinungen vieler Bürger-Hybride wiederspiegelt – Bürger, denen man moralisches oder intellektuelles Unrecht  Zu digitalen Aporien Lagerkvist ().  Ernst () vs. Wajcman ().  Salmela/von Scheve ().

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täte, wenn man sie im Unterschied zu den Wählern anderer Parteien als digital manipuliertes Stimmvieh betrachtet. Der AfD ist es gelungen, eine politische Frage zum Testfall hochzustilisieren. Viele Bürger fühlen sich in Bezug auf die großen Fragen der Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik entmachtet sowie sozial und kulturell entfremdet und wollen jetzt wenigstens darüber entscheiden, wer in ihrem Land leben darf. Die AfD gibt den Anschein, die materiellen, Sicherheits- und Selbstwertbedürfnisse dieser Menschen ernster zu nehmen als andere Parteien, und schlägt daraus Kapital. Auf Plattformen wie Twitter wird in der Tat mit harten Bandagen gekämpft, und komplexe Argumente mögen in diesen Kontexten schwer zu entwickeln sein. Aber der politische Diskurs in Deutschland ist gar nicht durch hohe intellektuelle Komplexität gekennzeichnet. Wenn die Parteien Gelegenheit haben, ihre Vorstellungen auf vielen Seiten in ihren Parteiprogrammen auszubreiten, sind die Ergebnisse auch nicht komplexer oder überzeugender als die Gedankengänge, die Parteiangestellte in  Twitter-Zeichen komponieren. Das Problem liegt woanders. Ein großer Anteil, vielleicht sogar eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung besteht einfach nicht aus überzeugten alten oder neuen Kosmopoliten. Sie sind keine alten Kosmopoliten, weil die NS-Zeit sie nicht mehr betrifft und die Eckpunkte kosmopolitischer Holocausterinnerung ihnen keine überzeugende Hilfestellung zur Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen bieten. Und sie sind keine überzeugten neuen Kosmopoliten, weil die deutsche Gesellschaft weit davon entfernt ist, eine klare Erinnerungs-Mehrheitsmeinung über Menschenrechte und Migration herzustellen, wie es sie in Bezug auf nationalsozialistisches Unrecht wahrscheinlich einmal gegeben hat. Folglich machen die sozialen Netzwerke ein kosmopolitisches Defizit sichtbar, das auch schon ein integraler Bestandteil der Geschichte der Bundesrepublik vor und nach der Vereinigung war, das aber in den von professionellen Gatekeepern beherrschten analogen und elektronischen Medienkontexten mehr oder weniger effektiv verschwiegen werden konnte. Das geht jetzt nicht mehr. Eine zahlenmäßig begrenzte, aber mit Zeit und Eigensinn ausgestattete Minderheit von aktiven Netzwerkern geht ständig auf Gegenkurs und fährt den Politikern in deren kosmopolitische und nationalistische Paraden. Das sich dabei abzeichnende Meinungsspektrum und die so zum Ausdruck kommenden Frustrationserfahrungen korrelieren gut mit Wahlergebnissen und Umfragen zur Parteipolitikverdrossenheit der deutschen  Walter/Isemann ().

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Bevölkerung, der ja nicht verborgen bleibt, dass die Mehrzahl der offiziellen Kosmopoliten im Parlament eine Politik verfolgt, die diesem Kosmopolitismus nicht entspricht. Die Wähler haben zudem ein gutes Gespür dafür entwickelt, dass viele Politiker den Wählern ihren mangelnden kosmopolitischen Enthusiasmus vorwerfen und sie somit für den Widerspruch zwischen schöner Theorie und hässlicher Praxis verantwortlich machen. Dieses schlechte Gewissen will sich das Wahlvolk aber nicht einreden lassen und wählt auch deshalb AfD. So betrachtet leidet die repräsentative Demokratie nicht an einem Mangel, sondern an einem Überschuss an demokratischer Willensbildung.

Die dritte Moderne Im Prinzip lässt sich das migrationspolitische Dilemma durch eine konsequentere Anwendung kosmopolitischer Werte lösen. Wir kennen diese Planspiele. Wir benötigen kulturelle Narrative, die den geographischen Standortwechsel von Menschen als Normalfall honorieren und sie mit entsprechenden Rechten ausstatten. Diese erinnerungspolitische Grundlagenarbeit muss schon beim Begriff Migration anfangen. Die Bewegung von Menschen über Grenzen muss radikal anders gedacht und erinnert werden, als das zurzeit der Fall ist, und zwar insbesondere aus der Perspektive der Migranten selbst. Wie viele Länder in Europa ist Deutschland beim Thema Mobilität erstaunlich und gefährlich vergesslich, und dies nicht erst seit der Einführung digitaler Medien. In sehnsuchtsvollem Streben nach Sesshaftigkeit und nationalstaatlicher Kontinuität fallen beeindruckende Mobilitäts- und Integrationsleistungen deutscher Gesellschaften systematischem Vergessen anheim. Das gilt für die früheren sogenannten Asylkrisen in den er und er Jahre, die allesamt auch keine Krisen waren. Das gilt für die Gäste, die Deutschland zum Arbeiten einlud. Es gilt aber auch für große Teile der Bevölkerung jenseits der Oder-Neiße-Linie, die nach Westen vertrieben wurden, in Bayern und Schleswig-Holstein in der Fremde waren und auch als solche empfangen wurden. In die Reihe der Mobilitätsveteranen sollten sich auch  Die selbstkritisch und kosmopolitisch ausgerichtete Fachliteratur zum Thema Migration ist sehr umfangreich, aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive z. B. Plamper (); aus sozialpsychologischer Perspektive Welzer (); aus philosophischer Perspektive Nail (); und aus medientheoretischer Perspektive Thomas u. a. ().  Wilhelm ().

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  

die vielen deutschen Soldaten einreihen. Einmal (fast) Moskau und zurück – das ist eine mörderische Mobilitätserfahrung, die verarbeitet werden will und Reintegrationsanstrengungen erfordert. Und zu guter Letzt ist in Deutschland im . Jahrhundert noch ein ganzes Land umgezogen. Die meisten Bürger der ehemaligen DDR mögen an Ort und Stelle geblieben sein, aber sie haben trotzdem eine Mobilitätserfahrung gemacht, als sie von der DDR in die vergrößerte Bundesrepublik umsiedelten. Es wäre also nicht nur nützlich, sondern auch ehrlich, wenn Deutschland sich seiner selbst als der Mobilitätschampion erinnern würde, der es ist. Alle diese Migrationserfahrungen sollten doch die Möglichkeit eröffnen, wirkliche, nachhaltige Empathie für Migranten zu entwickeln. Zu einem Zeitpunkt, an dem klassische Einwanderungsländer wie Australien oder die USA ihre positiven und höchst funktionalen kollektiven Mobilitätserinnerungen aufgeben, können Deutschland und Europa sich mit großer Glaubwürdigkeit als Einwanderungsland beziehungsweise -kontinent neu erfinden, weiterhin von Mobilität profitieren, aber gleichzeitig die Reibungsverluste vermeiden, die durch eine mobilitätsfeindliche Erinnerungskultur entstehen. Diese am grünen Tisch entworfene akademische kosmopolitische Utopie wird nie Realität werden, und zwar nicht nur, weil es am guten kosmopolitischen Willen mangelt, sondern weil wir, ohne es so richtig zu merken, in ein drittes Erinnerungszeitalter eingetreten sind, das mit der kosmopolitischen Erinnerung der zweiten Moderne nur noch bedingt kompatibel ist. Das erste moderne Erinnerungszeitalter war das der Nationalstaaten, das von Historikern wie Pierre Nora beschrieben worden ist, das sich auf die antagonistisch strukturierte Medienmacht von Print, Architektur und Film stützte und mit den Katastrophen der Weltkriege ursächlich verknüpft ist. Der Nationalismus der ersten Moderne ist nie verschwunden, aber in den Nachkriegsjahrzehnten erst in Frage gestellt und dann für einen Zeitraum von ungefähr vierzig Jahren von neuen kosmopolitischen Erinnerungsparametern überschattet worden. Das kosmopolitische Erinnerungszeitalter der Jahre  bis , das Daniel Levy und Natan Sznaider so präzise beschrieben haben, ist untrennbar mit den Wirtschafts- und Kommunikationsformen der zweiten Moderne und insbesondere mit dem Fernsehen verbunden. Es basierte auf einem klaren, transnationalen Fortschrittnarrativ und der Erwartung un Haag ().  Nora (-).  Levy/Sznaider ().

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  

begrenzter immaterieller Ressourcen – Menschenrechte und Erinnerung für alle. Seit  ist diese Utopie gescheitert, und zwar in erster Linie an der Frage der Migration. Australien, die USA und die Staaten der EU von Österreich bis Schweden haben Flüchtlinge nicht abgewiesen, weil ihnen die Mittel fehlten, um diese Menschen zu versorgen, sondern, weil selbst in klassischen Einwanderungsländern wie Australien oder den USA und im Hort kosmopolitischer Holocausterinnerung in Deutschland und der EU keine ausreichend kosmopolitisch und nichtrassistisch strukturierten Erinnerungskulturen entstanden sind, damit eine klare Mehrzahl der Bürger dieser Länder bereit wäre, nichtweiße Menschen in Not langfristig bei sich aufzunehmen. In allen diesen Kontexten haben putative Migrationskrisen die Grenzen kosmopolitischer Politik aufgezeigt und die Entstehung neuer, radikal anders strukturierter Erinnerungskulturen der dritten Moderne angedeutet. Ich will diese Erinnerungskulturen in Anlehnung an Chantal Mouffe agonistische Erinnerungskulturen nennen. Mouffe hat ihr agonistisches Politikverständnis als Alternative zum vorherrschenden kosmopolitischen Modell entwickelt. Agonismus im Sinne von Mouffe zielt auf die Stärkung freiheitlich-demokratischer, am linken Flügel des politischen Spektrums angesiedelter politischer Initiativen. Mouffe betont, dass jegliches Bemühen um die Herstellung eines kosmopolitischen Konsensus unrealistisch ist, weil moderne Gesellschaften immer durch eine Vielfalt unüberbrückbarer politischer Meinungen geprägt sind, deren Repräsentanten gegebenenfalls als Gegner anerkannt werden müssen, aber die wahrscheinlich nie in einen kosmopolitischen Konsensus integriert werden können. Ich schätze Mouffes realistische Forderung nach einer Entmoralisierung des Politischen in postkosmopolitischen Kontexten und teile die Hoffnung auf die Entstehung von Grassroots-Bewegungen insbesondere im Umweltschutzsektor. Nach meinem Verständnis entstehen agonistische Erinnerungskulturen der dritten Moderne in einem Bewusstsein begrenzter natürlicher und politischer Ressourcen und der Wahrscheinlichkeit intensiver Verteilungskämpfe um diese Ressourcen. Agonistische Erinnerung im Zeitalter des Anthropozäns stellt Chronologie auf den Kopf. Wir müssen uns jetzt an die noch nicht eingetretenen Umweltkatastrophen der Zukunft erinnern, um sie verhindern zu können. Zudem entsteht agonistische Erinnerung der dritten Moderne in einem Prozess intensiven digitalen kulturellen Austauschs, der in der Tat qualitativ neue poli Mouffe ().

