Demokratische Diktatur?: Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919-25 [1 ed.] 9783428473342, 9783428073344

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Demokratische Diktatur?: Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919-25 [1 ed.]
 9783428473342, 9783428073344

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Achim Kurz· Demokratische Diktatur?

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 43

Demokratische Diktatur? Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919-25

Von Achim Kurz

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Kurz, Achim:

Demokratische Diktatur? : Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919 - 25/ von Achim Kurz. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zur Verfassungs geschichte ; Bd. 43) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07334-7 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 21 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-07334-7

Meinen Eltern

Vorwort Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat die vorliegende Arbeit im Wintersemester 1990/91 als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Februar 1990 abgeschlossen. Herzlich bedanken möchte ich mich bei meinem verehrten Doktorvater, Herrn Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. E.-W. Böckenförde, der die Arbeit angeregt, betreut und in vielfältiger Weise gefördert hat. Sein stets ermutigender Zuspruch hat mir den Abschluß dieser Untersuchung erst ermöglicht. Bedanken möchte ich mich ferner bei Herrn Prof. Dr. E. R. Huber t, der mir die Konfliktlagen der Weimarer Zeit anschaulich zu vermitteln vermochte und dessen verfassungsgeschichtlichem Einblick ich wertvolle Hinweise verdanke. Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger bin ich für die Erstattung des Zweitgutachtens im Promotionsverfahren zu Dank verpflichtet. Schließlich danke ich Herrn Norbert Simon für die Aufnahme in sein Verlagsprogramm. Achim Kurz

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

Erstes Kapitel

Verfassungsgebung und Artikel 48 A. Überblick

15 15

B. Bedingtheiten der Verfassungsgesetzgebung

.....................

1. Der Kriegszustand im Kaiserreich II. Das Deutsche Reich in der Krise

17 17 23

III. Artikel 48 im Widerstreit der Verfassungskonzeptionen .. . . . . . . . ..

30

IV. Unitarismus und Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

C. Ergebnis

44

Zweites Kapitel

Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

A. Historisch-politischer Teil

.................................

47

47

1. Die Reichswehr als Ordnungsmacht

47

11. Kapp-Putsch und Entmilitarisierung

50

IH. Zusammenfassung .................. . ................ B. Staatsrechtlicher Teil

55

....................................

55

1. Die Interpretation des Staatsnotstands im Kaiserreich ............

55

H. Die Auslegung des Art. 48 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Die "öffentliche Sicherheit und Ordnung" ................. 2. Die "Maßnahme" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Delegation der Befugnisse des Art. 48 Abs. 2 .......... c) Das Gesetzgebungsrecht des Reichspräsidenten .. . . . . . . . . .. aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Einsetzung außerordentlicher Gerichte ........... cc) Gesetzgebung und Grundrechtssuspension ............ dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

57 57 59 59 61 65 65 67 71 77

10

Inhaltsverzeichnis 3. Normative Grenzen a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Frühe Eingrenzungsversuche ........................ c) "Unantastbarkeit" der Reichsverfassung? .. . . . . . . . . . . . . .. d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Institutionelle Grenzen .............................. a) Gerichtliche Kontrolle ............................ b) Politische Kontrolle .............................. III. Ergebnis

77

77 78 80 83 83 83 86 89

Drittes Kapitel Reich und Länder

A. Historisch-politischer Teil

90 90

I. Braunschweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

H. Die thüringischen Staaten .............................. 1. Der thüringische Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Sachsen-Gotha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90 90 92

IH. Die Konflikte Bayern-Reich ........................... .94 1. Der erste Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Der zweite Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3. Der dritte Konflikt ............................... " 99 IV. Sachsen und Thüringen 1923

103

V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 B. Staatsrechtlicher Teil

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

I. Die Ausnahmegewalt der Länder ...•..................... 111 1. Die Reichweite der gliedstaatlichen Befugnisse .............. 111

2. Die Kontrolle durch das Reich ......................... 114 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 H. Der unitarisierte Bundesstaat ............................ 116 III. Die Reichsintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Exkurs: Exekution und Intervention und Belagerungszustand im Deutschen Bund und Bismarckreich .......... . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Verfassungslage im Deutschen Bund ................ b) Die Verfassungslage im Kaiserreich 2. Zum Begriff der Reichsintervention 3. Die Instrumente der Reichsintervention ................... a) Die Sequestration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eingriffe in Rechte der Volksvertretungen ............... c) Ausnahmezustandstypische Mittel .................... d) Zum Verhältnis von Diktatur und Reichsexekution ......... e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

118 118 118 125 131 131 131 135 136 138 140

Inhaltsverzeichnis

11

4. Die präsidiale Diktaturgewalt als Mittel der "kalten" Reichsexekution 140 IV. Ergebnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Viertes Kapitel Legislativnotstand und Diktaturgewalt

145

A. Historisch-politischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Die Ermächtigungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 145 II. Das Notverordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. Die Anwendung des Art. 48 Abs. 2 ........................ 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Institutionelle Aspekte .............................. a) Funktionelle Angleichung ........................ " b) "Selbstermächtigung" der Exekutive ................... c) Einschränkung der parlamentarischen Kontrollgewalt .. . . . . .. B. Staatsrechtlicher Teil

151 151 152 153 157 160

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

I. Zur funktionellen Angleichung ......................•.... 1. Wandlungen des Begriffes der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" 2. Zur Interpretation der "Maßnahme" ..................... a) Theoretische Grundpositionen ....................... aa) G. Anschütz: Die Maßnahme als materielles Gesetz . . . . .. bb) C. Schmitt: Maßnahme contra Rechtsform ............ b) Nochmals: "Unantastbarkeit" der Reichsverfassung? ........ c) Einschränkungen der präsidentiellen Gesetzgebungsgewalt d) Diktaturgewalt und Ermächtigungsgesetz ................ e) Maßnahme und Notverordnung ...................... 3. Die institutionelle Lösung ............................ 4. Zusammenfassung ............................ . .... II. Zur "Selbstermächtigung" der Exekutive

162 162 167 168 168 168 174 178 181 183 186 188

.................... 189

III. Zur Einschränkung der parlamentarischen Kontrollgewalt ......... 189 IV. Ergebnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Zusammenfassende Betrachtung

193

Schrifttumsverzeichnis

196

Anhang

209

Abkürzungsverzeichnis BRV

(Bismarcksche) Reichsverfassung vom 16. April 1871

BZG

Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851

RGBI.

Reichsgesetzblatt

WSchlA

Wien er Schlußakte vom 15. Mai 1820

Einleitung "Die Zusammenballung aller Macht in einer Hand für die Stunde der Gefahr ist nicht undemokratisch, sondern Erfüllung der Demokratie". Dies schrieb der linksliberale Publizist Ernst Feder im Februar 1925 1 , und in der Tat mußte es dem zeitgenössischen Beobachter scheinen, als habe nur die Notstandsgewalt des Reichspräsidenten - verankert in Artikel 48 der Verfassung - das Überleben der improvisierten Republik von Weimar in ihren ersten Jahren garantiert. Mehr als hundertmal berief sich Ebert auf die konstitutionelle Ausnahmekompetenz2 : diese bildete das rechtliche Fundament für die Niederwerfung radikaler Aufstandsbewegungen durch die Reichswehr wie für die Absetzung von Landesregierungen, selbst die Bewältigung der existentiellen Staats- und Wirtschaftskrise des Jahres 1923 einschließlich des "Wunders der Rentenmark" vollzog sich mit auf der Grundlage dieser Verfassungsnorm. Gleichwohl hat die Anwendung des Artikels 48 unter der Präsidentschaft Friedrich Eberts in der wissenschaftlichen Literatur nach 1945 wenig Beachtung gefunden. Die historisch-politische Analyse der Weimarer "Reserveverfassung" stand im Banne des Scheiterns der deutschen Republik,3 und so fand die Ebertsche Notstandspraxis - wohl unbestritten auf den Erhalt der Weimarer Verfassung ausgerichtet - regelmäßig ihren Platz als kontrapunktische Vorgeschichte einer verfassungszerstörenden Handhabung der Ausnahmegewalt in der Weimarer Endzeit. 4 Wohl aus demselben Grund wird die staatsrechtliche Problematik dieser frühen Anwendungsperiode der "Diktaturgewalt" nur kursorisch abgehandelt.5

Ders., Diktaturartikel. Vgl. die Aufstellung bei Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S.144. Die Aufhebungsverordnungen sind bei der hier zugrundegelegten Zahl von 104 Diktaturverordnungen außer Betracht gelassen. 3 Hier ist an erster Stelle der Streit zwischen Kar! Dietrich Bracher und Werner Conze um die Rolle des "Präsidialsystems" der Weimarer Spätzeit zu nennen; vgl. dazu Kolb, S. 199ff. 4 Vgl. die Darstellungen bei Boldt, Artikel 48, S. 292ff., Haugg, Oberreuter, S. 48ff.; Scheuner, S. 257ff., Schulz, Art. 48, S. 46ff. Speziell zum Verhältnis von Reichswehr und präsidialer Ausnahmegewalt in der Weimarer Frühzeit sind die Spezialuntersuchungen von Hürten (ders., Reichswehr), Kimmel und Lucas zu nennen. 5 Boldt, Artikel 48, S. 296ff.; Gather, S.15ff. Oberreuter, S. SOff.; Scheuner, S. 266f.; Schulz, Art. 48, S. 55. Eine Sonderstellung nimmt E. R. Hubers systematische Darstellung des Weimarer Notstandsrechts ein, (ders., 6, S. 687ff.), die durch Band 7 seiner "Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789" auch für die ersten Weimarer Jahre in vielfacher Hinsicht ergänzt wird. 1

2

14

Einleitung

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf spezifisch verfassungsrechtsgeschichtliche Aspekte, indem sie die Interpretation der Ausnahmekompetenz des Reichspräsidenten nachzeichnet. Der Entstehungsgeschichte des Weimarer Notstandsartikels (1. Kapitel) folgt im 2. - 4. Kapitel eine Analyse seines normativen Gehalts, wobei die Schübe der Interpretation in ihrer Bedingtheit von den wechselnden Krisenlagen der Republik dargestellt werden.

Erstes Kapitel

Verfassungsgebung und Artikel 48 A. Überblick Am 20. Januar 1919 veröffentlichte das Reichsamt des Innern den ersten amtlichen Entwurf einer neuen Reichsverfassung. 1 Unverändert war aus dem nicht publizierten Vorentwurf vom 3. Januar2 eine Regelung übernommen worden, die dem späteren Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung stark ähnelte. Dem Reichspräsidenten war es in § 63 Ellgestattet, wenn "in einem deutschen Freistaat die öffentliche Sicherheit und Ordnung in einem erheblichen Umfang gestört oder gefährdet" war, "mit Hilfe der bewaffneten Macht" einzuschreiten und "die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen" zu treffen. Ferner war der Reichspräsident verpflichtet, "unverzüglich die Genehmigung des Reichstags" einzuholen und seine Anordnungen aufzuheben, wenn der Reichstag die Genehmigung versagte.

In den folgenden Wochen gewannen die Länder erheblichen Einfluß auf die Ausgestaltung der künftigen Reichsverfassung. 3 Während der vom 25. 30. Januar 1919 in Berlin tagenden S,taatenkonferenz setzten sie die unverzügliche Bildung eines "Staatenausschusses" durch, der beratend bei der Verfassungsgesetzgebung mitwirken sollte. 4 Anfang Februar war dort auch die Regelung des Ausnahmerechts Gegenstand einer kurzen Aussprache. 5 Als dann die Reichsregierung am 17. und 21. Februar die gleichlautenden Entwürfe 1116 und IV7 vorlegte, war die Generalklausel des ursprünglichen Entwurfs in zweifacher Hinsicht erweitert worden. Der Reichspräsident war nunmehr ausdrücklich befugt, gewisse Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft zu setzen; ferner sollte ein Reichsgesetz die nähere Ausgestaltung des Art. 67 (E III, IV) bestimmen. 1 Text: Triepel, Quellensammlung, S. 10ff. Nach der von Triepel, ebd., eingeführten und hier übernommenen Zählung handelt es sich um "Entwurf II" (E II). 2 "Entwurf I" (E I) vom 3. Januar 1919. Text: Triepel, Quellensammlung, S. 6f. 3 Vgl. näher Boldt, Reichsverfassung, S. 48; Huber 5, S.118lff. 4 Vgl. Anschütz, 1933, S.19ff.; Huber 5, S.1182. 5 Vgl. Anlage III. 6 Text: Triepel, Quellensammlung, S. 17ff. 7 Text: Ebd., S. 27ff.

16

1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

Die Nationalversammlung beriet den so geänderten Verfassungsentwurf in erster Lesung am 28. Februar sowie am 3. und 4. März 1919.8 Doch erst in den sich daran anschließenden Verhandlungen des "Verfassungsausschusses" der Nationalversammlung wurden die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten erneut erörtert. 9 Entsprechend den Korrekturbeschlüssen des Verfassungsausschusses lO sah Art. 49 E Vll zum einen die Verschärfung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Exekutive vor: nunmehr hatte das "gesamte Reichsministerium" die vom Reichspräsidenten getroffenen "Maßnahmen" statt "Anordnungen" im Entwurf IV12 - gegenzuzeichnen. Zum anderen war die Zahl der suspendierbaren Verfassungs artikel erhöht worden. Während der zweiten Lesung des Verfassungsentwurfs in der ersten Juliwoche 13 beschloß das Plenum der Nationalversammlung wesentliche Änderungen des Ausnahmeartikels. Erstens durften jetzt die Landesregierungen bei "Gefahr im Verzuge" einstweilige "Maßnahmen" treffen, die von den betreffenden Landesorganen jedoch aufzuheben waren, wenn Reichspräsident und Reichstag deren Genehmigung versagten. Zweitens rückte im Verfassungstext der Einsatz der "bewaffneten Macht" hinter der Befugnis, die "nötigen Maßnahmen" zu treffen, an die zweite Stelle.

In der dritten Lesung schließlich, Ende Juli,14 wurden die Reichsexekution (Art. 48 Abs.1) und die Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten und der Landesregierungen (Art. 48 Abs. 2 - 4) in einem Artikel zusammengefaßt. Ferner entfiel die Genehmigungspflicht für die von Reichspräsident oder Landesregierung verfügten "Maßnahmen". Die Notstandsakte des Reichspräsidenten waren auf Verlangen des Reichstags, diejenigen der Landesregierungen auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags aufzuheben. Im Gegenzug hatte der Reichspräsident von seinen Maßnahmen dem Reichstag unverzüglich Kenntnis zu geben. In dieser Fassung ging der Ausnahmeartikel in die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 15 ein.

Dazu Huber 5, S. 1185ff. Vgl. insbesondere die 26. Sitzung vom 9. April 1919, Verhandlungen, Bd. 336, S. 288f. 10 Text: Ebers, S. 2ff., insbesondere S. 28f. 11 "Entwurf V" (E V) vom 18. Juni 1919. Text: Triepel, Quellensammlung, S. 38ff. 12 Erst mit den Korrekturbeschlüssen des Verfassungsausschusses in zweiter Lesung wurde "Anordnungen" durch "Maßnahmen" ersetzt (vgl. die Synopse bei Ebers, S. 28f.), obgleich das Protokoll des Verfassungs ausschusses für die zweite Lesung am 6. Juni 1919 verzeichnet, daß "Artikel 68" unverändert angenommen worden sei (39. Sitzung, Verhandlungen, Bd. 336, S. 460). Es dürfte sich daher lediglich um eine redaktionelle Änderung gehandelt haben. 13 Vgl. insbesondere die 47. Sitzung am 5. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3237ff. 14 Vgl. insbesondere die 70. Sitzung vom 30. Juli 1919, Heilfron 7, S. 369f. 15 RGBI. 1919, S. 1383ff. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 154. Vgl. Anhang II. 8 9

B. Bedingtheiten der Verfassungsgesetzgebung

17

B. Bedingtheiten der Verfassungsgesetzgebung I. Der Kriegszustand im Kaiserreich

1. Am 31. Juli 1914 - unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges - verhängte der Kaiser über das deutsche Reichsgebiet den "Kriegszustand".16 Dabei stützte er sich auf den Artikel 68 der Bismarckschen Reichsverfassung: Der Kaiser kann, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Teil desselben in Kriegszustand erklären. Bis zum Erlasse eines die Voraussetzungen, die Form der Verkündung und die Wirkung einer solchen Erklärung regelnden Reichsgesetzes gelten dafür die Vorschriften des preußischen Gesetzes vom 4. Juli 1851. 17 Das in Art. 68 Satz 2 erwähnte Reichsgesetz war nie zustandegekommen. Deshalb umschrieb die alte preußische Regelung des Belagerungszustandes18 i. V. m. Art. 68 BRV auch die rechtlichen Voraussetzungen und Wirkungen der kaiserlichen Verordnung vom 31. Juli 1914. 19 Was bedeutete das im einzelnen? Verhängte der Kaiser im Falle eines "Krieges" oder "Aufruhrs" (vgl. §§ 1, 2 BZG) den Kriegszustand, ging die gesamte "vollziehende Gewalt" auf die Militärbefehlshaber über (§ 4 Abs.l BZG). Jedem der 6220 Befehlshaber stand somit die gesamte Verwaltung seines Bezirkes zu; die Zivilbehörden waren verpflichtet, ihren Anordnungen und Aufträgen Folge zu leisten und wurden zu ausführenden Organen der mit Zivilzuständigkeit ausgestatteten Militärgewalt.21 Der Kaiser als oberster Kriegsherr durfte seinerseits den Militärbefehlshabern Weisungen erteilen; die gesamte innere Verwaltung Deutschlands konnte also im Reichsbelagerungszustand reichseinheitlich geleitet werden.22 Über diesen Kompetenzwechsel hinaus bewirkte die Verhängung des Kriegszustands eine Verschärfung des geltenden Strafrechts. So schrieb Art. 4 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch für den Fall des Kriegszustandes die Todesstrafe für einzelne Straftatbestände vor, die sonst mit lebenslangem Zuchthaus bedroht wurden. Den Militärbefehlshabern gestattete § 9b BZG, ihre im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenen Verbote mit 16 Verordnung betreffend die Erklärung des Kriegszustands im Reichsgebiet vorn 31. Juli 1914; RGBI. 1914 S. 263. Text: Huber, Dok. 2,2. Aufl., Nr. 305. 17 Text: Huber, Dok. 2,3. Aufl., Nr. 261. 18 Gesetz über den Belagerungszustand vorn 4. Juni 1851. Text: Huber, Dok. 1, Nr. 199. 19 20 21

22

Zur besonderen Rechtslage in Bayern s. u. B IV. Vgl. Huber 5, S. 42. Vgl. Huber 3, S. 1049. Ebd., S.1050f.

2 Kurz

1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

18

Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr zu bewehren. Ferner durften Kaiser und Militärbefehlshaber die Organisation der Strafjustiz ändern und zur Aburteilung einer Reihe schwerer Delikte Kriegsgerichte einsetzen (§§ lOff. BZG). Schließlich gestattete § 5 BZG Kaiser und Militärbefehlshaber,23 sieben Grundrechte der preußischen Verfassung für die Dauer des Kriegszustandes zu suspendieren. 24 Der Grundsatz der "Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" war dann aufgehoben, die Exekutive durfte ohne spezielle gesetzliche Ermächtigung in die Freiheitssphäre des Einzelnen eingreifen, also Verhaftungen und Haussuchungen ohne den in der Regel erforderlichen richterlichen Haft- oder Durchsuchungsbefehl vornehmen, Kriegsgerichte zur Aburteilung einer Reihe besonders schwerer Delikte einsetzen, die freie Meinungsäußerung beschränken, Vereine und Versammlungen verbieten, Truppen ohne vorangehende Anforderung durch Zivilbehörden einsetzen. 25 Die Erklärung des Belagerungszustandes durch einen formalisierten Verhängungsakt,26 dann Übergang der vollziehenden Gewalt, Verschärfung des Strafrechts und der Strafjustiz sowie Suspension der sieben Grundrechte kennzeichneten mithin das bei Kriegsausbruch geltende Reichsausnahmerecht. Seine Regelungen entsprachen der ursprünglichen Aufgabe des preußischen Belagerungszustandsgesetzes: dem Militäreinsatz zur Unterdrückung politischer Unruhen einen rechtlichen Rahmen zu geben.27 2. Während des Ersten Weltkrieges stellten sich den Militärbefehlshabern Probleme ganz anderer Art. Handelte es sich doch darum, einen lang andauernden Krieg unter Zuhilfenahme aller wirtschaftlichen und personellen Ressourcen zu führen. 28 So dehnten sich die Ausnahmemaßnahmen auf neue Bereiche aus: Die Militärbefehlshaber nahmen sich in außerordentlichem Umfang kriegswirtschaftlicher Aufgaben an und setzten Höchstpreise fest, verboten den Schleichhandel, untersagten die Ausfuhr bestimmter Güter, ordneten Meldepflichten, Beschlagnahmen und Ablieferungen an. 29 23

24

25

26 27

28 29

Vgl. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Pürschei, Anm. III zu § 5 (S. 119). 5: (persönliche Freiheit) 6: (Unverletzlichkeit der Wohnung) 7: (Garantie des gesetzlichen Richters und Verbot von Ausnahmegerichten) 27,28: (Meinungsfreiheit) 29: (Vereinsfreiheit) 30: (Versammlungsfreiheit) 36: (Verbot des Einsatzes der bewaffneten Macht ohne Requisition der Zivilbehörden) Zu den interpretatorischen Problemen s. u. Zweites Kapitel B II 2ccc. Dazu oben II 2baa. Vgl. etwa Oberreuter, S. 34f. Vgl. Boldt, Rechtsstaat, S. 194. Vgl. Boldt, Rechtsstaat, S. 198; Huber 5, S. 46.

B. Bedingtheiten der Verfassungsgesetzgebung

19

Ferner versuchte die Militärgewalt, den zwischen den verschiedenen politischen Strömungen des Reiches geschlossenen "Burgfrieden" aufrechtzuerhalten. Ein streng gehandhabtes Zensursystem sollte die öffentliche Diskussion unterbinden und eine nicht vorhandene "Geschlossenheit" des Willens vortäuschen. 3o Die Militärbefehlshaber überwachten Druckerzeugnisse, Theaterund Filmvorführungen und sogar den Briefverkehr. Angesichts dieser vielfältigen Aufgaben nahm die Tätigkeit der Militärs "einen verwaltungstechnischen Charakter im Sinne einer Neben-Verwaltung für den Krieg und neben der weiterhin in Funktion bleibenden zivilen Administration"31 an. Das Institut des Belagerungszustandes wurde daher "nicht mehr als letztes Mittel gegen einen politischen Aufruhr ... verwandt, sondern als Instrument einer militärischen Neben-Verwaltung zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung in einem andauernden Spannungszustand" .32 3. Dieser Funktionswandel enthüllte schwerwiegende Mängel des überlieferten Kriegszustandsrechts. Vor allem seine organisatorische Struktur erwies sich als unzulänglich. Die 62 Militärbefehlshaber handhabten ihre Befugnisse höchst untefSchiedlich; dadurch entstand eine erhebliche regionale Rechtsungleichheit und eine daraus folgende Rechtsunsicherheit. 33 Zum zivilen Föderalismus der Reichsverfassung gesellte sich der militärische Partikularismus der kriegsrechtlichen Notstandsverfassung. 34 Ferner erwies es sich zunehmend als problematisch, dem nur mangelhaft vorbereiteten militärischen Apparat die Durchführung eines Ausnahmezustandes aufzubürden, der nahezu sämtliche Lebensbereiche umfaßte. Vor allem im Haushaltsausschuß des Reichstags richtete sich bereits früh Kritik gegen die militärischen Träger der Ausnahmegewalt: Die mit der Zensur beauftragten Offiziere hätten " ... in politischen Dingen nicht die genügende Erfahrung ... " ,35 und "das geistige, wirtschaftliche und politische Leben der Nation sei militärischen Personen unterstellt, die ihm fernstehen ... " .36 Noch schärfer war die Kritik von sozialdemokratischer Seite: Es würden "plötzlich Leute mit administrativen und richterlichen Funktionen betraut, die dazu Boldt, Rechtsstaat, S. 197. Boldt, Rechtsstaat, S. 200. 32 Ebd., S. 224. 33 Näher dazu Huber 5, S. 49f. 34 Bereits im März 1915 vermißte daher der Abgeordnete v. Westarp im Reichstag" ... die erforderliche Einheitlichkeit in territorialer Beziehung ... "; 7. Sitzung vom 19. März, Verhandlungen, Bd. 306, S. 93. 35 Berichterstatter des Haushaltsausschusses Abgeordneter v. Westarp am 19. März 1915, Verhandlungen, Bd. 306, S. 93. 36 Berichterstatter des Haushaltsausschusses Abgeordneter Dr. Stresemann in der 70. Sitzung am 30. Oktober 1916, Verhandlungen, Bd. 308, S. 1899. 30

31

2*

20

l. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

nicht nur technisch sehr oft keine Erfahrung besitzen, sondern auch in vielen Fällen dem gesamten Komplex von Vorstellungen und Begriffen, um die es sich dabei handelt, nämlich den politischen Rechten der Staatsbürger und den praktischen Voraussetzungen des ganzen Wirtschaftslebens, mit vollem Unverständnis gegenüberstehen. "37 Die ausgedehnte Tätigkeit der Militärbefehlshaber ließ eine wirksame parlamentarische Kontrolle als besonders dringlich erscheinen. Die Kontrollrechte des Reichstags waren allerdings nur schwach ausgebildet. Zwar bedurfte es zur Verhängung des Kriegszustandes der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, doch für Durchführung und Handhabung des Ausnahmezustandes durch das Militär lehnte die Reichsregierung jede Verantwortlichkeit ab. 38 Dementsprechend erklärte der Staatssekretär des Innern v. Delbrück am 10. März 1915 im Reichstag: Der Herr Reichskanzler ist nur verantwortlich dafür, daß der Belagerungszustand nicht verhängt wird, wenn die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für seine Verhängung fehlen, und daß er nicht länger bestehen bleibt, als diese Voraussetzungen bestehen. Was die Militärbehörden, in deren Hand durch den Belagerungszustand die vollziehende Gewalt gelegt ist, auf Grund dieser ihrer Machtvollkommenheit tun, entzieht sich dem Einfluß des Herrn Reichskanzlers und entzieht sich insoweit verfassungsmäßig auch der Kritik des Hauses. "39

Vorstöße von Reichstagsabgeordneten, die parlamentarische Verantwortung des Reichskanzlers auch auf die Handhabung des Ausnahmezustandes auszudehnen, blieben erfolglos. 40 Eine Reform des Belagerungszustandsgesetzes mußte also die regionale Rechtszersplitterung beseitigen, den Einfluß der Militärbürokratie zurückdrängen und die Kontrollrechte des Reichstags verstärken. 4. Immerhin kam es im Laufe des Krieges zu einer fortschreitenden Unitarisierung der Reichsverhältnisse. Die zentrale Rechtssetzungsgewalt des Bundesrats, die reichseinheitlich wirkende Rechtssprechung des Reichsmilitärgerichts und des Reichsgerichts, vor allem die unter Ausschaltung der Militärbefehlshaber im Gesetzgebungs- und Verordnungsweg herbeigeführte reichseinheitliche Regelung des Kriegswirtschaftsrechts und des Kriegssozialrechts wirkten dem militärischen Partikularismus entgegen. 41 Vereinheitlichend Abgeordneter Geck in der 70. Sitzung am 30. Oktober 1916, ebd., S.1907. Zur Rechtslage Huber 3, S. 1047; Oberreuter, S. 36f. 39 4. Sitzung vom 10. März 1915, Bd. 306, S. 49. Ähnlich in der 8. Sitzung vom 20. März 1915, ebd., S. 12l. 40 Pürschei, § 17 Anm. I (S. 366) weist auf die Sitzung des Haushaltsausschusses vom 13. Mai 1916 hin, in der von sozialdemokratischer und fortschrittlicher Seite die Ansicht vertreten wurde, daß der Reichskanzler auf Grund des Belagerungszustandsgesetzes dem Reichstag sowohl für die Erklärung des Belagerungszustandes als auch für seine Handhabung verantwortlich sei. 41 Vgl. Huber 5, S. 50. 37

38

B. Bedingtheiten der Verfassungsgesetzgebung

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wirkte auch das im Dezember 1916 geschaffene und vom preußischen Kriegsminister wahrgenommene Amt des "Obermilitärbefehlshabers";42 eine militärische Zentralinstanz diente nun als Aufsichts- und Beschwerdestelle gegenüber den Anordnungen der Militärbefehlshaber. 43 Demgegenüber gelang es nicht, die Macht des militärischen Apparats zugunsten der zivilen Reichsleitung oder ziviler Verwaltungsorgane zu beschneiden. Zwar hatte der Reichstag etwa mit dem Schutzhaftgesetz vom 4. Dezember 191644 eine rechtliche Umgrenzung der Befugnisse der Militärbefehlshaber durchgesetzt, eine beherrschende Stellung vermochte er freilich nicht zu erreichen. 45 Ebenso blieb die Reichsregierung von der eigentlichen Leitung des Ausnahmezustandes ausgeschlossen. 46 Der enorme Machtzuwachs der Obersten Heeresleitung unter den Generälen Ludendorff und Hindenburg47 und das damit verbundene "Primat der Militärgewalt" verhinderten vollends eine Entmilitarisierung des Ausnahmezustandes. Ganz Deutschland war gefangen in dem "Netz des Militarismus, wo alle Behörden zappelten und niemand herauskonnte". 48 5. Tiefgreifende Änderungen brachten dann die Verfassungsreformen im Oktober 1918. Der preußische Kriegsminister erhielt in seiner Eigenschaft als "Obermilitärbefehlshaber" die Befugnis, statt bloßer Richtlinien verbindliche Anordnungen zu erlassen und traf nunmehr alle Anordnungen und Entscheidungen im Einverständnis mit dem Reichskanzler oder dem von diesem bestellten Vertreter. 49 Auch auf der unteren Ebene wurden Zivil- und Militärgewalt miteinander verquickt. Der kaiserliche Erlaß vom 15. Oktober 191850 wies die Militärbefehlshaber an, ihre Befugnisse nur im Einverständnis mit den von den Landeszentralbehörden bestimmten Verwaltungsbehörden auszuüben. 51 Konflikte 42 Vgl. das Gesetz über den Kriegszustand vom 4. Dezember 1916 (RGBI. S. 1331) i. V. m. der Verordnung zur Ausführung des Gesetzes über den Kriegszustand vom 4. Dezember 1916 (RGBI. S.1332). Beides abgedruckt bei Huber, Dok. 2,2. Aufl., Nr. 319,320. 43 Vgl. Boldt, Rechtsstaat, S. 217; Huber 5, S. 51. 44 Reichsgesetz betreffend die Verhaftung und Aufenthaltsbeschränkung auf Grund des Kriegszustandes und des Belagerungszustandes vom 4. Dezember 1916 (RGBI. 1329f.). Text: Huber, Dok. 2,2. Aufl., Nr. 318. 45 Vgl. Boldt, Rechtsstaat, S. 217. 46 Ebd., S. 217. 47 Vgl. dazu Boldt, Rechtsstaat, S. 220; Huber 5, S. 213ff. 48 So der preußische Innenminister Heine am 5. Juli in der Nationalversammlung, Heilfron 5, S. 3259. 49 Kaiserliche Verordnung vom 15. Oktober 1918 (RGBI. S. 1237); Text: Huber, Dok. 2, 2. Aufl., Nr. 322. Näher Huber 5, S. 609. 50 Kaiserlicher Erlaß über die Befugnisse der Militärbefehlshaber , Armeeverordnungsblatt 1918 S. 596; zitiert nach Huber, Dok. 2,2. Aufl., Nr. 322. 51 Dazu Huber 5, S. 610.

1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

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zwischen Militär- und Landesbehörde entschied der Obermilitärbefehlshaber - wiederum im Einverständnis mit dem Reichskanzler oder seinem Stellvertreter. 52 Schließlich war seit dem 28. Oktober 1918 die Amtsführung des Reichskanzlers vom Vertrauen des Reichstags abhängig. 53

6. Trotz dieser Reformen dürften sich die Mitglieder der Nationalversammlung in der strikten Ablehnung des überlieferten Ausnahmerechts einig gewesen sein. Der Abgeordnete Graf zu Dohna (DVP) gab dem auf das beredteste Ausdruck: "Die gesetzlichen Grundlagen für die Materie (sind) im höchsten Maße rückständig gewesen ... daß es also ein dringendes Bedürfnis ist, diese Materie nach neuen Gesichtspunkten zu ordnen. Das ist gerade der Grund, weswegen wir davon abgesehen haben, eine Übergangsbestimmung zu beantragen, dahingehend, daß bis zum Erlaß dieses neuen Reichsgesetzes auch fernerhin das preußische Gesetz ... noch zur Anwendung kommen solle. Denn auch wir möchten diesem überlebten Gesetz nicht noch in der neuen Verfassung ein Denkmal setzen. 54

Tatsächlich schien die neugeschaffene Regelung des Art. 48 Abs. 2 - 4 die Mängel des veralteten Belagerungszustandsgesetzes überwunden zu haben: Allein der Reichspräsident - und nicht 62 Militärbefehlshaber - konnte "die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen" (Abs. 2 S. 1). Nur bei "Gefahr im Verzuge" durften andere Instanzen - nämlich die Landesregierungen - die Notstandsgewalt an sich ziehen (Abs. 4 S. 1). Das Militär verlor endgültig sein Monopol auf die Durchführung des Ausnahmezustands. Zwar durfte der Reichspräsident "erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten." Doch war dies nur eine von mehreren möglichen Maßnahmen und überhaupt sollte der Militäreinsatz allenfalls die ultima ratio der präsidentiellen Machtbefugnisse darstellen. Der Text des Art. 48 Abs. 2 S. 1 bringt dies deutlich zum Ausdruck: Noch Entwurf V55 stellte das Vorgehen ,manu militari' in den Vordergrund. In der zweiten Lesung setzte dann der Abgeordnete Beyerle (BVP) die endgültige Fassung durch: 56 Es erscheint gerechtfertigt, die Hilfe der bewaffneten Macht als letzten Ausweg an die zweite Stelle treten zu lassen und erst nach Erschöpfung anderer Maßnahmen die Hilfe der bewaffneten Macht aufzurufen. "57 Dazu Huber 5, S. 610. Vgl. Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung vorn 28. Oktober 1918 (RGBI. 1918 S.1274). Text: Huber, Dok. 2,2. Aufl., Nr. 350). 54 47. Sitzung vorn 5. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3248. Ähnlich v. Delbrück (DNVP), ebd., S.3255. 55 S.o.A. 56 Dazu auch unten IV 3. 52

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Schließlich war nun die Parlamentarisierung des Ausnahmezustandes konsequent durchgeführt worden. Hugo Preuß bezeichnete dies als "großen und entscheidenden Unterschied gegenüber den früheren Zuständen" und führte weiter dazu aus: Wenn während des Krieges im Reichstag über den Belagerungszustand und über die Härten, die bei der Handhabung des Belagerungszustandes hervorgetreten sind, geklagt wurde, so hat es sich immer auf das Unerträglichste herausgestellt, daß die verantwortliche Regierungsbehörde außerstande war, die Verantwortung für das Geschehene wirklich zu übernehmen, weil mit der Erklärung des Belagerungszustandes die letzte entscheidende Gewalt auf die Militärbefehlshaber überging, die dem Reichstage unverantwortlich waren ... Dazu stellt sich nun der Art. 49 (Entwurf V, A. K.) in entschiedenen Gegensatz. Was in dieser Beziehung angeordnet wird, wird vom Reichspräsidenten unter Verantwortlichkeit des Reichsministeriums angeordnet, und auch die Durchführung in allen Einzelheiten steht unter der Verantwortung des Reichsministeriums, muß von ihm vor dem Reichstage vertreten, verantwortet werden; die Anordnungen müssen außer Kraft treten, wenn der Reichstag es beschließt. 58

Angesichts dieser Neuerungen konnte der deutschnationale Abgeordnete Clemens v. Delbrück - während des Krieges Staatssekretär des Innern, Vizekanzler und Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts - beruhigt feststellen: "Alle Bedenken fallen aber weg bei dem Art. 49, so wie er hier gegeben ist. "59 11. Das Deutsche Reich in der Krise

1. In den Monaten nach der Novemberrevolution stand das Deutsche Reich am Rande des Zusammenbruchs. Die Wirtschaft lag völlig am Boden. 60 Auch nach Abschluß des Waffenstillstands am 11. November 1918 blieb die Versorgungslage katastrophal. Der Großteil der Bevölkerung war unterernährt und die Alliierten verschärften noch die Blockade, um das Reich für die bevorstehenden Friedensverhandlungen mürbe zu machen. Selbst der Transport von Nahrungsmitteln bereitete Schwierigkeiten, denn das Eisenbahnmaterial war völlig abgenutzt und ein Teil der Lokomotiven und Waggons mußte an die Entente abgeliefert werden. Hinzu trat ein empfindlicher Produktionsrückgang vor allem in der Stahl- und Kohleindustrie. Dann war das besiegte Reich mit 154 Milliarden Mark hoffnungslos verschuldet; Reparationsforderungen in schwindelerregender Höhe kamen später dazu. Und schließlich standen Anfang November acht Millionen Soldaten unter Waffen, die wieder in den Wirtschaftsprozeß eingegliedert werden mußten. 57

58 59 6IJ

47. Sitzung vom 5. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3238. 47. Sitzung vom 5. Juli, Heilfron 5, S. 3246f. 47. Sitzung vom 5. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3255. Zum Folgenden vgl. Erdmann, S. 171; Schulze, S. 34.

1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

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Die desolate Wirtschaftslage begünstigte die zahlreichen Aufstände, die das Deutsche Reich erschütterten. 61 Im Januar und März 1919 versuchten die Spartakisten gemeinsam mit anderen revolutionären Gruppierungen, in Berlin die Regierung Ebert / Scheidemann zu stürzen und selbst die Macht an sich zu reißen. Reichswehrtruppen und Freikorps, geführt von dem Sozialdemokraten Gustav Noske, schlugen die Aufstände blutig nieder; allein die Märzunruhen forderten 1200 Todesopfer. In Leipzig, Magdeburg, Stettin und Braunschweig sowie in fast allen norddeutschen Hafenstädten entstanden kurzlebige Räteregierungen, die mit Waffengewalt wieder abgesetzt wurden. Im Ruhrgebiet und im mitteldeutschen Braunkohlerevier organisierten KPD und USPD den Generalstreik. In Deutschland herrschte monatelang der offene Bürgerkrieg. Die inneren Erschütterungen brachten auch den Bestand des Reiches überhaupt in Gefahr. Im Süden leiteten bayrische Räteregierungen die Abtrennung von Berlin ein,62 im Westen betrieben rheinische Separatisten - unterstützt durch die französische Besatzungsmacht - die Errichtung einer "Westdeutschen Republik" ,63 und in Teilen der preußischen Ostprovinzen zog der polnische Oberste Volksrat die Regierungsgewalt an sich. 64 Eine noch größere Gefahr für die Reichseinheit bahnte sich während der Friedensverhandlungen an: Fortsetzung des Krieges für den Fall, daß die deutsche Regierung die Bedingungen des alliierten Friedensvertragsentwurfes nicht akzeptieren sollte. Ende Juni spitzte sich die Lage ZU. 65 Französische, britische und amerikanische Truppen trafen Vorbereitungen zum erneuten Vormarsch; das alliierte Oberkommando plante, durch einen Stoß der Hauptstreitmacht entlang der Mainlinie Nord- und Süddeutschland zu trennen und die besetzten Gebiete zu separaten Friedensverträgen zu zwingen. 66 Das hätte das Ende des deutschen Nationalstaats bedeutet. Die extreme Notlage Deutschlands in den Monaten der Verfassungsgebung war mithin gekennzeichnet durch eine katastrophale Wirtschaftslage, Bürgerkrieg und Bedrohung der nationalstaatlichen Existenz. 2. Die umfassende Krise, in der sich das Deutsche Reich nach der Novemberrevolution befand, wirkte in vielfältiger Weise auch auf die Regelung des neuen republikanischen Ausnahmerechts ein. a) Schon vor Inkrafttreten der Weimarer Verfassung hatte sich der Reichspräsident als Träger der Notstandsgewalt herauskristallisiert. 61

62 63 64

65 66

Zum Folgenden Hürten, Bürgerkriege, S. 82ff.; Erdmann, S. 186ff. Vgl. Huber 5, S.1113ff., insbesondere S.112lff. Vgl. Huber 5, S. 1128ff. Vgl. Huber 5, S. 1146ff. Vgl. Schulze, S. 197f. Ebd., S.198.

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Unmittelbar nach Ausrufung der Republik am 9. November 1918 hatte die revolutionäre Reichsspitze - der Berliner Rat der Volksbeauftragten 67 - ihre Maßnahmen noch auf das originäre "Recht der Revolution"68 gestützt. Staatsrechtlich gesehen war dieses Vorgehen der neuen Regierung legal. Denn die herrschende, positivistische Doktrin der Kaiserzeit schrieb dem tatsächlichen Besitz der durch erfolgreichen Umsturz erworbenen Macht rechtsschöpferische Kraft zu. "Legitimität ist kein Wesensmoment der Staatsgewalt", war in dem von Anschütz bearbeiteten Staatsrechtslehrbuch Georg Meyers zu lesen, und so "die Rechtswidrigkeit des Erwerbes der Staatsgewalt kein Hindernis für ihre rechtsverbindliche Ausübung. "69 Erst das Gesetz über die vorläufige ReichsgewalCO - von der Nationalversammlung am 10. Februar 1919 verabschiedet - begrenzte die unumschränkte Machtfülle der revolutionären Staatsorgane und stellte den gewaltenteilenden Verfassungsstaat wieder her. Die Zuständigkeit zur Verhängung des Belagerungszustandes war jedoch nicht ausdrücklich geregelt. Abhilfe brachte schließlich das Übergangsgesetz vom 4. März 1919. 71 Die Befugnisse, die nach den Gesetzen oder Verordnungen dem Kaiser zustanden, gingen auf den Reichspräsidenten über (vgl. § 4), die bisherigen Gesetze und die Verordnungen des Reiches blieben bis auf weiteres in Kraft, soweit ihnen nicht das Übergangsgesetz oder das oben erwähnte Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt entgegenstanden (vgl. § 1 S. 1). Damit wurde auch das alte Kriegszustandsrecht - also Art. 68 BRV in Verbindung mit dem preußischen Belagerungszustandsgesetz - als fortbestehend behandelt. Dem Militär war die alte, vertraute Legalgrundlage von den Revolutionären zurückgegeben worden. Nur war der Reichspräsident jetzt in die Rolle des Kaisers geschlüpft und "Herr des Ausnahmezustandes" - ein Vorgang, der die Loyalität der monarchistisch gesinnten Reichswehroffiziere gegenüber der republikanischen Regierung sicherlich verstärkte. Ebert scheute sich auch nicht, das ihm zur Verfügung gestellte Instrumentarium zu nutzen. Siebenmal verhängte er in den Monaten April - Juni 1919 den Belagerungszustand und trat damit kommunistischen Umsturzversuchen in Sachsen und Norddeutschland entgegen.72 Die staatsrechtliche Entwicklung der ersten Hälfte des Jahres 1919 entsprach mithin der von Hugo Preuß angestrebten Konzentration der Notstandsbefugnisse beim Reichspräsidenten, wie sie der Schöpfer der Weimarer Ver67

68 69 70

71 72

Vgl. Huber 5, S. 706ff. Vgl. Huber 5, S. 1091. Meyer, Lehrbuch, 7. Aufl., S. 26. Kritisch zu dieser Auffassung Huber 6, S. 7ff. RGBI. 1919, S. 169ff. RGBI. 1919, S. 285f. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 74. Vgl. Huber 5, S. 1092 Fn. 77; Kimmei, Anlage 1.

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1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

fassung schon im ersten unveröffentlichten Entwurf vom 3. Januar 191973 vorgeschlagen hatte. Diese Parallelität war sicherlich kein bloßer Zufall. Wenn Preuß im Ausnahmefall dem Reichspräsidenten die "bewaffente Macht" uneingeschränkt zur Verfügung stellte (vgl. § 63 E I), lag darin eine verfassungsrechtliche Untermauerung des "Bündnisses Ebert-Groener"74, mit dem die revolutionäre Reichsleitung und die traditionell orientierte Armee im November 1918 ihre Zusammenarbeit begründet hatten. Eben diese Aufgabe erfüllten vorläufig die provisorischen Verfassungsgesetze vom Frühjahr 1919 und schließlich - auf Dauer - die Notstandsregelungen des Art. 48. Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten war - unter diesem Blickwinkel gesehen - ein Produkt der aus der deutschen Katastrophe geborenen Koalition von Reichswehr und (Mehrheits-)Sozialdemokratie. b) In zweifacher Hinsicht entsprach ferner die gesetzestechnische Ausgestaltung der präsidialen Ausnahmegewalt der existentiellen Krisenlage der Jahre 1918/19. aa) Zum einen war das dem alten Recht eigentümliche Institut der "Erklärung des Belagerungszustandes" weggefallen. Diese an strenge Formen gebundene Prozedur75 war notwendige Voraussetzung für den Übergang der vollziehenden Gewalt, die Suspension von Grundrechten und die Bildung von Sondergerichten. Nur auf Grund dieses ausdrücklichen Verhängungsakts wurde der normale Rechtszustand verdrängt, und nur durch die ausdrückliche "Aufhebung des Belagerungszustandes"76 wurde er wiederhergestellt. In diesem Gesetzesmechanismus spiegelt sich die Funktion des Belagerungszustandes als "Abwehrmittel gegen Ordnungsumsturz"77 und damit als eines spezifisch gerade dem "bürgerlichen" Rechtsstaat zugeordneten Notstandsinstitutes wider.78 Militärisches Eingreifen sollte "Ruhe und Ordnung" aufrechterhalten. Im Falle eines Aufruhrs wurde der Belagerungszustand "erklärt" und die Unruhen unterdrückt. Die Notlage war nunmehr beseitigt und der Belagerungszustand wurde aufgehoben; das staatliche und gesellschaftliche Leben konnte seinen gewohnten Gang fortsetzen. Normal- und Krisenlage ließen sich ebenso wie das auf diese Situationen zugeschnittene Normal- und Krisenrecht fein säuberlich voneinander trennen.

S.o. A. Dazu Huber 5, S. 751ff. und ders., Kanzlerregime, S. 485ff. Zur weiteren Zusammenarbeit der Regierungsorgane mit der Reichswehrführung vgl. unten Zweites Kapitel A. 75 Vgl. § 3 Abs.l BZG: "Trommelschlag und Trompetenschall". 76 Vgl. §" 3 Abs. 2 BZG. 77 Oberreuter, S. 35. 78 Vgl. dazu Boldt, Rechtsstaat, S. 74ff., Oberreuter, S. 34f. 73

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Schon während des 1. Weltkrieges indes war ein fundamentaler Stilwandel des Ausnahmerechts eingetreten. 79 Dem jahrelangen Spannungszustand entsprach die permanente Anwendung des Ausnahmerechts, und auch jetzt - in der existentiellen Reichskrise der Revolutionszeit - ließ sich die Notlage von der Normallage, anders als früher, nicht mehr zeitlich und örtlich genau abmarken. 8o Folgerichtig fiel die Prozedur der "Erklärung" und "Aufhebung" des Ausnahmezustandes bereits in § 63 des ersten Preuß'schen Entwurfs ersatzlos weg. bb) Von den überlieferten Regelungen des Belagerungszustandes unterschied sich das neue Ausnahmerecht - zum anderen - durch die Verwendung von Generalklauseln sowohl auf der Tatbestands- wie auf der Rechtsfolgenseite der Norm.81 Schon der erste Entwurf zur Reichsverfassung war in der Formulierung an den elsaß-lothringischen Diktaturparagraphen aus dem Jahre 187182 angelehnt. Diese Regelung ermächtigte den Oberpräsidenten des Reichslandes (seit 1879: den kaiserlichen Statthalter), "bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit ... alle Maßregeln ungesäumt zu treffen, welche er zur Abwendung der Gefahr für erforderlich erachtet. "83 Preuß erweiterte den Voraussetzungstatbestand noch um die öffentliche "Ordnung", mithin um einen Begriff, den er der polizeilichen Generalklausel (§ 10 11, 17 des Allgemeinen Preußischen Landrechts) entnommen hatte.84 Ähnlich unbestimmt wie die Formel von der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" war auch das Instrumentarium, mit dem das Staatsoberhaupt künftigen Notständen entgegentreten sollte. Im ersten Regierungsentwurf (E I) war nur davon die Rede, daß der Reichspräsident "mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten und die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen" treffen dürfe. In diesem frühen Stadium der Verfassungsgebung war nicht einmal vorgesehen, den unscharfen Begriff der "erforderlichen Anordnungen" in einem Reichsgesetz nach dem Vorbild des überlieferten Belagerungszustandes rechtsstaatlich einzugrenzen. Dies wurde zwar unter dem Einfluß der Länder nachgeholt, auch war es dem Reichspräsidenten nunmehr ausdrücklich erlaubt, bestimmte Grundrechte außer Kraft zu setzen.8s Doch was unter den "erforderlichen Anordnungen", oder, wie es dann

Vgl. oben I 2. Vgl. Huber, Lehre, S. 194. 81 Zum alten Recht insb. oben I 1. 82 § 10 des Verwaltungsgesetzes für Elsaß-Lothringen vorn 30. Dezember 1871 (Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen 1872 S. 49); zitiert nach Huber, Dok. 2, 3. Aufl., Nr. 279. Der elsäßisch-lothringische Diktaturparagraph ging wiederum auf die preußische Instruktion für die Oberpräsidenten vorn 31. Dezember 1825 zurück. Vgl. Huber, Lehre, S.194. 83 Dazu Huber, Lehre, S. 194. 84 Zur Interpretation der Voraussetzungsformel unten Zweites Kapitel BIlL 85 Vgl. unten Zweites Kapitel2ccc. 79

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nach den Beratungen des Achten Ausschusses der Nationalversammlung hieß, "erforderlichen Maßnahmen" zu verstehen war - darüber schwieg sich der Verfassungstext weiterhin aus. Die Deformalisierung des republikanischen Ausnahmerechts sowie die nur vage Umschreibung der dem Reichspräsidenten verliehenen Befugnisse bot einen wesentlichen Vorteil. Der Träger der Notstandsgewalt war nicht mehrwie früher der Kaiser - auf eine schwerfällige Maschinerie wie die des preußischen Belagerungszustandsgesetzes86 verwiesen. Er besaß nun die freie Gestaltungsmacht in der Bestimmung und Handhabung des Notstandsartikels, konnte seine Maßnahmen je nach dem Grad der Notwendigkeit von verhältnismäßig unauffälligen und wenig fühlbaren bis zu den schärfsten Eingriffen abstufen87 und damit auf unvorhersehbare - im voraus schwer zu regelnde Krisenlagen höchst flexibel reagieren. cc) Anhand der dieser Untersuchung zugrunde liegenden Quellen lassen sich keine gesicherten Erkenntnisse darüber gewinnen, ob Hugo Preuß mit der Deformalisierung und der generalklauselartigen Ausgestaltung des neuen republikanischen Ausnahmerechts tatsächlich eine Anpassung des verfassungsrechtlichen Instrumentariums an die nahezu sämtliche Lebensbereiche erfassende Krise der Jahre 1918/19 beabsichtigte. Man wird jedoch vermuten dürfen, daß die verzweifelte Lage des Deutschen Reichs in den Monaten der Verfassungsgebung in dieser Hinsicht einen erheblichen Einfluß schon auf die ersten Entwürfe zur Reichsverfassung ausübte. Einen Rückschluß auf die Motive Preuß' erlaubt seine Anfang des Jahres 1923 - auf dem Höhepunkt der Ruhrkrise 88 - erschienene Abhandlung "Reichsverfassungsmäßige Diktatur". Offensichtlich lag den weitgefaßten präsidialen Ausnahmevollmachten ein verfassungspolitischer Zielkonflikt zugrunde: ... legten eben die ganz außerordentlichen Gefahren der äußeren und inneren Lage Deutschlands, die offenbar auf die rasche Schaffung fester verfassungsrechtlicher Ordnung hinweisen, zugleich die grade entgegengesetzte Forderung einer scharf zusammenfassenden, in ihren Entschließungen und Handlungen möglichst ungehemmten Regierungsgewalt nahe. "89

Einen Ausweg aus diesem Dilemma sah Preuß im Art. 48: Mußte ... der Verfassungsgesetzgeber alle rechtsstaatlichen Garantien in höchstem Ausmaße entfalten und sie in Kraft setzen, ehe noch die neuen Zustände wirklich konsolidiert waren, so mußte er zugleich, wenn er sein Werk nicht allen Gefahren hilflos preisgeben wollte, in dieser rechtsstaatlichen Verfassung selbst die Möglichkeit einer schlagkräftigen Diktatur vorsehen. "90 86

87 88 89

VgJ. oben I 1. Huber, Lehre, S. 194. Dazu Huber 7, S. 275 ff. Preuß, Diktatur, S. 98.

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Die konstitutionelle Notstandsgewalt des Reichspräsidenten erscheint mithin in ihrer verfassungspolitischen Zielsetzung als ein Residuum der souveränen Diktatur91 des revolutionären Rats der Volksbeauftragten. 92 c) Schließlich dürfte die extreme Notlage des Reiches nach der Novemberrevolution psychologisch auch den Boden dafür bereitet haben, daß eine Mehrheit der Abgeordneten in der Nationalversammlung die Preuß'sche Konzeption einer starken präsidialen Ausnahmegewalt vorbehaltlos billigte und manchem aus den Reihen der Linksliberalen und der rechten Opposition die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten sogar nicht weit genug gehen konnte. 93 War doch der Sitz der verfassungsgebenden Versammlung wegen revolutionärer Unruhen in der Reichshauptstadt überhaupt erst nach Weimar verlegt worden,94 und auch die ständige Anwesenheit des Freikorps Maercker, das den militärischen Schutz der Konstituante übernommen hatte,95 war in dieser Hinsicht wohl nicht ohne Wirkung geblieben. Einige Zeit soll der Sitz der Nationalversammlung durch Aufstände und Ausstände von der Außenwelt "ziemlich" abgeschnitten gewesen sein96 - Preuß schrieb diesem Umstand einen entscheidenden Einfluß auf die Reföderalisierung des Ausnahmerechts ZU. 97 Dieses psychologische Umfeld mag auch dazu beigetragen haben, daß die Nationalversammlung - gemessen an anderen verfassungspolitischen Auseinandersetzungen - verhältnismäßig wenig Zeit auf die Diskussion der präsidialen Diktaturgewalt verwandte. Nur in der zweiten Lesung, am Nachmittag des 5. Juli 1919, debattierten die Abgeordneten ausführlich über den späteren Art. 48 Abs. 2. d) In mehrfacher Hinsicht beeinflußte mithin die katastrophale Lage Deutschlands in den Jahren 1918/19 die Genese des Art. 48. Zum einen hatte bereits die Entwicklung der Notstandsverfassung nach der Novemberrevolution - geprägt durch das "Bündnis Ebert-Groener" - die Entscheidung der Weimarer Nationalversammlung zum Reichspräsidenten als vorrangigem Träger der Ausnahmegewalt vorweggenommen. Zum anderen lag in der rechtstechnischen Ausgestaltung der präsidialen Diktaturkompetenz - Generalklausel und Deformalisierung - eine Anpassung des verfassungsrechtlichen InstruEbd., S.100. Zu den von Carl Schmitt geprägten Begriffen der "kommissarischen" und "souveränen" Diktatur vgl. unten Viertes Kapitel B I2abb. 92 Aufschlußreich auch Preuß, Diktatur, S. 101: "Weil jene (die souveräne Diktatur des Rates der Volksbeauftragten, A. K.) aus äußeren und inneren Gründen nur wenig durchgreifend hatte wirken können, war diese (die kommissarische Diktatur des Reichspräsidenten, A. K.) um so unentbehrlicher." 93 Zu den Beratungen der Nationalversammlung und den Stellungnahmen der Parteien zur präsidialen Diktaturgewalt vgl. unten 111. 94 Vgl. Böckenförde, Zusammenbruch, S. 35; Schulze, S. 184. 95 Vgl. Huber 5, S. 1076. 96 So Preuß, Diktatur, S. 109f. 97 Ebd., S. 109f. 90 91

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1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

mentariums an die nahezu sämtliche Lebensbereiche erfassende Nachkriegskrise. Und schließlich dürfte die vielfältige Bedrohung der jungen Republik auch in der Nationalversammlung die Bereitschaft gefördert haben, das Preuß'sche Konzept einer "schlagkräftigen Diktatur" in die Reichsverfassung zu übernehmen. IH. Art. 48 im Widerstreit der Verfassungskonzeptionen

Die gegensätzlichen Verfassungskonzeptionen der in der Nationalversammlung vertretenen Parteien prägten auch den Streit um die inhaltliche Ausgestaltung der "Diktaturgewalt des Reichspräsidenten" .98 1. Am deutlichsten kam das in der Stellungnahme der USPD zum Ausdruck. Die Unabhängigen wollten den Räten ein größeres Maß an Berücksichtigung bei der demokratischen Neuordnung sichern,99 verlangten die Beibehaltung des Direktorialsystems lOO und lehnten infolgedessen die Institution eines Reichspräsidenten ab.1° l

Dementsprechend beantragte der Abgeordnete Cohn schon im Verfassungsausschuß, dem Reichstag die Oberaufsicht über Verwaltung und Rechtsprechung zu überlassen; darüber hinaus sollte das Parlament der Reichsregierung und dem Reichspräsidenten bindende Weisungen in Verwaltungssachen erteilen dürfen. 102 Nachdem dieser Antrag gescheitert war, drängten die Unabhängigen in der zweiten Lesung, das Amt des Reichspräsidenten ersatzlos zu beseitigen. 103 "Eine persönliche Spitze", befürchtete Hugo Haase, könne sich zu "einem persönlichen Regiment ausbilden".l04 Diese Bedenken waren keineswegs nur prinzipieller Art, sondern richteten sich auch ausdrücklich gegen die Amtsführung Eberts. 105 So bekämpften die Unabhängigen heftig jeden weiteren Machtzuwachs des Reichspräsidenten, und damit auch den späteren Art. 48 Abs. 2:

98 Den Begriff "Diktaturgewalt" für die Ausnahmekompetenz des Reichspräsidenten gebrauchte wohl zum ersten Male der Abgeordnete Fischer (SPD) in der 17. Sitzung der Nationalversammlung vom 18. Februar, vgl. Heilfron 2, S. 924. 99 Mommsen, S. 371. 100 Ebd. 101 Vgl. zu der verfassungspolitischen Zielsetzung der USPD auch Bäckenfärde, Zusammenbruch, S. 38; Huber 5, S. 993ff. 102 25. Sitzung vom 8. April 1919, Verhandlungen, Bd. 337. 103 Vgl. Heilfron 5, S. 318lf., 46. Sitzung v. 4. Juli; Antrag Agnes u. Genossen v. 1. Juli, Drucksachen Nr. 428, Ziffer 9ff., Verhandlungen, Bd. 337. 104 Heilfron 5, S. 3194,46. Sitzung vom 4. Juli. 105 Vgl. Haase ebd., S. 3193: insbesondere in der Friedensfrage habe Ebert in den Gang der Politik in unzulässiger Weise eingegriffen.

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Am 4. Juli beantragten die Abgeordneten Agnes und Genossen, den Art. 49 (E V) zu streichen.l06 Tags darauf versuchte Oskar Cohn nachzuweisen, daß diese Bestimmung "in den Rechtszustand zurückführen"107 solle, "der vor dem Jahre 1918 in Preußen bestanden"108 habe. Er warnte davor, "alle die Handlungen der Willkür und der militärischen Tobsucht, die wir im Kriege und nach dem Kriege in der Bekämpfung der politischen Bestrebungen erlebt haben, durch Art. 49 zu legalisieren"109 und warf den Abgeordneten der Mehrheitssozialdemokratie vor, ihr "Schrei nach Gesetzlichkeit" 110 sei nichts weiter als "ein Schrei der Parteiregierung nach dem Bürgerkriege".lll In der Fraktion der USPD sah man offensichtlich in der "Diktaturgewalt" eine verfassungsrechtliche 'Festschreibung der mit dem "Bündnis EbertGroener" schon im November 1918 begründeten Zusammenarbeit von revolutionärer Reichsleitung und überlieferter Militärgewalt. ll2 2. Die Mehrheitssozialdemokraten strebten die parlamentarische Demokratie an. l13 In der näheren Ausgestaltung der demokratisch-parlamentarischen Ordnung indes schwankte die Haltung der MSPD. Man dachte zunächst an ein rein parlamentarisches System mit einem kollegialen Kabinett als Exekutive, das ausschließlich vom Willen der Volksvertretung abhängig sei 114 und wünschte daher eine möglichst weitgehende Reduzierung der im Preuß'schen Entwurf vorgesehenen Machtbefugnisse des Reichspräsidenten. 115 Während der Verfassungsberatungen in der Nationalversammlung hatte sich die MSPD der Preuß'schen Verfassungskonzeption angenähert, versicherte doch der sozialdemokratische Abgeordnete Quarck am 4. Juli in der zweiten Lesung, daß "wir durchaus auf dem Boden der Vorlage und der Ausschußbeschlüsse"116 stünden. Ein Teil der Fraktion indes konnte sich auch weiterhin nicht mit der Idee eines starken, volks gewählten Präsidenten anfreunden. In der dritten Lesung forderte ein sozialdemokratischer Antrag, die Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre herabzusetzen. ll7 Ein zweiter Antrag, das Staatsober106 Antrag Agnes und Genossen vom 3. Juli 1919, Drucksachen Nr. 454; Verhandlungen, Bd. 337. 107 47. Sitzung, Heilfron 5, S. 3239. 108 Ebd. 109 47. Sitzung, Heilfron 5, S. 3245. 110 Ebd., S. 326l. 111 47. Sitzung, Heilfron 5, S. 326l. 112 Vgl. auch unten Zweites Kapitel A. 113 Dazu Böckenförde, Zusammenbruch, S. 30,38 m. w. N. 114 Vgl. Mommsen, S. 37l. 115 Vgl. Mommsen, S. 400. 116 46. Sitzung, Heilfron 5, S. 3198. 117 Antrag Auer und Genossen vom 29. Juli, Verhandlungen, Bd.337, Drucksache Nr. 690 Ziffer 5.

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1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

haupt nicht durch das Volk, sondern durch Reichstag und Reichsrat wählen zu lassen, wurde allerdings wieder zurückgezogen. 118 Die verfassungspolitischen Spannungen innerhalb der Mehrheitssozialdemokratie waren auch bei den Auseinandersetzungen um Inhalt und Reichweite der präsidentiellen Ausnahmegewalt zu spüren. Mehrfach ergriffen Sozialdemokraten Initiativen zur Restriktion der von Preuß vorgeschlagenen Ausnahmebefugnisse. Der Abgeordnete Fischer setzte durch, daß der Reichspräsident nur "unter Verantwortlichkeit des gesamten Reichsministeriums" seine Maßnahmen treffen durfte, damit er nicht "mit dem Kriegsminister hinter dem Rücken des Ministerpräsidenten"119 vorgehe - ein Zusatz, der in der dritten Lesung wieder gestrichen wurde. 120 Sein Fraktionskollege Katzenstein wollte dem Reichspräsidenten allein für den Fall einer Gefährdung oder Störung der "öffentlichen Sicherheit" Ausnahmekompetenzen in die Hand geben; die Formel von der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" barg für ihn die Gefahr einer "extensiven Interpretation".121 Auf Katzensteins Initiative ging auch zurück, daß dem Reichstag für die Kontrolle der im späteren Art. 48 Abs. 4 verankerten, vorläufigen Ausnahmebefugnisse der Landesregierungen dieselben Möglichkeiten wie dem Reichspräsidenten zugesprochen wurden. 122 Und schon im Verfassungsausschuß war wiederum von Fischer die Frage aufgeworfen worden, wie der Reichstag seine Kontrollrechte wahrnehmen könne, wenn er nicht versammelt sei. 123 MSPD-Abgeordnete beantragten dann auch in der dritten Lesung, das ursprünglich vorgesehene Genehmigungsrecht des Reichstags für die Zeit seines Nichtversammeltseins auf den Ständigen Ausschuß zu übertragen. 124 Da aber gerade in der dritten Lesung das Genehmigungserfordernis entfiel,125 kam der Antrag nicht mehr zur Abstimmung 126 - obgleich die von Fischer entdeckte Lücke in der Kontrolle der präsidialen Diktaturgewalt auch nach dieser Modifikation des Preuß'schen Entwurfs unverändert fortbestand.

In die Regierungsverantwortung eingebundene Sozialdemokraten begegneten einer weiten Ausnahmevollmacht des Reichspräsidenten weniger zurückhaltend. Scharf wandte sich der preußische Innenminister Heine gegen den Katzenstein'schen Antrag, die Worte "und Ordnung" zu streichen: Ebd. Ziffer 4 und 70. Sitzung vorn 30. Juli, Heilfron 7, S. 368. Fischer am 9. April im Verfassungsausschuß, 26. Sitzung, Verhandlungen, Bd. 336, S.288. 120 70. Sitzung vorn 30. Juli, Heilfron 7, S. 369. 121 47. Sitzung vorn 5. Juli, Heilfron 5, S.3254. Damit wollte er die diesbezüglichen Bedenken Cohns ausräumen; vgl. Cohn, ebd., S. 3241. 122 47. Sitzung vorn 5. Juli, Heilfron 5, S. 3238. 123 25. Sitzung vorn 8. April, Verhandlungen, Bd. 336, S. 275. 124 Vgl. Drucksache Nr. 690 Ziffer 6, Verhandlungen, Bd. 337. 125 Vgl. unten 3b. 126 Vgl. 70. Sitzung vorn 29. Juli, Heilfron 7, S. 349f. 118 119

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Ich möchte unter allen Umständen die Möglichkeit für einen Inhaber der vollziehenden Gewalt sichern, daß er auch in die Lebensmittelpreise, in die Verkäufe usw. eingreift ... Sie legen dadurch ... gerade in wirtschaftlichen Dingen, auf die doch meine Parteigenossen und ich in solchen Dingen den Hauptwert legen werden, eine ganz unnötige und gefährliche Fessel an".127

Damit war die Praxis des wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustandes in den späteren Weimarer Jahren vorgezeichnet. 3. Die verfassungspolitische Konzeption der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei war zum einen geprägt von Robert Redslobs Theorie des "echten Parlamentarismus", zum anderen von Max Webers Forderung nach einem "cäsaristischen Führer": a) Unmittelbar vor der Novemberrevolution war eine Schrift des Straßburger Rechtsgelehrten Robert Redslob erschienen: "Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form". Redslob sah den "echten Parlamentarismus" nur verwirklicht, wenn ein "System des Gleichgewichts" 128 zwischen Exekutive und Legislative herrschte, wenn sich Ministerium und Parlament die Waage hielten. 129 Entstanden Konflikte zwischen Regierung und Parlament, über die sich keine Einigung erzielen ließ, blieb - so Redslob - nur "eine radicale Lösung übrig: Eine höhere Gewalt tritt auf den Plan und spricht das Urteil unter den zwei streitenden Parteien. Dieses Schiedsrichteramt fällt dem Volke, deutlicher gesagt, dem Wähler zu" .130 Dem Staatsoberhaupt als der "schöpferischen Kraft des Mechanismus"l31 oblag es, durch Auflösung des Parlaments und anschließender Neuwahl diese Entscheidung des Volkes herbeizuführen und damit dessen "wahren Willen"132 festzustellen; das Staatsoberhaupt diente also nur als "Mittler ... zwischen den Wählern auf der einen, dem Parlament und dem Ministerium auf der anderen Seite" .133 Hugo Preuß hatte bereits für den ersten Verfassungsentwurf vom Januar 1919 ein Organisationsschema der obersten Staatsorgane entwickelt, das in seinen wesentlichen Zügen auch in die Weimarer Reichsverfassung übernommen wurde. Dabei schien er das Redslobsche Gleichgewichtsdenken rezipiert zu haben: "Der echte Parlamentarismus setzt ... zwei einander wesentlich ebenbürtige höchste Staatsorgane voraus" .134 127 47. Sitzung vom 5. Juli 1988, Heilfron 5, S. 3258. Aufschlußreich auch Löbe in der 147. Sitzung der Nationalversammlung am 3. März 1920: "Die sozialdemokratische Partei hat dem § 48 zugestimmt. Sie erblickte darin eine Waffe zur Verteidigung der demokratischen Republik gegen gewaltsame Angriffe." Heilfron 9, S.166. 128 Redslob, S. 4. 129 Ebd., S. 7. 130 Redslob, S. 3. l3l Ebd., S. 4. 132 Redslob, S. 181. 133 Ebd., S. 6.

3 Kurz

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1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

Indes stellte Preuß nicht Parlament und Regierung, sondern Parlament und Staatsoberhaupt gegenüber. Reichstag und Reichspräsident stünden nicht in "unverbundener Gegensätzlichkeit"135 nebeneinander, sondern die parlamentarische Regierung bilde das "bewegliche Bindeglied"136. Einerseits nämlich war sie vom Vertraue~ des Parlaments abhängig, andererseits wurde sie vom Reichspräsidenten ernannt; Akte des Reichspräsidenten wiederum bedurften der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Ressortminister. Die von Redslob behauptete "organische Tendenz" der Republik, "sich unter einem einseitigen Regiment zu constituieren"137, versuchte Preuß auszugleichen, indem er den Reichspräsidenten vom Volk wählen ließ und ihm so eine vom Parlament unabhängige plebiszitäre Legitimation verschaffte: In der parlamentarischen Demokratie, in der alle politische Gewalt vom Volkswillen ausgeht, erhält der Präsident die ebenbürtige Stellung neben der vom Volke unmittelbar gewählten Volksvertretung nur, wenn er nicht von dieser selbst, sondern unmittelbar vom Volk gewählt wird"138

Konflikte zwischen Staatsoberhaupt und Parlament entschied - in Anlehnung an Redslob - das Volk selbst: Da sowohl der Reichspräsident wie das Parlament ihre politische Gewalt vom deutschen Volk ableiten, so muß die Entscheidung über sonst nicht auszugleichende politische Konflikte wiederum dem Volk zufallen" .139

Zu diesem Zweck konnte der Reichspräsident den Reichstag auflösen oder einen Volksentscheid herbeiführen;14o Akte, die allerdings der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Ressortminister bedurften. Dem Reichstag stand hingegen die Befugnis zu, durch den Beschluß einer Zweidrittelmehrheit eine Volksabstimmung über die Weiterführung der Präsidentschaft zu veranlassen. 141 In einem wesentlichen Punkt freilich unterschied sich die Preuß'sche Konzeption vom Redslobschen Vorbild. Indem Preuß dem Parlament als Widerpart das Staatsoberhaupt - und nicht die Regierung - gegenüberstellte, vereinigte der Reichspräsident zwei gegensätzliche Funktionen in sich: er war zugleich Konfliktpartei und neutraler "Mittler" des Wählerwillens. Deshalb trug auch die ihm zugesprochene Auflösungsbefugnis - entgegen den Preuß'schen Intentionen - einen ambivalenten Charakter, sofern ihre Ausübung nicht nur die Feststellung des "wahren Willen" des Volkes, sondern zugleich - oder ausschließlich - die vorläufige Ausschaltung des Konfliktgegners - des 134 Preuß, Denkschrift, 135 Ebd. 136 Preuß, Denkschrift, 137 Redslob, S. 184. 138 Preuß, Denkschrift, 139 Ebd., S. 388. 140 Preuß, Denkschrift, 141 Ebd., S. 389.

