Deine Freiheit, deine Gelassenheit : Zeitlose Pfade der Achtsamkeit zum inneren Frieden [2. Aufl. 2019] 978-3-658-25474-2, 978-3-658-25475-9

Ein idealer Mix aus praxisorientierter Philosophie und bildhafter Sprache Das Buch über Achtsamkeitstraining und Gelass

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German Pages XXIII, 235 [251] Year 2019

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Deine Freiheit, deine Gelassenheit : Zeitlose Pfade der Achtsamkeit zum inneren Frieden [2. Aufl. 2019]
 978-3-658-25474-2, 978-3-658-25475-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXIII
Eine Art Hinführung (Kai Hoffmann)....Pages 1-23
Die Herausforderungen (Kai Hoffmann)....Pages 25-43
Die Werte der Gelassenheit: Sinn – Wille – Mut (Kai Hoffmann)....Pages 45-99
Die Stunde praxisorientierter Philosophie (Kai Hoffmann)....Pages 101-176
Die Gesetze gelassenen Handelns (Kai Hoffmann)....Pages 177-205
Das Training zur Coolness (Kai Hoffmann)....Pages 207-218
Back Matter ....Pages 219-235

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Kai Hoffmann

Deine Freiheit, deine Gelassenheit Zeitlose Pfade der Achtsamkeit zum inneren Frieden

Deine Freiheit, deine Gelassenheit

Kai Hoffmann

Deine Freiheit, deine Gelassenheit Zeitlose Pfade der Achtsamkeit zum inneren Frieden 2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Kai Hoffmann Psychotherapie und Managementberatung Buddhistische Praxis für Coaching und Psychotherapie und Managementberatung Frankfurt am Main, Deutschland

ISBN 978-3-658-25474-2    ISBN 978-3-658-25475-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25475-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2017, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Gewidmet all meinen Klienten für Freuden, Wunder und Inspirationen auf ihren achtsamen Pfaden zum inneren Frieden.

Vorwort

In der Zen-Praxis schätze ich die herausfordernde tägliche Übung einer achtsamen Konzentration auf das, was im Hier und Jetzt gerade da ist; insbesondere die bewusste Auseinandersetzung mit sich selbst und dem, was in uns passiert, wenn’s passiert. Auf diesem Weg zum inneren Frieden kultiviert Kai Hoffmann eine für den Alltag herausfordernde und zugleich heilsame Balance zwischen dem achtsamen Umgang mit sich und anderen sowie einer dazu notwendigen Disziplin, Abstand nehmen zu müssen von den verführerischen und oft selbstschadenden Denkautomatismen unserer Egos. Wer sich darauf konsequent einlässt, befreit seinen edlen Selbstkern vor unnötigem Leid. Dr. Stefan Bauberger, Zen-Meister, Jesuiten-Pater und Professor für Philosophie an der Hochschule für Philosophie in München

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Einleitung

Mit folgender Botschaft möchte ich Ihnen eine neue Sicht auf Ihr Leben ermöglichen: Gelassenheit entsteht von ganz alleine, sobald Sie achtsam Ihren Geist schulen, und das tagtäglich. Was Ihnen im Leben passiert, mögen Sie nicht im Griff haben; wie Sie darauf reagieren schon. Denn der Basisfaktor Ihres Lebens ist Ihr Bewusstsein dessen, was Sie wahrnehmen und wie Sie darauf mit Ihrem Denken und Fühlen und Handeln antworten. Sobald Sie innen klar sind, wird das Draußen für Sie stimmig werden. Und je klarer Sie Ihr Bewusstsein schärfen, umso öfter zuckt Ihr Leben vor Turbulenzen mit der Schulter. Ihre Gelassenheit erfolgt dabei zumeist aus Situationen, die für Sie keineswegs Ruhe versprachen. Gelassen ist, wer trotzdem ruhig bleibt.