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  

tische Akteure, Zeitstrukturen und auch neue Wirtschaftsprozesse hervorbringt. In dieser digitalen und interaktiven Medienökologie ist die Hegemonie eines kosmopolitischen Fortschrittsnarrativs nicht aufrechtzuerhalten. Und das hat auch mit dem Umstand zu tun, dass die agonistische Erinnerung der dritten Moderne mit einer partiellen, aber ausgeprägten Renationalisierung politischer Kultur einhergeht. Die AfD und ihre internationalen Partner werden uns noch lange erhalten bleiben und müssen im Rahmen der demokratischen Spielregeln als vollwertiger, weil gefährlicher politischer Gegner anerkannt werden. Agonistische Erinnerungskulturen sind deshalb so widersprüchlich, weil sie trotz genuin neuer Elemente durch ausgiebige Remedialisierungen von Inhalten und Formaten der ersten und zweiten Moderne geprägt sind.

Schluss Eine Woche vor der Europawahl im Mai  veröffentlichte der -jährige Influencer Rezo, der vorher durch Comedy- und Musikvideos in Erscheinung getreten war, ein -minütiges Video mit dem Titel »Die Zerstörung der CDU« auf Youtube. Der gründlich recherchierte, schnell geschnittene und ironisch abgefasste politische Vortrag bot eine Generalabrechnung mit Jahrzehnten CDU-dominierter Politik. Rezo bescheinigte der CDU/CSU und der SPD Inkompetenz und umfassendes Versagen in den Bereichen Sozialpolitik, Umweltschutz, Drogenpolitik, Netzpolitik und Außenpolitik. Das Video verzeichnete in einer Woche mehr als zehn Millionen Aufrufe, wurde von vielen Politikern und Journalisten herablassend kommentiert und spielte wahrscheinlich eine wichtige Rolle für den Ausgang der Wahl, insbesondere für das sehr gute Abschneiden der Grünen. Die Rezo-Intervention illustriert die Möglichkeiten agonistischer Politik und anthropozäner Erinnerung. Migration ist kein zentrales Thema im Video, aber während der Diskussion der fehlerhaften Klimapolitik und der in der Zukunft zu erwartenden gro Zuboff ().  Rezo: Die Zerstörung der CDU, https://www.youtube.com/watch?v=YlZQ syuSQ (..).  Justus Bender/Eckart Lohse: Kampf der Filmchen, in: Süddeutsche Zeitung, ...  Holger Dambeck: Der Rezo-Effekt, in: Spiegel Online, .., https://www. spiegel.de/politik/deutschland/rezo-effekt-hat-er-der-cdu-geschadet-oder-dengruenen-genuetzt-a-.html (..).

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  

ßen Anzahl von Klimaflüchtlingen deutet Rezo an, wie Migration in der Zukunft verhandelt werden wird: »Wenn ihr glaubt, dass die Flüchtlinge in den letzten Jahren schon eine ›Flüchtlingskrise‹ waren, dann freut euch darauf. Dann geht’s nämlich nicht mehr um ein paar Millionen, sondern um Hunderte Millionen.« Außereuropäische Immigration wird nicht durch Holocaustgedenken und kosmopolitische Menschenrechte ermöglicht, sondern mit Hilfe anthropozäner Erinnerungsdiskurse aus agonistischem Eigeninteresse unterbunden, und zwar im besten, aber unwahrscheinlichen Fall durch eine Verwaltung globaler Ressourcen, die tatsächliche Fluchtursachen bekämpft. Der Eigensinn, die Viralität und die vorauseilende Erinnerung von posthumanen Hybriden wie Greta und Rezo, die schon jetzt selbst Erinnerungsorte sind, sind unsere letzte Hoffnung – nicht auf eine vernünftige Migrationspolitik, sondern für das langfristige Überleben der Menschheit.

 Wie Anm. .

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Variationen auf die »Stunde Null« des deutschen Antisemitismus M Z Diktaturen, die Antisemitismus in ihren politischen und kulturellen Indoktrinationen benutzen, sind keine Seltenheit. Doch auch demokratische Systeme sind keine Garanten gegen die Verbreitung und Funktionalisierung von Antisemitismus. Zwar scheint a priori die Demokratie das bessere Mittel zu sein, um Antisemitismus einzuschränken und zu bekämpfen. Doch spätestens im heutigen Zeitalter der populistischen Demokratien wird deutlich, wie sich fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen trotz demokratischer Strukturen verbreiten können. Dieser Beitrag befasst sich mit dem historischen Wandel der Wahrnehmung von Antisemitismus und der veränderten historiographischen Interpretation des Antisemitismus in Deutschland nach dem Dritten Reich. Für eine Historiographie des deutschen Antisemitismus gelten die Jahre  und  als Umbrüche:  habe das Ende des Antisemitismus des Dritten Reiches gebracht;  sei der Anfang eines neuen linken Antisemitismus gewesen. Historiker und sonstige Interpreten deutscher Geschichte bewegen sich zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die der These eines besonderen deutschen Antisemitismus als einer »angeborenen« Untugend anhängen, wie sie vor allem von Daniel Goldhagen vertreten wurde. Auf der anderen Seite befinden sich Historiker, die, wie George Mosse, den deutschen Antisemitismus als ein von historisch konkreten Kontexten abhängiges Phänomen verstehen. Diese Polarisierung mag – wenn überhaupt – in den Diskussionen um den deutschen Antisemitismus der Zeit vor  Sinn ergeben. Für die Erforschung des deutschen Antisemitismus nach  ist eine derartige Konstellation irrelevant und überholt. Jedoch: Verlor der Antisemitismus in Deutschland überhaupt an Bedeutung? Oder muss man von einem stets zunehmenden Antisemitismus sprechen, wie es zum Beispiel mit Blick auf Deutschland in Israel häufig geschieht? Für diejenigen, die an Daniel Goldhagens These eines spezifisch deutschen »eliminatorischen Antisemitismus« festhalten, erübrigt sich eine Auseinandersetzung. Allerdings gestand Goldhagen selbst ein: »Das soll keineswegs heißen, dass es einen überzeitlichen deutschen Charakter gibt. Charakterstruktur und kollektive Wahrnehmungsmodelle 442

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der Deutschen haben sich historisch entwickelt und insbesondere nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg dramatisch verändert.« Auch nach Goldhagen steht also der »eliminatorische Antisemitismus« der Deutschen nicht mehr zur Debatte.

Keine »Stunde Null« Dass sich Deutschland nach  vom Deutschland der Jahre unter dem NS-Regime radikal unterscheidet, ist eine Binsenweisheit. Auch darüber, dass es  in vielerlei Hinsicht keine »Stunde Null« gegeben hat, sind sich die Historiker einig. Eine »Stunde Null« hinsichtlich der »Judenfrage« trat schon deshalb nicht ein, weil zum einen das Objekt des Hasses, also die jüdische Bevölkerung, aus Deutschland nicht verschwunden war: Westlich der Oder-Neiße-Linie befanden sich in den Jahren nach  nicht nur etliche während des Krieges untergetauchte Juden sowie solche, die in sogenannter »privilegierter Mischehe« überlebt hatten, oder andere, im NS-Jargon »Mischlinge« genannte Personen, sondern auch jüdische Zwangsarbeiter, die in der letzten Phase des Krieges aus Osteuropa nach Deutschland verschleppt worden waren, sowie immer mehr jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa, die sich als Displaced Persons in Flüchtlingslagern zusammenfanden, und selbst jüdische Rückwanderer aus außereuropäischen Gebieten – insgesamt wohl rund   Menschen. Zum anderen war von der nationalsozialistisch indoktrinierten Bevölkerung keine schlagartige Abkehr vom Antisemitismus zu erwarten. Beide Umstände verhinderten eine wirkliche »Stunde Null«. Dies wäre allerdings auch dann der Fall gewesen, wenn Deutschland tatsächlich, wie es sich das NS-Regime erhofft hatte, »judenfrei« geworden wäre, da Antisemiten bekanntlich keine realen Juden in ihrer Umwelt benötigen, um an ihren Vorurteilen festzuhalten. Auch die Besatzungsmächte konnten keine Garanten für eine Beseitigung des Antisemitismus in Deutschland sein. Während John J. McCloy, der amerikanische Hohe Kommissar für Deutschland zwischen  und , die Präsenz von Juden in Deutschland für eine Garantie der moralischen Rehabilitierung der Deutschen hielt, vermerkte General George

 Goldhagen (), S. , Anm. .  Stern (), S. .  Brenner (), S. .