S. 387. S. 387. S. 387. S. 388f.

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Reichstags - intendierte. Diese Konsequenz - auch für die parlamentarische Kontrolle der präsidentiellen Ausnahmegewalt - war von Preuß freilich nicht bedacht worden. In der DDP-Fraktion fand die Preuß - Redslobsche Konstruktion starken Widerhall: "Der Reichspräsident muß die Möglichkeit haben", betonte Ablaß im Verfassungsausschußl42, "wenn er nach bester Überzeugung davon ausgeht, daß der Reichstag mit seinen Beschlüssen auf falschem Wege oder mit dem Volksempfinden in Widerspruch ist, das Volk gegen den Reichstag anzurufen. Das ist demokratisch, und gegen den Appell an das Volk wird sich ein guter Demokrat nicht wehren können." In der zweiten Lesung hielt es Ablaß für unumgänglich, "neben dem Reichstag ein Kontrollorgan zu schaffen"143 und er unterstrich die Aufgabe des Reichspräsidenten als des starken Gegengewichtes aus der Volkskraft heraus gegenüber einern Parlament, das "vielleicht seiner Pflichten nicht vollständig bewußt"144 sei. b) Dieses starke Vertrauen in die Institution des volksgewählten Staatsoberhaupts wurde durch die Ideen Max Webers noch verstärkt. Er forderte einen plebiszitär legitimierten Reichspräsidenten, der als Haupt der Exekutive und unmittelbarer Vertrauensmann der Massen, gegenüber der sekundären, abgeleiteten Autorität der Regierung, gegenüber dem von Parteimaschinen und Berufspolitikern ohne Beruf mechanisierten Parlament, zum eigentlichen Träger der Reichspolitik berufen schien. 145 Der Einfluß der Weberschen Gedankengänge läßt sich auch in der Nationalversammlung nachweisen. Friedrich Naumann etwa betonte "das Bedürfnis nach einer Persönlichkeit, die das Ganze im Auge hat"146 und wies auf die Möglichkeit hin, daß im Reichstag eine Mehrheit nicht zu finden und eine Regierung nicht ohne weiteres gebildet werden könne: "Dann muß der Präsident wirksam werden, er muß eine Regierung zu bilden verstehen ... " 147. Ähnlich sah Ablaß den Reichspräsidenten als "Vertrauensmann und Erwählten des ganzen deutschen Volkes"148 und Koch-Weser wollte das Staatsoberhaupt nicht lediglich zu einer "Repräsentationsfigur"149 absinken lassen: Was wir erwarten, ist ein Mann, der auf hoher Warte steht, und nur dann, wenn die Stunde der Gefahr herangekommen ist, herabsteigt und in den Streit der Meinungen mit ernsten Worten eingreift. 1so 22. Sitzung vom 4. April, Verhandlungen, Bd. 336, S. 233. 46. Sitzung vom 4. Juli, Heilfron 5, S. 3195. Siehe auch Haußmann in der 23. Sitzung des Verfassungsausschusses am 5. April: "selbst regulierende Gewichte"; Verhandlungen, Bd. 336, S. 253. 144 Ebd., Heilfron 5, S. 3196. 145 Vgl. Mommsen, S. 389. 146 25. Sitzung des Verfassungs ausschusses vom 8. April, Verhandlungen, Bd. 336, S. 272. 147 Ebd. 148 46. Sitzung vom 4. Juli, Heilfron 5, S. 3195. 149 17. Sitzung vom 28. Februar, Heilfron 2, S. 972. 142 143

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Ein Teil der DDP-Fraktion beabsichtigte gar, den Preuß'schen Entwurf den Weberschen Ideen weiter anzunähern und forderte, für die Anordnung einer Volksabstimmung, die Auflösung des Reichstags sowie für Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers das Erfordernis der Gegenzeichnung fallen zu lassen. 151 c) Angesichts des grenzenlosen Vertrauens der Linksliberalen in das plebiszitär legitimierte Staatsoberhaupt verwundert es nicht, daß die Deutsche Demokratische Partei die gelegentlichen Bedenken ihres sozialdemokratischen Koalitionspartners gegen eine beim Reichspräsidenten konzentrierte, starke Ausnahmegewalt keineswegs teilte. 152 Preuß selbst war mit dem Entwurf I von seinen eigenen - im Herbst 1917 niedergelegten - Verfassungsreformvorschlägen abgerückt, in denen er grundsätzlich dem Reichstag - und nicht dem monarchischen Staatsoberhaupt - die Befugnis zugesprochen hatte, den Ausnahmezustand zu erklären. 153 Auch in der Nationalversammlung traf die diktatorische Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten auf breite Zustimmung bei der DDP-Fraktion. Mißtrauen gegen die ausführenden Organe sei eine "Kinderkrankheit der Demokratie"154 erklärte Schücking, und Koch-Weser bedauerte, "daß die Herren heute noch immer die Regierung mit Kautelen umlegen wollen, als wenn sie sich im alten Obrigkeitsstaat befänden" .155 In der zweiten Lesung bezeichnete der Abgeordnete Haas den "jetzt geplanten Zustand als kaum brauchbar", da die Erklärung des Belagerungszustandes "mit den allerweitesten Rechtskautelen umgeben" werde und er kündigte an, "den Art. 49 sich für die dritte Lesung noch einmal sehr genau anzusehen. "156 Das geschah dann auch.l 57 Auf seine Ebd. Vgl. 22. und 26. Sitzung des Verfassungsausschusses vom 4. und 9. April, Verhandlungen, Bd. 336, S. 233, 290. 152 Auf einen solchen indirekten Einfluß beschränkt sich allerdings auch die Wirkung der Weberschen Ideen. Vgl. zutreffend Mommsen, S. 403. E. Baumgarten, der zunächst den Art. 48 dem Einfluß Webers zuschrieb, bezeichnet diese Ansicht nunmehr als "legendäre Pointierung" der Weberschen Konzeption. Vgl. ders., Einleitung 1, S. XXV einerseits und Einleitung 2, S. XXVI andererseits. 153 Art. 68 des Preuß'schen Entwurfes lautete: (1) Im Falle eines Krieges oder Aufruhrs kann durch Reichsgesetz das Reichsgebiet oder Teile davon in Kriegszustand erklärt werden. Das Gesetz bestimmt die Abweichungen von dem ordentlichen Rechtszustand im einzelnen; jedoch darf durch keine die oberste Leitung der außerordentlichen Maßnahmen der dem Reichstag verantwortlichen Reichsregierung entzogen werden. (2) Ist der Reichstag nicht versammelt und ist Gefahr im Verzuge, so kann der Kaiser auf Antrag und unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers die nötigen Bestimmungen vorläufig erlassen bis zum Zusammentritt des Reichstags, der sofort zu berufen ist. Text: Preuß, Staat, S. 322f. 154 46. Sitzung vom 4. Juli, Heilfron 5, S. 3155. 155 Ebd., S. 3229. Ähnlich Preuß vor dem Verfassungsausschuß, Verhandlungen, Bd. 336, S.275. 156 47. Sitzung vom 5. Juli, Heilfron 5, S. 3248. 150 151

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Initiative hin wurde der Zusatz "unter Verantwortung des ganzen Reichsministeriums" gestrichen; es genügte nunmehr die Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder des zuständigen Ressortministers (v gl. Art. 50). Als folgenreich für die weitere verfassungsrechtliche Entwicklung sollte sich jedoch eine zweite, von Haas durchgesetzte Änderung entpuppen. In der revidierten - endgültigen - Fassung der Ausnahmebestimmung entfiel das Genehmigungserfordernis - und damit die notwendige Mitwirkung des Reichstags für präsidentielle Notstandsmaßnahmen. Der Reichspräsident konnte sich nunmehr damit begnügen, dem Parlament "unverzüglich Kenntnis zu geben" (Art. 48 Abs. 3 Satz 1). Damit war die Rechtswirksamkeit der nach Abs. 2 getroffenen Maßnahmen gesichert, solange sie nicht der Reichspräsident auf Verlangen des Reichstags außer Kraft setzte (vgl. Art. 48 Abs. 3 Satz 2). "Eine zweifellose Verbesserung des Entwurfs auch im Sinne seines Verfassers" bekannte Hugo Preuß einige Jahre später,158 4. Die katholische Zentrumspartei spielte bei der Diskussion um die Ausgestaltung der präsidialen Ausnahmebefugnisse keine maßgebliche Rolle. In den Reihen ihres bayrischen Pendants, der Bayrischen Volkspartei, betrieb man freilich erfolgreich die Reföderalisierung der Reichsnotstandsgewalt. 159 5. Die oppositionellen Rechtsparteien (Deutschnationale Volkspartei, Deutsche Volkspartei) dagegen scherten sich im Gegensatz zu den Linksliberalen wenig um die plebiszitär-demokratischen Wurzeln des Reichspräsidentenamtes. An einer eigenen, der neuen politischen Ordnung Gestalt gebenden Idee fehlte es, und so beschränkten sie sich darauf - ganz dem obrigkeitsstaatlichen Denken verhaftet - die Befugnisse des Staatsoberhaupts möglichst auszuweiten. a) Für die Deutschnationalen, denen die Weimarer Verfassungskonstruktion "nicht konservativ genug"160 war, ergriff der Abgeordnete Philipp das Wort. Seinen Freunden könne "die Stellung des Reichspräsidenten nicht mächtig genug"161 sein, eine "machtvolle oberste Spitze" sei besonders notwendig "zu Zeiten, die aus einer Revolution geboren sind oder in denen noch eine Revolution stattfindet" ,162 und überdies wolle das deutsche Volk "regiert werden" .163 So bedauerte auch der Abgeordnete Düringer, daß der Präsident 157 70. Sitzung vom 30. Juli, Heilfron 7, S. 370. Wortlaut des Antrages: Verhandlungen, Bd. 338, Drucksache Nr. 703 vom 30. Juli 1919. Außer von Koch-Weser wurde der Haas'sche Antrag von dem Zentrumsabgeordneten Gröber mitgetragen. 158 'Preuß, Diktatur, S. 104. 159 Vgl. auch unten IV 3 a. E. 160 Düringer in der 70. Sitzung vom 30. Juli, Heilfron 7, S. 349. 161 46. Sitzung vom 4. Juli, Heilfron 5, S. 3183. Vgl. auch Delbrück ebd., S. 3177: Die Machtbefugnisse des Reichspräsidenten seien "verhältnismäßig" gering. 162 Heilfron 5, S. 3183. 163 Ebd.

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1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

nur ein "Dekorationsstück" sei und "das Schwergewicht ... bei den Fraktionen und Parteien"l64 liege. Und schon im Verfassungsausschuß hatte von Delbrück das Erfordernis der Gegenzeichnung für die Auflösung des Reichstags und die Anordnung einer Volksabstimmung entfallen lassen wollen;165 seine Vorschläge trafen sich insoweit mit noch weitergehenden Bestrebungen bei den linksliberalen Deutschen Demokraten. 166 Delbrück ergriff auch die Gelegenheit am Schopfe, als Haas (DDP) forderte, die Verhängung des Ausnahmezustandes zu erleichtern l67 : "Ich kann dem, was der Herr Abgeordnete Haas erklärt, nur zustimmen"168 führte er aus. "Ich habe die ernste Besorgnis, daß diese übertriebenen Kautelen nicht zur Sicherung der Ruhe und Ordnung, sondern zu einer Erschwerung der Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung führen" .169 Eigene Initiativen zur Ausweitung der "Diktaturgewalt" entfaltete die deutschnationale Fraktion allerdings nicht. b) Die Deutsche Volkspartei - Sammelbecken vor allem der ehemaligen Nationalliberalen 17o - zog grundsätzlich am gleichen Strang wie die DNVP. Auch ihre Abgeordneten forderten nachdrücklich die Stärkung des Präsidentenamtes. Heinze etwa bedauerte, daß das Staatsoberhaupt "von einer wirklichen Machtfülle außerordentlich entfernt"171 sei, der Reichspräsident habe "gegenüber dem Parlament so gut wie gar kein Recht". 172 Was die Ausgestaltung der Ausnahmebefugnisse anbetrifft, kam indes das rechtsstaatlich-liberale Erbe der DVP zum Vorschein. Der Strafrechtslehrer Dohna gab den heftigen Angriffen Cohns (USPD) "in gewissem Umfange"!73 recht: ... in der Tat scheint auch uns der Zustand, solange dieses Gesetz nicht erlassen ist, ein auf die Dauer doch bedenklicher zu sein ... fehlen doch alle gesetzlichen Ausführungsbestimmungen und dem Reichspräsidenten ist nach dieser Richtung plein pouvoir gegeben. "174

Der Dohna'sche Antrag freilich, den Schutz des Eigentums (vgl. Art. 153) aus dem Kreis der suspendierbaren Grundrechte zu streichen, dürfte eher als Ausdruck bürgerlicher Interessenpolitik zu deuten sein und fand dann auch - trotz 164 165 166

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70.Sitzung vom 30. Juli, Heilfron 7, S. 348. 22. Sitzung vom 4. April, Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 336, S. 232. S. O. III 3c. S. o. 111 3c. 47. Sitzung vom 5. Juli, Heilfron 5, S. 3255f. Ebd. Vgl. Huber 5, S. 980ff. 46. Sitzung vom 4. Juli, Heilfron 5, S. 320l. Ebd. 70. Sitzung vom 30. Juli, Heilfron 7, S. 350. Ebd.

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des zutreffenden Hinweises auf die "bisherige Rechtslage"175 - am Ende der zweiten Lesung keine Mehrheit. 176 6. Mithin hatten die konträren Positionen über die nähere Ausgestaltung der künftigen republikanischen Reichsverfassung mittelbar einen starken Einfluß auch auf Inhalt und Reichweite der konstitutionellen Diktaturgewalt. Die Anhänger einer starken präsidialen Komponente - insbesondere die Linksliberalen und die oppositionelle Rechte - strebten eine Ausweitung der Ausnah me befugnisse des Reichspräsidenten an. Wer dagegen eine "persönliche Spitze" für das Reich ablehnte - so die Unabhängigen und Teile der MSPD suchte die Notstandsgewalt des Staatsoberhauptes so weit wie möglich einzuschränken. In der ausgeklügelten Gleichgewichtskonstruktion der Weimarer Verfassung indes war dem Art. 48 Abs. 2 keine besondere Funktion zugedacht. Diejenigen Verfassungsnormen, die das Zusammenspiel von Reichspräsident, Reichstag und Reichsregierung im Normalfall regelten, standen den weitgehenden Befugnissen, die dem Reichspräsidenten für den Ausnahmefall in die Hand gegeben worden waren, unverbunden und unvermittelt gegenüber. Insbesondere das Verhältnis der präsidialen Auflösungsbefugnis (vgl. Art. 25) zur konstitutionellen Diktaturgewalt blieb unerörtert, obwohl man die Lücke in der parlamentarischen Kontrolle der exekutiv ischen Notstandsbefugnis für den Fall, daß der Reichstag nicht versammelt war, durchaus erkannt hatte. Dementsprechend richtete sich die polemische Spitze der mitunter heftigen Kritik an der Preuß'schen Generalklausel in erster Linie gegen die gerade von der Linken befürchtete Wiederkehr der Militärdiktatur der Weltkriegsjahre und nur insoweit auch gegen eine Machtverschiebung im Verhältnis der obersten Staatsorgane zueinander. IV. Unitarismus und Föderalismus

1. Der erste Preuß'sche Verfassungsentwurf177 sah vor, das überlieferte bundesstaatliehe Gefüge des Reiches zu zerschlagen und die ehemaligen deutschen Länder in bloße Verwaltungsstellen eines "dezentralisierten Einheitsstaates" zu verwandeln. l78 Dieser Konzeption entsprach die Regelung des Ausnahmerechts in Art. 63 des Entwurfs: Nur der Reichspräsident durfte die zur "Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen" treffen; Befugnisse der Länder erwähnte die Vorschrift nicht.

175 176 177 178

70. Sitzung vom 30. Juli, Heilfron 7, S. 350. Vgl. 47. Sitzung vom 5. Juli, Heilfron 5, S. 3262. Triepel, Quellensammlung, S. 6ff. Dazu Huber 5, S. 1179ff.

1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

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2. Diese Bestimmung rief zwangsläufig den entschlossenen Widerstand der föderalistischen Kräfte hervor. Denn Preuß hatte mit einem Federstrich Sonderrechte gekappt, die Bayern im H. Reich eingeräumt worden waren und die es auch noch während der revolutionären Umwälzung in Anspruch nahm. Den übrigen Ländern verbaute der Verfassungsentwurf jede Möglichkeit, einen eigenen Landesausnahmezustand zu verhängen; er entschied somit eine unter Geltung der Bismarckschen Reichsverfassung heftig umstrittene Frage zuungunsten der Gliedstaaten. Und schließlich stellte sich Preuß mit dieser Lösung in Widerspruch zur föderalistischen Anwendungspraxis des Ausnahmerechts, wie sie sich im Laufe des Jahres 1919 herausbilden sollte. Diese Gesichtspunkte bedürfen näherer Erläuterung. a) Auf den ersten Blick enthielt Art. 68 BRV eine eindeutig unitarische Regelung: Nur der Kaiser schien das Recht innezuhaben, den Kriegszustand zu verhängen. Doch galt für Bayern etwas anderes. 179 Solange das von der Reichsverfassung vorgesehene Gesetz nicht zustandegekommen war, war nicht der Kaiser, sondern der bayerische König zur Verhängung des Kriegszustandes in diesem Gliedstaat zuständig. 180 Ebensowenig galt das preußische Gesetz vom 4. Juni 1851 in Bayern; dort war das Ausnahmerecht in einem vergleichsweise modernen "Gesetz über den Kriegszustand" aus dem Jahre 1912 geordnet. 181 Auch im Kriegsfall blieb es bei dieser Kompetenzregelung, wenngleich intern vereinbart war, daß der bayerische König bei Ausbruch eines Krieges sich dem vom Kaiser über das sonstige Reichsgebiet verhängten Kriegszustand durch entsprechende Verordnungen für das bayerische Staatsgebiet anschließen werde, wie es denn auch am 31. Juli 1914 geschah. 182 Nach dem Novemberumsturz versuchte das von Eisner geführte bayerische Revolutionskabinett, diese Sonderrechte in die Republik hinüberzuretten. Es bestritt jede Zuständigkeit des Berliner Rats der Volksbeauftragten zur Aufhebung des bayerischen Kriegszustands; die revolutionären Regierungsorgane stützten weiterhin ihre Notstandsmaßnahmen auf eine Verordnung des Königs Ludwig III. vom 31. Juli 1914. 183 Dabei blieb es unter den bei den bayerischen Räteregierungen wie nac~ der Herstellung der verfassungsmäßigen Ordnung unter dem Ministerium Hoffmann. 184 Erst am 4. November 1919 - also nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung - hob dieses den Belagerungszustand auf. 185 Zum Folgenden Huber 3, S.1044f.; ders., Militärgewalt, S.I72. Vgl. Ziffer 11 § 5 des Bundesvertrages vorn 23. November 1870; Bundesgesetzblatt 1871, S. 9ff. Text: Huber, Dok. 2,3. Aufl., Nr. 220. 181 Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1912, S. 1161; zitiert nach Huber, Dok. 2, 2. Aufl., Nr. 256. 182 Vgl. Huber, Militärgewalt, S.I72. 183 Ebd., S.I72f. 184 Huber, Militärgewalt, S. 174. 179 180

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b) Für die übrigen deutschen Länder schwieg die Bismarcksche Reichsverfassung über das Nebeneinander von Reichs- und Landesausnahmerechts. Sollten neben dem Art. 68 BRV die landesrechtlichen Bestimmungen über den Belagerungszustand weitergelten? Die Staatsrechtslehre war sich uneinig. Deutete man - im Anschluß an Paul Laband 186 - den Art. 68 BRV als Ausfluß des militärischen Oberbefehls des Kaisers, blieb für landesrechtliche Regelungen wenig Raum. Denn in die kaiserliche Kommandogewalt (Art. 63 BRV) durften die Einzelstaaten nicht eingreifen. 187 Nach dieser Ansicht behielten nur diejenigen Teile der Landesgesetze ihre Kraft, die keine Machterweiterung für die Militärgewalt, und somit keinen Eingriff in den militärischen Oberbefehl des Reiches vorsahen. In Preußen zum Beispiel durfte das Staatsministerium weiterhin den "kleinen Belagerungszustand" verhängen; d. h. es durfte bestimmte Grundrechtsartikel der preußischen Verfassung auch ohne Verhängung des eigentlichen Belagerungszustands - mithin ohne den Übergang der vollziehenden Gewalt auf das Militär - vorübergehend außer Kraft setzen.188 Legte man dem Belagerungszustand indes - wie Georg Meyer 189 - sicherheitspolizeilichen Charakter bei, kehrte sich das Ergebnis um. Denn für polizeiliche Akte waren grundsätzlich die Länder zuständig (vgl. Art. 2 Abs. 1 S.l BRV). Nur die ausdrückliche Bestimmung des Art. 68 BRV versah auch das Reich mit eigener Kompetenz auf diesem Gebiet; im übrigen blieb es bei der Zuständigkeit der Einzelstaaten. Anfangs konnte sich diese Auffassung nur schwer gegen die Autorität der zunächst herrschenden Labandschen Lehrmeinung behaupten, erst zum Ende des Weltkrieges gewann sie die Oberhand.19o c) Damit war für die Rechtspraxis der Revolutionsmonate der Boden bereitet. Schon im Januar und Februar 1919 verhängten einzelne örtliche Militärbefehlshaber zum Schutz der bedrohten deutschen Ostgebiete den Belagerungszustand und stützten ihre Maßnahmen auf das preußische Belagerungszustandsgesetz. Bestätigt wurden diese Akte von der preußischen Staatsregierung l91 - also von einer Landes-, nicht einer Reichsinstanz. Vgl. Huber, Militärgewalt, S.174. Vgl. Laband 4, S. 43ff. 187 Für Bayern galt wiederum eine Ausnahme: Der militärische Oberbefehl über das bayrische Kontingent des deutschen Heeres lag in Friedenszeiten beim König von Bayern, nur im Kriegsfall ging der Oberbefehl auch hier auf den Kaiser über. Vgl. Huber, Militärgewalt, S.172. 188 Vgl. Huber 3, S. 1046, 1053. 189 Meyer, Besprechung, S. 369ff. 190 Vgl. zur Entwicklung der Literatur vgl. Boldt, Rechtsstaat, S. 166 Fn. 15 m. w. N. Zum Meinungsstand ausführlich PürscheI, S. 28 ff. m. w. N. Mehrfach hatte das preußische Staatsministerium die Kompetenz, den Belagerungszustand selbst zu verhängen, auch in Anspruch genommen; vgl. Huber 3, S. 1046; PürscheI, S. 37. 191 Vgl. KimmeI, S. 23ff. 185 186

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1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

Auch nachdem das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 192 in Kraft getreten war, hielten sich Landesregierungen weiterhin für befugt, selbst den Ausnahmezustand zu verhängen. Denn wie die alte Reichsverfassung, so schwieg sich auch das Gesetz vom 10. Februar über die Ausnahmebefugnisse der Einzelstaaten und der örtlichen Militärbefehlshaber aus. 193 Als Beispiel für die Staatspraxis der Länder seien nur folgende Fälle ausdrücklich erwähnt: Noske schlug den kommunistischen Märzaufstand in Berlin nieder - und stützte sich auf eine Verordnung des Staatsministeriums nach dem preußischen Belagerungszustandsgesetz. 194 Am 12. April 1919 hatten Aufständische den sächsischen Kriegsminister Neuring ermordet; die Regierung Gradnauer verhängte daraufhin den Ausnahmezustand - und berief sich auf Normen des vorrevolutionären sächsischen Rechts.195196 In dieser föderalistischen Notstandspraxis spiegelte sich die von einem Wiedererstarken der Länder gekennzeichnete allgemeine verfassungspolitische Entwicklung 197 während der ersten Hälfte des Jahres 1919 wieder. 3. Stufenweise gelang es den Ländern, den Preuß'schen Entwurf in ihrem Sinne umzugestalten.

Bereits im Februar 1919 setzten sie durch, daß die nähere Ausgestaltung des "Diktaturartikels" einem Reichsgesetz vorbehalten bleiben sollte. 198 Damit war der Einfluß der Einzelstaaten auf die künftige Regelung des Ausnahmezustandes institutionell gestärkt. Denn die vorläufige Verfassung vom 10. Februar 1919 garantierte den Ländern maßgeblichen Einfluß nur auf das Verfahren der einfachen Reichsgesetzgebung;199 im Verfahren der Verfassungsgesetzgebung dagegen durften ihre Vertreter im Staatenhaus nur beratend mitwirken. 2oo S. o. II 2a. Vgl. Huber 5, S. 109lf. 194 Verordnung des preußischen Staatsministeriums vom 3. März 1919, Reichsanzeiger vom 4. März 1919 Nr. 53; zitiert nach Huber, Dok. 3, Nr. 90. 195 Vgl. § 13 des sächsischen Gesetzes betreffend das Verfahren bei Störungen der öffentlichen Ruhe und Sicherheit vom 19. Mai 1852. Text: Boldt, Rechtsstaat, S. 274f. Zu den Vorgängen vgl. Huber 5, S. H08f. 196 Weitere Fälle eines landesrechtlichen Ausnahmezustandes für Preußen: Verhängung des Belagerungszustandes über das Ruhrgebiet (31. März 1919) und Westpreußen (9. März 1919). Für Bayern: Verhängung des Standrechts am 25. April 1919. Vgl. Huber 5, S. 1052 Fn. 78,79. 197 Vgl. dazu etwa Boldt, Reichsverfassung, S. 48f. 198 Vgl. oben A. 199 § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt band die Reichsregierung bei der Einbringung ihrer Gesetzesvorlagen an die Zustimmung des Staatenausschusses; stimmten Regierung und Staatenausschuß nicht überein, kam letzterem ein Initiativrecht zu (§ 2 Abs. 4). Bei der Beschlußfassung über einfache Reichsgesetze waren übereinstimmende Beschlüsse der Nationalversammlung und des Staaten ausschusses erforderlich (§ 4 Abs. 2). Ausführlich Huber 5, S.1079. 200 Vgl. § 4 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes vom 10. Februar 1919. 192 193

B. Bedingtheiten der Verfassungsgesetzgebung

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Im Staatenausschuß wurde auch - auf Vorschlag des preußischen Justizministers Heine (SPD) - die Befugnis zur Grundrechtssuspension dem Preuß'schen Entwurf hinzugefügt. 201 earl Schmitt führte diese Bestimmung auf ein "besonderes Interesse"202 der Länder zurück. "Dadurch", meinte er, "war die Möglichkeit gegeben, daß die an sich zuständigen Behörden, also normalerweise die Polizeibehörden, demnach Landesorgane, die öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherstellen konnten, ohne daß der Reichspräsident vorging" ,203 die Befugnis aus Art. 48 Abs. 2 S. 2 entsprach mithin - so Schmitt - "in der Sache wie in ihrem Wortlaut"204 dem "kleinen" Belagerungszustand205 des preußischen Belagerungszustandsgesetzes. 206 Es mag dahingestellt bleiben, ob die von Schmitt behauptete Auslegung der Außerkraftsetzungsbefugnis im Ergebnis zutrifft. 207 Aus der Entstehungsgeschichte des Diktaturartikel jedenfalls läßt sich nicht entnehmen, daß die Erweiterung des Preuß'schen Entwurfes um die Grundrechtssuspension auf eine Erweiterung auch der gliedstaatlichen Ausnahmekompetenzen abzielte. In den Verhandlungen mit den Staatenvertretern hatte der Beauftragte des Reichsamts des Innern, Schulze, seine Auffassung vorgetragen, wonach die von Preuß geschaffene Generalkiausel in § 63 des Entwurfs I dem Reichspräsidenten auch die Befugnis zuspreche, solche "Anordnungen" zu treffen, die sich gegen "die geltenden Gesetze" richteten;208 die Ergänzung des Ausnahmeparagraphen um das Recht, bestimmte Grundrechte zu suspendieren, sollte die vom preußischen Justizminister diesbezüglich geäußerten Zweifel gegenstandslos machen.209 So läßt sich zwar nicht mit Sicherheit ausschließen, daß der vom Vertreter des preußischen Innenministeriums, Unterstaatssekretär Freund, unterstützte Vorschlag Heines bezweckte, nicht nur für den Reichspräsidenten, sondern zugleich auch für Landesorgane die Befugnis zu Notstandsmaßnahmen "gegen geltende Gesetze" in der Verfassung ausdrücklich festzuschreiben; einen Anhaltspunkt dafür geben die ,Niederschriften über die Verhandlungen der Staatenvertreter im Weimarer Fürstenhaus nicht. Entscheidend für die Reföderalisierung des deutschen Ausnahmerechts wurde die zweite Lesung des Verfassungsentwurfs Anfang Juli 1919.

201 202 203 204 205 206 207 208 209

Vgl. Anlage III. Schmitt, Reichspräsident, S. 77. Ebd. Schmitt, Reichspräsident, S. 78. Dazu oben 2 b. Schmitt, Reichspräsident, S. 78. Zur Grundrechtssuspension unten Zweites Kapitel B 2ccc. Vgl. Anlage Ur. Ebd.

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1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

Zum einen setzte eine aus Vertretern verschiedener Fraktionen zusammengesetzte Gruppe unter Führung des Abgeordneten Beyerle (Bayerische Volkspartei)210 die Entmilitarisierung des Ausnahmezustandes durch. 211 Diese Abänderung des Preuß'schen Entwurfs hatte einen durchaus föderalistischen Akzent, denn der Einsatz des Militärs erst als ,ultima ratio' bedeutete die vorrangige Beauftragung von Zivil-, d. h. in der Regel von Landesbehörden, mit der Durchführung des Ausnahmezustandes. Dieselbe Abgeordnetengruppe errang - zum anderen - eine Mehrheit für ihren Vorschlag, die Landesregierungen zu ermächtigen, bei Gefahr in Verzug "für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art" zu treffen. 212 Um die "Einstweiligkeit" der einzelstaatlichen Notstandsgewalt zu sichern, durften der Reichspräsident sowie - nach dem erfolgreichen Antrag Katzensteins (SPD) - der Reichstag die Aufhebung der Maßnahmen der Landesregierung verlangen. Der bayerische Abgeordnete Beyerle begründete wiederum den Antrag: Dadurch, daß das bayerische Heeresreservat aufgehoben ist, verschlechtert sich die Lage weiterhin zugunsten der Gliedstaaten. Es erscheint daher die Regelung des Art. 49 im Text der Vorlage als unzureichend. Ein gewisses Recht der Einzelstaaten, bei Gefahr im Verzug einstweilige Maßnahmen der in Art. 49 bezeichneten Art, also polizeiliche Maßnahmen, Requisition der Militärgewalt, Außerkraftsetzung einzelner Grundrechte, zu treffen, muß daher sichergestellt werden ... 213

Es schimmerte die Absicht durch, nicht nur die überkommene Notstandsgewalt Bayerns zu bewahren, sondern auch - mit Art. 48 Abs. 4 - wenigstens Bruchstücke der alten bayerischen Militärhoheit in die neue Reichsverfassung einzufügen.

c.

Ergebnis

Vielfältige Einflüsse spielten mithin bei der Genese des Art. 48 eine prägende Rolle. Zunächst war der Art. 48 eine Antwort auf die "Militärdiktatur" der Weltkriegszeit. Die Zentralisierung und Parlamentarisierung der republikanischen Notstandsgewalt zielte darauf ab, die in den Kriegsjahren hervorgetretenen Mängel des überlieferten Belagerungszustandsrechts zu beseitigen und die ausführenden Organe des Ausnahmezustandes - in erster Linie die Reichswehr - einer politischen Kontrolle der zivilen Leitungsorgane des Reiches zu unterwerfen. Beyerle (BVP); v. Delbrück (DNVP); Diez (Zentrum); Haas (DDP); Heinze (DVP). Vgl. Antrag vom 5. Juli 1919, Verhandlungen, Bd. 337, Drucksache Nr. 442; Beyerle in der 47. Sitzung am 5. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3237f. 212 Drucksache Nr. 442, Verhandlungen, Bd. 337. 213 Beyerle am 5. Juli 1919 in der Nationalversammlung, 47. Sitzung, Heilfron 5, S. 3237f. 210

2!1

C. Ergebnis

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Prägend auf die neue Regelung der Ausnahmegewalt wirkte ferner die politische Situation in den Monaten der Verfassungsgebung.- vor allem die katastrophale Notlage des besiegten Deutschen Reichs. Das "Bündnis Ebert Groener" bedurfte der legalen Untermauerung, als Rechtsgrundlage bot sich das überlieferte Notstandsrecht an, und so schälte sich - ganz im Sinne der Preuß'schen Verfassungsentwürfe - der Reichspräsident schon vor Inkrafttreten der Weimarer Verfassung als Träger der konstitutionellen Ausnahmegewalt heraus. Die rechtstechnische Ausgestaltung der Notstandsgewalt des Art. 48 schließlich entsprach dem aktuellen Bedürfnis der neuen republikanischen Machthaber nach einer "schlagkräftigen Diktatur" (Preuß). Einer Konzentration der Notstandsbefugnisse beim Reichspräsidenten entgegen wirkte die Reföderalisierung des Weimarer Ausnahmerechts - auch diese Entscheidung fand in der verfassungsrechtlichen und -politischen Entwicklung nach der Novemberrevolution ihre Wurzel. Die konträren Verfassungsideen der in der Nationalversammlung repräsentierten politischen Strömungen übten mittelbar einen starken Einfluß auf Inhalt und Reichweite der konstitutionellen Diktaturgewalt aus. Wem die Befugnisse des Reichspräsidenten nicht weit genug gingen, konnte Einwände gegen die Bündelung der Ausnahmekompetenzen beim Staatsoberhaupt schwerlich erheben, zumal Zentralisierung und Parlamentarisierung des Ausnahmezustandes das Primat der Zivil gewalt zu garantieren schien und die bewaffnete Macht - das hieß in der politischen Situation des Jahres 1919: die Reichswehr und die Freiwilligenverbände - auf Dauer in die neue republikanische Ordnung einzubinden versprach. Wer umgekehrt eine starke persönliche Reichsspitze ablehnte und darüber hinaus der Kooperation von Reichswehr und Staatsführung mit Mißtrauen gegenüberstand - hier dürften sich die politischen Fronten in etwa gedeckt haben - hatte guten Grund, auf die Einschränkung oder gar die Abschaffung der präsidialen Diktaturgewalt hinzuarbeiten. Im Rahmen des Preuß'schen Gleichgewichtsmodells indes war dem Art. 48 Abs. 2 keine besondere Funktion zugedacht. Diejenigen Verfassungsnormen, die das Zusammenspiel von Reichspräsident, Reichstag und Reichsregierung im Normalfall regelten, standen den weitgehenden Befugnissen, die dem Reichspräsidenten für den Ausnahmefall in die Hand gegeben worden waren, unverbunden und unvermittelt gegenüber. Überhaupt hatte die Abgrenzung von Normal- und Ausnahmelage - ein zentrales Erfordernis jeder Notstandsregelung - während des gesamten Prozesses der Verfassungs gesetzgebung keine Rolle gespielt. Rechtsstaatliche Sicherungen, die den provisorischen Charakter der präsidialen "Diktatur" möglicherweise hätten garantieren können - sei es nach dem Vorbild des überlieferten Belagerungszustandsrechts durch einen formalisierten Verhängungs- und Aufhebungsakt, sei es durch

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1. Kap.: Verfassungsgebung und Artikel 48

eine zeitlich begrenzte Geltung der einzelnen Maßnahmen - wurden nicht diskutiert. Angesichts eines bei Inkrafttreten der Weimarer Verfassung schon fünf Jahre andauernden Spannungszustandes, dessen Ende kaum abzuschätzen war, bildete offensichtlich nicht die Rückkehr zur Normallage, sondern die rechtliche Organisation der Krise selbst das vorrangige legislatorische Problem.

Zweites Kapitel

Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts A. Historisch-politischer Teil I. Die Reichswehr als Ordnungsmacht

1. Bereits im Spätherbst 1919 machte Ebert von den ihm zwei Monate zuvor verliehenen Sondervollmachten Gebrauch. Gegen Unruhen und Streiks im Siegerland, in Ostpreußen und Thüringen setzte er die Reichswehr ein und verhängte fünfmal auf Grund "des Art. 48 der Reichsverfassung ... zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ... den Ausnahmezustand".! Die fünf in ihrem Wortlaut nahezu identischen Verordnungen ähnelten dem gerade außer Kraft getretenen Kriegszustandsrecht: In § 1 hatte der Reichspräsident sämtliche in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 erwähnten Grundrechte außer Kraft gesetzt. Beschränkungen dieser Grundrechte waren nun auch zulässig "außerhalb der sonst hierfür bestimmten Grenzen". § 2 übertrug - nach dem Vorbild des § 4 Abs. 1 BZG - die gesamte "vollziehende Gewalt" auf das Militär. Diese Übertragung war allerdings - im Unterschied zum alten Recht - zweistufig ausgestaltet. Zunächst ging die "vollziehende Gewalt" auf den Reichswehrminister über, und erst dieser delegierte die ihm übertragene Befugnis auf den jeweiligen Militärbefehlshaber weiter. Diese Regelung führte die bereits im Jahre 1916 eingeleitete Zentralisierung des Ausnahmezustands fort. 2 Der Reichswehrminister war sogar - anders als der kaiserliche "Obermilitärbefehlshaber" - nicht mehr darauf beschränkt, verbindliche Anordnungen für die Militärbefehlshaber zu treffen. 3 Er konnte vielmehr die "vollziehende Gewalt" im Bedarfsfall selbst ausüben; hatte er sie I So die Eingangsformel der beiden ersten Verordnungen vom 20. Oktober 1919 (Bezirke Schleusingen, Ohrdruf und Stadt Zella-Mehlis) und 30. Oktober 1919 (Kreis Siegen); Texte: Verhandlungen, Bd. 339, Drucksachen Nr. 1430, 1437. In den anschließend ergangenen Verordnungen verschwand der Terminus "Verhängung des Ausnahmezustands" (dazu Hürten, Reichswehr, S. 20f.): Verordnungen vom 14. November 1919 (Kreis Labiau), 21. November 1919 (Kreis Bitterfeld), 26. November 1919 (Kreis Gummersbach); Texte: Verhandlungen, Bd. 341, Drucksachen 1881 und 1536, Bd. 340, Drucksache Nr. 1658. 2 Vgl. oben Erstes Kapitel B 13. 3 Vgl. oben Erstes Kapitel B I 3.

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

jedoch weiterdelegiert, besaß er kraft des ihm vom Reichspräsidenten zur Ausübung übertragenen Oberbefehls 4 die Möglichkeit, auf die Durchführung des Ausnahmezustandes bestimmenden Einfluß zu nehmen. § 3 sah die Beteiligung der nichtmilitärischen Exekutive an den Entscheidungen der Reichswehr vor. Allerdings hatten sich die Einflußmöglichkeiten der zivilen Stellen im Vergleich zur Rechtslage nach den Oktoberreformen des Jahres 1918 deutlich verschlechtert: nach dem kaiserlichen Erlaß vom 13. Oktober 19185 durften die Militärbefehlshaber ihre Befugnisse nur im "Einverständnis" mit den von der Landeszentralbehörde bestimmten Verwaltungsbehörden ausüben. 6 Nach der neuen Rechtslage wirkten Landesbehörden überhaupt nicht mehr mit; von nun an ernannte der Reichswehrminister im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern einen "Regierungskommissar" . Der Zustimmung dieses Organs bedurften nur noch jene Anordnungen der Militärbefehlshaber, die Grundrechtsbeschränkungen nach § 1 enthielten; in allen anderen Fällen genügte es, wenn der Militärbefehlshaber seine "Weisungen ... an die Zivilverwaltungs- und Gemeindebehörden sowie seine allgemeinen Anordnungen an die Bevölkerung" dem Regierungskommissar zur "Kenntnis" brachten, bevor sie ergingen (§ 3 Abs. 1).

Dem § 9b BZG nachgebildet war die Befugnis des Reichswehrministers und der Militärbefehlshaber, Anordnungen "im Interesse der öffentlichen Sicherheit" zu erlassen (§ 4). Sogar die zulässigen Rechtsmittel entsprachen dem alten Recht. Gegen die Anordnungen der Militärbefehlshaber stand nun die Beschwerde an den Reichswehrminister - statt an den Obermilitärbefehlshaber - offen, und soweit es sich um Beschränkungen der persönlichen Freiheit handelte, war schlicht das Schutzhaftgesetz vom 4. Dezember 1916 entsprechend anzuwenden (§ 5). 2. Die Grundlage dieser Regelungen bildete eine Schubladenverordnung, welche die Reichsregierung im Spätsommer 1919 vorbereitet hatte: schon am 16. Juni hatte das Kabinett beschlossen, das Reichsministerium des Innern solle das im späteren Art. 48 Abs. 5 vorgesehene Ausführungsgesetz unverzüglich vorbereiten, aber erst nach Annahme der Reichsverfassung einbringenJ Um die Zeitspanne bis zum Inkrafttreten des Ausführungsgesetzes zu

Verordnung vom 20. August 1919, RGBI., S.1475. Text: Huber, Dok. 3, Nr.165. Die Verordnung des Reichspräsidenten vom 11. August 1920 (Heeresverordnungsblatt 1920, S. 841; zitiert nach Huber 6, S. 619 Fn. 39), dann die Verfügung vom 26. Juni 1923 (Text bei Rabenau, S. 472f.; zitiert nach Huber, ebd., Fn. 40) übertrug den Oberbefehl über das Reichsheer auf den "Chef der Heeresleitung" . Dazu näher Huber 6, S. 619f. 5 Text: Huber, Dok. 2,2. Aufl., Nr. 322. 6 Vgl. oben Erstes Kapitel B I 5. 7 Vgl. dazu Hürten, Reichswehr, S.17. 4

A. Historisch-politischer Teil

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überbrücken, arbeitete auf Drängen des Reichswehrministers Noske 8 das Reichsjustizministerium - unter Mitwirkung des Reichsinnen- und des preußischen Kriegsministeriums - eine Musterverordnung aus, die das Kabinett mit geringfügigen Veränderungen am 30. Juli 1919 billigte. 9 Die §§ 1 - 5 entsprachen den Herbstverordnungen des Jahres 1919. Fünf weitere Paragraphen sahen - wie § 8 BZG - für bestimmte Schwerverbrechen die Todesstrafe vor und ermöglichten ferner die Einsetzung von Standgerichten sowie außerordentlicher Kriegsgerichte. Die Zuständigkeitsregelungen für die außerordentlichen Kriegsgerichte lehnten sich an die §§ lOff. BZG an. lO Der einzige wesentliche Unterschied zum alten Recht lag in der Besetzung des Gerichts: Militärs saßen nicht mehr im Spruchkörper. Die Standgerichte indes judizierten unter Vorsitz eines Offiziers; ihre Urteile lauteten entweder auf Freispruch oder Tod durch Erschießen und unterlagen keinem Rechtsmittel. Die Anwendung dieser Schubladenverordnung bestätigte das Primat der Reichswehr bei der Durchführung des Ausnahmezustandes. Die Armee wurde nun formell zum Zentrum staatlicher Machtbildung im Innern. ll Ob darüber hinaus die Form, die der Ausnahmezustand als Rechtsinstitut in der Zeit bis 1920 annahm, tatsächlich aus einem "zielbewußten politischen Willen, die Reichswehr enger noch an die Institution des ,Ersatzkaisers' heranzuführen"12, abgeleitet werden kann, wie Hürten vermutet, bedarf freilich noch einer näheren Untersuchung. 3. Vorerst konnte sich das Militär die errungene Machtposition erhalten; die Organisation des Ausnahmezustandes blieb auch im neuen Jahr unverändert. Anfang Januar 1920 verschlimmerten Eisenbahnerstreiks im Ruhrgebiet die katastrophale Versorgungslage im Deutschen Reich. 13 Auch die Linksradikalen wurden zunehmend aktiver. Am 12. Januar stürmten Kommunisten das Hamborner Rathaus und einen Tag später gab es in Berlin über vierzig Tote, als Teilnehmer einer Massenkundgebung versuchten, in das Reichstagsgebäude einzudringen, um die zweite Lesung des Betriebsrätegesetzes zu verhindern. 14 Die Reichsleitung reagierte prompt. Am 13. Januar 1919 verhängte Ebert über das ganze Reichsgebiet mit Ausnahme Bayerns, Sachsens, Württembergs und Badens 15 den Ausnahmezustand;16 die präsidiale Verordnung entsprach

Vgl. Akten, Das Kabinett Scheidemann, Dok. Nr. 112, S. 467. Vgl. Hürten, Reichswehr, S.l8; Kimme!, S.103f.; Lucas, S.l64f. 10 Vgl. Kimme!, S. llSf. 11 Vgl. näher Hürten, Reichswehr, S. 23f. 12 Ebd., S. 29. 13 Vgl. Huber 7, S. 4lf.; Kimme!, S.113f. 14 Zu diesen Vorgängen Kimme!, S.108, 114f. und speziell zu den Berliner Unruhen Huber 7, S. 42ff. 8 9

4 Kurz

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

wiederum den §§ 1 - 5 des Musterentwurfs vom 30. Juli 1919. Ferner verbot der Reichspräsident im § 6 Abs. 1 "jede Betätigung durch Wort, Schrift oder andere Maßnahmen", die darauf gerichtet war, "lebenswichtige Betriebe zur Stillegung zu bringen". Gleichzeitig wurde der bereits am 11. Januar über das Ruhrrevier verhängte Ausnahmezustand verschärft. 17 In diesem Gebiet setzte Ebert zum ersten Mal den zweiten Teil der Schubladenverordnung in Kraft. Über 400 Personen wurden wegen Raub, Plünderung und Gewalttätigkeiten vor den außerordentlichen Kriegsgerichten angeklagt.l 8 Wiederum erschien die Reichswehr zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung unentbehrlich. Erst der Kapp-Putsch sollte eine radikale Wende einleiten. 11. Kapp-Putsch und Entmilitarisierung

1. Der als "Todesurteil"19 empfundene Versailler Vertrag, die immer mehr an Boden gewinnende Dolchstoßlegende sowie der zu nationalistischer Hetze mißbrauchte Erzberger-Prozeß hatten im Frühjahr 1920 das innenpolitische Klima immer stärker aufgeheizt. 2o Am 13. März versuchten schließlich militante Kräfte der radikalen Rechten den Staatsstreich. 21 Der ostpreußische Generallandschaftsdirektor Kapp ernannte sich zum Reichskanzler; Freiwilligenverbänden unter der Führung des Generals von Lüttwitz, des Befehlshabers des Reichswehrgruppenkommandos I, unterstützten ihn militärisch. Der Putsch brach schnell zusammen, er scheiterte "an der revolutionären Impotenz der Putschisten, an der schlechten Vorbereitung und an dem krassen 15 Über Sachsen und Bayern war bereits seit April 1919 der Ausnahmezustand verhängt: Für Sachsen: Bekanntmachung des sächsischen Staatsministeriums über die Verhängung des Belagerungszustands im Freistaat Sachsen vom 13. April 1919; Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, S. 89 (zitiert nach Huber, Dok. 3, Nr. 123). Für Bayern: Verordnung vom 4. November 1919, (betrifft Aufhebung des Kriegszustandes und Weitergeltung dessen Normen auf der Rechtsgrundlage des Art. 48 Abs. 4 und § 64 Bayerische Verfassung). Vgl. Kimmei, S.186f. 16 Verordnung des Reichspräsidenten betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Reichsgebiet mit Ausnahme von Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden und der von ihnen umschlossenen Gebiete nötigen Maßnahmen vom 13. Januar 1920, RGBI. 1920, S. 204ff. Text: Huber, Dok. 3, Nr.193. 17 Verordnung des Reichspräsidenten betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Arnsberg, Münster und Minden vom 11. Januar 1920, RGBI., S. 41ff.; Text: Huber, Dok. 3, Nr.192. Abgeändert durch die Verordnung vom 13. Januar 1919, Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 341, Drucksache Nr. 2131. 18 Vgl. dazu Kimmei, S. 116. Auf die Bildung von Standgerichten verzichtete indes der Reichspräsident. 19 Friedrich Naumann, Kriegschronik, in: Die Hilfe, 1919, S. 242; zitiert nach Schulze, S.203. 20 Dazu Erdmann, S. 221. 21 Zum Verlauf des Kapp-Putsches: Erdmann, S. 221; Huber 7, S. 50ff.

A. Historisch-politischer Teil

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Mißverhältnis zwischen der militärischen Stärke der Freikorps und der politischen Ohnmacht Kapps"22. SPD und freie Gewerkschaften proklamierten den Generalstreik, und die Beamtenschaft in Preußen und im Reich ignorierte schlichtweg die Anweisungen der neuen "Reichsregierung",23 2. Damit hatte sich die Lage jedoch keineswegs beruhigt. Der Generalstreik, ursprünglich dazu gedacht, die reaktionären Putschisten zur Aufgabe zu zwingen, radikalisierte sich. Adressat der weitgehenden politischen Forderungen der Streikenden war nun die legale Reichsleitung. 24 Im Ruhrgebiet wuchs sich der Generalstreik zum offenen Aufstand aus. Die rund 50000 Bewaffneten der "Roten Armee" vertrieben Reichswehr- und Freikorpstruppen und beherrschten den größten Teil des Reviers. 25 In den thüringischen Kleinstaaten lehnten sich die links sozialistischen Regierungen gegen das Reich auf,26 und in Sachsen-Gotha hatte die Landesregierung bereits am 13. März verkündet, sie, die Landesregierung, übernehme für ihr Gebiet "die öffentliche Gewalt"27. Angesichts dieser Erschütterungen schien der erneute Einsatz der Reichswehr unumgänglich: Rechtsgrundlage des militärischen Eingreifens blieb weiterhin die Verordnung des Reichspräsidenten vom 13. Januar 1920. Nach dem Vorbild der §§ 6 - 11 der Musterverordnung wurden deren Vorschriften freilich noch verschärft. Vizekanzler Schiffer erließ am 19. März "in Vertretung" des Reichspräsidenten eine Verordnung gemäß Art. 48 Abs. 2 - gegengezeichnet von General von Seeckt "in Vertretung" des Reichswehrministers. 28 Von jetzt an waren Strafrechtsverschärfungen sowie die Bildung von Standgerichten und außerordentlichen Gerichten im gesamten Gebiet des Reichswehrgruppenkommandos I (zuständig für Ost- und Mitteldeutschland) möglich. Nach Beendigung des Generalstreiks machte Ebert die Verschärfungen zum Teil wieder rückgängig: die Standgerichte hob er am 24. März wieder auf. 29 Im Ruhrrevier, dem Zentrum der Unruhen, spitzte sich die Lage jedoch zu. Es kam - trotz des zwischen Reichsregierung, Gewerkschaften und politischen Parteien geschlossenen "Bielefelder Abkommens" vom 24. März 192030 - zu schweren Kämpfen zwischen den Resten der "Roten Armee" und den TrupSchulze, S. 219. Vgl. Huber 7, S. 60ff.; Hürten, Bürgerkriege, S. 89; Schulze, S. 216. 24 Dazu Erdmann, S. 22lf. 25 Vgl. Erdmann, S. 222; Huber 7, S.lOlff. 26 Vgl. Huber 7, S.1l8f.; Kimmei, S.142ff. 27 Zitiert nach Huber 7, S.1l9. 28 Verordnung des Reichspräsidenten vom 19. März 1920; RGBI. S. 467. Zur Rechtsgültigkeit dieser Verordnung vgl. Huber 7, S. 95 Fn. 115. 29 Vgl. Kimmei, S.12Sf. 30 Text: Huber, Dok. 3, Nr. 217. 22 23

4*

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

pen des Generals von Watter. 31 Auch hier wurden Standgerichte und außerordentliche Kriegsgerichte tätig. Letztere judizierten noch bis Mitte Juni;32 die außergewöhnliche Härte ihrer Urteile brachten ihnen den Vorwurf des "Justizterrors"33 ein. 34 So schien sich die einflußreiche Stellung des Militärs aufgrund der Bürgerkriegssituation nach dem Kapp-Putsch zunächst verfestigt zu haben. Dafür sprach die zunehmende Verselbständigung der Militärbefehlshaber . Ihre Stellung hatte sich der alten Rechtslage wieder angenähert: § 2 BZG hatte grundsätzlich die Verhängung des Belagerungszustandes durch das preußische Staatsministerium vorgeschrieben. In "dringenden Fällen" jedoch, wenn der an sich erforderliche "Antrag des Verwaltungschefs des Regierungsbezirks" wegen Gefahr in Verzug nicht mehr abgewartet werden konnte, durfte der Militärbefehlshaber den Belagerungszustand aus eigener Machtvollkommenheit verhängen. Dieser Akt bedurfte dann der sofortigen Bestätigung durch das preußische Staatsministerium, der an sich zuständigen Verhängungsinstanz. 35 Ähnlich verfuhr nun auch die Weimarer Staatspraxis. Bereits während der Herbstunruhen 1919 entschied der zuständige Militärbefehlshaber , zu welchem Zeitpunkt er die für sein Gebiet bestimmte Verordnung bekanntmachte und damit in Kraft treten ließ.36 Nach dem Kapp-Putsch schien sich diese Praxis eingebürgert zu haben - zumindest für die Verhängung des "verschärften Ausnahmezustandes", der dem zweiten Teil der Musterverordnung vom 30. Juli 191937 entsprach. Denn der "Erlaß des Reichspräsidenten zur Aufhebung von Standgerichten" vom 25. März 192038 bestimmte ausdrücklich: Die den militärischen Befehlshabern mündlich oder schriftlich erteilte Vollmacht, Verschärfung der auf Grund des Artikels 48 erlassenen Ausnahmebestimmungen nach eigenem Befinden bei Gefahr in Verzug eintreten zu lassen, insbesondere Standgerichte einzusetzen, wird zurückgezogen .. .J9 Vgl. dazu Huber 7, S.112ff.; Kimmei, S.139ff. Vgl. Lucas, S. 392. 33 Ebd., S.171. 34 Ausführlich zur Tätigkeit der außerordentlichen Gerichtsbarkeit Kimmei, S.139ff.; Lucas, S. 170ff. 35 § 2 BZG galt jedoch nur für den landesrechtlichen Ausnahmezustand (Strupp, Kriegszustandsrecht, § 2 Anm. I), dessen Existenz umstritten war (vgl. oben Erstes Kapitel B IV 2b). 36 Vgl. Kimmei, S. 106. 37 Vgl. oben A I 2. 38 RGBI. 1920, S. 473. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 218. 39 RGBI. 1920, S. 473. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 218. Vgl. auch das Übennittlungsschreiben des Reichswehrministers an den Präsidenten der Nationalversammlung betreffend die Verordnung vom 13. Januar 1919 (Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 341, Drucksache NT. 2131): 31

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A. Historisch-politischer Teil

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Und schon am 13. März hatte der General von Stoltzmann, der Befehlshaber der 11. Reichswehrbrigade (Kassel), ohne präsidentielle Ermächtigung selbständig Strafverschärfungen und außerordentliche Kriegs- sowie Standgerichte eingesetzt. 40 Die "Regierung in Berlin" sei, so lautete seine Begründung, "in ihren Entschlüssen gehemmt"41. Ebert bestätigte nachträglich die Stoltzmannsche Verordnung. 42 3. Der mit der Rezeption des überlieferten Belagerungszustandsrechts verknüpfte Machtzuwachs für die Reichswehr war freilich nur von kurzer Dauer; zu sehr hatte sich die bewaffnete Macht während des Kapp-Putsches kompromittiert. 43 Zwar stellten sich die führenden Militärs auf die Seite der rechtmäßigen Regierung Ebert-Bauer, doch sprach sich General von Seeckt, der Chef des Truppenamtes und damit einer der ranghöchsten Offiziere der Republik, gegen den Einsatz regimetreuer Truppenteile gegen die Putschisten aus: "Truppe schießt nicht auf Truppe" .44 Ferner hatten in Nord- und Ostdeutschland eine Reihe von Reichswehrbefehlshabern und sogar die Marineleitung die Regierung Kapp-Lüttwitz anerkannt,45 in Sachsen-Weimar und Reuss setzten abtrünnige Militärbefehlshaber kurzerhand neue Regierungen ein46 und in Berlin hatte der Pseudo-Reichswehrminister Lüttwitz demonstriert, wie einfach sich das Instrument des militärischen Ausnahmezustandes für republikfeindliche Zwecke einspannen ließ: "Alle vom Reichswehrminister Noske auf Grund der Verfügung des Reichspräsidenten vom 13. Januar47 erlassenen Verfügungen bleiben in Kraft" bestimmte die erste der Lüttwitz'schen Verordnungen. 48 Das System der Militärdiktatur war nach alledem zutiefst diskreditiert. 49 Als sich die Lage im April 1920 entspannte, nutzte die zivile Reichsleitung sogleich die Gelegenheit, die Reichswehr zu entmachten. 50 "Mit dem Einverständnis des Herrn Reichspräsidenten" sei die Verordnung bisher nur im Regierungsbezirk Düsseldorf ortsüblich bekanntgemacht und damit für diesen Bezirk in Kraft getreten. 40 Engels, S. 23 vermutet, daß Stoltzmann auf Grund der im Erlaß vom 25. März 1920 erwähnten Bevollmächtigung handelte; dafür ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte. 41 Verordnung vom 13. März 1920, RGBI. S. 470; Text auszugsweise bei Huber, Dok. 3, Nr. 203. 42 Verordnung des Reichspräsidenten vom 25. März 1920, RGBI., S. 430. 43 Zum Verhalten der Reichswehr während des Kapp-Putsches allgemein: Hürten, Bürgerkriege, S. 89f. 44 Erklärung des Generals von Seeckt gegenüber Reichswehrminister Noske in der Nacht vom 12. auf den 13. März 1919. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 195. Bezweifelt wird die Authentizität dieser Äußerung von Meier-Welcker (ders., Seeckt, S. 258ff., insbesondere Fn.12, 19) und neuerdings von Huber (ders. 7, S. 54ff.). 45 Ausführlich Huber 7, S. 65ff.; KimmeI, S.130ff. 46 Vgl. KimmeI, S. 143. 47 Gemeint war die Verordnung vom 13. Januar 1920; s. o. A I 3. 48 Zitiert nach Lucas, S. 166. 49 Hürten, Reichswehr, S. 30.

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

Am 11. ApriJSl hob der Reichspräsident sämtliche Ausnahmeverordnungen, insbesondere die vom 13. Januar 1920 auf, und ersetzte sie durch eine Regelung neuen Typs.52 Die in Art. 48 Abs. 2 S. 2 erwähnten Grundrechte blieben zwar weiterhin suspendiert, doch wurde der Ausnahmezustand entmilitarisiert. Von einem pauschalen "Übergang der vollziehenden Gewalt" auf den Reichswehrminister und deren Delegation auf Militärbefehlshaber war nicht mehr die Rede; nun wurden vom Reichsinnenminister ernannte zivile "Regierungskommissare" dazu ermächtigt, "Anordnungen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu treffen" (§ 1). Zivilbehörden hatten dem Ersuchen des Regierungskommissars im Rahmen ihrer Zuständigkeit Folge zu leisten (§ 3 Abs. 1). Das Militär durfte nur noch "in Unterstützung polizeilicher Organe" eingreifen, sofern der Regierungskommissar das Wehrkreiskommando oder - bei Gefahr im Verzug - die örtlichen Befehlsstellen um militärische Hilfe ersuchte (§ 3 Abs. 2). Auf Beschränkungen der persönlichen Freiheit fand wiederum das Schutzhaftgesetz vom 4. Dezember 1916 Anwendung. An die Stelle des Reichsmilitärgerichts als Beschwerdeinstanz trat allerdings ein ziviler Ausschuß, dessen sieben Mitglieder vom Reichsinnenminister ernannt wurden (§ 5). War nun auch ein ziviler Regierungskommissar an die Stelle des Reichswehrministers bzw. der Militärbefehlshaber getreten, hatte die Reichswehr sogar jeden Einfluß auf die Durchführung des Ausnahmezustandes verloren die typischen Merkmale eines exekutivischen Notstandes im Stil des 19. Jahrhunderts 53 kennzeichneten auch diese neuartige Ausformung der präsidialen Diktaturgewalt: Konzentration der Exekutivkompetenzen - verwirklicht freilich nicht mehr durch den vollständigen "Übergang der vollziehenden Gewalt", sondern durch den oben beschriebenen Mechanismus von "Ersuchen des Regierungskommissars" und "Folgeleistungspflicht" der Zivilbehörden -, Suspension von Grundrechten, Strafschärfungen sowie Einsetzung außerordentlicher Gerichte. Ihre Bewährungsprobe bestand diese entmilitarisierte Organisationsstruktur des Ausnahmezustandes während des kommunistischen Märzaufstands des Ebd., S. 31. Der 11. April bot sich als Stichtag an, weil die Alliierten dem Reich zur Entmilitarisierung des Ruhrgebiets eine Frist bis zum 10. d. M. gesetzt hatten (zur Entmilitarisierung näher Huber 7, S. 101). Ein "ziviler" Ausnahmezustand garantierte dem Reichspräsidenten auch nach dem Abzug der Reichswehrtruppen die Anwendung der Notstandsgewalt in der "neutralen Zone". 52 Verordnung des Reichspräsidenten vom 11. April 1920, RGBI. S. 479ff.; Text: Huber, Dok. 3, Nr. 227. Lediglich im Ruhrgebiet (Regierungsbezirke Düsseldorf, Arnsberg, Münster) blieb die Verordnung vom 11. Januar 1920 bis zum 5. Mai 1920 in Kraft. Vgl. die Verordnung des Reichspräsidenten vom 5. Mai 1920, RGBI., S. 887; Text: Huber, Dok. 3, Nr.228. 53 Vgl. oben Erstes Kapitel B I 1. 50 51

B. Staatsrechtlicher Teil

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Jahres 1921: Der Reichspräsident erließ am 24. März zwei Verordnungen54 , die dem obigen Muster weitgehend entsprachen; seine Verordnung vom 29. März55 ermöglichte ferner die Bildung außerordentlicher Gerichte. Niedergeschlagen wurde die "Märzaktion" durch die preußische Schutzpolizei mit nur geringer Unterstützung der Reichswehr. 56 III. Zusammenfassung

Vom Spätherbst 1919 bis zum März 1921 dienten die Ausnahmeverordnungen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs. 2 vor allem der Niederwerfung linksradikaler Aufstandsbewegungen. Diese Verordnungen übernahmen zunächst die prägenden Elemente des überlieferten Kriegszustandsrechts: Übergang der "vollziehenden Gewalt" auf das Militär, Grundrechtssuspension, Strafschärfungen und Einsetzung außerordentlicher Gerichte. Von der Organisationsstruktur her gesehen, handelte es sich um eine parlamentarisierte und zentralisierte Variante des preußischen Belagerungszustandsgesetzes aus dem Jahre 1851. Der Kapp-Putsch verdrängte dann die Armee aus ihrer Schlüsselposition bei der Durchführung des Ausnahmezustandes; von nun an übernahm die preußische Schutzpolizei die Aufgaben der Reichswehr, wenn es um die Bekämpfung innerer Unruhen ging. Damit war jedoch nur der Träger der bewaffneten Macht ausgewechselt, das rechtliche Instrumentarium zur Niederschlagung von Aufständen entsprach den - ursprünglich militärisch geprägten - exekutivischen Belagerungszustandsregelungen des 19. Jahrhunderts. B. Staatsrechtlicher Teil I. Die Interpretation des Staatsnotstands im Kaiserreich

Herrschende Interpretationsmethode der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre des Kaiserreichs war der von Karl Friedrich GerberS? und Paul Laband 58 begründete "staatsrechtliche Positivismus" .59

54 Verordnungen vom 24. März 1921 (Provinz Sachsen und Groß-Hamburg), RGBI., S. 253ff.; Texte: Huber, Dok. 3, Nr. 232,233. 55 Verordnung vom 29. März 1921 in der Fassung vom 14. Mai 1921, RGBI., S. 371,689; Text auszugsweise bei Huber, Dok. 3, Nr. 234. 56 Vgl. Huber 7, S.179ff.; Hürten, Reichswehr, S. 32. 57 Vgl. ders., Über öffentliche Rechte, Tübingen, 1852; ders., Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., Leipzig 1880. 58 Vgl. ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd.l - 3, Tübingen 1876 - 1882. 59 Dazu Bärsch, S. 43ff.; Böckenförde, Gesetz, S. 21Off.; Boldt, Rechtsstaat, S.122f.; v. Oertzen, S. 214ff.; Vitzthum, S. 92ff.

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

Diese methodische Richtung versuchte die Rechtswissenschaft von Staatstheorie, Philosophie, Geschichte und Soziologie zu isolieren60 und in eine reine Normwissenschaft zu verwandeln: "Zweck, Funktion und Bedingtheit der Rechtsinstitute liegen jenseits ihres Begriffs. "61 Wertende, wertbeziehende Betrachtungen, die Bildung und Zuordnung der Begriffe in Hinblick auf die vorgegebenen Ordnungsprobleme, ihre Rückbeziehung auf staatstheoretische Erkenntnisse, all dies war ausgeschlossen;62 stattdessen wurden Rechtsnormen formal-logisch geordnet, systematisiert und unter allgemeine Rechtsbegriffe subsumiert. Für Laband lag demnach die Aufgabe der Rechtsdogmatik "in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeine Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerung."63 Ziel des Vorgehens war mithin ein extensiv, nach außen abgeschlossenes und durch nahtlose Verbindung der Rechtssätze untereinander auch intensiv geschlossenes rechtslogisches System. 64 Die Staatsrechtswissenschaft wandte diese Methode auch auf die den Ausnahmezustand regelnden Normen an und begnügte sich damit, den vorgegebenen positiven Rechtsstoff - also Art. 68 BRV i. V. m. dem preußischen Be1agerungszustandsgesetz - in ein System von Generalisierungen und Schematisierungen einzufügen. 65 Zwei Möglichkeiten boten sich an. Entweder man knüpfte - wie Paul Laband 66 - an die Verhängung des Kriegszustandes durch den Kaiser an und interpretierte diese monarchische Befugnis als Ausfluß des dem Staatsoberhaupt übertragenen militärischen Oberbefehls (Art. 63 BRV). Oder aber man berief sich - im Anschluß an Georg Meyer67 auf den "sicherheitspolizeilichen" Charakter des Belagerungszustandes und unterwarf dieses Rechtsinstitut polizeirechtlichen Regeln. Die Meyersche Auffassung hatte sich während des Weltkrieges gegen die zunächst herrschende Position Labands durchgesetzt. 68 Das Abschieben des Staatsnotstands in die Sphäre des Verwaltungsrechts korrespondierte mit den gesellschaftlichen Veränderungen nach der Gründung des Deutschen Reichs. Das Bürgertum hatte nach der Reichsgründung auf die Verwirklichung seiner freiheitlichen Verfassungsideale verzichtet und mit den im Staate herrschenden aristokratisch-konservativen Kräften einen Kompromiß geschlossen, der darin bestand, daß ihm durch Erhaltung des 60 61

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68

Böckenförde, Gesetz, S. 21Of. Ebd., S. 212. Böckenförde, Gesetz, S. 212. Laband 1, 2. Aufl., S. XI. Boldt, Rechtsstaat, S. 122f. Zu den Einzelheiten der Interpretation vgl. Boldt, Rechtsstaat, S. 124ff.; 161ff. Laband 3, 2. Aufl., 1. Abtlg., S. 41ff. Ders., Lehrbuch, 4. Aufl., S. 493f. Zum Diskussionsstand PürscheI, S. 29ff.; Strupp, Kriegszustandsrecht, S. 5ff.

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formalen Rechtsstaats die ökonomisch-soziale Bewegungsfreiheit gesichert wurde, während die eigentliche Staatsgewalt der Monarchie und dem von ihr gelenkten Staatsapparat überlassen blieb. 69 Mögliche Konfliktpunkte zwischen den Trägern dieses Kompromisses wurden außer Streit gestellt. So verzichtete etwa das Bürgertum darauf, auf die Verankerung der ,droits de l'homme', der natürlichen Menschenrechte, in der Reichsverfassung zu drängen und begnügte sich mit der Garantie seiner Freiheitssphäre im einfach wandelbaren Gesetz.70 Außer Streit gestellt wurde auch die Regelung des Ausnahmezustands. Die auf formal-logischen Ableitungen beruhende positivistische Interpretationsmethode erlaubte es, den Belagerungszustand in das scheinbar zweckneutrale Verwaltungsrecht abzuschieben und dadurch zu entpolitisieren. 71 Die Erkenntnis, daß dieses Rechtsinstitut ursprünglich dazu diente, den ,ordre etabli' vor revolutionärem Umsturz zu bewahren und trotzdem bürgerliche Freiheit mit staatlich-monarchischer Ordnung zu versöhnen,72 galt dem Positivismus als "außerjuristisch" und war somit aus der rechtswissenschaftlichen Betrachtung verbannt. Der Belagerungszustand degenerierte "zum reinen Mittel, zur technischen Einrichtung eines vorgeblich innenpolitisch neutralen Militär- bzw. Polizeirechts"73, die auf die Grundlage des spät liberalen Verfassungskompromisses abzielende Frage nach seinem eigentlichen politischen Sinn wurde nicht mehr gestellt. 11. Die Auslegung des Art. 48 Abs. 2

1. Die "öffentliche Sicherheit und Ordnung" Die Rechtswissenschaft bezog sich in der Auslegung des Schutzobjekts des Art. 48 Abs. 2, der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung", auf verwaltungsbzw. polizeirechtliche Kategorien und führte damit die traditionelle Interpretation des Ausnahmezustandes fort. " ... Voraussetzungen und der ganze Zweck des Ausnahmezustandes" stempelten "denselben zu einem spezifischen Institut des Polizeirechts" meinte Hubrich74 ; "öffentliche Sicherheit" umschrieb er als das "Sichersein der Rechtsgüter der Allgemeinheit"75, "öffentliche Ordnung" als das "Unangetastetsein der für die Allgemeinheit bestehenden tatsächlichen Verhältnisse"76. 69 70 71

186. 72 73 74 75

Vgl. v. Oertzen, S. 322. Vgl. Boldt, Rechtsstaat, S.l77. Zu dieser Entpolitisierung des Belagerungszustandes vgl. Boldt, Rechtsstaat, S. 170f., Vgl. Boldt, Ausnahmezustand, S. 355; ders., Rechtsstaat, S. 80ff., 84ff. Boldt, Rechtsstaat, S. 171. Hubrich, S. 105. Ebd., S. 105.

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Grau wiederum definierte "öffentliche Sicherheit" als die "Abwesenheit von beachtlichen Gefahren"77, wobei an die Abwesenheit von solchen Gefahren gedacht sei, "die der staatlichen Gemeinschaft als solcher, insbesondere dem Funktionieren der Staatstätigkeit drohen"78. Zur Erläuterung des Gefahrbegriffes zitierte Grau die zeitgenössische polizeirechtliche Literatur.79 Unter einer beachtlichen Gefahr sei zu verstehen: ... eine die erkennbare objektive Möglichkeit eines Schadens enthaltende Sachlage, der - unter Berücksichtigung des Grades der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts und des Wertes des bedrohten Gutes einerseits sowie des Interesses an der Nichtverhinderung der Schadensmöglichkeit andererseits - nach verständigem Ermessen vorzubeugen ist.80

Die Grenze zur grundsätzlich den Ländern vorbehaltenen, traditionellen Polizeigewalt (v gl. Art. 9 Nr. 2) schien sich aus dem Beiwort "erheblich" entnehmen zu lassen: Erheblich ist eine Gefährdung oder Störung dann, wenn sie es "verdient", daß sie auf dem außerordentlichen Wege, mit außerordentlichen Mitteln durch so ein hohes Staatsorgan wie den Reichspräsidenten bekämpft wird.8 1

Der Rückgriff auf polizeirechtliche Formeln in der Interpretation des Voraussetzungstatbestands des Art. 48 Abs. 2 verweist auf die verfassungsrechtliche und politische Kontinuität der präsidialen Diktaturgewalt. Das rechtliche Instrumentarium, dessen sich die Reichsleitung zur Niederwerfung der linksradikalen Aufstände bediente, fand sein Vorbild in den Belagerungszustandsgesetzen des 19. Jahrhunderts;82 politisch zielten diese Ausnahmeverordnungen des Reichspräsidenten ebenso wie das überlieferte Staatsnotstandsrecht83 auf die Bewahrung des gesellschaftlichen ,status quo'. Die schematische Übertragung der für das alte Recht gewonnenen Auslegungsregeln auch auf die Normen der republikanischen Reichsverfassung lag 76 Hubrich, S. 105. Hubrich knüpfte dabei an die Definition der polizeilichen Generalklausel durch Fritz Fleiner an; vgl. ders., S. 369: "Die Sorge für die öffentliche Sicherheit besteht in der Verpflichtung, die von der geltenden Gesetzgebung anerkannten Rechtsgüter des einzelnen und der Allgemeinheit sicherzustellen, die ihrer Existenz oder ihrer Unversehrtheit drohen." 77 Grau, Diktaturgewalt 1, S. 34. 78 Ebd. Grau griff auf die Auslegung der polizeilichen Generalklausel durch Otto Mayer zurück; vgl. ders., S. 223: "Unter den äußeren Polizeigütern steht voran, als das wertvollste, der Staat selbst mit seinem Dasein, mit seinen Einrichtungen und Veranstaltungen für das öffentliche Wohl, d. h. sein eigenes Wohl, als Voraussetzung aller übrigen, und der ihm anvertrauten Gesellschaft ... " 79 Vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 34 Fn. 1. 80 Ebd., S. 33f. 81 Grau, Diktaturgewalt 1, S. 37; ähnlich Giese, 1920, Anm. 13 zu Art. 48, Kohlheyer, S.21. 82 Vgl. Erstes Kapitel B I 1. 83 Dazu oben Erstes Kapitel B I u. Zweites Kapitel B I a. E.

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deshalb nahe. Der "Stilwandel" (Boldt) des Ausnahmezustandes im Weltkrieg84 und die damit verknüpfte Auflösung der traditionellen Interpretation85 spielte für die Anwendung der präsidentiellen Notstandsgewalt als Instrument des Bürgerkrieges keine Rolle. 2. Die "Maßnahme" a) Überblick aa) Der Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 lieferte der Wissenschaft kaum Anhaltspunkte für die Reichweite der präsidialen Befugnisse, war doch ausdrücklich nur das "Einschreiten mit Hilfe der bewaffneten Macht" sowie die "Außerkraftsetzung" bestimmter Grundrechte erwähnt. Wie füllte nun die rechtswissenschaftliche Literatur den nicht näher bestimmten Begriff "Maßnahme" aus? "Neben anderen Maßnahmen", kommentierte Poetzsch-Heffter, dürfe der Reichspräsident: a) Anordnungen mit Gesetzeskraft erlassen oder eine andere Stelle zum Erlaß solcher Anordnungen ermächtigen ... b) außerordentliche Gerichte einsetzen oder einsetzen lassen ... c) die vollziehende Gewalt besonderen Organen übertragen,86

Erinnert diese Aufzählung bereits an die Befugnisse der Militärbefehlshaber nach dem preußischen Belagerungszustandsgesetz, so wird Giese in der 4. Auflage seines Taschenkommentars noch deutlicher: Die Militärdiktatur kann, muß aber nicht unter den zu ergreifenden Maßnahmen enthalten sein. Zulässig ist demgemäß die Übertragung der vollziehenden Gewalt auf Reichswehrminister und Militärbefehlshaber , die Einsetzung außerordentlicher Kriegsgerichte und Standgerichte, die Verschärfung oder Erweiterung des gemeinen Strafrechts,87

bb) Auch in der Nationalversammlung war man von einer Interpretation des Maßnahme- (bzw. Anordnungs-)begriffs ausgegangen, die sich am Regelungsmodell des preußischen Belagerungszustandsgesetzes orientierte. Darauf weist schon die wiederholte Verwendung des Terminus "Belagerungszustand" auch für das neue Recht hin 88 , und schon am 9. April 1919 hatte der Vgl. oben Erstes Kapitel B 12. Dazu noch unten Viertes Kapitel B I 1. 86 Poetzsch, Anm. 7 zu Art. 48. 87 Giese, 1921, Anm. 13 zu Art. 48. 88 Vgl. v. Delbrück in der 47. Sitzung am 5. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3257; Cohn, S. 3242. Vgl. auch Preuß in der 26. Sitzung des Verfassungsausschusses am 9. April 1919, Verhandlungen, Band 336, S. 288. 84

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deutschdemokratische Abgeordnete Ablaß im Verfassungsausschuß erklärt: "Art. 68 (E IV, A.K.) findet sein Vorbild in Art. 68 der bisherigen Reichsverfassung. "89 Wurde ein Redner konkreter, so ließen sich deutlich die Organisationsstrukturen des überlieferten Ausnahmerechts erkennen. Clemens von Delbrück etwa führte als Referent des Verfassungsausschusses am 5. Juli 1919 vor dem Plenum der Nationalversammlung aus: der Reichspräsident dürfe alle zur Durchführung seiner Befugnisse erforderlichen Maßnahmen treffen, insbesondere sei er "auch befugt zum Erlaß von Rechtsvorschriften, zum Erlaß von Strafvorschriften sowie zur Einsetzung außerordentlicher Kriegsgerichte ... "90. Hugo Preuß schließlich bemerkte vor dem Verfassungsausschuß am 9. April, daß auch ein Militärbefehlshaber "beauftragt" werden könne, "die Maßnahmen 91 durchzuführen"92 und spielte damit auf den Übergang der vollziehenden Gewalt an. cc) Ferner begünstigte die Staatspraxis eine reibungslose Rezeption der Organisationselemente des Belagerungszustandsgesetzes in den Maßnahmebegriff. Nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung überlappten sich zeitweise das neue und das alte Ausnahmerecht. Als Noske etwa den kommunistischen Märzaufstand des Jahres 1919 - gestützt auf das preußische Belagerungszustandsgesetz - nach heftigen Kämpfen niedergeschlagen hatte, blieb die Verordnung des preußischen Staatsministeriums noch bis Anfang Dezember 1919 in Kraft. 93 Auch in weiten Teilen Ost- und Westpreußens sowie in Schlesien übten Militärbefehlshaber bis Mitte Januar 1920 die vollziehende Gewalt auf Grund des Belagerungszustandsgesetzes aus. 94 Zeitlich parallel dazu verhängte der Reichspräsident auf Grund des Art. 48 Abs. 2 den Ausnahmezustand. 95 Die Schubladenverordnung vom 30. Juli 1919 indes, die Ebert als Muster verwandte, variierte lediglich das preußische BZG und hatte dessen wesentliche Strukturelemente in sich aufgenommen, so daß ihre Verwendung gleichwohl die Rezeption des vorrepublikanischen Rechts förderte. Ihre Rechtsgrundlage fand die parallele Anwendung von altem und neuem Notstandsrecht in Art. 178 Abs. 3. Denn gemäß dieser Norm behielten die 26. Sitzung, Verhandlungen, Band 336, S. 288. 47. Sitzung vom 5. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3256; ähnlich ders. am 4. Juli in der 46. Sitzung, ebd., S. 3181. Vgl. auch Cohn am 5. Juli, 47. Sitzung, ebd., S. 3260. 91 Es fällt auf, daß Preuß bereits hier von "Maßnahmen" sprach, erscheint doch im Verfassungstext dieser Begriff erst mit den Korrekturbeschlüssen des Achten Ausschusses vom 16. bis 18. Juni 1919. 92 26. Sitzung, Verhandlungen, Bd. 336, S. 288. 93 Vgl. Huber 5, S. 1103; Kimmei, S. 40ff. 94 Auflistung bei Kimmei, Anlage 2. Erst die Verordnung des Reichspräsidenten vom 13. Januar 1920 (vgl. oben AI 3) löste den altrechtlichen Belagerungszustand ab. 95 Vgl. oben A I. 89

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"Anordnungen der Behörden, die auf Grund bisheriger Gesetze in rechtsgültiger Weise getroffen waren ... ihre Gültigkeit bis zur Aufhebung im Wege anderweitiger Anordnung oder Gesetzgebung." War also der Belagerungszustand vor Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung verhängt worden,96 blieb dieser Akt vorerst gültig; der Militärbefehlshaber konnte auf dessen Rechtsboden weiterhin tätig werden. 97 dd) Die rechtswissenschaftliche Literatur bediente sich also des Maßregelkatalogs des preußischen Belagerungszustandsgesetzes, um den unscharfen Begriff der "Maßnahme" näher auszuformen. Eine solche Interpretation war bereits in der Nationalversammlung vertreten worden; prägend wirkte ferner nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung die synchrone Anwendung des monarchischen und republikanischen Notstandsrechts sowie die Kongruenz der nach Art. 48 Abs. 2 erlassenen Ausnahmeverordnungen mit dem überlieferten Regelungskanon. Mit Hinblick auf die weitere verfassungsrechtliche Entwicklung der Weimarer Republik verdienen zwei Punkte besondere Aufmerksamkeit: die Delegation der Ausnahmebefugnisse zum einen, das provisorische Gesetzgebungsrecht des Reichspräsidenten zum anderen. b) Die Delegation der Befugnisse des Art. 48 Abs. 2 Nach dem Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 schienen sämtliche (Reichs-)Ausnahmebefugnisse in der Hand des Reichspräsidenten konzentriert; nur er durfte die "nötigen Maßnahmen" treffen. Aber verfuhr die Praxis nicht völlig anders? Verhängten oder verschärften die Militärbefehlshaber nicht nach eigenem Ermessen den Ausnahmezustand? Und durfte der Reichspräsident überhaupt andere Stellen (Reichswehrminister , Militärbefehlshaber , zivile Regierungskommissare ) beauftragen, für ihn die "nötigen Maßnahmen" zu treffen, indem er auf sie die "vollziehende Gewalt" übertrug oder ihnen gestattete, Behörden bindende Weisungen zu erteilen? aa) "Das Recht der Verhängung des Ausnahmezustandes selbst kann ... der Reichspräsident nicht delegieren. "98 Dieser Grundsatz galt bereits im Bismarckreich für die Verhängung des Kriegszustandes durch den Kaiser (Art. 68 BRV) und wurde nun - unbestritten - auf Art. 48 Abs. 2 übertragen. 99 96 Zur Rechtslage nach dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vgl. oben Erstes Kapitel B II 2a. 97 Vgl. das vom Reichsjustizministerium auf Wunsch des Haushaltsausschusses der Nationalversammlung erstattete Rechtsgutachten vom 5. Oktober 1919, Verhandlungen, Bd. 334, S. 7033; Drucksache zu Nr.1097. 98 Kohlheyer, S. 30.