Immer mehr Menschen stimmen das gleiche Grundmotiv im Sound ihrer Wehklage an: das Lied der Sehnsucht nach einem inneren Frieden, aus dem heraus sie den permanent steigenden Veränderungen und Alltagsanforderungen angemessen begegnen. Diesen inneren Frieden tragen wir alle in uns, den muss uns keiner von außen bescheren; er ist gleichsam ein Geburtsrecht unseres Lebens. Klagen Klienten im Coaching, sie wüssten nicht mehr, wo es langgehen solle mit ihnen, weil ihnen ihr innerer Kompass verloren gegangen sei, so liegt der Grund hierzu meist im Verlust unserer angeborenen Fähigkeit, innezuhalten, Abstand nehmen und loslassen zu können von den Saugnäpfen unserer eigenen Gedanken über all die Reize, die uns innerlich oder von außen umlagern. Im Beruf wie im Privatleben plage sie eine innere Unruhe, eine fehlende Orientierung, ein schwankender Boden unter den Schritten ihres gewohnten Handelns. Dazu kommen die Ängste und Zweifel, etwa zu versagen, bei anderen nicht anzukommen oder Fehler zu machen oder nicht mehr mithalten zu können. So sitzen bei Tagesanbruch viele Menschen bereits auf der Bettkante vor den Rätseln ihrer selbst. Und so lauten einige Standardsorgen: IX

X Einleitung

Was passiert? Komme ich heute angstfrei durch den Tag? Hab ich mich im Griff? Wie schaffe ich’s, mich wohlzufühlen? Hier stimme ich das Lied vom Ungewissen an: You never know. But be ready! Diese Basismelodie spielt Zeit unseres Lebens im Hintergrund, dringt jedoch nur noch selten in unser routiniertes Denken. Kinder haben ein Gespür für diesen Schwingungsbereich des Lebens, von Augenblick zu Augenblick immer wieder ungewiss und neu zu bleiben, weil sie neugierig und offen sind für das, was da gerade wieder um die Ecke kommt, und es so akzeptieren, wie es nun mal ist. Mit diesem Schwingungsbereich des Lebens ebenso kinderleicht umzugehen und dabei einen Gleichmut inneren Friedens zu spüren, dazu möchte ich Ihnen einen Leitfaden der Gelassenheit entwickeln für den Sound der Ungewissheit unserer Existenz. Tagtäglich passiert nämlich häufig etwas ganz anderes, wenn Situationen ungewiss daherkommen. Da inszenieren wir Menschen unsere eigenen Angstfilme mit unseren persönlichen Geschichten und projizieren sie auf die Leinwandflächen unserer Umwelt, auf die unvermuteten Mimiken unserer Mitmenschen, auf geheimnisvolle Gesten von Kollegen untereinander, auf die ungewiss wirkenden Lücken im Alltag – ja im Weltgeschehen. Werde ich noch gemocht? Werde ich entlassen? Verkauft der Vorstand das Privatkundengeschäft? Macht die Firma pleite? Und was schwemmt die nächste Woge einer Finanzkrise wieder hoch oder gleich weg? You never know. But be ready! Um mit unseren Lebensfragen neugierig staunend statt ängstlich erschrocken nach vorne zu schauen zu können, eröffnet Ihnen dieses Buch eine seit Jahrtausenden bewährte Lebensphilosophie: „Besinn Dich auf das, was Du bist, worauf Du Wert legst, was Du kannst und vor allem: was Du willst, und begrüße den Zufall und die Angst als Partner des Wandels.“ Nur so irren wir uns empor mit einem inneren Kompass für das Ungewisse. Oftmals zählen hier einfache Gedanken und kleine Gesten, um Großes zu meistern. Eine große Chance für uns. Dazu müssen wir uns von chronischen Sicherheiten lösen und loslassen lernen vom Gewohnheitsrecht der Kontrolle. Wer auf Berechenbarkeit seiner äußeren Umwelten setzt, gerät innerlich schnell ins Wanken. Das übrigens macht Menschen am meisten zu schaffen, im Alltag bloß nicht die Orientierung und Kontrolle zu verlieren, und gar nicht so sehr das, was da auf sie zukommt. Damit gelassen umzugehen lernen heißt, sich selber neu entdecken zu können. Und darum geht’s in diesem Buch, um ein gelassenes Leben im opaken Überraschungsraum des Alltags, um eine dem Menschen je eigene Lebensphilosophie, die dem Tanz der Komplexitäten um uns herum eine Innere Burg des Friedens und der Selbstsicherheit bietet. In jedem Menschen schlägt ein abenteuerlich gelassenes Herz, das seine Energien aus anderen Quellen speist als unsere Verstandesturbinen.