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 

S. Patton in seinem Tagebuch, DPs seien keine »human beings«, und »this applies particularly to the Jews who are lower than animals«. Was mit Deutschlands Kapitulation allerdings zu einem Ende gekommen war, war nicht nur das Programm der »Endlösung«, sondern auch die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung mit Hilfe staatlicher Gesetzgebung und durch den Staatsapparat. Zu einer Veränderung der Einstellungen gegenüber Juden in der Bevölkerung führten militärische Niederlage und Besatzung jedoch nicht. Gut zwei Jahre nach der Kapitulation meinten  Prozent der Deutschen, dass der Nationalsozialismus eine gute Idee gewesen sei, die aber schlecht umgesetzt worden war. Zur »guten Idee« gehörte der Antisemitismus: Auch nach drei Jahren intensiver Umerziehung hielt ein Drittel der Bevölkerung am Antisemitismus fest.  gaben noch  Prozent offen zu, dass sie es für besser hielten, keine Juden im Land zu haben. Das »Gruppenexperiment« des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zeigte, dass  Prozent der Westdeutschen bedingt bis extrem antisemitisch eingestellt waren. Ein »gutes Drittel der Bevölkerung [war] als klar antisemitisch« einzustufen. Dass die Gefahr aus der rechten Ecke kam, ist eindeutig. Nun sind Umfragen zum Antisemitismus mit Vorsicht zu genießen. Erstens ist schon die Definition des Antisemitismusbegriffs umstritten; zweitens sind Menschen, die absolut frei von antisemitischen (und anderen) Vorurteilen sind, eine absolute Rarität, weshalb sich Forscher auf ein bestimmtes Maß der bei einer Person vorhandenen antisemitischen Positionen einigen müssen, um Antisemiten von Nichtantisemiten unterscheiden zu können. Antworten auf die Frage »Sind Sie Antisemit?« reichen als Kriterium nicht aus. In der Regel werden mehrere Fragen gestellt, die auf verschiedene Komponenten des antisemitischen Syndroms abzielen, wobei erst ab einer bestimmten Zahl von zustimmenden Antworten die Befragten als Antisemiten eingestuft oder in eine Skala von »stark antisemitisch« bis »weniger stark antisemitisch« eingeordnet werden. Die Frage, ob jemand Antisemit ist, hängt ebenso von den Definitionen der jeweiligen Forschungsinstitute und ihren wissenschaftlichen und methodologischen Kriterien ab wie von der populären Vorstellung von     

Stern (), S. . Merritt/Merritt (), S. , , . Stern (), S.  ff. Bergmann/Erb (), S. . Ebd., (), S.  ff.; für Benz () steht der Hauptfeind rechts. Vgl. Rensmann (), S. , -.

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dem, was Antisemitismus eigentlich ist. Will man darüber hinaus die Entwicklung antisemitischer Einstellungen über längere Zeiträume hinweg verfolgen, so fehlen oft sukzessive Umfragen derselben Forschungsinstitute, die kontinuierlich nach gleicher Methodologie durchgeführt wurden. Für die Bundesrepublik bis in die er Jahre darf man trotzdem mit Gewissheit von einem Rückgang des Antisemitismus – beziehungsweise von einer »abnehmenden Stereotypisierungsneigung gegenüber Juden« – sprechen und muss gleichzeitig von einem harten Kern von Antisemiten ausgehen, der »nur« etwa  Prozent der Bevölkerung ausmachte. Im Vergleich schneiden Juden dabei verhältnismäßig gut ab: Unter den Personengruppen, mit denen man »nichts zu tun haben wolle«, so eine Allensbach-Umfrage von , nannten nur  Prozent Juden, dagegen  Prozent Türken und  Prozent Araber. Alphons Silbermann, der  seine Studie Sind wir Antisemiten? vorlegte, in der er warnte, dass der latente wie auch manifeste Antisemitismus sich »in der Nähe der Möglichkeit eines explosiven Konflikts« bewege, gab jedoch zu, dass der Antisemitismus »derzeit kein ›greifbares‹ Problem« sei. Dieser Antisemitismus war eindeutig eher auf dem rechten Flügel zu finden: Etwa  Prozent der NPD-Wähler und circa  Prozent der Unionswähler, so eine EMNID-Studie von , waren stark antisemitisch eingestellt, während dies auf nur ungefähr neun Prozent der SPD-Wähler und auf weniger als vier Prozent der Grünen-Wähler zutraf .

Umbruch  Der Befund einer Kontinuität antisemitischer Einstellungen ist umso wichtiger, als in der Rückschau immer wieder davon ausgegangen wird, dass es mit dem Jahr  zum zweiten Umbruch in der Geschichte des deutschen Antisemitismus gekommen sei. Norbert Frei, der die Aversion gegenüber Politikern mit brauner Vergangenheit als zentrales Merk     

Vgl. Bergmann/Erb (), S. , . Ebd., S. . Silbermann (), S. . Ebd., S. . Bergmann/Erb (), S. -. Damit wird nicht gesagt, dass der rechtsorientierte Antisemitismus als Gegenstand der historischen Forschung fortan ausgeklammert wurde; vgl. z. B. die Beiträge in Botsch ().

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 

mal der »Achtundsechziger« hervorgehoben hat, spricht von der »Geburt einer Generation aus dem Geist der NS-Kritik«. Demzufolge hätten sich die Achtundsechziger gegen den Antisemitismus der Eltern positionieren und den nach  noch nicht wirklich eingetretenen Bruch mit dem alten Antisemitismus radikal vollziehen müssen. Für einige Gruppierungen auf dem linken Flügel verhielt es sich jedoch anders: Im Rahmen der Abrechnung mit der Elterngeneration führten antiimperialistische und antiamerikanische Tendenzen – Jürgen Habermas sprach vom »linken Faschismus« – schließlich zu antiisraelischen und dann antisemitischen Vorfällen. Es war die am . November  gelegte »Bombe im jüdischen Gemeindehaus« in der Berliner Fasanenstraße, die am deutlichsten eine assoziative Verbindung zwischen der Neuen Linken der Achtundsechziger-Generation und dem Antisemitismus aufzeigte. In diesem konkreten Fall steckte hinter dem Anschlag Dieter Kunzelmann mit der Terrorgruppe Tupamaros West-Berlin, die nicht nur den Staat Israel, sondern auch den »simplen Philosemitismus« durch Solidarität mit der palästinensischen Fatah-Bewegung treffen und zerstören wollte. Zehn Jahre nach den Hakenkreuzschmierereien von  zeigte hier der deutsche Antisemitismus wieder seine Fratze – diesmal auf der linken Seite. Doch die relevante, allzu oft vergessene Frage wurde von Norbert Frei zu Recht gestellt: »Soll man eine perverse Idee, die neue Linke auf diesem Wege von ihrem unterstellten philosemitischen ›Judenknax‹ zu heilen, wirklich als Indiz für deren latent ungebrochenen Antisemitismus verstehen […] oder [als] Zerfallsprodukt der ›er-Bewegung‹?« Und Frei gab darauf eine deutliche Antwort: Erstens sei den Vertretern der Achtundsechziger ihre Nähe zum Antisemitismus nicht bewusst gewesen; zweitens könnten die Extremisten innerhalb der Szene nicht als repräsentativ gelten. Heute dominiert dagegen die Vorstellung vom Durchbruch eines linken Antisemitismus nach . Sicher streitet niemand völlig ab, dass Antiimperialismus und Antiamerikanismus der Protestbewegung bisweilen Hand in Hand mit einem Antizionismus gingen, der sich durchaus altbekannter antisemitischer Stereotype bedienen konnte. Zudem war auch der linke Antikapitalismus nicht selten antisemitisch gefärbt, wie die Debatte um die Aufführung des Fassbinder-Stücks Die Stadt, der Müll und der Tod in Frankfurt  zeigte. Die pauschalisierende    

Frei (a), S. . Kraushaar (), S. . Vgl. dazu Kraushaar (). Frei (a), S.  ff.; vgl. Brumlik ().

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Vorstellung einer antisemitischen Linken gewann jedoch erst nach dem Umbruch von  stärker an Zustimmung, als die liberale Demokratie Sozialismus und Kommunismus »besiegt« hatte und der Weg zu groben antilinken Interpretationen auch für die Geschichte des Westens frei geworden war. Immer öfter wurde nach  der Satz zitiert, mit dem Jean Améry  den Linken »Anti-Israelismus, Anti-Zionismus in reinstem Vernehmen mit dem Antisemitismus von dazumal« vorgeworfen hatte. »Neu«, so Améry schon damals, »ist in der Tat die Ansiedlung des als Anti-Israelismus sich gerierenden Antisemitismus auf der Linken.« Der Antisemitismus stehe im Begriff, »ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin« zu werden. Und weiter: »Fest steht: der Antisemitismus, enthalten im Anti-lsraelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar.« Diese Metapher Amérys wurde zum Wegweiser für Kritiker der linken Kritiker des Staates Israel in den Jahrzehnten seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Das Jahr  kann also durchaus als Ausgangspunkt für die historiographisch pauschalisierende Bewertung eines Zusammenhangs zwischen dem linken politischen Spektrum, gleichgesetzt mit Sozialismus, und antisemitischem Gedankengut herangezogen werden. Der kritische Blick von Historikern und anderen Gelehrten richtete sich zunächst auf die Nähe des radikalen Sozialismus im Westen zur DDR beziehungsweise zur UdSSR, später ging es um die gesamte Geschichte der Beziehung des Sozialismus zum Antisemitismus. Ein Beispiel ist das  veröffentlichte Buch des Soziologen Thomas Haury, Antisemitismus von Links. Als habe es nicht schon genügend Literatur über das Wesen des Antisemitismus gegeben, bietet Haury eine angeblich bislang fehlende Charakterisierung des Antisemitismus, an die er nicht nur eine Interpretation der DDR als in ihren Anfängen antizionistisch mit einem antisemitischen Unterbau anschließt. Vielmehr entwickelt er darüber hinaus die These einer prädestinierten Nähe des Sozialismus zum Antisemitismus und eines seit Ende des . Jahrhunderts vorhandenen Antizionismus als Fundament dieses Antisemitismus. Wenn sich bereits bei Marx, Kautsky, Lenin und etlichen anderen Theoretikern – Haury spricht von »Affinitäten der marxistisch-leninistischen Ideologie zu antisemitischen Denkmustern« oder vom »marxistisch-leninistischen Antizionismus als prototypischem Antisemitismus nach Auschwitz« – eine »Nähe zum Antisemitismus« aufzeigen lässt, dann fußt nicht nur die junge, sondern auch die spätere  Jean Améry: Der ehrbare Antisemitismus, in: Die Zeit, ...  Haury () S. ,  ff.