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Praktische Konsequenzen zog die rechtswissenschaftliche Literatur indes aus dieser Regel nicht. Die selbständige Verhängung des Ausnahmezustandes durch das Militär, die sich qua Bekanntmachungspraxis wieder eingebürgert hatte, schien der Staatsrechtslehre überhaupt verborgen geblieben zu sein. Kritik an der Stoltzmannschen Verordnung vom 13. März 1920 100 , oder an der Verordnung vom 19. März desselben Jahres, die der Vize kanzler Schiffer "in Vertretung" des Reichspräsidenten unterzeichnet hatte,lOl wurde nur vereinzelt - und sehr spät - geübt. 102 Engels rechtfertigte die Schiffer'sche Verordnung gar mit einer gewagten juristischen Konstruktion: er unterstellte, daß der Reichspräsident den Vizekanzler zur Stellvertretung ermächtigt habe und behauptete dann die gewohnheitsrechtliche Zulässigkeit dieser Vorgehensweise, so daß "eine Wiederholung der Delegation zwar mit Wortlaut und Sinn der Verfassung, nicht aber mit dem materiellen Staatsrecht"103 in Widerspruch stünde. 104 Der Erlaß des Reichspräsidenten vom 25. März 1920105 schließlich, aus dem hervorgeht, daß die Militärbefehlshaber nach "eigenem Befinden" den Ausnahmezustand verschärfen durften, wurde lediglich von dem Strafrechtler Eberhard Schmidt der Erwähnung für Wert befunden. Diesem erschien "die Vereinbarkeit solcher Vollmachten mit Art. 48 ... sehr zweifelhaft"lo6. Eine Bemerkung des Staatsrechtsprofessors Heinrich Triepel auf dem Bamberger Juristentag 1921 hilft erklären, warum man vor einer Kritik der Staatspraxis weitgehend zurückscheute: er gehe im Rahmen seines Referates auf die Verordnungsgewalt des Art. 48 deshalb nicht ein, "weil eine Besprechung dieses Gegenstandes in den kritischen Tagen, die wir jetzt durchleben, besser unterbleibt. "107 Ähnlich äußerte sich einige Jahre später auch Eberhard Schmidt: "Man darf nicht vergessen, daß beide Verordnungen 108 aus einer Zeit schwerster innerer Kämpfe stammen, in denen es sich einfach um die 99 Ähnlich wie Kohlheyer, auch Goebel, S. 45; Nielsen, S. 3. Zum alten Recht Strupp, Kriegszustand, S. 22f. 100 Vgl. oben A II 2 a.E. 101 Vgl. oben All 2. 102 Nur Grau, (Diktaturgewalt 1, S. 114ff.) und Eberhard Schmidt (in: v. Liszt, 1921, S.115) gingen auf diese Problematik überhaupt ein. Zur Stoltzmannschen Verordnung vgl. Schmidt: staatsrechtlich höchst bedenklich; ähnlich Grau, S. 114: nicht "entschuldbar". 103 Engels, S. 24. 104 Auch der Reichswehr nahestehende Juristen versuchten, die faktische Dezentralisierung des Ausnahmezustandes rechtlich festzuschreiben: Der juristische Berater des Generals v. Maercker etwa forderte, den Militärbefehlshabern im Ausführungsgesetz zu Art. 48 "das Recht zum Handeln aus eigenem Entschluß" einzuräumen; vgl. Müller, S. 362. 105 Vgl. oben A II 2. 106 v. Liszt, 1921, S. 115 Fn. 10. 107 Triepel, Reichsverfassung, S. 34. 108 Gemeint waren die Verordnung vom 19. März 1920 sowie der Erlaß des Reichspräsidenten zur Aufhebung von Standgerichten vom 25. März 1920; vgl. oben A 11 2.

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Behauptung von Macht handelte" 109. In der Rechtswissenschaft befürchtete man offensichtlich, jede rechtliche Eingrenzung der konstitutionellen Notstandsgewalt gefährde die Stabilisierung der jungen Republik. bb) Die "bewaffnete Macht" war in Art. 48 Abs. 2 Satz 1 ausdrücklich erwähnt; deshalb erschien der frühen Kommentarliteratur - Anschütz, Poetzsch, Giese - die Übertragung der "vollziehenden Gewalt" auf Reichswehrminister und Militärbefehlshaber selbstverständlich. 110 Auch die Subsumtion des "zivilen" Ausnahmezustandes unter den Maßnahmebegriff stieß auf keinen Widerstand,lll feierte die Literatur es doch gerade als den entscheidenden Fortschritt des Art. 48 Abs. 2, daß diese Norm den Übergang der Exekutivbefugnisse auf das Militär nicht mehr zwingend vorschrieb. 112 Eine konstruktive Begründung dieser Delegationspraxis versuchte erst Richard Grau in seiner 1922 erschienenen Abhandlung "Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und der Landesregierungen". Die Art. 48 Abs. 2 stifte - so Grau - eine "oberste Reichsbehörde, deren Einrichtung nicht ein für allemal"113 erfolge, sondern "die bei ihrer jeweiligen Betätigung von neuem eingerichtet"114 werde. Das Personal dieser auch "Diktaturbehörde"115 oder "außerordentliche Verwaltung"116 genannten Organisation gliedere sich der Diktator "nach Belieben"117 an. So durfte der Reichspräsident "bestehenden Behörden verwaltungsmäßige Diktaturbefugnisse übertragen oder zur Ausübung solcher Befugnisse neue Behörden stiften oder ihm geeignet erscheinende Privatpersonen mit der Ausführung von Diktaturaufgaben betrauen" .118 v. Liszt, 1927, S.139f. Fn. 3. Vgl. Anschütz, 1921, S. 108; Giese, 1921, Anm. 13 zu Art. 48 (S. 179); ders., Grundriß, S. 66; Gmelin, S. 159; Meißner, Staatsrecht; ders., Reichspräsident; Poetzsch, Anm. 7 zu Art. 48 (S. 99f.). Vgl. auch Goebel, S. 45. Gegen eine solche Delegation von Ausnahmebefugnissen der Abgeordnete Cohn am 25. November 1919 in der Nationalversammlung: " ... solange wir dieses Gesetz nicht haben (gemeint war das in Art. 48 Abs. 5 vorgesehene Ausführungsgesetz, A. K.), muß ich sagen, daß jede Anordnung des Herrn Reichspräsidenten, die die Verwaltung und die ordentliche Gerichtsbarkeit in einem Bezirk aufhebt, die Verwaltung des Bezirks einem Soldaten überträgt und außerordentliche Kriegsgerichte einsetzt, ein Bruch der Verfassung ist." 118. Sitzung, Verhandlungen, Bd. 331, S. 3743. 111 Vgl. die affirmativen Darstellungen bei Anschütz, S. 107; Giese, Grundriß, S. 66; Meißner, Staatsrecht, S. 148. 112 Siehe nur Anschütz, 1921, S.107. Scharf pointiert Hermann, S.98: "Mit dieser Zurückstellung des Militärs ... hat sich die demokratische Verfassung von den Einflüssen losgesagt, denen die Männer von 1848 durch den Geist der damaligen Zeit unterlegen 109

110

waren," 113 114 115

116 117

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Grau, Diktaturgewalt 1, S. 109. Ebd. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 110. Ebd. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 110. Ebd., S.108f.

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Ferner billigte es die überwiegende Lehre, daß der Reichspräsident seine Befugnis, "Anordnungen mit Gesetzeskraft"1l9 zu erlassen, an andere Stellen übertrug. 120 Bedenken gegen diese Rechtspraxis wurden erst im Anschluß an das oben erwähnte Referat Triepels 121 laut. Dort hatte sich der renommierte Staatsrechtler gegen die - von Laband begründete - herrschende Doktrin ausgesprochen, die eine beliebige Delegation von Gesetzgebungsbefugnissen auf andere Organe erlaubte. 122 So erschien es manchem nunmehr "juristisch bedenklich, Delegationen jeder Art und jeden Umfangs aus Art. 48 herzuleiten"123. Das Reichsgericht folgte im Ergebnis der herrschenden Literaturmeinung. Es betonte zwar, daß "bei den weitgehenden Machtbefugnissen ... nach Art. 48 Abs. 2" der Reichspräsident die "Art und Richtung" seiner Maßnahmen selber bezeichnen müsse, ließ es aber genügen, wenn "er die Maßnahmen selbst nur ihrer allgemeinen Richtung nach kundgibt und anderen Stellen dann die weitere Ausgestaltung überträgt." 124 Im konkreten Fall reichte es freilich aus, daß der Reichspräsident zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Strafandrohung gegen gewisse Handlungen und die Aburteilung solcher Straftaten durch außerordentliche Gerichte für erforderlich hielt und den Reichswehrminister dazu ermächtigte, derartige Gerichte einzusetzen und ihre Zusammensetzung und Tätigkeit zu regeln. 125 Mithin wirkten sich die vom Reichsgericht aufgestellten Kriterien in der Rechtspraxis nicht aus. cc) Nach alledem war es dem Reichspräsidenten gestattet, die "vollziehende Gewalt" weiter zu übertragen oder den zivilen Ausnahmezustand zu verhängen. Ermöglicht wurde dies durch eine weitgehende Delegationsbefugnis. Der Träger der Ausnahmegewalt und seine Beauftragten verfügten damit über den gesamten Exekutivapparat des Reiches und der Länder. Überdies durfte der Reichspräsident seine Befugnis, "Anordnungen mit Gesetzeskraft" zu erlassen, auf andere Stellen übertragen.

Vgl. oben B II 2aaa. Anschütz, 1921, Anm. 4 zu Art. 48 (S.108); Kohlheyer, S. 30; Poetzsch, Rdn. 7 zu Art. 48 (S. 100). Im Ergebnis auch Grau, Diktaturgewalt 1, S.114 und Nielsen, S. 3. 121 Vgl. oben baa a. E. 122 Vgl. unten c aa. 123 Kohlheyer, S. 39. Ähnlich zu Dohna, Erklärung, S. 1430f. 124 Urteil vom 5. Oktober 1921, RGStE 56, 161ff. (165); es handelte sich um die Verordnung vom 30. Mai 1920 (RGBI. 1920, S. 1147ff.). Text: Huber, Dok. 3, Nr. 229. § 2 lautete: "Der Reichswehrminister wird ermächtigt, zur Aburteilung der in § 1 genannten Straftaten nach Bedarf außerordentliche Gerichte einzusetzen und die Ausführungsvorschriften für die Tätigkeit derselben zu erlassen." 125 Ebd. 119 120

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c) Das Gesetzgebungsrecht des Reichspräsidenten aa) Überblick Der Reichspräsident durfte "Verordnungen mit Gesetzeskraft"126 erlassen; manche Autoren sprachen von einem "Notverordnungsrecht"127 oder sogar von einem "außerordentlichen"128 oder "provisorischen Gesetzgebungsrecht"129. Überraschend mutet die damit verbundene Machtfülle an. Der Reichspräsident war befugt, sich über "anderweitiges Recht hinwegzusetzen"130, durfte also gegen bestehende Gesetze verstoßen oder neues Recht schaffen J3J ; an Reichs- oder Landesgesetze war er nicht gebunden. 132 Dieses "Gesetzgebungsrecht" des Reichspräsidenten hatte sein Vorbild im Verordnungsrecht der Militärbefehlshaber nach § 9b BZG. Diese Norm lautete: Wer ... ein bei Erklärung des Belagerungszustandes oder während desselben vom Militärbefehlshaber im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenes Verbot übertritt ... soll, wenn die bestehenden Gesetze keine höhere Freiheitsstrafe bestimmen, mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft werden.

Diese Vorschrift ermächtigte also die Militärbefehlshaber , die Strafe für die Übertretung eines von ihnen erlassenen sicherheitspolizeilichen Verbots über das von Straf- und Polizeirecht vorgesehene Maß hinaus zu erhöhen. Undeutlich blieb der Text des § 9b insofern, als er das Verhältnis zu § 4 BZG (Übergang der vollziehenden Gewalt) nicht regelte. J?:rgänzte § 9b lediglich die schon mit der vollziehenden Gewalt übergegangene (polizeiliche) Befugnis, Verbote zum Schutz der öffentlichen Sicherheit zu erlassen? Durfte der Militärbefehlshaber mithin - ebenso wie die Zivilverwaltung - im Rahmen der Gesetze (,intra legern') handeln? Oder schuf § 9b BZG ein selbständiges Verordnungsrecht ,contra legern', das von den in der vollziehenden Gewalt enthaltenen Befugnissen unterschieden werden mußte?

126 Vgl. Goebe1, S. 47; Kohlheyer, S. 53. Ähnlich auch Meißner, Staatsrecht, S. 84; Poetzsch, Anm. 7 zu Art. 48: "Anordnungen mit Gesetzeskraft". 127 Goebel, S. 47; Kohlheyer, S. 53ff. (insbesondere S. 57); vgl. auch die Titel der Dissertationen von Auert und Rittberg. In der Sache auch Nielsen, der die Schranken der Ausnahmezustandsmaßnahmen gegenüber der Verfassung zu bestimmen versuchte, indem er die für das Notverordnungsrecht entwickelten Grundsätze heranzog. 128 Grau, Diktaturgewalt 1, S. 18. 129 Kohlheyer, S. 53. 130 Grau, Diktaturgewalt 1, S. 18. 131 Vgl. Poetzsch, Anm. 7 zu Art. 48 (S. 99); ähnlich Meißner, Staatsrecht, S. 84. 132 Vgl. Goebel, S. 34; ähnlich Riedenklau, S. 5.

5 Kurz

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Für die letztgenannte Ansicht entschied sich die ganz überwiegende Literatur sowie die Rechtsprechung 133 - oft ohne Begründung, zuweilen unter Berufung auf Gewohnheitsrecht. 134 Pürschel kommentierte: Es ist aus dem § 9b ein neues, neben dem Recht des Militärbefehlshabers als Inhaber der vollziehenden Gewalt nach § 4 bestehendes, über dieses Recht hinausgehendes und scharf von ihm zu trennendes Verordnungsrecht entwickelt und auf diese Weise dem Militärbefehlshaber außer der vollziehenden Gewalt auf dem Gebiete der öffentlichen Sicherheit die gesetzgebende Gewalt eingeräumt worden. 135

Eine solche Übertragung der "gesetzgebenden Gewalt" war nach der damals herrschenden Doktrin durchaus zulässig. Art. 5 BRV enthalte lediglich lehrte Laband - eine Bestimmung, in welcher Form die Gesetzgebung ausgeübt werde, aber keine Vorschrift, worin der Inhalt eines Reichsgesetzes bestehen müsse oder nicht bestehen dürfe. Ein Gesetz könne demnach anstatt unmittelbar Rechtsregeln aufzustellen, Anordnungen darüber enthalten, wie gewisse Rechtsregeln erlassen werden sollen. Darauf folgerte Laband, daß obwohl eine allgemeine, durch die Reichsverfassung selbst begründete Befugnis zu Rechtsverordnungen nicht bestehe - dieselbe in jedem einzelnen Fall durch ausdrückliche Anordnung eines Reichsgesetzes konstituiert werden könne. 136 Eine solche ausdrückliche Anordnung fand sich in § 9b BZG: diese Vorschrift delegierte - nach der im ersten Weltkrieg herrschend gewordenen Auslegung - das Gesetzgebungsrecht weiter an die Militärbefehlshaber . Folgerichtig deduzierte man weiter, daß insofern die Militärbefehlshaber "an die bestehenden Gesetze nicht gebunden"137 seien; sie durften also: ... solche Verbote erlassen, welche Änderungen des bestehenden Rechtszustandes bedeuteten, gesetzlich gewährleistete Befugnisse des einzelnen aufheben oder einschränken und dergleichen .. .1 38

Indem die rechtswissenschaftliche Literatur dem Reichspräsidenten die Befugnis einräumte, sich "über anderweitiges Recht hinweg (zu)setzen", gegen "bestehende Gesetze (zu) verstoßen oder neues Recht (zu) schaffen", übertrug sie das Rechtsverordnungsrecht der Militärbefehlshaber aus § 9b BZG auf eine zentrale Instanz - den Reichspräsidenten. Weggefallen war lediglich die nach altem Recht notwendige Verknüpfung mit einer Strafdrohung. 133 Vgl. zur Interpretation des § 9b BZG Pürschei, S.153ff.; Strupp, Kriegszustand, S. 91ff. (insb. S. 95f.); jeweils m. w. N. 134 So z. B. Kronheimer, Anordnungsrecht, S. 483; Strupp, Kriegszustand, S. 96f.; zu weiteren Begründungsversuchen Pürschei, S. 158. 135 Pürschei, S. 171. 136 Vgl. Laband 2,1. Aufl., S. 75ff. 137 Pürschei, S. 171. 138 Pürschei, S. 172; ähnlich Strupp, Kriegszustandsrecht, S. 192.

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Auch hier gewann der verschwommene Begriff der "nötigen Maßnahmen" nur durch einen Rückgriff auf das vorrepublikanische Recht deutliche Konturen. bb) Die Einsetzung außerordentlicher Gerichte Nach fast einhelliger Auffassung durfte der Reichspräsident, gestützt auf eine Verordnung gemäß Art. 48 Abs. 2, außerordentliche Kriegsgerichte und Standgerichte einsetzen. 139 Doch stand dem nicht Art. 105 entgegen? Diese Vorschrift lautete: Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die gesetzlichen Bestimmungen über Kriegsgerichte und Standgerichte bleiben unberührt.

Wenn man - auf die frühliberale Theorie zurückgreifend - die Gerichte des Ausnahmezustandes als "Ausnahmegerichte" im Sinne des Art. 105 Satz 1 qualifizierte,140 bedurfte es "gesetzlicher Bestimmungen" im Sinne des Satzes 2. Nur dann durfte vom Grundsatz des Satzes 1 abgewichen werden, nur dann war die Einsetzung von Kriegs- und Standgerichten zulässig. 141 Aber auch wenn man - im Anschluß an die herrschende Lehre im Spätkonstitutionalismus 142 - die Gerichte des Ausnahmezustandes als "besondere Gerichte" (Sondergerichte) im Sinne der §§ 13ff. GVG einstufte und sie 139 Vgl. Anschütz, 1921, Fn. 3 zu Art. 105 (S. 177); Gmelin, S. 163; Grau, Diktaturgewalt 1, S.132; Kohlheyer, S. 43ft.; Peucker, S. 79ft.; Poetzsch, Anm. 7 zu Art. 48. Kritisch nur Hartmann, S. 88f. und Müller, S. 376. 140 Diesen Standpunkt vertrat für die Gerichte des Belagerungszustandes die frühliberale Staatsrechtslehre; vgl. v. Rönne, Preußisches Staatsrecht, S. 34 und Welcker, S. 461. Um die Einsetzung von Gerichten im Belagerungszustand dennoch zu ermöglichen, erlaubte Art. 111 Preußische Verfassungsurkunde i. V. m. § 5 BZG ausdrücklich die Suspension des dem Art. 105 Satz 1, 2 entsprechenden Art. 7 Preußische Verfassungsurkunde. Im Gegensatz dazu sah Art. 48 Abs. 2 Satz 2 keine Außerkraftsetzung des Art. 105 vor. In der Weimarer Zeit knüpften Giese, 1920, Anm. 3 zu Art. 105, und Grau, Diktaturgewalt 1, S. 129 wieder an die frühliberale Doktrin an, indem sie die Gerichte des Ausnahmezustands als "Ausnahmegerichte" bezeichneten. 141 Der dem Art. 105 Satz 3 wörtlich entsprechende § 16 Satz 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar 1877 wurde unter anderen deshalb eingefügt, um eine Außerkraftsetzung der in §§ lOff. BZG enthaltenen Bestimmungen über die außerordentlichen Kriegsgerichte nach dem Grundsatz ,lex posterior derogat legi priori' zu verhindern; vgl. dazu Hahn, S. 64f.: "Die Ausnahme, welche der § 5 (§ 5 des Entwurfes entsprach dem späteren § 16 GVG, A. K.) in seinem letzten Satze macht, wird geboten durch die Vorschrift in Art. 68 der Reichsverfassung über die Erklärung des Kriegszustandes (Hervorhebung von mir., A.K.), sowie durch die Bestimmungen der Landesgesetzgebung über die in Ausnahmezuständen eintretenden Kriegsgerichte oder Standrechte ... " A. A. Huber 3, S. 1052: der Gesetzgeber habe nur an die Kriegsgerichte der Militärstrafpflege gedacht. 142 Nachweise bei Pürschei, S. 248.

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damit den Verwaltungsgerichten, Militärgerichten oder Konsulargerichten gleichsetzte l43 , bedurfte es zu ihrer Einsetzung einer gesetzlichen Grundlage. Zwar nicht wegen des Art. 105 Satz 1, denn diese Vorschrift war - folgte man dieser Interpretation - funktionslos geworden. 144 Doch durfte gemäß Art. 105 Satz 2 niemand seinem "gesetzlichen Richter" entzogen werden, ferner mußten nach § 13 GVG Sondergerichte "reichsgsetzlich ... bestellt oder zugelassen" sein. Ob man also die vom Reichspräsidenten in den Jahren 1920/21 geschaffenen Spruchkörper als Ausnahme- oder als Sondergerichte qualifizierte - ihre Einsetzung erforderte jedenfalls ein" Gesetz". Anfangs noch zögerte die Rechtswissenschaft, die Verordnungen des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 als "Gesetz" im Sinne des Art. 105 einzustufen. So argumentierten manche Autoren, aus Satz 3 dieser Norm ließe sich herauslesen, daß die Bestimmungen des preußischen Belagerungszustandsgesetzes bzw. des bayrischen Kriegszustandsgesetzes über die Einsetzung außerordentlicher Kriegs- und Standgerichte gar nicht außer Kraft getreten seien. 145 Damit war zwar ein "Gesetz" gefunden, doch Organisation und Verfahren der vom Reichspräsidenten eingesetzten Gerichte entsprachen keineswegs den §§ lOff. BZG oder §§ 5ff. KZG. Man behalf sich mit juristisch fragwürdigen Ausflüchten, welche die Anerkennung eines gesetzvertretenden Verordnungsrechts nur notdürftig verschleierten. Die Bestimmungen des BZG und des KZG gälten zwar weiter - so Anschütz l46 - könnten jedoch durch Verordnungen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs. 2 für jeden Ausnahmezustand durch andere Vorschriften ersetzt werden. Offiziöse Stellungnahmen waren deutlicher. Otto Meißner, der Chef des Büros des Reichspräsidenten,147 führte in seinem 1921 erschienenen Lehrbuch aus: die außerordentlichen Gerichte seien "mit ihrer Einsetzung auf Grund des Art. 48 Abs. 2 gesetzliche Gerichte" und diese Richter seien dann die "gesetzlichen Richter". Und schließlich: " ... auf Art. 48 Abs. 2 gestützte Verordnungen sind ,gesetzliche Bestimmungen' in diesem Sinne, solange das vorgesehene Reichsgesetz noch nicht ergangen ist. "148

Weitere Beispiele für Sondergerichte bei Löwe, Anm. 2aff. zu § 13 GVG. So zutreffend Grau, Diktaturgewalt 1, S. 128. 145 Anschütz, 1921, Anm. 3 zu Art. 105 (S.l77); Gmelin, S.159; Kohlheyer, S. 44; Peukker, S. 79; Poetzsch, Anm. 2 zu Art. 105 (S.161). Differenzierter Hartmann, S. 587ff. (S. 588): Der Geltungsbereich dieser Bestimmungen (gemeint war das BZG, A. K.) sei auf Preußen beschränkt; in den außerpreußischen Ländern mit Ausnahme Bayerns bestehe eine Lücke, die, da der Art. 105 entgegenstehe, durch eine einfache Verordnung des Reichspräsidenten nicht ausgefüllt werden könne. 146 Vgl. Anschütz, 1921, Anm. 3 zu Art. 105; ähnlich Kohlheyer, S. 47. 147 Zum Büro des Reichspräsidenten vgl. Huber 6, S. 139. Zu Otto Meißner, ebd., S. 320 Fn.45. 143

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Diese Auffassung wurde in den späteren Jahren dann auch herrschend. 149 Zur Einsetzung außerordentlicher Gerichte bedurfte es nicht mehr notwendig eines im ordentlichen Gesetzgebungswege - also unter Mitwirkung der Volksvertretung - zustandegekommenen (formellen) Gesetzes oder einer von einem formellen Gesetz abgeleiteten Rechtsverordnung; vielmehr genügte die originäre Rechtssetzungskompetenz des Reichspräsidenten, d. h. der Exekutive, aus Art. 48 Abs. 2. Es handelte sich um nichts anderes als um eine republikanisierte "Kabinettsjustiz" .150 Diese Gleichsetzung von präsidialer Verordnung und "Gesetz" im Sinne des Art. 105 lag in der Konsequenz des spätkonstitutionellen Gesetzesbegriffs, der - zugeschnitten auf eine andere Verfassungsrechtslage - nicht das begriffliche Rüstzeug bot, zwischen dem Verfahren der Rechtssetzung nach Art. 68ff. dem nach Art. 48 Abs. 2 zu differenzieren. Die zuerst von Paul Laband eingehend begründete herrschende Lehre des Kaiserreichs l51 vertrat einen doppelten Gesetzesbegriff; sie unterschied zwischen materiellem und formellem Gesetz. Das materielle Gesetz wurde definiert als die "rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes"152, das formelle Gesetz als Willensakt des Staates, zu dem die Zustimmung der Volksvertretung erforderlich war, auch wenn dieser Willensakt keine Anordnung von Rechtssätzen enthielt.l 53 Als nur formelle Gesetze galten etwa die Feststellung des Staatshaushalts, Verwaltungsvorschriften in Gesetzesform, Finanzmaßregeln und Ermächtigungen. 154 Gesetz im formellen Sinn und Gesetz im materiellen Sinn verhielten sich zueinander "nicht wie Gattung und Art, wie ein weiterer und ein ihm untergeordneter engerer Begriff"155; sondern es handelte sich Laband zufolge um zwei 148 Meißner, Staatsrecht, S. 148. Ähnlich das Urteil des Reichsgerichts vorn 5. Oktober 1921, RGStE 56, S. 161; kritisch zu diesem Urteil Hartmann, S. 88f. und vorher auch Müller, S. 376. 149 Vgl. dazu zu Dohna, Ausnahmegerichte, S. 119f. ISO Die am Beispiel Meißners vorgeführte Argumentation war keineswegs neu. Bereits im Jahre 1830 rechtfertigte der ,avocat-general' vor dem ,cour de cassation' im Fall ,Geoffroy' die Zuständigkeit von Militärgerichten für Zivilpersonen im Ausnahmezustand mit einer ähnlichen Begründung: Die Einsetzung von Militärgerichten verstoße nicht gegen die Art. 53 und 54 der Charte von 1830 (diese normierten das dem Art. 105 Satz 1, 2 entsprechende Ausnahmegerichtsverbot), denn der dort genannte ,juge naturei' sei niemand anderes als der ,juge legal' und den Militärgerichten sei durch ein napoleonisches Dekret - also durch einen Rechtssetzungsakt der Exekutive! - die Gerichtsbarkeit über Zivilpersonen im Belagerungszustand anvertraut worden, so daß sie dem Erfordernis eines gesetzlichen Richters für diesen Fall genügten. Vgl. Boldt, Rechtsstaat, S. 42; Schmitt, Diktatur, S.197; ferner zum zeitgenössischen Streit um die ,loi sur l'etat de siege' vorn 9. August 1849, Boldt, Rechtsstaat, S. 55. 151 Vgl. Laband 2, 1. Aufl., S. 59ff. 152 Ebd., S.l. 153 Laband 2,1. Aufl., S. 60f. 154 Ebd., S. 61.

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"durchaus verschiedene Begriffe"156, von denen jeder durch ein anderes Merkmal bestimmt sein sollte; "der eine durch den Inhalt, der andere durch die Form einer Willenserklärung"157. Legte man dem so gewonnenen materiellen Gesetzesbegriff die Rechtslage des Kaiserreichs unter, führte dies zur notwendigen Mitwirkung des Parlaments an jedem Akt der Rechtssetzung. Denn Reichsverfassung und Länderverfassungen sahen zwingend die Mitwirkung der Volksvertretung an der "Gesetzgebung" vor. Nach der Labandschen Definition waren aber materielles "Gesetz" und Rechtssatz identisch; es war also nicht nur jedes materielle Gesetz ein Rechtssatz, sondern jeder Rechtssatz auch materielles Gesetz. Damit war zwingend auch die Mitwirkung der Volksvertretung an jeder Rechtssetzung festgeschrieben. Recht durfte mithin nur gesetzt werden auf dem Weg der ordentlichen Gesetzgebung oder aber, wenn ein ordentliches Gesetz die Rechtssetzungskompetenz delegierte. Legte man dem materiellen Gesetzesbegriff indes die Rechtslage nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung unter, verkehrten sich seine Wirkungen ins Gegenteil. Die Rechtslehre hatte dem Reichspräsidenten ein nicht vom ordentlichen Gesetzgeber abgeleitetes, unmittelbar in der Verfassung verankertes Verordnungsrecht zuerkannt. Da "Recht" und "materielles Gesetz" identisch waren, erfüllten auch die Rechtsverordnungen des Reichspräsidenten die Kriterien des (materiellen) Gesetzes; die Ineinssetzung von "materiellem Gesetz" und "Recht" garantierte jetzt nicht mehr die Mitwirkung des Parlamentes an der Rechtssetzung, sondern zwang dazu, die Gleichrangigkeit des ordentlichen (Art. 68ff.) und außerordentlichen (Art. 48 Abs. 2) Weges der Rechtssetzung anzuerkennen. Die Entkoppelung von "materiellem Gesetz" und Mitwirkung der Volksvertretung greift über den Bereich des Art. 105 hinaus. Nahm man die Gleichsetzung von Rechtssatz - gleich welchen Ursprungs - und materiellem Gesetz ernst, konnte eine Verordnung des Reichspräsidenten den "Vorbehalt des Gesetzes" ausfüllen, verlangte also ein Grundrecht zu seiner Einschränkung ein Gesetz,158 konnte auch ein präsidialer Rechtssetzungsakt diesem Erfordernis genügen. "Vorbehalt des Gesetzes" bedeutete nicht nur vorbehaltlich eines unter Mitwirkung der Volksvertretung zustandegekommenen Rechtssatzes, sondern auch vorbehaltlich einer vom Reichspräsidenten aufgrund des Art. 48 Abs. 2 erlassenen gesetzvertretenden Verordnung. Der Begriff des materiellen Gesetzes, der ursprünglich die Mitwirkung des Parlaments bei Eingriffen in die bürgerliche Freiheitssphäre garantierte, führte zur Konstituierung eines mit der Volksvertretung konkurrierenden, ihr ebenbürtigen 155 156 157 158

Laband 2, 1. Auf!., S. 61. Ebd. Laband 2, 1. Auf!., S. 61. Vgl. die Aufzählung bei Huber 6, S. 98f.

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(materiellen) Gesetzgebers. Der Gesetzesbegriff war seines freiheitsverbürgenden Sinnes beraubt. cc) Gesetzgebung und Grundrechtssuspension Die Anerkennung eines zweiten materiellen Gesetzgebers warf ein weiteres Problem auf: wie verhielt sich das in Art. 48 Abs. 2 Satz 1 enthaltene gesetzvertretende Verordnungsrecht zu der in Satz 2 dieser Norm beschriebenen Befugnis, sieben Grundrechtsartikel außer Kraft zu setzen? Das Rechtsinstitut der "Grundrechtssuspension"159 war aus dem alten Recht übernommen worden. Dort erlaubte Art. 111 Preußische Verfassungsurkunde i. V. m. § 5 BZG den Militärbefehlshabern, acht ausdrücklich genannte Grundrechte der preußischen Verfassung außer Kraft zu setzen. Was hatte es damit auf sich? Die Funktion der Grundrechte erschöpfte sich nach der spätkonstitutionellen Doktrin im Schutz des Bürgers vor dem Verwaltungseingriff; 160 die (monarchische) Exekutive sollte in die bürgerliche Freiheitssphäre nur eingreifen können, wenn ein unter Mitwirkung der Volksvertretung - des Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft - zustandegekommen es Gesetz dazu ermächtigte. Die Grundrechte begründeten also den Vorbehalt des Gesetzes. Dieser Vorbehalt wurde nun durch die Außerkraftsetzung der Grundrechte beseitigt: der Militärbefehlshaber , auf den die vollziehende Gewalt übergegangen war, bedurfte keiner gesetzlichen Ermächtigung mehr, um in die bürgerliche Freiheitssphäre einzugreifen, nachdem er die Grundrechte suspendiert hatte; er war "an die aufgehobenen Verfassungsartikel, sowie an die auf ihnen sich aufbauenden Landesgesetze und die dieselben Materien regelnden Reichsgesetze ... nicht gebunden" .161 An die Stelle des Gesetzes trat "lediglieh sein eigenes freies Ermessen"162. Der Inhaber der vollziehenden Gewalt konnte Verordnungen und Verfügungen erlassen, ohne an eine gesetzliche d. h. unter Mitwirkung der Volksvertretung zustandegekommene - Ermächtigung gebunden zu sein. 163 Vgl. dazu etwa Grau, Diktaturgewalt 1, S. 599. Vgl. Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 97; Mayer, S. 71f. 161 Pürschei, S. 103; ähnlich Strupp, Kriegszustand, S. 70 unter Berufung auf Haenel. 162 Pürschei, S. 103. Nachdem gemäß Art. 68 BRV das Belagerungszustandsgesetz zum Reichsgesetz geworden war, konnte § 5 BZG nicht mehr unmittelbar angewandt werden. Denn die Bismarcksche Reichsverfassung kannte keine verfassungsgesetzlich garantierten Grundrechte, diese waren nur in einfachen Reichsgesetzen gewährleistet (ausführliche Übersicht bei Pürschei, S. 104ff.); § 5 BZG wurde nun analog angewandt - anstelle der Artikel der preußischen Verfassungsurkunde durften die entsprechenden reichsgesetzlichen Garantien außer Kraft gesetzt werden. Vgl. Pürschei, S. 104ff. 163 Von der "Verordnungsgewalt der Militärbefehlshaber" sprach in diesem Zusammenhang ausdrücklich Strupp, Kriegszustand, S. 72. 159

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Aber bedurfte der Militärbefehlshaber überhaupt der Befugnis zur Grundrechtssuspension? Verfügte er doch für den Fall einer Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit über ein materielles Gesetzgebungsrecht (§ 9b BZG).I64 Besaß er aber das Recht zur materiellen Gesetzgebung, mußte er auch den Inhalt der Grundrechte bestimmen dürfen. Während des ersten Weltkrieges hatte die Staatspraxis 165 - publizistisch unterstützt durch Gerhard Anschütz 166 - diesen Schluß in der Tat gezogen. Man folgerte, daß Verordnungen nach § 9b BZG, welche in die grundrechtlich garantierte Freiheitssphäre eingriffen, auch ohne ausdrückliche Suspension statthaft seien, denn es erschiene schwer verständlich, "warum der Militärbefehlshaber, der das Recht hat, ganze Verfassungsartikel aus eigener Machtvollkommenheit aufzuheben, nicht auch da, wo ihm ... eine weniger einschneidende genügt, es bei dieser bewenden lassen soll" .167 Das heißt: die Suspensionsregelung des § 5 BZG wurde nun nicht mehr als eine durch eine Verschärfung des Belagerungszustandes zu beseitigende Rechtsschranke erachtet, um überhaupt Eingriffe in die Freiheitssphäre tätigen zu können, sondern als letzte formale Maßnahme, die erst dann die völlige Aufhebung der betroffenen Freiheitssphäre zu verkünden hatte, wenn diese schon im voraus von allen Seiten durchlöchert war .168 Die Verordnungsbefugnis aus § 9b überlagerte also die Grundrechtssuspension; ein Militärbefehlshaber durfte, gestützt auf sein materielles Gesetzgebungsrecht, den Inhalt auch der in § 5 BZG bezeichneten Rechte bestimmen. Der Sinn der Grundrechtssuspension war mit dieser Interpretation völlig aufgegeben. Sollte doch die Exekutive zum einen nur in bestimmte - nämlich die suspendierbaren - Grundrechte eingreifen dürfen, zum anderen die Suspension ausdrücklich erklären. Jetzt stand den Militärbefehlshabern die ganze bürgerliche Freiheitssphäre zur Disposition, sofern sie sich nur auf die öffentliche Sicherheit beriefen. Eine solche Interpretation forderte selbstverständlich zum Widerspruch heraus. Doch gerade Gegner der Anschütz'schen Auffassung gestatteten den Inhabern der vollziehenden Gewalt, Verfassungsgarantien in weiterem Umfang als in § 5 BZG vorgesehen außer Kraft zu setzen, wenn nur ein "echter staatlicher Notstand"169 vorlag.

Vgl. unten aa. Vgl. das Schreiben des preußischen Kriegsministers vom 10. Januar 1916. Text: Deist, Nr. 19, S. 39f. 166 Ders., Preßfreiheit. 167 Deist, S. 40. 168 So zutreffend Boldt, Rechtsstaat, S. 203. 169 Strupp, Kriegszustand, S. 94; ähnlich Arndt, Beschränkungen, Sp.1098ff. und ders., Kriegsverordnungen, Sp. 1152ff.; Lehmann, S. 26. 164 165

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Dasselbe Problem wie für die §§ 5, 9b BZG stellte sich nun auch für die präsidiale Ausnahmegewalt. Wozu bedurfte es noch der in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 verankerten Grundrechtssuspension, wenn der Reichspräsident gemäß Satz 1 über das (materielle) Gesetzgebungsrecht verfügte? Ließ sich aus Art. 48 Abs. 2 Satz 1 ableiten, daß dem Reichspräsidenten - zumindest für den Bereich der nicht suspendierbaren oder nicht suspendierten suspendierbaren Grundrechte - kein gesetzvertretendes Verordnungsrecht zukam? Das Verhältnis von Art. 48 Abs. 2 Satz 1 zu Satz 2 wurde während des Prozesses der Verfassungsgesetzgebung mehrfach angeschnitten. Bereits Anfang Februar 1919 setzte man sich im Staatenausschuß mit der Grundrechtssuspension auseinander. Der Geheime Oberregierungsrat Schulze erläuterte den Ländervertretern im Weimarer Fürstenhaus die von seiner Behörde, dem Reichsamt des Innern, vorgeschlagene Fassung des § 63 E 11. 170 In diesem Stadium der Verfassungsgebung war die Außerkraftsetzung von Grundrechten noch nicht ausdrücklich erwähnt. Dies war nach Ansicht Schulzes auch überflüssig: die allgemeine Fassung sei gerade deshalb gewählt worden, um nicht alle suspendierbaren Bestimmungen der Verfassung aufzählen zu müssen. l7l Daraufhin stellte er klar, daß nach § 63 Ellder Reichspräsident auch solche Anordnungen treffen könne, die sich "gegen die geltenden Gesetze" richteten. Der preußische Justizminister indes hielt diese Ausführungen für "zweifelhaft"; auf seinen Einwand hin wurde § 63 E 11 um die Grundrechtssuspension ergänzt. Aber welche Auswirkungen hatte diese Ergänzung auf die allgemeine Anordnungsbefugnis des Satzes 1? Dies hängt vom normativen Gehalt der Preuß'schen Generalklausel vor Hinzutreten der Grundrechtssuspension entscheidend ab. Der Wortlaut des Verhandlungsprotokolls ist insofern freilich undeutlich. Entweder waren präsidiale "Anordnungen ... die sich gegen die geltenden Gesetze" richteten, ausschließlich nach einer ausdrücklichen Außerkraftsetzung von Grundrechten möglich. Der Schulz'sche Hinweis auf die Anordnungen ,contra legern' präzisierten dann lediglich seine vorhergehenden Bemerkungen zu den "suspendierbaren Bestimmungen der Verfassung", beide Termini umschrieben dieselbe Befugnis, nämlich die Grundrechtssuspension. Dann enthielt § 63 Eil keine dem § 9b BZG entsprechende Befugnis; die Eingriffsmöglichkeiten des Reichspräsidenten waren, indem Satz 2 hinzugeVgl. oben Erstes Kapitel A u. B IV 3. Darüber hinaus mag die Nichterwähnung der Grundrechtssuspension damit zusammenhängen, daß der unveröffentlichte Preuß'sche Vorentwurf zur Reichsverfassung (E I) als Grundrechte lediglich die Gleichheit vor dem Gesetz, die Glaubens- und Gewissensfreiheit und den Schutz der nationalen Minderheiten garantierte. Im Entwurf II war zwar der Grundrechtskatalog wesentlich erweitert - insbesondere kamen gerade für den Belagerungs- bzw. Ausnahmezustand bedeutsame klassische Freiheitsrechte hinzu (vgl. Huber 5, S.1181) doch die Generalklausel des § 58 E I wurde in den Entwurf II unverändert übernommen. 170 171

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

fügt worden war, aus der Generalklausel des Satzes 1 herausgelöst und in Satz 2 erschöpfend geregelt worden. Oder aber der Vertreter des Reichsamts des Innern wollte darauf aufmerksam machen, daß in § 63 Ellzwei voneinander zu trennende Befugnisse enthalten waren: das Recht, Grundrechte zu suspendieren zum einen, das Recht, Verordnungen ,contra legern' (auch im Bereich der nicht suspendierten suspendierbaren oder nicht suspendierbaren Grundrechte) zu erlassen zum anderen. Auch dann wäre mit der Hinzufügung des Satzes 2 die Grundrechtssuspension aus den Anwendungsbereich des § 63 (S. 1) herausgenommen und in Satz 2 erschöpfend geregelt worden, doch war es zumindest nicht ausgeschlossen, daß Satz 1 weiterhin ein zusätzliches Recht enthielt, gesetzvertretende Verordnungen auch im Bereich nichtsuspendierter suspendierbarer oder nicht suspendierbarer Grundrechte zu erlassen. Diese Deutung hätte der Rechtspraxis der Weltkriegsjahre entsprochen, jene der vor 1914 einhelligen Meinung. Die Niederschrift der Verhandlungen der Staatenvertreter erlaubt freilich beide Deutungen der Schulz'schen Ausführungen. Gibt diese Quelle mithin keinen zweifelsfreien Aufschluß über Inhalt und Reichweite der Preuß'schen Generalklausel, so läßt sich auf ihrer Grundlage auch nicht das Verhältnis der beiden ersten Sätze des späteren Art. 48 Abs. 2 klären. Als ergiebiger indes erweisen sich die Verhandlungen der Nationalversammlung. Am 5. Juli 1919 - also in der zweiten Lesung der Reichsverfassung - führte Graf zu Dohna (DVP) aus: Zweifelhaft bleibt ... ob nicht auch der Art. 103 172 der Verfassung Bezug genommen werden müßte ... Sobald wir also das Reichsgesetz haben, welches über die Einrichtung, Zuständigkeit und das Verfahren dieser Kriegsgerichte Bestimmungen trifft,173 werden wir ja den Hinweis auf Art. 103 entbehren können. Bis dahin würde sich eine Lücke ergeben. 174

Demgegenüber versuchte in derselben Sitzung der Berichterstatter des Verfassungs ausschusses v. Delbrück (DNVP), diese Zweifel auszuräumen: Der Reichspräsident hat das Recht ... mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschreiten und die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Er kann ferner eine Reihe von Grundrechten außer Kraft setzen; solange das Reichsgesetz nicht ergangen ist, ist diese Befugnis des Reichspräsidenten eine unbeschränkte; und es ergibt sich daraus, daß ... er insbesondere auch befugt sein würde zum Erlasse von Rechtsvorschriften sowie zur Einsetzung außerordentlicher Kriegsgerichte. 175 172

173 174 175

Art. 103 E V entsprach dem ebenfalls nicht suspendierbaren späteren Art. 105. Gemeint war das Ausführungsgesetz gemäß dem späteren Art. 48 Abs. V. 47. Sitzung, Heilfron 5, S. 3249. Ebd., S. 3256.

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Worauf dann Graf zu Dohna versicherte, mit seinen Äußerungen habe er nur "die Reichsregierung gebeten, dafür zu sorgen, daß möglichst bald derartige gesetzliche Bestimmungen eingeführt werden möchten"176. Bis dahin sei auch er der Meinung, daß der Reichspräsident " ... Bestimmungen über die Ordnung des Verfahrens vor außerordentlichen Kriegsgerichten erlassen kann"177. Offensichtlich legten die an diesem Wortwechsel beteiligten Abgeordneten der Konstituante auch für das künftige Notstandsrecht die Anschütz'sche Auffassung zum Verhältnis von materieller Gesetzgebungsgewalt und Grundrechtssuspension zugrunde, denn nur dann erübrigte sich eine ausdrückliche Erlaubnis zur Außerkraftsetzung des Art. 105, nur dann durfte der Reichspräsident ohne Suspension den Inhalt dieser grundrechtlichen Garantie bestimmen, indem er - gestützt auf die Verordnungs gewalt des Art. 48 Abs. 2 Satz 1 - außerordentliche Gerichte einsetzte. Erst auf diesem Hintergrund erklärt sich auch eine Äußerung des Zentrumsabgeordneten Martin Spahn einige Monate nach Inkrafttreten der Reichsverfassung: Man sei bei den Beratungen davon ausgegangen, daß der Art. 48 dem Reichspräsidenten das Gesetzgebungsrecht übertragen habe, so daß für diese Gesetze die anderen gesetzgebenden Faktoren ausgeschaltet seien.178 Eine deutlichere Stellungnahme zugunsten eines (materiellen) Gesetzgebungsrechts des Reichspräsidenten läßt sich kaum denken. Die Staatsrechtswissenschaft unterließ es zunächst, das Verhältnis von Art. 48 Abs. 2 Satz 1 zu Satz 2 zu erörtern. Dies mag daran gelegen haben, daß der Reichspräsident, wenn er den Ausnahmezustand verhängte, die Freiheitsrechte regelmäßig suspendierte 179 , so daß die Streitfrage nur bei der Einsetzung außerordentlicher Gerichte praktisch wurde. Ein solches Vorgehen war aber bereits in den Beratungen der Nationalversammlung für zulässig gehalten worden; wohl deshalb begnügte man sich damit, diesen speziellen Anwendungsfall konstruktiv zu rechtfertigen, ohne tiefergehende dogmatische Untersuchungen anzustellen.1 8o Heilfron 5, S. 3262. Ebd. 178 147. Sitzung vom 3. März 1920, Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 332, S. 4642. Dagegen Cohn (USPD), ebd., S. 4633: "Aber keinem ist es beigekommen, dem Reichspräsidenten zu gestatten, sich über das Gesetzgebungsrecht des Reichstags hinwegzusetzen." Am 5. Juli in der zweiten Lesung der Reichsverfassung vertrat freilich auch Cohn die entgegengesetzte Auffassung: "Jetzt aber wollen Sie nach Art. 49 (E V, A. K.) dem Reichspräsidenten die allgemeine Vollmacht geben, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Auch ,praeter legern' sogar gegen das bestehende Gesetz darf danach der Reichspräsident oder Reichskommissar oder der Befehlshaber seine Maßnahmen treffen." (47. Sitzung, Heilfron 5, S. 3259). 179 S.o. A. 180 Zur Zulässigkeit außerordentlicher Gerichte vgl. oben bb. 176 177

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Das versuchte erst die im Jahre 1922 erschienene Monographie Richard Graus: "Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und der Landesregierungen". Dieser Autor bestritt die Gleichsetzung einer Verordnung nach Art. 48 Abs. 2 mit dem materiellen Gesetz. Entschieden wandte er sich von der spätkonstitutionellen Identifikation von Gesetz und Rechtssatz ab; seine Lehre mache - so betonte er ausdrücklich - den überlieferten Rechtssatzbegriff unnötig. 181 Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete eine Neudefinition des Prinzips der Gewaltenteilung. Die Staatsorgane unterschieden sich - so Grau - " ... insbesondere durch die Art, wie sie sich bei der Bildung ihres Willens motivieren lassen" .182 Der Diktator habe immer und in jedem Falle nur die eine Motivation, nämlich "die Abwendung der gerade bestehenden erheblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" .183 Deshalb seien auch "Gerechtigkeitserwägungen, volkswirtschaftliche, soziale und andere Erwägungen, wie sie ein Gesetzgebungsorgan pflichtmäßig heranziehen muß ... für ihn nicht bestimmend".184 Da Grau es auch ablehnte, den Träger der Ausnahmegewalt im Sinne des überlieferten Belagerungszustandsrechts als Verwaltungsorgan einzustufen, schloß er auf die Existenz einer vierten Staatsgewalt: Der Diktator steht als eine einheitliche Staatsgewalt neben den anderen Gewalten.l 85

Der Reichspräsident war also nach der Lehre Graus kein Gesetzgebungsorgan, seine Verordnungen konnten den "Vorbehalt des Gesetzes" nicht ausfüllen. Legt man diesen Ansatz zugrunde, konnte Art. 48 Abs. 2 Satz 1 auch ein mit der Grundrechtssuspension konkurrierendes materielles Gesetzgebungsrecht nicht enthalten.1 86 Für die Einsetzung außerordentlicher Gerichte indes - und hier wurde das Verhältnis von materieller Gesetzgebungsgewalt und Grundrechtssuspension in den Jahren 1919 - 21 praktisch - nahm Grau die Konsequenzen seiner Auffassung teilweise zurück: Da es ... keinen Satz der Verfassung gibt, daß öffentliche Strafen nur von den Gerichten oder den spezialgesetzlich dazu bestimmten Stellen verhängt werden dürfen, so steht dem nichts entgegen, daß der Diktator mit der Entscheidung über Straftaten, deren Aburteilung nicht bereits durch Gesetz einem Gericht zugewiesen ist, also zur Entscheidung über erst durch seine Anordnungen geschaffenen Strafbestimmungen außergerichtliche Stellen heranzieht.l 87

181 182 183 184 185 186 187

Vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 101f. Ebd., S. 97. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 103. Ebd., S.lOS. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 105. Ebd., S. 70ff., 91ff. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 132.

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dd) Zusammenfassung Die Staatsrechtwissenschaft sprach dem Reichspräsidenten ein Verordnungsrecht ,praeter legern' zu. Zweifelhaft war freilich, ob sich diese Befugnis auch auf den grund rechtlich geschützten Bereich erstreckte. Praktisch wurde dieses verfassungsrechtliche Problem während der hier untersuchten frühen Anwendungsphase des Art. 48 bei der Einsetzung außerordentlicher Gerichte durch den Reichspräsidenten. Die ganz herrschende Doktrin billigte insoweit die Ausnahmezustandspraxis der Jahre 1919 - 21 - ein Ergebnis, das seine Stütze im spätkonstitutionellen Gesetzesbegriff fand. Ferner hätte es der überlieferten - auch den Verfassungsberatungen in der Nationalversammlung zugrundeliegenden - staatsrechtlichen Doktrin entsprochen, der Verordnungsgewalt des Reichspräsidenten den grundrechtlich geschützten Bereich über den Art. 105 hinaus zu öffnen. In der Bürgerkriegslage der ersten Weimarer Jahre indes hatte der Reichspräsident regelmäßig die klassischen Freiheitsrechte suspendiert, so daß diese heikle Rechtsfrage kaum praktisch wurde und zunächst auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur keine Beachtung fand. Erst im Jahre 1922 wandte sich Richard Grau entschieden gegen die traditionelle Auffassung.

3. Normative Grenzen a) Überblick Der Deutschnationale Clemens von Delbrück, einer der Berichterstatter des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung, betonte wiederholt in der zweiten Lesung der Reichsverfassung, die Befugnis des Reichspräsidenten aus Art. 48 Abs. 2 sei bis zum Erlaß des in Absatz 5 der Norm verheißenen Reichsgesetzes eine "unbeschränkte"188. Auch Graf zu Dohna (DVP) wollte dem Reichspräsidenten "plein pouvoir"189 geben, obgleich dem juristische Präzision gewohnten Strafrechtsprofessor der Zustand, solange das Ausführungsgesetz noch nicht erlassen war, "ein auf die Dauer doch bedenklicher zu sein"19o schien. Ein Gutachten des Reichsjustizministeriums vom 5. Oktober 1919 nahm diese Bemerkungen wieder auf, indem es feststellte: " ... diese Befugnisse (sind), solange das künftige Reichsgesetz sie nicht begrenzt, im Rahmen des Art. 48 unbeschränkt. "191 188 46. Sitzung vom 4. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3181; 47. Sitzung vom 5. Juli 1919, Heilfron 5, S. 3256. 189 47. Sitzung vom 5. Juli, Heilfron 5, S. 3248. 190 Ebd. 191 Gutachten vom 5. Oktober 1919, Drucksachen zu Nr. 1097, Verhandlungen, Drucksache zu Nr.1097, S. 7033.

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"Unbeschränkt" schien die präsidiale Ausnahmegewalt in der Tat zu sein, brauchte das Staatsoberhaupt doch nur die vollziehende Gewalt an sich zu ziehen und auf einen Militärbefehlshaber zu übertragen, und schon war die gesamte zivile (Landes-)Verwaltung seinen Weisungen unterworfen; das in der Reichsverfassung festgeschriebene föderale Gefüge des Reiches stand nur noch auf dem Papier. Und weiter: der Reichspräsident war an den in Art. 68ff. beschriebenen Weg der ordentlichen Gesetzgebung nicht gebunden; er bedurfte lediglich der Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder eines Reichsministers, um Verordnungen "mit Gesetzeskraft" zu erlassen; selbst Grundrechten durfte er - legte man den überlieferten positivistischen Gesetzesbegriff zugrunde - ihren positiven Inhalt geben. Inwieweit standen dem Reichspräsidenten eigentlich die Normen der Reichsverfassung zur Disposition? b) Frühe Eingrenzungsversuche In den Lesungen der Reichsverfassung äußerte sich niemand ausdrücklich zu dieser Frage; die politische Kontrolle der Ausnahmegewalt wurde wohl als ausreichend erachtet. 192 Erst am 3. März 1920 - in der Parlamentsdebatte über die Januarverordnungen dieses Jahres - antwortete der Reichsjustizminister Schiffer auf die heftigen Angriffe des Unabhängigen Cohn: Es ist undenkbar, daß auf Grund dieser Bestimmung der Reichspräsident die Verfassung außer Kraft setzen, beseitigen könnte, die die Grundlage der Bestimmung selbst und die Grundlage seiner eigenen Machtvollkommenheit ist. Wollte man ihn in die Lage versetzen, durch seine eigenen Maßnahmen auch auf das Gebiet der Verfassung hinüberzugreifen, dann bedurfte es noch einer besonderen Anordnung, und diese ist im zweiten Satz ausgesprochen .. .1 93

Damit war das Problem zwar angedeutet, doch nachvollziehbare Kriterien zur Begrenzung der präsidialen Ausnahmegewalt ließen sich daraus nicht gewinnen. Immerhin wurde nunmehr die Aufmerksamkeit der juristischen Literatur auf diese Frage gelenkt. Goebel griff in seiner 1922 erschienenen Dissertation den Schifferschen Ansatz auf, kam aber über eine Umformulierung nicht hinaus.1 94 Einen anderen Weg ging Nielsen; er bestimmte "unter Anwendung der über das Notverordnungsrecht entwickelten Grundsätze die Schranken des Ausnahmezustandes"195, blieb jedoch ohne Resonanz. Sonstige Bemühungen lassen eher Ratlosigkeit erkennen.

192 193 194 195

Dazu oben Erstes Kapitel B I 6. 147. Sitzung vom 3. März 1920, Verhandlungen, Bd. 332, S. 4636. Goebel, S. 37. Nielsen, S. 2.

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Anschütz,196 Kern 197 und Meißner 198 übernahmen lediglich die These von der "Unbeschränktheit" der präsidialen Befugnisse. Arndt1 99 und Giese 200 versuchten, den Generalklauseln des Art. 48 Abs. 2 Konturen zu geben, indem sie die Weitergeltung des preußischen Belagerungszustandsgesetzes behaupteten. Sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen, denn zum einen ließ sich aus den Verfassungsberatungen in der Nationalversammlung gerade die gegenteilige Ansicht entnehmen201 , zum anderen gaben beide Autoren einen entscheidenden Vorteil des unbestimmten Art. 48 Abs. 2 preis, nämlich den möglichen Ersatz der Militär- durch die Zivildiktatur. Kohlheyer stützte sich auf den "Grundsatz der Subsidiarität"202, der als "ungeschriebener Grundsatz"203 aus der Reichsverfassung herausgelesen werden müsse und leitete daraus ab, daß die Dauer des Ausnahmezustandes auf die "unbedingte Notwendigkeit"204 beschränkt sei. Ähnlich verfuhr Giese. Aus dem Erfordernis einer "erheblichen" Beeinträchtigung oder Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung schloß er, daß "zunächst ... die Landesgewalt, kraft ihrer Polizeihoheit"205 einschreiten müsse; erst wenn ihre Maßnahmen sich als "unwirksam" oder "unzulänglich" erwiesen, käme die Verhängung des Ausnahmezustandes in Betracht. 206 In dem Wörtchen "nötig" sah dieser Autor das verwaltungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip verankert: Die Maßnahmen dürfen nicht weiter gehen, als zur wirksamen Erreichung des Ziels unbedingt nötig ist, und auch diesseits dieser Grenzen muß angenommen werden, Anschütz, 1921, Anm. 4 zu Art. 48 (S. 108). Vgl. Kern, Belagerungszustand, S. 64 (erschienen im Mai / Juni 1920). Wohl noch anders in einem im März / April 1920 veröffentlichten Aufsatz; dort kritisierte er die in der Verordnung vom 11. Januar 1920 angeordnete Verhängung der Todesstrafe: " ... für eine so tief einschneidende Maßnahme ... ist der Rechtsboden zu unsicher" (Ausnahmezustand, S.102). Hatte ihn die "Rote Armee" (vgl. oben A II 2) eines Anderen belehrt? 198 Meißner, Staatsrecht, S. 148; ders., Reichspräsident, S. 42. 199 Arndt, Verfassung 2, Anm. 4 zu Art. 48. 200 Giese, 1920, Anm. 29 zu Art. 48 (S. 180). 201 Delbrück in der 46. Sitzung vom 4. Juli 1919; Heilfron 5, S. 3181; zu Dohna in der 47. Sitzung vom 5. Juli, Heilfron 5, S. 3248. Für die Zeit nach Inkrafttreten der Reichsverfassung vgl. Haas in der 112. Sitzung vom 29. Oktober 1919, Verhandlungen, Bd. 330, S. 3563. Nur Spahn (Zentrum) war wohl von einer Weitergeltung des Belagerungszustandsgesetzes ausgegangen, vgl. 118. Sitzung vom 25. November 1919, Verhandlungen, Bd. 331, S. 3743. 202 Kohlheyer, S. 25. 203 Ebd., S. 26. 204 Kohlheyer, S. 26. 205 Giese, 1920, Anm. 13 zu Art. 48. 206 Ebd. 196

197

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts daß sie zur Beeinträchtigung der Ordnung und Sicherheit in einem angemessenen Verhältnis stehen müssen. 207

Normative Grenzen des Art. 48 Abs. 2 wurden also in der Regel polizeirechtlichen Grundsätzen entnommen - ein Erbe der verwaltungsrechtlich verengten spätkonstitutionellen Ausnahmezustandsinterpretation. Auf eine Klärung des Verhältnisses von präsidialer Ausnahmegewalt und Verfassung verzichtete die Rechtswissenschaft; sie begnügte sich vorerst damit, den Art. 48 mit den Bruchstücken des alten Belagerungszustandsrechts aufzufüllen und der offenen Verfassungsnorm auf diesem Wege Gestalt zu geben. Die Frage, ob sich die Fragmente des vorrepublikanischen Rechts mit dem neuen Verfassungskontext vertrugen, wurde nicht gestellt. Verfassungsrecht vergeht, Ausnahrnerecht besteht, so schien die Devise. c) "Unantastbarkeit" der Reichsverfassung? Erst Richard Grau versuchte mit seiner These von der "Unantastbarkeit der Reichsverfassung" , die überlieferten Organisationselemente des Belagerungszustandes mit der Weimarer Verfassung ins Verhältnis zu setzen und daraus die Grenzen des Art. 48 zu bestimmen. aa) Grau konstruierte die "Diktatur" als vierte, neben den drei klassischen Gewalten stehende Staatsgewalt und stellte eine außerordentliche (Diktatur-) Staatsorganisation neben die ordentliche.2°8 Der Diktator bleibe dabei jedoch - so Grau - an die Bestimmungen der Reichsverfassung gebunden,209 diese sei für den Träger der Ausnahmegewalt "unantastbar"210. Die Achse seiner Argumentation bildete das Verhältnis von Art. 48 Abs. 2 Satz 2 - der Grundrechtssuspension - zu der allgemeinen Befugnis des Satzes 1: Die Hinzufügung des Satzes (Satz 2, A. K.) kann nur bedeuten, daß dem Reichspräsidenten etwas erlaubt sein soll, was in der Befugnis zum Treffen der nötigen Maßnahmen noch nicht enthalten ist. Sie bedeutet also eine Ausnahme von einer Beschränkung. 21l

Die Beschränkung, von der die Erlaubnis zur Grundrechtsuspension eine Ausnahme machen sollte, hatte Grau in der "Unantastbarkeit der Reichsverfassung" gefunden. Diesen Grundsatz leitete er historisch ab, indem er von Giese, 1921, Anm.17 zu Art. 48. Vgl. auch Grau, Diktaturgewalt 1, S. 47f. Vgl. oben B II 2bbb. 209 Vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 50. 210 Ebd., S. 50. Auch Goebel, S. 40, gebrauchte in seiner ebenfalls im Jahre 1922 erschienenen Dissertation den Terminus "unantastbar", ohne sich ausdrücklich auf Grau zu beziehen. 211 Grau, Diktaturgewalt 1, S. 51. 207 208

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einer Analyse des früheren preußischen Rechtszustandes ausging. Damals habe die Befugnis zur Außerkraftsetzung der Grundrechte auf § 5 BZG beruht. Das Belagerungszustandsgesetz habe jedoch - als einfaches (nicht verfassungs änderndes ) Gesetz - nicht die Verfassung außer Kraft zu setzen oder einem Staatsorgan die Befugnis einer auch nur vorübergehenden Außerkraftsetzung von Verfassungsbestimmungen zu erteilen vermocht. Das BZG habe denn auch nicht etwa aus eigener Kraft die Suspension der in seinem § 5 aufgezählten Grundrechte gestattet, sondern es habe dies in seiner Eigenschaft als Ausführungsgesetz zum Art. 111 der preußischen Verfassung getan. 212 Im übrigen habe das Ausführungsgesetz irgendwelche Befugnisse zur Antastung der Verfassung nicht erteilen dürfen: " ... die Verfassung (blieb) für das Belagerungszustandsgesetz unantastbar. "213 Dieses Ergebnis übertrug Grau nun auf das Weimarer Staatsrecht: bei dieser Unantastbarkeit der Reichsverfassung sei es auch geblieben, als das Belagerungszustandsgesetz durch Art. 68 BRV in das Reichsrecht übernommen wurde. 214 Und schließlich gelte dieser Grundsatz auch für die Weimarer Reichsverfassung, weil es unwahrscheinlich sei, daß "das neue Recht die Verfassung gegenüber den außerordentlichen Befugnissen schwächer geschützt haben sollte als das bisherige"215. bb) Ließen sich nun aus der Grau'schen These, die Verfassung sei für den Diktator "unantastbar", die Grenzen der präsidialen Ausnahmegewalt bestimmen? Die historisch abgestützte Begründung Graus läßt daran Zweifel aufkommen: Der Grundsatz der "Unantastbarkeit der Reichsverfassung" beschrieb nämlich zutreffend nur die Rechtslage im monarchischen Preußen. Grau wies insofern richtig darauf hin, daß nicht nur das Belagerungszustandsgesetz, sondern auch die preußische Verfassungsurkunde die Befugnis zur Grundrechtssuspension vorsah; hinzugefügt werden muß, daß auch die gesamte vollziehende Gewalt in der Hand des Königs konzentriert war, und daran wurde durch die Umorganisation im Belagerungszustand nicht gerührt, führte doch der König auch den Oberbefehl über das Heer. 216 Irreführend war es jedoch, die Geltung des Unantastbarkeitsgrundsatzes auch für die Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 zu behaupten. Denn nach allgemein anerkannter Ansicht erhielt der Militärbefehlshaber nicht nur 212

Art. 111 Preußische Verfassungsurkunde gestattete ausdrücklich die Suspension der in

§ 5 BZG erwähnten Grundrechte. 213

214 215 216

Grau, Diktaturgewalt 1, S. 52. Ebd., S. 52. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 53. Dazu Jacobi, S. 112.

6 KuJZ

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

die gesamte vollziehende Gewalt des Reichs, auch soweit sie nach der Verfassung dem Bundesrat zustand, sondern ebenso die gesamte vollziehende Gewalt der Länder in vollem Umfang. 217 Das widersprach aber sowohl der in der Reichsverfassung vorgesehenen Verteilung der Reichsverwaltungsfunktion zwischen Bundesrat und Kaiser wie der verfassungsmäßigen Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern hinsichtlich der Verwaltungsaufgaben. 218 Und ebensowenig konnte der Unantastbarkeitsgrundsatz die Rechtslage nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung beschreiben. Denn die "außerordentliche Staatsorganisation" (Grau) überspielte das föderale Gefüge auch der Republik und veränderte ferner das Verhältnis der obersten Verfassungsorgane zueinander. 219 Abgelöst von der Verfassungslage des konstitutionellen Preußen, besaß der Unantastbarkeitsgrundsatz keinen heuristischen Wert. Bestätigt werden diese Zweifel an der Tauglichkeit der Unantastbarkeitslehre, wenn man die Ergebnisse der Grauschen Theorie sich näher betrachtet. Obwohl der Diktator die Verfassung nicht antasten durfte, er an ihre Normen gebunden war, war die "Reichsdiktaturgewalt" subsidiär zuständig auf allen Gebieten der öffentlichen Verwaltung, durfte der Reichspräsident sowohl mit Verordnungen als auch mit Einzelverfügungen sich über Gesetze und anderweitiges Recht hinwegsetzen,22o sogar außerordentliche Gerichte einrichten. 221 Die Verfassung war unantastbar, doch die Ausnahmebefugnis des Diktators unbeschränkt. Die Formel von der "Unantastbarkeit der Reichsverfassung" verdeckte nur, daß auch Grau - trotz aller begrifflichen Anstrengungen dabei stehengeblieben war, Inhalt und Umfang der präsidialen Ausnahmegewalt zu begrenzen, indem er Organisationselemente des Belagerungszustandsgesetzes in das neue Staatsrecht verpflanzte, ohne ihr Verhältnis zur (Rest-) Verfassung zu bestimmen. So mag die Unantastbarkeitslehre - wie earl Schmitt zutreffend bemerkte - "einem rechtstaatlichen Bedürfnis" entsprochen haben, " ... das zweifellos dringend eine Abgrenzung der außerordentlichen Befugnisse des Reichspräsidenten"222 verlangte, der Ansatz Graus sollte sich daher auch rasch durchsetzen. 223 Doch aus der "Unantastbarkeit" der Reichsverfassung ließen sich taugliche Kriterien zur Begrenzung der präsidialen Ausnahmegewalt gerade nicht gewinnen. 217

218 219 220 221 222 223

Vgl. Jacobi, S.112f.; Pürschei, S. 60; Strupp, Kriegszustandsrecht, S. 47ff. Jacobi, S. 113. Vgl. oben Erstes Kapitel a. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 45. Vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 132 und oben 2 c bb. Schmitt, Reichspräsident, S. 64. Vgl. unten Viertes Kapitel B I2b.

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d) Zusammenfassung Der Rechtswissenschaft gelang es nicht, über eine bloße Übertragung verwaltungsrechtlicher Grundsätze (Verhältnismäßigkeitsprinzip ) hinaus brauchbare Kriterien zur Begrenzung der präsidialen Ausnahmegewalt zu entwikkeIn. Insbesondere versäumte sie, das Verhältnis der tradierten Organisationselemente des Belagerungszustandes zu den übrigen Normen der Reichsverfassung zu klären. Auch die Unantastbarkeitslehre Richard Graus, die auf den ersten Blick eine rechtsstaatlich befriedigende Lösung des Problems zu bieten schien, verdeckte dieses lediglich terminologisch. 4. Institutionelle Grenzen a) Gerichtliche Kontrolle Durften Gerichte die Ausnahmeverordnungen des Reichspräsidenten auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen? aa) Die rechtswissenschaftliche Literatur behandelte dieses Problem kaum, nur Meißner und Grau schnitten es überhaupt an. Dabei blieben verfassungsgerichtliche Verfahren weitgehend ausgeblendet,224 erst im Zusammenhang mit den Reich-Länder-Konflikten des Jahres 1923 erlangten sie Bedeutung,225 So konzentrierte sich die juristische Betrachtung auf die inzidente Normenkontrolle, also auf die Frage, ob und inwieweit ein Gericht bei der Entscheidung über einen konkreten Rechtsstreit die von ihm anzuwendende Verordnung des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs. 2 auf ihre Gültigkeit überprüfen durfte, mit der Folge, die für ungültig gehaltene Norm in concreto außer acht lassen zu dürfen. 226 Dieser Inzidentkontrolle kam eine erhebliche Bedeutung zu, denn es wurden zahlreiche Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen die in Diktaturverordnungen aufgenommenen Straftatbestände eingeleitet. 227 Der Umfang der richterlichen Nachprüfungsbefugnis bestimmte sich im wesentlichen durch die Grundsätze, die für die Inzidenterkontrolle von Rechts- (insbesondere Polizei-)Verordnungen entwickelt worden waren auch dies wurzelte in dem verwaltungs rechtlichen Ausnahmezustandsverständnis der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre. 228 Es galt: das prozeßentscheidende Gericht durfte grundsätzlich nur die "Rechtmäßigkeit" der VgJ. die Ausführungen bei Grau, Diktaturgewalt 1, S. 150. VgJ. unten Drittes Kapitel B 12. 226 Allgemein zur inzidenten Normenkontrolle unter der Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung Huber 6, S. 564ff. 227 VgJ. dazu Halle, S. 37ff. 228 VgJ. oben I. 224 225

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

Verordnung untersuchen, "Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit" blieben der juristischen Betrachtung entzogen. 229 Demnach hatte der Richter weder zu prüfen, ob "der Erlaß der Verordnung objectiv überhaupt durch die Zwecke der Verwaltung geboten (Nothwendigkeit), noch auch ob der für den Erlaß derselben maßgebend gewesene Einzelzweck durch die Vorschriften der Verordnung erreicht werden kann (Zweckmäßigkeit)"230. Für die präsidentielle Ausnahmeverordnung bedeutete dies zweierlei. Erstens: Zweck der Maßnahmen des Reichspräsidenten war es, die "öffentliche Sicherheit und Ordnung" wiederherzustellen,231 Die Entscheidung darüber, ob dieser Zweck eine präsidiale Notstandsmaßnahme objektiv erforderte, ob also die Voraussetzung des Art. 48 Abs. 2 - eine Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung - tatsächlich vorlag, war dem "pflichtgemäßen Ermessen"232 des Reichspräsidenten anvertraut. Der Richter mußte sich damit begnügen, daß "der Diktator selbst bezeugt, er handle zum Zwecke der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung"233. Dazu reichte es aus, im Text der Verordnung auf Art. 48 Abs. 2 Bezug zu nehmen,234 Grau forderte sogar, die richterliche Kontrolle über die im Polizeirecht geltenden Prinzipien hinaus zu beschränken. Im Polizeirecht galt: Kam der Richter zu der Überzeugung, daß die Verordnung nicht mehr "auf objectiven polizeilichen Motiven, sondern auf Willkür, Pflichtwidrigkeit und Chikane" beruhte, betraf dies die "Rechtmäßigkeit" , nicht die "Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit"; die Verordnung war insofern richterlicher Kontrolle unterworfen. 235 Grau indes wollte diesen Grundsatz nicht auf den Art. 48 Abs. 2 übertragen: "Ob der Diktator aus diktatorischen Motiven gehandelt hat, muß auch der Reichstag endgültig entscheiden"236, denn "der ... Stellung des Reichstags würde es widersprechen, wenn man die Bedeutung dieser Prüfung herab drücken wollte. "237 Der Verfasser intendierte also einen Machtzuwachs des Reichstags - nicht des Reichspräsidenten - zuungunsten der Judikative. 229 Vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 152ff. Zum alten Recht vgl. Rosin, S. 279ff.; Thoma, Polizeibefehl, S. 458ff. 230 So die Definition Rosins, S. 293; diese zwei Begriffe ließen sich jedoch nicht voneinander trennen, vgl. Rosin, S. 463. Kritisch speziell zu Rosin: Grau, Diktaturgewalt 1, S. 47f. Fn.2. 231 Vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 46,47. 232 Giese, 1920, Anm. 15 zu Art. 48 (S. 179). 233 Grau, Diktaturgewalt 1, S.155; ähnlich Meißner, Staatsrecht, S.147, und ders., Reichsverfassung, S. 73. 234 Grau, Diktaturgewalt 1, S. 118, 155 Fn. 1. Auch für die aufgrund des § 9b BZG erlassenen Verordnungen der Militärbefehlshaber hatten diese Grundsätze gegolten, vgl. Pürschel, S. 241; Strupp, Kriegszustandsrecht, S. 99. 235 Vgl. Rosin, S. 289 Fn. 22. 236 Grau, Diktaturgewalt 1, S. 155. 237 Ebd.