 Einleitung 

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Dieser innere selbstsichere Frieden, ein universeller Sehnsuchtspol menschlichen Glücks, kann uns gerade heute unabhängig machen vom Spektakel unserer Kopfkino-Filme. Wir müssen in unseren Fantasien nicht erst jemanden beiseiteschaffen, um Raum für unser Ich zu gewinnen. Wir tragen die Kraft zur inneren Selbstakzeptanz von Anbeginn unseres Lebens in uns selbst. Hierzu müssen wir bereit sein, loszulassen von unzuträglichen Gedanken- und Gefühlshypnosen. Es geht um die Weisheit, cool gegenüber unseren Selbstsuggestionen zu werden und eine Entdeckungsreise zur seelischen Gesundheit zu wagen, von deren Inseln und Gefilden aus wir unsere gewohnten Alltagsszenarien wie Schiffe am Horizont gelassen betrachten können. Das Leben ist zu kleinen Schönheiten imstande, zu wunderbaren Momenten des Glücks und der Seelenruhe. Das alles steckt in uns, wir müssen da gar nicht draußen suchen. Was Du suchst, ist das, was sucht – so heißt auch ein Kapitel dieses Buches. Diese Besinnung auf das je Eigene, auf die inneren Energien, Werte und Kompetenzen unseres eigenen Lebens ermöglicht uns, vom Anderswo loszulassen und den gelassenen Pragmatismus des Augenblicks zu erleben. Was wir erleben, ist Resultat unserer Absichten und Werte. Nonchalance, Gelassenheit, Coolness  – alle Menschen sehnen sich danach und vergessen, dass sie es schon längst besitzen und in sich tragen wie einen Atem, der sie täglich weitermachen lässt, obwohl sie ihn meist ungeachtet lassen. Die Wirklichkeit fordert uns heraus und besitzt eben dieses Konfrontationsmerkmal: „die Ungewissheit“. Aus der technischen wie gesellschaftlichen Entwicklung ist heute mehr denn je eine Geschwindigkeit sich fortlaufend verändernder Umweltbedingungen entstanden, denen unsere Psyche mit ihren kulturgeschichtlichen Gewohnheiten kaum mehr gewachsen scheint. Dem Urprinzip menschlichen Lebens, sicher über die Runden zu kommen, drohen mit jedem Glockenschlag des Tages unvorhergesehene Prüfungen. Hieraus erwächst für den, der selbstwirksam handeln, selbst entscheiden und/oder einfach nur handeln will, ein Aufforderungscharakter, den ich aus der Trias einer zeitlosen Gelassenheit entwickeln werde: Wir sollten uns selbst wieder auffordern können zum Sinn der Situation, zum Willen dessen, was uns wert und wichtig ist, und zum Mut, entsprechend zu handeln. Daraus folgt: Wir müssen uns gar nicht mehr gegen alles absichern, was da kommen und passieren könnte. Wir werden im Augenblick des Geschehens stattdessen auf die Fundamente unserer Inneren Burg vertrauen, auf die Trias: 1 . Wir können selbst wählen (Sinn entwerfen). 2. Wir wollen uns entscheiden (Willen zeigen). 3. Und wir werden sodann entschlossen losgehen (mutig sein).