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  DDR, die Linke im Westen und letztlich der gesamte Sozialismus von

Anbeginn an auf dem Grundpfeiler der »Antisemitismusnähe«. Mit oder ohne Absicht – in dieser These ist zwangsläufig die Relativierung des Antisemitismus der Rechten vorprogrammiert.

Begriffsverschiebungen Schaut man auf den deutschen Umgang mit dem Antisemitismus nach dem Dritten Reich, so zeigt sich, dass sich im Laufe der Zeit vor allem die Definition von Antisemitismus verschoben hat. Es waren nicht nur die Begriffe des Antizionismus und des Antiisraelismus, die zu einer Ausweitung des Antisemitismusbegriffs beigetragen haben. Die Debatten um Antisemitismus haben nach  – und zwar weltweit – nicht nur darunter gelitten, dass sie im Schatten der Traumata der Shoah geführt wurden, sondern auch darunter, dass der Begriff selbst, als Instrument der Forschung und nicht zuletzt infolge des Schocks der Shoah, um zwei Elemente erweitert und modifiziert wurde: um den sogenannten »sekundären Antisemitismus« und den »antizionistischen« beziehungsweise »israelbezogenen Antisemitismus«. Unter »sekundärem Antisemitismus« ist das nach dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich in Deutschland entstandene Vorurteilsmotiv zu verstehen, das sich aus der »Diskrepanz zwischen dem Wunsch […] nicht erinnert zu werden und der beständigen Konfrontation mit dem deutschen Verbrechen ergibt«, also die »Reaktionsbildung auf die Probleme im Umgang mit der NS-Vergangenheit«. Die Diskussion um Ausmaß und Charakter des Antisemitismus in Deutschland nach  ist auch deswegen erschwert, weil laut Statistik die Zahl der Anhänger eines »klassischen« Antisemitismus wesentlich kleiner ist als die Zahl der Vertreter eines »sekundären Antisemitismus«. Das Jahr  – oder eigentlich schon , das Jahr des SechsTage-Kriegs im Nahen Osten – spielt diesbezüglich insofern eine entscheidende Rolle, als die linken Rebellen sich neu zu den Verbrechen  Das geht weit über Leuschen-Seppel () hinaus. Es ist auch ironisch, dass Vertreter dieser Interpretation sich spät an die Publikation des israelischen Wirtschaftshistorikers Edmund Silberner erinnerten; vgl Silberner (). Weniger verwunderlich ist der Versuch, den Antisemitismus unter den Erben der SED aufzuwerten; vgl. Salzborn/Voigt (), S. -.  Bergmann/Erb (), S.  f., ; vgl. auch Rensmann ().  Schüler-Springorum (), S. .

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der Elterngeneration positionieren wollten. Nur verschwand damit bei Linksradikalen der sekundäre Antisemitismus nicht, sondern änderte seine Zielrichtung: Statt die Verbrechen der Shoah zu leugnen, wurde der Spieß umgedreht, um auf die Parallelen zwischen Israels Funktion als Handlanger des Imperialismus gegen die Palästinenser als Opfer einerseits und den Verbrechen der Nationalsozialisten andererseits hinzuweisen. Auf die Nähe der neuen Generation zum Gedankengut der Generation der Täter haben bekannte ehemalige Achtundsechziger wie Götz Aly und andere aufmerksam gemacht und somit nolens volens den Gegnern einer Neuen oder Alten Linken Schützenhilfe geleistet. Im Umgang mit dem Thema des Antisemitismus nach  fügte sich somit der Antizionismus als eine zweite neue Komponente schon mit der Gründung des Staates Israel  und aus linker Sicht besonders stark seit / nahtlos an die erste Komponente an; der Antizionismus beziehungsweise der israelbezogene Antisemitismus konnte sich als Ausdruck eines sekundären Antisemitismus darstellen. Doch griff man hier letztlich aus politischen Motiven zu einem methodologischen Konstrukt: Mit den Begriffen des Antizionismus oder des israelbezogenen Antisemitismus schuf man eine unpräzise und leicht manipulierbare Terminologie. Außerdem wurden die beiden neuen Elemente stärker – jedenfalls langfristig – mit Linken oder Sozialisten assoziiert. Und schließlich wurden die Unterschiede zwischen Antizionismus und Antisemitismus ignoriert. Darüber hinaus sah man nicht, dass herkömmliche »klassische« Antisemiten durchaus prozionistisch eingestellt sein können. Und zu guter Letzt übersah man auch, dass die Demokratien seit dem Fall der Mauer mehr von rechts als von links gefährdet sind. Nicht nur die Verknüpfung von Antisemitismus und Antizionismus nach  hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es ist auch unbestreitbar, dass Radikale auf Seiten der Neuen Linken sich im Antizionismus oft unter Verwendung von antisemitischen Stereotypen positionierten. Hierbei wurde aber meist vergessen, dass linke Antizionisten nicht unbedingt Antisemiten sein und auch nicht unbedingt einen sekundären Antisemitismus pflegen müssen. Durchaus gab es unter ihnen einige, die zur Rettung von Juden vor der »Gefahr des Zionismus« auf-

 Aly (), S. - (»Linker Schuldabwehr Antisemitismus«); Brumlik/Kiesel/ Reisch ().  Kloke (), S. ; vgl. auch Kloke ().

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riefen, oder andere, die selbst Juden waren. In einer typischen Zusammenfassung der Position eines jüdischen Linken aus dem Jahr  heißt es: »Der Zionismus ist eine reaktionäre, großbürgerliche, nationalistische Ideologie, die von Beginn im Dienst des Imperialismus gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung« gestanden hat. Als diese Zeilen geschrieben wurden, stufte man sie noch nicht automatisch als antisemitisch ein. Auch  Jahre später ging die Antisemitismusforschung davon aus, dass Antisemiten zwar deutlich zum Antizionismus tendierten, dass man andererseits aber »eine große Gruppe von Antizionisten erkennen [könne], die keine antisemitischen Überzeugungen geäußert hat […]. Die negative Haltung zu Israel wird also nur zu einem Teil über Antisemitismus erklärt.« Dass die Verbindung tatsächlich nicht eindimensional verlief, zeigen zwei Akteure dieser Zeit. Dan Diner wies  darauf hin, dass Sozialisten deswegen die Gründung eines Judenstaates ablehnten, weil diese Gründung für sie Verrat an dem »angedienten heilsgeschichtlichen Auftrag« von Juden bedeutete. Und Moishe Postone stellte fest, dass keine »westliche Linke vor  in dem Maße philosemitisch und prozionistisch« gewesen war, »wie sie nach dem Sechs-Tage-Krieg propalästinensisch war«. Nach  konnten dann jedoch Antisemitismusforscher ebenso wie andere Intellektuelle zum Frontalangriff gegen die Linke übergehen und dabei auch die nach  im Westen existierende Linke jenseits einer radikalen Linken im Sinn haben, welche als solche nun eher zu einer Randerscheinung geworden war. »Keine Linke war vor  so proisraelisch, keine war danach so antizionistisch wie die deutsche«, lautet Haurys Variation auf Postones Äußerung. Für ihn war jedoch die Haltung vor  keine Tugend, sondern bloß der Ausdruck von »schlechtem Gewissen« und »Befangenheit«. Thomas Haurys Fazit lautet daher: »Als gesellschaftlich geprägte Individuen sind ›Linke‹ potentiell so nationalistisch und antisemitisch wie die sie umgebende Gesellschaft.« Obwohl sozialistische und sozialdemokratische Linke nach  zunehmend  Zu Äußerungen wie »Die Zionisten lehnen die Bekämpfung des Antisemitismus ab« oder »Neben dem Antisemitismus [stellt] auch der Zionismus eine Gefahr […] für das Leben der Juden [dar]« vgl. Billen (), S. , .  Goldberg (), S. ; der zionistische Sozialismus sei demnach nur Tarnung und Lippenbekenntnis gewesen.  Bergmann/Erb (), S.  f.; das wird auch von Schwarz-Friesel/Reinharz (), S. , akzeptiert.  Diner (), S. ; Diner (), S. -; Postone (), S. -.  Haury (), S. , .

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nicht nur angeschlagen, sondern in der Politik geradezu abgeschlagen sind, schuf die Kritik an einem realen oder vermeintlichen linken Antisemitismus eine zweifelhafte Symmetrie von links und rechts. Während man der Linken vorwirft, sie nutze den Antizionismus als Plattform der Auseinandersetzung gegen den Kolonialismus, benutzen die Kritiker der Linken selbst den linken Antisemitismus als Plattform in ihrem Kampf gegen den »Erzfeind« von links. Eine paradoxe Variante bildeten die Antideutschen, die mit ihrem fanatischen angeblichen Prozionismus den Gegnern der Linken Scheinargumente verschafften.