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Zweitens folgte aus dem Ausschluß der Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle: Die "Verhältnismäßigkeit"238 der Maßnahmen blieb unüberprüft; der Richter durfte sich nicht auf die Frage einlassen, ob nicht schon eine schwächere Maßnahme zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung genügte, ob also die Maßnahme "nötig" im Sinne des Art. 48 Abs. 2 Satz 1 war. Auch diese Entscheidung blieb dem "freien Ermessen" des Reichspräsidenten vorbehalten. 239 bb) Die Rechtsprechung teilte die Auffassung des Schrifttums. Auch das Reichsgericht prüfte die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 2 nicht nach, sondern ließ es ausreichen, daß der " ... Reichspräsident ... die öffentliche Sicherheit und Ordnung für gestört oder gefährdet hält"24o. Ebenso verzichtete das Reichsgericht darauf, die "Nötigkeit" der Maßnahmen zu überprüfen 241 und beschränkte seine Kontrolle auf die "Rechtmäßigkeit"; es prüfte also die Zuständigkeit des gegenzeichnenden Ministers 242 , die Gesetzlichkeit des Inhalts - d. h., ob der Reichspräsident die ihm durch die positive Gesetzgebung, mithin die durch Art. 48 Abs. 2 gezogenen Schranken überschritt243 - schließlich, ob die wesentlichen Sanktions- und Publikationserfordernisse erfüllt worden waren. 244 Insbesondere am zweiten Punkt - der Gesetzlichkeit des Inhalts - hätte eine Beschränkung der präsidialen Ausnahmegewalt durch die Judikative ansetzen können, doch hielt auch das Reichsgericht die Befugnisse des Reichspräsidenten für "unbeschränkt"245; eine begrenzende Dogmatik bildete sich deshalb nicht heraus. cc) Anknüpfend an die für Polizeiverordnungen geltenden Grundsätze prüften die Gerichte "Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit" der Diktaturverordnungen nicht nach. Damit waren die Voraussetzungen des präsidialen Eingreifens sowie die "Nöthigkeit" bzw. Verhältnismäßigkeit der "Maßnahmen" der richterlichen Kontrolle entzogen. Auch die den Gerichten obliegende Kontrolle der "Rechtmäßigkeit" konnte zu einer Eingrenzung der präsidialen Ausnahmegewalt nicht führen, denn die aus Art. 48 Abs. 2 fließende Befugnis galt der Rechtsprechung als "unbeschränkt".

Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 47f. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 48. Zum alten Recht Thoma, Polizeibefehl, S. 464f. 240 Urteil vom 5. Oktober 1921, RGStE 56, S. 161ff. (163); weniger deutlich Urteil vom 29. Oktober 1920, RGStE 55, 115ff. (117). 241 Ausführlich Enz, insbesondere S. 15ff. 242 Vgl. RGStE 56, 161ff. (162 f.). 243 Vgl. RGStE 55, S. 115ff.; 56, S.161ff. (163). 244 Vgl. RGStE 55, 115ff. (119f.); ausführlich zu den Voraussetzungen der "Rechtmäßigkeit"; Thoma, Polizeibefehl, S. 459ff. 245 RGStE 55, S.115ff.; RGStE 56, 161ff. (163f.). 238 239

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2. Kap.: Die Rezeption des Belagerungszustandsrechts

b) Politische Kontrolle aa) Politische Kontrolle der präsidialen Ausnahmebefugnisse bedeutete vorrangig parlamentarische Kontrolle. Deshalb verpflichtete Art. 48 Abs. 3 Satz 1 den Reichspräsidenten, dem Reichstag von den getroffenen Maßnahmen unverzüglich Kenntnis zu geben. Zum einen konnte der Reichstag dann an die gemäß Art. 50 Satz 1 auch für Diktaturmaßnahmen erforderliche Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister anknüpfen, denn mit der Gegenzeichnung übernahmen Reichskanzler oder Reichsminister die Verantwortung für die präsidialen Maßnahmen. Die Volksvertretung konnte nun ihr allgemeines Kontrollrecht 246 ausüben: die Reichsregierung mußte also die von ihr zu verantwortenden Maßnahmen, jedenfalls auf eine Interpellation hin, rechtfertigen; durch ein Mißbilligungsvotum konnte das Parlament die Regierung rügen; durch ein "destruktives" Mißtrauensvotum (Art. 54 Satz 2) die Regierung stürzen. 247 Zum anderen konnte der Reichstag gegen den Reichspräsidenten selbst auf dem Wege der Präsidentenanklage vorgehen. Gemäß Art. 59 war der Reichstag berechtigt, nicht nur den Reichskanzler und die Reichsminister, sondern auch den Reichspräsidenten vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anzuklagen, wenn er "schuldhafterweise die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt" hatte. Ferner konnte der Reichstag beantragen, den Reichspräsidenten durch Volksabstimmung abzusetzen, Art. 43 Abs. 2. Das wichtigste Instrument zur Kontrolle der Notstandsgewalt schließlich war in Art. 48 Abs. 3 Satz 2 verankert. Auf Verlangen des Reichstags mußte der Reichspräsident seine Maßnahmen außer Kraft setzen, dazu genügte die einfache Mehrheit. Diese Befugnis galt - zusammen mit dem Erfordernis der Gegenzeichnung gemäß Art. 50 - als ein entscheidender Fortschritt gegenüber dem alten Recht. 248 bb) Sowohl in der Staatspraxis als auch im juristischen Schrifttum zeichneten sich schon früh Tendenzen ab, die auf eine Einschränkung der parlamentarischen Kontrolle abzielten. Zunächst zur Staatspraxis. Am 19. Mai 1920 beantragten Abgeordnete der USPD sowie der SPD, den Ausnahmezustand im ganzen Reich aufzuheben. 249 Zur allgemeinen Kontrollgewalt des Reichspräsidenten vgl. Huber 6, S. 361. Vgl. Huber 6, S. 721. 248 Vgl. oben Erstes Kapitel B II 6. 249 Antrag Geyer (Leipzig) und Genossen: "Die Nationalversammlung wolle beschließen: die Reichsregierung zu ersuchen, sofort den Ausnahmezustand in allen Teilen des Reiches aufzuheben." Verhandlungen, Bd. 343, Drucksache Nr. 3004. 246 247

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Die Mehrheit der Abgeordneten der Nationalversammlung stimmten dem Antrag am 20. Mai ZU 250 ; damit war der Reichspräsident verpflichtet, seine Diktaturverordnungen außer Kraft zu setzen, Art. 48 Abs. 3 Satz 2. Doch am darauffolgenden Tag interpretierte Reichsinnenminister Koch das Aufhebungsverlangen schlankweg um: Die Nationalversammlung hat gestern durch eine Resolution die Reichsregierung ersucht, den Ausnahmezustand im Reich aufzuheben. Bei der verfassungsmäßigen Stellung der Regierung zum Parlament hat dieser Beschluß, wenn er auch nicht ein Verlangen gemäß Art. 48 Abs. 5 (sie!) darstellt, der Regierung Veranlassung zu notwendiger ernster Erwägung gegeben. 251

Die Unabhängigen versuchten sofort, die Regierung Müller durch ein Mißtrauensvotum gemäß Art. 54 Satz 2 zu stürzen,252 doch gelang es der USPDFraktion nicht, die von der Geschäftsordnung für einen solchen Antrag vorgeschriebene Mindestzahl von 15 Unterschriften zu erreichen. 253 Das Verhalten der Reichsregierung fand im juristischen Schrifttum zunächst nur ein geringes Echo. Gmelin rechtfertigte in einer kurz nach dem Vorfall erschienenen Veröffentlichung den nur "scheinbaren" Verfassungsbruch. 154 Erst Grau stellte zwei Jahre nach dem Vorfall fest: "Die Versuche ... den Verfassungsbruch zu bemänteln ... verdienen keine Widerlegung. "255 Nicht nur die Gmelinsche Äußerung weist auf Bestrebungen hin, die parlamentarische Kontrolle abzuschwächen. Kohlheyer etwa meinte, der Reichskanzler bzw. der zuständige Ressortminister seien verpflichtet, die Diktaturmaßnahmen gegenzuzeichnen, "wenn der Reichspräsident es für seine verfassungsmäßige Pflicht hält, den Ausnahmezustand zu verhängen. "256 Damit verschob er nicht nur die Gewichte einseitig zu Gunsten des Reichspräsidenten und nahm der Reichsregierung jeden politischen Spielraum, sondern er hebelte darüber hinaus die allgemeine Kontrollgewalt des Reichstags weitgehend aus. Konnte man doch der Reichsregierung schwerlich vorwerfen, sie habe ihre von der Reichsverfassung vorgeschriebene Pflicht zur Gegenzeichnung erfüllt. Kohlheyer setzte insofern die in der Nationalversammlung gescheiterten Bemühungen fort, den Reichspräsidenten vom Erfordernis der Gegenzeichnung zu befreien. 257

177. Sitzung, Verhandlungen, Bd. 333, S. 5713. 178. Sitzung vom 21. Mai 1920, Verhandlungen, Bd. 333, S. 5724. 252 Ebd., S. 5725. 253 Verhandlungen, Bd. 333, S. 5726. 254 Gmelin, S. 160: Die Regeln über die parlamentarische Kontrolle dürften nicht "allzu wörtlich" ausgelegt werden. 255 Grau, Diktaturgewalt 1, S.167. 256 Kohlheyer, S. 62. 257 s. o. Erstes Kapitel B III 3 b. 250 251

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Auch das Institut des "Außerkraftsetzungsveriangens" fand nicht ungeteilten Beifall. Wiederum Kohlheyer bezeichnete es als "prinzipienwidrige Einbuße"258 der Stellung des Reichspräsidenten, beruhigte sich jedoch damit, daß der Reichstag "die Tatsache rechts wirksamer Verhängung und die der Vergangenheit angehörende Gesamtwirkung der Maßnahmen nicht mehr beseitigen"259 könne. Weitgehend ausgespart blieb das Kardinalproblem bezüglich der parlamentarischen Kontrollgewalt: Konnte nicht der Reichspräsident mittels einer Reichstagsauflösung (Art. 25) das zu seiner Kontrolle berufene Organ vorläufig ausschalten?260 Nur zwei Autoren beschäftigten sich während des hier untersuchten Zeitraums mit diesem Thema. Beide kamen zum selben Ergebnis, indem sie die Preuß'sche Gleichgewichtskonzeption auf das Verhältnis von Ausnahmegewalt und Reichstagsauflösung übertrugen: "Wenn der Reichspräsident ganz allgemein und überall dem Reichstag gegenüber am Volk appellieren kann ... dann soll er es auch hier können ... " meinte Kohlheyer. 261 Der "Weg zum Staatstreich"262 schien ihm zwar freigegeben, doch werde "man nicht mit juristischen Gründen schließen können, der Reichspräsident könne vor und während der Verfügung eines Ausnahmezustandes von seinen Befugnissen keinen Gebrauch machen"263. Noch schärfer formulierte Goebel: Wolle der Reichspräsident seine Maßnahmen nicht auf Verlangen des Reichstags außer Kraft setzen, könne er gemäß Art. 25 den Reichstag auflösen. 264 Auch hier sollte also gelten: Das Volk entscheidet den Konflikt zwischen Reichstag und Reichspräsident. Nur: Konnte nicht der Reichspräsident - wie Kohlheyer andeutete - bis zum Zusammentritt des neugewählten Reichstags vollendete Tatsachen schaffen? Dann hatte der Reichspräsident zwar an das Volk appelliert, doch die Entscheidung des Volkes kam zu spät. Die schematische Übertragung des Preuß'sehen Konfliktlösungsmodells drohte eben dieses Modell ad absurd um zu führen. Der "Appell ans Volk" bewirkte zugleich, daß der Reichstag - das zur Kontrolle des Reichspräsidenten berufene Organ - vorläufig ausgeschaltet war. Im Ergebnis entschieden Reichspräsident und Reichsregierung den Konflikt - nicht das Volk. Kohlheyer, S. 78. Ebd. Vgl. auch ders., S. 76: der Reichstag müsse beachten, daß es sich bei Art. 48 um ein "selbständiges Präsidentenrecht" handle, der Reichstag müsse sich daher eine "gewisse Beschränkung" auferlegen und anerkennen, daß nicht "eine bloße Maßnahme der Reichsregierung" in Frage stehe. 260 Vgl. oben Erstes Kapitel B III 3 a. 261 Kohlheyer, S. 84. 262 Ebd., S. 62. 263 Kohlheyer, S. 85. 264 Vgl. Goebel, S. 85. 258 259

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cc) In der Staatspraxis sowie in der juristischen Literatur zeichneten sich bereits früh Bestrebungen ab, die parlamentarische Kontrollgewalt einzuschränken. Insbesondere galt es als verfassungsgemäß, ein Außerkraftsetzungsverlangen des Reichstags nach Art. 43 Abs. 3 Satz 1 mit der Parlamentsauflösung (Art. 25) zu beantworten, damit - so die Preuß'sche Gleichgewichtskonzeption - das Volk den Konflikt entscheide. III. Ergebnis

Die Rechtswissenschaft gab der unscharfen Generalklausel des Art. 48 Abs. 2 vertraute Konturen, indem sie den Maßregel katalog des überlieferten Belagerungszustandsrechts auf die präsidiale Diktaturgewalt übertrug. Damit war der Einsatz der bewaffneten Macht in der Bürgerkriegslage der Jahre 1919 - 21 auch ohne das in Art. 48 Abs. 5 vorgesehene Reichsgesetz verfassungsrechtlich garantiert. Diese Verpflanzung des erst im Weltkrieg praktisch gewordenen monarchischen Belagerungszustands in das Staatsrecht der Republik warf erhebliche interpretatorische Probleme auf. Die herrschende Doktrin billigte eine weitgehende Delegation der in Art. 48 umschriebenen Befugnisse und schuf die Voraussetzungen zur Etablierung einer "außerordentlichen Staatsorganisation" beliebigen Inhalts - ein Sprengsatz vor allem für das föderale Gefüge der Weimarer Verfassung. Ferner sprach die Fachpublizistik dem Reichspräsidenten - wie schon im Kaiserreich den Militärbefehlshabern - ein Verordnungsrecht ,praeter legern' zu. In der Konsequenz des herrschenden spätkonstitutionellen Gesetzesbegriffs lag es, eine präsidiale "Maßnahme" von einem (materiellen) Parlamentsgesetz nicht zu unterscheiden und insoweit den parlamentarischen und den präsidentiellen Gesetzgeber gleichzustellen - das konnte für die Machtverteilung zwischen Reichspräsident und Reichsregierung einerseits, Reichstag und Reichsrat andererseits entscheidende Bedeutung erlangen. Taugliche Kriterien zur normativen Begrenzung der präsidialen Ausnahmegewalt indes entwickelte die Rechtswissenschaft nicht. Darüber hinaus wurde der Rechtsprechung ein richterliches Prüfungsrecht nur in einem sehr beschränkten, praktisch nicht wirksamen Umfang zugebilligt. Schließlich waren in der juristischen Literatur bereits früh Bestrebungen erkennbar, die auf eine Einschränkung der parlamentarischen Kontrollgewalt abzielten. Restringierend auf Inhalt und Reichweite der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten wirkte ausschließlich das Festhalten am tradierten Maßregelkatalog des preußischen Belagerungszustandsgesetzes aus dem Jahre 1851.

Drittes Kapitel

Reich und Länder A. Historisch-politischer Teil

Schwere Konflikte zwischen Reich und Ländern verschärften die latente Bürgerkriegslage während der ersten Jahre der Weimarer Republik. Die zentrale Verfassungsnorm war auch hier der Art. 48. I. Braunschweig

Schon im April 1919 - also vor dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung - ging die Reichsleitung gegen die braunschweigische Landesregierung vor und stützte sich dabei auf das überlieferte Kriegszustandsrecht. 1 Der linkssozialistische Ministerpräsident Oerter hatte sich dort während der Unruhen im Ruhrgebiet 2 den Aufständischen angeschlossen. Am 13. April 1919 verhängte der Reichspräsident über Braunschweig den Belagerungszustand;3 einige Tage später, am 17. April, befahl General von Maercker die Absetzung der Landesregierung. 4 Noch am selben Tag berief der Ältestenausschuß des Landtags im Einvernehmen mit dem Militärbefehlshaber ein diesem genehmes Koalitionsministerium zur vorläufigen Führung der Geschäfte. 5 Ende April indes verweigerte das Landesparlament der provisorischen Regierung die Bestätigung und wählte ein neues Ministerium. 6 11. Die thüringischen Staaten

1. Der thüringische Aufstand

Nach dem Sturz der Gegenregierung Kapp-Lüttwitz bekämpfte die Reichswehr nicht nur die "Rote Armee" an Rhein und Ruhr. 7 Auch in den thüringiDie Darstellung folgt Huber 5, S. 1110 f. Vgl. auch Kimmei, S. 56 ff. Vgl. Huber 5, S. 1106 ff. 3 RGBI. S. 391. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 121. 4 Befehl des Generals Maercker zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände in Braunschweig. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 122. 5 Vgl. Huber 5, S. 1110. 6 Ebd., S. 1111. 7 Dazu oben Zweites Kapitel A II 2. 1

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schen Einzelstaaten hatten sich - teilweise unter Mitwirkung der jeweiligen Landesregierungen - revolutionäre Volkswehren gebildet, nachdem Generalmajor Hagenberg, der Befehlshaber der im Bereich Ostthüringen-Merseberg stehenden Reichswehrbrigade 16, sich für die Putschisten erklärt hatte S und in deren Auftrag in Sachsen-Weimar, Sachsen-Altenburg und Reuß die Landesregierungen ihrer Ämter enthoben hatte. 9 Die Arbeiterschaft erhob sich vor allem in den industriereichen Orten Thüringens gegen die Gegenregierung; nach kurzer Zeit weitete der Aufstand sich auch hier zum Kampf gegen die verfassungsmäßige Reichsregierung aus. 10 In Sachsen-Gotha erklärte darüber hinaus die linkssozialistische Landesregierung Grabow-Schauder am 13. März 1920: Es gibt keine Reichsregierung mehr ... In diesem Augenblick übernimmt die Landesregierung der Republik Gotha für ihr Staatsgebiet die gesamte öffentliche Gewalt ... Wir verordnen mit Gesetzeskraft, daß sofort in allen Orten der Republik Gotha aus den Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte Verteidigungsausschüsse gebildet werden ... ll Am nächsten Tag ergriff dort der aus Mitgliedern der USPD und der KPD bestehende Vollzugsrat unter Proklamation des "revolutionären Rätesystems" die politische Macht. 12 Die Reichswehr reagierte auf die Vorgänge, indern sie sich auf das überlieferte Ausnahmerecht stützte. Am 13. März 1920 ordnete General von Stoltzmann, der Befehlshaber der 11. Reichswehrbrigade (Kassel) Strafschärfungen an und setzte außerordentliche Kriegs- und Standgerichte ein - eine Maßnahrne, die der Reichspräsident nachträglich billigte. 13 Auch die Revolutionäre bedienten sich des Artikels 48. Gestützt auf Absatz 4 dieser Norm hob das gothaische Revolutionsregime durch die Verordnung vorn 19. März 1920 - zwei Tage nach dem Sturz des Kapp-Lüttwitz-Regimessieben Grundrechtsartikel der Reichsverfassung auf, setzte einen Oberbefehlshaber der Volkswehr sowie einen kommunistischen Stadtkommandanten für Gotha ein 14 und suchte auf diesem Wege die verfassungsmäßig dem Reich zugewiesene Militärgewalt an sich zu ziehen. Am 22. März 1920 schließlich erließ der Reichspräsident eine Verordnung,15 in welcher er "auf Grund des Artikel 48 ... zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung"16 den Weimarer Staatsminister Paulssen Ausführlich zum Nachstehenden Huber 7, S. 118 ff. Ebd., S. 67. 10 Huber 7, S. 118. 11 Zitiert nach Facius, S. 405. 12 Huber 7, S. 119. 13 Vgl. oben Zweites Kapitel A II 2. 14 Vgl. Huber 7, S. 119. 15 RGBI., S. 343. Text: Huber, Dok. 3, S. 224.

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3. Kap.: Reich und Länder

zum Reichskommissar für die sieben thüringischen Staaten einschließlich der von ihnen umschlossenen preußischen Gebiete ernannte. Paulssen wurde weiter ermächtigt, alle erforderlichen, nicht den militärischen KommandosteIlen zufallenden "Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" zu treffen, insbesondere hierzu erforderliche "Verordnungen mit Gesetzeskraft" zu erlassen, die Behörden mit "Weisungen" zu versehen und "für die Dauer der Geltung dieser Verordnung Mitglieder der Landesregierung und der Behörden dieser Länder ihrer Stellungen zu entheben und andere Personen mit der Führung der Dienstgeschäfte zu betrauen". In der Mehrzahl der thüringischen Staaten gelang es dem Reichskommissar , gestützt auf die militärische Hilfeleistung der eingerückten Reichswehr, in kurzer Zeit wieder geordnete Verhältnisse herzustellen. 17 Zur Absetzung einer Landesregierung kam es dabei - noch - nicht. 2. Sachsen-Gotha

Auch in Sachsen-Gotha schien die unmittelbare Gefahr eines Bürgerkrieges gebannt. Am 27. März 1920 wurde im Gebiet des Freistaats der Generalstreik beendet 18 und am 1. April der Ausnahmezustand für das Gothaer Land aufgehoben. 19 Im Laufe der ersten Aprilwoche kehrten die landesfremden Reichswehrtruppen, die aus Kassel und Würzburg20 zur Unterdrückung des thüringischen Aufstandes herbeigerufen worden waren, in ihre Garnisonen zurüCk. 21 Schwierigkeiten bereitete jedoch die Bildung einer neuen Landesregierung. Die gothaische Landesversammlung sprach dem Ministerium Grabow-Schauder das Mißtrauen aus, doch fehlte es an der erforderlichen Mehrheit für die Wahl einer neuen Regierung; das gestürzte Ministerium blieb geschäftsführend im Amt. 22 Tags darauf legten diejenigen neun Abgeordneten des Landesparlaments, die der MSPD und den bürgerlichen Parteien angehörten, ihr Mandat nieder. Die lediglich 19 Mitglieder umfassende Körperschaft war beschluß unfähig. 23 Am 10. April 1920 schließlich hob Ebert die alle thüringischen Staaten betreffende Verordnung vom 22. März 192024 auf, bereitete aber zugleich die 16 Vgl. § 1 der obengenannten Verordnung. In der amtlichen Überschrift war demgegenüber lediglich auf den zweiten Absatz des Art. 48 Bezug genommen (nicht abgedruckt bei Huber Dok. 3, S. 224). 17 Vgl. Huber 7, S. 121. 18 Vgl. Facius, S. 428. 19 Ebd., S. 431. 20 Facius, S. 421. 21 Ebd., S. 434. 22 Vgl. Huber 7, S. 121; Kimmei, S. 146. 23 Huber 7, S. 121.

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Entmachtung der linksradikalen gothaischen Landesregierung vor. Die neuerlassene Verordnung betreffend " ... die Durchführung der Reichsverfassung und die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Sachsen-Gotha erforderlichen Maßnahmen" vom 10. April 192025 ermächtigte einen Reichskommissar , "alle erforderlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu treffen, die hierzu erforderlichen Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen und die Behörden mit Weisungen zu versehen, auch Neuwahlen für die Landesversammlung von Sachsen-Gotha zu veranlassen" (§ 2), ferner "zur ordnungsgemäßen Neubildung der Landesregierung" die vollziehende Gewalt zu übernehmen (§ 3) und die in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 aufgezählten Grundrechte vorübergehend außer Kraft zu setzen (§ 5). Am 23. April löste der frühere Essener Oberbürgermeister Holle, der vom Reichsinnenminister als Reichskommissar eingesetzt worden war,26 die Landesversammlung auf und setzte Neuwahlen auf den 30. Mai festP Zugleich bestimmte Holle auf dem Verordnungswege Einzelheiten des Wahlverfahrens wie die Einteilung der Stimmbezirke, Auslegung von Wählerlisten usw., legte die Altersgrenze für das aktive und passive Wahlrecht fest, regelte die Zahl der Abgeordneten der Landesversammlung und erklärte ausdrücklich die Grundsätze des freien und allgemeinen Mandats für rechtsverbindlich. 28 Mitte Mai 1920 schließlich entmachtete Holle die Regierung GrabowSchauder vollends: Nachdem die Volksbeauftragten ihre Bereitwilligkeit, während meiner Anwesenheit die Geschäfte der Landesregierung weiterzuführen, zurückgezogen haben, bestimme ich aufgrund der Verordnung vom 10. April 1920 mit Gesetzeskraft wie folgt: Die Landesregierung S. Gotha wird ausgeübt durch die Herren ... 29

Darüber hinaus griff Holle in den Aufbau der gothaischen Verwaltung ein, indem er das umstrittene Landesbildungsamt nebst einigen anderen Behörden der Landeszentralbehörde angliederte 30 und somit der von ihm eingesetzten "Regierung" unterstellte. Die Neuwahlen wurden von den bürgerlichen Parteien gewonnen. Nachdem die Landesversammlung eine neue Koalitionsregierung gewählt hatte, Vgl. oben 1. RGBI., S. 477. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 225. Sowohl die amtliche Überschrift als auch die Eingangsformel der Verordnung nahmen auf den gesamten "Artikel 48 der Reichsverfassung" Bezug. 26 Huber, Dok. 3, S. 122. 27 Verordnung vom 23. April 1920, Gesetzsammlung für den Staat Gotha, S. 67 f. 28 Vgl. die soeben genannte sowie eine weitere am 23. April erlassene Verordnung Holles; ebd., S. 65. 29 Verordnung vom 10. Mai 1923; Gesetzsammlung für den Staat Gotha, S. 75. 30 Vgl. Kimmei, S. 186. 24

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3. Kap.: Reich und Länder

hob der Reichspräsident die Verordnung zur "Durchführung der Reichsverfassung" am 7. Juli 1920 auf.3 1 III. Die Konflikte Bayern - Reich

1. Der erste Konflikt

a) Bayern versuchte auch nach der Revolutionsphase, die in der Bismarckschen Reichsverfassung garantierten Reservatrechte 32 für die Republik wiederherzustellen . Ausdruck dieser föderalistischen Bestrebungen war die Aufrechterhaltung des bayerischen Ausnahmezustandes. Zwar hatte am 4. November 1919 das Ministerium Hoffmann den im Jahre 1914 über Bayern verhängten Kriegszustand förmlich aufgehoben. 33 Doch in der Aufhebungsverordnung wurde zugleich die Aufrechterhaltung eines Teils der bisherigen Maßnahmen über Schutzhaft und Aufenthaltsbeschränkungen 34 verfügt. Zur rechtlichen Abstützung dieser Maßnahmen berief sich der bayerische Verordnungsgeber auf Art. 48 Abs. 4 sowie auf § 64 der Bayerischen Verfassungsurkunde. 35 Diese Ausnahmebestimmungen waren auch noch in Kraft, als die Erste Verordnung zum Schutze der Republik zum Konflikt zwischen Bayern und dem Reich führte. b) Am 26. August 1921 erschossen rechtsradikale Gewalttäter den Repräsentanten des linken Flügels der Zentrumspartei, Matthias Erzberger. 36 Die Reichsleitung reagierte unverzüglich. Am 29. August rief die Regierung dazu auf, "mit unerbittlicher Strenge gegen jede Auflehnung"37 vorzugehen; zugleich erließ der Reichspräsident, gestützt auf den Art. 48 Abs 2, die Erste Verordnung zum Schutze der Republik. 38 Die §§ 1 und 2 dieser Verordnung ermächtigten den Reichsminister des Innern bzw. von diesem bestimmte Stellen, periodische Druckschriften zu verbieten und ohne richterliche Anordnung zu beschlagnahmen, wenn sie zu näher umschriebenen republikfeindlichen Handlungen aufreizten oder aufforderten. Unter denselben Voraussetzungen konnten Vereinigungen, Aufzüge

Vgl. Huber 7, S. 122. Zur Revolutionszeit vgl. oben Erstes Kapitel B IV 2 a. 33 Vgl. Huber, Militärgewalt, S. 174. 34 Ebd. 35 Huber, Militärgewalt, S. 174. 36 Dazu ausführlich Huber 7, S. 307 ff. 37 Aufruf der Reichsregierung vom 26. August 1921; Text: Huber, Dok. 3, Nr. 235. 38 RGBI. 1921 S. 1239; Text: Huber, Dok. 3, Nr. 236. Zusatz vom 30. August 1921, RGBI. S. 1249. 31

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und Kundgebungen verboten werden (§ 4) - auf eine ausdrückliche Suspension der einschlägigen Grundrechte hatte der Reichspräsident freilich verzichtet. Strafvorschriften sicherten diese Befugnisse ab (§§ 3, 5). Als Rechtsmittel gegen die Verbote und Beschlagnahmen konnte der Betroffene Beschwerde bei einem Ausschuß einlegen, dessen sieben Miglieder der Reichsrat wählte (§ 6). Den Vorsitz im Ausschuß führte - ohne Stimmrecht - der Reichsminister des Innern oder ein von diesem bestimmter Vertreter. Vor allem Bayern wehrte sich gegen diesen Kompetenzzuwachs des Reiches. Schon am 1. September protestierte der bayerische Gesandte im Reichsrat. 39 Am selben Tag verurteilten auch die Fraktionsführer der bayerischen Regierungsparteien scharf das Vorgehen der Zentralgewalt. 4o Schließlich weigerte sich die Regierung von Kahr - sie hatte während des Kapp-Putsches das sozialdemokratisch geführte Kabinett Hoffmann abgelöst41 - vom Reichsinnenminister verfügte Zeitungsverbote zu vollziehen: rechtsradikale Blätter, unter ihnen der "Völkische Beobachter", durften in Bayern weiterhin erscheinen. 42 Das Reich verhandelte nunmehr über den Vollzug der Republikschutzverordnung und schloß mit dem gemäßigten Ministerium Lerchenfeld - Kahr war inzwischen zurückgetreten - einen Komprorniß: die Reichsleitung revidierte, den bayerischen Wünschen folgend, die Maßnahmen vom 29./30. August; im Gegenzug verpflichtete sich die bayerische Regierung, den landesrechtlichen Ausnahmezustand vom 4. November 1919 aufzuheben. 43 Daraufhin erließ der Reichspräsident am 28. September 1921 die Zweite Verordnung zum Schutze der Republik. 44 Die wichtigste Änderung: von nun an waren Landesbehörden für die Anordnung von Verboten und Beschlagnahmen zuständig (§ 4 Abs. 1). Der Reichsminister des Innern konnte die Landeszentralbehörde lediglich um den Ausspruch eines Verbotes der Beschlagnahme ersuchen (§ 4 Abs. 2). Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Reichs- und Landesbehörden entschied ein Beschwerdeausschuß (§ 4 Abs. 2). Damit war die Vollzugszuständigkeit der Länder weitgehend wiederhergestellt. Schließlich wurde auch das Rechtsmittelverfahren zugunsten der Länder neu geordnet (§ 7) sowie die Meinungsfreiheit (Art. 118) und die Versammlungsfreiheit (Art. 123) außer Kraft gesetzt, soweit sie den obigen Bestimmungen entgegenstanden (§ 8).

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Vgl. Huber, Dok. 3, Nr. 37. Vgl. Huber 7, S. 210. Ebd., S. 68. Huber 7, S. 210. Ebd., S. 213 ff. RGBI. S. 1271; Text: Huber, Dok. 3, Nr. 238.

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3. Kap.: Reich und Länder

c) Die Zweite Republikschutzverordnung blieb indes nur kurze Zeit in Kraft, denn der Reichstag verlangte am 16. Dezember 1921 gemäß Art. 48 Abs. 3 ihre Aufhebung. 45 Hinter dem Parlamentsbeschluß stand eine heterogen zusammengesetzte Mehrheit aus DNVP, USPD, KPD und SPD. Der Konflikt mit Bayern sollte sich freilich schon im nächsten Jahr in ähnlicher Form wiederholen. 2. Der zweite Konflikt

Am 24. Juni 1922 ermordeten rechtsradikale Attentäter Walther Rathenau, der - seit Ende Juni Reichsaußenminister - Zielscheibe heftiger nationalistischer Hetze geworden war. 46 Eine Welle der Empörung ging durch Deutschland,47 alle Republikfeindschaft von rechts schien diskreditiert. 48 Einen Tag nach dem Attentat griff Reichskanzler Wirth vor dem Reichstag auch die bürgerlichen Rechtsparteien an: " ... da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts". 49 So richteten sich die am 26. und 29. Juni 1922 vom Reichspräsidenten erlassenen Verordnungen zum Schutze der Republik 50 ausschließlich gegen rechtsradikale Umtriebe: Die Fassung "Gewalttaten gegen die republikanische Staatsform" ist nach eingehender Prüfung gewählt worden, um klarzustellen, daß rechtsradikale Gewalttaten gemeint sind. 51

In weiten Teilen übernahm die Erste Verordnung zum Schutze der Republik vom 26. Juni die Bestimmungen der gleichnamigen Regelung vom 28. September 1921. Vor allem eine Änderung sollte sich indes als schwerwiegend erweisen: Konflikte zwiwchen dem Reichsinnenminister und der Landeszentralbehörde entschied nicht mehr ein vom Reichsrat gewählter Beschwerdeausschuß , sondern der mit dieser Verordnung geschaffene "Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik", ein Gericht, dessen Mitglieder vom Reichspräsidenten berufen wurden. Dieser Spruch körper war anstelle des Beschwerdeausschusses auch zuständig für Beschwerden des Betroffenen gegen Beschlagnahmen und Verbote, darüber hinaus erhielt er als Strafgericht die Zuständigkeit zur Aburteilung von republikfeindlichen Straftaten. Letztere Regelung galt selbst für solche Straftaten, die vor Einrichtung des Staatsgerichtshof begangen worden waren. 45

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Vgl. RGBI. 1921, S. 1664. Dazu Schulze, S. 242; Huber 7, S. 253. Erdmann, S. 237. Vgl. Schulze, S. 244. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 356, S. 8058. RGBI. I, S. 521, 532. Reichsjustizminister Radbruch, Verhandlungen des Reichstags, Bd. 356, S. 8050.

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Der bayerische Miniterpräsident Graf Lerchenfeld erklärte am 28. Juni vor dem Landtag zwar, daß die Verordnungen zum Schutze der Republik "an sich verfassungsrechtlich zulässig"52 seien, beklagte aber u. a. im Hinblick auf den Staatsgerichtshof den "schweren Eingriff in die von der Reichsverfassung garantierte Justiz- und Polizeihoheit der Länder" .53 Gegen des Widerstand des bayerischen54 und einiger anderer Ministerpräsidenten 55 sowie der Zentrumspartei56 wurden die präsidialen Ausnahmeverordnungen parlamentarisch abgesichert. Am 18. Juli 1922 nahm der Reichstag das "Republikschutzgesetz" mit der für Verfassungsänderungen erforderlichen 2/3Mehrheit an; dagegen stimmten die Deutschnationalen, die Bayerische Volkspartei sowie einige Abgeordnete der DVP,57 Immerhin hatte sich die Regierungskoalition bereitgefunden, die Stoßrichtung des neuen Ausnahmegesetzes zu erweitern. Die Wendung "Schutz der verfassungsmäßig festgestellten republikanischen Staatsform" statt der in den Entwürfen vorgesehenen Formel "republikanische Staatsform" sollte die Anwendung des Schutzgesetzes gegen alle verfassungsfeindlichen Angriffe, woher sie auch kommen mochten, sicherstellen. 58 Doch beließ es das neue Gesetz bei dem von bayrischer Seite als "Ausnahmegericht" bezeichneten Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik. Und schließlich forderte auch § 23 Republikschutzgesetz, der "Kaiserparagraph", den Widerspruch der monarchistischen Rechten heraus. 59 Diese Vorschrift ermächtigte die Reichsregierung, im Ausland lebenden Mitgliedern der ehemaligen landesherrlichen Familien das Betreten des Reichsgebiets zu untersagen, deren Aufenthalt auf bestimmte Teile oder Orte des Reichs zu beschränken, sie sogar bei Zuwiderhandlungen gegen diese Vorschriften auszuweisen: ein flagranter Eingriff in das verfassungsmäßig garantierte Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 111). Am Tag nach Inkrafttreten des Republikschutzgesetzes griff die bayerische Regierung zur Selbsthilfe: 52 Verhandlungen des Bayerischen Landtags II. Tagung, 1921/22 Bd. V S. 778; zitiert nach Huber, Dok. 3, Nr. 240. 53 Ebd. 54 Lerchenfeld: "Ausnahmebestimmungen haben erfahrungsgemäß etwas Bedenkliches und sollten möglichst bald verschwinden ... ". Zitiert nach Huber, Dok. 3, Nr. 240. 55 Vgl. das Protokoll der Ministerbesprechung vom 29. Juni 1922, Akten, Die Kabinette Wirth, Bd. 2, Nr. 304. 56 Zentrumssprecher Marx in der Besprechung des Reichskabinetts mit den Vertretern der Regierungsparteien am 28. Juni 1922, ebd., Nr. 303: in Ausnahmelagen sei die Notverordnung der gebotene Weg, ein Ausnahmegesetz sei zu vermeiden. 57 Dazu Huber 6, S. 664. 58 Vgl. Huber 6, S. 663. 59 Vgl. auch Huber 6, S. 664.

7 Kurz

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3. Kap.: Reich und Länder Der Inhalt des Gesetzes wie die Art seines Zustandekommmens ... haben in Bayern eine derartige Erregung hervorgerufen, daß, wenigstens im Gebiet des rechtsrheinischen Bayerns, unmittelbar mit einer erheblichen Störung oder Gefährdung zu rechnen ist, wenn das Gesetz ohne jeden Vorbehalt vollzogen wird. Es ist somit Gefahr im Verzug ...

behauptete das bayerische Gesamtministerium in der Präambel seiner Verordnung "zum Schutze der Verfassung der Republik"60 und sistierte kurzerhand den Vollzug des Republikschutzgesetzes im rechtsrheinischen Bayern unter Berufung auf § 64 der bayerischen Verfassungsurkunde, den Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung und "aufgrund der staatlichen Hoheitsrechte Bayerns".61 Die bayerische Verordnung verwies auf die materiellrechtlichen Vorschriften des Republikschutzgesetzes, selbst auf den umstrittenen "Kaiserparagraphen" , auch der verschärfte strafrechtliche Schutz für Mitglieder "früherer republikanischer Regierungen" blieb erhalten. Beseitigt wurden indes sämtliche durch das Gesetz vom 23. Juli geschaffenen Reichskompetenzen. Exekutivische Maßnahmen waren nun ausschließlich bayerischen Landesbehörden vobehalten, Rechtsmittel konnten nur bei bayerischen Gerichten eingelegt werden und die strafgerichtlichen Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik gingen auf die bayerischen Volksgerichte 62 über. Schließlich verbot die Verordnung ausdrücklich nichtbayerischen Polizeiorganen, selbständig Amtshandlungen in ihrem Geltungsbereich zu erlassen. Das Reichskabinett hielt die bayerische Verordnung für "verfassungswidrig und ungültig"63, wollte den Streitfall aber "mehr politisch als juristisch"64 behandelt wissen. Auch Ebert deutete in seinem Schreiben an Lerchenfeld vom 27. Juli 192265 zwar an, daß ihm aus seiner Aufgabe als "Hüter der Reichsverfassung und des Reichsgedankens" die Pflicht erwachse, gemäß Art. 48 auf die Aufhebung der Verordnung vom 24. Juli hinzuwirken, bot aber zugleich Verhandlungen an. Schließlich einigten sich Reichsregierung und Gesamtministerium im "Berliner Protokoll" vom 11. August 192266 wiederum auf einen Komprorniß: Die bayerische Regierung verpflichtete sich, ihre Ausnahmeverordnung vom 2. Juli 1922 aufzuheben, mithin das Republikschutzgesetz anzuwenden. Das Reich gestand dafür insbesondere zu, sich bei staatsanwaltschaftlichen Ermitt60 Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1922, S. 374. Zitiert nach Huber, Dok. 3, Nr. 241. 61 Ebd. 62 Zu diesen Huber 5, S. 1127. 63 Erklärung der Reichsregierung gegen das bayerische Vorgehen vom 26. Juli 1922. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 242. 64 Ebd. 65 Text: Huber, Dok. 3, Nr. 243. 66 Text auszugsweise bei Huber, Dok. 3, Nr. 245.

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lungen grundsätzlich der Landesbehörden zu bedienen, ferner einen zweiten "süddeutschen Senat" beim Staatsgerichtshof einzurichten, außerdem nicht "über die verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Reichs hinaus Hoheitsrechte der Länder an sich zu ziehen"67. Der Streit um das Republikschutzgesetz schien vorerst geschlichtet. Doch bildete er nur ein Vorspiel zu den Verfassungskonflikten, die das Reich im Herbst des darauffolgenden Jahres erschütterten.

3. Der dritte Konflikt a) Am 26. September 1923 gaben der Reichspräsident und die Reichsregierung unter der Führung Stresemanns den Abbruch des passiven Widerstandes an Rhein und Ruhr bekannt. 68 Ungewiß waren die innenpolitischen Folgen dieser Entscheidung, vor allem die Reaktion der gemäßigten wie der nationalrevolutionären Rechten. Knapp zwei Wochen zuvor, am 18. September, hatte der bayerische Gesandte von Preger dem Reichskabinett erklärt, ein Abbruch des passiven Widerstandes werde im Freistaat als "zweites Versailles" und als eine "Auflösung des Reichs" aufgefaßt werden;69 drei Tage später hielt der bayerische Ministerpräsident von Knilling eine Rede, in der er - kaum verhüllt - mit dem Gedanken einer Separation Bayerns vom Reich spielte,70 Gefahr drohte auch von den rechtsstehenden paramilitärischen Kampfbünden, die sich vorwiegend in Bayern sammelten. 71 Zwar waren diese weltanschaulich wie organisatorisch gespalten - die nationalkonservativ gesinnten, dem rechten Flügel der bayerischen Regierungskoalition nahestehenden Verbände hatten sich zu den "Vereinigten Vaterländischen Bünden Bayerns" zusammengeschlossen,n die rechtsradikalen Formationen sammelten sich im "Deutschen Kampfbund" ,73 Indes übertraf allein die Stärke der rechtsradikalen Wehrverbände die der in Bayern stehenden 7. Reichswehrdivision bei weitem,74 und am Tage vor dem Abbruch des Ruhrkampfes, am 25. September, gelang es dem "Deutschen Kampfbund" , seine Organisation zu festigen, indem er sich neben dem militärischen einen politischen Leiter gab - Hitler,75 Ebd. Aufruf des Reichspräsidenten und der Reichsregierung vom 26. September 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 260. 69 Dazu Huber 7, S. 345. 70 Vgl. Huber 7, S. 346. 71 Ausführlich Huber 7, S. 311 ff. 72 Vgl. Huber 7, S. 317. 73 Huber 7, S. 344. 74 Vgl. Huber 7, S. 314. 75 Ebd., S. 347. 67

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3. Kap.: Reich und Länder

Daraufhin verhängte die bayerische Regierung am 26. September den Ausnahmezustand. Die Erschütterung, welche die Beendigung des Ruhrkampfes beim weitaus überwiegenden Teil des bayerischen Volkes hervorgerufen habe, sei so stark, daß sie zu "Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" führen könnten, begründete das Gesamtministerium sinngemäß sein Vorgehen,76 Mit der wiederum auf Art. 48 Abs. 4 und § 64 der bayerischen Verfassungsurkunde gestützten Verordnung vom 26. September 192377 wurden sämtliche suspendierbaren Grundrechte außer Kraft gesetzt und das Amt eines "Generalstaatskommissars" geschaffen. Auf ihn ging die vollziehende Gewalt über, er war befugt, gemäß § 17 des Wehrgesetzes die Hilfe der Reichswehr anzufordern, auch Anordnungen zur Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung durfte er erlassen, zu deren Sicherung Strafandrohungen aussprechen sowie Schutzhaft und Aufenthaltsbeschränkungen verhängen. Ausgestattet mit diesen weitreichenden Machtbefugnissen wurde Gustav Ritter von Kahr, der "Vertrauensmann "78 der bayerischen Vaterländischen Verbände und frühere Ministerpräsident des Freistaats. In Berlin rief Stresemann in aller Eile das Reichskabinett zusammen, noch in der Nacht vom 26. auf den 27. September79 wurde der Reichsausnahmezustand verhängt. Die seit längerem vorbereitete80 Verordnung vom 26. September 192381 entsprach dem vertrauten Schema: Grundrechte wurden suspendiert, die vollziehende Gewalt ging auf den Reichswehrminister über, der sie auf die einzelnen militärischen Befehlshaber übertragen durfte. Ferner konnte der Reichswehrminister im Einvernehmen mit dem Reichsinnenminister zur Mitwirkung bei Ausübung der vollziehenden Gewalt auf dem Gebiete der Zivilverwaltung Regierungskommissare ernennen; Strafvorschriften und die Ermächtigung, außerordentliche Gerichte einzusetzen, ergänzten die präsidiale Verordnung. Einen Monat später rechtfertigte Stresemann die Verhängung des Reichsausnahmezustandes mit der Befürchtung, die Ernennung einer Persönlichkeit wie Kahr zum Generalstaatskommissar hätte rechtsradikale Kreise auch außerhalb Bayerns zum Losschlagen verleiten können,82 In Wirklichkeit hatte 76 Aufruf der bayerischen Staatsregierung vom 26. September 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 278a. 77 Verordnung der bayerischen Staatsregierung über einstweilige Maßnahmen zum Schutze und zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom 26. September 1923; Bayerische Staatszeitung vom 27. September 1923, Nr. 224. Zitiert nach Huber, Dok. 3, Nr. 278c. 78 Schulze, S. 264. 79 Vgl. Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 1, Nr. 83 Fn. 10 (S. 380 f.). 80 Ebd., Fn. 11. 81 RGBI. I, S. 905. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 265. 82 Sitzung der Ministerpräsidenten und Gesandten der Länder in der Reichskanzlei am 24. Oktober 1923; Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 2, Nr. 174 (S. 727).

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die Reichsregierung zu weitergehenden Vermutungen Anlaß: Der bayerische Ausnahmezustand barg die Gefahr in sich, daß die Zusammenfassung aller bayerischen Machtmittel in der Hand des Generalstaatskommissars dazu dienen könnte, an der Stelle einer Teilaktion "Unverantwortlicher" eine alle Widerstandskräfte des Landes vereinende, von der Landesexekutive geleitete Gesamtaktion gegen den Berliner Kurs vorzubereiten.83 Auf diesem Hintergrund bot die Verhängung des Ausnahmezustands durch das Reich die Chance, nicht nur die bewaffneten Verbände, sondern zugleich die bayerischen Landesorgane zu disziplinieren. Stresemann setzte freilich weiterhin auf Verhandlungen mit Bayern. Entgegen der Forderung der sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder, die am 27. September darauf drängten, die Außerkraftsetzung der bayerischen Ausnahmeverordnung gemäß Art. 48 Abs. 4 Satz 2 zu verlangen,S4 wollte der Kanzler ein solches Risiko nicht eingehen: wenn man nicht die Sicherheit habe, daß Bayern diesem Ersuchen unverzüglich stattgebe, sei es besser, daß man ein derartiges Ersuchen erst gar nicht an die bayerische Regierung richte. Bei diesem Kurs blieb es auch, nachdem Kahr am 29. September den bayerischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden "jede Mitwirkung beim Vollzuge" des Republikschutzgesetzes verboten hatteS5 und noch am selben Tag trotz eines Haftbefehls des Oberreichsanwalts - den ehemaligen Korvettenkapitän Ehrhardt, den Führer des Kampfbundes "Wiking", im Kraftwagen nach München bringen ließ.86 Im Reichskabinett fand der Vorschlag des Reichsjustizministers Radbruch (SPD), das Verfahren der Reichsaufsicht einzuleiten (Art. 14, 15) und den Staatsgerichtshof anzurufen, nur bei dem sozialdemokratischen Innenminister Sollmann Zustimmung.87 Und schon am 27. September hatte Stresemann dem bayerischen Ministerpräsidenten telefonisch zugesichert, das Reich beabsichtige nicht, wie in der präsidentiellen Verordnung von 26. September vorgesehen, einen zivilen Regierungskommissar zu ernennen.8s Vor dem Reichstag allerdings beharrte die Reichsregierung ausdrücklich auf ihrem Rechtsstandpunkt, daß das Reichsrecht "unmittelbar" dem Landesrecht vorgehe.89

Vgl. Huber 7, S. 348. Ferner zu den Motiven Kahrs: Schwabe, S. 113. Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 1, Nr. 83. 85 Erlaß des Generalstaatskommissars Dr. v. Kahr betreffend die Einstellung des Vollzugs des Republikschutzgesetzes vom 29. September 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 279. 86 Vgl. Huber 7, S. 366; dort auch zu den weiteren Auswirkungen des Kahrschen Sistierungserlasses. 87 Ministerrat vom 1. Oktober 1923, Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 1, Nr. 97. 88 Aufzeichnung Stresemanns über das Ferngespräch mit v. Knilling am 27. September 1923. Text: Stresemann, S. 132 f. 89 Reichskanzler Stresemann am 6. Oktober im Reichstag, Verhandlungen des Reichstags, Bd. 361, S. 11939. 83 84

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3. Kap.: Reich und Länder

b) Überschattet wurden diese Auseinandersetzungen von einem neuen Konflikt: der Inpflichtnahme der 7. Reichswehrdivision durch die bayerische Regierung. Am 27. September 1923 erschien im "Völkischen Beobachter", dem in München erscheinenden Organ der NSD AP, ein gegen den Reichskanzler und den Chef der Heeresleitung gerichteter antisemitischer Hetzartikel: "Die Diktatoren Stresemann-Seeckt" .90 Reichswehrminister Geßler verbot tags darauf gemäß der Verordnung des Reichspräsidenten vom 26. September 1923 den Druck und den Vertrieb des "Völkischen Beobachters" und übermittelte diese Verfügung durch Fernspruch an das Wehrkreiskommando VII in München. 91 Dessen Befehlshaber, General von Lossow, weigerte sich trotz mehrfacher Aufforderung Geßlers, das Verbot zu vollziehen 92 und drahtete schließlich nach Berlin: Generalstaatskommissar hat gegen bewaffnetes Einschreiten wegen schwerster Gefährdung der öffentlichen Sicherheit Einspruch erhoben. Da nach letzter mündlicher Weisung offener Konflikt mit Staatskommissar vermieden werden soll und von mir auch unter allen Umständen vermieden werden wird, ist Befehl unausführbar. Bericht folgt. 93

Den angekündigten Bericht reichte Lossow fünf Tage später nach; er begnügte sich damit, die Bedenken von Kahrs zu referieren. 94 In der Woche darauf eskalierte der Streit95 : Der Chef der Heeresleitung forderte den Befehlshaber des Wehrkreiskommandos VII vergeblich auf, seinen Abschied zu nehmen. Ein Gespräch zwischen Reichswehrminister Geßler und dem Stellvertreter von Lossows, Generalmajor Kreß von Kressenstein, der als Vermittler auftrat, verlief ergebnislos; daraufhin brach die bayerische Regierung den dienstlichen Verkehr mit dem Reichswehrminister ab. Am 20. Oktober schließlich verfügte Geßler die Enthebung Lossows von seinen Stellungen als Befehlshaber des Wehrkreiskommandos VII, als Kommandant der 7. Division und als bayerischer Landeskommandant und betraute Kreß von Kressenstein mit dessen Funktionen. Nun sagte sich Bayern offen von der Reichsverfassung los. Im Aufruf vom 2. Oktober 192396 gab die bayerische Landesregierung bekannt, sie nehme "im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Bayern und zur Wahrung der bayerischen Belange bis zur Wiederherstellung Text: Deuerlein, S. 74 ff. Huber, Dok. 3, Nr. 282. 92 Vgl. Huber 7, S. 368 f. 93 Huber, Dok. 3, Nr. 282. 94 Vgl. den Bericht Lossows an Geßler vom 6. Oktober (Text: Huber, Dok. 3, Nr. 284) einerseits und das Schreiben Kahrs an Lossow vom 4. Oktober (ebd., Nr. 283) andererseits. 95 Zum Folgenden Huber 7, S. 369. 96 Huber, Dok. 3, Nr. 292. 90 91

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des Einvernehmens zwischen Bayern und dem Reich den bayerischen Teil der Reichswehr ihrererseits als Treuhänderin in Pflicht", setzte den General von Lossow als "bayerischen Landeskommandanten" ein und beauftragte ihn mit der "Weiterführung der bayerischen Division" .97 Damit waren die in Bayern stationierten Truppenteile dem Oberbefehl des Reichspräsidenten entzogen und im Ergebnis für den Bereich der Militärgewalt der Rechtszustand wiederhergestellt, wie er im Kaiserreich gegolten hatte. 98 Nachdem der Chef der Heeresleitung der bayerischen Regierung einen "gegen die Verfassung" gerichteten "Eingriff in die militärische Kommandogewalt" ,99 die Reichsregierung ihr gar "offenen Verfassungsbruch"l00 vorgeworfen hatte, schob das Staatsministerium eine rechtliche Begründung nach und erklärte lapidar: Die Anordnung des bayerischen Gesamtministeriums vom 20. Oktober, welche die Dienstenthebung des Generals von Lossow für Bayern außer Wirksamkeit gesetzt hatte, stützt sich auf Art. 48 Abs. 4 der Reichsverfassung ... 101

Worauf sich die Inpflichtnahme der 7. Division stützen sollte, blieb offen. Demgegenüber beharrte die Reichsregierung auf der Verfassungswidrigkeit des bayerischen Vorgehens;102 bei diesen verbalen Protesten blieb es allerdings auch. Lossow und Kahr bereiteten währenddessen in München den Marsch auf Berlin vor 103 : bis zum 28. Oktober waren 10 000 Mann an der sächsisch-bayerischen Grenze aufmarschiert.l 04 IV. Sachsen und Thüringen 1923

Der Konflikt mit Bayern überschnitt sich mit dem militärischen Eingreifen des Reichs in Sachsen und Thüringen. Im September 1923 nämlich hatte das Exekutivkomitee der "Komintern" beschlossen, in Deutschland die Revolution auszulösen. lOS Den "deutschen Oktober" sollten kommunistische Minister in den Landesregierungen Sachens 97 Ebd. Wortlaut der Verpflichtungsformel für die Angehörigen der 7. Division: ebd., Nr.293. 98 Vgl. oben Erstes Kapitel B IV 2 a. 99 Befehl des Chefs der Heeresleitung General von Seeckt an das Reichsheer vom 22. Oktober 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 294. wo Aufruf der Reichsregierung vom 23. Oktober 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 295. 101 Erklärung der bayerischen Staatsregierung vom 24. Oktober 1923. Text: Huber. Dok. 3, Nr. 296. 102 Erwiderung der Reichsregierung vom 24. Oktober 1923: "Eine einstweilige Anordnung einer Landesregierung auf Grund des Art. 48 darf sich zum erklärten Willen des Reichspräsidenten ... nicht in Widerspruch setzen." Text: Huber, Dok. 3, Nr. 297. 103 Vgl. Deuerlein, S. 86 f., Dok. 62, 68; Fenske, S. 215 f. 104 Vgl. Facius, S. 467. 105 Vgl. Huber 7, S. 374.

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3. Kap.: Reich und Länder

und Thüringens vorbereiten,106 ein Zwischenziel, das am 9.110. Oktober 1923 in Sachsen, am 16. Oktober in Thüringen erreicht worden war. 107 1. In Sachsen verbot nach der Regierungsumbildung der Befehlshaber des Wehrkreises IV (Dresden), Generalleutnant Müller, gestützt auf die Verordnung des Reichspräsidenten vom 26. September 1923 108 , die "Proletarischen Hundertschaften" sowie weitere Organisationen und ordnete deren Entwaffnung an. 109 Der kommunistische Finanzminister Böttcher reagierte sofort: noch am gleichen Tag forderte er in Leipzig auf einer kommunistischen Versammlung: "Das Proletariat muß sofort bewaffnet werden ... "110. In der anschließend verabschiedeten Resolution hieß es u. a., auch nach dem Verbot der oben erwähnten Organisationen müßten "diese Kampfmittel"111 erst recht ausgebaut werden, ferner wurde gefordert, "mit allen Mitteln zu kämpfen, um die mit dem Ermächtigungsgesetz ll2 geplante Diktatur Stinnes unmöglich zu machen ... "113. Die Reichsleitung versuchte nun, die Wirksamkeit der präsidentiellen Ausnahmegewalt ultimativ einzufordern. Der Befehlshaber des Wehrkreises IV richtete - auf Weisung des Reichswehrministers und nach Verständigung mit dem Reichspräsidenten 114 - ein Schreiben an den sächsischen Ministerpräsidenten Zeigner, in dem er dazu aufforderte, sich "bis 18. Oktober, 11 Uhr vormittags" zu erklären, "ob sich das Gesamtministerium dem Geiste und dem Wortlaut nach mit den Ausführungen des Ministers Böttcher einverstanden erklärt und in diesem Sinne die Regierung weiter führen will, oder ob es entgegen den Äußerungen des Ministers gewillt ist, nach meinen Anweisungen zu handeln"115. Das Schreiben blieb ohne Antwort. Nachdem schon am 21. /22. Oktober Dresden, Leipzig, Meißen und Pirna von der Reichswehr besetzt worden waren,1l6 forcierte die Reichsleitung gegen Ende des Monats die Lösung des sächsischen Problems. Stresemann kündigte in einem Schreiben an Zeigner Zwangsmaßnahmen gegen Sachsen an: Ebd. Vgl. Huber 6, S. 806 f., 816. 108 Vgl. oben III 2 a. 109 Schreiben des Generalleutnant Müller an den sächsischen Ministerpräsidenten Dr. Zeigner vom 13. Oktober 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 291. 110 Zitiert aus dem Schreiben des Generalleutnant Müller vom 17. Oktober 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 292. 111 Ebd. 112 Zum Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 vgl. unten Viertes Kapitel A I 1. 113 Huber, Dok 3, Nr. 292. 114 So Huber 7, S. 378. 115 Schreiben vom 17. Oktober 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 292. 116 Vgl. Huber, Dok. 3, S. 288. 106

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Die Propaganda der Kommunistischen Partei in Sachsen hat unter Führung der Ihrem Kabinett angehörenden kommunistischen Mitglieder Formen angenommen, die den gewaltsamen Sturz der Reichsverfassung und ihre Zertrümmerung zum Ziele haben und herbeiführen können ... Im Auftrage der Reichsregierung fordere ich Sie hierdurch auf, den Rücktritt der sächsischen Landesregierung zu vollziehen, weil die Teilnahme kommunistischer Mitglieder an dieser Landesregierung angesichts dieser Vorgänge mit verfassungsmäßigen Zuständen unvereinbar ist ... Falls eine Neubildung der Regierung auf anderer Grundlage ohne Mitwirkung kommunistischer Mitglieder nicht sofort herbeigeführt und dadurch Ruhe, Sicherheit und Ordnung des Landes weiter gefährdet werden sollte, wird der Inhaber der vollziehenden Gewalt einen Reichskommissar bestellen, der die Verwaltung des Landes bis zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände in die Hand nimmt. 1l7

Ministerpräsident Zeigner indes bezeichnete das Verlangen der Reichsregierung als "nach der Reichsverfassung unzulässig"H8; nur der sächsische Landtag sei legitimiert, die sächsische Regierung abzuberufen, und solange werde diese auf ihrem Posten ausharren. H9 Am nächsten Tag, dem 29. Oktober, ermächtigte der Reichspräsident den Reichskanzler, "für die Dauer der Geltung dieser Verordnung Mitglieder der sächsischen Landesregierung und sächsischen Landes- und Gemeindebehörden ihrer Stellung zu entheben und andere Personen mit der Führung der Dienstgeschäfte zu betrauen. "120 Der Reichskanzler also - und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, der Reichswehrminister als Inhaber der vollziehenden Gewalt 121 - war nunmehr mit der Durchführung der Aktion gegen Sachsen betraut. Die Pläne der Reichswehr, die Verwaltung Sachsens durch einen Reichskommissar zum Ausgangspunkt einer weitgreifenden politischen Umgestaltung zu machen, 122 ließen sich jetzt schwerlich verwirklichen. Noch am 29. Oktober bestellte Stresemann den früheren sächsischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Reichsjustizminister Heinze (DVP) zum Reichskommissar für Sachsen. Ferner instruierte ihn der Reichskanzler fernmündlich über das weitere Vorgehen der Zentralgewalt: Text: Huber, Dok. 3, Nr. 270. Schreiben des sächsischen Ministerpräsideten Dr. Zeigner an den Reichskanzler Dr. Stresemann vom 28. Oktober 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 271. 119 Ebd. 120 Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiete des Freistaats Sachsen nötigen Maßnahmen vom 29. Oktober 1923, RGBI. 1923 I, S. 995. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 272. Während also die amtliche Überschrift (nicht abgedruckt bei Huber, ebd.) den zweiten Absatz des Art. 48 nannte, war in der Eingangsformel der präsidialen Verordnung zum einen zwar allgemein auf den "Artikel 48" Bezug genommen, zum anderen aber lediglich das Schutzobjekt des Absatzes 2, die "öffentliche Sicherheit und Ordnung", ausdrücklich erwähnt. Zur Streit um die Rechtsgrundlage dieser Verordnung vgl. unten B III 3 a. 121 Zu den Meinungsverschiedenheiten im Reichskabinett wegen des Vorgehens in Sachsen vgl. Huber 7, S. 379 f. 122 Vgl. dazu Hürten, Einleitung, in: ders., Krisenjahr, S. XVI f. 117

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3. Kap.: Reich und Länder

1. Der Zweck der Verordnung ... ist die Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände. 2. Mit verfassungsmäßigen Zuständen ist die Teilnahme kommunistischer Mitglieder an der Regierung, deren Partei zu Gewalttaten auffordert, unvereinbar. 3. Zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände ist die Bildung einer neuen Regierung erforderlich, hinter der die Mehrheit des Landes steht und an der die Kommunisten nicht teilnehmen. 4. Solange eine derartige Regierung nicht gebildet ist, gehen die Rechte auf den Reichskommissar über. 5. Der Reichskommissar ist angewiesen, die Herstellung einer solchen neuen Regierung möglichst zu unterstützen. 123

Die Ziele der Reichsleitung waren innerhalb von zwei Tagen erreicht. Noch am 29. Oktober - sehr wahrscheinlich vor der telefonischen Instruktion Heinzes durch Stresemann 124 - teilte der neu ernannte Reichskommissar der sächsischen Landesregierung mit: "Ich bin durch die Reichsregierung ... zum Reichskommissar für Sachsen ernannt. Die sächsischen Minister sind hiermit ihrer Ämter enthoben. "125 Kurz nach 14.00 Uhr waren die Ministerien geräumt, Finanzministerium und Landtag militärisch besetzt, auch durfte der Landtag entsprechend einer Verfügung Heinzes keine Sitzung abhalten. 126 In einem Aufruf hatte der Reichskommissar der sächsischen Bevölkerung mitteilen lassen: "Der Reichspräsident hat auf Grund der Reichsverfassung Art. 48 Absatz 1 die bisherige sächsische Regierung ihres Amtes enthoben ... "127. Das abgesetzte sächsische Staatsministerium bezeichnete in dem Aufruf vom 29. Oktober das Einschreiten des Reiches als "Staatsstreich"128, doch einen Tag später gab Zeigner dem sächsischen Landtag bekannt, daß er das Aufzeichnung des Reichskanzlers in: Stresemann, S. 189 ff. Dazu Heinze am 6. November 1923 vor der Reichstagsfraktion der DVP: er habe sofort Zeigner abgesetzt und Männer zur Führung eines Ministeriums gesucht, doch Stresemann sei ihm (telefonisch) in den Arm gefallen. Vgl. Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 2, S. 880, Fn.3. 125 Schreiben vorn 29.0ktober 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 273. 126 Vgl. Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 2, S. 877 Fn. 12. Bei der "Bekanntmachung" des Generalleutnant Müller vorn 29. Oktober (Text: Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 99) dürfte es sich um den Vollzug dieser Verfügung gehandelt haben. Die zeitgenössische Literatur ging davon aus, es habe sich um eine Verfügung des Inhabers der vollziehenden Gewalt, nicht des zivilen Reichskommissars gehandelt; vgl. Jacobi, S. 119 Fn. 3; PoetzschHeffter, Staatsleben 1, S. 99. In einern telefonischen Bericht aus Dresden vorn 30. Oktober wird darüber hinausgehend mitgeteilt, Generalleutnant Müller habe angeordnet, daß nicht nur keine Plenarsitzung, sondern im Landtagsgebäude auch keine Ausschuß- und Fraktionssitzungen stattfinden sollten (abgedruckt in Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 2, S. 882 Fn.1). Ebenso Lipinski, S.7l. 127 Text: Schultheß, S. 288. 128 Aufruf der Regierung des Freistaates Sachsen vorn 29. Oktober 1923. Text: Schultheß, S.289. 123

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A. Historisch-politischer Teil

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Amt des Ministerpräsidenten niederlege. 129 An seiner Stelle wählte die Volksvertretung am 31. Oktober den Sozialdemokraten Fellisch. 130 Das vom neuen Ministerpräsidenten gebildete Minderheitskabinett bestand ausschließlich aus Sozialdemokraten - Koalitionsverhandlungen mit den bürgerlichen Parteien waren gescheitert. l3l Am 1. November schließlich hob der Reichspräsident die Verordnung vom 29. Oktober auf. 132 2. In Thüringen verlief das Einschreiten des Reichs weniger dramatisch. Seit dem 17. Oktober 1923 war die "Regierung der republikanischen und proletarischen Verteidigung" 133 an der Macht. Das von dem Sozialdemokraten Frölich geführte Kabinett zählte auch drei kommunistische Mitglieder: Korsch, Neubauer und Tenner. 134 Zum Konflikt kam es, nachdem Generalleutnant Reinhardt, der Befehlshaber des Wehrkreises V (Stuttgart), als Inhaber der vollziehenden Gewalt die Auflösung der "proletarischen Hundertschaften" verfügte. 135 Das Kabinett Frölich sträubte sich gegen das Verbot dieser bewaffneten Verbände, deren Zusammenfassung zu einer einheitlichen "Roten Armee" von der KPD schon in Angriff genommen worden war 136 . General Reinhardt warf der thüringischen Staatsregierung daraufhin vor, sie habe nicht für die Durchführung seiner Befehle gesorgt,137 beauftragte den Kommandeur der 3. Kavalleriedivision, Generalleutnant Hasse, die Auflösung und Entwaffnung der Hundertschaften durchzuführen,138 und unterstellte ihm zu diesem Zweck die Thüringer LandespolizeL139 Am 5. November begann die Reichswehr, in thüringische Städte einzumarschieren und die wichtigsten öffentlichen Gebäude zu besetzen,14o Tags darauf versicherte zwar der Reichskanzler dem thüringischen Ministerpräsidenten, zwischen ihm und Frölich bestünden "keinerlei Differenzen"141, unterstrich Ebd. Schultheß, S. 289. 131 Dazu Hohlfeld, S. 107 ff.; Huber 7, S. 382 f. 132 RGBI. 1923 I, S. 1039. 133 Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Frölich vom 17. Oktober 1923. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 274. 134 Vgl. Huber 6, S. 816. 135 Vgl. Huber 7, S, 385. 136 Vgl. Huber 7, S. 384. 137 Schreiben des Generalleutnant Reinhardt an die Thüringische Staatsregierung vom 5. November 1923, zitiert nach Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 2, S. 994 Fn. 3. Auszug: Huber Dok. 3, Nr. 275. 138 Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 2. S. 994 Fn. 3. 139 Ebd. Insoweit nicht abgedruckt bei Huber, Dok. 3, Nr. 275. 140 Vgl. Facius S. 471. 141 Bericht über die Unterredung zwischen dem Reichskanzler, dem Reichswehrminister und dem thüringischen Ministerpräsidenten. Text: Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 2, Nr. 230, S. 994, Fn. 1. 129

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3. Kap.: Reich und Länder

aber zugleich, daß er eine kommunistische Regierungsbeteiligung "nicht für tragbar"142 halte, weil die Kommunisten gegen die Verfassung und den Bestand des Reiches seien. Am 8. November zog die Reichswehr in Weimar ein 143 ; Korsch und Neubauer flüchteten 144 . Vier Tage später legten sämtliche kommunistischen Kabinettsmitglieder formell ihre Ämter nieder. 145 Die KPD hatte dem militärischen Druck weichen müssen, denn die Machtverhältnisse im Reich hatten sich inzwischen entscheidend zu ihren Ungunsten gewendet: in Bayern war der Hitlersche Putschversuch gescheitert,146 der "Marsch auf Berlin" fand nicht statt und schon am 8. November war der Oberbefehl über die Wehrmacht sowie die vollziehende Gewalt für das ganze Reichsgebiet auf General von Seeckt, den Chef der Heeresleitung, übertragen worden. 147 V. Zusammenfassung

Zwei gegenläufige Tendenzen kennzeichneten die Anwendung des konstitutionellen Ausnahmegewalt in den Konflikten zwischen dem Reich und den Ländern. Die Länder - das gothaische Revolutionsregime im März 1920, Bayern und Sachsen im Sommer/Herbst 1923 - nutzten den vierten Absatz des Art. 48 zur Durchsetzung einer gegen die Zentralgewalt gerichteten föderalistischen Politik. Unitarisierend wirkte demgegenüber die präsidiale Diktaturgewalt in den Händen der Reichsleitung: Schon allein die Verhängung des militärischen oder zivilen Ausnahmezustandes modifizierte die in der Reichsverfassung vorgesehene Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern zugunsten der Zentralgewalt. Der Übergang der vollziehenden Gewalt, wie er für den militärischen Ausnahmezustand typisch war, gleichermaßen das dem zivilen Ausnahmezustand eigentümliche System der Weisungsbefugnisse von Reichskommissaren gegenüber den Landesbehörden tangierte die nach der Reichsverfassung grundsätzlich den Ländern vorbehaltene Verwaltungszuständigkeit (vgl. Art. 5, 14). Ferner war das Recht des Reichspräsidenten oder der von ihm beauftragten Kommissare und Militärbefehlshaber, gesetzvertretende Verordnungen zu erlassen, Ebd. Vgl. Facius, S. 471. 144 Vgl. Facius S. 472. 145 Schultheß, S. 311. 146 Vgl. dazu Huber 7, S. 402. 147 Verordnung des Reichspräsidenten betreffend den Oberbefehl über die Wehrmacht und die Ausübung der vollziehenden Gewalt vom 8. Dezember 1923; RGBI. I, S. 1084. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 306. 142 143

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nicht auf die Materien beschränkt, welche die Weimarer Verfassung dem Reich ausdrücklich zubilligte (Art. 6 - 11) und konkurrierte deshalb nicht nur mit dem Gesetzgebungsrecht des Reichstags, sondern darüber hinaus mit der legislativen Zuständigkeit der Länder. Und schließlich berührte die dem Reichspräsidenten zugesprochene Befugnis, außerordentliche Gerichte einzusetzen, das in den Art. 102 - 108 niedergelegte System von Reichs- und Ländergerichtsbarkeit. In gleichem Maße betraf es die verfassungsmäßige Zuständigkeit der Länder, wenn die Reichsorgane sich nicht auf die überlieferten Organisationselemente des Belagerungszustandsrechts stützten, sondern zur Bewältigung spezieller Krisenlagen besondere Instrumentarien schufen und zu diesem Zweck Länderkompetenzen an sich zogen - so etwa in den von Bayern heftig befehdeten Republikschutzverordnungen. Hinzu kommt ein weiteres Moment. Die Zusammenfassung von staatlichen Kompetenzen in der Hand von Reichsorganen, wie sie unter Berufung auf den Art. 48 Abs. 2 vorgenommen worden war, bewirkte nicht nur die Bündelung von Machtbefugnissen zur Abwehr eines außerhalb der staatlichen Institutionen stehenden Gegners, sondern verschob zugleich das Kräfteverhältnis innerhalb der staatlichen Organisation selbst - insbesondere zwischen Reich und Ländern. In den Jahren 1919/20 in Braunschweig, in Sachsen-Gotha und den übrigen thüringischen Kleinstaaten, im Spätsommer/Herbst 1923 in Sachsen, Thüringen und in Bayern betrieben die Landesregierungen oder Teile von ihnen den gewaltsamen Umsturz auch im Reich, förderten oder schufen sich gar eigene bewaffnete Verbänden und entzogen sich der Autorität der Reichsgewalt. In dieser Situation bewirkte die Konzentration von Notstandskompetenzen in der Hand des Reiches notwendig eine Konterkarierung der gegen die Zentralgewalt gerichteten Landespolitik, disziplinierte eine Maßnahme aufgrund des Art. 48 Abs. 2 zugleich die widerstrebenden Landesorgane. Dieser Ambivalenz der Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten entsprach die zentrale Bedeutung, welche ihr nicht nur als Auslöser bundesstaatlicher Konflikte - wie bei den Auseinandersetzungen mit Bayern 1921 - 23 - sondern zugleich als dem wesentlichen Instrument der Reichsleitung zur Entscheidung existentieller Streitigkeiten zwischen dem Reich und dem Ländern zukam. Mit Hilfe dieser Verfassungsnorm versuchte die Zentralgewalt sich gegen die Regierungen der thüringischen Staaten - auch in Sachsen-Gotha - durchzusetzen. In der Bürgerkriegslage des Jahres 1923 griff das Reich in Sachsen unter Berufung auf den Art. 48 Abs. 2 ein; den von der Regierung Kahr verhängten Ausnahmezustand suchte es durch eine präsidiale Ausnahmeverordung zu konterkarieren; die kommunistischen Mitglieder der thüringischen Regierung wurden mit dem Mittel des militärischen Ausnahmezustandes aus dem Amt gedrängt.