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Und wozu nun dieser Dreierpack zur Gelassenheit – und mit dem Prädikat „zeitlos“? Hierzu habe ich nach über zwanzig Jahren Beschäftigung mit den jeweils aktuellen psychologischen Praktiken auf die Ursprünge aller Psychologie zurückgeblickt. Dort entdeckte ich bis heute Unverlorenes; und ich habe mich auf zwei Epochen-Giganten wohlweislich beschränkt, denn sie dienen dem Buch wie Pfeil und Bogen dem Ziel. Was beispielsweise die sto­ ische Ethik als Wegweiser zum Glück für uns Menschen aufgestellt oder, knappe zweitausend Jahren später, der Lebensphilosoph Friedrich Nietzsche als Selbstbestimmung des freien Willens unbeirrbar gemacht hat, ist uns für alle Zeiten gültig geblieben. Über diesen Fundamenten aus Philosophie und Psychologie erhebe ich mit diesem Buch eine Trias aus Sinn, Wille und Mut zur mentalen Architektonik gelassenen Lebens. Für eine heilsame Gelassenheit, zu der wir uns immer wieder selbst entscheiden können, benötigen wir dringender denn je die Askese des unbeirrbaren Loslassens von mentalen-emotionalen Reflexen. Weisheit heißt zu wissen, was wir ungestraft weglassen können, und dieses Lassen macht gelassen: Die Seele geht zu Fuß. Manchen hauen ja schon Kleinigkeiten um. Smartphones, Navigatoren, Börsenticker, Fernbedienungen, elektrische Rundumcheck-Armbanduhren oder die schlichte Kaffeemaschine brauchten minutenweise nur zu streiken, und schon ist es aus mit Autopilot und Routine und wir werden nervös. Wer das Leben jedoch nach seinen persönlichen Werten zu leben versteht, für den gibt es keine Kleinigkeiten. Jammern über das, was schiefläuft, ist der Zeitvertreib für Verlierer. Tun Sie lieber, was Sie wirklich wollen, und zahlen Sie dafür. Aber egal, ob was schiefläuft oder hinhaut in Ihrem Alltag – alles, was passiert, kann mit diesem Buch dem Training Ihres Geistes zur Klarheit und Wachheit und zum inneren Frieden dienen. Dabei sollte Ihnen bewusst werden, dass sowohl Ihr Leiden wie Ihre Leidenschaft Sie weiterentwickeln. Und genau darin liegt ein Sinn dieses Buches, dass Sie am Ende erkennen: Alles, was ich hier in diesem gelebten Augenblick beabsichtige zu erreichen, und was ich dazu auch tue, erfolgt aus der Freiheit meiner selbstbestimmten Wahl. Ich habe in jedem Augenblick meines Lebens diese Wahl, so oder so zu handeln. Dieses So oder so wird es immer für Sie und mich geben. Und mit diesem Selbstwertgefühl Ihrer Autonomie nehmen Sie Abstand von nicht selbst gewollten und oft fremden Wertmaßstäben. Ihre Gelassenheit soll in diesem Buch als eine Übung Ihres Glaubens an sich selbst beherzigt und in nachvollziehbaren Übungen erlebt werden können. Auf diesem gemeinsamen Weg der Seele zu Fuß werden wir bei einem inneren Klima der Heiterkeit und des Gleichmutes auch die alten ewigen Wahrheiten wieder lieben und leben lernen. Die Stoiker hatten es wirklich drauf, und

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Nietzsche bleibt, was eine gelassene Selbstbestimmung betrifft, unerreicht. Sie werden diese ganz Großen unserer Philosophiegeschichte aus den Perspektiven der Gelassenheit mitunter neu kennenlernen. Hierbei werden Sie von Ihren Ansprüchen etwa nach Perfektion, Kontrolle oder Anpassung gelassen Abstand nehmen, beiseitetreten und darüber in Ruhe meditieren können, was das alles für Sie eigentlich bedeuten – oder eben nicht mehr bedeuten – soll. Den einzigen Maßstab, der Ihnen hierzu Ihre lebensfördernde Antwort liefert, finden Sie allein in sich selbst. Das setzt voraus, aufhorchen zu können, was in Ihnen anspricht auf die Wegweisungen zu Ihrer eigenen Weisheit. Damit kehrt die uralte und menschenwürdigste Motivation der Philosophie, der Liebe (philo) zur Weisheit (sophos), in unseren Lebensalltag zurück: Wir leben, um unsere je eigene Weisheit täglich zu erreichen. Philosophisches Denken, und diese Renaissance des Geistes ist gerade heute überfällig, will den Menschen vom Ursprung der Philosophie her, weise zu leben, unabhängig machen von den Faustschlägen der Welt (die wir uns meistens nur selbst verabreichen). Die „Sorge um sich selbst“, eine bewährte Tugend des griechischen Altertums, wird als lebensphilosophische Haltung stark gemacht, die den Hieben des Alltags  – ob nun von außen oder innerlich  – gelassen standhält. Hierzu halten wir unsere Seelen in Bestform mit Tugenden und Werten, auf die es uns ankommt: Freiheit, Willenskraft, Entscheidungsfreude, Selbstverantwortung, Gerechtigkeit, Sinn, Mut, Hilfsbereitschaft, Verständnis, Empathie und Gesundheit. Es gibt diese zeitlose Universalität an menschlichen Werten und Motiven, eine Kosmologik der Seele, deren Basisfunktionen bis heute lebendig und damit reaktivierbar geblieben sind. Und wenn wir ehrlich sind: Es ist mehr als genug, im Leben vier, fünf Dinge zu beherzigen. Das reicht, um gelassen über die Runden zu kommen, wirklich. Diese Werte sind uns mit dem Beginn der Philosophie als unverlierbare Maßstäbe eines selbstverantwortlichen Lebens mitgegeben worden. Uns dessen wieder bewusst zu werden im Sinne des „Erkenne Dich selbst“ (Sokrates, 469–399 v. Chr.), dazu will ich Sie mitnehmen auf einen spannenden Streifzug durch mitunter alltägliche wie außergewöhnliche Herausforderungen menschlicher Erfahrungen, anhand deren wir uns über uns selbst klar werden und unseren inneren Frieden (wieder) gewinnen können. Helfen werden uns hierbei neben bewährten psychologischen Praktiken der Selbstklärung eben auch die großartigen Welt- und Lebensanschauungen einiger ausgewählter Philosophien, deren Begründern eines gemeinsam ist: der Ursprungsgedanke der Philosophie, das Seelenheil für den Menschen durch sich selbst zu erlangen, ohne fremde Hilfe etwa eines Gottes oder eines