Nach dem Kalten Krieg Nach den zeitlichen Umbrüchen von ,  und  veränderte sich die Antisemitismusdebatte insbesondere in Deutschland erneut. Seither spielte der »sekundäre Antisemitismus« und noch stärker der »israelbezogene Antisemitismus« im Gesamtbild eine immer wesentlichere Rolle, und zwar vor allem deshalb, weil sie als Argumente oder Einwände sowohl gegen linke Positionen als auch gegen Muslime oder Kritiker der israelischen Politik effektiv eingesetzt werden konnten. Der Zusammenbruch des Sozialismus , die Ereignisse vom . September  und schließlich die sogenannte Flüchtlingskrise von  beförderten in der siegreichen neoliberalen und zum Populismus tendierenden Demokratie eine Rückschau, die die gesamte Linke in eine Nähe zum Antisemitismus bringen wollte. Mit der Zeit verwandelte sich der Vorwurf gegen die Neue Linke der Achtundsechziger, der Antizionismus und Antisemitismus gleichgesetzt hatte, in einen pauschalen Vorwurf gegen Linke in Vergangenheit und Gegenwart, wobei häufig die auf Israel Bezug nehmende Kritik – oder vielleicht besser: die Kritik an der israelischen Politik – nahezu automatisch für Antisemitismus schlechthin gehalten wird. Das ging nun weit über das hinaus, wogegen Jean Améry  aufbegehrt hatte: »Wer die Existenzberechtigung des Staates Israel in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, dass er bei einer Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewusst auf dieses Über-Auschwitz hin.«  Als Beispiel mag gelten: Thomas Assheuer: Antisemitismus – Linke Parteien und Bewegungen fördern das Ressentiment gegen Juden, in: Die Zeit, ...  Imhoff gibt zu, dass er für sein Vorhaben »antideutsche Literatur als Hilfsmittel« benutzt hat; vgl. Imhoff (), S. .  Améry (), S. .

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Die Wende von  bescherte der systematischen Antisemitismusforschung zunächst eine Überraschung: Angesichts der antizionistischen Politik und Propaganda der DDR war nach der Vereinigung Deutschlands ein stärkerer Hang zum Antisemitismus bei den Ostdeutschen zu erwarten gewesen. Eine EMNID-Studie von  ergab jedoch, dass  Prozent der Westdeutschen, aber nur vier Prozent der Ostdeutschen antisemitisch eingestellt waren, während eine Studie der AJC von , Prozent gegenüber , Prozent ausging. Beide Studien zeigten also einen »signifikant kleineren Prozentsatz an Antisemiten unter den Ostdeutschen« auf . Es könnte wohl sein, dass gerade die Entthematisierung von Juden in den Zeiten der DDR zur Verdrängung von antisemitischen Stereotypen geführt hat. Ob es die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in den neuen Bundesländern waren, die zur kritischen Verarbeitung der Vereinigung benötigte Zeit oder noch stärker das Aufkommen einer populistischen Demokratie – deutlich jedenfalls ist, dass auch zu Beginn des . Jahrhunderts zunehmend systematisch versucht wird, den Antisemitismus auf dem linken Flügel zu suchen. Dies geschieht vermutlich im Zuge der neoliberalen und neokonservativen Abrechnung – nicht allein in Deutschland – mit allem, was Sozialismus oder »links« zu sein scheint. Zu dem erwähnten Werk von Haury von  traten der  publizierte Sammelband Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland sowie die Publikationen Antisemitismus in der Linken von Maximilian E. Imhoff und Zwischen Antisemitismus und Israelkritik von Timo Stein, die beide  auf den Markt kamen. Phillip Gessler sprach zudem  vom Fortleben des linken Antisemitismus selbst nach . Darüber hinaus wurde das Thema schließlich vierzig Jahre nach »Achtundsechzig« nochmals mit gesteigerter Intensität in Angriff genommen. Gegen einen kritischen Umgang mit antisemitischen Tendenzen der Achtundsechziger oder der DDR ist nichts einzuwenden, sehr wohl aber gegen den Versuch, auf diesem Wege den Mythos »Achtundsechzig«  Spiegel Spezial. Juden und Deutsche, Heft /, S. ; Bergmann/Erb (), S. ,  f.  Imhoff ().  Stein ().  Gessler (), S. -.  Vgl. Berliner Debatte Initial  (), H. -; das Heft ist dem Thema Antisemitismus gewidmet und setzt den Schwerpunkt auf die Bereiche Israelkritik und Antisemitismus; vgl. auch die in Anm.  genannten Beiträge.  Langguth (); vgl. auch Timm ().

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zu bekämpfen und pauschal »Linke« mit Hilfe des Antisemitismusvorwurfs zu diskreditieren – zumal wenn dabei auf eine weit jenseits des klassischen Verständnisses liegende Definition des Antisemitismus zurückgegriffen wird. Zu den Merkmalen oder Variablen des Antisemitismus sollten, so postuliert Imhoff, auch das Hinterfragen des Begriffs der »jüdischen Nation« oder die Erwähnung des Begriffs »Apartheid-Staat« mit Blick auf Israel gehören. Im gleichen Atemzug setzt der Verfasser die Wortkombination »palästinensisches Volk« in Anführungszeichen, womit er dem Leser allerdings die Mühe erspart, seine detaillierte Statistik zu verfolgen, da spätestens an dieser Stelle klar wird, dass es sich bei Imhoffs Publikation um eine Propagandaschrift gegen »die Linke« schlechthin handelt. Imhoff geht zudem einen entscheidenden Schritt weiter, wenn er gerade auf die Linksradikalen schaut, um zu erfahren, »wie weit Antisemitismus dabei unter Linken diffundiert«. Es kann daher nicht verwundern, dass Imhoffs »Konklusion« lautet: »Israelkritik, PalästinaSolidarität und Antisemitismus bezeichnen dasselbe Phänomen.« Diese Sichtweise gewann seit  global an zusätzlicher Popularität und Verbreitung. Einer der schärfsten Kritiker des linken Antisemitismus ging  davon aus, dass die »Beschäftigung mit Antisemitismus in der Linken […] chic geworden« ist. In dieser Konsequenz konnte Thomas Assheuer  dem linken Lager Europas vorwerfen: »Wie so oft kommt der linke Nationalismus nicht allein, er kommt mit seinem Double, dem antisemitischen Ressentiment«, als wäre der linke Antisemitismus nicht weitaus weniger verbreitet als der rechte und eine bloße Nachahmung des letzteren. Die ausführlichste Auseinandersetzung mit dem  Imhoff (), S.  f., .  Ebd., S. ; vgl. Aebersold/Longchamp (), S. ; diese Studie untersucht die Verhältnisse in der Schweiz und kommt zu dem Schluss, man müsse die im Titel gestellte Frage verneinen; Imhoff (), S. , vermutet Antisemitismus auch ausdrücklich bei den Wählern der Partei Die Linke in den alten Bundesländern.  Imhoff (), S. .  Vgl. Pollack (); Hirsch (); besonders aggressiv ist Gerstenfeld (); auch unter Theologen und Kirchenvertretern sind derartige Positionen anzutreffen. Dagegen Ekkehard W. Stegemann/Wolfgang Stegemann: Offener Brief an SEK und EKD, .., in: AudiaturOnline: https://www.audiatur-online. ch////offener-brief-an-sek-und-edk/.  Stephan Grigat: Antisemitismus und Antizionismus in der Linken, Vortrag vom .., http://bgaa.blogsport.de/texte/stephan-grigat/antisemitismus-und-anti zionismus-in-der-linken/.  Thomas Assheuer: Antisemitismus – Linke Parteien und Bewegungen fördern das Ressentiment gegen Juden, in: Die Zeit, .., S. .

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Thema Antisemitismus und Demokratie in Deutschland von , die den Schwerpunkt auf den rechten Antisemitismus legte und hierbei auch klare Unterscheidungen zwischen radikalen und nichtradikalen Gruppierungen bezüglich einer antisemitischen Haltung bei der Rechten und bei der Linken vorgenommen hatte, scheint wirkungslos geblieben zu sein. Selbst wenn rechter Antisemitismus als Gegenstand des allgemeinen Interesses nicht verschwand – die angebliche Symmetrie zwischen linkem und rechtem Antisemitismus ist grundlegend falsch, und zwar nicht nur, weil die Warnung »Dieser Feind steht rechts« noch immer gilt, sondern weil gegenwärtig alles, was links steht, politisch abgeschlagen ist, während sich die nationalistische, populistische und protofaschistische Rechte auf dem Siegeszug befindet. Zusätzlich konnte zwischen  und  in diesem Kontext eine neue perspektivische Ausrichtung eine starke Anhängerschaft gewinnen: Ursache und Wirkung eines Antisemitismus wurde zunehmend einheimischen Muslimen und muslimischen Flüchtlingen zugeschrieben. Dieser Ansatz hat die frühere Polemik gegen die Linke nicht ersetzt, sondern in einen neuen Gesamtkomplex integriert. Da linker Antisemitismus stark mit Antizionismus assoziiert wird und muslimische und islamistische Antisemitismen ebenfalls deutlich von israelfeindlichen Positionen gekennzeichnet sind, konnten selbsternannte Anti-Antisemiten Muslime und Linke gewissermaßen auf einer Linie angreifen. Auch darf es nicht verwundern, dass Martin Kloke, einer der hartnäckigsten Streiter gegen Antisemitismus von links, folgende Bemerkung relevant fand: »Nach  gab es in der arabischen Welt zahlreiche Versuche, nationalsozialistische und faschistische Parteien zu gründen«. Natürlich dürfte bekannt sein, dass die Mitgliederzahlen entsprechender Parteien in den europäischen christlichen Ländern erheblich höher waren als in arabischen Staaten. Kloke richtet den Blick auf die Vergangenheit, um dann auf die Gegenwart zu schauen, in der die Islamische Republik Iran die größte antisemitische Gefahr verkörpere. Hier schließt sich aber der Kreis: Die angeblich zum linken Lager gehörenden Antideutschen halten die Palästinenser für die schlimmsten Antisemiten.

 Rensmann ().  Grigat ().  Kloke (), S. .