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3. Kap.: Reich und Länder

Das Instrumentarium der Reichsleitung entsprach zum einen den überlieferten Organisationselementen des Belagerungszustandsrechts. Den Beauftragten des Reichspräsidenten waren Weisungs rechte eingeräumt - ausdrücklich den zivilen Reichskommissaren in Thüringen und Sachsen-Gotha 1920, stillschweigend dem Reichswehrminister oder den militärischen Befehlshabern durch die Übertragung der vollziehenden Gewalt in Sachsen und Thüringen 1923. In Thüringen kam es so zur Einverleibung ganzer Verwaltungszweige - der thüringischen Landespolizei - in die Befehlshierarchie der Reichswehr, und schon in Sachsen-Gotha 1920 hatte der Reichskommissar aufgrund seiner Ausnahmevollmachten das Landesbildungsamt nebst anderen Behörden der Landeszentralbehörde angegliedert. In Sachsen 1923 erteilte der Befehlshaber des Wehrkreises IV selbst der Landesregierung Weisungen. Ergänzt wurden diese Befugnisse - für die Disziplinierungsfunktion der präsidialen Ausnahmegewalt weniger bedeutsam - durch die Kompetenzen zur Rechtssetzung sowie zur Einsetzung außerordentlicher Gerichte. Zum anderen bediente sich das Reich einer Reihe von Befugnissen, die im klassischen Maßnahmekatalog des Ausnahmezustandes nicht zu finden waren. Einen Fremdkörper im überlieferten Ausnahmerecht bildeten etwa die Maßnahmen, auf deren Grundlage Reichskommissar Holle die Neuwahlen der gothaischen Landesversammlung betrieb, oder auch das Verbot des Zusammentritts des sächsischen Landtags durch den Reichskommissar Heinze. Ebensowenig fand die Absetzung von Landesregierungen - für die sieben thüringischen Staaten angedroht, in Gotha und Sachsen sowie in Braunschweig praktiziert - im monarchischen Belagerungszustandsrecht seine historischen Wurzeln. B. Staatsrechtlicher Teil

Angesichts der Auseinandersetzungen zwischen Reich und Ländern hatte die Verfassungsrechtswissenschaft im wesentlichen die folgenden Probleme zu lösen. Erstens war es notwendig, die Ausnahmegewalt der Länder zu der des Reiches abzugrenzen. Zweitens bedurfte es der Klärung, wie sich darüber hinaus die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten zu den verfassungsmäßigen Kompetenzen der Gliedstaaten auf den Gebieten der Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz verhielten. Drittens gebot die Anwendung der Art. 48 Abs. 2 als ein gegen die Länder gerichtetes Disziplinierungsinstrument eine staatsrechtliche Erörterung.

B. Staatsrechtlicher Teil

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I. Die AusnahmegewaIt der Länder

1. Die Reichweite der gliedstaatlichen Befugnisse

a) Die Reichsverfassung sprach den Ländern ausdrücklich das Recht zu, bei Gefahr in Verzug "einstweilige Maßnahmen" zu treffen (Art. 48 Abs. 4). Strittig war, ob darüber hinaus die Länder selbst diese Materie gesetzlich regeln durften. Das bayerische Gesamtministerium etwa hatte sich für die Verordnungen vom 24. Juli 1922 und 26. September 1923 neben Art. 48 Abs. 4 auf § 64 der bayerischen Verfassung berufen;148 eine ähnliche Regelung von weit geringerer politischer Brisanz - enthielt die oldenburgische Verfassung. 149 Grau 150 , Kohlheyer und Strupp151 sprachen sich gegen die Zulässigkeit solcher landesrechtlicher Regelungen aus; demgegenüber hielten Forsthoff152, Hatschek 153, Freytagh-Louringhoven,154 Nawiasky155 und Piloty156 diese unter mancherlei Einschränkungen - für rechtswirksam. Auch Vertreter der letztgenannten Auffassung betonten allerdings, daß "die Landesverfassung auf diesem Wege nicht die Möglichkeit" eröffnen dürfe, "einen landesrechtlichen Ausnahmezustand unter Umgehung des Art. 48 zu verhängen"157. Entscheidend für das Kräfteverhältnis zwischen Reich und Ländern blieben also Inhalt und Umfang der Befugnisse aus Art. 48 Abs. 4. b) Anhaltspunkte für die Bestimmung des Verhältnisses von Reichs- und Landesausnahmegewalt lieferte die in Art. 48 Abs. 4 ausdrücklich erwähnte Einschränkung, daß die Landesregierung nur bei "Gefahr im Verzug" Maßnahmen ergreifen dürfe. Die ganz herrschende Meinung folgerte in Anlehnung an die Interpretation der gleichlautenden strafprozessualen Formel, die Landesregierung sei nur zuständig, "wenn der durch die Angehung des ordentlichen Diktaturorgans, des Reichspräsidenten, bedingte Zeitverlust die Ausführung der Maßregeln vereiteln"158 könne. Dazu oben A III 2 u. 3a. Dazu Forsthoff, S.144. 150 Ders., Diktaturgewalt 1, S. 27 ff. 151 Ders., Ausnahmerecht, S. 189 ff. m.w.N. 152 Ders., S. 144. 153 Ders., S. 178 ff. 154 Ders., S. 153. 155 Ders., Verfassungsrecht, S. 203 ff. 156 Ders., Verfassungsurkunde, S. 151. 157 Forsthoff, S. 180. Ähnlich Hatschek, S. 180: " ... in Ergänzung des Reichsrechts ... "; Nawiasky, Verfassungsrecht, S. 205. Vgl. aber auch Freytagh-Louringhoven, S. 155. 158 Grau, Diktaturgewalt 1, S. 138 unter wörtlicher Berufung auf die Auslegung des § 98 StPO durch Löwe, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 15. Aufl., Anm. 4 zu § 98 (zitiert nach Grau, ebd.). Ähnlich Piloty, Streit, S. 145; Strupp, Ausnahmerecht, S. 194. 148 149

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3. Kap.: Reich und Länder

Entsprechend wurde die Befugnis der Landesregierung, "einstweilige" Maßnahmen zu treffen, von manchen Autoren ausgelegt: Die Landesregierung ist auf die Maßnahmen beschränkt, die zur Bekämpfung der Störung oder Gefahr bis zu dem Zeitpunkt erforderlich sind, in dem ein etwaiges Einschreiten des R. Pr. wirksam werden kann. "159

Aus diesen, die Ausnahmegewalt der Länder einschränkenden Grundsätzen folgerte man auch, daß die Landesregierung nicht einschreiten dürfe, "wenn der Reichspräsident in Kenntnis der Sachlage ein von der Landesregierung angeregtes Einschreiten seinerseits abgelehnt oder andere als die von ihr angeregten Maßnahmen als angebracht oder ausreichend erachtet und getroffen"160 habe. Dieser strengen Akzessorietät der gliedstaatlichen Befugnisse stellte insbesondere Forsthoff eine betont föderalistische Interpretation entgegen. Dieser Autor vertrat die "in den Voraussetzungen selbständige Natur des Ausnahmezustandes der Länder" 161. Den juristischen Hebel für ein solches Verständnis fand er in dem Ermessen, das dem jeweiligen Diktaturorgan bei der Entscheidung darüber, ob eine Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder Gefahr im Verzug vorlag, von der Reichsverfassung eingeräumt worden war. Die praktische Handhabung des Art. 48 Abs. 4 durch die Landesregierungen räume auf "mit dem Irrtum, daß zu jeder Zeit bei allen Trägern der Diktaturgewalt die Auffassung darüber, was unter öffentlicher Sicherheit und Ordnung zu verstehen sei und welche Maßnahmen zu ihrer Aufrechterhaltung getroffen werden müßten, stets die gleiche sei. "162 Dem entsprechend bezeichnete Forsthoff auch die anläßlich des Lossow-Streits l63 von der Reichsregierung geäußerte Rechtsauffassung, wonach sich die Landesregierung zu dem erklärten Willen des Reichspräsidenten nicht in Widerspruch setzen dürfe,164 als "irrig"165. Proföderalistisch argumentierte auch der ultrakonservative Staatsrechtler Freytagh-Louringhoven, der zwar weniger weitgehend als Forsthoff bei einem Widerspruch zwischen Reichs- und Landesrnaßnahmen denjenigen der Zentralgewalt den Vorrang einräumte,166 im übrigen aber eine Pflicht des Reichspräsidenten behauptete, "störende Eingriffe"167 zu unterlassen.

159 160 161 162 163

164 165 166 167

Schwalb, Befugnisse, Sp. 211. Anschütz, 1926, Rz. 16 a zu Art. 48. Ähnlich Schwalb, Befugnisse, S. 210. Forsthoff, S. 148. Ähnlich Strupp, Ausnahmerecht, S. 199. Forsthoff, S. 148. Vgl. oben A III 3 b. Vgl. oben A Fn. 102. Ders., S. 149. Vgl. aber auch unten d. Ders., S. 154 f. Ebd.

B. Staatsrechtlicher Teil

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c) "Nach Inhalt und Umfang steht die Diktaturgewalt der Landesregierungen der des Reichspräsidenten ... grundsätzlich gleich. "168 Darin war sich die Lehre einig. 169 Für das Verhältnis von Reich und Ländern bedeutsam war die daraus einhellig gezogene Konsequenz, daß die Länderregierungen "auch Reichsgesetze abändern, außer Kraft setzen, durch Einzelanordnungen durchbrechen"17o durften. Eingeschränkt waren die Befugnisse der Länder durch die "Einstweiligkeit der Maßnahmen"171; ferner durften sie "über die bewaffnete Macht nicht in der Art und dem Maße verfügen, wie dies dem Reichspräsidenten gemäß Abs. 2 (Art. 48, A. K.) und kraft seines Oberbefehls (Art. 47, A. K.)"172 zustand. Den Landesregierungen verblieb somit für den militärischen Ausnahmefall lediglich das Requisitionsrecht nach § 17 Abs. 1 Wehrgesetz. 173 d) Auf der Grundlage der oben skizzierten Auslegung des Art. 48 Abs. 4 betrachtete der überwiegende Teil der Staatsrechtslehre die bayerische Republikschutzverordnung vom 22. Juli 1922 als (reichs-)verfassungswidrig. 174 Dies lag nahe für die Vertreter der herrschenden Meinung, die von einer strengen Akzessorietät der Notstandsbefugnisse der Landesregierungen von denen der Zentralgewalt ausging, hatte doch das Reichsgesetz zum Schutze der Republik vom 18. Juli 1922 eine unmittelbar zuvor ergangene Ausnahmeverordnung des Reichspräsidenten in (formelle) Gesetzesform gegossen. 175 Von manchen wurde - darüber hinausgehend - die Rechtsgültigkeit der bayerischen Ausnahmeverordnung bestritten, weil sich der Grundsatz der Unantastbarkeit der Reichsverfassung nicht nur auf die in der Verfassungsurkunde verankerten Normen, sondern auch auf ein einfaches verfassungsänderndes Gesetz, mithin auf das Reichsgesetz zum Schutze der Republik erstrecke 176 , andere verneinten schlechthin ein Nullifikationsrecht der Einzelstaaten. 177 Anschütz, 1926, Rz. 16 zu Art. 48. Vgl. auch Grau, Diktaturgewalt I, S. 138 f. 170 Anschütz, 1926, Rz. 16 c zu Art. 48. Ebenso Grau, Diktaturgewalt I, S. 139 ff.; Forsthoff, S. 178, 180. 171 Vgl. oben Erstes Kapitel B IV 3 a. E. 172 Anschütz, 1926, Rz. 16 c zu Art. 48. Ähnlich Grau, Diktaturgewalt I, S. 147; Forsthoff, S. 166; Hatschek, S. 180. 173 Vgl. Grau, Diktaturgewalt I, S. 147 f.; Hatschek, S. 180 f. 174 Für die Rechtsgültigkeit der bayerischen Ausnahmeverordnung: Grau, Diktaturgewalt 1, S. 144 Fn. 1; Forsthoff, S. 163 ff.; Strupp, Ausnahmerecht, S. 197. Dagegen: Lobe, Einleitung, S. 9, Nawiasky, Verfassungsrecht S. 209; Piloty, Streit, S. 341; Preuß, Diktatur, S. 112 f.; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, S. 673 u. a. 175 Vgl. ausdrücklich Schwalb, Befugnisse, Sp. 210. Anders aber Grau, der von der Rechtsgültigkeit der bayerischen Republikschutzverordnung ausging; vgl. ders., Diktaturgewalt 1, S. 144 Fn.1. 176 Piloty, Streit, S. 341; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, S. 673. Ablehnend Grau, Diktaturgewalt 1, S. 141 Fn. 1; Forsthoff, S. 163 f.; Strupp, Ausnahmerecht, S. 197. 177 Nawiasky, Verfassungsrecht, S. 209. 168 169

8 Kun

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3. Kap.: Reich und Länder

Einhellig für verfassungswidrig hielt die Lehre die Diensteinsetzung Lossows als bayerischen Landeskommandanten und die Inpflichtnahme der 7. Reichswehrdivision: "Ein nackter Verfassungsbruch" kritisierte Anschütz.!78 Die Rivalität von Reichs- und Landesausnahmezustand im September 1923 wurde ganz überwiegend zugunsten des Reiches gelöst: "Die ausschließliche Geltung der Verordnung des Reichspräsidenten (vom 26. September 1923, A. K.) folgt ... aus der Tatsache, daß die einstweilige Maßnahme der Landesregierung der Maßnahme des Reichspräsidenten weichen muß"!79 meinte selbst ein betont föderalistischer Autor wie Forsthoff, und schon im Jahre 1922 hatten Strupp!80 und Lobe!8! darauf hingewiesen, daß landesrechtliche Maßnahmen ohne weiteres "hinfällig" würden, wenn der Reichspräsident seinerseits den Ausnahmezustand anordne.!82 2. Die Kontrolle durch das Reich Kollidierten Reichs- und Länderinteressen bei der Ausübung der Landesausnahmegewalt gemäß Art. 48 Abs. 4, stellte sich die Frage, mit welchen Instrumenten das Reich sich gegenüber einem widerstrebenden Gliedstaat durchsetzen konnte. Eine Möglichkeit war in Art. 48 Abs. 4 Satz 2 ausdrücklich geregelt: Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen.183

Im übrigen wurde über die Regeln, die bei einem Konflikt zwischen Reich und Ländern anzuwenden waren, zunächst lebhaft gestritten. In Betracht kamen insbesondere: - der Grundsatz "Reichsrecht bricht Landesrecht" mit der Möglichkeit, das Reichsgericht zur Überprüfung der Frage anzurufen, ob die landesrechtliehe Vorschrift - hier eine Maßnahme nach Art. 48 Abs. 4 - mit dem Reichsrecht vereinbar war (vgl. Art. 13); Anschütz, 1926, Rz. 16 c II. Vgl. auch Forsthoff, S. 166; Hatschek, S. 180 u. a. Forsthoff, S. 19l. 180 Ders., Ausnahmerecht, S. 194. 181 Ders., Einleitung, S. 9. 182 Anders wohl Freytagh-Louringhoven, S. 155. 183 Ein auf diese Vorschrift gestütztes Aufhebungsverlangen der Nationalversammlung vom 20. März 1920 ließ sich nicht durchsetzen (s. o. Zweites Kapitel, B II 4 b bb), ein pauschal gefaßter Beschluß des Reichstags vom 26. Juli 1924, der die Aufhebung aller "von der Reichsregierung oder von Landesregierungen ergangener oder aufrechterhaltener Verbote von politischen Parteien" forderte, wurde von der bayerischen Regierung befolgt, indem sie auf Art. 48 Abs. 4 und § 64 der bayerischen Verfassungsurkunde gestützte Verordnungen sowie die auf ihrer Grundlage ergangenen Rechtsakte aufhob (ausführlich Huber 6. S. 722 f.). 178 179

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- ein Vorgehen der Reichsregierung im Rahmen der Reichsaufsicht; - das Eingreifen des Reichspräsidenten mit der Reichsexekution; - eine Anrufung des Staatsgerichtshofs durch das Reich gemäß Art. 19; - die Aufhebung einer Landesdiktaturmaßnahme unmittelbar durch ein Reichsgesetz. Grau und Strupp, die unmittelbar nach dem Konflikt Bayern/Reich im Jahre 1922 diese Problematik ansprachen, stellten der Zentralgewalt keines der soeben beschriebenen Mittel zur Verfügung. 184 Dagegen wandte sich Preuß in einem Anfang 1923 erschienen Aufsatz. Dieser Autor vertrat die Anwendbarkeit des "unbedingt gültigen Fundamentalsatzes"185 Reichsrecht bricht Landesrecht, billigte Aufsichtsrnaßnahmen des Reichs gemäß Art. 15 186 und befürwortete die Anwendbarkeit der Reichsexekution ausdrücklich dann, wenn die Landesregierung das Aufhebungsverlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags nicht befolgte. 18? Zumindest was die Zu lässigkeit des schärfsten Instruments der Reichszentralgewalt, der Reichsexekution, anbetrifft, setzte sich die Preuß'sche Auffassung nach dem Herbst 1923 in der juristischen Literatur durch. Forsthoff etwa bestritt die Anwendbarkeit der Art. 13 und 15,188 hielt aber die Reichsexekution bei Nichtbefolgung eines Aufhebungsverlangens nach Art. 48 Abs. 4 Satz 2 für gerechtfertigt 189 und gestattete dem Reich darüber hinaus die Anrufung des Staatsgerichtshofes gemäß Art. 19. 190 Auch Grau 191 rückte auf dem Deutschen Juristentag im Jahre 1924 von seiner früheren Ansicht ab und plädierte jetzt sogar für die "Beseitigung" einer Landesregierung durch den Reichspräsidenten, sofern sie einem Aufhebungsverlangen nicht nachgekommen war.l 92 Nach einigem Zögern hatte die Doktrin ein rechtliches Instrument bereitgegestellt, mit Hilfe dessen der Reichspräsident eine den Interessen der Zentralgewalt zuwiderlaufende Anwendung des Art. 48 Abs. 4 zwangsweise zu unterbinden vermochte. Dogmatisch-formaler Angelpunkt der Frage, wie das Reich über ein Aufhebungsverlangen gemäß Art. 48 Abs. 4 Satz 2 hinaus gegen Notstandsmaßnahmen eines Gliedstaates vorgehen konnte, war die Qualifizierung der handeln184 Vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 140 f.; Strupp, Ausnahmerecht, S. 205. Grau verwies auf eine Anklage der Landesregierung vor dem Staatsgerichtshof gemäß Art. 59; dagegen Strupp und Preuß, Diktatur, S. 111. 185 Ders., Diktatur, S. 110. 186 Ebd., S. 110 f. 187 Preuß, Diktatur, S. 111 f. 188 Vgl. ders., S. 180 ff. 189 Ebd., S. 183. 190 Forsthoff, S. 182 f. 191 Ders., Art. 48, S. 113. 192 Ebd. Vgl. auch Brecht, S. 254.

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3. Kap.: Reich und Länder

den Landesregierung als Reichs- oder Landesorgan bzw. die Zuordnung der getroffenen Maßnahmen zum Reichs- oder Landesrecht. Galt die Landesregierung im Rahmen des Art. 48 Abs. 4 als Reichsorgan und waren von ihr erlassene Maßnahmen dem Reichsrecht zuzuordnen, lag es nahe, dem Reich die oben erwähnten Befugnisse zu versagen;193 umgekehrt sprach die Einordnung als Landesorgan bzw. LandesrechtI 94 dafür, der Zentralgewalt die betreffenden Instrumente in die Hand zu geben.1 95 3. Zusammenfassung Die ganz herrschende Meinung behauptete die Subsidiarität der Ausnahmegewalt der Länder (Art. 48 Abs. 4). Zwar waren die Befugnisse der Länderregierungen - mit Ausnahme der Militärgewalt - grundsätzlich denen des Reichspräsidenten gleichgestellt. Doch genossen Notstandsmaßnahmen nach Art. 48 Abs. 2 sowie andere vorn Reich erlassene Akte der Krisenbewältigung den Vorrang. In der praktischen Konsequenz betrachtete der überwiegende Teil der Staatsrechtsdoktrin die bayerische Republikschutzverordnung vorn 22. Juli 1922 für verfassungswidrig. Als nicht der Reichsverfassung entsprechend beurteilte die ganz herrschende Lehre die Diensteinsetzung von Lossows und die Inpflichtnahme der 7. Reichswehrdivision durch die bayerische Landesregierung; ferner wurde die Rechtswirksamkeit der bayerischen Ausnahmeverordnung vorn 26. September 1923 wegen der am selben Tag erfolgten Verhängung des Reichsausnahmezustandes überwiegend bestritten. Nach dem Herbst 1923 herrschte Einigkeit darüber, daß das Reich seinen Vorrang in der Anwendung des Art. 48 zumindest mit dem scharfen Instrument der Reichsexekution durchsetzen konnte. 11. Der unitarisierte Bundesstaat

Die Unitarisierung des Reiches, wie sie die Rezeption des Belagerungszustandsrechts ermöglichte, wurde von der ganz herrschenden Meinung gebilligt. 196 Die Reichweite der Eingriffsbefugnisse des Reiches in Länderkompetenzen aufgrund des Artikels 48 Abs. 2 war nur insoweit umstritten, 3;ls es sich um die 193 So Grau, Diktaturgewalt 1, S. 142 ff.; Strupp, Ausnahmerecht, S. 182. Anders Preuß, Diktatur, S. 110 ff.: Reichsorgan, aber Art. 13, 15 und 48 Abs. 1 anwendbar. 194 So Forsthoff, S. 178, 180. 195 Vgl. für die Reichsexekution Forsthoff, S. 183. 196 Kritisch wohl nur Henle, der die Verordnung zum Schutz der Republik vom 29. August 1921 wegen Verstoßes gegen Art. 14 für rechtswidrig erachtete.

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Zulässigkeit traditionell der Reichsexekution zugerechneter Maßnahmen handelte. 197 Soweit versucht wurde, die mit der Anwendung der präsidialen Ausnahmegewalt verknüpfte Unitarisierung des Reiches zu begründen, folgten die meisten Autoren der Grau'schen Unantastbarkeitslehre. 198 Freilich bedurfte es einer konstruktiven Rechtfertigung dafür, daß trotz des Grundsatzes der Unantastbarkeit die Notstandsmaßnahmen des Reichspräsidenten in offensichtlichen Widerspruch zu den Verfassungsnormen traten, welche die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern regelten. Anschütz etwa begründete die Verschiebung der Verwaltungszuständigkeiten mit der Gleichsetzung von präsidialer und parlamentarischer Gesetzgebungsgewalt: Soweit es sich bei der Übertragung der vollziehenden Gewalt um die Ausführung von Reichsgesetzen handele, erfülle auch eine Verordnung gemäß Art. 48 Abs. 2 den Begriff des Reichsgesetzes im Sinne des Art. 14; wenn der Reichspräsident auch die Ausführung von Landesgesetzen an Reichsorgane übertragen habe, stünde dem Artikel 5 nicht entgegen, denn die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung stelle keine Landes-, sondern eine Reichsangelegenheit dar. 199 Andere gingen davon aus, daß Art. 48 Abs. 2 ein vom Regelrecht abweichendes Sonderrecht enthalte,2oo das sowohl die Organisation als auch die Abgrenzung der Machtbefugnisse abweichend vom Normalzustand ändere 201 . Die bei der Ausübung der Diktatur eintretenden Verschiebungen in der internen und bundesstaatlichen Organisation gründeten sich - so die Anhänger dieser Auffassung - nicht auf die "ermächtigende", sondern auf die "organisatorische" Funktion des Art. 48. 202 Die sogenannte "Durchbrechungslehre" - zuerst von earl Schmitt und Ernst J acobi auf der Jenaer Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1924 vertreten - kam auf der Grundlage eines interpretatorischen Neuansatzes für das Verhältnis von Reichsausnahmegewalt und Länderkompetenzen zu im wesentlichen gleichen Ergebnissen wie die herrschende Meinung. 203 Ausgangspunkt der Schmitt/Jacobi'schen Argumentation war das Verhältnis von Grundrechtssuspension (Art. 48 Abs. 2 Satz 2) zu der in Satz 1 der Vorschrift enthaltenen Befugnis zum Ergreifen der "nötigen Maßnahmen". Während die h. M. 197 198 199

52 f.

Vgl. unten III 3. Zur Unantastbarkeitslehre s. o. Zweites Kapitel B II 3 c. Vgl. Anschütz, 1926, Rdn. 14 zu Art. 48. Ähnlich auch Nawiasky, Auslegung, S. 42 f.,

Vgl. Nawiasky, Auslegung, S. 47; Haentzschel, Verfassungsschranken, S. 219. Vgl. Nawiasky, Auslegung, S. 47 f.; Grau, Diktaturgewalt 2, S. 439. 202 Vgl. Grau, Diktaturgewalt 2, S. 443. 203 Vgl. die Zusammenfassung bei Jacobi, S. 118 ff. Zu den Unterschieden von "Durchbrechungsiehre" und h. M. vgl. unten Viertes Kapitel B 12 b bb. 200 201

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- im Anschluß an Grau204 - von der Aufzählung der suspendierbaren Grundrechte in Satz 2 auf die Unantastbarkeit der übrigen Verfassungs artikel durch "Maßnahmen" im Sinne des Satzes 1 schloß, löste Schmitt die beiden Sätze aus diesem Zusammenhang, indem er postulierte: ... Satz 2 enthält gegenüber dem Satz 1 nicht eine Einschränkung, sondern eine neue, zu der Befugnis aus Satz 1 hinzukommende Befugnis, nämlich die aufgezählten Artikel der Verfassung außer Kraft zu setzen, ohne selber Maßnahmen zu treffen. 205 Limitierend wirke die Aufzählung aber auf die in Satz 2 ausgesprochene Befugnis zur Grundrechtssuspension: Will der Reichspräsident Grundrechte außer Kraft setzen, so ist er durch die Aufzählung beschränkt. 206 Diese Preisgabe des Unantastbarkeitsdogmas eröffnete die Möglichkeit, die Übertragung an sich den Ländern vorbehaltener Zuständigkeiten auf das Reich im Notstandsfall wie folgt zu begründen: Der Reichspräsident kann ... durch Verfügung wie Rechtsverordnung die den organisatorischen Aufbau des Reichs betreffenden Verfassungsartikel durchbrechen, d. h. unter Fortgeltung des verfassungsmäßigen Grundsatzes abweichende Anordnungen allgemeiner Art für den Einzelfall geben. 207 Was den Versuch anbelangt, die Zuständigkeits verschiebungen im Ausnahmefall mit der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern in Übereinstimmung zu bringen, so unterschieden sich demnach Schmitt und Jacobi mit ihrer Durchbrechungslehre lediglich terminologisch von denjenigen Anhängern des Unantastbarkeitsgrundsatzes, welche die Abweichung von Verfassungsnormen auf die "organisatorische" Funktion des Art. 48 stützten. Die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern stand nach alledem zur Disposition des Reichspräsidenten. III. Die Reichsintervention

1. Exkurs: Exekution, Intervention und Belagerungszustand im Deutschen Bund und Bismarckreich a) Die Verfassungslage im Deutschen Bund Im Deutschen Bund bediente sich die Zentralgewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen der "Bundesexekution" sowie der "abhängigen" und "selbständigen" Bundesintervention. 208 204 205 206 207

Vgl. oben Zweites Kapitel B II 3 c. Schmitt, Reichspräsident, S. 103. Ebd., S. 77. Ähnlich S. 73, 76. Jacobi, S. 117 f.

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aa) Die Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820209 verlieh dem zentralen Organ des Deutschen Bundes, der Bundesversammlung, in Art. 31 weitreichende Befugnisse für den Fall, daß ein Mitgliedstaat seinen Bundespflichten nicht nachkommen sollte. Welche "Executions-Maßregeln" durfte die Bundesversammlung nun ergreifen? Einige spärliche Anhaltspunkte dafür gab zunächst die Wiener Schlußakte selbst,210 ferner die auf ihrer Grundlage erlassene Exekutionsordnung vom 3. August 1820211 , die auch das langwierige und umständliche Verfahren beschrieb, das bei einer Bundesexekution einzuhalten war. 2l2 Ausdrücklich vorgesehen war lediglich ein Vorgehen mit Waffengewalt: Die Bundesversammlung ertheilt ... einer oder mehreren, bey der Sache nicht beteiligten Regierungen, den Auftrag zur Vollziehung der beschlossenen Maßregeln, und bestimmt zugleich die Stärke der dabey zu verwendenden Mannschaft ... 213

Ferner hatte die beauftragte Regierung, oder, bei mehreren beauftragten Regierungen, die Bundesversammlung, einen "Civil-Commissair" zu ernennen, der "in Gemäßheit einer, nach den Bestimmungen der Bundesversammlung, von der beauftragten Regierungen zu ertheilenden besondern Instruction, das Executionsverfahren unmittelbar"214 leitete. Ausdrücklich beschränkt war die bündische Exekutionsgewalt durch den Grundsatz der Impermeabilität (Art. 32 Satz 1 WSchlA i.V.m. Art. 6 Abs. 1 der Exekutionsordnung) : Da jede Bundes-Regierung die Obliegenheit hat, auf Vollziehung der Bundesbeschlüsse zu halten, der Bundes-Versammlung aber eine unmittelbare Einwirkung auf die innere Verwaltung der Bundesstaaten nicht zusteht, so kann in der Regel nur gegen die Regierung selbst ein Executions-Verfahren Statt finden. 215

Damit erschöpfen sich die Hinweise, welche die Gesetzestexte geben. Auch die zeitgenössischen Staatsrechtslehrbücher216 helfen kaum weiter. Lediglich Maurenbrecher ging über die bloße Wiedergabe des Gesetzestextes hinaus und meinte: das einzige Exekutionsmittel des Bundes sei Militärrnacht, Terminologie nach Huber, Bundesexekution, S. 9 ff. Text: Huber, Dok. 1, Nr. 30. 210 Ebd. 211 Text: Huber, Dok. 1, Nr. 37. 212 Dazu Huber 1, S. 636. 213 Art. 33 Satz 2 WSchIA; Art. 7 Satz 2 Exekutionsordnung. 214 Art. 34 WSchIA; Art. 8 Exekutionsordnung. 215 Art. 6 Satz 1 Exekutionsordnung. 216 Klüber, S. 206 f. (§ 170); Maurenbrecher, S. 179 ff. (§ 117), Zachariä, S. 712 ff. Vgl. auch die Kollegmitschrift der Vorlesungen Carl Friedrich Eichhorns über "Das Staatsrecht der deutschen Bundesstaaten" aus dem Jahre 1821/22. Text: Conradi, S. 251. 208 209

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indes stünden der Zentralgewalt "auch die andern Executionsmittel d. Staatsgewalt im Innern d. Bundesstaaten zu Gebot"217. Als kaum ergiebiger erweist sich die Staatspraxis. Viermal beschloß die Bundesversammlung die Exekution, doch nur in einem Fall- in Holstein 1864 - kam es zu effektiven Maßnahmen, die über den Einsatz des Militärs hinausgingen: Nachdem der König von Dänemark, Christi an IX., begonnen hatte, das nicht zum Bund gehörige Schleswig dem dänischen Staat einzuverleiben, besetzten im Jahre 1863 Bundestruppen die Herzogtümer Holstein und Lauenburg, die, obgleich Bundesmitglieder, auch von dem dänischen Monarchen regiert worden waren. 218 Als holsteinische Landesregierung setzten die vom Bund beauftragten Kommissare ein Kollegium von Beamten ein, das ihren Befehlen unterstellt war.2 19 In Kurhessen (1829/30)220 und Frankfurt (1834)221 dagegen gaben die Landesregierungen nach, bevor es zu Zwangsmaßregeln kam; die Exekution gegen Preußen schließlich (1866) scheiterte mit der Schlacht von Königsgrätz. 222 Nach alledem nahm die Bundesversammlung im Rahmen der Exekution zwei Instrumente in Anspruch: die Ausübung der landesherrlichen Regierungsgewalt (Sequestration) einerseits, den Einsatz militärischer Macht gegen das pflichtwidrig handelnde Bundesglied andererseits. bb) Politisch bedeutsamer als die Bundesexekution war die in Art. 26 WSchlA geregelte "Bundesintervention". Art. 26 WSchlA schuf eine Ausnahme von dem in Art. 25 Abs. 1 niedergelegten Grundsatz, daß die "Aufrechterhaltung der inneren Ruhe und Ordnung in den Bundesstaaten" den Regierungen "allein" zustehe, indem er die Bundesversammlung ermächtigte, "wenn in einem Bundesstaate durch Widersetzlichkeit der Unterthanen gegen die Obrigkeit die innere Ruhe unmittelbar gefährdet, und eine Verbreitung aufrührerischer Bewegungen zu fürchten, oder ein wirklicher Aufruhr zum Ausbruch" gekommen war, "schleunigste Hülfe zur Wiederherstellung der Ordnung zu veranlassen".223

Ders., S. 180 f. Vgl. Huber 3, S. 449 ff. 219 Vgl. Huber 3, S. 467 f. Die Bundeskommissare wurden dahingehend instruiert, "die Verwaltung in den Herzogtümern ... unbeschadet der nur zeitweise suspendirten landesherrlichen Rechte" zu übernehmen. Text: Huber, Dok. 2, 3. Aufl., Nr. 137. 220 Huber 2, S. 64 f. 221 Ebd., S. 170. 222 Huber 2, S. 531. 223 Art. 26 Satz 1 WSchlA. 217 218

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Bestimmte Kautelen sollten sicherstellen, daß die Intervention ihren Charakter als Hilfeleistung zugunsten einer Landesregierung wahrte. Die Bundesversammlung durfte nur eingreifen, wenn sie entweder von der Regierung des Mitgliedstaates ausdrücklich um Beistand angegangen worden war, oder aber - unaufgefordert - wenn die Landesregierung "notorisch außer Stande" war, den Aufruhr durch eigene Kräfte zu unterdrücken, "zugleich aber durch die Umstände gehindert" war, die "Hilfe" des Bundes zu begehren. 224 Die Befugnisse, welche der Deutsche Bund in den drei Hauptfällen dieser sogenannten "abhängigen" Bundesintervention - in Luxemburg 1830, in Kurhessen und Schleswig-Holstein 1850 - 52 - in Anspruch genommen hatte, beschränkten sich keineswegs auf rein militärisches Vorgehen gegen "Aufrührer". Es kam zwar zum Einsatz klassischer militärischer Druckmittel wie der "Dragonade": Als der Bund etwa zum zweiten Male in Kurhessen eingriff (1850 - 52), sollte der Widerstand der "renitenten" Beamten, Stadträte, Richter und anderer angesehener Bürger gegen Kurfürst Friedrich Wilhelm durch die Zwangseinquartierung bayerischer Bundestruppen gebrochen werden. 225 Doch griff die Bundesgewalt darüber hinausgehend massiv in Landesverwaltung und Landesverfassung ein: Nachdem im Jahre 1831 der luxemburgische Großherzog den Deutschen Bund um militärische Hilfe gegen Aufständische angegangen hatte, die den wallonischen Teil seines Staates dem soeben gegründeten Königreich Belgien eingliedern wollten, übte ein Generalgouverneur des Bundes die Regierungsgewalt in Teilen des Großherzogturns aus; erst nach über acht Jahren durfte der Regent wieder in seine vollen Herrschaftsrechte eintreten. 226 Im Zuge der Intervention in Kurhessen (1850 - 52)227 wurden österreichische und bayerische Kriegsgerichte eingesetzt, der landständische Ausschuß suspendiert, seine renitenten Mitgliederm, soweit sie nicht außer Landes hatten gehen können, festgenommen. Der verfassungsgebotene Zusammentritt der Landstände wurde im März durch den österreichischen Bundeskommissar Graf Leiningen verhindert. Gemeinsam mit dem preußischen Bundeskommissar Uhde versah er den amtierenden Minister Hassenpflug mit Befehlen und Ermächtigungen, gegenüber der gesamten hessischen Landesverwaltung nahmen die Bundeskommissare unmittelbare Weisungsrechte in Anspruch. Der kurfürstlichen Regierung gaben sie auf, durch Verordnung den in der Verfassung vorgeschriebenen Verfassungseid der Offiziere zu beseitigen. 228 Am 27. März 1852 schlileßlich beschloß die Bundesversamm224 225 226 227

Art. 26 Satz 2 WSchIA. Vgl. Huber 2, S. 927; ders., Bundesexekution, S. 37. Vgl. Huber 1, S. 633 f.; ders., 2, S. 115 ff.; ders., Bundesexekution, S. 21. Zum Folgenden vgl. Huber 2, S. 926 ff.; ders., Bundesexekution, S. 38.

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lung, die kurhessische Verfassung von 1831 wegen der in ihr enthaltenen bundeswidrigen Bestimmungen und das kurhessische Wahlgesetz aus dem Jahre 1849 außer Kraft zu setzen. 229 Ferner wurde dem Kurfürsten aufgegeben, eine von den Bundeskommissaren entworfene und von der Bundesversammlung gebilligte neue Verfassung zu erlassen. Gestützt auf diesen Bundesbeschluß setzte der Kurfürst die neue Verfassung seines Landes dann in Kraft. 23o Und als schließlich im Jahre 1852 österreichische Truppen im Auftrag des Frankfurter Bundestages in Holstein einmarschierten,231 standen an ihrer Spitze zwei Bundeskommissare, welche die oberste Gewalt im besetzten Herzogtum übernahmen, dann die Mitglieder der "Statthalterschaft" , der von der revolutionären Reichszentralgewalt eingesetzten Landesregierung, zur Niederlegung ihrer Funktionen zwangen und schließlich eine oberste Zivilbehörde für Holstein einrichteten. Erst nach langwierigen Verhandlungen zwischen dem Bund und Dänemark ergriff der dänische König Friedrich VII. von seinen Herrschaftsrechten als Herzog von Holstein wieder Besitz. Demnach nahm die Bundesgewalt auch im Zuge einer "abhängigen" Bundesintervention Befugnisse in Anspruch, wie sie für die Bundesexekution typisch waren: Sequestration der landesherrlichen Regierungsgewalt und Einschreiten mit unmittelbarer militärischer Gewalt. Darüber hinausgehend, griffen jedoch Bundesorgane auch in das landesinterne Organisationsgefüge ein, indem sie außerordentliche Gerichte einrichteten und die Landesverwaltung ihren Weisungen unterwarfen. Und schließlich behauptete die staatenbündische Zentralgewalt die Befugnis zur Umgestaltung der gliedstaatlichen Verfassungsverhältnisse über die Beschlagnahme der landesherrlichen Regierungsgewalt hinaus, indem sie in dem oben beschriebenen Umfang in die Kompetenzen der Volksvertretung eingriff und gar das Recht zum Verfassungsoktroy für sich reklamierte. cc) Neben der Bundesexekution und der "abhängigen" Bundesintervention nahm die Frankfurter Bundesversammlung das Recht zur "selbständigen" Intervention in Anspruch. Bei dieser Kompetenz kam es - im Gegensatz zur abhängigen Bundesintervention - auf den tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen der Landesregierung nicht an; Anordnung und Durchführung der Maßnahmen der Zentralgewalt entsprangen vielmehr der diskretionären Entscheidung des Bundes aus eigener Initiative. 232 Eine ausdrückliche bundesrechtliche Regelung dieses Rechtsinstituts fehlte, dessen Zulässigkeit war daher äußerst zweifelhaft. 233 228 Vgl. hierzu Huber 2 S. 930 ff.; ders., Bundesexekution, S. 39 f. Näheres zur zweifelhaften Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens bei Huber 2, S. 931 ff. 229 Vgl. dazu Huber 3, S. 436 ff.; ders., Bundesexekution S. 40. 230 Huber, Bundesexekution S. 40. 231 Zum Folgenden Huber 2, S. 933 ff. 232 Zum Begriff der selbständigen Bundesintervention vgl. Huber, Bundesexekution, S. 11.

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In zwei Fällen ging der Deutsche Bund aufgrund dieser Befugnis vor: Im Jahre 1833 lehnte der Senat der Freien Stadt Frankfurt das Ansinnen des Bundestages ab, anläßlich des "Wachensturms" um der eigenen Sicherheit willen die Bundeshilfe zu erbitten; daraufhin stützte der Bund sein Eingreifen auf die Unterstellung, der Senat sei durch die Umstände gehindert, den Bundesbeistand anzufordern, obwohl keinerlei greifbaren Anhaltspunkte für eine solche Beschränkung der Entschließungsfreiheit des Senats gegeben waren. 234 Die 2500 Mann starken preußischen und österreichischen Truppen blieben neun Jahre im Stadtgebiet stationiert. 235 Ferner hatte der Bundestag am 3. April 1834 die Bildung eines einheitlichen Sicherheits korps unter dem Kommando des Bundesbefehlshabers verfügt; im Notfall sollte die Stadtwehr unter die Befehlsgewalt des Bundeskommandanten treten. 236 In den Jahren 1860 - 62 intervenierte der Deutsche Bund erneut in Kurhessen. Auf Druck der Zentralgewalt sah sich Kurfürst Friedrich Wilhelm gezwungen, die Verfassung von 1831 und das Wahlgesetz von 1849 wiederherzustellen .237 Die von der Bundeszentralgewalt gegenüber den Gliedstaaten im Rahmen der selbständigen Bundesintervention in Anspruch genommenen Eingriffsbefugnisse unterschieden sich mithin im wesentlichen nicht von denen der abhängigen Intervention: Belegung mit Bundestruppen, Eingriffe in das innere rechtliche Gefüge der Länder durch Ausübung von Weisungsrechten bzw. Unterstellung unter Bundesbefehl und schließlich Verfassungsoktroy. dd) In ihrer verfassungspolitischen Funktion hatten sich beide Interventionsformen der Bundesexekution weitgehend angenähert. Die abhängige Bundesintervention war ursprünglich als Akt der Hilfeleistung zugunsten einer Regierung gedacht, die sich selbst bundes- und landesrechtlich neutral verhielt, aber in ihrer verfassungspolitischen Stellung und Wirksamkeit in ihrem Land von aufrührerischen Bewegungen bedroht war, deren eigene Kräfte aber nicht ausreichten, um der Lage Herr zu werden.238 In ihrer praktischen Anwendung jedoch verlor die abhängige Form der Intervention den Charakter eines Hilfsmittels der Landesregierung und verformte sich zu einem Druckmittel der Bundesversammlung bzw. der den Bund dominierenden Einzelstaaten auch gegen die betroffene Landesregierung selbst: Ablehnend Huber 2, S. 169 f.; ders., Bundesexekution, S. 17. Dazu Huber, Bundesexekution, S. 16. 235 Vgl. Huber 2, S. 169. 236 Dazu sowie zur Durchsetzung dieser Verfügung mit der Einleitung der Bundesexekution vgl. Huber 2, S. 171. 237 Vgl. Huber 3, S. 440 ff.; ders., Bundesexekution, S. 40 ff. 238 Dazu Huber 1, S. 631; ders., Bundesexekution, S. 3 f. 233

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Der Deutsche Bund gab Wilhelm 1., dem König der Niederlande und Großherzog von Luxemburg die Regierungsgewalt im Großherzogturn erst zurück, nachdem dieser - nach jahrelangen Sträuben - im Traktat vom 19. April 1839 der Teilung Luxemburgs zugestimmt hatte, auf die sich die fünf europäischen Großmächte, also auch die mächtigen Bundesmitglieder Preußen und Österreich, schon in der Separationsakte vom 15. Oktober 1831 geeinigt hatten. 239 Ähnlich erging es dem dänischen König Friedrich VII. Er durfte in seine Herrschaftsrechte als Herzog von Holstein im Jahre 1851 eintreten, nachdem er deutschen Forderungen nach einer Garantie des Rechtsstatus von Schleswig und Holstein entsprochen hatte. 24o Bei der selbständigen Intervention trat dieser Funktionswandel noch schärfer hervor. Die Zentralgewalt konnte ohne formelle Beteiligung des betroffenen Bundesgliedes, sogar gegen dessen ausdrücklich geäußerten Willen, intervenieren und das von Bundesversammlung definierte Interesse des Bundesganzen gegen die Partikularregierung durchsetzen. Die Durchführung von Zwangsmaßnahmen im Rahmen der "abhängigen" oder "selbständigen" Bundesinervention anstelle der Anordnung einer Bundesexekution verschafften den Bundesorganen bei einem Konflikt mit einer Landesregierung erhebliche Vorteile: Die Bundesintervention war erstens effektiver. Sie erlaubte ein unverzügliches Eingreifen; an das umständliche Verfahren der Exekutionsordnung war die Bundesversammlung nicht gebunden241 . Auch war der Impermeabilitätsgrundsatz aufgehoben, eine Zwischen schaltung der Landesstaatsgewalt erübrigte sich daher. Ein Vorgehen mit der Bundesintervention war - zweitens - subtiler. Zum einen blieb dem Gliedstaat der Vorwurf der Pflichtverletzung erspart,242 Zum anderen war das Instrumentarium des Bundes um unmittelbare Eingriffsbefugnisse in die innere Landesorgansation erweitert und die Zentralgewalt deshalb nicht auf die verhältnismäßig groben Mittel der Exekution - Militäreinsatz und Sequestration - verwiesen. Nach alledem vermochte die Bundesgewalt unterhalb der Eingriffsschwelle der Exekution die gliedstaatliche Politik in ihrem Interesse unauffällig steuern.

Vgl. Huber 2, S. 120. Vgl. Huber 2, S. 934. 241 Zur Nichtanwendung des Exekutionsordnung in diesen Fällen Huber, Bundesexekution, S. 17. 242 Vgl. Heckei, Urteil, S. 186 zum Weimarer Verfassungsrecht. 239 240

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b) Die Verfassungslage im Kaiserreich Das Staatsrecht des Kaiserreichs kannte nur noch ein Instrument, mit Hilfe dessen die Zentralgewalt durch Zwangsmaßnahmen die Befolgung föderaler Rechtspflichten der Länder einfordern konnte: die Reichsexekution. Art. 19 BRV bestimmte: Wenn Bundesglieder ihre verfassungsmäßigen Pflichten nicht erfüllen, können sie dazu im Wege der Exekution angehalten werden. Diese Exekution ist vom Bundesrathe zu beschließen und vom Kaiser zu vollstrecken.

aa) Im Gegensatz zur Zeit des Deutschen Bundes zeigte die Staatsrechtswissenschaft nach der Reichsgründung an diesem Rechtsinstitut reges Interesse: Den Systematisierungsbedürfnissen der spätkonstitutionellen Lehre entsprach es, diesem Instrument einen verfassungsrechtlichen Standort als ,ultima ratio' der "Reichsaufsicht" zuzuweisen.243 Autoritäten des Bismarckschen Staatsrechts wie Laband und Hänel unterstellten die Länder der Kategorie der "Selbstverwaltungskörper"; die damit verknüpfte Übertragung kommunalaufsichtsrechtlicher Grundsätze auf das Verhältnis des Reiches zu seinen Gliedstaaten prägte maßgeblich auch die (Neu-)Interpretation der Reichsexekution244 als des "wesentlichsten unter allen Aufsichtsmitteln"245. Wenig spürbar blieb das verwaltungstechnische Verständnis in der Interpretation des Voraussetzungstatbestandes des Art. 19 BRV. Der Kreis der bundesverfassungsmäßigen Pflichten eines Bundesglieds war weit gespannt. Es konnte sich handeln "um die Beschaffung finanzieller oder sonstiger wirtschaftlicher Leistungen an das Reich, um Unterlassung von Unternehmungen gegen dessen Bestand, seine Verfassung und die Wirksamkeit seiner Organe, um Herstellung voller Übereinstimmung der partikularen Gesetze, Anordnungen und Einrichtungen mit den Gesetzen, Anordnungen und rechtlichen Entscheidungen des Reiches, um Durchführung der Verfassung und Gesetze des Reiches durch die Mitwirkungsrechte der Einzelstaaten, insbesondere auch bei der Konstituierung der Reichsorgane, vor allem des Bundesrats oder 243 Die Bismarcksche Reichsverfassung erwähnte die Reichsaufsicht ausdrücklich in Art. 4, der mit den Worten begann: "Die Beaufsichtigung seitens des Reiches und der Gesetzgebung unterliegen die nachstehenden Angelegenheiten ... ". Ferner bestimmte Art. 17: "Dem Kaiser steht ... die Überwachung der Ausführung ... (der Reichsgesetze) zu". Die in Art. 4 erwähnte "Beaufsichtigung" galt als der weitere, die in Art. 17 erwähnte "Überwachung" als der engere Begriff: Diese konnte nur eintreten, nachdem ein Reichsgesetz erlassen worden war, jene erstreckte sich sowohl auf die Zeit vor, als auch auf die Zeit nach dem Erlaß eines Reichsgesetzes. Vgl. Laband 1, 5. Aufl., S. 10 m.w.N. 244 Ebd., S. 103 f.; Haenel, S. 798 und besonders deutlich S. 303: "Hiernach entspricht das Wort ,Beaufsichtigung' in RV a 4 für das Reich in seinem Verhältnis zu den Einzelstaaten derjenigen Bedeutung, welche es im Einheits- oder Einzelstaat für dieses im Verhältnis zu den ihm eingeordneten Selbstverwaltungskörpern besitzt" . 245 Triepel, Reichsaufsicht, S. 666.

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um die Erfüllung solcher Verpflichtungen, welche den Einzelstaaten im Verhältnis zu den anderen Bundesgliedern oder zu den Staaten der Völkergemeinschaft von Reichs wegen"246 oblagen. Schärfer trat die Qualifizierung der Exekution als "Aufsichtsmittel" in dem Maßregelkatalog zutage, den die Staatsrechtslehre dem Reich zur Verfügung stellte. Der für die Reichsaufsicht geltende Grundsatz, ein Vorgehen der Zentralgewalt sei nur als "Oberaufsicht"247 gegen die Einzelstaaten als "geschlossene Einheiten"248, m.a.W. nur gegen die Regierungen 249 zulässig, wurde auch auf die Reichsexekution übertragen 25o . Die in der Wiener Schlußakte ausdrücklich festgeschriebene Rechtslage 251 fand so - trotz des Schweigens der Bismarckschen Reichsverfassung - ihre dogmatische Stütze. Ausnahmen von dieser Impermeabilitätsregelließ die herrschende Meinung nicht ZU. 252 Lediglich von Rönne und von Mohl hatten unmittelbar nach der Reichsgründung versucht, die Verfassungslage des Deutschen Bundes auch für das Bismarckreich fortzuschreiben: Einem Ungehorsam von Untertanen hätten zunächst die Landesregierungen innerhalb ihres Gebietes entgegenzutreten. Unterließen sie diese ihre verfassungsmäßige Pflicht, oder reiche "ihre Macht nicht aus", so dürfe die Exekution "auch unmittelbar gegen widerstrebende Unterthanen gerichtet sein".253 Rönne sprach darüberhinausgehend der Reichsgewalt ausdrücklich die Befugnis zu, gegen "Landesvertretungen" , also Parlamente, mit "Zwangsmitteln" vorzugehen. 254 Die beiden Autoren konnten sich indes nicht durchsetzen. Ferner wurde das ursprünglich auf eine kriegerische Auseinandersetzung zugeschnittene Rechtsinstitut der Exekution qua Interpretation "zivilisiert" und in ein besonders intensiv wirkendes Mittel der verwaltungsrechtlichen Gesetzmäßigkeitskon trolle umgewandelt. Diese Entwicklung hatte sich bereits für das Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes abgezeichnet. Thudichum hatte zu Art. 19 der Norddeutschen Bundesverfassung, der dem Art. 19 der Verfassung von 1871 als Vorbild 246 Vgl. Haenel, S. 446 f.; ähnlich Schilling, S. 62 f.; weniger ausführlich Triepel, Reichsaufsicht, S. 665. 247 Zur Abgrenzung von "Oberaufsicht" und "unmittelbarer", d. h. gegen die einzelnen Staatsbehörden, Staatsbeamten und Staatsuntertanen gerichteter Reichsaufsicht vgl. Triepel, Reichsaufsicht,S. 164 f. 248 Haenel, S. 306. Ähnlich Laband 1,5. Aufl., S. 109, 111; Seydel, S. 60. 249 Vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 288 ff. 250 Vgl. Laband 1, 5. Aufl., S. 80 Fn. 1; Schilling, S. 59 f.; Triepel, Reichsaufsicht, S. 166. Wohl auch Arndt, Verfassung 1, und Seydel, S. 189; zu letzterem Trio:pel, Reichsaufsicht, S. 666 Fn. 21. 251 Vgl. oben a aa. 252 Vgl. die oben Fn. 250 Genannten. 253 v. Mohl, S. 159. Eb,enso v. Rönne, Deutsches Staatsrecht, S. 70. 254 v. Rönne, S. 70. Wohl auch v. Mohl, S. 159 f.

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diente, die Auffassung vertreten, daß die Zwangsmaßnahmen bestehen könnten in "der Absendung von Bundeskommissarien und Bundestruppen, mit dem Rechte, den Landesbehörden Weisungen zu erteilen, also die Erfüllung der Bundespflicht durch unmittelbare Verfügung zu erwirken. "255 Als Beispiele nannte Thudichum Weisungen an die Kassenbehörden zur Ablieferung der Matrikularumlage an die Bundeskasse, ferner Weisungen an die Verwaltungs- und Gemeindebehörden zur Vorbereitung von Reichstagswahlen. 256 Dieses Recht zur "unmittelbaren" Verfügung koppelte zuerst von Rönne nun für das Bismarcksche Reichsstaatsrecht - vom militärischen Einsatz ab. Durch die Reichskommissarien könnten alle diejenigen Anordnungen und den Landesbehörden diejenigen Anweisungen erteilt werden, welche dahin zielten, die Erfüllung der Bundespflicht herbeizuführen; der versagte Gehorsam dürfe "nöthigenfalls" durch Verwendung militärischer Macht erzwungen werden. 257 Bestimmend für den weiteren Verlauf der staatsrechtlichen Diskussion wurden die Ausführungen Haenels. 258 Er unterschied zwei Arten der Exekution. Einerseits die militärische, die nur "mittelbar wirksam" sei, als sie durch die kriegsmäßige Besetzung des Landes und durch die damit verbundenen Belastungen einen so langen und starken Druck auf die einzelstaatlichen Organe ausübe, bis sie in den landesrechtlichen Formen das Geforderte veranstalteten. Bei der "unmittelbar wirksamen" Exekution andererseits würden die Vollstreckungsmittel so gewählt, daß sie den "Zweck und die rechtliche Kraft" hätten, den verfassungsmäßig geforderten Zustand im Einzelstaate "unmittelbar von Reichs wegen und an Stelle der landesgesetzlichen Organe herbeizuführen"259. Dieser Ansatz wurde von Schilling260 , der die Unterscheidung zwischen "militärischer" und "bürgerlicher" Exekution weiter entfaltete, sowie TriepeF61 übernommen - beide verzichteten allerdings auf das von Haenel behauptete Erfordernis eines Reichsgesetzes, in dem die Durchführung der Ders., S. 324. Ebd., S. 324 Fn. 2. 257 Ders., Deutsches Staatsrecht, S. 72. 258 Haenel, S. 449 ff. 259 Haenel, S. 450. 260 Ders., S. 60 ff. 261 Triepel, Reichsaufsicht, S. 670 ff. Dieser begründete darüber hinaus die Zulässigkeit der "bürgerlichen Exekution nicht unmittelbar auf Art. 19 BRV, sondern auf eine ungeschriebene Kompetenzregel, die er gemäß dem Auslegungsgrundsatz ,a maiore ad minus' aus Art. 19 BRV ableitete; vgl. S. 678. Als praktische Konsequenz schloß er daraus, lediglich die vom Kaiser als Vollstreckungsorgan angeordnete "bürgerliche" Exekution sei der Gegenzeichnung bedürftig; im Rahmen des Art. 19 hingegen handle der Kaiser als "Bundesfeldherr" . Demgegenüber hielten v. Rönne, Deutsches Staatsrecht, S. 73 und Schilling, S. 86 die Gegenzeichnung ausdrücklich für erforderlich. 255

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"bürgerlichen Vollstreckungsmaßregeln" festgelegt werden sollte. 262 Diejenigen Autoren, welche in Anknüpfung an das alte Bundesrecht an der Zulässigkeit ausschließlich der militärischen Exekution festhielten, blieben in der Minderzahl. 263 bb) Die Abkoppelung der "unmittelbar wirksamen" (bürgerlichen) von der "mittelbar wirksamen" (militärischen) Exekution zeitigte im wesentlichen vier Wirkungen. Zum einen wurden die "bürgerlichen Vollstreckungsmaßnahmen" an hand verwaltungsrechtlicher Grundsätze rechtlich ausgeformt; Elemente des Dienst- und Kommunalaufsichtsrechts, insbesondere aber das polizeirechtlich geprägte Institut der Ersatzvornahme dienten als Vorbild. 264 In Betracht kamen so die formelle Kassation oder der Erlaß von Landesgesetzen, die Ergänzung der legislativen Zustimmung des Landesherrn oder einer gesetzgebenden Körperschaft (Etatforcierung), ferner die unmittelbare Vornahme von Vollziehungsmaßregeln und Verwaltungseinrichtungen265, wozu auch die Entlassung von Offizieren, die Vornahme von Begnadigungen und sogar die Abhilfe gegen Justizverweigerungen durch unmittelbare Verfügungen an die Gerichte der Verwaltungsbehörden eines Gliedstaates zählten. 266 Zum anderen leistete die Staatsrechtslehre einen nahezu völligen Interpretationsverzicht, was die militärische Exekution anbetrifft. Über die kurze Charakterisierung Haenels, sie diene dazu, einen "langen und ausdauernden Druck auf die einzel staatlichen Organe auszuüben"267, gingen die Darstellungen nicht hinaus. Selbst diejenigen Autoren, welche die Zulässigkeit der bürgerlichen Exekution ablehnten268 , führten nichts Näheres über die dem Kaiser als "Vollstreckungsorgan" zukommenden Befugnisse aus. Georg Meyer etwa bemerkte lapidar: "Die Exekution charakterisiert sich als ein Vorgehen mit militärischen Kräften gegen den betreffenden Staat"269. Mit diesem Interpretationsverzicht eng verknüpft war schließlich die Entrechtlichung des militärischen Einsatzes. Die Landesorgane unter Druck zu setzen, bedeutete lediglich tatsächliche Machtausübung, die "unmittelbare Verfügung" und somit die unmittelbare Rechtswirkung blieb der bürgerlichen Exekution vorbehalten. Infolgedessen blieb auch die Befugnis zur Erteilung VgJ. Haenel, S. 452. Nachweise bei Triepel, Reichsaufsicht, S. 676 Fn. 4. 264 VgJ. Haenel, S. 93 und ausdrücklich Triepel, Reichsaufsicht, S. 680, der indes in der Begründung, nicht aber im Ergebnis, vorsichtig von dieser Analogie abrückte; vgJ. ders., S. 679 Fn. 1. 265 VgJ. Haenel, S. 450; ähnlich Triepel, Reichsaufsicht, S. 682 f. 266 VgJ. Triepel, Reichsaufsicht, S. 682 f. 267 Haenel, S. 450. 268 VgJ. oben Fn. 263. 269 Ders., Lehrbuch, 4. Aufl., S. 644. 262 263

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von Weisungen an Landesbehörden für die militärische Exekution im weiteren Verlauf der staatsrechtlichen Diskussion unerwähnt 270 - eine Auslegung, welche zugleich die für Art. 19 BRV aufgestellte Impermeabilitätsregel bestätigte. Schließlich war die Abkoppelung der bürgerlichen von der militärischen Exekution mit einer offensichtlichen Unsicherheit darüber verbunden, wie die Kompetenz zur Absetzung von Landesregierungen (Sequestration) rechtlich zu behandeln sei. Diese wollte zu keiner der Spielarten der Exekution so richtig passen; zur "mittelbar wirksamen" Exekution nicht, weil diese Befugnis weit darüber hinausging, lediglich Druck auf die - weiter bestehenden - einzelstaatlichen Organe auszuüben; zur unmittelbar wirksamen nicht, weil es nicht mehr um die ersatzweise Vornahme einzelner vertretbarer Handlungen zwecks Korrektur fehlerhafter Gesetezserfüllung oder -handhabung ging, sondern es sich um die Auswechslung des politischen Leitungsorgans eines Gliedstaates von Reichs wegen handelte. Dennoch war die Zulässigkeit dieser Maßregel kaum umstritten. 271 Darüber hinaus war sich die Literatur uneinig. Thudichum, der in seinem Lehrbuch des Verfassungsrechts des Norddeutschen Bundes die Exekution noch als rein militärisches Institut auffaßte, begnügte sich nicht mit der "Übernahme der gesammten Regierungsgewalt ... bis zur Erlangung voller Garantie für unweigerliche Leistungen des Gehorsams", sondern nahm darüber hinausgehend an, daß diese Garantie "in solchen äußersten Fällen nur durch einen Wechsel des Landesministeriums oder durch einen Thronwechsel"272 zu erreichen sei. Diese weitgehenden Eingriffe in Landesverwaltungs- und Verfassungs recht waren ohne unmittelbare Rechtswirkung dieser Maßregeln kaum denkbar, und folglich schlug Haenel, der die Absetzung des Staatsoberhaupts ausdrücklich ebenfalls für zulässig hielt,273 diese Kompetenz der bürgerlichen Exekution ZU. 274 Triepel wiederum sah die Sequestration als ein "kriegerisches, durch Waffengewalt vorgenommenes und gesichertes, von militärischen Befehlshabern gehandhabtes Zwangsmittel gegen einen angegriffenen Staat"275. Grenzen dieser Befugnis leitete er aus dem Charakter der Exekution als "Mittel des Erfüllungszwanges" ab: die rechtmäßige Landesregierung dürfe nur "vorübergehend außer Funktion" gesetzt und nicht "schlechthin" beseitigt werden, ferner dürfe sie nicht zur Absetzung des Staatsoberhaupts oder zur Vernichtung des mit dem Exekutionskriege überzogenen Gemein270 Bei v. Rönne ist nicht eindeutig, ob das Weisungsrecht auch bei der militärischen Exekution gelten soll; vgl. ders., Deutsches Staatsrecht, S. 70 f. 27! Vgl. die Nachweise bei Triepel, Reichsaufsicht, S. 673 Fn. 4. 272 Thudichum, S. 324 f. 273 Vgl. ders., S. 452. 274 Thudichum, S. 451 f. 275 Triepel, Reichaufsicht, S. 672.

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wesens führen. 276 Damit zog Triepel die Grenzen der Sequestrationsbefugnis enger als die h. M. und blieb dennoch im Rahmen der Haenelschen Charakterisierung der militärischen Exekution als nur "mittelbarem" Zwangsmittel: seine Deutung setzte nicht voraus, daß die Sequestration unmittelbare Rechtswirkung entfaltete. 277 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Zulässigkeit der Sequestration zwar nahezu einhellig anerkannt war, die systematische Einordnung, ihr Inhalt und ihre Reichweite jedoch ungeklärt blieb. cc) Die spätkonstitutionelle Interpretation der Reichsexekution zeichnete sich nach alledem aus durch die Einregistrierung dieses Instituts bei der Reichsaufsicht sowie einer Aufspaltung der Exekutionsmaßregeln in "militärische" und "bürgerliche". Die Lehre wandte sich nahezu ausschließlich der letztgenannten Spielart zu und überzog dieses Zwangsinstrument des Reiches mit einem Gespinst verwaltungsrechtlicher , der polizeilichen Ersatzvornahme entlehnter Regeln. Die militärische Exekution blieb indes weitgehend aus der staatsrechtlichen Betrachtung ausgeblendet; Rechtswirkungen wurden ihr nicht zuerkannt. Ungeklärt blieben schließlich systematische Einordnung, Inhalt und Reichweite der Sequestration. dd) Reichsexekution und Ausnahmezustand blieben während der Geltung der Bismarckschen Reichsverfassung streng unterschiedene Rechtsinstitute. Zum einen war ihre Unterscheidung institutionell abgesichert. Gemäß Art. 68 BRV lag die Entscheidung über den Kriegszustand in der Hand des Kaisers, während über die Reichsexekution die Vertretung der Länder, der Bundesrat, zu beschließen hatte und der Inhaber der Bundespräsidialgewalt lediglich zur Vollstreckung dieses Beschlusses berufen war (vgl. Art. 19 BRV). Zum anderen kam es nie zu einer Anwendung der Exekution im Kaiserreich. Ein vermeintliches praktisches Bedürfnis, ihr rechtliches Instrumentarium durch Anleihen beim Ausnahmezustand zu erweitern, bestand daher nicht. Dies sollte sich unter der Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung fundamental ändern.

Ebd., S. 675. Der Preis dieser von Triepel betriebenen Begrenzung der zentralstaatlichen Befugnisse bestand in einer Einschränkung der politischen Kontrolle dieses intensivsten Eingriffs in die gliedstaatliche Verfassung: durfte der Kaiser die Sequestration nur im Rahmen der militärischen Exekution betreiben, handelte er als Bundesfeldherr, seine Anordnungen bedurften daher nicht der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler (vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 683). Lag in dieser Konsequenz auch der tiefere Grund für die "Zivilisierung" der Exekution nach der Reichsgründung? 276 277

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2. Zum Begriff der Reichsintervention

Das Bündel von Befugnissen, welches die Reichsleitung zur Bewältigung der Konflikte zwischen dem Reich und den Ländern in Anspruch nahm, ähnelte stark dem Instrumentarium, dessen sich die Frankfurter Bundesgewalt bedient hatte, wenn sie in den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes intervenierte. Die Inanspruchnahme von Weisungsrechten und Rechtsetzungsbefugnissen, die im Ergebnis zu einer Umorganisation der Landesverwaltung führte, Eingriffe in Rechte der Volksvertretungen sowie die Sequestration der Landesstaatsgewalt fanden im Verfassungsrecht des Deutschen Bundes ihr historisches Vorbild. 278 Und wie schon im Deutschen Bund besaß dieses Befugnisbündel eine Zwitternatur , wurde es nicht nur dazu eingesetzt, die Landesorganisation zur effektiven Bekämpfung "renitenter Untertanen" dem föderativen Gesamtverband verfügbar zu machen, sondern auch zur Beseitigung von Störungen des gesamtstaatlichen Gefüges, die von Landesorganen ausgingen. Die Gesamtheit der Zwangsbefugnisse, welche die Reichsleitung zur Bewältigung der existentiellen Konflikte zwischen Reich und Ländern in Anspruch nahm, wird deshalb im folgenden abkürzend als "Reichsintervention" bezeichnet.279 3. Die Instrumente der Reichsintervention

a) Die Sequestration Heftig umstritten war, auf welche Rechtsgrundlage die Sequestration - im Bismarckreich ein typisches Mittel der Reichsexekution - gestellt werden konnte. Die Diskussion darüber entzündete sich erst an der Absetzung des sächsischen Ministeriums Zeigner im Herbst 1923. Das Eingreifen der revolutionären Reichsgewalt während der Braunschweiger Unruhen im April 1919 hatte man in der juristischen Literatur nicht zur Kenntnis genommen; die Reaktion des Reiches auf die latente Bürgerkriegslage in den thüringischen Kleinstaaten, insbesondere in Sachsen-Gotha im Krisenjahr 1920, fand nur geringe Resonanz. 280 278 279

öfter.

Dazu oben 1 a. In diesem Sinne wohl auch die Verwendung des Begriffs bei Huber 7, S. 1015 und

280 Zu der in der Verordnung vom 22. März verliehenen Befugnis, Mitglieder der thüringischen Landesregierungen ihrer Stellen zu entheben sowie zur Anordnung von Neuwahlen in Gotha mit der Verordnung vom 10. April 1920 vgl. Gmelin, S. 159: Die Gewalt des Regierungskommissars reiche "unter Umständen sehr weit". Zu Hubrich unten c.

9*

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aa) Eine starke Strömung in der Literatur folgte der Staatspraxis und stützte die Sequestration der sächsischen Landesstaatsgewalt auf den zweiten Absatz des Art. 48. 281 Dabei fanden die üblichen Argumentationsschemata Anwendung, die sich für die Interpretation der präsidialen Diktaturgewalt herausgebildet hatten. Was den Vor aussetzungs tatbestand , die Störung oder Gefährdung der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" anbelangt, hatte es mit einem gelegentlichen Hinweis auf "Lebensmittel unruhen und Zusammenstöße mit der Reichswehr"282 sein Bewenden. Für die Subsumtion der Sequestration unter den Maßnahmebegriff wurde entweder ein Umkehrschluß aus Art. 48 Abs. 2 Satz gezogen und darauf verwiesen, daß die diktatorischen Befugnisse des Reichspräsidenten eine Schranke nur in den dort nicht erwähnten Grundrechten sowie in den allgemeinen Grundsätzen der rechtlichen und politischen Verantwortlichkeit fänden 283, oder man legte die Durchbrechbarkeit der organisatorischen Normen der Reichsverfassung zugrunde und kam auf diesem konstruktiven Weg zum selben Ergebnis. 284 bb) Die Gegenansicht, die - zuerst von Stier-Somlo im Jahre 1924 vertreten 285 - im Laufe des Jahrzehnts wohl herrschend wurde,286 qualifizierte die Amtsenthebung der Mitglieder des Kabinetts Zeigner als Maßregel der Reichsexekution gemäß Art. 48 Abs. 1. Starken Wandlungen unterworfen war die Auffassung darüber, welche "nach der Reichsverfassung oder Reichsgesetzen obliegende Pflichten" - so der Wortlaut des Art. 48 Abs. 1 - das Land Sachsen nicht erfüllt habe. Anfänglich noch der legalistischen Tradition der spätkonstitutionellen Lehre verhaftet, suchte man nach einer geschriebenen Norm und fand eine solche in Art. 17, indem man die "Handlungen und Regierungsmethoden der sächsischen Landesregierung" als Verstoß gegen das Gebot einer "freistaatlichen Verfassung" einstufte. 287 Gelegentlich wurde auch darauf verwiesen, die Landesregierung habe ihre Pflicht zur Ausführung der Reichsgesetze (vgl. 281 Vgl. Haentzschel, Grundlagen, Sp. 346; Hugelmann, S. 521; Jacobi, S. 119; Landau, S. 43 f.; Preuß, Verfassung, S. 38 f.; Schmitt, Reichspräsident, S. 94. 282 Landau, S. 44. 283 Vgl. Landau, S. 43; Preuß, Verfassung, S. 38 ff. Ebenso Meißner in der Kabinettssitzung vom 27. Oktober 1923 (vgl. Akten, Die Kabinette Stresemann, Band 2, Nr. 186) und eine nicht gezeichnete und undatierte "Aufzeichnung über die verfassungsrechtlichen Maßnahmen gegen ein Land auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung" (ebd., Nr. 187), die den Ausführungen Meißners zugrunde gelegen haben dürfte. 284 Vgl. Jacobi, S. 119; Schmitt, Reichspräsident, S. 94. 285 Ders., Reichsstaatsrecht, S. 616 f. 286 Vgl. Flad, S. 121 m.w.N. 287 Vgl. Moosmann, S. 80.