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anderen fremden Glaubenssystems oder die Beurteilungen anderer Menschen. Und wer weiß, was er oder sie will, und bereit ist, entschlossen danach zu handeln, trägt die Kompassnadel aller möglichen Lebensrichtungen unbeirrbar wie in der eigenen Atemsäule aufgesteckt. Ich wünsche Ihnen, mit der Gelassenheit, die dieses Buch Sie lehren möchte, eine Herzenskammer in sich entdecken zu können, von der Sie wo­möglich schon vage und leise, weil tief in Ihnen verborgen, etwas ahnten und die Ihnen etwas Außergewöhnliches offenbart, das jederzeit (!) auf Sie wartet: inneren Frieden.

„Meine Botschaft? Behalte einen klaren Kopf und nimm immer eine Glühbirne mit.“ Bob Dylan1

 In Williams „Bob Dylan in eigenen Worten“, S. 31.

1

Danksagung

Was wäre mein Denken, Fühlen und Handeln ohne meine Geschichte. Mein tiefster Dank gebührt meinen Eltern, sie haben mir so viel Wertvolles fürs Leben geschenkt, aus dem heraus dieses Buch hat entstehen können. Danken möchte ich meiner Frau Susanne und meinen beiden Töchtern Elena und Stella für all die verständnisvoll gewährten Zeiten, in denen ich fernab mit meinem Buch beschäftigt war. Dankbar bin ich ganz besonders meiner damaligen Lektorin Ulrike M.  Vetter. Ihre buddhistische Haltung und geistige Neugier haben eine für meinen Schreibprozess ganz wichtige wertschätzende Kraft verliehen, die ich jedem Autor nur wünschen kann; und ihre geduldige und verständnisvolle Art, mit meinen Ideen klug und zugleich kritisch umzugehen, ist ein Gewinn. Dank sagen möchte ich Juliane Seyhan, Programmleiterin bei Springer Gabler, für ihre hilfreiche Profession und Sympathie, die meinem Buch seine stimmige Gestalt verliehen haben. Danken möchte ich ebenso Sabine Bernatz für ihr stilles unverzichtbares Handling im Prozessmanagement des Lektorats. Gefreut habe ich mich auch über Bernd Kissling, sein immenser Wissensschatz gereichte mir zitatkundig zur Hilfe, danke. Der Fluss dankt seiner Quelle: Im Zen-Kloster von Stefan Bauberger und Claudia WipplingerMüller erlebe ich immer wieder von neuem, wie doch alles, was wir zum inneren Frieden brauchen, von Geburt an in uns allen steckt – dafür meine tiefe Verneigung. Und was wäre mein Schreiben ohne Atmosphäre und Erfahrung: Herzlichen Dank allen Cowgirls und Cowboys der Y.O.-Ranch in Westtexas, wo ich Stille, Weite und Freiheit regelmäßig erleben und als Inspirationen dem Buch habe einhauchen können.