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Antisemitismus und Islam Rechtsorientierte und Populisten in der neoliberalen Demokratie fanden somit ein geeignetes Mittel, um auf mehreren Ebenen ein Gegeneinander von einem »Wir« und »den Anderen« zu konstruieren, und zwar mit Kollateralschaden: Der Antisemitismus auf dem rechten Flügel, der ja weiterhin das Rückgrat des Antisemitismus blieb, wurde relativiert. Seit dem . September  schob sich ein – angeblich zwischen der christlichen und muslimischen Welt herrschender – »Kampf der Kulturen« in den Vordergrund des öffentlichen Bewusstseins. Einerseits wurde im Zuge dieser Dichotomie die jüdische Kultur zur Partnerin einer »jüdisch-christlichen« Wertegemeinschaft erklärt – in der Absicht, Juden als Partner im Kampf gegen Muslime und »den Islam« zu gewinnen (auch Thilo Sarrazin hatte sich mehr Juden und weniger Türken gewünscht); andererseits wurde eine vorgeblich jüdisch-muslimische Gegnerschaft und der Antisemitismus im Islam – im Kontext des Nahostkonflikts sicherlich ein akutes Problem – hochgespielt. Den Ton gab hier bereits  der namhafte Historiker Bernard Lewis an. Gewichtige Forscher wie Jeffrey Herf, Robert Wistrich und andere folgten dieser Richtung, und auch in Deutschland konnten vergleichbare Positionen zahlreiche Anhänger gewinnen. Der AfD kommt diese Interpretation nun außerordentlich gelegen: Der Kampf gegen Antisemitismus wird zynisch als Sprungbrett instrumentalisiert, um die Bundesregierung wegen ihrer Flüchtlingspolitik anzugreifen. Die AfD gibt dabei zu verstehen, dass sie selbst es sei, die den Kampf gegen den Antisemitismus im Dienste der Demokratie führe. Auf der  »Die Zustimmung zu Positionen der AfD und neurechte Positionen […] sind empirisch ebenfalls eindeutig mit Antisemitismus verknüpft«, Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Deutscher Bundestag Drucksache /, .., S. .  Lewis ().  Herf (); vgl. auch Herf ().  Wistrich (); Wistrich (); vgl. auch weitere Aufsätze im ersten Band der neuen Zeitschrift Antisemitism Studies, Jg. .  So z. B. der Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland Klaus Holz; vgl. Holz ().  Ein Beispiel ist die Rede des Bundestagsabgeordneten Dr. Anton Friesen zum FDP-Antrag zum Verhalten bei Israel-Abstimmungen bei den Vereinten Nationen am ..: Deutschland betreibe »eine Migrationspolitik, die den massenhaften Import von Antisemitismus ermöglicht«; es müsse zuerst die »am schnellsten wachsende Form des Antisemitismus« bekämpft werden, nämlich der »islamische Antisemitismus«. https://www.bundestag.de/dokumente/text

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anderen Seite hinterlassen besonnene Stimmen aus der Forschung kaum Spuren im Alltagsdiskurs. Medien und Politik in der Bundesrepublik unterstützen derartige Positionen nicht zuletzt, weil die nationalistische Regierung in Israel dieses Verständnis von Antisemitismus ebenfalls stark funktionalisiert und fördert: Das offizielle israelische Narrativ zur Relevanz antisemitischer Positionen und ihrer Gefährlichkeit nennt an erster Stelle den arabischmuslimischen Antisemitismus, dann den linken Antisemitismus und erst an dritter Stelle den Antisemitismus des rechten politischen Spektrums. Der Hinweis auf die berüchtigte Nähe zwischen Adolf Hitler und dem Jerusalemer Großmufti Mohammed Amin al-Husseini ist ein gern benutztes Argument der israelischen Politik in der Auseinandersetzung mit Vertretern der im israelischen Jargon »links« genannten Positionen, die einen Dialog mit Palästinensern befürworten. Eine von der israelischen Regierung geforderte Konzentration der Aufmerksamkeit auf ein Verbot der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) oder anderer Initiativen, die sich gegen Israels Siedlungspolitik richten, verleitet Laien wie Fachleute und Politiker dazu, Muslim- oder Araberfeindlichkeit mit antilinken Haltungen zu vermischen. Die offizielle Haltung der israelischen Politik nimmt dabei auch Einfluss auf die Reaktionen deutscher Politiker. Die Arte-Dokumentation Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa von , in der Propagandisten der israelischen Politik ohne Angaben über ihre offizielle Funktion unkommentiert auftraten, ein Buch, das von einem ehemaligen Militärsprecher und gegenwärtigen Mitarbeiter des israelischen Ministeriums für Nachrichtendienst  auf Deutsch veröffentlicht wurde, oder der Beschluss des archiv//kw-de-deutschlands-abstimmungsverhalten-un-. Vgl. auch den Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Verbot der BDS-Bewegung vom Mai .  Sebastian Dörfler: »Ventil der Gefühle«. Im Gespräch. Antisemitismusforscher Detlev Claussen über Proteste gegen Israel, Hass auf Juden und schärfere Gesetze, in: der Freitag, /, https://www.freitag.de/autoren/liebernichts/ventil-der-gefuehle; Berek (), S. : »Es fanden sich keine Belege für einen auf die Geflüchteten aus den MENA Ländern zurückzuführenden Anstieg antisemitischer Vorfälle.«  »What a disgrace«, in: Times of Israel, ..: »›Anti-Semitism from the right is not a new phenomenon there. What is new in Europe is the combination of Islamic anti-Semitism and the anti-Semitism of the extreme left, which includes anti-Zionism, such as has recently occurred in Great Britain and in Ireland,‹ he [Netanyahu] said.«  Shalicar ().

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Bundestags gegen BDS vom . Mai  sind gute Beispiele. Stimmen aus der israelischen Linken, die sich gegen derartige Tendenzen erheben, finden dagegen allgemein nur wenig Gehör. Ob das von einem Neonazi im Oktober  verübte Attentat auf eine Synagoge in Halle zum Weckruf wird, steht noch offen. Nach , , ,  und nun auch nach  steht fest: Das Vorurteil namens Antisemitismus hat die Zeitenwenden und Umbrüche überstanden, auch wenn es im Katalog dominierender Vorurteile nicht mehr an führender Stelle steht. Das Fazit des Expertenkreises des Bundestags von  lautet klar: »Im historischen Vergleich mit der Zeit vor , aber auch mit den letzten  Jahren in Deutschland […] war der offene Antisemitismus gesamtgesellschaftlich wohl selten so sehr an den Rand gedrängt wie heute.« Man spricht von einer »stabilen Situation, was die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung betrifft«. Doch auch wenig Antisemitismus ist immer noch zu viel Antisemitismus. Mit Anspielung auf Adornos Diktum kann man sagen, dass das Nachleben des Antisemitismus in einer Demokratie, unter Vortäuschung demokratischer Haltungen, bedrohlicher ist als das Nachleben des Antisemitismus in einer Nicht-Demokratie. Entscheidend für den Umgang der Demokratie mit diesem Vorurteil ist daher, Wort und Prinzipien der Demokratie nicht einem Missbrauch anheimfallen zu lassen; der Versuchung zu widerstehen, die Ursache dieses Nachlebens auf der falschen – linken – Seite zu suchen, hellhörig zu werden bei Stimmen – jetzt auch im globalen Netz und in den sozialen Medien – aus der rechten, nationalistischen, populistischen Ecke und sich verstärkt um die »Mitte der Gesellschaft« zu kümmern. Antisemitismus ist ein wesentliches Element des globalen Rechtsrucks, der »auch Deutschland erfasst hat« und vor dem Norbert Frei in seinem Beitrag in der Publikation Zur rechten Zeit ausdrücklich warnt.

 Zuckermann ().  Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Deutscher Bundestag Drucksache /, .., S. ; diese Einschätzung gilt auch für /, entgegen dem aus Medienberichten im Allgemeinen zu gewinnenden Eindruck.  Schwarz-Friesel (), S. ; vgl. auch Schwarz-Friesel ().  Je rechtsstehender, desto antisemitischer ist auch der israelbezogene Antisemitismus; vgl. Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Deutscher Bundestag Drucksache /, .., S. .  Frei/Maubach/Morina/Tändler (), Einleitung.

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Autorinnen und Autoren V B ist emeritierter Professor für Geschichte in New York. W B ist Professor für Zeitgeschichte in Warschau. M B ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur in München und Professor für Israel-Studien an der American University in Washington, D.C. D C ist emeritierter Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie in Hannover. E C ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Marburg. C D ist Professorin für Neuere Geschichte in Jena. D D ist emeritierter Professor für Moderne Geschichte in Jerusalem und für jüdische Kultur und Geschichte in Leipzig. J S. E ist Professor für Geschichte in Berlin. T F ist stellvertretender Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main. S F ist emeritierter Professor für Geschichte in Los Angeles. M F ist Professorin für Deutsche Geschichte in London. R G ist Präsident des Deutschen Historischen Museums in Berlin. A G ist Professorin für Geschichte in New York. J H ist emeritierter Professor für Philosophie in Frankfurt am Main. H J ist Professor für Europäische Geschichte in Princeton. 489

  

W K ist Professor für Kultur- und Gesellschaftsgeschichte in Aarhus. V K ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit in Jena. W K ist Professor an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät in Frankfurt an der Oder. T K ist Professor für Historische Erziehungswissenschaften in Halle. K M ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des Jena Center Geschichte des . Jahrhunderts. F M ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in Jena. C M ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte in Bielefeld. J  P ist Direktor des Imre Kertész Kollegs und Professor für Osteuropäische Geschichte in Jena. M S ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte in Berlin. T S lehrt als Privatdozent Neuere und Neueste Geschichte in Jena. D S ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in Jena. S S ist Historikerin, Direktorin des Fritz Bauer Instituts und Professorin für Geschichte und Wirkung des Holocaust in Frankfurt am Main. M S ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. D S ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Augsburg. 490

  

M T ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in Jena. A W ist stellvertretende Leiterin des Jena Center Geschichte des . Jahrhunderts und lehrt als Privatdozentin Neuere und Neueste Geschichte in Jena. D W ist Professorin i. R. für Zeitgeschichte in Hamburg. A W ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Professor für Neueste Geschichte in München. M Z war Direktor des Richard-Koebner-Zentrums für Deutsche Geschichte und ist emeritierter Professor in Jerusalem.