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Art. 14) nicht erfüllt 288 , oder man berief sich auf die Nichtbefolgung der Anordnungen des militärischen Befehlshabers durch das Kabinett Zeigner und kam auf diesem Wege zu einer Verletzung reichs gesetzlicher Pflichten.289 Einen neuen Weg zur Interpretation der Voraussetzungsformel des Art. 48 Abs. 1 beschritt Poetzsch-Heffter. 29o Ohne sich ausdrücklich auf die sächsischen Ereignisse zu beziehen, folgerte er aus dem "Wesen des Staates"291 und aus Art. 5: " ... die Länder sind dem Reiche verpflichtet, die verfassungsmäßige Sicherheit und Ordnung zu wahren. "292

In dieser Erweiterung des Pflichtenkreises der Länder293 spiegelt sich der Kompetenzzuwachs des Reiches wieder. Der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung war nach der neuen Reichsverfassung Bestandteil der Bedarfsgesetzgebung (Art. 9 Nr. 2) und unterfiel, solange das Reich keine Normen erlassen hatte, grundsätzlich der selbständigen Reichsaufsicht und damit der Reichsexekution. 294 Deutet sich schon in Poetzsch-Heffters allgemein gehaltenen Hinweis auf das "Wesen des Staates" und Art. 5 eine Abkehr von der traditionellen, am geschriebenen Gesetzestext festhaltenden Lehre an, so vollzog endgültig Anschütz den Bruch mit dieser Auffassung: Ebd. Pohlmann, S. 167 f. 290 Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 49. Wohl auch Anschütz, 1926, Rdn. 2 zu Art. 48. 291 Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 49. 292 Ebd. Ähnlich Flad, S. 119 unter Hinweis auf die Sequestration in Sachsen: Verpflichtung des Landes "zur Aufrechterhaltung verfassungsmäßiger Zustände". 293 Huber 3, S. 1038 stellt bereits für die Bismarcksche Reichsverfassung eine aus dem ungeschriebenen Prinzip der Bundestreue abgeleitete Pflicht der Länder fest, "die innere Ruhe, Ordnung und Sicherheit im Landesgebiet zu bewahren". Die zeitgenössische Literatur erwähnte demgegenüber eine solche Pflicht nicht (vgl. etwa die Darstellungen von Haenel, S. 446 und Schilling, S. 63 ff.). Auch Triepel, der den Maßstab der selbständigen Reichsaufsicht den "von der Reichsverfassung dem Schutze des Reiches anvertrauten Interessen" (ders., Reichsaufsicht, S. 441) entnahm, gewann den Inhalt dieser Prinzipien keineswegs aus überpositiven Verfassungsprinzipien: "Nur solche Interessen können in Betracht kommen, bezüglich deren die Verfassung an irgendeiner Stelle und in irgendeiner Weise andeutet, daß sie der Obhut des Reiches unterstellt sein sollen." (S. 446). Von einer allgemeinen Sicherungspflicht der Gliedstaaten war also auch bei Triepel nicht die Rede (vgl. auch den Überblick S. 441 ff.). Praktische Bedeutung gewann dieses Problem wiederum für die rechtliche Zulässigkeit des "Preußenschlags" im Jahre 1932. Im Verfahren vor dem Staatsgerichtshof zogen die Prozeßvertreter der Antragsteller das Bestehen einer allgemeinen Sicherungspflicht der Länder in Zweifel (vgl. etwa Preußen, S. 127,138, 140 f.), während die Bevollmächtigten des Reiches als des Antragsgegners das Bestehen dieser weitgehenden Pflicht befürworteten (z. B. S. 133 f.). 294 Für die Erstreckung der selbständigen Reichsaufsicht auf die Gegenstände der Bedarfsund Grundsatzgesetzgebung die h. M.; Nachweise bei Triepel, Streitigkeiten, S. 72 Fn. 2. Ein Aufsichtsrecht bezüglich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hatte das Reich im Streit um die Auflösung der Bremer Stadtwehren in Anspruch genommen; vgl. PoetzschHeffter, Staatsleben 1, S. 49. 288 289

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Den ausdrücklich statuierten Pflichten der Länder stehen diejenigen gleich, die sich, wenn nicht aus dem Wortlaut, so doch aus dem Sinn der Reichsverfassung und des Reichsgedankens herleiten lassen: so die Treupflicht, die es den Ländern verbietet, die auswärtige Politik des Reichs in verräterischer oder auch nur objektiv schädlicher Weise zu durchkreuzen oder erklärte Feinde des Reichs und seiner Verfassung in die Landesregierung aufzunehmen. 295

Das Schreiben Stresemanns an den sächsischen Ministerpräsidenten Zeigner vom 28. Oktober 1923 296 fand damit eine - späte - verfassungsrechtliche Legitimation. Auf eine positive Begründung der Sequestrationsbefugnis verzichteten in der Regel die Vertreter dieser Ansicht. Dies war keineswegs selbstverständlich. Zwar gehörte die Absetzung von Landesregierungen zum überlieferten Maßregelkatalog der Exekution, doch hatten vor dem Eingreifen des Reichs in Sachsen einige Autoren 297 unter Berufung auf den Wortlaut der neuen Verfassungsnorm, die ausdrücklich nur den Einsatz der "bewaffneten Macht" erwähnte, die Zulässigkeit allein des militärischen Vorgehens vertreten. 298,299 Nach den sächsischen Ereignissen war demgegenüber die Zulässigkeit auch bürgerlicher Exekutionsmittel - insbesondere der Sequestration ohne Militäreinsatz - allgemeine Rechtsüberzeugung. 3OO ce) Der Vorwurf, die Absetzung der sächsischen Regierung sei verfassungswidrig gewesen, wurde von sozialdemokratischer Seite erhoben. Unter dem 1. November 1923 veröffentlichte der "Sozialdemokratische Parlamentsdienst" ein Rechtsgutachten, das, wie es hieß, von einem "nichtsozialistischen" Juri295 Anschütz, 1926, Anm. 3 zu Art. 48. Eine derart weitgehende Auslegung der verfassungsmäßigen Pflichten der Länder fand sich auch schon bei Preuß, Reichsverfassung, S. 40, der freilich im sächsischen Fall die Anwendung des Art. 48 Abs. 1 verneinte: wegen des Nichteinschreitens in Bayern verbiete sich aufgrund der "prinzipiellen Gleichberechtigung der Länder" auch eine Exekution gegen Sachsen. 296 Dazu unten A IV 1. 297 Korn, Anm. zu Art. 48; Meißner, Staatsrecht, S. 83; Wittmayer, S. 252 ff. Die h. M. hielt sich aber an das von der spätkonstitutionellen Lehre vorgegebenen Schema. Vgi. etwa Anschütz, 1921, Anm. 2 zu Art. 48: "Andere, vom Standpunkt des beteiligten Landes aus betrachtet, mildere Zwangsmittel, wie insbesondere die Vornahme der geforderten Handlung durch das Reich selbst oder einen Dritten auf Kosten des Landes (Ersatzvornahme ) sind nicht unzulässig." Ähnlich Cohn, Reichsaufsicht, S. 39,58; Giese, Grundriß, S. 66; ders., 1921, Anm. 7 zu Art. 48. Wohl auch Poetzsch, Anm. 5 zu Art. 48, S. 41. 298 Zum Streit über die Einordnung der Sequestration als "militärische" oder "bürgerliche" Vollstreckungsmaßregel unter der Geltung der Bismarckschen Reichsverfassung siehe oben 1 b bb. 299 Man wird vermuten dürfen, daß diese restriktive Interpretation Meißners, Staatsrecht, S. 83, mit seiner in den Kabinettssitzung vom 27. Oktober 1923 vorgetragenen Vorschlag in Zusammenhang stand die Sequestration der sächsischen Landestaatsgewalt auf den zweiten, nicht auf den ersten Absatz des Art. 48 zu stützen (vgi. Akten, Die Kabinette Stresemann, Band 2, Nr. 186). 300 Vgi. nur die Monographien von Landau, S. 60 ff.; Moosmann, S. 70 ff.; Pohlmann, S. 104 ff. Wohl auch Grau, Art. 48, S. 113 f.

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sten erstattet worden sei. Das Gutachten wandte sich freilich nicht unmittelbar gegen die präsidiale Verordnung vom 29. Oktober 1923, sondern kritisierte lediglich die Durchführung der vom Reichspräsidenten verfügten Maßnahmen gerade durch den Reichskommissar Heinze: Nur der Reichskanzler sei aufgrund seiner Richtlinienkompetenz befugt, die Mitglieder des Kabinetts Zeigner ihrer Ämter zu entheben; ferner hätte die sächsische Landesregierung nicht - worauf der Wortlaut der Heinze'schen Verordnungen hinzuweisen schien - "endgültig abgesetzt" werden dürfen. 30l Damit war die Sequestrationsbefugnis des Reiches im Grundsätzlichen nicht in Frage gestellt. 302 dd) Nach alledem läßt sich zusammenfassend festhalten: Die Sequestration galt auch in der Weimarer Zeit als ein verfassungsmäßiges Instrument der Reichszentralgewalt. Strittig war indes, ob diese Befugnis (auch) auf die Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten gestützt werden durfte. Soweit manche Autoren die Rechtmäßigkeit der Absetzung der sächsischen Landesregierung in Zweifel zogen, wurde die grundsätzliche Zulässigkeit einer Beschlagnahme der Landesstaatsgewalt nicht - zumindest nicht ausdrücklich - in Frage gestellt. b) Eingriffe in Rechte der Volksvertretungen Neben der lebhaft diskutierten Sequestration fanden die Eingriffe in die Rechte der Volksvertretungen, wie sie von Reichsorganen vor allem in Gotha 1920 und in Sachsen 1923 vorgenommen worden waren,303 nur geringe Aufmerksamkeit bei der Staatsrechtsdoktrin. Grundsätzliche Bedenken gegen derartige Maßnahmen äußerte lediglich Nawiasky, der - ausgehend von einem betont sicherheitspolizeilichen VerDas Gutachten ist abgedruckt bei Pohlmann, S. 104 ff. Undeutlich Nawiasky, Auslegung, S. 52, der sich unter Bezugnahme auch auf die sächsischen Ereignisse gegen eine "dauernde Amtsenthebung von Landesorganen" aufgrund des Art. 48 Abs. 2 aussprach, aber auf die Zulässigkeit derselben Maßregel, gestützt auf die Befugnis zur Reichsexekution, nicht einging. Auch der frühere sächsische Innenminister Lipinski (zu ihm Huber 5, S. 831) ging von der Verfassungswidrigkeit der Absetzung der sächsischen Regierung aus und berief sich - zu Unrecht - auf Preuß, Verfassung, S. 37 f. (vgl. Lipinski, S. 72 ff.); irrtümlich insofern in jüngster Zeit auch Hohlfeld, S. 116 f.). Zum einen wurde dieses Mißverständnis wohl durch den Aufbau des Preuß'schen Artikels hervorgerufen, der - im juristischen Gutachtensstil - zunächst Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Sequestration bekundete und die Anwendbarkeit des Art. 48 Abs. 1 ablehnte, um dann die Maßnahmen der Reichsleitung in Sachsen auf Art. 48 Abs. 2 zu stützen. Zum anderen hatte Preuß den Reichsorganen "dilettantische Fahrigkeit im Umgang mit der Reichsverfassung" (Verfassung, S. 38) bescheinigt. Damit stellte er allerdings nicht die Eignung der präsidialen Diktaturgewalt als rechtliches Fundament der Sequestration in Abrede; vielmehr bildete der Aufruf des Reichskommissars Heinze vom 29. Oktober 1923 den Gegenstand der Kritik, denn in diesem war - anders als in der Verordnung des Reichspräsidenten vom selben Tage - ausdrücklich auf den ersten Absatz des Art. 48 Bezug genommen worden (vgl. oben A IV 1). 303 Vgl. oben A II 2, IV 1. 301

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ständnis des Art. 48 Abs. 2 - ein "allgemeines Verbot von Landtagsverhandlungen"304, wie es im Oktober 1923 verfügt worden war,305 überhaupt für verfassungswidrig hielt. 306 Auch andere Autoren307 tadelten zwar das Vorgehen des Generalleutnants Müller gegen die sächsische Volksvertretung,308 hielten aber diesseibe Maßnahme, wäre sie vom Reichspräsidenten 309 oder vom zivilen Reichskommissar310 verfügt worden, ausdrücklich für zulässig. Hier war man sich nur über die Rechtsgrundlage uneins. Flad etwa berief sich nicht nur für die Anordnung von Neuwahlen nach Beschlußunfähigkeit der gesetzgebenden Körperschaft (Gotha 1920)311, sondern auch für ein zeitweiliges Verbot von Landtagssitzungen (Sachsen 1923)312 auf den Gesichtspunkt der Ersatzvornahme, also auf die Reichsexekution; andere bezeichneten das Vorgehen der Reichsleitung in Sachsen-Gotha 1920 und Sachsen 1923 schlicht als Exekution, ohne auf die im tradierten Befugniskatalog der Reichsexekution nicht enthaltenen Verfügungen gegenüber Ländervolksvertretungen besonders einzugehen. 313 Jacobj314 und Preuß315 dagegen gingen offensichtlich von der Anwendbarkeit der präsidialen Diktaturgewalt aus. Die Disziplinierung von Landesvolksvertretungen im Rahmen einer Reichsintervention stieß deshalb - trotz mancher Kritik im Einzelfall - in der Lehre nur auf geringen Widerstand. c) Ausnahmezustandstypische Mittel Die ambivalente Wirkung ausnahmezustandstypischer Mittel in den Konflikten zwischen dem Reich und den Ländern 316 erforderte - staatsrechtlich Nawiasky, Auslegung, S. 52. Vgl. oben A 11 2, IV l. 306 Vgl. Nawiasky, Auslegung, S. 52. Mit derselben Begründung wandte sich dieser Autor auch gegen eine "Anstellung von Ersatzfunktionären auf Rechnung des Landesdienstes und dgl."; ebd. S. 52. 307 Flad, S. 132 Fn. 3; Jacobi, Reichspräsident, S. 119 f. Fn. 3 a. E. Vgl. auch Preuß, Verfassung, S. 42: " ... Befehle eines Generals an eine Landesregierung oder eine Landesvertretung sind in einer bürgerlichen Republik ein Unding.". 308 Zu dem unklaren Ablauf dieser Ereignisse siehe oben A IV l. 309 So Jacobi, S. 119 f. 310 So Flad, S. 132, Fn. 3. Wohl auch Preuß, Verfassung, S. 42. 311 Flad, S. 129. 312 Ebd., S. 133. 3!3 Vgl. etwa Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 141; ders., Handkommentar, Anm. I 6 zu Art. 48; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, S. 616 f. 314 Jacobi, S. 119 f. Fn. 3 a. E. 315 Ders., Verfassung, S. 41 f. 316 Vgl. oben A V. 304 305

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gesehen - die Zulässigkeit einer Anwendung der präsidialen Diktaturgewalt auch "gegen die Länder"3!7. Einen solchen Funktionswandel des Ausnahmerechts hatte man in der Staatsrechtswissenschaft früh erkannt und gebilligt. Schon zwei Jahre nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung meinte Hubrich im Rahmen seiner Erörterungen zur Reichsexekution: WeIche besonderen Eingriffe in die Landesverwaltung nach Überwindung des etwaigen gewaltsamen Widerstands vorzunehmen sind, entscheidet ebenfalls das Ermessen des R.Pr. nach Lage des Einzelfalles: Der Regel nach wird es wohl zur Verhängung des Ausnahmezustandes ... kommen. 318

Triepel vertrat wenige Monate vor dem Eingreifen des Reiches in Sachsen die Auffassung: ... sollte sich ereignen, daß der Bestand oder die Sicherheit des Reichs durch die Rebellion eines Einzelstaats bedroht würde, so hätte der Reichspräsident in diesem äußersten Falle die Möglichkeit, auf Grund des zweiten Absatzes des Art. 48 die "nötigen Maßnahmen" zu treffen, erforderlichenfalls gegen den rebellischen Einzelstaat mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschreiten,319

Und Anschütz schrieb in der 1926 erschienenen Ausgabe seines Verfassungskommentars: Die ... getroffenen Maßnahmen können sich nicht nur gegen Privatpersonen, sondern unter Umständen auch gegen die Länder und ihre Organe, mit anderen Worten an und gegen jedermann ... richten ... 320

Gegen diese zunächst einhellige Akzeptanz des von der Staats praxis vollzogenen Funktionswandel wandte sich erst Flad in einer 1929 erschienenen Monographie: Das Einschreiten gegen eine Landesregierung, die selbst die öffentliche Ordnung stört, ist Maßnahme gegen das Land selbst, das damit für die Aufr~chterhaltung verfassungsmäßiger Zustände haftbar gemacht wird. Die Realisierung dieser Haftung aber geschieht durch Reichsexekution, nicht durch Anwendung der Diktaturgewalt. 321

Die überwiegende Billigung eines Einsatzes der Reichsdiktaturgewalt auch "gegen die Länder" findet seinen staatsrechtlichen Hintergrund in den Konstruktionen der spätkonstitutionellen Doktrin. Ihre führenden Vertreter deuteten das Verhältnis zwischen Reich und Ländern entweder nach dem Vorbild 317 So der erstmals von Anschütz, 1926, Anm. 12 zu Art. 48 verwendete Ausdruck. Zur Heckeischen Unterscheidung der Diktatur "gegen" bzw. "mit einem Land" vgl. ders., Urteil,

S. 199 f.

318 Hubrich, S. 106 ff. 319 Triepel, Streitigkeiten, S. 64. 320 Anschütz, 1926, Anm. 12 zu Art. 48. Ähnlich Poetzsch-Heffter, Handkommentar, Anm. 13 zuArt. 48. 321 Flad, S. 119.

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3. Kap.: Reich und Länder

des Verhältnisses Herrscher-Untertan,322 oder sie stellten - mit denselben Konsequenzen 323 - auf die Charakterisierung der Einzelstaaten als "Selbstverwaltungskörper" ab;324 Sinn dieser Begriffsbildungen war es, Inhalt und Reichweite der "Reichsaufsicht" zu bestimmen. Diese Lehre galt zunächst auch in der Weimarer Zeit325 und förderte die Gleichstellung von Ländern und Untertanen als Adressaten von Diktaturmaßnahmen, wie es sich besonders deutlich an der soeben zitierten Formulierung Anschütz' ablesen läßt. 326 Damit hatten sich ihre Konsequenzen freilich ins Gegenteil verkehrt. Denn die Gleichstellung der Länder mit "Untertanen" oder "Selbstverwaltungskörperschaften" , die ursprünglich zur Zivilisierung der militärisch geprägten Exekutionsgewalt führte und dieses Zwangsmittel als ,ultima ratio' der Reichsaufsicht in einem Netz verwaltungsrechtlicher Regeln einfing, bewirkte nunmehr eine Entgrenzung der zentralstaatlichen Eingriffsbefugnisse: neben die überlieferten Mittel der Exekution traten am Vorbild des Belagerungszustandes ausgerichtete Diktaturmaßnahmen. d) Zum Verhältnis von Diktatur und Reichsexekution Mit dem Funktionswandel des Ausnahmerechts stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von Reichsexekution und Diktaturgewalt. In der Auslegung des Bismarckschen Staatsrechts ergaben sich für die beiden Rechtsinstitute noch keine Berührungspunkte. 327 Die neue republikanische Verfassung faßte jedoch Exekution und Ausnahmebefugnis aus Gründen redaktioneller Vereinfachung zusammen. 328 Dies schlug im Zusammenspiel mit der auf juristisch wenig präzisen Staatspraxis329 alsbald auf die Interpretation durch. 322 So Haenel, G. Jellinek, Laband, Rehm, v. Stengel; Nachweise bei Triepel, Reichsaufsicht, S. 171. 323 Vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 171: "Denn alle diese Verbände ... sind Untertanen des Staates gen au in demselben Sinne wie die physischen Personen, die auf seinem Gebiete wohnen." 324 So Haenel und Laband. Nachweise bei Triepel, Reichsaufsicht, S. 170. Zur Kritik dieser Gleichstellung von Einzelstaaten mit "Untertanen" und "Selbstverwaltungskörpern" schon Triepel selbst, Reichsaufsicht S. 170 ff. und für die Weimarer Zeit vor allem Heckei, Urteil, S. 192 ff., insbesondere S. 199 f., 209 ff. Vgl. auch oben 1 b aa. 325 Ausdrücklich etwa Hubrich, S. 104: " ... Länder sind staatsrechtlich Untertanen des Reichs ... ". 326 Zu Anschütz vgl. Kelsen, Bundesexekution, S. 127 f. 327 Vgl. oben 1 b dd. 328 Vgl. oben Erstes Kapitel A und ausführlich Anschütz, Reichsexekution, S. 377 ff. 329 Kritisch etwa Anschütz, 1926, Anm. 2 a. E. zu Art. 48 und besonders pointiert Preuß, Verfassung, S. 37 ff.

B. Staatsrechtlicher Teil

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Erscheint bei Hubrich 330 der Ausnahmezustand als ergänzendes Mittel der Reichsexekution, so vertrat die Reichsleitung in einem Rechtsgutachten, das anläßlich der sächsischen Ereignisse im Herbst 1923 verfaßt worden war, die entgegengesetzte Auffassung: ... der schwerste Fall der Maßnahmen auf Grund des Artikels 48 ist der der Reichsexekutive; wenn ein Land seine ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident "es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten", also durch eine militärische Exekution die Verwirklichung dieser Pflichten erzwingen. 331

In der Staatsrechtswissenschaft fand diese Meinung keine Unterstützung, sie erfuhr sogar harsche Kritik: Gegen die Einordnung der Reichsexekution als ,ultima ratio' der Ausnahmegewalt wurde geltend gemacht, daß sie "die Reichsexekution und das Verordnungsrecht des Reichspräsidenten ununterschieden durcheinander"332 gehen lasse, daß die Reichsexekutive im Sinne des "militärischen Ausnahmezustandes" mit der Reichsexekution verwechselt worden sei. 333 Darüber hinaus läßt sich freilich auch in der Doktrin kein Konsens über das Verhältnis von Diktaturgewalt und Reichsexekution feststellen. Anschütz etwa betonte, die beiden Rechtsinstitute seien "scharf zu trennen"334, meinte aber auch, daß "unter Umständen" Maßnahmen nach Art. 48 Abs. 1 und 2 "eng zusammengehen und verflochten" sein könnten, so, "wenn pflichtwidriges Handeln oder Unterlassen einer Landesregierung Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Gestalt aufrührerischer Bewegungen verursacht oder bezweckt"335 habe. Der in der Weimarer Zeit erstmals von Poetzsch-Heffter für die Reichsexekution fruchtbar gemachte Begriff der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung"336 diente somit auch der Verknüpfung von Exekution und Ausnahmezustand. Eine klare Unterscheidung der beiden Institute indes hatte Anschütz mit dieser Argumentation gerade für die praktisch gewordenen Interventionsfälle aufgegeben. Freilich wurde auch die gegenteilige Auffassung vertreten: Flad etwa berief sich auf die Exklusivität der Exekution, sofern das Reich die Einhaltung verfassungsmäßiger Pflichten der Länder einforderte. 337 Andere verzichteten offen auf jede Interpretation: Vgl. oben c. Akten, Die Kabinette Stresemann, Bd. 2, NT. 187: Undatierte und nichtsignierte "Aufzeichnung über die verfassungsrechtlichen Maßnahmen gegen ein Land auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung" . 332 Landau, S. 42. 333 Vgl. Schmitt, Reichspräsident, S. 69. 334 Anschütz, 1926, Anm. 1 zu Art. 48. 335 Ebd. Ebenso Poetzsch-Heffter, Handkommentar, 1928, Anm. 12 a a. E. zu Art. 48. 336 Dazu oben a bb. 330 331

140

3. Kap.: Reich und Länder

... zeigt sich, daß die Bestimmungen dieser bei den Absätze ineinanderfließen und Grenzlinien kaum zu ziehen sind. 338

Trotz der durchaus kontroversen Stellungnahmen zum Verhältnis von Exekution und Ausnahmegewalt läßt sich ein Gemeinsames herauslesen: die ganz überwiegende Ansicht hielt eine Kombination von diktatorischen Maßnahmen auch "gegen Länder" und Zwangsmaßregeln aufgrund der Reichsexekution für zulässig. e) Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Interventionsbefugnisse, welche das Reich im Zuge der Verfassungskonflikte mit den Ländern in Anspruch genommen hatte - Weisungs rech te und Rechtsetzungskompetenz, Eingriffe in Rechte der Landesvolksvertretungen sowie Sequestration der Landesstaatsgewalt - befanden sich nach Auffassung der hersehenden Lehre trotz aller Kritik ,en detail' grundsätzlich im Einklang mit der Reichsverfassung. Zwar wurden die Rechtsgrundlagen für bestimmte von Reichsorganen verfügte Einzelrnaßregeln kontrovers beurteilt. Vor allem war in der zeitgenössischen Diskussion heftig umstritten, ob die Absetzung von Landesregierungen durch das Reich als Maßnahme der präsidialen Diktaturgewalt zulässig war. Dieser literarischen Auseinandersetzung kam indes nur geringe praktische Bedeutung zu, denn die herrschende Ansicht erlaubte der intervenierenden Reichszentralgewalt - mit den verschiedensten Begründungen - eine Kombination präsidialer Diktaturmaßnahmen mit den Zwangsmitteln der Reichsexekution. Im Ergebnis waren der Reichsleitung unter der Herrschaft der Weimarer Verfassung ganz ähnliche Befugnisse eingeräumt, wie sie zur unmittelbar nach Gründung des Bismarckreichs von Rönne und teilweise auch von Mohl der Zentralgewalt im Rahmen der Exekution hatten zusprechen wollen. 339 4. Die präsidiale Diktaturgewalt als Mittel der "kalten" Reichsexekution

Die verfassungsrechtliche Anerkennung der präsidialen Diktaturgewalt als eines zentralen Mittels der Reichsintervention erweiterte die Zwangsbefugnisse des Reiches gegenüber den Länder beträchtlich. 337 Vgl. Flad, S. 119, wobei dieser Autor durch eine weite Interpretion der Exekutionsbefugnis (s. o. S. 243 f. zu den Eingriffsrechten gegenüber den Landesvolksvertretungen) entscheidende Konsequenzen seines Ansatzes wieder aufgab. Ähnlich wie Flad die Prozeßbevollmächtigten der Antragsteller im "Preußenschlag"-Verfahren 1932; vgl. etwa Hermann Heller, Preußen, S. 136 f. 338 Pohlmann, S. 104. 339 Vgl. v. Rönne, Deutsches Staatsrecht, S. 70 ff. und v. Mohl, Reichstaatsrecht, S. 159 f. Im Einzelnen zu Anordnungs- und Weisungsrechten oben 1 b bb; zu den Eingriffsbefugnissen gegenüber "widerstrebende(n) Unterthanen" und "Landesvertretungen" oben 1 b aa.

B. Staatsrechtlicher Teil

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Die spätkonstitutionelle Lehre hatte der Reichszentralgewalt als wesentliches Mittel der Exekution die Ersatzvornahme zur Verfügung gestellt, ein Instrument, das auf die ersatzweise Durchführung vertretbarer Handlungen, also die Behebung verwaltungstechnischer Mängel zugeschnitten war und daher zur Entscheidung eines Konflikts zwischen Reich und Ländern lediglich dann taugte, wenn die Meinungsverschiedenheit zwischen Zentral- und Landesgewalt sich ausschließlich auf die Zulässigkeit oder Erforderlichkeit einzelner, in ihrer Wirksamkeit scharf abgrenzbarer Rechtsakte bezog. Ließ sich die Pflichtwidrigkeit des Gliedstaates nicht in eine Summe solcher Rechtsakte zerlegen, war das bundesstaatliche Gefüge durch das Gesamtverhalten gliedstaatlicher Organe bedroht, fand sich unter den Befugnissen, welche die Staatsrechtslehre der Reichszentralgewalt ausdrücklich zugestanden hatte, nur eines, mit welchem der Vorrang des föderativen Gesamtverbandes mit Aussicht auf Erfolg gesichert werden konnte: Die Absetzung des politischen Leitungsorgans des Gliedstaates, der "renitenten" Landesregierung. Für den Fall, daß das Reich diesen schmerzhaften Eingriff nicht wagen wollte, fehlte es an subtileren, die einzelstaatliche Autonomie geringer beeinträchtigenden Z wangsmi tteln. Mit Hilfe der präsidialen Diktaturgewalt konnte nunmehr die instrumentelle Lücke aufgefüllt werden, welche sich zwischen der Ersatzvornahme und der Sequestration aufgetan hatte. Weisungsbefugnisse, die sowohl gegenüber Landesbehörden und Landesregierungen ausgeübt werden durften, die Befugnis zur Rechtssetzung, welche sich nicht auf Normen beschränkte, zu deren Erlaß eigentlich die Landesgewalt verpflichtet gewesen wäre, eröffneten eine breite Palette von Möglichkeiten, den politischen Willen des Reiches gegenüber den Gliedstaaten zur Geltung zu bringen, bevor die Absetzung der Landesregierung als unabweisbar erschien. Zugleich waren die Folgen ausgeglichen, welche die Verdrängung der militärischen Exekution aus dem spät konstitutionellen Staatsrecht verursacht hatte. Die Erreichung des Zieles, einen "so langen und starken Druck auf die einzelstaatlichen Organe auszuüben, bis sie in den landesrechtlichen Formen das Geforderte veranstalten" (Haenel), hatte sein Mittel in der Verhängung des Ausnahmezustandes gefunden, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen bot der "Ausnahmezustand" der militärischen Exekution eine flexible rechtliche Form; dessen erprobte Organisationsstruktur sicherte zugleich die Rückbindung der vor Ort handelnden Organe - militärische Befehlshaber, zivile Regierungskommissare - an die politischen Leitungsorgane des Reiches. Zum anderen waren die Reichsorgane mit Befugnissen - vor allem mit Weisungsrechten - ausgestattet, welche ihnen überhaupt erst über die bloße militärische Präsenz hinaus Handlungsfähigkeit nach außen verlieh. Ferner ermöglichte die Anwendung des Art. 48 Abs. 2 im Rahmen einer Reichsintervention die Impermeabilitätsschranke zu überwinden und von der

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3. Kap.: Reich und Länder

"Oberaufsicht" zur "unmittelbaren Aufsicht" überzugehen. 34o Damit war zum einen der Zugriff auf untergeordnete Landesbehörden sichergestellt, zum anderen trug dies in besonderem Maße der Einführung der parlamentarischen Regierungsweise in den Ländern Rechnung. Die Landesregierungen wurden nunmehr von den jeweiligen Volksvertretungen berufen und waren von deren Vertrauen abhängig. Daraus folgte: Ging eine Störung des gesamtstaatlichen Gefüges von der Volksvertretung aus und durfte das Reich gegen diese unmittelbar vorgehen, ersparte sich die Zentralgewalt den für die Reichsexekution vorgeschriebenen Umweg über eine Landesregierung, die sich möglicherweise gegenüber des zu ihrer Kontrolle berufenen Organs als nur begrenzt durchsetzungsfähig erwies. 341 Ferner konnte das Reich durch unmittelbare Einflußnahme auf das Parlament indirekt auch auf die Politik des Landeskabinetts einwirken, bis hin zu dessen Neuwahl. Zu dieser Ergänzung der zentral staatlichen Eingriffsbefugnisse trat eine erhebliche Einschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten der Länder. Für die Reichsexekution waren die Auswirkungen eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens auf die Wirksamkeit der vom Reichspräsidenten verhängten Zwangsmaßregeln umstritten: Anschütz etwa vertrat bereits in der ersten Auflage seines Kommentars zur Reichsverfassung342 eine eindeutig pro-unitarische Ansicht: Die Entscheidung des Reichspräsidenten darüber, ob ein Fall der Pflichtverletzung seitens des betreffenden Landes vorliege, lasse das Recht des Landes, gemäß Art. 19 den Staatsgerichtshof anzurufen, unberührt, andererseits werde "durch das Streitverfahren vor dem Staatsgerichtshof die auf Grund des Art. 48 verfügte Exekution nicht gehemmt. "343 Damit war die Schlagkraft dieses schärfsten Instruments der Zentralgewalt auch im Eilfall garantiert. Andere 344 gingen davon aus, daß das Reich an der Durchführung der Exekution gehindert sei, sobald das Land diesbezüglich ein gerichtliches Verfahren einleitete. Die Exekution durfte nach dieser Ansicht also nur fortgesetzt werden, nachdem der Staatsgerichtshof (vgl. Art. 15 Abs. 3 und 19) oder der zuständige oberste Gerichtshof des Reiches (Art. 13 Abs. 2) die Pflichtverletzung des Landes festgestellt hatten.

Dazu oben Fn. 247. Folgerichtig konstruierte Heckel die "Länderverfassungsaufsicht" , die als Remedium vor allem gegen die Funktionsunfähigkeit des Landesparlaments gedacht war, als "unmittelbare Aufsicht". Vgl. ders., Urteil, S. 216. 342 Ders., 1921, Anm. 1 zu Art. 48. 343 Ebd. So auch v. Freytagh-Louringhoven; S. 145 Anm. 1; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, S. 615 f. 344 Etwa Lammers, S. 67 f.; grundsätzlich auch Nawiasky, Gedanke, S. 154; zu ihm aber auch sogleich Fn. 345. 340

341

B. Staatsrechtlicher Teil

143

Noch weiter ging Triepel im Jahre 1922: Der Reichspräsident darf die Exekution nicht eher anordnen, als der Staatsgerichtshof oder ein anderes Gericht ... das Vorhandensein der im Art. 48 angegebenen Exekutionsvoraussetzung rechtskräftig festgestellt hat. 345

Bewirkte nun die Einleitung eines verfassungsgerichtliches Verfahren die Hemmung der Exekution, bildete ein solches Verfahren gar die Voraussetzung für deren Anordnung, war dieses Instrument als Disziplinierungsmittel der Reichsgewalt entwertet, sofern es gerade auf unverzügliches Handeln ankam. 346 Demgegenüber konnte ein Land präsidiale Diktaturmaßnahmen zwar verfasssungsgerichtlich überprüfen lassen (vgl. Art. 19),347 daß die Einleitung des Verfahrens vor dem Staatsgerichtshof die Wirksamkeit der vom Reichspräsidenten verfügten Anordnungen suspendiere, wurde indes von niemandem vertreten. 348 Nach alle dem lag es nahe, unter Berufung auf die konstitutionelle Notstandsgewalt die instrumentelle Lücke zu schließen, die infolge einer restriktiven Interpretation der prozessualen Exekutionsvoraussetzungen entstanden war - ein Ausweg, auf den gerade Triepel auch ausdrücklich verwiesen hatte. 349 Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Uminterpretation des Art. 48 Abs. 2 in ein wesentliches Mittel der zentralstaatlichen Interventionsgewalt erweiterte die Zwangsbefugnisse des Reiches gegenüber den Ländern im beträchtlichen Umfang. Die Zentralgewalt verfügte nunmehr über ein differenziertes Instrumentarium zur Beeinflussung der landesstaatlichen Politik, vor allem durfte sie - unter Abkehr vom überlieferten Impermeabilitätsdogma - unmittelbar in die Landesorganisation eingreifen. Zudem war der Rechtsschutz der Länder im Vergleich zur klassischen Exekution erheblich eingeschränkt. Die staatsrechtliche Doktrin hatte der Zentralgewalt im praktischen Ergebnis ein neben den traditionellen Zwangsbefugnissen stehendes Recht zur "kalten" Reichsexekution zugebilligt.

345 Triepel, Streitigkeiten, S. 59. Im praktischen Ergebnis ähnlich Nawiasky, Gedanke, S. 154 und Poetzsch, 1921, Anm. 2 zu Art. 48: Entscheidung des Staatsgerichtshofs sei dann erforderlich, wenn das Bestehen einer Rechtspflicht des Landes streitig sei. Unklar Giese, 1921, Anm. 2 zu Art. 48. 346 Hinweis auf die Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Verfügung durch den Staatsgerichtshof bei Poetzsch-Heffter, Handkommentar, Anm. 13 a a. E. zu Art. 48. Überblick über den Meinungsstand der späten Weimarer Jahre bei Huber 6, S. 732 f. 347 Überblick über die Voraussetzungen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle in jüngster Zeit bei Huber 6, S. 727 f. 348 Überhaupt beschäftigte sich die zeitgenössische Literatur regelmäßig nur mit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der aufgrund des Art. 48 Abs. 4 getroffenen Notstandsmaßnahmen der Landesregierungen. Dazu oben Zweites Kapitel B II 4 a. 349 Vgl. oben Fn. 345. Ähnlich Poetzsch-Heffter, Handkommentar, Anm. 13 a zu Art. 48.

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3. Kap.: Reich und Länder IV. Ergebnis

Die ganz herrschende Meinung vertrat eine betont pro-unitarische Auslegung des Art. 48. Dies gilt zum einen für die Ausnahmegewalt der Landesregierungen (Art. 48 Abs. 4). Dieser kam sowohl gegenüber Notstandsmaßnahmen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs. 2 wie im Verhältnis zu anderen Akten der Krisenbewältigung durch das Reich eine lediglich subsidiäre Funktion zu. Der Vorrang der Zentralgewalt konnte - nach dem Herbst 1923 unbestritten - mit dem schlagkräftigen Instrument der Reichsexekution (Art. 48 Abs. 1) durchgesetzt werden. Dies trifft zum anderen auch auf die Befugnis des Reiches zu, unter Berufung auf Art. 48 Abs. 2 grundsätzlich den Ländern vorbehaltene Kompetenzen auf den Gebieten der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Justiz an sich zu ziehen. Ferner verlieh die Befugnis zur Reichsintervention, vor allem die Anwendbarkeit der Diktaturgewalt auch "gegen Länder", dem Reich die Rechtsmacht, mit Hilfe eines differenzierten Instrumentariums die Länder dem politischen Willen der Zentralgewalt zu unterwerfen. Nach alledem waren Inhalt und Umfang einer autonomen gliedstaatlichen Politik der Entscheidung des Reichspräsidenten überantwortet.

Viertes Kapitel

Legislativnotstand und Diktaturgewalt A. Historisch-politischer Teil In den Jahren 1919 - 25 nahmen die Reichsleitung und die Landesregierungen Normsetzungsbefugnisse in Anspruch, die mit dem ordentlichen Weg der Gesetzgebung - für das Reich in Art. 68ff. geregelt - in Konkurrenz traten. I. Die Ermächtigungsgesetzgebung

Das vom Umfang her bedeutendste Instrument einer exekutivischen vereinfachten Normsetzung war die Ermächtigungsgesetzgebung. 1. Diese fand ihr Vorbild in der Delegation der Gesetzgebungsgewalt durch das Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914,1 das den Bundesrat ermächtigte, "während der Zeit des Krieges diejenigen gesetzlichen Maßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe wirtschaftlicher Schädigung als notwendig erweisen." (§ 3). Der Bundesrat hatte auf dieser Rechtsgrundlage über 1600 Verordnungen erlassen, die insbesondere der Lenkung der Kriegswirtschaft dienten. 2 Noch vor Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung setzte die Nationalversammlung diese Praxis fort, indem sie drei Ermächtigungsgesetze verabschiedete: das Notgesetz für elsäßisch-lothringische Angelegenheiten vom 1. März 19193 , das die Reichsregierung mit Zustimmung des Staatenausschusses ermächtigte, "zur Abwehr von Nachteilen, die sich aus der Besetzung ElsaßLothringens ergeben, Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen", das Gesetz zur Durchführung der Waffenstillstandsbedingungen vom 6. März 1919,4 sowie das Gesetz über eine vereinfachte Gesetzgebung für Zwecke der Übergangswirtschaft vom 17. April 1919,s das zur Anordnung derjenigen gesetzlichen Maßnahmen ermächtigte, "welche sich zur Regelung des Übergangs von der Kriegswirtschaft in die Friedenswirtschaft als notwendig und dringend" erwiesen. 1 2

3 4

S

RGBI., S. 325. Vgl. Frehse, S. 27 ff. RGBI., S. 257. RGBI., S. 286. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 177. RGBI. S. 394; Text: Huber, Dok. 3, Nr. 178.

10 Kurz

146

4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

In ähnlich weitem Umfang übertrug auch der Reichstag insgesamt fünfmal seine Gesetzgebungsmacht auf die Reichsregierung: wieder für "Zwecke der Übergangswirtschaft" in den Jahren 1920 und 1921 6 , anläßlich des Ruhrkampfes 1923 insbesondere "zur Abwehr fremder Einwirkungen"7, und - noch weitergehender - während der katastrophalen Wirtschaftslage des Herbstes 1923 "für diejenigen Maßnahmen, welche die Reichsregierung auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiete"8 oder gar im "Hinblick auf die Not von Volk und Reich"9 für "erforderlich und dringend" erachtete. 2. Institutionell war die Normsetzungsbefugnis der Reichsregierung mehrfach beschränkt: Jedes der acht Ermächtigungsgesetze sah die Aufhebung der von Exekutive erlassenen "Vollmacht-Verordnungen"l0 auf Verlangen der Nationalversammlung oder des Reichstags vor - insoweit entsprachen diese Regelungen Art. 48 Abs. 3 Satz 2. Ferner waren beim Erlaß der Regierungsverordnungen in der Regel weitere Reichsorgane - insbesondere die Organe der ordentlichen Gesetzgebung - in unterschiedlichem Umfang eingeschaltet,!l Schließlich lag eine Einschränkung der exekutivischen Verordnungsbefugnis in der regelmäßigen zeitlichen Befristung der Ermächtigungsgesetze. 12 3. Über die Weimarer Ermächtigungsgesetze hinaus bedienten sich die Reichsministerien der während des Weltkrieges vom Bundesrat erlassenen Verordnungen zur Sicherung der Volksernährung einerseits, zur wirtschaftlichen Demobilmachung andererseits;13 beide beruhten auf dem Kriegsermächtigungsgesetz vom 4. August 1914. 14 4. Die Bedeutung dieser exekutivischen Rechtsetzungsbefugnis war enorm. Poetzsch-Heffter zählte für die Zeit vom 1. Januar 1920 bis 31. Dezember 1924 über 400 gesetzvertretende Verordnungen, denen etwa 700 formelle - im Wege der ordentlichen Gesetzgebung beschlossene - Reichsgesetze gegen6 Reichsgesetz über die vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft vom 3. August 1920, RGBI. S. 1493. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 179. Reichsgesetz über den Erlaß von Verordnungen über die Zwecke der Übergangswirtschaft vom 6. Februar 1921; RGBI. S. 139, Text: Huber, Dok. 3, Nr. 180. 7 Art. VI des Reichsnotgesetzes vom 24. Februar 1923; RGBI. I S. 147. Text auszugsweise bei Huber, Dok. 3, Nr. 181. 8 Erstes Reichsermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923, RGBI. I, S. 943. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 182. 9 Zweites Reichsermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923, RGBI. I, S. 1179. 10 Huber 6, S. 440. 11 Näher Huber 6, S. 440 f. Keine Beteiligung weiterer Organe allerdings in den Gesetzen vom 13. Oktober und 8. Dezember 1923. 12 Näher Huber 6, S. 440 f. 13 Vgl. Huber 6, S. 437. 14 Vgl. 1.

A. Historisch-politischer Teil

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überstanden.1 5 Über die Hälfte der Zeitspanne vom Inkrafttreten des ersten Weimarer Ermächtigungsgesetzes vom 1. März 1919 bis zum Ablauf der Geltungsdauer des Reichsgesetzes vom 8. Dezember 1923 Mitte Februar 1924 verfügte die Reichsregierung über außerordentliche gesetzgeberische Vollmachten, die ihr vom Parlament übertragen worden waren. 16 Die weitaus meisten Vollmacht-Verordnungen waren wirtschaftslenkende Maßnahmen, die zunächst den Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft sichern sollten, dann insbesondere der Überwindung der Weltwirtschaftskrise dienten, die im Herbst 1922 auch auf das Deutsche Reich übergegriffen hatte. I? Dabei bediente sich die Exekutive nunmehr auch zur Erzielung öffentlicher Einnahmen der Ermächtigungsgesetzgebung - auf diesem Gebiet war der Bundesrat während des Weltkrieges nur sehr zurückhaltend tätig geworden l8 . Die Reichsregierung erließ auf diesem Wege nicht nur umfangreiche Steuerverordnungen,19 sondern finanzierte darüberhinaus Staatsausgaben durch Kredite und öffentliche Anleihen. Unter Berufung auf das Notgesetz vom 24. Februar 192320 erhöhte die Reichsregierung etwa ihren im Nachtragshaushalt vorgesehenen Kreditrahmen um 6500 Billionen Mark und beauftragte den Reichsfinanzminister mit der Ausgabe von Schatzanweisungen21 ; das Gesetz vom 8. Dezember 192322 diente als Grundlage einer Ermächtigung des Reichsverkehrsministers und des Reichspostministers zur Aufnahme von Darlehen. 23 Im Rahmen der Ermächtigungsgesetzgebung beschränkte sich die Reichsregierung keineswegs auf die Überwindung augenblicklicher, insbesonderer ökonomischer Notlagen. 24 Die Exekutive erließ darüberhinaus zahlreiche auf Dauer berechnete Reformverordnungen, die grundlegende Umgestaltungen 15 Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 216, der eine Zahl von 450 Verordnungen nannte; darin sind 44 "wirtschaftliche Verordnungen" aufgrund des Art. 48 Abs. 2 inbegriffen. 16 Vgl. auch Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 216, der allerdings die Ermächtigungsgesetze vom 1. und 6. März 1919 außer Betracht läßt. 17 Vgl. den Überblick bei Frehse, S. 50 f., 55, 64 ff., 72, 79, 89 ff., 107 ff., 129 ff. 18 Dazu .Frehse, S. 32. 19 Vgl. Frehse, S. 90, 129 ff. 20 S. o. 1. 21 Verordnung vom 20. September 1923, RGBI. II S. 386; nicht verzeichnet bei PoetzschHeffter, Staatsleben 1, S. 212. 22 S. o. Fn. 9. 23 Verordnung über die Ermächtigung des Reichsverkehrsministers und des Reichspostministers zur Aufnahme von Darlehen vom 13. Februar 1924; RGBI. I, S. 70. Die hiermit begründete haushaltsrechtliche Sonderstellung der genannten Ressorts wurde noch im selben Jahr auf die Grundlage eines verfassungsändernden Reichsgesetzes gestellt, nämlich auf das Reichspostfinanzgesetz vom 18. März 1924 (RGBI. S. 287) und das Reichsbahngesetz vom 30. August 1924/13. März 1930 (RGBI. 11, 1924, S. 273; 1930, S. 369). Näher Anschütz, 1933, Anm. 3 zu Art. 87. 24 Zur Maßnahmegesetzgebung in der Weimarer Zeit allgemein Huber 6, S. 416 ff.

10*

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

der deutschen Sozial-, Wirtschafts-, und Justizverfassung enthielten. 25 Auf der Grundlage des Übergangswirtschaftsgesetzes vom 17. April 191926 etwa schuf die Reichsregierung den in Art. 165 vorgesehenen Reichswirtschaftsrat27 , richtete das Reichsamt für Arbeitsvermittlung ein 28 und bildete das Reichswirtschaftsgericht.29 Kernstücke der Wirtschafts- und Sozialverfassung der Weimarer Zeit wie das Schlichtungswesen30 und das KartellrechPl beruhten auf dem Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 192332 . Das Gesetz vom 8. Dezember 192333 schließlich bildete das rechtliche Fundament für die Umgestaltung des Steuerwesens34 und die Emmingersche Justizreform. 35 5. Zu diesen acht Ermächtigungsgesetzen, die in außerordentlich weitem Umfang Gesetzgebungskompetenzen auf die Exekutive übertrugen, traten zahlreiche parlamentarische Spezialermächtigungen. Auf der Grundlage zu Fall zu Fall gewährter "Notetatgesetze" verwaltete die Reichsregierung zeitweise den Reichshaushalt,36 - ohne daß dieser vor Beginn des Haushaltsjahres durch ein in Art. 85 Abs. 2 vorgeschriebenes Reichsgesetz festgestellt worden wäre.37 Desweiteren ermächtigte der Reichstag die Regierung mehrfach zur Verlängerung der Gültigkeitsdauer mit ausländischen Staaten geschlossener Handelsabkommen14,38 und übertrug auf diesem Wege sein in Art. 45 Abs. 3 25 Vgl. Huber 6, S. 442; dort auch eine Übersicht über die wichtigsten auf Grund der Ermächtigungsgesetzgebung eingeführten Neuerungen. 26 S. o. Fn. 5. 27 Verordnung vom 4. Mai 1920; RGBI., S. 858. Die Verordnung blieb bis zum Ende der Weimarer Republik in Kraft; vgl. Huber 6, S. 395. 28 Verordnung vom 5. Mai 1920; RGBI., S. 876. Abgelöst durch das Gesetz vom 16. Juli 1927; vgl. Huber 6,S. 438 Fn. 18. 29 Verordnung vom 21. Mai 1920, RGBI., S. 876. Diese galt bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vom 25. Februar 1938; RGBI. I, S. 216. 30 Verordnung vom 30. Oktober 1923; RGBI., S. 1043. 31 Verordnung vom 2. November 1923; RGBI., S. 1067. 32 Vgl. oben Fn. 8. 33 Vgl. oben Fn. 9. 34 Vgl. die Zweite und Dritte Steuernotverordnung vom 19. Dezember 1923 (RGBI. I, S. 1203) und vom 14. Februar 1924 (RGBI. I, S. 74). 35 Vgl. die Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924 (RGBI. I, S. 15). Weitere Beispiele bei Huber 6, S. 437, 442 f. 36 Gesetze vom 31. März 1920 (RGBI., S. 425); vom 18. März 1924 (RGBI. 11, S. 67, 70); vom 12. Juni 1924 (RGBI. 11, S. 129); vom 28. Juli 1924 (RGBI. 11, S. 129). Insbesondere zu letzterem vgl. Huber 7,S. 501. 37 Zur verfassungsrechtlichen Problematik des "Notetats" vgl. Huber 6, S. 502. 38 Gesetz über die Ermächtigung der Reichsregierung zur Verlängerung der Gültigkeitsdauer des deutsch-portugiesischen Handelsübereinkommens vom 28. April 1923, vom 12. Dezember 1923 (RGBI. 11, S. 456); Gesetz über die Ermächtigung der Reichsregierung zur Verlängerung der Gültigkeitsdauer des vorläufigen Handelsabkommens (vom 15. Januar 1923) zwischen der Deutschen Regierung und der könglich spanischen Regierung vom 22. Dezember 1923 (RGBI. 11, S. 493). Diese Praxis bildete den Vorläufer zu den in den Jahre 1926/27 erfolgten Ermächtigungen zur vorläufigen Inkraftssetzung von Wirtschaftsabkommen; zu dieser späteren Praxis Huber 6, S. 448 f.; 467.

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garantiertes Recht zur Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung bezogen, auf ein Organ der Exekutive. 11. Das Notverordnungsrecht

Neben der Delegation der parlamentarischen Gesetzgebungsgewalt durch Ermächtigungsgesetz kannte das deutsche Staatsrecht ein weiteres - aus der konstitutionellen Monarchie überliefertes - Instrument der vereinfachten Gesetzgebung: das Notverordnungsrecht. 1. "Notverordnungen" - so lautete die Definition bei Meyer/ Anschütz39 "sind Verordnungen mit formeller Gesetzeskraft (gesetzvertretende Verordnungen), welche vom Monarchen erlassen werden, wenn ein dringender Notstand das Tätigwerden der Exekutive gebietet, indessen Gefahr im Verzuge ist, so daß die Legislative für die Bedürfnisse der Lage zu langsam arbeiten würde".

2. Die Bismarcksche Reichsverfassung kannte eine solche Befugnis nicht,40 doch enthielten im Kaiserreich deutsche Landesverfassungen entsprechende Normen. 41 Diese knüpften den Gebrauch des vereinfachten Gesetzgebungsverfahrens durchweg an strenge Voraussetzungen, die sich nicht aus der allgemein gehaltenen Definition Anschütz' entnehmen lassen. Ein typisches Beispiel bietet Art. 63 der preußischen Verfassungsurkunde von 185042 , an dessen Auslegung sich auch die Staatsrechtswissenschaft der übrigen deutschen Länder orientierte: Nur in dem Falle, wenn die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen Notstandes es dringend erfordert, können, insofern die Kammern nicht versammelt sind, unter Verantwortlichkeit des gesammten Staatsministeriums, Verordnungen, die der Verfassung nicht zuwider laufen, mit Gesetzeskraft erlassen werden. Diesselben sind aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen.

Das Notverordnungsrecht des Monarchen wurde also eingeschränkt durch das Erfordernis des Nichtversammeltseins der Kammern, dann durch die Genehmigungspflicht, schließlich durften die Verordnungen der Verfassung "nicht zuwider laufen". 3. Die Weimarer Reichsverfassung sah ein solches traditionelles Notverordnungsrecht nicht vor. Dies ergab sich eindeutig bereits aus ihrer Entstehungsgeschichte. Hugo Preuß nämlich hatte am 12. März 1919 im Verfassungsausschuß ausdrücklich erklärt: Anschütz, in: Meyer, Lehrbuch, 7. Aufl., S. 676. Nur in Elsaß-Lothringen kam dem Kaiser ein Notverordnungsrecht zu; vgl. Huber 4, S.446. 41 Vollständige Übersicht bei Glatzer, S. 8 f. 42 Text: Huber, Dok. 1, Nr. 168. 39 40

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

Das Notverordnungsrecht ist absichtlich aus dem Entwurf herausgelassen worden ... In normalen Zeiten kann heutzutage das Parlament immer schnell genug berufen werden. 43

Für "außergewöhnliche Zeiten"44 verwies Preuß auf die Ermächtigungsgesetzgebung: ... da wird immer die Möglichkeit gegeben sein, im Wege der Gesetzgebung, für gewisse Zeit und unter gewissen Voraussetzungen eine Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen zu erteilen. 45

Ferner bemerkte Preuß am 9. April- ebenfalls vor dem Verfassungsausschuß: der Art. 68 E IV (= Art. 48 Abs. 2) solle "gewissermaßen ein Ersatz für die sonst fehlende Notverordnung"46 sein, ohne dies aber näher zu erläutern. 4. Im Gegensatz zur Rechtslage im Reich stand in vierzehn der achtzehn deutschen Länder dem "Staatsministerium" oder der "Landesregierung" ein ausdrücklich geregeltes Notverordnungsrecht zur Verfügung. 47 Von dieser Befugnis machten die Länderexekutiven auch regen Gebrauch. In Preußen etwa ergingen von Februar 1921 bis Ende 1924 insgesamt 66 Notverordnungen,48 allein 46 auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise zwischen August 1923 und April 1924. 49 Insgesamt erließen die Landesregierungen in den Jahren 1919-24 knapp 200 Notverordnungen. 50 Der Anwendungsbereich dieser Legislativkompetenz lag in sämtlichen Ländern ganz überwiegend auf wirtschaftlich-finanziellem Gebiet,51 neben steuerlichen Regelungen kam es auf diesem Wege der außerordentlichen Gesetzgebung auch zu Änderungen von Haushalts- und Finanzgesetzen. 52

43 Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 336, S. 42. Ähnlich ders., Bedeutung, S. 224 ff., 225. 44 Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 336, S. 42. 45 Ebd. 46 Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 336, S. 288. 47 Die entsprechenden Normen sind abgedruckt bei Nesemann, S. 7 ff. 48 Vgl. die Übersicht bei Nesemann, S. 191; in den Jahren 1919 und 1920 erließ das Staatsministerium keine Notverordnungen. 49 Nesemann, S. 120. 50 Ebd., S. 191. 51 Nesemann, S. 192. 52 Vgl. etwa die preußische Verordnung zur Änderung des Gesetzes über die Feststellung des Haushaltsplanes für das Rechnungsjahr 1923 vom 17. Juli 1923; Erlaß 14. August 1923; Preußische Gesetzessammlung, S. 394. Zu der Praxis in Braunschweig, Hessen und Oldenburg vgl. Nesemann, S. 61,72, 93.

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III. Die Anwendung des Art. 48 Abs. 2

1. Überblick Als das Reich in den Jahren 1922/24 dem wirtschaftlichen Zusammenbruch entgegensteuerte, bediente sich die Reichsleitung des Art. 48 Abs. 2 als eines weiteren Instruments der vereinfachten und beschleunigten Notgesetzgebung vor allem auf dem wirtschaftlich-finanziellen Sektor. Den Auftakt hierzu bildete die gegen Devisenspekulationen gerichtete Verordnung des Reichspräsidenten vom 12. Oktober 1922. 53 Zu diesem Zeitpunkt hatte die weltweite Wirtschaftskrise, deren Auswirkungen in den ersten Nachkriegsjahren durch eine Politik der bewußten Geldentwertung weitgehend abgefangen worden waren, auch auf das Deutsche Reich übergegriffen. 54 Zum Jahresanfang 1923 hatte Deutschland einer weiteren Belastungsprobe standzuhalten: am 11. Januar waren französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet einmarschiert. 55 Die Finanzierung des monatelang andauernden Ruhrkampfes verschlang enorme Summen. 56 Für die Fortzahlung der Löhne und zur Aufrechterhaltung der Betriebe gewährte das Reich bis zum Juli 1923 allein der Stahlindustrie Kredite in Höhe von 458 Milliarden Mark, dem Kohlebergbau waren sogar 770 Milliarden zur Verfügung gestellt worden.57 Die Geldentwertung schritt weiter voran. Während Ende 1922 der Wert der "Goldmark" ungefähr 1000 Papiermark entsprochen hatte, war ihr Gegenwert während des Ruhrkampfes auf rund 83000 Papiermark gestiegen; das bedeutete innerhalb einer Zeitspanne von sieben Monaten ein Abwertung auf rund 1,2 % .58 Der Wechselkurs betrug am 14. Mai 1923 46000 Mark für einen US-Dollar, drei Monate später 3 Millionen. 59 Nunmehr wurde der Art. 48 Abs. 2 in noch stärkerem Umfang als im Vorjahr zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Krisenlage herangezogen. Im Juli und August 1923, noch während der Amtszeit des Kabinetts Cuno, erließ der Reichspräsident Ausnahmeverordnungen insbesondere zur Steuerung des Devisenhandels. 6o Nachdem Stresemann das Amt des Reichskanzlers übernommen hatte,61 setzte sich diese Praxis fort. 62 Mehreren Verordnungen 53 54 55

56 57 58

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61 62

RGBI. I, S. 795, 847; aufgehoben am 8. Mai 1923, RGBI. I, S. 279. Zusammenfassend Winkler, Revolution, S. 373 ff. Vgl. Huber 7, S. 279. Zusammenfassend Schwabe, S. 10 ff. Vgl. Winkler, Revolution, S. 558. Vgl. Winkler, Revolution, S. 558. Vgl. Huber 7, S. 303. Dazu Winkler, Revolution, S. 558. Näher Huber 7, S. 330 ff. Vgl. zum Folgenden die Aufstellung bei Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 141 ff.

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

betreffend die "Ablieferung ausländischer Vermögensgegenstände" und die Devisenerfassung im August/September folgten im Oktober auf den Notstandsartikel gestützte Regelungen der Steueraufwertung und der Kohlenwirtschaft. Nach dem Sturz Stresemanns63 diente der Art. 48 Abs. 2 als Rechtsgrundlage der Ersten Steuernotverordnung vom 7. Dezember 1923; das ganze Jahr 1924 hindurch - während der Amtszeit des Reichskanzlers Marx 64 wurde ein bunter Strauß wirtschaftspolitischer Maßnahmen, der von der Schaffung eines ordnungspolitischen Rahmens für das neu entstehende Rundfunkwesen über die Herabsetzung der Umsatzsteuer bis zur Begrenzung einer Aufnahme von Auslandskrediten durch Länder und Gemeinden reichte, auf die präsidiale Diktaturgewalt gestützt. Poetzsch-Heffter65 verzeichnete für das Jahr 1922 lediglich eine wirtschaftliche Notstandsmaßnahme aufgrund des Art. 48 Abs. 2, für das Jahr 1923 steigerte sich deren Zahl auf 27, um 1924 auf 15 und 1925 schließlich auf wiederum eine Diktaturverordnung abzusinken. Das waren rund Y3 sämtlicher von Ebert auf der Grundlage des Ausnahmeartikels erlassener Maßnahmen. Die Länder bedienten sich demgegenüber des Art. 48 Abs. 4 zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise in weit geringerem Umfang. 66 2. Institutionelle Aspekte

Mit der Anwendung des präsidialen Diktaturgewalt als Mittel der vereinfachten Gesetzgebung hatte sich die Funktion dieser Verfassungsvorschrift fundamental gewandelt. Diente Art. 48 - wie in den ersten drei Jahren der Weimarer Republik - vorwiegend der Niederschlagung von Unruhen und Aufständen - so blieb in Anlehnung an das überlieferte Rechtsinstitut des Belagerungszustandes der exekutivische Charakter eines solchen Vorgehens grundsätzlich gewahrt, obgleich die außerordentlichen Vollmachten der "Diktaturorgane" auf einem "gesetzgeberischen" Akt des Reichspräsidenten eben einer Verordnung gemäß Art. 48 Abs. 2 - beruhten. Während der Wirtschaftskrise 1922-24 war aber die präsidiale Rechtssetzung als Grundlage einer ,legislative dictatorship'67 an die Stelle der ordentlichen Reichsgesetzgebung getreten. Damit konkurrierte der Reichspräsident mit dem parlamentarischen Gesetzgeber: die Machtverteilung zwischen Reichsregierung, Reichstag und Reichspräsident hatte sich zwangsläufig verändert. 68

63 64 65

66 67

68

Dazu Huber 7, S. 427 ff. Dazu Huber 7, S. 447 ff. und zusammenfassend Schwabe, S. 119 ff. Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 145 ff. Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 155 ff. Zu diesem Begriff näher Boldt, Artikel 48, S. 293 ff. Vgl. auch Rossiter, S. 290 ff. Vgl. auch Boldt, Artikel 48, S. 295 f.

A. Historisch-politischer Teil

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Aus diesem Problemkreis seien drei Aspekte herausgegriffen: a) Funktionelle Angleichung In funktioneller Hinsicht glichen sich die Rechtssetzung aufgrund des Art.

48 Abs. 2, das ordentliche Gesetzgebungsverfahren und die - außerordent-

liche - Ermächtigungsgesetzgebung zunehmend an.

aa) Während der Wirtschaftskrise bürgerte es sich nämlich rasch ein, dieselben Sachkomplexe abwechselnd einer Regelung durch ordentliches Gesetz, durch Vollmacht- oder Diktaturverordnung zu unterwerfen. In den Jahren 1923/24 wurde vor allem ein ständiger Austausch zwischen Diktatur- und Vollmachtverordnungen praktiziert: Am schärfsten zeigte sich dieses Phänomen bei den Maßnahmen, welche die Reichsleitung gegen den Verfall des Außenwerts der Mark ergriff. Im Oktober 1922 war vom Kabinett Wirth die Devisenbewirtschaftung eingeführt worden - gestützt auf eine Verordnung des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs. 2. 69 Am 8. Mai 1923 - inzwischen war Cuno zum Reichskanzler ernannt worden - hob Ebert diese Bestimmungen gegen die Devisenspeukulation wieder auf, denn am selben Tag hatte die Reichsregierung verschärfte Regelungen aufgrund des Ermächtigungsgesetzes vom 24. Februar 1923 erlassen. 70 Als dann das Kabinett Cuno im Juni 1923 die Valutakurse amtlich festsetzte, diente als Rechtsgrundlage wiederum Art. 48 Abs. 271 - ebenso für weitere im Laufe des Sommers 1923 erlassene währungspolitische Verordnungen,72 Am 16. November 1923 schließlich ergänzte die Reichsregierung, nunmehr von Stresemann geführt, die oben erwähnte - auf das Notgesetz vom 24. Februar 1923 gestützte - Valutaspekulationsverordnung, indem sie deren Anwendungsbereich auf neugeschaffene Zahlungsmittel ausdehnen ließ - vom Reichspräsidenten auf dem Wege der Diktaturverordnung,73 Auch auf anderen Sachgebieten wandte die Reichsleitung dieses Verfahren an: Das Kabinett Stresemann veranlaßte die Diktaturverordnungen vom 11. und 13. Oktober 1923;74 die eine regelte die Steueraufwertung, die andere das RGBI. I S., 795, 847. RGBI. I, S. 275.Vgl. auch den Wortlaut der Aufhebungsverordnung (RGBI. I, S. 279): "Die Verordnung ... vom 12. Oktober 1922 tritt mit dem Inkrafttreten der Verordnung auf Grund des Notgesetzes (Maßnahmen gegen die Valutaspekulation) vom 8. Mai 1923 außer Kraft." 71 RGBI. I, S. 401. 72 Vgl. die Übersicht bei Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 145. 73 RGBI. I, S. 1099: "Ausdehnung der Devisengesetzgebung auf Rentenmark, Goldanleihe und wertbeständiges Notgeld." 74 RGBI. I, S. 939, 945. 69

70

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

Recht der Kohlenwirtschaft. Rund eine Woche später wurden - auf Anregung des Reichspräsidenten75 - beide Regelungen in Vollmacht-Verordnungen auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923 umgewandelt,76 Während der Kanzlerschaft Stresemanns erweiterte die Reichsleitung ferner den Geltungsbereich der Vollmacht-Verordnungen vom 20. 77 und 29. Oktober78 1923 - betreffend die Ausgabe von Papiermarkschatzanweisungen - mit Hilfe zweier Diktaturverordnungen. 79 In der Amtszeit des Kabinetts Marx erließ der Reichspräsident die Steuernotverordnung vom 7. Dezember 19238°, die den Grundstein zu einem neuen Steuergebäude legte. 81 Tags darauf hatte die Reichsregierung doch noch eine parlamentarische Mehrheit für ein neues Ermächtigungsgesetz zu erringen vermocht;82 die auf der Grundlage dieses Gesetzes vom 8. Dezember ergangene Zweite Steuernotverordnung vom 19. d. M,83 hob die vorangegangene gleichnamige Diktaturverordnung auf und übernahm in Art. XIX § 5 deren Regelungen. Die Verordnung des Reichspräsidenten "zur einstweiligen Regelung der Aufwertung" vom 4. Dezember 192484 schließlich erklärte schlichtweg die Vorschriften der Dritten Steuernotverordnung vom 14. Februar 192485 , die auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923 erlassen worden war, sowie zu ihr ergangene Ausführungsbestimmungen als maßgebend. Im November 1924 nämlich hatten Reichsgericht 86 und Kammergericht87 Durchführungsverordnungen zur Dritten Steuernotverordnung für ungültig erklärt mit der Begründung, daß das Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 schon am 15. Februar 1923 - mithin vor Erlaß der Ausführungsbestimmungen - außer Kraft getreten sei. Die auf Art. 48 Abs. 2 gestützte Aufwertungsverordnung sollte offensichtlich diese Lücke füllen,88 In geringerem Umfang wurden auch auf dem Wege der ordentlichen Gesetzgebung zustande ge komme ne Reichsgesetze durch Maßnahmen der präsidialen Diktaturgewalt abgeändert oder ersetzt: 75

76 77

78 79 80 81

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85 86 87 88

Vgl. Akten, Die Kabinette Stresemann I und 11, Bd. 2, Nr. 136 (S. 136 Fn. 6). RGBI. I, S. 985. RGBI. I, S. 985. RGBI. 11, S. 406. Verordnungen vom 5. November und 6. Dezember 1923; RGBI. I, S. 1083; 11, S. 436. RGBI. I, S. 1177. Dazu Scheuner, S. 259. S. U. b bb u. c aa. RGBI. I, S. 1205. RGBI. I, S. 765. RGBI. I, S. 74. Urteil vom 21. November 1924, Deutsche luristenzeitung, 1925, Sp. 87. Beschluß vom 13. November 1924, Deutsche luristenzeitung, 1925, Sp. 118. Ausführlich Hachenburg, Sp. 70 ff.

A. Historisch-politischer Teil

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Die Diktaturverordnungen vom 21. November und 8. Dezember 192389 etwa modifizierten das Depotgesetz vom 5. Juli 1896 sowie das Okkupationsleistungsgesetz vom 27. März 1920. Mit der letzten unter der Präsidentschaft Eberts in Kraft getretenen "wirtschaftlichen" Diktaturverordnung schien der Weg der Gesetzgebung qua Ausnahmegewalt vollends zur staatsrechtlichen Normalität zu gehören. Die am 1. November 1924 aufgrund des Art. 48 Abs. 2 erlassene Verordnung über die Aufnahme von Auslandskrediten durch Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände 90 trat am 31. Januar 1925 außer Kraft; der Reichsfinanzminister hielt es daher für "zweckmäßig"91, wenn der Reichspräsident "zunächst"92 eine Verordnung mit dem sachlichen Inhalt des dem Kabinett vorliegenden Gesetzentwurfs erlassen würde. Die daraufhin ergangene Ausnahmeverordnung vom 29. Januar 1925 verlor dann am 28. Februar ihre Wirksamkeit und wurde am 21. März d. J. schließlich durch das Gesetz über die Aufnahme von Auslandskrediten durch Gemeinden und Gemeindeverbände 93 ersetzt. 94 bb) Eine funktionelle Angleichung der drei Wege der Gesetzgebung zeichnete sich auch in einer weiteren Hinsicht ab: Der Reichspräsident erließ auch Dikaturverordnungen, die offensichtlich Geltung auf Dauer beanspruchten. 95 Dieses Phänomen war schon Anfang der Zwanziger Jahre vor allem bei Akten des Verfassungsschutzes aufgetreten 96 , spielte aber in den Jahren 1923/24 im Vergleich zur Spätzeit der Weimarer Republik 97 nur eine geringe Rolle 98 . Denn zum einen überwogen die wirtschaftslenkenden Maßnahmen bei weitem 99 , zum anderen suchte die Reichsleitung gerade die auf Dauer berechneten Diktaturakte - wie die Steuernotverordnung vom 7. Dezember 1923 100 - schnellstmöglichst auf eine verläßlichere Rechtsgrundlage als den Art. 48 zu stützen. Dementsprechend zählte Jacobj101 zur Kategorie der für einen längeren Zeitraum bestimmten präsidiaRGBJ. I, S. 1119, 1193. RGBJ. I, S. 726. 91 Akten, Die Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Nr. 8(S. 21). 92 Ebd. 93 RGBJ. I, S. 27. 94 Dazu Akten, Die Kabinette Luther I und II, Bd. 1, Nr. 8, Fn. 4. 95 VgJ. Jacobi, S. 124 f. 96 VgJ. die bei Jacobi, S. 125 genannten Beispiele. 97 VgJ. dazu etwa die in der Einleitung Fn. 4, 5 Genannten. 98 Jacobi, S. 125 etwa zählte zu dieser Kategorie lediglich drei der von September 1923 bis März 1924 erlassenen 33 Diktaturverordnungen (ohne Aufhebungsverordnungen). VgJ. auch Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 148, der für diese Anwendungsperiode gar keine Beispiele nannte. 99 VgJ. oben 1. 100 VgJ. oben aa. 101 VgJ. ders., S. 125. 89

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

len Notstandsmaßnahmen lediglich drei der von September 1923 bis März 1924 erlassenen 33 Diktaturverordnungen. 102 Der Art. 48 Abs. 2 diente in dieser Anwendungsperiode - im Gegensatz zur Ermächtigungsgesetzgebung 103 - also nur sporadisch als staatsrechtliche Grundlage für dringlich gehaltener Reformvorhaben, wenngleich sich der spätere Funktionswandel 104 bereits abzeichnete. cc) Eine ähnliche Entwicklung deutete sich auch auf dem Gebiet der nach überlieferten Verständnis nur-formellen Gesetzgebung an. Eine Delegation dieser Funktionen auf die Exekutive mittels parlamentarischer Spezialermächtigungen war durchaus üblich 105 , und die Überlegung, an deren Stelle eine präsidiale Diktaturverordnung zu setzen, lag aus diesem Grunde nahe. Als dann im Juli 1924 das zweite Kabinett Marx in parlamentarische Bedrängnis geriet,106 wurde denn auch in der Kabinettssitzung am 24 d. M. erwogen, gestützt auf eine Diktaturverordnung "die Geltungsdauer des gegenwärtigen Etats"107 zu verlängern - was sich allerdings erübrigte, da es dem Reichskabinett zwei Tage später gelingen sollte, mit Unterstützung der SPD eine Mehrheit für ein neues Notetatgesetz zu erringen.108 Im August 1924 soll der Gedanke aufgekommen sein, trotz einer Ablehnung der betreffenden Ausführungsgesetze im Reichstag das Londoner Reparationsabkommen 109 - gestützt auf Art. 48 Abs. 2 - zu unterzeichnen llo ; nach Annahme der Dawes-Gesetze am 30. August 1924111 waren solche Pläne aber obsolet geworden. Dafür erließ der Reichspräsident jedoch aber am 14. Dezember 1924 eine auf Art. 48 Abs. 2 gestützte Verordnung 112 , derzufolge der Zusatzvertrag vom 12. Juli 1924 zu dem deutsch-österreichischen Wirtschaftsabkommen vom 1. September 1920 bereits vor seiner Ratifikation vorläufig anwendbar sein sollte l13 • Formell trat der Vertrag erst nach Erteilung 102 In der angegebenen Zahl von 33 Verordnungen sind die Aufhebungsakte nicht enthalten. 103 Vgl. oben I 4 a. E. 104 Vgl. oben III 4. 105 Vgl. oben I 5. 106 Vgl. unten b bb. 107 Akten, Die Kabinette Marx I und II, Bd. 2, Nr. 262 (S. 916). Gemeint war das 2. Notgesetz vorn 12. Juni 1924; dazu oben Fn. 36. lOB Vgl. Huber 7, S. 501. 109 Dazu Huber 7, S. 504 ff. 110 Vgl. Rheinisch-Westfälische Zeitung vorn 24. August 1924 Nr. 643; zitiert nach Forsthoff, S. 154 Fn. 49. 111 Vgl. Huber 7, S. 511 f. 112 RGBI. II, S. 431. 113 Vgl. dazu Huber 6, S. 448 Fn. 74.