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XVIII Danksagung

Zu wirklich Guter Letzt danke ich Anette Villnow für ihre Sorgfalt und Mühe, mein Manuskript klug lektoriert sowie meine Hundertschaften handschriftlicher Bleistiftkorrekturen ins neuzeitliche Textsystem eingefügt zu haben.

Über den Autor

Dr. Kai Hoffmann

Dr. Kai Hoffmann, Jahrgang 1958, verheiratet, Vater von zwei Töchtern, lebt in Frankfurt am Main, wo er seit 1998 seine Praxis für buddhistische Psychotherapie, Coaching, Managerberatung und Achtsamkeitstraining leitet. Er promovierte in den Fächern Philosophie und Psychoanalyse, arbeitete lange als Manager in der Geschäftsführung der Oper Frankfurt und ist zwei Jahrzehnte Lehrbeauftragter für Philosophie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt gewesen. Er berät Unternehmen sowie Privatpersonen vorwiegend in den Bereichen Achtsamkeit, Führung und Kommunikation, Leadership, Konflikttraining, Changemanagement, Supervision und Persönlichkeitsentwicklung. Nach über 30 Jahren Meditationserfahrung praktiziert er den „Mittleren Weg“ des Buddhismus, dessen Grundlagen aus Achtsamkeit, Mitgefühl, Bewusstseinsklarheit und innerem Frieden das vorliegende Buch leitmoti­ visch beeinflusst haben. Zu seinen Kunden zählen u. a. Helvetia Versicherungen, SEB AG, Aareal Bank AG, Haufe Medien Gruppe, Deutsche Börse, Otto Gruppe, Lufthansa

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Über den Autor

AG, Sal. Oppenheim, Dr. Oetker, Card­ Process GmbH, Scania, Westerwaldbank, American Express, CofinPro AG, Peek & Cloppenburg, Linde AG, Mast  – Jägermeister SE, Manpower, Stackmann GmbH. Mitte der 90er-Jahre entwickelte er seine in Deutschland einmalige Methode des systemischen Box-Coachings. Hierüber schrieb er das Buch „Boxen & Managen“ (2005). Sein Buch „Dein Mutmacher bist du selbst“ erschien 2013  in der zweiten Auflage bei Springer Gabler. www.drkaihoffmann.de www.innerer-friede-fuer-manager.de www.boxcoaching.de

Inhaltsverzeichnis

1 Eine Art Hinführung  1 1.1 Der Mensch braucht Sicherheit & Nervenkitzel   1 1.2 Das Bedürfnis nach Kontrolle, Identität & Herausforderung   6 1.3 Der Mensch sucht den Sinn & das Weite  11 1.4 Der Mut – Impuls zu Selbsttreue, Wachstum & Siegeswille  15 1.5 Wenn Risiko und Ungewissheit drohen  17 Literatur 23 2 Die Herausforderungen 25 2.1 Der opake Überraschungsraum des Alltags  25 2.2 Herrscht Ungewissheit, Unsicherheit oder bloß Risiko?  29 2.3 Angst macht selten klug  38 2.4 Erwartungsfallen und Identitätsverlust  40 Literatur 43 3 Die Werte der Gelassenheit: Sinn – Wille – Mut 45 3.1 Aufgewacht, Sinn – sag, wo’s langgeht!  46 3.2 Kommt Sinn, kommen Gelassenheit & Sicherheit  51 3.3 Werde zu dem, was für Dich Sinn ergibt  56 3.4 Sinn entrollt, wozu wir frei sind  59 3.5 Die Visionszentrale Sinn sagt uns, wohin  65 3.6 Sinn bündelt Kompetenzen und motiviert  66 3.7 Komplexität reduziert, was Sinn für uns macht  68 3.8 Der Wille und die Freiheit – ein Spektrum Leben  69 3.9 Der Wille ist trainierbar wie ein Muskel  74 XXI