491

Abkürzungen AA ADGB

AdsD AfD

AJC APuZ ARD ATH AWJD BA BBC BdA BDI BDS BEG BT BVerfGE CDU ČSSR CSU DDP DDR DeZIM DGB DHM DITIB DLF DP DTA DVA DVP EGKS EKD EU EVG EWG FAZ FDJ FDP FR GG GLU GVK

492

Auswärtiges Amt Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Archiv der sozialen Demokratie Alternative für Deutschland American Jewish Committee Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland August-Thyssen-Hütte Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland Bundesarchiv British Broadcasting Corporation Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der deutschen Industrie Boycott, Divestment, Sanctions Bundesentschädigungsgesetz Bundestag Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Christlich-Demokratische Union Deutschlands Tschechoslowakische Sozialistische Republik Christlich-Soziale Union in Bayern Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsches Historisches Museum Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion Deutschlandfunk Displaced Person Deutsches Tagebucharchiv Deutsche Verlags-Anstalt Deutsche Volkspartei Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Evangelische Kirche in Deutschland Europäische Union Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Frankfurter Rundschau Grundgesetz Grüne Liste Umweltschutz Gemeinsame Verfassungskommission

 HBS HZ IDEE

IfZ

IG IOR

KaDeWe

KPD KPdSU KSZE KZ LDPD LSD LSI LUSIR MENA

MfS

ML NATO NDR NDS NLHGS NPD NS NSDAP NSU NVA ÖDP

Pegida PiS

PISA PKK PKS RAF REAO RHA RStGB SA SBZ SDS SED SPD SS StaHH SZ

taz

TKA UdSSR

Heinrich-Böll-Stiftung/Archiv Grünes Gedächtnis Historische Zeitschrift Initiative Demokratie Entwickeln Institut für Zeitgeschichte Industriegewerkschaft India Office Records Kaufhaus des Westens Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Konzentrationslager Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Liberaler Studentenbund Lebensschutz-Informationen Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet - Middle East & North Africa Ministerium für Staatssicherheit marxistisch-leninistisch North Atlantic Treaty Organization Norddeutscher Rundfunk Neue Deutsche Schule Nachlass Hans-Günther Sohl Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialismus/nationalsozialistisch Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Nationalsozialistischer Untergrund Nationale Volksarmee Ökologisch-Demokratische Partei Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) Programme for International Student Assessment Arbeiterpartei Kurdistans Polizeiliche Kriminalstatistik Rote Armee Fraktion Rückerstattungsanordnung Robert-Havemann-Archiv Reichsstrafgesetzbuch Sturmabteilung (der NSDAP) Sowjetische Besatzungszone Sozialistischer Deutscher Studentenbund Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel (der NSDAP) Staatsarchiv Hamburg Süddeutsche Zeitung die tageszeitung ThyssenKrupp Archiv Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

493

 UHK UNESCO UNO USA

VfZ

VRP VSt VVD-StRL VVN WDR WGA WP WSDV ZA ZDF

494

Unabhängige Historikerkommission United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Organization United States of America Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Volksrepublik Polen Vereinigte Stahlwerke Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Westdeutscher Rundfunk Wiedergutmachungsamt Wahlperiode »Wir sind das Volk« Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland Zweites Deutsches Fernsehen

Personenverzeichnis Adenauer, Konrad , ,  f., , , , ,  ff., ,  ff.,  f., , , -,  f.,  Adorno, Theodor W. ,  f., , ,  f.,  Agartz, Viktor  Ahbe, Thomas  Alexander, Jeffrey C.  al-Husseini, Mohammed Amin  Allemann, Fritz René  f.,  Altmaier, Jakob  Améry, Carl  Améry, Jean ,  App, Austin J.  Arendt, Hannah , , , ,  Aretz, Emil  Arndt, Adolf  Aron, Robert  Arslan, Bahide  Arslan, Yeliz  Assheuer, Thomas  Assmann, Jan  Attlee, Clement  Auslander, Leora  Baeck, Leo  Baer, Richard  Bahr, Egon  Balliet, Stephan  Bandemer, Angela von  Bánffy, Miklós  Bannon, Stephen (Steve)  Baran, Paul A.  Barbie, Klaus  Bardèche, Maurice  Barnes, Julian  Barschel, Rainer  Baudissin, Wolf Graf von  Baumann, Hans  Baum, Gerhart ,  Beauvoir, Simone de  Becker, Hans  Becker, Sophinette  Becker, Tobias 

Beckmann, Lukas ,  Beck, Ulrich ,  Begin, Menachem  Benda, Julien  Benedict, Ruth  Berg, Fritz ,  Berlusconi, Silvio  f. Beuys, Joseph ,  Biedenkopf, Kurt ,  Biermann, Wolf , , ,  Bismarck, Otto von  Blachstein, Peter  f. Böckler, Hans -,  Bohley, Bärbel  Böhm, Tatjana  Bohrer, Karl Heinz  Böll, Heinrich  Bonhoeffer, Dietrich  Botsch, Gideon  f. Bracher, Karl Dietrich ,  Brandt, Willy , ff., ,  f.,  f., , ,  Braun, Otto  Breivik, Anders Behring  Brohm, Winfried  Broszat, Martin , ,  ff. Browning, Christopher R.  Brüning, Heinrich  f. Brunner, José ,  Bubis, Ignatz  Buchholz, Christian  Cameron, David  Carlton, David  Carville, James  Castro, Fidel  Césaire, Aimé  Chaussy, Ulrich  Chirac, Jacques  Christiansen, Lars  Christophersen, Thies  Clark, Christopher  Clemens, Petra  Clinton, Bill 

495

 Clinton, Hillary  Cohn-Bendit, Daniel  Colley, Linda  Cruise O'Brian, Conor  Czech, Danuta  Czerny, Jochen  Daimagüler, Mehmet ,  f. Daley, Richard  Davis, Angela  Degas, Edgar  Dejaco, Walter  Deligöz, Ekin  Diner, Dan  Dirks, Walter  f. Dix, Otto  Dobb, Maurice  Dohnanyi, Hans von  Dönhoff, Marion Gräfin  Dürig, Günter  Dutschke, Rudi , , , ,  Dylan, Bob  Eggert, Heinz  Eichmann, Adolf  f., ,  Engelmann, Bernt  Engels, Friedrich ,  Epplen, Dieter  Erdoğan, Recep Tayyip , ,  Erhard, Ludwig ,  Erler, Fritz  Ernst, Stephan  Ertl, Fritz  Erzberger, Matthias  Eschenburg, Theodor  Etzold, Sabine  Eylmann, Horst  Fanon, Frantz  Fassbinder  Faurisson, Robert  ff. Feldstein, Martin  Fest, Joachim C. ,  Fette, Christian  Feuchtwanger, Walter  Filbinger, Hans ,  Finck, Albert  Fischer, Joschka , , 

496

Fisch, Walter  Fortuyn, Pim  f. Fraenkel, Ernst  f. Frei, Norbert  f.,  f., , , , ,  f., , , , , , , , , , ,  f.,  Freitag, Walter  Freud, Sigmund ,  Frevert, Ute  Frey, Gerhard  Friedländer, Saul  Friedrich II. von Preußen  f. Frowein, Jochen A.  f.,  f.,  f. Funkenstein, Amos  Furet, François  Gadamer, Hans-Georg  Galinski, Heinz ,  Gall, Lothar  Ganske, Thomas  Gartmann, Markus  Gaulle, Charles de  Gaus, Günter  Gehlen, Arnold  Genç, Hatice  Genç, Hülya  Genç, Mevlüde  Genç, Saime  Geremek, Bronisław  Gerlach, Hellmut von ,  Gessler, Philipp  Giordano, Egon  Giordano, Ralph  Globke, Hans  Goebbels, Joseph ,  Gogl, Johann Vinzenz  Goldhagen, Daniel J. ,  f. Goldstein, Baruch  Goral, Arie , , , ,  f.,  Gorbatschow, Michail , ,  Göring, Hermann  Gortz, André  Goschler, Constantin ,  Götz, Volkmar  Graf, Otto  Grant, Charles  Grass, Günter  Grayling, A.C. 

 Groenewold, Kurt  f. Gröning, Oskar  Guevara, Ernesto »Che«  f.,  f. Gumbel, Emil Julius  Häberle, Peter  Habermas, Jürgen ,  f., , ,  Hacke, Jens  Hafenmayer, Henry  Häfner, Gerald  f.,  Hähnel, Walter ,  Halder, Franz  Hallstein, Walter  f. Harlan, Veit  Hartog, François  Haury, Thomas , ,  Haverbeck, Ursula -,  Haverbeck, Werner Georg - Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  Heidemann, Gerd ,  f.,  f., ,  f.,  f. Heiland, Rudolf-Ernst  Heinemann, Gustav , ,  Heitmann, Steffen  Heitmeyer, Wilhelm  f. Henle, Günter ,  Hennis, Wilhelm  Herbert, Ulrich  Herf, Jeffrey  Hertfelder, Thomas ,  Herzog, Roman  Heß, Rudolf ,  Heuss, Theodor , ,  Heydrich, Reinhard  Hilberg, Raul  f., ,  Hillgruber, Andreas  Himmler, Heinrich ,  Hirsch, Burkhard  Hitler, Adolf , ,  f.,  f., , , , ,  f., , ,  f., -, ,  Hobsbawm, Eric ,  Höcke, Björn  Hoffmann, Karl-Heinz , ,  f. Hofstätter, Peter R. -,  f. Hölscher, Lucian  Honecker, Erich  f., , 