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der gemäß Art. 45 erforderlichen Zustimmung des Reichstags im Februar 1925 in Kraft. 1l4 b) "Selbstermächtigung" der Exekutive Die präsidiale Diktaturgewalt fungierte während eines Zeitraums von 15 Monaten - vom Oktober 1923 bis Dezember 1924 - als Ersatz-Ermächtigungsgesetz, wenn die Reichsregierung eine parlamentarische Mehrheit zur legislatorischen Absicherung ihrer Politik - und sei es auch "nur" auf dem Wege einer weitgespannten Delegation der Gesetzgebungsgewalt - nicht zu erringen vermochte. aa) Ein erster Anhaltspunkt für diese These ergibt sich bereits aus einem rein quantitativen Vergleich: Von den 37 wirtschaftlichen Diktaturverordnungen llS , die der Reichspräsident von Oktober 1923 bis Januar 1924 erließ, ergingen lediglich elf1l6 während der Geltungsdauer eines Ermächtigungsgesetzes. Davon erließ der Reichspräsident zehn, während das Notgesetz vom 24. Februar 1923 117 noch in Kraft war. Dieses Vorgehen ersparte die regelmäßig erforderliche Zustimmung des Reichsrats; weitere Gründe für eine synchrone Anwendung von Ermächtigungsgesetz und Diktaturgewalt dürften darin zu finden sein, daß das Notgesetz zum einen - im Gegensatz zu den späteren Regelungen 1l8 - Spezialermächtigungen vorsah, zum anderen seine ,ratio essendi' mit dem Abbruch des Ruhrkampfes entfallen war. 119 bb) Bestätigt wird diese Feststellung durch eine Betrachtung der parlamentarischen Lage, in der sich die Reichsregierungen während des Erlasses präsidialer Ausnahmeverordnungen von Mitte Oktober 1923 bis Ende Dezember 1924 regelmäßig befanden. In der Nacht vom 11. auf den 12. Oktober 1923 beschloß das von Stresemann geführte Reichskabinett während einer Nachtsitzung Regelungen zur Steueraufwertung sowie Eingriffe in die Kohlenwirtschaft auf der Grundlage des Art. 48 Abs. 2.1 20 Soeben hatte sich die Regierung der Großen Koalition Ebd. Die bloßen Aufbebungsverordnungen sind hier außer Betracht gelassen. 116 In dieser Zahl ist nicht enthalten die Verordnung vom 8. Dezember 1923 (Änderung des Okkupationsleistungsgesetzes; RGBI. I, S. 1193), die mit dem Ermächtigungsgesetz von sei ben Tag in Kraft trat, vom Kabinett aber schon am 6. Dezember beschlossen worden war (Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 6. Dezember 1923, Akten, Die Kabinette Marx, Bd. 1, Nr. 10, S. 46 ff.) !17 Vgl. oben Fn. 7. 118 Vgl. oben I 1 a. E. 119 Nach dem Abbruch des Ruhrkampfes ergingen aufgrund des Notgesetzes nur noch zwei Verordnungen (von insgesamt 18; vgl. Frehse, S. 89) betreffend Regelungen zur Kontenversicherung und zur Erhöhung von Strom-, Gas- und Wasserpreisen (RGBI. 1923 S. 908, 925). 120 Verordnungen vom 11. und 13. Oktober 1923; RGBI. I, 1923, S. 939, 945. 114 115

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

- bestehend aus DVP, DDP, Zentrum und SPD - vor einer drohenden Abstimmungsniederlage nur durch die Vertagung des Reichstags retten können;121 ob innerhalb der nächsten Tage die notwendige doppelte 2/3-Mehrheit für das von Stresemann geforderte Ermächtigungsgesetz zustande kommen würde, war ungewiß und der Reichskanzler bestand nunmehr darauf, daß die vom Kabinett in Aussicht genommenen Notmaßnahmen "sofort"122 getroffen werden sollten. Ab November 1923 wurde der Art. 48 Abs. 2 zu einem bevorzugten legislatorischen Ausweg der von nun an folgenden - in der Regel parlamentarisch tolerierten - Minderheitskabinette l23 : Das von Stresemann schließlich doch durchgesetzte Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 124 erlosch mit dem Rücktritt der sozialdemokratischen Minister und dem Zerfall der Großen Koalition am 2. November 1923. 125 Das Rumpfkabinett Stresemann besaß keine parlamentarische Mehrheit - die zur Währungsreform notwendigen Maßnahmen traf der Reichspräsident aufgrund des Art. 48 Abs. 2.1 26 Sogar nach dem ausdrücklichen Entzug des parlamentarischen Vertrauens am 23. November ergingen noch Diktaturverordnungen.1 27 Nachdem sich der Reichstag am 8. Dezember 1923 - nach Verabschiedung eines weiteren umstrittenen Ermächtigungsgesetzes 128 - vertagt hatte, trat er am 20. Februar 1924 wieder zusammen. 129 Die Regierung Marx, seit dem 30. November des vergangenen Jahres im Amt 130 , blieb mit ihrem Bemühen erfolglos, eine Mehrheit für die Verlängerung dieser außerordentlichen Vollmachten zu erlangen, erreichte jedoch nach Verhandlungen mit der Opposition, daß der Reichstag am 11. und 12. März einige wichtige, die wirtschaftliche Neuordnung betreffenden Regierungsvorlagen sowie zwei Notetatgesetze verabschiedete. l3l Vor Abschluß der höchst kontroversen Debatten im Reichstag waren freilich am 3. und 8. März zwei "wirtschaftliche" Diktaturverordnungen ergangen. 132 Näher Huber 7, S. 364. Akten, Die Kabinette Stresemann I und H, Nr. 128, (S. 544). 123 Zum Typus des parlamentarisch tolerierten Minderheitskabinetts vgl. Huber 6, S. 330ff. 124 Vgl. oben Fn. 8. 125 Vgl. Huber 7, S. 389. 126 Vgl. Huber 7, S. 425. 127 Am 23. November 1923 wurde die Umstellung des Postscheckverkehrs auf Rentenmark geregelt; am 27. und 29. d. M. ergingen noch die Verordnungen zur Änderung des Gebührengesetzes für die Ausländerbehärden und über die Krankenhilfe bei den Krankenkassen. 128 Zum Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 vgl. Huber 7, S. 451 ff. 129 Vgl. Huber 7, S. 484. 130 Vgl. Huber 7, S. 449. 131 Vgl. Huber 7, S. 484 ff. 121 122

A. Historisch-politischer Teil

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Auch im Juli 1924 erließ der Reichspräsident auf den Art. 48 Abs. 2 gestützte Ausnahmeverordnungen auf wirtschaftlich-finanziellem Sektor. 133 Die parlamentarische Lage war dadurch gekennzeichnet, daß das zweite Kabinett Marx vergeblich versuchte, mit Hilfe einer parlamentarischen Basis von 30 % ein reguläres Haushaltsgesetz für das Jahr 1924 zu erreichen. 134 Nach der Verabschiedung des Dawes-Plans im August 1924 war das Leistungsvermögen der Regierung Marx erschöpft; was ihr vom September 1924 ab noch gelang, waren im wesentlichen die Maßnahmen zur Vollendung der Dawes-Gesetze, ferner die den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund vorbereitenden Akte. 135 In dieser Lage griff das Reichskabinett Mitte September erneut zu Art. 48 Abs. 2, um die notwendigen Steueranpassungen zu vollziehen. 136 Als im Oktober 1923 dann jeder weitere Versuch gescheitert war, durch Aufnahme der Deutschnationalen oder der Sozialdemokraten die Regierung zu erweitern, löste Ebert am 20. d. M. den Reichstag auf. 137 Am 7. Dezember wurde neu gewählt, ohne daß sich die parlamentarische Lage aus der Sicht des Reichskabinetts verbessert hatte - auch jetzt griff die Exekutive auf die Diktaturgewalt zurück und erließ vom 21.0ktober bis zum 29. Dezember 1924 insgesamt sieben wirtschaftliche Ausnahmeverordnungen,138 Erst das am 15. Januar 1925 gebildete Kabinett Luther konnte sich dann wieder auf eine breite, nach rechts erweiterte Mehrheit stützen,139 Die letzte unter der Präsidentschaft Eberts erlassene Diktaturverordnung war auch keineswegs mehr durch eine parlamentarische Notlage bedingt. 14o Unter dem Strich gesehen, haftete der Anwendung des Art. 48 Abs. 2 zumindest für die Zeit vom Oktober 1923 bis zum Dezember 1924 nur bedingt ein "parlamentarisches Gepräge"141 an, zog doch die Exekutive auf dem Wege der "Selbstermächtigung" immer dann legislative Funktionen an sich, wenn sich der Reichstag - aus welchen Gründen auch immer - einer aktiven Mitwirkung an der Politik der Reichsregierung versagte. Es hatte sich damit - je nach dem Weg der Gesetzgebung - ein System gestufter Abhängkeit des Reichskabinetts von der Legislative herausgebildet. War im Rahmen der Ermächti132 Verordnungen über die Wiedereinführung der Erstattung der von der englischen Regierung erhobenen Reparationsabgabe vom 3. März 1924; Verordnung zum Schutze des Funkverkehrs. Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 147. 133 Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1" S. 147. 134 Vgl. oben 2 ace. 135 Vgl. Huber 7, S. 528. 136 Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 147. 137 Vgl. Huber 7, S. 528 ff. 138 Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1" S. 147. 139 Vgl. Huber 7, S. 541 ff. 140 S. O. 2 a aa. 141 So Scheuner, S. 262.

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

gungsgesetzgebung die Abhängigkeit des Reichskabinetts von dem Bestehen einer Mehrheit im Reichstag bereits gelockert, bedurfte die Regierung aber noch einer ausdrücklichen parlamentarischen Legitimation, so beschränkte sich bei einer Anwendung des Art. 48 Abs. 2 die Unterstützung des Reichstags auf den Verzicht, das Kontrollrecht nach Absatz 3 auszuüben. Dies mag man, eine die Regierung tolerierende Haltung der Legislative vorausgesetzt, als verschleierte Delegation deuten l42 , mit einer solchen Bezeichnung werden aber die Unterschiede zur ordentlichen Reichs- und zur Ermächtigungsgesetzgebung mehr eingeebnet als klargestellt. Die eigentliche Brisanz für das Regierungssystem der Weimarer Republik lag nämlich darin, daß - erstens - die Reichsregierung auf eine Mitwirkung der Legislative vollends verzichten konnte, der Reichstag im Rahmen der Gesetzgebung daher eine rein passive Rolle spielte, und - zweitens - das Einverständnis des Reichspräsidenten mit der Regierungspolitik an die Stelle des ausdrücklichen parlamentarischen Legitimation gerückt war. Was den letztgenannten Gesichtspunkt anbetrifft, so trat in dieser Anwendungsperiode das Problem einer Machtsteigerung innerhalb der Exekutive gerade zugunsten des Reichspräsidenten noch nicht deutlich hervor l43 ; in der Regel übte der Träger der Diktaturgewalt diese wohl nur auf Anregung der Reichsregierung aus. 144 c) Einschränkung der parlamentarischen Kontrollgewalt Schon in den Jahren 1923/24 fungierte die Befugnis des Reichspräsidenten, gemäß Art. 25 den Reichstag aufzulösen, als ein Mittel zur Einschränkung der parlamentarischen Kontrolle exekutivischer Rechtssetzungskompetenzen. aa) Diktaturverordnungen, die aufgrund des Art. 25 der parlamentarischen Kontrolle entzogen waren, erließ der Reichspräsident im Zusammenwirken mit den Kabinetten Marx zunächst nach der Reichstagsauflösung am 13. März 1924 145 , und, in weit größerem Umfang, im Anschluß an die zweite Reichstagsauflösung am 20. Oktober 1924. 146 Darüber hinaus war Anfang Dezember eine parlamentsunabhängige Gesetzgebungsgewalt der Exekutive auf der Grundlage des Zusammenspiels von Dazu Schmitt, Reichspräsident, S. 90. Vgl. dazu die in der Einleitung Fn. 4, 5 Genannten. 144 Nach der These Schulz' erließ der Reichspräsident auf Art. 48 Abs. 2 gestützte Verordnungen regelmäßig auf Verlangen der Reichsregierung, so daß - im Gegensatz zur Weimarer Spätzeit - eine "unmittelbar auf präsidialen Entscheidungen beruhende Regierung" nicht stattgefunden haben soll; vgl. ders., Art. 48, S. 51. Kritisch dazu Hüften, Reichswehr, S. 1 f., Fn. 1 u. 3 m. w. N. 145 Vgl. die Übersicht bei Poetzsch-Heffter, Staatsleben 1, S. 147. 146 Ebd. 142 143

A. Historisch-politischer Teil

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Art. 48 Abs. 2 und Art. 25 von der Reichsleitung ausdrücklich in ihr Kalkül aufgenommen worden. Denn als das Kabinett Marx in den ersten Tagen seiner Existenz unter der Parole "Ermächtigungsgesetz oder Auflösung" um die für eine Übertragung außerordentlicher Vollmachten erforderliche Zweidrittel-Mehrheit kämpfte,147 hatte sich der Reichskanzler für den Fall der Parlamentsauflösung der Bereitschaft des Reichspräsidenten versichert, im Zuge der avisierten Steuerreform "etwa erforderliche weitere Maßnahmen im Wege des Art. 48 ... zu treffen. "148 Ferner wurde im Kabinett am 2. Dezember sogar erwogen, für den Fall der Reichstagsauflösung die Sechzigtagesfrist für die gebotenen Neuwahlen, und damit die parlamentslose Zeit, zu verlängern - mit einer auf Art. 48 Abs. 2 gestützte präsidiale Verordnung. 149 In der ersten Dezemberwoche 1923 stand die Weimarer Republik nach alledem an der Schwelle zum Staatsstreich. bb) Welche Möglichkeiten einer Stärkung der exekutivischen Rechtssetzungskompetenzen der Art. 25 bot, zeigte sich bei der Reichstagsauflösung am 13. März 1924. In den Ermächtigungsgesetzen vom 13. Oktober und 8. Dezember 1923 war dem Reichstag das Recht eingeräumt worden, die Aufhebung von Vollmachtverordnungen zu verlangen 150 - der vorgesehene Kontrollmechanismus war insoweit Art. 48 Abs. 3 nachgebildet. Nachdem der Reichstag nach 21/z-monatiger Pause am 20. Februar 1924 wieder zusammengetreten war, 151 zeichnete sich eine parlamentarische Mehrheit für die zahlreichen Anträge der Opposition ab, die auf die Aufhebung von Vollmachtsverordnungen sowie der auf der Grundlage des Art. 48 Abs. 2 erlassenen Verordnung vom 28. Februar 1924 über die Abwehr staatsfeindlicher Bestrebungen gerichtet waren. 15Z Vor der Abstimmung über die Anträge der Opposition löste der Reichspräsident den Reichstag auf: Nachdem die Reichsregierung festgestellt hat, daß ihr Verlangen, die auf Grund der Ermächtigungsgesetze vom 13. Oktober und 8. Dezember 1923 ... ergangenen und von ihr als lebenswichtig bezeichneten Verordnungen zur Zeit unverändert fortbestehen zu lassen, nicht die Zustimmung der Mehrheit des Reichstags findet, löse ich auf Grund des Art. 25 ... den Reichstag auf. 153

Damit war es der Exekutive gelungen, das dem Reichstag durch verfassungsänderndes Reichsgesetz eingeräumte Kontrollrecht zumindest vorübergehend auszuschalten, und zwar mit der Begründung, daß eben dieses Recht ausgeübt 147 148 149

150 151 152 153

Vgl. Huber 7, S. 451 ff.

Akten, Die Kabinette Marx I und II, Nr. 2 (S. 8). Ebd. Vgl. Huber 6, S. 440. V gl. Huber 7, S. 484 V gl. Huber 7, S. 484 ff. Text: Huber, Dok. 3, Nr. 159 b Ziffer 1.

11 Kurz

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

zu werden drohte. Das war ein gefährliches Präjudiz auch für die parlamentarische Kontrolle der in Art. 48 Abs. 2 verankerten Diktaturgewalt des Reichspräsidenten. B. Staatsrechtlicher Teil

Wie oben dargelegt, ging die Anwendung der präsidialen Diktaturgewalt als Mittel der exekutivischen Gesetzgebung in den Jahren 1922/24 mit einer dreifachen Verschiebung im Gefüge des Weimarer Regierungssystems einher, nämlich mit einer funktionellen Angleichung und Austauschbarkeit der drei Wege der "Gesetzgebung" zum einen, mit einer Machtsteigerung der Exekutive aufgrund einer ohne jede Mitwirkung des Reichstags in Anspruch genommenen Rechtssetzungskompetenz zum anderen, mit einem weiteren Machtzuwachs der Reichsleitung auf dem Wege der Kombination von Reichstagsauflösung (Art. 25) und Diktaturgewalt (Art. 48 Abs. 2).

Im folgenden soll untersucht werden, wie die Rechtswissenschaft diesen neuartigen Phänomenen begegnete. I. Zur funktionellen Angleichung

In der zeitgenössischen juristischen Literatur war ein weitverbreites Unbehagen an der Verdrängung der Wege der ordentlichen Reichsgesetzgebung sowie der Ermächtigungsgesetzung durch der präsidialen "Ersatzgesetzgeber" unverkennbar. 154 Dies wirkte sich auf die Interpretation des Vor aussetzungsformel des Art. 48 Abs. 2, nämlich die Störung oder Gefährdung der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" aus, führte vor allem aber zu einer verstärkten Diskussion um den Begriff der "Maßnahme". 1. Wandlungen des Begriffes der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" Während der Einsatz des Art. 48 Abs. 2 als Instrument der Exekutive zur Unterdrückung von Aufständen einem aus dem Kaiserreich überlieferten polizeilich-militärischen Verständnis des Ausnahmezustandes 155 entsprach, die polizeirechtlichen Kategorien entlehnte Formel der Störung oder Gefährdung der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" also keine interpretatorischen Probleme aufwarf, legte die Anwendung des Diktaturartikels als Mittel des legislativen Notstands in den Jahren 1922 - 24 eine Neuorientierung in der Auslegung dieses Voraussetzungstatbestandes nahe. 154 Vgl. etwa Eckstein, S. 293; Elze, Staatsausnahmerecht, S. 7; Grau, Art. 48, S. 89; ders., Verordnung, Sp. 88 Fn. 11; Jacobi, S. 124 ff.; Kronheimer, Streit, S. 312ff; Lobe, Untergang, Sp. 19, Preuß, Bedeutung, S. 225 u. a. 155 Vgl. oben Zweites Kapitel B 1.

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a) Als Ansatzpunkt einer Uminterpretation bot sich in erster Linie der vorwiegend wirtschaftlich-finanzielle Charakter der während dieses Zeitraums erlassenen Diktaturverordnungen an. aa) Eine Abkehr von der traditionellen polizeirechtlichen Auslegung hatte sich bereits - vor Einbruch der großen Wirtschaftskrise - in den ersten Nachkriegsjahren angedeutet. So vertrat Grau die Ansicht, auch ein "ein großer Eisenbahner- oder Landarbeiterstreik" brauche "keineswegs mit ... inneren Unruhen verbunden zu sein", um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu bilden, denn es sei "mit Gewißheit vorauszusehen, daß bei längerer Dauer eines solchen Streiks der Staat die ihm obliegenden Tätigkeiten nicht mehr erfüllen" könne. 156 Diese Verquickung von staatlicher Aufgabenerfüllung und ökonomischer Bedingtheit staatlichen Handeins sprengte den Rahmen des überlieferten sicherheitspolizeilichen Denkens. Noch deutlicher schrieb Kohlheyer: die Reichsverfassung habe nicht "lediglich Sicherheitsbedürfnisse im polizeilichen Sinne im Auge gehabt"157; Sicherheit im Sinne des Art. 48 Abs. 2 sei " ... Sicherheit der bestehenden Staatsund Rechtsordnung im Reiche und in den Ländern"158. So konnte dieser Autor die Voraussetzungen der präsidialen Ausnahmegewalt nicht nur für gegeben erachten bei "wirtschaftliche(n) Unruhen, die nicht Aufruhr zu sein brauchen - tief eingreifende(n) wirtschaftliche(n) oder gesundheitliche(n) Nöte(n), die die öffentliche Ordnung in ernste Mitleidenschaft ziehen - politische(n) Erschütterungen der bestehenden Staatsform, Agitationen, die zur Explosion führende Beunruhigungen in die Bevölkerung hineintragen ... ", sondern sogar bei "rücksichtslosen Wirtschaftskämpfen mit modernen Methoden".159 Ihren Vorläufer hatte diese extensive Auslegung der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" in der reichsgerichtlichen Interpretation des § 9 b BZG. Diese Norm ermächtigte die Militärbefehlshaber, "im Interesse der öffentlichen Sicherheit" Verbote zu erlassen 160 - regelmäßig wurden auch die im Zeichen der Kriegswirtschaft ergangenen Regelungen der militärischen Nebenverwaltung auf dieses umfassende Verordnungsrecht gestützt,161 Mit Hilfe Vgl. Grau, Diktaturgewalt 1, S. 5. Kohlheyer, S. 20. 158 Ebd., S. 20 f. 159 Kohlheyer, S. 18. 160 Zum Verordnungsrecht der Militärbefehlshaber vgl. oben, Zweites Kapitel II 2 c aa. Auch Art. 68 BRV erwähnte die "öffentliche Sicherheit", doch ging die h. M. davon aus, daß nicht diese Verfassungsnorm, sondern die §§ 1,2 BZG die Voraussetzungen zur Verhängung des reichsrechtlichen Kriegszustandes umschrieben. 161 Dazu oben, Erstes Kapitel B I 2. Zum überaus weiten Anwendungsbereich des § 9 b BZG für kriegswirtschaftliche Zwecke vgl. Huber 5, S. 46 und insbesondere die Auflistung bei Pürschei, S. 192 ff. 156 157

11*

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

gekünstelter Kausalketten legte nun das Reichsgericht den Begriff der "öffentlichen Sicherheit" außerordentlich weit aus l62 , subsumierte dieser Norm sogar wirtschaftliche Notstandsmaßnahmen und durchbrach so das herkömmliche Ausnahmezustandsverständnis. Zur Festsetzung von Höchstpreisen durch Militärbefehlshaber führte das Gericht beispielsweise aus: dies sei zwar zunächst nur eine wirtschaftliche Maßnahme, aber indem sie die allgemeine Volksernährung, und zwar sowohl die der Zivilbevölkerung als auch des Heeres bezwecke, gehe sie über das wirtschaftliche Interesse hinaus, denn eine Gefährdung der Volksernährung würde die Ernährung des Heeres treffen, eine Hungersnot würde das Reich zur Unterwerfung zwingen und es aller militärischen Erfolge berauben, die Festsetzung von Höchstpreisen diene daher auch der öffentlichen Sicherheit.163 Die extensive Auslegung der Voraussetzungsformel des § 9 b BZG, später des Art. 48 Abs. 2, läßt sich zum einen mit dem Bestreben erklären, dem neuartigen Phänomen des wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustandes einen rechtlichen Rahmen zu geben. Zum anderen waren hier aber die Einflüsse einer neuen Ausnahmezustandstheorie zu spüren,l64 die seit der Jahrhundertwende - vorbereitet durch die neuhegelianische Staatslehre - die positivistische Verdrängung der Staatsnotrechtsproblematik in die Soziallehre des Staates dadurch rückgängig machte, daß sie den Selbsterhaltungswillen des Staates selbst zur Norm im Range eines übergesetzlichen Naturrechts erhob. 165 bb) In der während und nach der Wirtschaftskrise erschienenen juristischen Literatur war von dem eben beschriebenen Wandel nur mehr wenig zu spüren. 162 Den Begriff der "öffentlichen Ordnung" dagegen mußte das Reichsgericht nicht interpretieren, denn dieser war in § 9 b BZG nicht erwähnt. Das wirkte sich zunächst auch auf die Interpretation des Art. 48 Abs. 2 Satz 1 aus. Die "öffentliche Ordnung" fungierte als bloßes Anhängsel der "öffentlichen Sicherheit". Nur Hubrich wagte überhaupt eine Definition (vgl. oben S. 88), Kohlheyer erwähnte den Begriff nur beiläufig (vgl. S. 18 ff.) und Grau deutete diesen als "eine vom Gesetzgeber herbeigeführte Nötigung, den Begriff der öffentlichen Sicherheit nicht allzu eng auszulegen" (ders., Diktaturgewalt 1, S. 5). Damit konnte die von dem letztgenannten Autor vertretene Auffassung, die Voraussetzungsformel des Art. 48 Abs. 2 Satz 1 sei kumulativ, nicht alternativ zu verstehen, es müsse also sowohl die öffentliche Sicherheit als auch die öffentliche Ordnung gestört oder gefährdet sein (ebd., S. 32), sich nicht begrenzend auswirken. Gegen den kumulativen Charakter der Voraussetzungsformel der USPD-Abgeordneten Cohn am 5. Juli 1919 in der Nationalversammlung, Heilfron 5, S. 3241, ähnlich ders., S. 3244. 163 Vgl. die Urteile des Reichsgerichts vom 20. und 23. November 1915; zitiert nach Pürschel, S. 162. 164 Zu diesem neuen Ausnahmezustandsverständnis ausführlich Boldt, Rechtsstaat, S. 205 ff., insbesondere S. 206; ders., Ausnahmezustand, S. 371 ff. 165 Symptomatisch dafür ist, daß in den oben Zweites Kapitel B II 1 genannten Umschreibungen der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" der in der verwaltungsrechtlichen Literatur ständig gebrauchte Hinweis fehlte, die "öffentliche Sicherheit" umfasse auch die Rechte des Einzelnen bzw. der Gesellschaft. Vgl. im Gegensatz dazu die polizeirechtlichen Vorbilder dieser Umschreibungen (s. o. Zweites Kapitel Fn. 76/78) sowie die klassische Formulierung von Drews, S. 9 f.

B. Staatsrechtlicher Teil

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Die meisten Autoren legten ausdrücklich 166 oder stillschweigend 167 ein betont polizeirechtliches Verständnis der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" zugrunde, wie sie formal auch für die Interpretation des § 9 b BZG maßgeblich gewesen war. Selbst Muhr, der auf eine staatsrechtliche Begründung der "wirtschaftliche(n) Diktatur des Reichspräsidenten" - so der Titel seiner Abhandlung - abzielte, sah Devisenverordnungen etc. lediglich angesichts drohender Lebensmittelunruhen veranlaßt 168 . Auch der Versuch Carl Schmitts auf der Staatsrechtslehrertagung im April 1924, die überlieferte polizeiliche Auslegung der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" zu überwinden und dieses Begriffspaar als "Kategorie des Verfassungsrechts"169 zu deuten, hinterließ zumindest für die Anwendbarkeit des Art. 48 Abs. 2 als Remedium gegen einen Wirtschaftsnotstand wenig Spuren. Erst Grau kam unter ausdrücklicher Berufung auf Schmitt für die Verordnung des Reichspräsidenten zur einstweiligen Regelung der Aufwertung vom 4. Dezember 1924 170 zu dem Schluß: Rechtsunsicherheit auf dem Gebiete der Aufwertung, daraus folgende Minderung der Steuerkraft, Beeinträchtigungen des Gleichgewichts im Staatshaushalt und damit des Bestandes der jungen Währung sind Gefahren, die auch der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des Art. 48 drohen. 171

Zur Begründung der herrschenden restriktiv-polizeilichen Interpretation der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" berief man sich nur selten auf das frühere - durch die Begriffe "Krieg und Aufruhr" geprägte - Recht des Kaiserreichs 172 oder auf die Enstehungsgeschichte des Art. 48 Abs. 2173. Manche 174 schieden hier einen "bloßen gesetzgeberischen Notstand"175, der staatsrechtlich ein "verfassungsmäßig oder gesetzlich eingeräumtes Notverordnungsrecht"176 erfordere, von einem "allgemeinen sicherheitspolizeilich-politisehen Notstand des Staates als solchem" 177 , der sein Remedium in einer 166 Am deutlichsten Goslich, S. 1194: "Man muß eine Verordnung nach Art. 48 ähnlich beurteilen wie die Anordnungen eines Schutzmanns." Vgl. ferner Bornhak, Sp. 384; Eckstein, S. 293; Elze, Anwendung, S. 248; Kronheimer, Streit, S. 34; Lobe, Untergang, Sp. 19; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, 1924, S. 671. 167 Vgl. Freythag-Louringhoven, S. 149; Piloty, Art. 48, S. 76; Thoma, Regelung, Sp. 659. 168 Vgl. Muhr, S. 494 f. 169 Schmitt, Reichspräsident, S. 92. 170 Vgl. oben Fn. 84. 171 Grau, Verordnung, Sp. 88. Vgl. aber ders., Devisen, Sp. 582 f. und ders., Art. 48, S. 88 f., wo er noch eine engere Auffassung vertrat. 172 Vgl. Elze, Anwendung, S. 248. 173 Vgl. Goslich, S. 1191 f.; Elze, Anwendung, S. 248. Dieser Hinweis auf die Entstehungsgeschichte war freilich zweifelhaft; vgl. etwa oben Erstes Kapitel B ur 2 a. E. 174 Kronheimer, Streit, S. 315 und im Anschluß daran Eckstein, S. 293; Goslich, S. 1195. 175 Kronheimer, Streit, S. 315. 176 Ebd. 177 Kronheimer, Streit, S. 315.

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

"Ermächtigung zur Verhängung von Ausnahmemaßregeln" - mithin in Art.

48 Abs. 2 178 - finden sollte, und kamen auf diesem Wege zu einer engen Aus-

legung der Voraussetzungsformel.

Hier wird deutlich, daß eine restiktive Interpretation der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" sich ausdrücklich zwar nur gegen die Verwendung des Art. 48 Abs. als Rechtsgrundlage für "wirtschaftlich-finanzielle" Ausnahmeverordnungen richtete. Nimmt man hinzu, daß die Anhänger dieser restriktiven Auffassung auch regelmäßig beklagten, daß die präsidiale Diktaturgewalt schlechthin als Ersatz für ein fehlendes Ermächtigungsgesetz 179 oder allgemeines Notverordnungsrecht 180 gedient habe, so sei folgender Schluß erlaubt: die enge Auslegung der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" richtete sich ausdrücklich zwar nur gegen den Art. 48 Abs. 2 als Rechtgrundlage "wirtschaftlich-finanzieller" Ausnahmeverordnungen, in erster Linie sollte aber die Praxis der präsidialen Ausnahmegesetzgebung als solche getroffen werden. cc) Weitgehend aufgefangen wurden die Konsequenzen eines restriktivpolizeirechtlichen Verständnisses der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" mit der Lehre von der grundsätzlichen Unüberprüfbarkeit des präsidialen "freien Ermessens"18l, wie sie von Richard Grau schon im Jahre 1922 ausführlich begründet worden war 182 und auch in Anbetracht der Wirtschaftskrise herrschend blieb. 183 So konnte Anschütz auf eine Interpretation dieser Generalklausel überhaupt verzichten und es bei der Feststellung belassen, daß diese "außerordentlich weit"184 ausgelegt worden sei. Andere meinten zwar, die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 2 hätten etwa bei Devisenverordnungen "nur höchstens sehr Vgl. Kronheimer, Streit, S. 315. Elze, Staatsausnahmerecht, S. 7; Goslich, S. 1195; Kronheimer, Streit, S. 312; Freytagh-Louringhoven, S. 149. 180 Vgl. Elze, Staatsausnahmerecht, S. 7; Kronheimer, Streit, S. 312; Lobe, Untergang, Sp. 19. Ferner Grau, Art. 48, S. 89 und Jacobi, S.124. 181 Ausführlich oben Zweites Kapitel B II 4 a aa. 182 Vgl. oben Zweites Kapitel B II 4 a aa. 183 Vgl. etwa Anschütz, 1926, Anm. 8 zu Art. 48 m.w.N.; Hatscheck, S. 172; Jacobi, S. 122 ff. Zu Unrecht meinte Anschütz, auch Grau habe in seiner 1922 erschienenen Monographie in Bezug auf die Voraussetzungen ein solches richterliches Prüfungsrecht (dazu oben S. 137 ff. ) befürwortet. Dieser legte erst im Jahre 1925 (ders., Verordnung) "für den Inhalt der einzelnen Maßnahme" (ebd., Sp. 87) an die präsidialen Verordnungen den Maßstab des "Ermessensmißbrauchs" an und ging damit - freilich ohne abweichende Ergebnisse - weiter als z. B. Jacobi, S. 126. Auch aus dem von Anschütz, genannten Aufsatz Preuß' (ders., Diktatur) ließ sich zumindest eine ausdrückliche Stellungnahme für ein erweitertes richterliches Prüfungsrecht nicht entnehmen. Freilich vertrat Preuß die Auffassung, der bayerischen Verordnung vom 24. Juli 1922 (vgl. oben Drittes Kapitel Fn. 60) fehlten "nach Wortlaut, Sinn und Entstehungsgeschichte sämtliche verfassungsrechtlichen Voraussetzungen" (ebd., S. 113) und nahm so implizit ein dem Richter von der h. M. verwehrtes Nachprüfungsrecht in Anspruch. 184 Anschütz, 1926, Anm. 8 zu Art. 48. 178 179

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mittelbar"185 vorgelegen oder sie bezichtigten die Reichsleitung in diesem Zusammenhang gar eines Mißbrauchs der Diktaturgewalt 186 - Auswirkungen auf die Rechtsgültigkeit einzelner "wirtschaftlicher" Maßnahmen oder der umfassenden Diktaturverordnungspraxis überhaupt zeitigte diese Kritik regelmäßig nicht. 187 b) Einen neuartigen Ansatzpunkt für eine extensive - die Verordnungspraxis der Jahre 1922-23 rechtfertigende - Auslegung des Begriffes der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" bot Anders anläßlich der literarischen Kontroverse um die Verfassungsmäßigkeit der Diktaturverordnung zur einstweiligen Regelung der Aufwertung vom 4. Dezember 1924188 : So hat sich Art. 48 ... allmählich zur Grundlage einer außerordentlichen Gesetzgebung bei Versagen der ordentlichen Gesetzgebung herausgebildet ... Von diesem Gesichtspunkt aus kann es schlechterdings nicht als Ermessensmißbrauch angesehen werden, wenn der Reichspräsident ... angesichts der bisherigen Säumnis des Reichstags und seiner derzeitigen Aktionsunfähigkeit einen gewissen stabilen Zustand zu schaffen versucht. 189

War damit der Gesichtspunkt einer "Aktions unfähigkeit" des Reichstags in den Mittelpunkt der Argumentation gerückt, so nahm dies die unter dem Stichwort "Verfassungsstörung" in der Weimarer Endzeit geführte Diskussion um den Reichspräsidenten als Ersatzgesetzgeber 190 vorweg. Für die zeitgenössische Auseinandersetzung um die Zulässigkeit der unter Ebert praktizierten Verordnungspraxis blieb diese Äußerung freilich ein Einzelfall - obgleich mancher Autor angesichts der exekutivischen Rechtssetzung bedauerte, daß "der Reichstag wieder und wieder sich der ihm bei der Gesetzgebung obliegenden Verantwortung versagt"191 habe. 2. Zur Interpretation der "Maßnahme"

Die Normsetzung der Exekutive aufgrund des Art. 48 Abs. 2 ersetzte vor allem während der Wirtschaftskrise der Jahre 1923/24 in weitem Umfang den Weg der ordentlichen Reichsgesetzgesetzgebung,192 Dies warf die verfassungs185 Piloty, Art. 48, S. 76. Ähnlich Jacobi, S. 125: " ... fragwürdig ... "; Thoma, Regelung, Sp. 659. 186 Vgl. Bornhak, Sp. 384; Jacobi, S. 124; Lobe, Untergang, S. 19. 187 Wohl nur Goslich, Sp. 1188 ff., kam auf der Grundlage eines erweiterten richterlichen Prüfungsrechts in weitem Umfang zu einer Ungültigkeit wirtschaftlich-finanzieller Diktaturmaßnahmen. 188 S. o. Fn. 84. 189 Anders, Deutsche Allgemeine Zeitung vom 30. 12. 1924. 190 Dazu Huber 7, S. 102 ff. und für die Weimarer Spätzeit etwa Heckei, Diktatur, S. 257 ff. 191 Grau, Art. 48, S. 90. Vgl. auch Schmitt, Reichspräsident, S. 90. 192 Vgl. oben A III 1.

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

rechtliche Frage auf, ob eine Diktaturverordnung des Reichspräsidenten an die Stelle eines im ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens zustandegekommenen Reichsgesetzes treten durfte, es sich in diesem Sinne um eine "gesetzvertretende Verordnung"193 handelte. a) Theoretische Grundpositionen aa) G. Anschütz: Die Maßnahme als materielles Gesetz Im Zuge der Rezeption der überlieferten Organisationselemente des Belagerungszustandes in das Weimarer Verfassungsrecht 194 hatte die staatsrechtliche Doktrin schon früh ein "Gesetzgebungsrecht" des Reichspräsidenten aufgrund des Art. 48 Abs. 2 anerkannt.1 95 Die der spätkonstitutionellen Lehre eigentümliche Gleichsetzung von Rechtssatz und Gesetz hatte für den Bereich des materiellen Gesetzes zur logischen Konsequenz auch die Gleichsetzung von präsidentiellem und parlamentarischem Gesetzgeber. 196 Für das nicht suspendierbare Ausnahmegerichtsverbot des Art. 105 war diese Auffassung auch schon praktisch geworden.1 97 Nach der Wirtschaft krise zog Gerhard Anschütz als einer der prominentesten Vertreter der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre nunmehr ausdrücklieh diese Schlußfolgerung: Diese Verordnungen (nach Art. 48 Abs. 2, A. K.) können alles vorschreiben oder verbieten, wofür ein einfaches nicht verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich und ausreichend ist ... 198

Die extensive Auslegung des § 9 b BZG, wie sie während des Weltkrieges vor allem Anschütz vertreten hatte,199 war damit ausdrücklich auf die Interpretation des Art. 48 Abs. 2 übertragen worden. 2oo bb) C. Schmitt: Maßnahme contra Rechtsform Bereits im April 1924 war das außerordentliche Gesetzgebungsrecht, wie es die Reichsleitung unter Berufung auf den Diktaturartikel vor allem zur 193 Zu diesem dem überlieferten Notverordnungsrecht entnommenen Begriff vgl. Huber 3, S. 60. 194 Vgl. oben Zweites Kapitel. 195 Vgl. oben Zweites Kapitel B 11 c. 196 Vgl. oben Zweites Kapitel B 11 c insb. bb u.cc. 197 Vgl. Zweites Kapitel B 11 c bb. 198 Anschütz, 1926, Anm. 12 b zu Art. 48. 199 Vgl. oben Zweites Kapitel B 11 c cc. 200 Auch das Reichsgericht folgte weiterhin dieser Auffassung: vgl. RGStE 56, 163; 57, 384; 58,269, zu Art. 105 Satz 3, 151 Abs. 3 und 152 Abs. 1.

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Bekämpfung der ökonomischen Krisenlage in Anspruch genommen hatte, Verhandlungsgegenstand der zweiten Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer in Jena. Carl Schmitt und Erwin Jacobi, die beiden über die "Diktaturgewalt des Reichspräsidenten" referierten, versuchten nicht nur eine Antwort auf den nunmehr offensichtlich gewordenen Wandel des Ausnahmerechts zum "legislativen Notstand". Ihre - im Ansatz - radikale Neuinterpretation des Art. 48 Abs. 2 und der damit verknüpfte Angriff auf die bis zu diesem Zeitpunkt unangefochtene "Unantastbarkeitslehre"201 bildeten den Bezugspunkt für die nun einsetzende staatsrechtliche Diskussion um Inhalt und Begrenzung der präsidentiellen Ausnahmegewalt. 202 Insbesondere Carl Schmitt stellte unter Abkehr von der herrschenden positivistischen Strömung des deutschen Staatsrecht die Interpretation des Art. 48 Abs. 2 auf eine völlig neue theoretische Grundlage. Ausgangspunkt seiner Kritik an der herrschenden Meinung wie auch seiner eigenen Argumenation war das Verhältnis der Grundrechtssuspension (Art. 48 Abs. 2 Satz 2) zu der in Satz 1 dieser Vorschrift umschriebenen Befugnis, zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die erforderlichen "Maßnahmen" zu treffen. Hatte die h. M. - in Anschluß an Grau 203 von der Aufzählung der suspendierten Grundrechte in Satz 2 auf die "Unantastbarkeit" der übrigen Verfassungs artikel durch Maßnahmen im Sinne des Satzes 1 geschlossen, so löste Schmitt löste die beiden Sätze aus diesem Zusammenhang, indem er postulierte: ... Satz 2 enthält gegenüber dem Satz 1 nicht eine Einschränkung, sondern eine neue, zu der Befugnis aus Satz 1 hinzukommende Befugnis, nämlich die aufgezählten Artikel der Verfassung außer Kraft zu setzen, ohne selber Maßnahmen zu treffen. 204

Limitierend wirke die Aufzählung allerdings auf die in Satz 2 ausgesprochene Befugnis zur Grundrechtssuspension: Will der Reichspräsident Grundrechte außer Kraft setzen, so ist er durch die Aufzählung beschränkt. 205

Die in Art. 48 Abs. 2 Satz 1 umschriebene Maßnahmebefugnis füllte Schmitt inhaltlich aus, indem er auf einen Begriff zurückgriff, dessen staatstheoretische Bedeutung und rechtliche Eigenart er zwei Jahre vor der Jenaer Staatsrechslehrertagung zum Gegenstand einer umfangreichen Abhandlung206 gemacht hatte: die "Diktatur". 201 202 203 204

205 206

Vgl. oben Zweites Kapitel B II 3 c. Vgl. unten 2 b. Vgl. oben Zweites Kapitel II 3 c aa. Schmitt, Reichspräsident, S. 163 f. Ebd., S. 77; ähnlich S. 73 und 76. Ders., Diktatur. Die erste Auflage dieser Abhandlung erschien 1921.

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

Die wesentlichen Momente des Schmittschen Diktaturbegriffs waren: Zum einen die Verknüpfung der "persönlichen Herrschaft" eines Einzelnen mit zwei weiteren Vorstellungen, nämlich, daß diese Herrschaft auf einer gleichgültig wie - herbeigeführten oder unterstellten Zustimmung des Volkes, also auf demokratischer Grundlage, beruhe, und daß der Diktator sich eines stark zentralisierten Regierungsapparats bediene, der zur Beherrschung und Verwaltung eines modernen Staats gehöre. 207 Zum anderen schrieb Schmitt der Diktatur lediglich transitorischen Charakter zu: "Die Diktatur ist ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen ... "208. Weil sie "der Idee nach ein Übergang"209 sei, solle sie "nur ausnahmsweise und unter dem Zwang der Verhältnisse eintreten ... " ,210 Aus diesem Ausnahmecharakter gewann er weitere Präzisierungen: Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer Norm enthält, besagt nicht zufällig Negation einer beliebigen Norm. Die innere Dialektik des Begriffs liegt darin, daß gerade die Norm negiert wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit gesichert werden SOll.211

Die Reichweite der diktatorischen Befugnisse schließlich bestimmte sich wie folgt: ... weil alles berechtigt wird, was unter dem Gesichtspunkt des konkret zu erreichenden Erfolges betrachtet, erforderlich ist, bestimmt sich bei der Diktatur der Inhalt der Ermächtigung ausschließlich nach Lage der Sache; daraus entsteht eine absolute Gleichheit von Aufgabe und Befugnis, Ermessen und Ermächtigung, Kommission und Autorität. 212

Aus diesem Zusammenspiel von "Ausnahme" und "Lage der Sache" ergab sich Schmitt zufolge die juristische Eigenart der Diktatur: Ihre rechtliche Natur liegt darin, daß wegen eines zu erreichenden Zweckes rechtliche Schranken und Hemmungen, die nach der Sachlage ein sachwidriges Hindernis für die Erreichung des Zweckes bedeuten, in concreto entfallen. 213

Entscheidend für die Interpretation des Art. 48 Abs. 2 wurde nun der Begriff der "kommissarischen Diktatur", den Schmitt der "souveränen Diktatur" gegenüberstellte. Den Anknüpfungspunkt für diese Differenzierung bildete der mit der Diktatur zu erreichende Zweck: Die kommissarische Diktatur hebt die Verfassung in concreto auf, um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen. 214 207 208 209 210

21! 212 213

Schmitt, Diktatur, S. Schmitt, Diktatur, S. Schmitt, Diktatur, S. Schmitt, Diktatur, S. Schmitt, Diktatur, S. Schmitt, Diktatur, S. Schmitt, Diktatur, S.

XII. XII. XII. XII. XVI. XVIII. 135.

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Anders die souveräne Diktatur: Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als die wahre Verfassung ansieht. 215 Den Begriff der kommissarischen Diktatur schleuste Schmitt nun in die Auslegung der Art. 48 Abs. 2 Satz 1 ein, indem er sich auf die "Eigenart"216 dieser Norm berief: Die rechtsstaatliche Entwicklung habe die kommissarische Diktatur in der Weise erfaßt, daß sowohl Voraussetzung wie Inhalt der diktatorischen Befugnisse tatbestandsmäßig umschrieben und aufgezählt würden 217 ; so habe sich im Lauf den 19. Jahrhunderts eine typische Gestaltung des Kriegs- oder Belagerungszustandes gebildet, der den Charakter eines wirklichen Rechtsinstituts gewonnen habe.2 18 Sich dieser Entwicklung anzupassen, sei die Absicht, die man mit dem Hinweis auf das nach Art. 5 zu erlassende Reichsgesetz verfolgt habe. 219 Bis diese "eigentliche"22o Regelung erfolgt sei, bestehe ein "Provisorium"221. Die "Eigenart"222 der zwischenzeitlich geltenden Befugnis aus Art. 48 Abs. 2 Satz 1 bestehe nun darin, daß einerseits die souveräne Diktatur der verfassungsgebenden Versammlung mit dem Inkrafttreten der Verfassung aufgehört habe, andererseits eine der typischen rechtsstaatlichen Entwicklung entsprechende Umgrenzung der kommissarischen Diktatur noch nicht erfolgt sei, weil man sich angesichts der abnormen Lage des Deutschen Reiches einen weiteren Spielraum haben sichern wollen.223 Die Maßnahmebefugnis des Reichspräsidenten (Art. 48 Abs. 2 Satz 1) bestimmte sich daher, folgt man Schmitt, ausschließlich nach dem staatstheoretischen - der Verfassung vorausliegenden - Begriff der "kommissarischen Diktatur", der sich von der "souveränen" Diktatur nicht etwa durch die Reichweite der diktatorischen Befugnisse, sondern lediglich durch den zu erreichenden Zweck unterschied: ... in der Sache, nicht in ihrer rechtlichen Begründung, wirkt sie (die kommissarische Diktatur, A. K.) wie das Residuum einer souveränen Diktatur der Nationalversammlung. 224 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223

Schmitt, Diktatur, S.137. Schmitt, Diktatur, S. 137. Schmitt, Reichspräsident, S. 88, 89. Schmitt, Reichspräsident, S. 87 f. Schmitt, Reichspräsident, S. 88. Schmitt, Reichspräsident, S. 88. Schmitt, Reichspräsident, S. 89. Schmitt, Reichspräsident, S. 89. Schmitt, Reichspräsident, S. 88. Schmitt, Reichspräsident, S. 89.

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

Vorrangig aus dem Begriff der kommissarischen Diktatur gewann Schmitt auch die Grenzen der Befugnis aus Art. 48 Abs. 2. Dessen wesensbestimmendes Kriterium, die Berufung auf die "bestehende Verfassung", zog er für die Auslegung der Formel der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" heran und überwand auf diesem Weg die überlieferte polizeirechtliche Doktrin: Was normal ist, ebenso wie die Entscheidung darüber, was öffentliche Sicherheit und Ordnung ist, kann ... nach Art. 48 nicht unter Ignorierung der Verfassung getroffen werden. 225

Dem lag ein Verfassungsverständnis zugrunde, das sich zum formellen Verfassungsbegriff der klassischen Lehre in betonten Gegensatz stellte: Sie (die Verfassung, A. K.) bestimmt die fundamentale Organisation eines Staates und entscheidet darüber, was Ordnung ist. 226

Zur Beseitigung einer der - so verstandenen - "Verfassung" drohenden Gefahr konnte Schmitt zufolge zwar ein "Verfassungsartikel"227 durchbrochen oder ein "verfassungswidriger Mißbrauch verfassungsmäßiger Institutionen"228 verhindert werden, demgegenüber sollten "verfassungsmäßige Einrichtungen als solche"229 oder "die Verfassung als Ganzes"230 niemals eine Gefährdung im Sinne einer Verfassungs bestimmung - nämlich des Art. 48 bedeuten. Eine weitere "absolute Grenze"231 für alle nach Art. 48 zu treffenden Maßnahmen, auch für solche "tatsächlicher Art"232, sei dadurch bestimmt, daß "Art. 48 ein Minimum an Organisation"233 enthalte, "welches ... in seinem Bestand und Funktionieren nicht behindert"234 werden dürfe. Dieses "unantastbare organisatorische Minimum" 235 sollte das Amt des Reichspräsidenten, die Reichsregierung und den Reichstag umfassen, jeweils wie sie als verfassungsmäßiges Institut nach der Reichsverfassung bestanden. 236 Demnach durfte der Reichspräsident nicht - gestützt auf Art. 48 - etwa seine eigene Amtsdauer verlängern oder sonstwie einen tatsächlichen Zustand zu schaffen 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236

Schmitt, Reichspräsident, S. 89. Schmitt, Reichspräsident, S. 92. Schmitt, Reichspräsident, S. 9l. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93. Schmitt, Reichspräsident, S. 93 ff.

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versuchen, der das verfassungsmäßige Institut des Reichspräsidenten tatsächlich änderte;237 unzulässig war es ferner, die Reichsregierung zu suspendieren und den Ministern die Ausübung ihrer Amtstätigkeit zu verbieten, oder aber - und hier bezog Schmitt unausgesprochen zu den jüngsten Ereignissen238 Stellung - die für die Neuwahl des Reichstags festgesetzte Frist von 60 Tagen zu verlängern oder aufzuheben. 239 Die dritte - und für die Diktaturverordnungspraxis der letzten Monate letztlich entscheidende - Schranke entnahm Schmitt dem in Art. 48 Abs. 2 Satz 1 erwähnten Terminus der "Maßnahme", dessen Inhalt er analog zu seinem Diktaturbegriff bestimmte: Zu dieser (der Maßnahme, A. K.) gehört, daß das Vorgehen in seinem Inhalt durch eine konkret gegebene Sachlage bestimmt und ganz von einem sachlichen Zweck beherrscht ist, so daß es nach Lage der Sache von Fall zu Fall verschiedenen Inhalt und keine eigene Rechtsform hat ... Ihr Maß, d. h. Inhalt, Verfahren und Wirkung bestimmen sich von Fall zu Fall. 24o

Der so bestimmten Maßnahme stellte Schmitt andere, "von Rechtsidee und Rechtsförmigkeit beherrschte Akte und Normen"241, wie etwa das in einem geregelten Verfahren entstandene formgerechte richterliche Urteil, dessen Maß eine "im voraus bestimmte generelle Entscheidungsnorm"242 sei, oder aber auch eine Rechtsnorm, "wenn sie wesentlich ein Rechtsprinzip zum Ausdruck bringen, d. h. vor allem gerecht, von der Rechtsidee beherrscht"243 sein wolle. Aus dieser strengen rechts theoretischen Unterscheidung zwischen der auf eine konkrete Zweckmäßigkeit orientierten Maßnahme einerseits, der von Rechtsidee und Rechtsförmigkeit beherrschten Akten und Normen andererseits folgte eine - theoretisch - ebenso strikte Trennung der entsprechenden Befugnisse: Der Reichspräsident durfte nämlich nach Art. 48 Abs. 2 "alle die Akte nicht vornehmen, welche durch verfassungsmäßige Bindung an ein bestimmtes Verfahren eine solche Rechtsförmigkeit erhalten haben, daß sie aufhören, ausschließlich durch die Lage der Verhältnisse bestimmt zu werden, also Maßnahmen zu sein"244. Zumindest für die Maßnahmebefugnis des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 Satz 1 war damit aus der Reichsverfassung selbst - und nicht lediglich aus einer der Verfassung vorausliegenden Unterscheidung von Maßnahme 237 238 239 240 241

242 243 244

Schmitt, Reichspräsident, Vgl. oben A III 2 c aa. Schmitt, Reichspräsident, Schmitt, Reichspräsident, Schmitt, Reichspräsident, Schmitt, Reichspräsident, Schmitt, Reichspräsident, Schmitt, Reichspräsident,

S. 94. S. S. S. S. S. S.

94 f. 97. 1Ol.

97. 97. 99.

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

und an der Rechtsidee orientierter Rechtsnorm - zu entnehmen, ob ein präsidentielles Handeln innerhalb der verfassungsmäßigen Kompetenzen gegeben war. Der Reichspräsident war nämlich "kein Gesetzgeber"245: Er kann nicht ein formelles Gesetz nach Art. 68 ... erlassen. Es ist ihm ferner nicht möglich, auf Grund von Art. 48 gemäß Art. 45 den Krieg zu erklären, gemäß Art. 85 den Haushaltsplan festzustellen .. .246

Für den Bereich der - nach der überlieferten Terminologie - "materiellen" Gesetzgebung war der praktische Wert der Schmittschen Unterscheidungen gering. Denn auch "generelle Anordnungen"247, "Verordnungen"248 durfte der Reichspräsident als "Maßnahmen" treffen; solche Verordnungen wirkten "wie Gesetze"249, wurden auch für den Richter zur "Entscheidungsnorm"25o und konnten schließlich in ein formelles Gesetz umgewandelt werden, dennso Schmitt - "eine Maßnahme kann die Grundlage eines Rechtsaktes sein, der keine Maßnahme mehr ist, weil er durch ein rechtsförmiges Verfahren hindurchgegangen und dadurch aus der unmittelbaren Abhängigkeit von der gegebenen Sachlage befreit ist. "251 Deshalb ist Schmitt auch zuzustimmen, wenn er selbst konstatierte: "Generelle Anordnungen sind demnach in ihrer Wirkung auf Behörden und Staatsbürger praktisch nicht zu unterscheiden. "252 Nach alle dem ist abschließend festhalten: Auch earl Schmitt billigte - wie vor ihm schon die ganz herrschende Meinung - im Ergebnis eine Rechtssetzungskompetenz des Reichspräsidenten aufgrund des Art. 48 Abs. 2. b) Nochmals: "Unantastbarkeit" der Reichsverfassung? aa) Mit der Schmitt/Jacobi'schen Interpretation des Art. 48 Abs. 2 - von ihren wissenschaftlichen Gegner alsbald "Durchbrechungslehre"253 genannt war der bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Konsens über die "Unantastbarkeit" der Reichsverfassung zerbrochen. 254 Zugleich bot die neue Lehre eine staatsrechtliche Antwort auf die vorausgegangene Praxis des wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustands - wenn die Rechtssetzungsbefugnis des Reichspräsidenten auch auf "Maßnahmen" im Schmittschen Sinne beschränkt blieb. 255 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255

Schmitt, Reichspräsident, S. 96. Schmitt, Reichspräsident, S. 99. Schmitt, Reichspräsident, S. 98. Schmitt, Reichspräsident, S. 98. Schmitt, Reichspräsident, S. 98. Schmitt, Reichspräsident, S. 98. Schmitt, Reichspräsident, S. 98. Schmitt, Reichspräsident, S. 98. Grau, Diktaturgewalt 2, S. 434 u.a. Vgl. die bei Schmitt, Reichspräsident, S. 63 Fn. 1 Genannten. Vgl. oben a bb a.

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Die Vertreter der traditonellen Auffassung unterzogen Jacobi und Schmitt in den folgenden Jahren einer vehementen Kritik. Im Jahre 1925 verband der bayerische Staatsrechtler Nawiasky seine Verteidigung der "Unantastbarkeitslehre" mit einer betont sicherheitspolizeilich-exekutivischen Interpretation des Art. 48 Abs. 2 - eine enge Auslegung der präsidialen Ausnahmegewalt, die sichtlich auch auf eine Begrenzung der zentralstaatlichen Eingriffsbefugnisse gegenüber den Ländern abzielte. Die dreifache Stoßrichtung dieser Abhandlung - gegen die "Durchbrechbarkeit" der Reichsverfassung, gegen die Anwendung des Art. 48 als Remedium gegen den wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustand, gegen eine schrankenlose Unitarisierung des Reiches im Notstandsfall - mag den für eine staatsrechtliche Kontroverse ungewöhnlich scharfen Ton erklären, den Nawiasky gegenüber der nach seiner Auffassung "apokalyptischen Theorie"256 anschlug. Die in den darauffolgenden Jahren erschienenen Arbeiten von Grau 257 und HaentzscheF58, die sich ausschließlich auf die Frage der "Antastbarkeit" der Reichsverfassung konzentrierten, waren denn auch im Stil wesentlich moderater. In der Ablehnung der "rechtsirrtümlich( en) "259 Durchbrechungslehre war sich die ganz herrschende Ansicht freilich einig. 260 Angeschlossen hatten sich Jacobi und Schmitt nach alledem nur wenige. Auf der Staatsrechtslehrertagung fanden die bei den Referenten die Zustimmung Hermann Hellers,261 einige Monate später meinte auch Richard Thoma, sich dem "Gewicht ihrer Beweisgründe nicht mehr entziehen"262 zu können. 263 Ferner stellten sich die Verfasser einiger weniger Dissertationen - so Forsthoff2 64 - auf den Boden der neuen Theorie. 265 In ihren Folgewirkungen betrachtet man die "Durchbrechungslehre" regelmäßig mit starker Skepsis: in erster Linie wird der Vorwurf erhoben, sie habe generell die Tendenzen zur erweiterten Auslegung und Handhabung des Art.48 verstärkt und legitimiert. 266 Zumindest für die Rezeption der Theorie 256 Nawiasky, Auslegung, S. 14. Vgl. auch ebd., S. 8: ein "wildgewordener Reichspräsident" könne wie ein "apokalyptischer Reiter über das wehrlose Maximum der Reichs- und Landesorganisation hereinbrechen"; ähnlich S. 11, wo er die Stellung der Landesregierung nach Art. 48 Abs. 4 mit einem "freischwebenden Kugelblitz" verglich. 257 Ders., Diktaturgewalt 2. 258 Ders., Verfassungsschranken. 259 Anschütz, 1926, Anm. 13 zu Art. 48. 260 Vgl. die bei Anschütz, 1926, Anm. 13 zu Art. 48 und Grau, Diktaturgewalt 2, S. 434 Fn. 1 Genannten. 261 Vgl. die Äußerung Hellers in der Verhandlung um den "Preußenschlag" vor dem Staatsgerichtshof, in: Preußen, S. 345. 262 Ders., Regelung, Sp. 658. 263 Auf der Staatsrechtslehrertagung hatte sich Thoma noch für die h. M. ausgesprochen; vgl. ders., Regelung, Sp. 658. 264 Ders., S. 138 ff. 265 Vgl. noch die Dissertation von Schwerter, S. 15 ff.

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Schmitts und Jacobis in den Zwanziger Jahren läßt sich diese Auffassung nicht bestätigen. So kam etwa Forsthoff auf ihrer Grundlage zu einem betont proföderalistischen - und damit die Reichsausnahmegewalt einschränkenden - Verständnis des Art. 48 Abs. 4;267 anläßlich der Kontroverse um die Aufwertungsverordnung vom 4. Dezember 1924 wurde der Schmittsche Maßnahmebegriff gelegentlich herangezogen, um die Verfassungswidrigkeit dieses präsidialen Rechtssetzungsaktes zu untermauern 268 • In der zeitgenössischen Diskussion bewirkte die neue Lehre daher eher eine Restriktion der präsidialen Diktaturgewalt. bb) Im übrigen ist zum Streit um die "Antastbarkeit" der Reichsverfassung zu bemerken: Die schroffe Entgegensetzung 269 von "Durchbrechungslehre" und "Unantastbarkeitslehre" zeichnet ein unzutreffendes Bild der zeitgenössischen Diskussion. Im wesentlichen handelte es sich bei dieser Kontroverse um einen Streit darüber, wie die im Zuge eines "diktatorischen" Eingreifens des Reichspräsidenten auftretenden Widersprüche zu den Normen der Reichsverfassung benannt werden sollten. Diese These soll mit einem Blick auf die staatsrechtlichen Argumente der Kontrahenten beleuchtet werden. Zunächst zur "Durchbrechungslehre": Den von Schmitt theoretisch vorgeformten Maßnahmebegriff270 präzisierte Jacobi, indem er drei Formen des "Widerspruch(s) eines Rechtssatzes zu einem Verfassungsartikel" unterschied, nämlich die "eigentliche Verfassungsänderung" , die "Verfassungsdurchbrechung" sowie die "Außerkraftsetzung eines Verfassungsartikels" .271 Eine "eigentliche" Verfassungs änderung lag in der Aufhebung oder Änderung eines Verfassungsrechtssatzes durch ein formell verfassungsänderndes Gesetz, mithin in einer Änderung der Verfassungsurkunde. 272 Bei der "Verfassungsdurchbrechung" lief Jacobi zufolge der Inhalt eines Rechtssatzes dem betreffenden Verfassungsrechtssatz zuwider, der Verfassungsrechtssatz selbst aber sollte im übrigen nach wie vor in Geltung bleiben. 273 Die "Außerkraftsetzung" einer Verfassungsnorm schließlich bedeutete - folgt man dieser Differenzierung - die Aufhebung eines Rechtssatzes mit der Eigenart, daß "mit dem Wiederaufleben des Rechtssatzes in der Verfassungsurkunde gerechnet wird und daß dieses Wiederinkraftsetzen nicht der Form des_ Verfassungsgesetzes Vgl. Scheuner, S. 268. Ähnlich Gather, S. 64; Oberreuter, S. 52 u. a. Vgl. oben Drittes Kapitel BI 1 b. 268 Vgl. Friedmann, Mißbrauch. 269 Vgl. in der Diskussion nach 1945 zuerst Rossiter, S. 68 f.; dann auch Bracher, S. 53 f.; Gather, S. 32 ff.; Oberreuter, S. 52; Scheuner, S. 267. 270 Vgl. oben a bb. 271 Vgl. ders., S. 109 f. 272 Jacobi, S. 109 f. 273 Jacobi, S. 109 f. 266 267

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bedarf, sondern in derselben Form erfolgt, wie die Außerkraftsetzung verfügt worden ist. "274 . Dieser dreifachen Auffächerung des "Widerspruchs" eines Rechtssatzes zu einem Verfassungsartikel setzte Jacobi die Unterscheidung zwischen den "dem Staatsrecht angehörigen organisatorischen Bestimmungen der Verfassung"275 einerseits, die "das Verhältnis der Staatsgewalt zum Bürger regelnden, dem Verwaltungsrecht zugehörigen Grundrechte"276 andererseits hinzu und übertrug diese Differenzierungen auf die - nach Schmitt voneinander zu trennenden 277 - Befugnisse, "Maßnahmen" zu treffen (Art. 48 Abs. 2 Satz 1) und Grundrechte zu suspendieren (Art. 48 Abs. 2 Satz 2). Eine Änderung der Verfassungsurkunde auf der Grundlage des Art. 48 war dem "Diktator" überhaupt verwehrt. 278 Gemäß dem ersten Satz des Art. 48 Abs. 2 durfte der Reichpräsident aber "durch Verfügung wie Rechtssatz die den organisatorischen Aufbau des Reiches betreffenden Verfassungsartikel durchbrechen"279 - bis auf das "organisatorische Minimum"28o. Für Eingriffe in Grundrechte war der Reichspräsident demgegenüber auf deren Suspension angewiesen: " ... kann ... unbestrittenermaßen die dort aufgezählten Grundrechte ,außer Kraft' setzen, während ihm Eingriffe in die übrigen das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern regelnden Grundrechte sowohl im Wege der Verfügung wie im Wege der Verordung versagt bleiben".281 Die Unantastbarkeitslehre kam für die "organisatorischen Bestimmungen", auf die hier vorerst das Augenmerk gerichtet werden soll, mit einer anderen Begründung zum selben Ergebnis. Der Art. 48 Abs. 2 habe als "Sonderregelung"282 zu gelten gegenüber der ordentlichen Zuständigkeits abgrenzung zwischen Reich und Ländern, "indem er ... eine an die normale Abgrenzung nicht gebundene Exekutive"283 schaffe, und gegenüber den Vorschriften über die ordentliche Reichsgesetzgebung, "indem er neben ihr ... auch den Erlaß von Rechtsverordnungen als zulässige Maßnahmen"284 mitumfasse. Ergänzend wurde auf einen Gegensatz zwischen der "organisatorischen und der ermächtigenden Funktion einer Verfassungsnorm"285 verwiesen, wobei die Jacobi, S. 109 f. Jacobi, S. 110. 276 Jacobi, S. 110. 277 Vgl. oben a bb. 278 Jacobi, S. 117 f. 279 Jacobi, S. 118. 280 Jacobi, S. 118. 281 Jacobi, S. 117. 282 Nawiasky, Auslegung, S. 22; ähnlich S. 47 f.. Vgl. auch Haentzschel, Verfassungsschranken, S. 218: "lex specialis"; Schwalb, Befugnisse, Sp. 694. 283 Haentzschel, Verfassungsschranken, S. 218. 274 275

284

Ebd.

285

Grau, Diktaturgewalt 2, S. 439.

12 Kurz

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

"Verschiebungen in der internen und bundesstaatlichen Organisation des Reiches"286 sich eben auf die "organisatorische Funktion" des Art. 48 Abs. 2 gründen sollten,287 Eine formale Brücke zur "Unantastbarkeit" der Reichsverfassung fanden die Vertreter dieser Auffassung in der Überlegung, daß gerade "seitens der Verfassung selbst, nicht erst seitens der mit der Handhabung der Diktaturgewalt betrauten Organe"288 eine Durchbrechung der ordentlichen Vorschriften stattfinde. 289 Mit dieser Argumentationskette ließ sich eine Abweichung präsidialer Diktaturverordnungen von den organisatorischen Normen der Reichsverfassung begründen, ohne das Unantastbarkeitsdogma zu beeinträchtigen. Der Unterschied zu einer "Durchbrechung" der Reichsverfassung im SchmittlJacobi'sehen Sinne lag dann freilich nur noch im Terminologischen und war für Inhalt und Umfang der präsidialen Ausnahmegewalt unerheblich. 29o c) Einschränkungen der präsidentiellen Gesetzgebungsgewalt aa) Eine starke Strömung in der Literatur schränkte die Rechtssetzungsbefugnis des Reichspräsidenten ein, indem sie Eingriffe des Trägers der Diktaturgewalt in Grundrechte nur nach Maßgabe des Art. 48 Abs. 2 Satz 2 erlaubte, eine präsidiale Verordnungstätigkeit mithin ausschließlich auf den Gebieten der dort aufgezählten suspendierbaren und suspendierten Grundrechten zuließ.291 Manche stimmten dem zwar grundsätzlich zu, nahmen aber gerade bestimmte "wirtschaftliche" Grundrechte, insbesondere die Handels-, Gewerbe- und Vertragsfreiheit (vgl. Art. 151 Abs. 3, 152 Abs. 1) von dieser Restriktion aus. 292 Ebd., S. 443. Grau, Diktaturgewalt 2, S. 443, 453. 288 Haentzschel, Verfassungsschranken, S. 226. 289 Ähnlich wie Haentzschel auch Grau, Diktaturgewalt 2, S. 453; Nawiasky, Auslegung, S. 21 ff. 290 Die gegenteilige herrschende Auffassung (vgl. oben Fn. 269) dürfte bis heute von der im Jahre 1934 erschienenen Abhandlung von Schultes beeinflußt sein, der - die Strömungen der Doktrin bis zum Jahre 1933 scheinbar zusammenfassend - eine Dreiteilung in die "restriktiv-rechtsstaatliche, verfassungsmäßige Auslegung", die "Durchbrechungslehre" und die sogenannte "Gleichsetzungslehre" vornimmt. Die "restriktiv-rechtsstaatliche" Auffassung hatte Schultes aus Versatzstücken der Interpretationsansätze verschiedener Autoren, vor allem Heckeis (ders., Diktatur, S. 257 ff.) nachträglich montiert, und was die "Gleichsetzungslehre" - gemeint war die Gleichsetzung von formellem Gesetz und Maßnahme - anbetrifft, so konnte sich diese - wie bei Anschütz - für den Bereich der materiellen Gesetzgebung mit der bei oberflächlicher Betrachtung "restriktiven" Unantastbarkeitslehre durchaus überschneiden. 291 Vgl. Bornhak, Sp. 384; Grau, Devisen, Sp. 586; Hatschek, S. 174; Jacobi, S. 110 f.; Kronheimer, Streit. S. 308 f.; Nawiasky, Auslegung, S. 49 ff.; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, S. 672. Für die Ausnahmegewalt der Länder nach Art. 48 Abs. 4 auch Forsthoff, S. 173 f. 292 Vgl. Haentzschel, Verfassungsschranken, S. 222 ff., Muhr, S. 494 ff. 286 287

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Für eine Ausklammerung der in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 nicht erwähnten Grundrechte aus dem Bereich des "materiellen" Gesetzgebungsrechts des Reichspräsidenten 293 sprachen sich sowohl Vertreter der "Durchbrechungs-" wie der "Unantastbarkeits-"Lehre aus. 294 Die Argumente waren identisch: Im Jahre 1916 hatte Thoma 295 - gegen Anschütz - die Auffassung vertreten, daß nach dem ursprünglichen Sinn der alten preußischen Verfassung von 1850 in allen Fällen, in denen eine Freiheit grundrechtlich verbürgt und ihre Einschränkung dem Gesetze vorbehalten war, dieser Vorbehalt auf ein formelles Spezialgesetz gemünzt war und ein Rückgriff auf die allgemeine Polizeigewalt gerade ausgeschlossen werden sollte. 296 Was für die in § 10 11 17 ALR umschriebene polizeiliche Generalklausel galt, sollte nun - folgte man Grau, Jacobi u. a. - auf die Verfassungsebene übertragen werden und auch auf die "allgemeine Zuständigkeitsnorm"297 des Art. 48 Abs. 2 Satz 1 Anwendung finden. 298 Eingriffe in nicht suspendierbare oder in suspendierbare, aber nicht ausdrücklich außer Kraft gesetzte Grundrechte waren danach nur aufgrund eines formellen - auf dem Wege der ordentlichen Reichsgesetzgebung zustandegekommenen - Spezialgesetzes, nicht aber aufgrund präsidialer Diktaturverordnung zulässig. 299 Die praktischen Auswirkungen dieser auf den ersten Blick restriktiven Ansicht waren indes gering. 3OO Grau etwa hielt Durchführungsbestimmungen zur Devisenerfassungsverordnung vom 7. September 1923 für ungültig, weil die dort geregelte verschärfte Bankenaufsicht in die - nicht suspendierbare Gewerbefreiheit (vgl. Art. 151 Abs. 3) eingreife;301 Bornhak wandte sich gegen die Erhebung von Ausreisegebühren in der Verordnung vom 3. April 1924 mit der Begründung, diese Regelung tangiere die nach seiner Auffassung in Art. 112 garantierte Auswanderungsfreiheit;302 Jacobi behauptete die Ungültigkeit der gemäß Art. 48 Abs. 4 erlassenen sächsischen Verordnung zur Erhaltung der Arbeitnehmer in den Betrieben303 , denn sie greife in die - nicht Vgl. oben Zweites Kapitel B 11 2 c ce. Vgl. Forsthoff, S. 173 f.; Jacobi, S. 110 f. einerseits; die anderen oben Fn. 291 genannten Autoren andererseits. Undeutlich Schmitt, Reichspräsident, S. 99 f. 295 Vgl. Thoma, Gesetz, S. 165 ff. 296 Ebd., insb. S. 221 ff. 297 Jacobi, S. 110. 298 Vgl. schon Grau, Diktaturgewalt 1, S. 58 ff., ders., Art. 48 S. 96 sowie Jacobi, S. 110 Fn. 1; Haentzschel, Verfassungsschranken, S. 221 ff. Kritisch dazu Thoma selbst in seiner Besprechung der im Jahre 1922 erschienenen Grau'schen Monographie; vgl. ders., Sp. 1194. 299 Vgl. die soeben Fn. 298 Genannten. 300 Für die Verfassungswidrigkeit mancher aufgrund des Art. 48 Abs. 4 erlassener Diktaturverordnungen der Länder wegen eines Eingriffs in nicht suspendierte Grundrechte Forsthoff, S. 173. 301 Vgl. Grau, Devisen, Sp. 586. 302 Bornhak, S. 384. 303 Sächsische Staatszeitung vom 8. Oktober 1923; zitiert nach Jacobi, S. 121. 293 294

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suspendierbare - Vertragsfreiheit (vgl. Art. 152) ein 304 ; manche Autoren305 schließlich äußerten - im Hinblick auf die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit (Art. 159) - rechtliche Bedenken gegenüber den aufgrund präsidial er Verordnung erlassenen Streikverboten .306 Damit richtete sich die Kritik zwar gegen einzelne Verordnungen, die Praxis des wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustandes in den Jahren 1922 - 24 - und damit die außerordentliche Gesetzgebung auf dem Wege der präsidialen Dikaturgewalt - war damit als solche nicht getroffen. bb) Zu übereinstimmenden Ergebnissen kamen die Anhänger beider Auffassungen auch für ein - in den Zwanziger Jahren kaum praktisch gewordenes - Tätigwerden des Reichspräsidenten im Bereich der nur-formellen Gesetzgebung. 307 Dem "Diktator" sollte es verwehrt bleiben, aufgrund des Art. 48 Abs. 2 etwa die Zustimmung des Reichstags zu völkerrechtlichen Verträgen zu ersetzen (vgl. Art. 45 Abs. 3)308, einen Krieg zu erklären (Art. 45 Abs. 2) oder den Haushaltsplan festzustellen (Art. 85)309. Dieser Einschränkung der konstitutionellen Ausnahmegewalt stand der herrschende spätkonstitutionelle Gesetzesbegriff nicht entgegen, zwang er doch zur Anerkennung eines konkurierrenden präsidialen Gesetzgebers nur auf dem Gebiet der "materiellen" Gesetzgebung310 . So konnte man zu Recht darauf hinweisen, daß die Reichsverfassung in derartigen Fällen eine andere als die formellgesetzliche Regelung unter allen Umständen ausschließen wollte, weil es ihr auf ein bestimmte Machtverteilung zwischen den einzelnen Reichsorganen ankam. 311 Zu demselben Ergebnis kam Schmitt, indem er auf die Rechtsförmigkeit solcher Akte verwies. 312 ce) Ähnliches gilt für die des öfteren kritisierte 313 Dauerwirkung mancher Diktaturmaßnahmen. 314 Hier war man sich zwar nicht in der Begründung, aber im Ergebnis einig, daß der Reichspräsident aufgrund des Art. 48 Abs. 2 nur vorübergehende - auf die Wiederherstellung der "öffentlichen Sicherheit Vgl. Jacobi, S. 12l. Vgl. Eckstein, S. 294; Kronheimer, Streit, S. 309. 306 Nach a. A. wurde das Streikrecht in Art. 159 nicht geschützt; vgl. Anschütz, 1926, Anm. 3,4 zu Art. 159; Hatschek, S. 174. 307 Zum Begriff des nur-formeHen Gesetzes s. o. Zweites Kapitel B II 2 c bb. 308 Zu den Plänen der Reichsregierung, das Londoner Abkommen vom August 1924 trotz der Ablehnung im Reichstag - gestützt auf Art. 48 Abs. 2 - zu unterzeichnen, Forsthoff, S. 154 Fn. 49: "ein ungeheuerlicher Mißbrauch". 309 Vgl. dazu Grau, Diktaturgewalt 2, S. 492 f.; Nawiasky, Auslegung, S. 53 f.; Schmitt, Reichspräsident, S. 99 f. 310 Vgl. oben Zweites Kapitel B II 2 c bb. 3ll Vgl. Nawiasky, Auslegung, S. 53; Grau, Diktaturgewalt 2, S. 492 f. 312 Dazu oben a bb. 313 Vgl. Eckstein, S. 293; Forsthoff, S. 189; Grau, Art. 48, S. 100 f.; Jacobi, S. 124 f.; 314 Vgl. dazu oben A IIr 2 a bb. 304 305

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und Ordnung" abzielende - Ausnahmeverordnungen erlassen durfte: die Anhänger der "Durchbrechbarkeitslehre" bezogen sich dafür auf den engen Schmittschen Maßnahmebegriff,315 andere verwiesen darauf, daß der Verfassungswortlaut nur das Treffen der für diese Zweckbestimmung "nötigen" Maßnahmen erlaubte316 • Freilich rechnete die zeitgenössische Doktrin auch die Frage, ob in diesem Sinne eine präsidiale Verordnung "nötig" war, oder ob es sich überhaupt um eine "Maßnahme" handelte, dem grundsätzlich unüberprüfbaren "freien Ermessen" des Reichspräsidenten zu. 317 Damit zeitigten beide Versuche zur Begrenzung der konstitutionellen Ausnahmegewalt nicht nur dasselbe Ergebnis, sondern erwiesen sich gleichermaßen als praktisch bedeutungslos. 318 dd) Eine die Gesetzgebungsgewalt des Reichspräsidenen einschränkende Tendenz zeigte sich auch bei der Diskussion um die rechtliche Zu lässigkeit der Aufwertungsverordnung vom 4. Dezember 1924. Der Reichsfinanzhof etwa hielt in seiner Entscheidung vom 5. Januar 1925319 diese Verordnung für verfassungswidrig mit der Begründung, das Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 habe auch das Verordnungsrecht des Reichspräsidenten aufgrund des Art. 48 Abs. 2 einschränken wollen; ähnlich argumentierten auch manche Stimmen in der juristischen Literatur32o • Diese Auffassungen trafen auf energischen Widerspruch321 und hinterließen für die weitere Auslegung des Art. 48 Abs. 2 über diesen Einzelfall hinaus keine Spuren. d) Diktaturgewalt und Ermächtigungsgesetz Während die soeben beschriebenen Interpretationsansätze auf eine Restriktion der präsidentiellen Normsetzungsgewalt abzielten und damit die funktionelle Angleichung von Diktaturmaßnahmen mit den auf dem Wege der ordentlichen Reichs- oder der Ermächtigungsgesetzgebung zustande ge kommenen Rechtssetzungsakten erschwerten, bleibt bei den Bemühungen der Rechtswissenschaft um eine Einpassung der präsidialen Diktaturgewalt in die Vgl. Forsthoff, S. 189; lacobi, S. 124. Vgl. Nawiasky, Auslegung, S. 28; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, S. 670. 3!7 Vgl. Anschütz, 1926, Anm. 10 zu Art. 48; Hatschek S. 172; lacobi, S. 126 f., 136 und oben Zweites Kapitel b II 4 a. 318 Kritisch hierzu Bilfinger, Verfassungsumgehung, S. 186: "Mithin verstößt der ... beschrittene Weg zwar wider den Geist der Verfassung ... aber die angewandte Methode ist nicht verfassungswidrig." 319 Deutsche luristenzeitung, 1925, Sp. 235. 320 Vgl. Friedmann, Mißbrauch, ders., Erwiderung; Friters, Die neueste Rechtsprechung zum Mißbrauch der Verordnungsgewalt (zitiert nach Grau, Verordnung, Sp. 84, Fn. 1). 321 Insbesondere von Grau, Verordnung, Sp. 89 ff. und Anders. Harsche Kritik des Reichsfinanzhofsurteils bei Becker, einem Senatspräsidenten dieses Gerichts. 315

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überlieferte staatsrechtliche Begrifflichkeit eine Tendenz unverkennbar, die Verfassungsnorm des Art. 48 Abs. 2 mit mit einer ,ad hoc' erteilten parlamentarischen Ermächtigung zur exekutivischen Rechtssetzung - eben mit einem Ermächtigungsgesetz - gleichzusetzen. So war die Lehre von der "Durchbrechbarkeit" der organisatorischen Normen der Reichsverfassung, wie sie Jacobi unter Anknüpfung an seinen Korreferenten Schmitt entwickelt hatte, in der Sache nichts anderes als eine Übertragung der von der herrschenden Meinung für die Ermächtigungsgesetzgebung anerkannten Rechtsgrundsätze auf die Interpretation der präsidentiellen Ausnahmegewalt. Ermächtigungsgesetze nämlich wichen von den organisatorischen Normen der Reichsverfassung im Einzelfall ab - zumindest von denjenigen Vorschriften, die den Weg der ordentlichen Reichsgesetzgebung regelten - ohne die Verfassungsurkunde formell zu ändern 322 . Ein solches Verfahren, hielt bereits die Doktrin der Kaiserzeit für zulässig323 und wurde auch von der ganz herrschenden Weimarer Lehre zunächst akzeptiert,324 sofern nur das von den Normen der Verfassung abweichende Gesetz mit der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Zweidrittel-Mehrheit zustandegekommen war 325 . Die Jakobi'sche Unterscheidung von "formeller Verfassungsänderung" und "Verfassungsdurchbrechung" - die auch dem Reichspräsidenten aufgrund des Art. 48 Abs. 2 erlaubt sein sollte - präzisierte lediglich diese überlieferte Ansicht und fand daher sogleich in die staatsrechtliche Diskussion um die Zulässigkeit "bloß materiell"326 verfassungsändernder Gesetze Eingang. So wandte sich Preuß im Jahre 1924 gegen die gängige Staatspraxis, indem er ausführte: Aber solche Gesetze sind keine Verfassungsänderungen, sondern sie sind Durchbrechungen der Verfassungsnormen im Einzelfall ... Damit charakterisieren sie sich aber als diktatorische Maßnahmen von der Art, wie sie die RVerf. in Art. 48 unter gewissen Voraussetzungen dem Reichspräsidenten gestattet, niemals aber dem Reichstage. 327

Was soeben für Schmitt und Jacobi dargelegt wurde, gilt in gleichem Maße für ihre wissenschaftlichen Gegner, waren doch auch nach deren Auffassung Abweichungen von den organisatorischen Verfassungsnormen zulässig328 , Zu dieser Form der "Verfassungsdurchbrechung" Huber 6, S. 421. Vgl. die bei Huber 6, S. 421 Fn. 12 Genannten sowie den Überblick bei Triepel, Reichsverfassung, S. 17 ff. 324 Hierzu und zum weiteren Verlauf der Diskussion Huber 6, S. 421 ff. 325 Zum Verfahren näher Huber 6, S. 419. 326 Jacobi, S. 109. 327 Preuß, Gesetze, Sp. 653. Diese Äußerung kann zugleich als Beispiel dafür dienen, wie sich sogar die terminologischen Unterschiede zwischen "Unantastbarkeits-" und "Durchbrechungsiehre" (vgl. oben b bb) verwischten. 328 Vgl. oben b bb. 322 323

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wenn auch die Formel von der "Unantastbarkeit" der Reichsverfassung auf den ersten Blick darüber hinwegtäuschte. Die Angleichung von Diktaturgewalt und Ermächtigungsgesetz in der staatsrechtlichen Begründung barg die Gefahr einer Entgrenzung der präsidialen Notstandskompetenz in sich. Für die herrschende spätkonstitionelle Staatsrechtslehre war Angelpunkt für Inhalt und Reichweite einer auf Art. 48 Abs. 2 gegründeten Verordnungsgewalt der überlieferte Begriff des materiellen Gesetzes gewesen. In dessen Konsequenz lag zwar die Gleichsetzung von parlamentarischer und präsidentieller "materieller" Gesetzgebung, nicht aber die Ausweitung des Begriffes der "Maßnahme" auf nur-formelle Gesetze wie die Feststellung des Haushaltsplans etc. Galt nun der Art. 48 Abs. 2 als "außerordentliche Zuständigkeitsnorm" , erlaubte diese Norm - anders ausgedrückt - die "Durchbrechung" der Reichsverfassung; , so war für diesen Argumentationsstrang die insoweit begrenzende Wirkung des spätkonstitionellen Gesetzesbegriffs entfallen; für eine künftige Anwendung des Art. 48 Abs. 2 als rechtliches Instrument des Legislativnotstands geriet der Bereich der nach überlieferten Verständnis nur-formellen Gesetzgebung zur offenen Flanke auch einer auf die Restriktion der präsidialen Diktaturgewalt bedachten Rech tswissenschaft. e) Maßnahme und Notverordnung Bestimmte sich nach der von Anschütz repräsentierten spätkonstitutionellen Lehre der Umfang des präsidentiellen Gesetzgebungsrechts nach dem Bereich der "materiellen" Gesetzgebung, so war dem Träger der Ausnahmegewalt eine Befugnis zugebilligt, die in ihrer Reichweite dem monarchischen "Notverordnungsrecht"329 entsprach. Auch für das selbständige Verordnungsrecht, das die Militärbefehlshaber während des Weltkrieges in Anspruch genommen hatten,330 war diese Parallele offensichtlich. Das zeitgenössische Schrifttum hatte freilich nur ausnahmsweise den Begriff der Notverordung im Zusammenhang mit dieser Befugnis verwendet. 331 Vor der Revolution dürfte man davor zurückgescheut haben, Befugnisse von Militärbefehlshabern mit einem Terminus zu kennzeichnen, Dazu oben A 11. Dazu oben Zweites Kapitel B 11 2 c aa. 331 Pelargus, Sp. 1185 ff., meinte, das Notverordnungsrecht gemäß Art. 63 der Preußischen Verfassungsurkunde sei Bestandteil der "vollziehenden Gewalt" und gehe daher gemäß § 4 BZG auf die Militärbefehlshaber über. Die h. M. stützte ein selbständiges Verordnungsrecht der Militärbefehlshaber demgegenüber auf § 9 b BZG oder auf ungeschriebenes Staatsnotrecht (vgl. oben Zweites Kapitel B 11 2 c aa). In jüngster Zeit bezeichnet Huber das Verordnungsrecht gemäß § 9 b wieder ausdrücklich als "Notverordnungsrecht der Militärbefehlshaber"; vgl. Huber 3, S. 1050. 329

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der traditionell nur in Verbindung mit dem Monarchen, dem Staatsoberhaupt, gebraucht worden war. In den ersten Jahren der Weimarer Republik schien diese Zurückhaltung verflogen zu sein, war doch das Verordnungsrecht gerade auf das Staatsoberhaupt, den Reichspräsidenten, übergegangen. Bei Kohlheyer etwa war zu lesen: In dem Art. 48 ist sowohl enthalten, was dem früheren (Kriegs-) Belagerungszustand entspricht als auch ähnliches, wie es in den Gliedstaaten das Notverordnungsrecht normiert. 332

Gegen diese durchaus gängige Umschreibung333 der präsidialen Ausnahmebefugnisse als "Notverordungsrecht" wandten sich zunächst vor allem Grau 334 und Preuß.335 Unter dem Eindruck der exekutivischen Verordnungspraxis während der Wirtschaftkrise verschoben sich die Gewichte. Zwar qualifizierten einige Autoren auch weiterhin den Art. 48 als Notverordnungsrecht336 , überwiegend war man indes anderer Auffassung. 337 Wie wirkte sich dieser Streit um das "Notverordnungsrecht" nun auf den Umfang der präsidialen Gesetzgebungsbefugnisse aus? Hier ist zu unterscheiden: Manche qualifizierten den Art. 48. Abs. 2 deshalb nicht als Notverordnungsrecht, weil ein solches nur ausgeübt werden könne, wenn das Parlament nicht versammelt sei, oder weil die Notverordnung vom Parlament bei dessen Zusammentritt vorgelegt bzw. genehmigt werden müsse, diese Voraussetzungen für die Diktaturgewalt aber offensichtlich nicht erfüllt waren. 338 Wer sich freilich nicht an diesen strengen Kriterien orientierte, wie sie in der Tat Art. 63 der preußischen Verfassungsurkunde von 1850339 aufgestellt hatte, sondern, im Anschluß etwa an Meyer/Anschütz 340 , von einer weitmaschigeren Ders., S. 57. Vgl. nur Goebel, S. 47; Nielsen, S. 1; Rotter, S. 10; Schmidt, S. 279 und die Titel der Abhandlungen von HenJe, Meyer und Auert. 334 Ders., Diktaturgewalt 1, S. 17 f. 335 Ders., Diktatur, S. 103, wo er die Grau'sche Monographie bespricht. 336 Anschütz, 1926, Rdn. 8 zu Art. 48. Vgl. auch Nawiasky, Durchführungsgesetz, Sp. 461; Goslich S. 1188; Kloß und Lüdcke, S. 28 in polemischer Wendung gegen die Schmittsche Einstufung des Art. 48 Abs. 2 als "kommissarische Diktatur". 337 Gegen ein Notverordnungsrecht ausdrücklich Eckstein, S. 293; Elze, Anwendung, S. 248; Friedmann, Mißbrauch; Jacobi, S. 125; Koellreuter, Stellung, Sp. 555,; Kronheimer, Streit, 315 ff.; Lobe, Untergang, S. 15 ff.; Piloty, Art. 48, S. 76; Preuß, Bedeutung, S. 225; Schmitt, Reichspräsident, S. 99; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, S. 670. 338 So zuerst Grau, Diktaturgewalt, S. 17 f.; Stier-Somlo, Reichsstaatsrecht, S. 670; wohl auch Eckstein, S.293. 339 Vgl. oben A 11 3. 340 Vgl. oben A 11 2. 332 333

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Definition des "Notverordnungsrechts" ausging,341 konnte die Diktaturgewalt ohne weiteres diesem Begriff subsumieren. 342 Sofern man diese formalen Maßstäbe an den Art. 48 Abs. 2 anlegte, entsprach das zwar den Systematisierungsbedürfnissen einer begrifflich-logisch argumentierenden Rechtswissenschaft343 , für Umfang und Reichweite der präsidentiellen Gesetzgebungsrechts war die Benennung einer Diktaturmaßnahme als "Notverordnung" gleichwohl unerheblich. 344 Für earl Schmitt lag die Ablehnung einer in Art. 48 Abs. 2 umschriebenen Notverordnungsbefugnis in der Konsequenz seines "Maßnahme"-Begriffs. Dem Reichspräsidenten war Schmitt zufolge nämlich deshalb ein "allgemeines Notverordnungsrecht"345 verwehrt, weil es sich bei Notverordnungen um von der Rechtsidee beherrschte, prinzipielle Normierungen handeln konnte 346 , also um solche solche Rechtsakte, die von Schmitt gerade aus der Maßnahmebefugnis ausgeschlossen worden waren. 347 Dies schloß eine teilweise Überschneidung der Befugnisse indes nicht aus. Soweit die Notverordnung allerdings nichts ist als eine Maßnahme, und das wird in den meisten Fällen so sein, kann auch der Reichspräsident sie - inhaltlich gleich erlassen. 348 Entscheidend für den Umfang des präsidentiellen Befugnisse war demnach ausschließlich das Schmittsche Verständnis der "Maßnahme". Ob es sich nun zugleich um ein Notverordnungsrecht handelte oder nicht, war auch bei diesem Autor - juristisch gesehen - irrelevant. Andere leiteten aus der Ablehnung eines reichsverfassungsmäßigen Notverordnungsrechts eine Begrenzung der präsidialen Diktaturgewalt - und damit der präsidialen Rechtssetzungskompetenz - auf das Modell eines polizeilichexekutiven Ausnahmezustandes her. 349 Da die Vertreter dieser Auffassung die daraus gewonnenen Restriktionen regelmäßig an der Formel der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" festmachten,350 die richterlicher Nachprüfung nur höchst beschränkt unterworfen war,351 konnte das aus dem konstitutionelSo Anschütz, 1926, Anm. 12 zu Art. 48. Vgl. wiederum Anschütz, 1926, Anm. 12 zu Art. 48. 343 Zum staatsrechtlichen Positivismus oben Zweites Kapitel B 1. 344 Zutreffend insofern auch schon für diese Anwendungsperiode die Bemerkung Anschütz' zur Diskussion in den Dreißiger Jahren: " ... Streit um Worte ... "; ders., 1933, Anm. 13 b zu Art. 48. 345 Ders., Reichspräsident, S.99 346 Ebd. 347 Vgl. oben a bb. 348 Schmitt, Reichspräsident, S. 99. 349 Besonders deutlich bei Kronheimer, Streit, S. 315; Eckstein, S. 293; Elze, Anwendung, 341

342

S.248. 350 351

Vgl. oben 1 a bb. Vgl. oben 1 a bb.

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len Staatsrecht überlieferte Institut des Notverordnungrechts auf diesem Wege für die Verordnungsbefugnis des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 Abs. 2 keine beschränkende Wirkung entfalten. Nach alle dem kam der lebhaften Diskussion um das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten unter staatsrechtlichem Gesichtspunkt nur eine geringe Bedeutung zu. Gleichwohl dokumentierte sich in dieser Kontroverse ein offensichtliches Unbehagen an der weitgehenden Diktaturverordnungspraxis der Jahre 1922 - 24, vor allem an der funktionellen Austauschbarkeit der Wege der ordentlichen Reichs- wie der Ermächtigungsgesetzgebung einerseits, der präsidentiellen Diktaturgewalt andererseits. 3. Die institutionelle Lösung Das Unbehagen an der Verdrängung des ordentlichen Gesetzgebers durch die Exekutive mittels des Art. 48 11 fand im juristischen Schrifttum nicht nur in einer - zumindest ansatzweise - restriktiven Interpretation der Ausnahmegewalt seinen Niederschlag. Darüber hinaus wurde vor allem die Forderung laut, auch in die Weimarer Reichsverfassung ein klassisches Notverordnungsrecht einzufügen. Gerade solche Autoren, welche die präsidiale Diktaturgewalt ausschließlich als Rechtsgrundlage für einen sicherheitspolizeilich-exekutivischen Ausnahmezustand verstanden wissen wollten, hielten eine derartige institutionelle Änderung für "unerläßlich" .352 Der Ruf nach eine Reichs-Notverordnungsrecht verband sich mit dem weitverbreiteten Wunsch nach Erlaß des in Art. 48 Abs. 5 vorgesehenen Ausführungsgesetzes. 353 Grau und Piloty machten auf dem Deutschen Juristentag im September

1924 für beide Reformvorhaben detaillierte Vorschläge.

Das Ausführungsgesetz sollte es grundsätzlich bei dem im Gegensatz zum früheren Recht entformalisierten "Recht der außerordentlichen Einzelmaßnahmen"354 belassen, aber dabei aus dem Kreis möglicher Maßnahmen "ein enger Komplex schärfster Ausnahmezustandsmaßnahmen herausgeschält" werden, der nur nach einer selbst von erschwerten materiellen Voraussetzungen abhängigen formellen Ausnahmezustandserklärung herbeigeführt werden 352 Kronheimer, Streit, S. 316; desgleichen Elze, Anwendung, S. 248. Für ein Reichsnotverordnungsrecht auch Grau, Art. 48, S. 90: "Man wird sich damit abfinden müssen, daß wichtige Gesetzgebungsakte auf dem Wege der Notverordnung ins Leben treten werden."; ferner Jacobi, S. 134, Nawiasky, Durchführungsgesetz, Sp. 461, 464 u. a. 353 Vgl. nur den Diskussionsbericht in den Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, H. 1, 1924, S. 139: "Der baldige Erlaß des ... Ausführungsgesetz(es) wurde von vielen Seiten als eine dringende Notwendigkeit bezeichnet." Dagegen Thoma, Regelung, der eine reföderalisierende "Verfassungsrevision" (Sp. 660) befürchtete. 354 Grau, Art. 48, S. 88.

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dürfe. 355 Nur bei "Krieg, Kriegsgefahr , Aufstand, unmittelbar drohender Aufstandsgefahr" sollte die Einrichtung außerordentlicher Gerichte, die Androhung von Todes- oder Zuchthausstrafe, das Einschreiten mit Hilfe der bewaffneten Macht und die Einsetzung eines Reichsdiktaturkommissars angeordnet werden dürfen. 356 Im übrigen sollte die Geltungsdauer von präsidentiellen Diktaturmaßnahmen - außer in Kriegszeiten - auf drei Monate begrenzt werden, wenn nicht der Reichstag eine Verlängerung von jeweils weiteren drei Monaten genehmigte357 • Eine Einschränkung gegenüber der bisherigen Praxis der außerordentlichen Gesetzgebung aufgrund des Art. 48 Abs. 2 sahen auch die Vorschläge zur Einführung eines Notverordnungsrechts vor. Die künftige Notverordnungsbefugnis des Reichspräsidenten - und nicht, wie es die Ermächtigungsgesetze vorgesehen hatten, der Reichsregierung 358 entsprach den klassischen Vorbildern, soweit es die Erfordernisse des Nichtversammeltseins des Reichstags sowie der parlamentarischen Genehmigung präsidentieller Notverordnungen aufstellte. 359 Ausdrücklich sollten dem Zugriff des Reichspräsidenten bestimmte verfassungsmäßige Vorbehaltsgebiete, insbesondere im grundrechtlichen Bereich, geöffnet werden, mit dem erklärten Ziel, den Unzulänglichkeiten einer restriktiv interpretierten Gesetzgebungsgewalt und den damit verknüpften "Zufälligkeiten"360 entgegenzuwirken. Diese Reformvorschläge dienten nach alledem dazu, ein außerordentliches Gesetzgebungsrecht des Reichspräsidenten, wie es die Reichsleitung während der Wirtschaftskrise 1922 - 24 bereits in Anspruch genommen hatte, verfassungsrechtlich zu verankern und zugleich - analog den überlieferten Modellen des Belagerungszustandes und des Notverordnungsrechts - rechts staatlich zu umgrenzen. Zweifelhaft bleibt indes, ob diese legislatorischen Änderungen sich auf die künftige Anwendungspraxis der präsidialen Diktaturgewalt einschränkend hätten auswirken können. Das "Diktaturgesetz" gemäß Art. 48 Abs. 5 sollte abschließend nur den militärischen bzw. polizeilich-exekutivischen Ausnahmezustand regeln; dann war es aber nicht ausgeschlossen, daß die präsidentielle Normsetzungsbefugnis aus Absatz 2 weiterhin neben die anderen Wege der Gesetzgebung - auch neben das Reichs-Notverordnungsrecht - treten oder 355 Vgl. Grau, Art. 48, S. 88. Für eine solche Aufspaltung auch Jacobi, S. 134 und Nawiasky, Durchführungsgesetz, Sp. 464, insb. Leitsatz I 1 a. 356 Vgl. Piloty, Art. 48, Leitsätze I 4) und II 1), S. 69 ff. 357 Ebd., Leitsatz II 6, S. 71. 358 Für ein Notverordnungsrecht gerade des Reichspräsidenten auch Nawiasky, Gesetzentwurf, Sp. 281 f. 359 Piloty, Art. 48, Leitsatz I 5, S. 70. 360 Grau, Art. 48, S. 97.

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diese gar verdrängen konnte. Eine zusätzliche Chance zur Restriktion der "diktatorischen" Gesetzgebung bot zwar die vorgeschlagene zeitliche Befristung der Ausnahmemaßnahmen. Skeptisch stimmt hier aber die spätere Verfassungspraxis unter Brüning im Juli 1930361 - ein erneuter Erlaß nahezu inhaltsgleicher Diktaturverordnungen lag nahe nicht nur für die vom Reichspräsidenten auf Verlangen des Reichstags soeben aufgehobenen Rechtssetzungsakte, sondern auch für solche Maßnahmen, deren Gültigkeit von vornherein zeitlich begrenzt war. Solche Überlegungen bleiben jedoch im Bereich der Spekulation, denn es kam weder zum Erlaß eines Ausführungsgesetzes nach Art. 48 Abs. 5 noch zur Ergänzung der reichsrechtlichen Ausnahmevollmachten um ein Notverordnungsrecht. Das Ausführungsgesetz scheiterte im Herbst 1926 am Widerstand Hindenburgs 362 und der vom Kabinett schon im März 1925 vorgelegte Entwurf eines Notverordnungsrechts - als Träger dieser Gesetzgebungskompetenz war nunmehr die Reichsregierung vorgesehen - blieb im Reichstag unerledigt. 363 Aus den dargelegten Gründen sollte die Bedeutung dieses gesetzgeberischen Unterlassens für die spätere verfassungsrechtliche Entwicklung der Weimarer Republik aber nicht überschätzt werden. 4. Zusammenfassung Die staatsrechtliche Doktrin reagierte auf die funktionelle Angleichung präsidialer Diktaturmaßnahmen mit solchen Rechtssetzungsakten, die auf dem Wege der ordentlichen Reichs- oder der Ermächtigungsgesetzgebung erlassen worden waren, nach alledem widersprüchlich. Offensichtlich war ein weitverbreitetes Unbehagen an der Übernahme legislatorischer Aufgaben durch den Reichspräsidenten. Gleichwohl war es der Rechtswissenschaft nicht gelungen, taugliche Kriterien zu einer effektiven Begrenzung der präsidentiellen Gesetzgebungsgewalt zu entwickeln. Soweit versucht wurde, die Diktaturkompetenz des Reichspräsidenten auf das traditionelle Modell des polizeilich-exekutivischen Belagerungszustand zurückzuführen (Kronheimer, Nawiasky u. a.), oder aber den ephemeren Charakter eines jeden Ausnahmezustandes in die Interpretation einfließen zu lassen etwa auf der Grundlage einer substantiellen Unterscheidung von "Maßnahme" und "Gesetz" (Schmitt) - so vermochten diese Restriktionen in Anbetracht des nur rudimentären richterlichen Prüfungsrechts keine praktische Vgl. dazu etwa Huber 7, S. 767 ff. Dazu Schulz, Demokratie, S. 472 f. Zur Diskussion um die geplante Regelung vgl. Falck; Feder, Diktaturgesetz, und Schmitt, Ausführungsgesetz, wo er eine verfassungsändernde Mehrheit für nicht erforderlich hält. So grundsätzlich auch Piloty, Art. 48, S. 75 und Grau, Art. 48, S. 83; a. A. Elze, Anwendung, S. 248 und in neuerer Zeit Huber 6, S. 694. 363 Vgl. Poetzsch-Heffter, Staatsleben 2, S. 112 f., Huber 6, 447 f. 361

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Wirksamkeit zu entfalten. Hinzu kommt, daß die üblicherweise angenommenen Einschränkungen der'präsidentiellen Gesetzgebungsgewalt - kein Eingriff in nicht suspendierbare oder nichtsuspendierte Grundrechte, kein Tätigwerden des "Diktators" im Bereich der nur-formellen Gesetzgebung, keine Dauerwirkung präsidialer Ausnahmemaßnahmen - die Praxis des wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustandes der Zwanziger Jahre nur am Rande berührten. Effektive Grenzen der präsidialen Gesetzgebungsgewalt lagen regelmäßig dort, wo der Reichspräsident als Gesetzgeber - noch - nicht tätig geworden war. 11. Zur "Selbstermächtigung" der Exekutive

Den Machtverlust des Reichstags, wie er mit der Anwendung des Art. 48 Abs. 2 vor allem in der Zeitspanne von Oktober 1923 bis Dezember 1924364 verknüpft war, hatte die zeitgenössische juristische Literatur hin und wieder registriert. 365 Gleichwohl fanden die damit einhergehenden Verschiebungen im Verhältnis des obersten Regierungsorgane zueinander in der staatsrechtlichen Diskussion keinen Niederschlag. Weder der qualitative Sprung, den der Übergang zur exekutivischen Rechtssetzung auf der Grundlage der präsidialen Diktaturgewalt für die Mitwirkungsbefugnisse des Reichstags an der Gesetzgebung mit sich brachte, noch die potentielle Verlagerung der politischen Macht auf den Reichspräsidenten wurden ausdrücklich erörtert. Die in der Verfassung verankerte Stellung des Reichstags war mithin nur als Reflex einer restriktiven Interpretation des präsidentiellen Gesetzgebungsrechts366 geschützt. 111. Zur Einschränkung der parlamentarischen KontrollgewaIt

Nachdem bereits im Zuge der Rezeption des Belagerungszustandes in das Weimarer Verfassungs recht die Einschränkung der parlamentarischen Kontrolle präsidial er Notstandsmaßnahmen hingenommen worden war 367 , erfuhr das Verhältnis der Artikel 48 und 25 während der Wirtschaftskrise der Jahre 1922 - 24 in dreifacher Hinsicht einen neuen Akzent. Vgl. dazu oben A III 2 b. Vgl. vor allem Grau, Art. 48, S. 89 f.; ders., Diktaturgewalt 2, S. 433: "Die Diktaturgewalt ... ist oft geradezu ein technischer Notbehelf der Ministerialbureaukratie geworden, wenn diese für irgendeine Spezialregelung keine besondere Verordnungsermächtigung in der Hand hatte und den Weg des formellen Gesetzes mit Rücksicht auf das Parlament aus irgendwelchen Gründen vermeiden wollte." Ferner Anders und Schmitt, Reichspräsident, S. 90; ähnlich Feder, Diktaturartikel. 366 Vgl. oben I 2 c. 367 Vgl. oben Zweites Kapitel B II 4 b bb. 364 365

190

4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

Nahm der Reichspräsident unter Berufung auf Art. 48 Abs. 2 die Funktion eines außerordentlichen Gesetzgebers wahr, so entzog er mit einer Reichstagsauflösung - erstens - nicht nur seine Befugnis zur "Verhängung" des Ausnahmezustandes, eine nach dem überlieferten Gewaltenteilungsschema exekutivischen Zuständigkeit, sondern darüber hinaus das von ihm in Anspruch genommene provisorische Gesetzgebungsrecht vorübergehend jeder parlamentarischen Kontrolle. Mit dem Reichstag war aber - zweitens - nicht nur ein zur Kontrolle der präsidialen Notstandsgewalt berufenes Organ, sondern auch das konkurrierende Gesetzgebungsorgan ausgeschaltet. Die Auflösung des Reichstags begründete also ein legislatives Monopol des Reichspräsidenten. Damit gewann - drittens - auch die von Goebel schon im Jahre 1922 vertretene Auffassung 368 , daß gerade die Ausübung des Kontrollrechts nach Art. 48 Abs. 3 die Auflösung des Reichstags begründen könne, neue Brisanz, denn der Reichspräsident konnte sein Gesetzgebungsmonopol gerade dann erlangen, wenn ihm der ordentliche - parlamentarische - Gesetzgeber das Recht zur Legislation streitig gemacht und auf dem Wege des Außerkraftsetzungsverlangens nach Art. 48 Abs. 3 zu entziehen trachtete. Im Konfliktfall entschied der Reichspräsident mit dem "Apell ans Volk" in eigener Sache zugleich über den Gang der Gesetzgebung - hier trat die Ambivalenz der präsidialen Auflösungsgewalt369 mit aller Schärfe hervor. Im zeitgenössischen Schrifttum registierte man die Lücke, welche in der Kontrolle der präsidentiellen Ausnahmegewalt für die Zeit nach der Auflösung des Reichstags eintreten konnte. 37o Einen Ausweg fanden manche in institutionellen Änderungen. Piloty 371 schlug vor, die Parlamentsauflösung an die Zustimmung des Reichsrats zu binden; Grau 372 und Thoma373 dachten an die Übertragung der Kontrollbefugnisse des Reichstags während der parlamentslosen Zeit auf den ständigen Überwachungsausschuß (Art. 35). Die in einer Kombination der Art. 48 Abs. 2 und 25 gerade für den Legislativnotstand angelegten Möglichkeiten einer Steigerung der präsidialen Machtbefugnisse fanden dagegen - trotz der Reichstagsauflösung vom 13. März 1924374 - keine Erörterung.

Vgl. oben Zweites Kapitel B II 4 bb a. E. Vgl. oben Erstes Kapitel III 3 a. 370 Vgl. Grau, Art. 48, S. 112; Piloty, Art. 48, S. 75; Schmitt, Reichspräsident, S. 94 f.; Thoma, Regelung, Sp. 659. 371 Vgl. Piloty, Art. 48, S. 75 f. 372 Vgl. Grau, Art. 48, S. 112. 373 Vgl. Thoma, Regelung, S. 659. 374 Vgl. oben A III c bb. 368 369

B. Staatsrechtlicher Teil

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IV. Ergebnis

Zusammenfassend läßt sich folgendes festhalten: Die staatsrechtliche Doktrin reagierte auf den Wandel der präsidialen Diktaturgewalt zu einem Mittel der "außerordentlichen" Krisengesetzgebung, wie er während der katastrophalen Wirtschaftslage vor allem der Jahre 1923/24 scharf hervorgetreten war, durchaus widersprüchlich. Einerseits strebte die Rechtswissenschaft eine Restriktion der auf Art. 48 gegründeten exekutivischen Gesetzgebungsgewalt an. Die generalklauselartige Fassung des Diktaturartikels bereitete einem solchen Unterfangen indes Schwierigkeiten. So legte man der Reichsverfassung aus der konstitutionellen Epoche überlieferte Notstandsmodelle unter - den Belagerungszustand, das Notverordnungsrecht - oder man orientierte sich an staatstheoretischen Begriffen wie der "kommissarischen Diktatur". Die Begrenzungen der konstitutionellen Ausnahmegewalt waren damit jeweils aus der Verfassung vorausliegenden Maßstäben gewonnen. Andererseits trafen aber die dem Reichspräsidenten auf dem Wege der Interpetation gezogenen rechtlichen Schranken die Praxis der exekutivischen "außerordentlichen" Gesetzgebung nur am Rande. Dies gilt nicht nur für die "nur-formellen" Gesetzgebungsakte und für die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre, die der präsidialen Rechtssetzung nach überwiegender Ansicht nur begrenzt offen stand, sondern vor allem für die "Dauerwirkung" aufgrund des Art. 48 Abs. 2 getroffener Maßnahmen, diente doch die konstitutionelle Ausnahmegewalt in dieser Anwendungsperiode regelmäßig als vorübergehende Legalitätsbrücke - etwa bei Fehlen einer parlamentarischen Mehrheit - und nur ausnahmsweise als rechtliches Fundament grundlegender Reformakte. Dies sollte sich erst in den Dreißiger Jahren radikal ändern. Mit der Anwendung des Art. 48 Abs. 2 als Mittel der provisorischen Gesetzgebung hatte sich das staatsrechtliche Instrumentarium für eine - teilweise auch praktisch gewordene - gestufte Entparlamentarierung der Reichsgesetzgebung herausgebildet. Verfügte die Exekutive im Rahmen der Ermächtigungsgesetzgebung noch über eine ausdrückliche parlamentarische Legitimation - Stufe eins -, so war die Rolle des Reichstags bei der Rechtssetzung aufgrund des Art. 48 auf die eines Kontrollorgans beschränkt - Stufe zwei -; diese kontrollierende Funktion fiel bei aufgelösten Reichstag weg - Stufe drei - und für den Fall eines Konfliktes mit dem Reichstag hatte es der Träger der Ausnahmegewalt - Stufe vier - schließlich in der Hand, ein legislatives Monopol gerade dann zu begründen, wenn ihm das Parlament das Recht zur Gesetzgebung streitig machte. Die damit verknüpften Machtverschiebungen im Gefüge der obersten Staatsorgane zueinander streifte die Staatsrechtsdoktrin nur am Rande, indem sie die bei aufgelösten Reichstag entstehende Lücke in der Kontrolle präsidia-

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4. Kap.: Legislativnotstand und Diktaturgewalt

ler Notstandsmaßnahmen konstatierte und hier auch gelegentlich institutionelle Änderungen forderte. Darüberhinaus fand die unterschiedliche Intensität der parlamentarischen Mitwirkung am Rechtssetzungsprozeß keinen Eingang in die staatsrechtliche Erörterung - die von Verfassungs wegen vorgesehene Funktion des Reichstags als zentrales Organ der Gesetzgebung war lediglich als Reflex einer restriktiven Interpretation der Ausnahmegewalt geschützt. Nimmt man hinzu, daß die Vorschläge zur einer Neuregelung der Weimarer Notstandsverfassung im wesentlichen auf eine ausdrückliche Festschreibung der in Jahren 1922 - 24 üblich geworden präsidialen Gesetzgebung hinausliefen, so ist die Vermutung erlaubt, daß der Rechtswissenschaft nicht nur - ein Erbe des spät konstitutionellen Gesetzesbegriffs - das begriffliche Instrumentarium zur Differenzierung fehlte, sondern ihr auch im übrigen die Funktion des Parlaments in der neuen republikanischen Reichsverfassung fremd geblieben war. 375 So versäumte sie es auch, Dämme gegen eine antiparlamentarische Umstrukturierung des Weimarer Regierungssystems zu errichten. Im Gegenteil - einige Monate nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten glaubte Koellreutter eine "im Wege der Verfassungswandlung"376 erfolgte Stärkung der präsidialen Machtstellung feststellen zu können, woraus sich die Befugnis des Staatsoberhaupts ergeben sollte, gegen den Willen des von der Reichstagsmehrheit getragenen Kabinetts in einem Zuge die Entlassung der Reichsregierung, die Auflösung des Reichstags und die Ernennung eines neuen Reichskanzlers zu verfügen, um dann während der parlamentslosen Zeit "einschneidende Maßnahmen" aufgrund des Art. 48 zu treffen. 377 Diese Kombination der Befugnisse des Reichspräsidenten war zuvor auch schon von Thoma378 für zulässig gehalten worden. Doch während dieser die "exorbitante"379 Machtfülle des Reichspräsidenten beklagte, empfahl jener ein solches Vorgehen, um "den Einfluß der Partei diktatur erheblich zu schwächen und weitgehend auszuschalten. "380 Damit war staatsrechtlich der Weg ins Präsidialregime vorgezeichnet.

375 Welche Rolle solche mentalen Dispositionen bei der Auslegung der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten spielten (vgl. etwa auch oben Zweites Kapitel B 2 a aa a. E.) bedarf freilich noch der näheren Untersuchung. 376 Ders., Diktatur. 377 Ebd. 378 Vgl. etwa ders., Regelung, Sp. 659 m.w.N. 379 Ebd. 380 Koellreutter, Diktatur. Ähnlich auch E. L. und weniger weitgehend Elze, Diktatur.

Zusammenfassende Betrachtung A. Die Ergebnisse dieser Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Zunächst gab die Rechtswissenschaft der Generalklausel des Art. 48 Abs. 2 vertraute Konturen, indem sie den Maßregelkatalog des überlieferten Belagerungszustandsrechts auf die "Diktaturgewalt" des Reichspräsidenten übertrug. Inhalt und Grenzen der aus Art. 48 Abs. 2 fließenden Befugnis bestimmten sich - anknüpfend an die Interpretation des Staatsnotstands im Kaiserreich - nach polizeirechtlichen Grundsätzen.

2. Ungeklärt blieben die Auswirkungen einer Rezeption des Belagerungszustandsrechts auf das föderale Gefüge des Reiches. Auf der Grundlage des Art. 48 Abs. 2 zog die Reichsgewalt nicht nur in weitem Umfange Länderkompetenzen an sich, sondern nahm zugleich - in vielfältigen Abstufungen - Einfluß auf die landesstaatliche Politik. In der praktischen Anwendung verband sich die im ersten Absatz des Art. 48 geregelte Reichsexekution mit der präsidialen Notstandskompetenz zu einer umfassenden Interventionsbefugnis der Zentralgewalt. Die herrschende Lehre billigte im Ergebnis diese Unitarisierung des Reiches für den Notstandsfall. 3. Ferner blieb die Reichweite des Verordnungsrechts des Reichspräsidenten problematisch. In der Logik des spätkonstitutionellen Gesetzesbegriffes lag es, dem Träger der Ausnahmegewalt ein umfassendes "materielles" Gesetzgebungsrecht zuzuerkennen. Damit konnte die Exekutive auf grundrechtlich geschützte Bereiche zugreifen, ohne daß es - wie in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 vorgesehen - der ausdrücklichen Außerkraftsetzung eines Grundrechtsartikels bedurfte. Im Zuge der Rezeption des Belagerungszustands war eine solche Auslegung für die Einsetzung außerordentlicher Gerichte von entscheidender Bedeutung. 4. Im Zeichen der Wirtschaftskrise 1922 - 24 vollzog sich in der Anwendung der präsidialen Ausnahmebefugnis ein fundamentaler Wandel. Nunmehr fungierte der Art. 48 Abs . 2 als verfassungsrechtliche Grundlage einer vereinfachten und beschleunigten Notgesetzgebung. Damit verschob sich zugleich die Machtverteilung zwischen Reichstag einerseits sowie Reichsregierung und Reichspräsident andererseits. Die Exekutive bedurfte zur Rechtssetzung keiner ausdrücklichen parlamentarischen Legitimation - so war die konstitutionelle Diktaturgewalt das typische gesetzgeberische Instrument einer parlamentarisch tolerierten Minderheitsregierung. 13 Kurz

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Zusammenfassende Betrachtung

5. Die Rechtswissenschaft reagierte auf diese Praxis des ,legislativen' Notstands widersprüchlich. Bewertungsmäßstäbe wurden vorwiegend dem konstitutionellen Staatsrecht entnommen, indem man - mit uneinheitlichen Ergebnissen - einem polizeilich-exekutivisch geprägten Ausnahmezustand das Modell des überlieferten Notverordungsrechts gegenüberstellte. Sofern sich daraus Restriktionen der präsidialen Ausnahmekompetenz gewinnen ließen, berührten diese die Praxis der exekutivischen Notgesetzgebung nur am Rande oder entfalteten in Anbetracht des eng begrenzten richterlichen Prüfungsrechts keine Wirksamkeit. 6. Damit waren die mit der präsidialen Gesetzgebung einhergehenden Verschiebungen im Regierungssystem der Weimarer Republik nur ausschnittweise erfaßt. Dies gilt in besonderen Maße für die Steigerung der exekutivischen Macht, wie sie durch eine Kombination von Diktaturgewalt (Art. 48 Abs. 2) und Reichstagsauflösung (Art. 25) erzielt werden konnte. 7. Um so stärker prägte ab dem Jahre 1924 der Streit um die "Antastbarkeit" der Reichsverfassung die staatsrechtliche Diskussion. Die Frage jedoch, ob der Reichspräsident aufgrund des Art. 48 die Normen der Verfassung im Einzelfall "durchbrechen" dürfe - so vor allem Schmitt und Jacobi - oder ob die Verfassung für den Träger der Ausnahmegewalt "unantastbar" sei - so die herrschende Meinung - war für Inhalt und Umfang der präsidialen Notstandsbefugnis bedeutungslos. 8. Nach alledem fand die Ausnahmezustandspraxis der Jahre 1919 - 25 in den Rechtswissenschaft zwar ein lebhaftes Echo. Normative Schranken der konstitutionellen Ausnahmegewalt lagen indes regelmäßig dort, wo der "Diktator" noch nicht tätig geworden war. Der gewaltenteilende Verfassungsstaat der Weimarer Republik war dem diskretionären Ermessen des Reichspräsidenten unterworfen. B. Die vielfältigen Ursachen für den Normativitätsverlust der Weimarer Verfassung schon in der ersten Hälfte der Zwanziger Jahre können an dieser Stelle nicht abschließend analysiert werden. Hingewiesen sei nur auf zwei spezifisch staatsrechtliche - Aspekte. 1. Eine erste Bemerkung gilt der zu diesem Zeitraum vorherrschenden Methode der Verfassungsinterpretation - dem staatsrechtlichen Positivismus.! Das Ziel dieser methodischen Richtung war es gewesen, Zweck, Funktion und Bedingtheit der Rechtsinstitute von der rechtswissenschaftlichen Betrachtung zu trennen und ein in diesem Sinne nach außen hin abgeschlossenes, rechtslogisches System zu konstruieren. 2 Für die Interpretation des Ausnahmerechts im Kaiserreich hatte dies zur Folge gehabt, daß das Institut des Belagerungszustandes verwaltungsrechtlichen Regeln unterworfen worden war und damit 1 2

Vgl. oben Zweites Kapitel B I. Vgl. oben Zweites Kapitel BI.

Zusammenfassende Betrachtung

195

dem Zugriff des "Politischen" entzogen schien. 3 Als das überlieferte Belagerungszustandsrecht in den Jahres des 1. Weltkrieges dann zur praktischen Anwendung gelangte, erfaßte der sich vollziehende "Stilwandel" des Ausnahmerechts auch die juristische Interpretation. Das umfassende Verordnungsrecht etwa, das die Militärbefehlshaber in Anspruch genommen hatten, wurde von der ganz herrschenden Meinung alsbald gebilligt. 4 Zumindest für den Fall des "Notstands" funktionierte die von den Verfechtern des staatsrechtlichen Positivismus angestrebte Isolierung der Normauslegung von der politischen Wirklichkeit offensichtlich nicht. Die Betrachtung des Gangs der Interpetation des Ausnahmerechts in der Weimarer Zeit legt gar die Vermutung nahe, daß sich die formaljuristische Methode des staatsrechtliche Positivismus in ganz besonderen Maße für eine von der politischen Wirklichkeit bestimmte - in diesem Sinne "situative" Verfassungs auslegung eignete. Erinnert sei vor allem an die Schlüsselstellung des positivistischen Gesetzesbegriffes bei der staatsrechtlichen Rechtfertigung der präsidialen Verordnungsbefugnis5, aber auch an die juristische Qualifikation der Länder als "Untertanen", die letztlich zur Legitimierung einer umfassenden Interventionsbefugnis der Reichszentralgewalt führte 6 . Die überlieferten staatsrechtlichen Begriffe erscheinen hier nur noch als Versatzstücke einer aktuellen politischen Bedürfnissen entspringenden juristischen Konstruktion. 2. Gleichwohl erklärt die Untauglichkeit der herrschenden juristischen Methode allein die Auflösung der Weimarer Verfassung schon in der Frühphase der Republik nicht, kamen doch gerade auch entschiedene Gegner des staatsrechtlichen Positivismus - genannt sei nur earl Schmitt - zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die herrschende Doktrin. Es spricht vieles dafür, daß daß die Träger der Verfassungsinterpretation - und das heißt in erster Linie die Staatsrechts lehre - überhaupt darauf verzichteten, die normative Kraft der Verfassung einzufordern. Die Auslegung des Art. 48 als der zentralen Norm der Weimarer "Reserveverfassung" dürfte von dem Bestreben getragen gewesen sein, die bestehende politische Ordnung zu stabilisieren, indem man dem Reichspräsidenten die von ihm in Anspruch genommenen Ausnahmebefugnisse auch regelmäßig zusprach. Der Konsens der Verfassungsinterpreten über das politisch Gebotene trat an die Stelle der Verfassungsinterpretation in der "Stunde der Gefahr" hörte das Staatsrecht auf.

3 4

S 6

13*

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

oben Zweites Kapitel BI a. E. oben Zweites Kapitel B II c aa. oben Zweites Kapitel B II c bb. oben Drittes Kapitel B III 3 c.

Schrifttumsverzeichnis* Akten der Reichskanzlei Weimarer Republik, hrsg. von Karl Dietrich Erdmann, Wolfgang Mommsen und Hans Booms: Die Kabinette Luther I und 11, Bd. 1, bearb. von Karlheinz Minuth, Boppard a. Rh. 1977; Die Kabinette Marx I und 11, Bde. 1 und 2, bearb. von Günther Abramowski, Boppard a. Rh. 1973; Das Kabinett Scheidemann, bearb. von Hagen Schulze, Boppard a.Rh. 1971; Die Kabinette Stresemann I und 11, Bde. 1 und 2, bearb. von Karl Dietrich Erdmann und Martin Vogt, Boppard a. Rh. 1978; Die Kabinette Wirth I und 11, Bd. 2, bearb. von Ingrid Schulze-Bidlingmaier, Boppard a. Rh. 1973 (zit. Akten) Anders, Georg: Artikel: "Die Rechtsgültigkeit der Präsidial-Verordnung", in: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin) Nr. 613 vom 30. 12. 1924 Anschütz, Gerhard: Preßfreiheit und Briefgeheimnis unter dem Kriegszustand, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1915, S. 484ff. (zit. Preßfreiheit)

Artikel "Die Reichsexekution" , in: Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 377ff., hrsg. von Gerhard Anschütz und Richard Thoma, Tübingen 1930 (zit. Reichsexekution) Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Kommentar, 1. Aufl., Berlin 1921 (zit. 1921),3. u. 4. Aufl., Berlin 1926 (zit. 1926), 14. Aufl., Berlin 1933, Nachdr. Darmstadt 1960 (zit. 1933) Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Kommentar, Berlin 1912 (zit. Verfassungsurkunde) Arndt (ohne Vornamen): Beschränkungen des Post- und Telegraphengeheimnisses und der Preßfreiheit im Kriege, in: Deutsche Juristenzeitung 1914, Sp. 1098ff. (zit. Beschränkungen)

Kriegsverordnungen, in: Deutsche Juristenzeitung, 1914, Sp. 1152ff. (zit. Kriegsverordnungen) Arndt, Adolf: Die Verfassung des Deutschen Reichs, Kommentar, 5. Aufl., Berlin 1910 (zit. Verfassung 1)

*

Artikel ohne Gesetzesangabe sind solche der Weimarer Reichsverfassung.

Schrifttumsverzeichnis

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Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Kommentar, Berlin und Leipzig 1919 (zit. Verfassung 2) Auert, Hermann: Das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, Diss. Halle 1923 Bärsch, Klaus-Ekkehard: Der Gerber-Laband'sche Positivismus, In: Staat und Recht, S. 43ff., hrsg. von Martin J. Sattler, München 1972 Baumgarten, Eduard: Einleitung, in: Max Weber: Soziologie - Weltgeschichtliche Analysen - Politik, hrsg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart 1956 (zit. Einleitung 1)

Einleitung, in: Max Weber: Soziologie - Universalgeschichtliche Analysen - Politik, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart 1973 (zit. Einleitung 2) Becker, Enno: Ist die Verordnungsgewalt aus Art. 48 II durch die Ermächtigungsgesetze beschränkt? in: Steuer und Wirtschaft, 1925, S. Hf. Bilfinger, Carl: Verfassungsumgehung. Betrachtungen zur Auslegung der Weimarer Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1926, S. 163ff. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 2. Aufl., Berlin 1981 (zit. Gesetz)

Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik, in: Die Weimarer Republik 1918 - 1933, S. 17ff., hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen, Bonn 1987 (zit. Zusammenbruch) Boldt, Hans: Der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung - sein historischer Hintergrund und seine politische Funktion, in: Die Weimarer Republik: Belagerte Civitas, S. 288ff., hrsg. von Michael Stürmer, Königstein/Ts. 1980 (zit. Artikel 48)

Artikel "Ausnahmezustand", in: Geschichtliche Grundbegriffe, 1. Bd., S. 343ff., Stuttgart 1972 (zit. Ausnahmezustand) Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Berlin 1967 (zit. Rechtsstaat) Die Weimarer Reichsverfassung, in: Die Weimarer Republik 1918 - 1933, S. 44ff., hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen, Bonn 1987 (zit. Reichsverfassung) Bornhak, (ohne Vornamen): Erschwerung der Auslandsreisen und Reichsverfassung, in: Deutsche Juristenzeitung, 1924, Sp. 383ff. Brecht, Arnold: Artikel "Ausnahmerecht" , in: Max v. Brauchitsch, Verwaltungsgesetze in Preußen, Bd. 2, 21. Aufl., S. 247ff., hrsg. von Bill Drews und Gerhard Lassar, Berlin 1928

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Schrifttumsverzeichnis

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E. L.: Artikel "Diktatur und Verfassungsreform" , in: Berliner Börsenzeitung Nr. 37 vom 23. 1. 1926 Elze, Fritz: Unzulässige Anwendung des Art. 48 RV. zu wirtschaftlichen Zwecken, Preußisches Verwaltungsblatt, 1924/25, S. 247ff. (zit. Anwendung)

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Schrifttumsverzeichnis

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Feder, Ernst: Artikel "Der mißbrauchte Diktaturartikel" , in: Berliner Tageblatt Nr. 81 vom 17. 2. 1925 (zit. Diktaturartikel)

Artikel "Das Diktaturgesetz" , in: Berliner Tageblatt Nr. 494 vom 19. 10. 1926 (zit. Diktaturgesetz) Fenske, Hans: Konservatismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1918, Bad Homburg v. d. H., Berlin und Zürich 1969 Flad, Wolfgang: Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, Heidelberg 1929 Fleiner, Fritz: Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 4. Auf!. , Tübingen 1919 Forsthoff, Ernst: Der Ausnahmezustand der Länder, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1923 - 25, S. 138ff. Frehse, Michael: Ermächtigungsgesetzgebung im Deutschen Reich 1914 - 1933, Pfaffenweiler 1985 Freytagh-Louringhoven, Axel Frh. von: Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, München 1924 Friedmann, Alfred: Artikel "Mißbrauch der Verordnungs gewalt" , in: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin) Nr. 594 vom 17.12. 1924 (zit. Mißbrauch)

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Schrifttumsverzeichnis

Sind die Devisenerfassungsverordnungen vom 25. August 1923 und vom 7. September 1923 rechtsgültig? in: Deutsche Juristenzeitung, 1923, Sp. 582ff. (zit. Devisen) Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und der Landesregierungen, Berlin 1922 (zit. Diktaturgewalt 1) Diktaturgewalt und Reichsverfassung, in: Gedächtnisschrift für Emil Seckel, S. 430ff., hrsg. von E. Genzmer u. a., Berlin 1927 (zit. Diktaturgewalt 2) Die Verordnung des Reichspräsidenten zur einstweiligen Regelung der Aufwertung und ihre zivilrechtlichen Wirkungen, in: Juristische Rundschau 1925, Sp. 84ff. (zit. Verordnung) Hachenburg (ohne Vornamen): Juristische Rundschau, in: Deutsche Juristenzeitung, 1925, Sp. 69ff. Haenel, Albert: Deutsches Staatsrecht, 1. Bd.: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt, Leipzig 1892 Haentzschel (ohne Vornamen): Über Grundlagen und Grenzen des heutigen Ausnahmerechts, in: Deutsche Juristenzeitung, 1924, Sp. 341ff. (zit. Grundlagen) Haentzschel, Kurt: Die Verfassungsschranken der Diktaturgewalt des Artikels 48 der Reichsverfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, 1926, S. 205ff., Nachdr. Frankfurt a. M. 1969 (zit. Verfassungsschranken) Hahn, C.lStegmann, Eduard (Hrsg.): Die gesammten Materialien zu dem Gerichtsverfassungsgesetz und dem Einführungsgesetz zu demselben vom 27. Januar 1877, 1. Abtlg., 2. Aufl., Berlin 1883 Halle, Felix: Deutsche Sondergerichtsbarkeit 1918 - 1921, Berlin und Leipzig 1922 Hartmann (ohne Vornamen): Zur Frage der Rechtsgültigkeit der Verordnungen des Reichspräsidenten über die Bildung außerordentlicher Gerichte vom 29. März 1921, in: Preußisches Verwaltungsblatt, 1921122, S. 587ff. und 1922/23, S. 88f. Hatschek, Julius: Deutsches und preußisches Staatsrecht, 2. Bd., Berlin 1923 Haugg, Rudolf: Die Anwendung des Art. 48 WRV, Diss. Würzburg 1976 Heckel, Johannes: Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1932, S. 257ff. (zit. Diktatur)

Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932 in dem Verfassungsstreit Reich-Preußen, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1933, S. 183ff. (zit. Urteil) Heilfron, Eduard (Hrsg.): Die Nationalversammlung im Jahr 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaats, Bd. 2ff. Berlino. J. Henle, E.: Das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten und der Landesregierungen nach Artikel 48 der Reichsverfassung, in: Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern, 1921, Sp. 275ff.

Schrifttums verzeichnis

201

Hermann, Adolf: Der Ausnahmezustand nach Artikel 48 der Reichsverfassung vom 11. August 1919 (Masch.-schr.), Diss. Königsberg 1922 Hoh/feld, Klaus: Die Reichsexekution gegen Sachsen im Jahre 1923, Diss. Er!angenNürnberg 1964 Huber, Ernst Rudolf: Bundesexekution und Bundesintervention, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1953/54, S. 1ff. (zit. Bundesexekution)

(Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 - 1850, 3. Aufl., Stuttgart usw. 1978 (zit. Dok. 1) Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851 - 1918, 2. Aufl., Stuttgart 1967 (zit. Dok. 2,2. Aufl.) Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851 - 1900, 3. Aufl., Stuttgart usw. 1986 (zit. Dok. 2, 3. Aufl.) Bd. 3: Dokumente der Novemberrevolution und der Weimarer Republik 1918 1933,2. Aufl., Stuttgart usw. 1966 (zit. Dok. 3) Kanzlerregime, Militärgewalt und Parteienmacht in Weltkrieg und Revolution, in: Festschrift für Wilhelm G. Grewe, S. 473ff., Baden-Baden 1981 (zit. Kanzlerregime) Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Weimarer Zeit, in: Ernst Rudolf Huber, Bewahrung und Wandlung, S. 193ff., Berlin 1975 (zit. Lehre) Militärgewalt, Notstandsgewalt, Verfassungsschutzgewalt in den Konflikten zwischen Bayern und dem Reich, in: Ernst Rudolf Huber, Bewahrung und Wandlung, S. 171 ff., Berlin 1975 (zit. Militärgewalt) Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1: Reform und Restauration (1789 - 1830), 2. Aufl., Stuttgart usw. (zit. 1) Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit (1830 - 1850), 3. Aufl., Stuttgart 1988 (zit. 2) Bd. 3: Bismarck und das Reich, 3. Aufl., Stuttgart usw. 1988 (zit. 3) Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Stuttgart usw. 1969 (zit. 4) Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914 - 1919, Stuttgart 1987 (zit. 5) Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart usw. 1981 (zit. 6) Bd. 7: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart usw. (zit. 7)

1967 usw.

usw. 1984

Hubrich, Eduard: Das demokratische Verfassungsrecht des deutschen Reiches, Greifswald 1921 Hürten, Heinz: Bürgerkriege in der Republik, in: Die Weimarer Republik 1918 - 1933, S. 81ff., hrsg. von Kar! Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen, Bonn 1987 (zit. Bürgerkriege)

202

Schrifttums verzeichnis

(Bearb.): Das Krisenjahr 1923: Militär und Innenpolitik 1922 - 1924, Düsseldorf 1980 (zit. Krisenjahr) Reichswehr und Ausnahmezustand, Opladen 1977 (zit. Reichswehr) (Bearb.): Zwischen Revolution und Kapp-Putsch: Militär und Innenpolitik 1918 1920, Düsseldorf 1977 (zit. Revolution) Hugelmann, Karl Gottfried: Zur Lehre von der Reichsexekution nach der Weimarer Reichsverfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, 1927, S. 513ff. Jacobi, Erwin: Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechts1ehrer, Heft 1, S. 105ff., Berlin und Leipzig 1924 Kelsen, Hans: Die Bundesexekution, in: Festgabe für Fritz Fleiner S. 127 ff., München 1927 (zit. Bundesexekution) Kern, Eduard: Ausnahmezustand und Todesstrafe, in: Deutsche Strafrechtszeitung, 1920, Sp. lOOf. (zit. Ausnahmezustand)

Belagerungszustand, Todesstrafe und Sondergerichte, in: Deutsche Strafrechtszeitung, 1920, Sp. 163ff. (zit. Belagerungszustand) Kimmei, Hans-Dieter: Der Belagerungs- bzw. Ausnahmezustand im Deutschen Reich von 1919 - 1921, Diss. Göttingen 1971 Kloss (ohne Vornamen): Grenzen des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten nach Art. 48 RVerf., in: Deutsche Juristenzeitung, 1925, Sp. 235ff. Klüber, Johann Ludwig: Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1840 Koellreutter (ohne Vornamen): Artikel "Verfassungsmäßige Diktatur", in: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin) vom 22. 1. und vom 6. 2.1926 (zit. Diktatur)

Die Stellung des deutschen Reichspräsidenten, in: Deutsche Juristenzeitung, 1925, Sp. 551ff. (zit. Stellung) Kohlheyer, Otto: Der Ausnahmezustand im Reiche und in den Ländern (Masch.sehr.) , Diss. Würzburg 1922 Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik, 2. Aufl., München 1988 Korn, Alfred: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Berlin o.J. (um 1919) Kronheimer, Wilhelm: Das Anordnungsrecht auf Grund des Ausnahmezustandes, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 1919/20, S. 445ff. (zit. Anordnungsrecht)

Schrifttumsverzeichnis

203

Der Streit um den Art. 48 der Reichsverfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1924, S. 304ff. (zit. Streit) Kross, Peter: Der Einsatz der Streitkräfte im Innern unter der Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung, Diss. Göttingen 1970 (zit. Reichskredite ) Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1. Bd., 2. Aufl., Freiburg 1888 (zit. 1, 2. Aufl.) 1. Bd., 5. Aufl., Tübingen 1911 (zit. 1,5. Aufl.) 2. Bd., 1. Aufl., Tübingen 1878 (zit. 2) 3. Bd., 2. Aufl., (zit. 3) 4. Bd., 5. Aufl., Tübingen 1914 (zit. 4) Lammers, Hans-Heinrich: Das Gesetz über den Staatsgerichtshof Landau, Adolf: Die Reichsexekution nach Artikel 48 Absatz 1 der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Diss. Halle 1927 Lehmann, Heinrich: Die Kriegsbeschlagnahme als Mittel der Organisation der Rohstoff- und Lebensmittelversorgung, Jena 1916 Lipinski, Richard: Der Kampf um die politische Macht in Sachsen, Leipzig 1926

Liszt, Franz von: Lehrbuch des deutschen Strafrechts, bearb. von Eberhard Schmidt, 23. Aufl., Berlin 1921 (zit. 1921),25. Aufl., Berlin 1927 (zit. 1927) Lobe (ohne Vornamen): Der Untergang des Rechtsstaats, in: Deutsche Juristenzeitung, 1925, S. 15ff. (zit. Untergang) Lobe, Adolf: Einleitung, in: Die Gesetzgebung des Reiches und der Länder zum Schutze der Republik, Berlin 1922 (zit. Einleitung) Löwe/ Hellweg: Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 12. Aufl., Berlin 1907 Lucas, Erhard: Ausnahmezustand in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in: Kritische Justiz, 1972, S. 163ff., 382ff. Lüdecke, Karl: Gesetzgebung außerhalb des Parlaments, Diss. Würzburg 1927 Maurenbrecher, Romeo: Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1847 Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., München und Leipzig 1914 Meier-Welcker, Hans: Seeckt, Frankfurt a.M. 1967 Meissner, Otto: Artikel "Der Reichspräsident", in: Handbuch der Politik, 3. Bd., 3. Aufl., S. 41ff., Berlin und Leipzig 1921 (zit. Reichspräsident) Die Reichsverfassung, Berlin 1919 (zit. Reichsverfassung) Das neue Staatsrecht des Reiches und seiner Länder, Berlin 1921 (zit. Staatsrecht)

204

Schrifttumsverzeichnis

Meyer (ohne Vornamen): Notverordnungsrecht der Länder nach Art. 48 Abs. 4 R. V., in: Deutsche Juristenzeitung, 1922, Sp. 579ff. Meyer, Georg: Besprechung von Paul Labands Deutschem Staatsrecht, in: Hirth's Annalen des Deutschen Reichs, 1878, S. 369ff. (zit. Besprechung)

Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 4. Aufl., Leipzig 1895 (zit. Lehrbuch, 4. Aufl.) und 7. Aufl., bearb. von Gerhard Anschütz, München und Leipzig 1919 (zit. Lehrbuch, 7. Aufl.) Mohl, Robert von: Das deutsche Reichsstaatsrecht, Tübingen 1873 Mommsen, Wolfgang J.: Max Weber und die deutsche Politik 1890 - 1920, 2. Aufl., Tübingen 1974 Moosmann, Hans: Die Reichsexekution nach der Weimarer Verfassung unter besonderer Berücksichtigung der Reichsexekution gegen den Freistaat Sachsen, Diss. Erlangen 1925 Müller, Johannes: Das Recht des Belagerungszustandes und seine praktische Anwendung, in: Maercker (ohne Vornamen), Vom Kaiserheer zur Reichswehr, 2. Aufl., Anhang, Leipzig 1921 Muhr, Fritz: Die wirtschaftliche Diktatur des Reichspräsidenten, in: Zeitschrift für Politik, 1924, S. 483ff. Nawiasky, Hans: Die Auslegung des Art. 48 der Reichsverfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1925, S. Hf. (zit. Auslegung)

Das Durchführungsgesetz zum Artikel 48 der Reichsverfassung, in: Das Recht, 1924, S. 454ff., 498 (zit. Durchführungsgesetz ) Der föderative Gedanke in und nach der Reichsverfassung, in: Politische Zeitfragen, 1921, S. 137ff. (zit. Gedanke) Der Gesetzentwurf über das Notverordnungsrecht der Reichsregierung, in: Deutsche Juristenzeitung, 1925, Sp. 779ff. (zit. Gesetzentwurf) Bayerisches Verfassungsrecht, München, Berlin und Leipzig 1923 (zit. Verfassungsrecht) Nesemann, VIf: Notverordnungsrecht und -praxis in den Ländern der Weimarer Republik, Diss. Göttingen 1973

Niederschrift über die Verhandlung der Staatenvertreter in Weimar (Fürstenhaus) vom 5. bis 8. Februar 1919, in: Badisches Generallandesarchiv 233/12888 ("Reichsverfassung" 1919 bis Ende April 1919) Nielsen, Nicolai: Der Ausnahmezustand nach der Weimarer Reichsverfassung (Auszug), Diss. Kiel 1921 Oberreuter, Heinrich: Notstand und Demokratie: Vom monarchischen Obrigkeits- zum demokratischen Rechtsstaat, München 1978

Schrifttumsverzeichnis

205

Oertzen, Peter von: Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, Frankfurt a.M. 1974 Pelargus (ohne Vornamen) von: Die Auslegung des Preuß. Gesetzes über den Belagerungszustand, in: Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht, 1915, Sp. 1185ff. Peucker (ohne Vornamen): Ausnahmezustand und außerordentliche Gerichte, in: Preußisches Verwaltungsblau, 1920/21, Sp. 79ff. Piloty, Robert: Wie ist das in Art. 48 Abs. 5 der Reichsverfassung vorgesehene Reichsgesetz über den Ausnahmezustand zu gestalten?, in: Verhandlungen des 33. deutschen Juristentags (Heidelberg), S. 73ff., Berlin und Leipzig 1924 (zit. Art. 48)

Der Streit zwischen Bayern und dem Reich über die Republikschutzgesetze und seine Lösung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1922, S. 308ff. (zit. Streit) Die Verfassungsurkunde des Freistaats Bayern, München, Berlin und Leipzig 1919 (zit. Verfassungsurkunde) Poetzsch, Fritz: Handausgabe der Reichsverfassung, 2. Aufl., Berlin 1921 Poetzsch-Heffter, Fritz: Handkommentar der Reichsverfassung, 3. Aufl., Berlin 1928 (zit Handkommentar)

Zur Handhabung des Art. 48 der Reichsverfassung, in: Deutsche Juristenzeitung, 1930, Sp. 985ff. (zit. Handhabung) Vom Staats1eben unter der Weimarer Verfassung: (vom 1. Januar 1920 bis 31. Dezember 1924), in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 1925, S. 1ff. (zit. Staatsleben 1) Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung: H. Teil (vorn 1. Januar 1925 bis 31. Dezember 1928), in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 1929, S. 1ff. (zit. Staatsleben 2) Pohlmann, Friedrich: Die Reichsexekution nach Art. 48 Abss. I, IH, V der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Masch.-schr.), Diss. Köln 1925 Preuß, Hugo: Die Bedeutung des Artikels 48 der Reichsverfassung, in: Die Hilfe, 1925, S.224ff. (zit. Bedeutung)

Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung vom 3. Januar 1919, in: Hugo Preuß: Staat, Recht und Freiheit, S. 368ff., Tübingen 1926 (zit. Denkschrift) Reichsverfassungsmäßige Diktatur, in: Zeitschrift für Politik, 1923, S. 97ff. (zit. Diktatur) Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926 (zit. Staat) Um die Verfassung von Weimar, Berlin 1924 (zit. Verfassung)

206

Schrifttumsverzeichnis

Verfassungsändernde Gesetze und Verfassungsurkunde, in: Deutsche Juristenzeitung, 1924, S. 650ff. (zit. Gesetze) Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof, Berlin 1933 Pürschel, Hans: Das Gesetz über den Belagerungszustand, Kommentar, Berlin 1916 Rabenau, Friedrich von: Hans von Seeckt: Aus seinem Leben 1918 - 1936, Leipzig 1940 Redslob, Robert: Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und unechten Form, Tübingen 1918 Riedenklau, Arnold: Der Ausnahmezustand nach geltendem deutschem Staatsrecht (Auszug), Diss. Göttingen 1923 Rittberg, Georg Graf von: Ausnahmezustand und Notverordnung nach Reichsrecht und preußischem Landesrecht (Auszug), Diss. Breslau 1922 Rönne, Ludwig von: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie, 2. Auf!. , 1. Bd., 2. Abtlg., Leipzig 1864 (zit. Preußisches Staatsrecht)

Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Auf!. , 1. Bd., Leipzig 1876 (zit. Deutsches Staatsrecht) Rosin, Heinrich: Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen, 2. Auf!. , Berlin 1895 Rossiter, Clinton: Constitutional Dictatorship: Crisis Government in the Modern Democracies, Princeton 1948 Rotter, Guntram: Das Notverordnungsrecht in Preußen und im Reiche einst und jetzt (Auszug), Diss. Greifswald 1923 Scheuner, Ulrich: Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsidentschaften von Ebert und Hindenburg, in: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Weimarer Republik: Festschrift für Heinrich Brüning, S. 249ff., hrsg. von Aloys Hermens und Theodor Schieder, Berlin 1967 Schilling, Paul: Die Reichsexekution, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1906, S. 51 ff. Schmidt, Richard: Einführung in die Rechtswissenschaft, 2. Auf!. , Leipzig 1923 Schmitt, Carl: Artikel "Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 der Reichsverfassung (sog. Diktaturgesetz)" , in: Kölnische Volkszeitung Nr. 805 vom 30. 10. 1926 (zit. Ausführungsgesetz)

Die Diktatur: Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 3. Auf!. , Berlin 1964 (zit. Diktatur) Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 1, S. 63ff., Berlin und Leipzig 1924 (zit. Reichspräsident) Schultes, Karl: Die Jurisprudenz zur Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. II der Weimarer Verfassung, Bonn 1934

Schrifttums verzeichnis

207

Schulthess: Europäischer Geschichtskalender 1923, hrsg. von Ulrich Thürauf, bearb. von Gustav Roloff, München 1928 Schulz, Gerhard: Der Artikel 48 in politisch-historischer Sicht, in: Der Staatsnotstand, S. 39ff. hrsg. von Ernst Fraenkel, Berlin 1965 (zit. Art. 48)

Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. 1: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919 - 1930, Berlin 1963 (zit. Demokratie) Schulze, Hagen: Weimar: Deutschland 1917 - 1933, Berlin 1982 Schwabe, Klaus: Der Weg der Republik vom Kapp-Putsch 1920 bis zum Scheitern des Kabinetts Müller 1930, in: Die Weimarer Republik 1918 - 1933, S. 95ff., hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen, Bonn 1987 Schwalb (ohne Vornamen): Die außerordentlichen Befugnisse der Landesregierungen aus Art. 48 RVerf., in: Deutsche Juristenzeitung, 1925, Sp. 209ff. (zit. Befugnisse)

Grenzen der außerordentlichen Befugnisse des Reichspräsidenten, in: Deutsche Juristenzeitung, 1924, Sp. 682ff. (zit. Grenzen) Schwerter, Heinz: Über den Begriff der Maßnahmen des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Diss. Würzburg 1927 Seydel, Max von: Commentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich, 2. Auf!. , Freiburg i. Br. und Leipzig 1897 Stier-Somlo, Fritz: Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht, Bd. 1, Berlin und Leipzig 1924 Stresemann, Gustav: Vermächtnis: Der Nachlaß in drei Bänden, Bd. 1: Vom Ruhrkrieg bis London, hrsg. von Henry Bernhard u. a., Berlin 1932 Strupp, Karl: Das Ausnahmerecht der Länder nach Art. 48 IV der Weimarer Reichsverfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1923, S. 182ff. (zit. Ausnahmerecht)

Deutsches Kriegszustandsrecht, Kommentar, Berlin 1916 (zit. Kriegszustandsrecht) Stürmer, Michael: Der unvollendete Parteienstaat: Zur Vorgeschichte des Präsidialregimes am Ende der Weimarer Republik, in: Die Weimarer Republik: Belagerte Civitas, S. 310ff., hrsg. von Michael Stürmer, Königstein/Ts. 1980 Thiesing, Adolf: Das Recht der Diktatur nach der Reichsverfassung, in: Gesetz und Recht, 1931, S. 273ff. Thoma, Richard: Besprechung: Richard Grau: Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und der Landesregierungen, Berlin 1922, in: Juristische Wochenschrift, 1924, S. 1494ff. (zit. Besprechung)

Der Polizeibefehl im badischen Recht, Tübingen 1906 (zit. Polizeibefehl)

208

Schrifttumsverzeichnis

Die Regelung der Diktaturgewalt, in: Deutsche Juristenzeitung 1924, Sp. 654ff. (zit. Regelung) Der Vorbehalt des Gesetzes, in: Festgabe für Otto Mayer, S. 165ff., Tübingen 1916 (zit. Gesetz)

Thudichum, Friedrich: Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins, Tübingen 1870 Triepel, Heinrich (Hrsg.): Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, 5. Aufl., Tübingen 1931 (zit. Quellensammlung) Die Reichsaufsicht, Berlin 1917, Nachdr. Darmstadt 1964 (zit. Reichsaufsicht) Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufzunehmen?, in: Verhandlungen des 32. Deutschen Juristentags (Bamberg), S. 11ff., Berlin und Leipzig 1922 (zit. Reichsverfassung) Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, in: Festgabe für Wilhelm Kahl, Heft 2, Tübingen 1923 (zit. Streitigkeiten) Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, Bde. 306ff., Berlin 1915ff. (zit. Verhandlungen) Verhandlungen der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, Bde. 336ff., Berlin 1919ff. (zit. Verhandlungen)

Vitzthum, Stephan Graf: Linksliberale Politik und materiale Staatsrechtslehre: Albert Haenel 1833 - 1918 Welcker, Karl Theodor: Artikel "Belagerungszustand", in: Das Staatslexikon, hrsg. von Kar! von Rotteck und Kar! Welcker, 3. Aufl., Leipzig 1858 Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 - 1924, Berlin 1984 Wittmayer, Leo: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922 Zachariä, Heinrich Albert: Deutsches Staats- und Landesstaatsrecht, 2. Teil, 3. Aufl., Göttingen 1867

Anhang I

Vorläufer des Art. 48 Abs. 2 - 5 in den Entwürfen zur Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 § 63 Entwurf I vom 3. Januar 1919

=

Entwurf II vom 20. Januar 1919:

Der Reichspräsident kann, wenn in einem deutschen Freistaat die öffentliche Sicherheit und Ordnung in einem erheblichen Umfang gestört oder gefährdet wird, mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten und die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen treffen. Er ist verpflichtet, hierzu unverzüglich die Genehmigung des Reichstags einzuholen und seine Anordnungen aufzuheben, wenn der Reichstag die Genehmigung versagt. Nach: Triepel, Quellensammlung, S. 15. Art. 67 Entwurf III vom 17. Februar 1919 = Entwurf IV vom 21. Februar 1919: Der Reichspräsident kann, wenn in einem deutschen Gliedstaate die öffentliche Sicherheit und Ordnung in einem erheblichen Umfang gestört oder gefährdet wird, mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten und die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen treffen. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 32, 33, 35 bis 38 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Er ist verpflichtet, zu diesen Anordnungen unverzüglich die Genehmigung des Reichstags einzuholen und seine Anordnungen aufzuheben, wenn der Reichstag die Genehmigung versagt. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz . Nach: Triepel, Quellensammlung, S. 23. Art. 49 Entwurf V vom 18. Juni 1919: Der Reichspräsident kann, wenn im deutschen Reichsgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, unter Verantwortlichkeit des gesamten Reichsministeriums mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten und die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen treffen. Zu diesem Zweck darf er vorübergehend die in den Artikeln 113, 114, 116, 117,121,122 und 150 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Er ist verpflichtet, unverzüglich die Genehmigung des Reichstags einzuholen und seine Maßnahmen aufzuheben, wenn der Reichstag die Genehmigung versagt. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz. Nach: Triepel, Quellensammlung, S. 40.

14 Kurz

Anhang II

Artikel 48 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz. Nach: RGBI. 1919, S. 1383.

Anhang III

Niederschrift über die Verhandlung der Staatenvertreter in Weimar (Fürstenhaus) vom 5. bis 8. Februar 1919 Zu § 63. Geheimer Ober-Regierungsrat Dr. Schulze (vom Reichsamt des Innern):

Es ist eine allgemeine Fassung gewählt worden, um nicht, wie dies sonst gewöhnlich geschieht, alle suspendierbaren Bestimmungen der Verfassung aufzählen zu müssen. Nach § 63 kann der Präsident auch solche Anordnungen treffen, die sich gegen die geltenden Gesetze richten. Minister Heine (vom Justizministerium):

hält dies für zweifelhaft und schlägt Regelung durch besonderes Gesetz vor, in der Verfassung sei auf dieses Gesetz zu verweisen. Unterstaatssekretär Dr. Freund (vom preußischen Ministerium des Innern)

wünscht dagegen möglichste Deutlichkeit schon in der Ausdrucksweise der Verfassung. Minister Heine: (vom Justizministerium):

Dann schlage ich vor, etwa folgendes zu sagen: In solchen Fällen können die in Abschnitt III §§ 21,22,24,25,26,27,29 erwähnten Rechte außer Anwendung gesetzt werden. Es wird beschlossen, § 63 in dieser Weise umzuredigieren. Nach: Badisches Generallandesarchiv 233/12888, ("Reichsverfassung" 1919 bis Ende April 1919) Anmerkung des Verf.:

Die Funktionsbezeichnungen sind aus der Teilnehmerliste zur Verhandlung der Staatenvertreter ergänzt.

14*