Horkheimer, Max  f.,  Horowitz, David  Höß, Rudolf , - Howard, Michael E.  Hübner, Peter  Hurrelmann, Klaus ,  Iltgen, Erich  Imhoff, Maximilian E.  f. İnce, Gürsün  Ipsen, Gunter  Irving, David , ,  Isensee, Josef -, , ,  Jäckel, Eberhard , , ,  Jaenecke, Heinrich  Jarausch, Konrad ,  Jaspers, Karl ,  Jenninger, Philipp  Jensen, Uffa  Jens, Walter  Johannes Paul II., Papst  Johnson, Boris  ff. Johnson, Lyndon B.  Johnson, Uwe  Jordan, Wilhelm  Kaczyński, Jarosław  f.,  Kaczyński, Lech  Kaestner, Uwe  Kant, Hermann  Kauders, Anthony  Kautsky, Karl  Keil, Wilhelm  Kelly, Petra  Kelsen, Hans  Kempowski, Walter  Kennedy, John F.  Kennedy, Robert  Kerski, Basil  Keskin, Hakki ,  f. Kessler, Harry Graf ,  Kielmansegg, Johann Adolf Graf von  King, Martin Luther  Klein, Eckart  Kleist, Peter  Klepper, Otto  Kloke, Martin 

497

 Kluge, Alexander  Knobloch, Charlotte  Köcher, Renate  Koch, Karl Otto  Kogon, Eugen ,  Köhler, Gundolf , - Kohl, Helmut , , , , , , ,  f.,  f., , ,  Köhnen, Felix  Kokoschka, Oskar  Kondratjew, Nikolai Dmitrijewitsch  Korn, Salomon  Korsch, Karl  Kortner, Ernst  Koselleck, Reinhart ,  Krahl, Hans-Jürgen -,  f. Kretschmer, Michael  Krockow, Christian Graf von  Kubicki, Wolfgang  Kuby, Erich  f. Kuhn, Axel ,  Kühnen, Michael  Kühnert, Hanno  Kujau, Konrad -, ,  ff. Kundermann, Aenne  Kunzelmann, Dieter  Laclau, Ernesto  Lamont, Norman  Lanksch-Erbel, Melek  Lauterpacht, Herschel  Lehr, Robert  Leiser, Erwin  Lemkin, Raphael  Lenin, Wladimir Iljitsch , ,  Leonhardt, Rudolf Walter  f.,  ff.,  Le Pen, Marine , ,  Leuchter, Fred R.  ff. Levi, Primo  Levy, Daniel  Lewin, Shlomo  f. Lewis, Bernard  Ley, Robert  Lichtenberg, Bernhard  Lichtigfeld, Isaac Emil  f. Liebehenschel, Arthur ,  Liebermann, Max 

498

Livi, Massimiliano  Löbe, Paul , ,  Loritz, Alfred  f. Lübbe, Hermann , ,  Lübcke, Walter  f., ,  Lübke, Heinrich  Lüderitz, Adolf  Luhmann, Niklas  Lukács, Georg  f. Lüth, Erich  f.,  f., ,  f. Luxemburg, Rosa  Machiavelli, Niccolò  Macron, Emmanuel  Maier, Reinhold  Maizière, Lothar de  Mallet, Serge  Manthe, Barbara  f. Mao Tse-tung  Marcuse, Herbert  f. Maron, Monika  Marrus, Michael  Marx, Karl (Journalist) ,  f.,  f. Marx, Karl (Philosoph) ,  f., , ,  Marz, Fritz  Maser, Werner  Massu, Jacques  Maubach, Franka  Maunz, Theodor  Maurer, Hans  Maurer, Hartmut  Mauz, Gerhard  Mayer, Hans  Mazowiecki, Tadeusz  McCloy, John J. , , ,  Meinecke, Friedrich  Mélenchon, Jean-Luc  Menasse, Robert  f. Merkel, Angela , , ,  f. Meyer, Hans  f. Meyer, Thomas  Michnik, Adam  Mitscherlich, Margarete  Mittenzwei, Ingrid  Mitterrand, François  Modrow, Hans  Mohler, Armin 

 Mommsen, Hans  Momper, Walter  Monti, Mario  Moravcsik, Andres  Morina, Christina  Mosse, George L. ,  Mouffe, Chantal  Mulka, Robert  Müller, Hermann  Müller-Marein, Josef  Müller, Winfried  Murdoch, Rupert  Nachmann, Werner  ff. Nachtlicht, Leo ,  Nandy, Ashis  Nannen, Henri , ,  f. Naphtali, Fritz (Peretz)  Napoleon  Napolitano, Giorgio  Naumann, Michael  Nell-Breuning, Oswald von  Neuberger, Josef  Niess, Wolfgang  Niethammer, Lutz ,  Nikolaus V., Papst  Nipperdey, Thomas  Nixon, Richard  Noelle-Neumann, Elisabeth  Nolte, Ernst  Nolte, Paul  Nora, Pierre  Nottbeck, Arvid von  Oberländer, Theodor  Oberndörfer, Dieter  Ohnesorg, Benno ,  Ollenhauer, Erich  Orbán, Viktor ,  Özdemir, Cem  ff.,  Özil, Mesut  Öztürk, Gülüstan  Pahlavi, Mohammed Reza (Schah von Persien)  Pampel, Bert  Papadimos, Lukas  Papandreou, Giorgos A. 

Papen, Franz von  Papier, Hans-Jürgen  Parris, Matthew  Patton, George S.  Paxton, Robert  Pétain, Philippe  Peters, Michael  Pferdmenges, Robert  f. Plato, Alexander von  Poeschke, Frida  Postone, Moishe  Prantl, Heribert  f. Preuß, Ulrich K.  Priesack, August  Putin, Wladimir , ,  Puttkamer, Ellinor  Radbruch, Gustav  Rademacher, Willi Max  Randelzhofer, Albrecht , ,  Rassinier, Paul  Rathenau, Walther  f. Reagan, Ronald ,  Reher, Christian  Reichel, Peter  Reich, Wilhelm ,  Reitz, Edgar  Reker, Henriette ,  Renger, Annemarie  Reusch, Hermann  Rezo  f. Richter, Horst-Eberhard  Riedel, Clemens  Riefenstahl, Leni  Rigney, Ann  Ringelblum, Emanuel  Robinsohn, Saul B. ,  Rodenstock, Rolf  Roeder, Manfred  Rohland, Walter  Röhl, Klaus Rainer  Roosevelt, Franklin D.  Rosenthal, Hans  Rosh, Lea  Roth, Joseph  Rubin, Berthold  Rudolf, Germar  f.

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 Salten, Felix  Salvatore, Gaston  Salvini, Matteo  Sarkozy, Nicolas  Sarrazin, Thilo  Schabowski, Günter ,  Scharioth, Klaus  Scheel, Walter  Schewe, Carola  Schieder, Theodor  Schildt, Axel , ,  Schily, Otto ,  Schinkel, Karl Friedrich  Schleyer, Hanns Martin  Schlink, Bernhard , ,  f. Schmalz-Jacobsen, Cornelia  Schmid, Carlo , ,  Schmidt, Daniel  Schmidt, Felix  Schmidt, Helmut , ,  Schnoor, Herbert  Scholl, Hans  Scholl, Sophie  Scholz, Rupert ,  Schönhuber, Franz  f. Schostakowitsch, Dmitri  Schröder, Gerhard  Schulze, Daniel  Schumacher, Kurt  f., ,  f.,  Schütrumpf, Jörg  Schwan, Gesine  Schwarz, Hans-Peter  Semmelmann, Dagmar  Şen, Faruk  Senghor, Léopold  Severing, Carl  Shilansky, Dov  Siedentop, Larry  Sieverts, Rudolf  ff. Sikorski, Radosław  Silbermann, Alphons  Simmel, Georg  Simon, Helmut  Şimşek, Enver  Sohl, Hans-Günther  f.,  f.,  ff.,  ff. Sontheimer, Kurt  f. Späth, Lothar 

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Speer, Albert  Spiegel, Paul  Springer, Axel ,  Stäglich, Wilhelm  Stalin, Josef , ,  Staller, Ilona (Cicciolina)  Steinmeier, Frank-Walter  Stein, Timo  Stercken, Hans  Sternberger, Dolf , ,  Stern, Fritz  Stiefel, Fritz  Stobbe, Dietrich  Stoiber, Edmund  Stolpe, Manfred  Stoph, Willi  Strauß, Botho  Strauß, Franz Josef  Streeck, Wolfgang  Strothmann, Dietrich  ff. Stürmer, Michael  Sturm, Michael  Sweezy, Paul  Sznaider, Natan  Tagore, Rabindranath  Tändler, Maik  Templin, Wolfgang  Thatcher, Margaret  Ther, Philipp  Thierse, Wolfgang , ,  Thunberg, Greta  Tombs, Robert  Tomuschat, Christian ,  f.,  Trevor-Roper, Hugh  f. Trotha, Lothar von  f. Trump, Donald ,  Ulbricht, Walter  Ullmann, Wolfgang ,  van Dam, Hendrik George - Verdeja, Ernesto  Vinke, Hermann  Vogel, Dieter  Vogel, Klaus  Vogel, Otto  f. Voigt, Karsten 

 Voigts, Hanning  Voltaire  Vultejus, Ulrich  Walden, Matthias  Walde, Thomas  f. Waldhoff, Christian  Walendy, Udo  Wałęsa, Lech  Walser, Martin  Wehler, Hans-Ulrich , ,  Weichmann, Herbert ,  Weidel, Alice  Weinberg, Gerhard L.  Weiß, Hermann  Weiss, Peter  Weizmann, Chaim  Weizsäcker, Richard von , ,  f., , ,  Welzer, Harald  Westrick, Ludger  Wilders, Geert  f. Wilhelm II.  Wilhelm II., Kaiser 

Wilhelm von Preußen, Kronprinz  Winkhaus, Hermann  Winkler, Heinrich August , ,  Wirsching, Andreas  Wirth, Hermann  Wistrich, Robert  Witbooi, Hendrik  Wolf, Christa  Wolf, Friedrich  Wolf, Konrad  Wolf, Markus  Wolff, Jeanette  f. Wolfrum, Edgar  Wulff, Christian  Wünsche, Kurt  Yahil, Chaim  Yılmaz, Ayşe  Zimmermann, Friedrich  Zündel, Ernst  Zweig, Stefan 

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