XXII Inhaltsverzeichnis

3.10 Die Basis allen Wollens: Körper & Selbstwert  78 3.11 Sinn und Wille – survival values  82 3.12 Der Wille hat die Zukunft im Visier – eine Ruhequelle für das eigene Handeln  85 3.13 Achtung: Ladehemmung!  90 3.14 Mut ist Wille mal Sinn  91 3.15 Mut befreit von Bedingungen, die nicht unsere sind  93 Literatur 98 4 Die Stunde praxisorientierter Philosophie101 4.1 Das bestmögliche Fundament zur Sinnorientierung 101 4.2 Der Dialog klärt Welten auf und führt nach Hause 104 4.3 Am Anfang war das Ungewisse – ein Rätsel aus Angst 105 4.4 Trost kann trügen 107 4.5 Die Philosophie des Ungewissen wider gewohntes Denken 109 4.6 Die innere Burg des Selbst – die beste Erfindung der Philosophie110 4.7 Weisheit heißt wissen, was wir ungestraft weglassen können113 4.8 Jeder Augenblick kosmisch 115 4.9 Die Philosophie der Gelassenheit 119 4.10 Wonach wir suchen ist das, was sucht: Unsere Lebendigkeit 121 4.11 Wirst Du herausgefordert, genieße den Augenblick 125 4.12 Wird es unübersichtlich, nimm den „Blick von oben“ 127 4.13 Die Ermahnung an Dich selbst: Dein innerer Weg 130 4.14 Was Dich trifft, berührt Deine Seele nicht 134 4.15 Die Liebe zum Schicksal und etwas Disziplin 140 4.16 Die Philosophie des Willens 144 4.17 ‚Wer sein Warum und Wozu kennt, erträgt fast jedes Wie.‘ 147 4.18 Die Selbstwertsteuerung: Wer will, wirkt! 150 4.19 Der Wille zu Chaos und Komplexität 153 4.20 Leib & Gesundheit – die Energiequellen allen Wollens 159 4.21 Pathos der Distanz – die Höhen des freien Willens 164 4.22 Bilder des Wollens versus Bilder des Reflexes 169 4.23 Bildgeschichten fürs Gehirn: Erleben heißt erdichten 173 Literatur175

 Inhaltsverzeichnis 

XXIII

5 Die Gesetze gelassenen Handelns177 5.1 Die Achtsamkeit und der innere Abstand 177 5.2 Wem der Mut zur eigenen Stunde schlägt 184 5.3 Das schwirrende Lasso der Sprache loslassen 186 5.4 Raum und Zeit schaffen Distanz und Gelassenheit 190 5.5 Die Freiheit gelassener Selbst-Schöpfung: Entwerfen, wählen, entscheiden, wollen, verantworten 195 5.6 Die Innere Burg der Gegenwart hält Komplexitäten stand 199 – ein Quantensprung Literatur205 6 Das Training zur Coolness207 6.1 Leibesübung: Vergiss alles, was gerade keine Rolle spielt, 207 und handle! 6.2 Frag Deinen Helden, Deine Heldin in Dir 211 6.3 Weißt Du nicht weiter, tu einfach so, als wüsstest Du’s 215 Literatur218 Cool-down & Entspannung219 Literatur233

1 Eine Art Hinführung

Auf den Geisterschwellen zeichnen tanzende Mücken die feine Schraffur deines Glücks. Du wartest den Paukenschlag ab, mit entsichertem Herzhirn. Paul Celan1

1.1 D  er Mensch braucht Sicherheit & Nervenkitzel Wollen wir seelisch gesund bleiben, sind wir herausgefordert, mit Ambivalenzen ausgewogen umzugehen. Wir bedürfen einer inneren Balance, die uns von Natur aus mitgegeben worden ist. Von Geburt an sind wir Seiltänzer zwischen den Seelenzuständen in uns selbst. Kinder leben das noch aus. Zwischen dem Schutz hinter Mutters Schürze und dem Abenteuer hinter des Gartens Mauern entfalten Kinder spielerisch ihren Umgang mit den Extremen ihrer beiden Bedürfnisse: Der Mensch will Sicherheit verspüren und sucht doch auch Riskantes auf. Sicherheiten suchen wir, um zu überleben, und Herausforderungen, um uns weiterzuentwickeln. Beides können wir in Einklang miteinander bringen, wenn wir unterscheiden können, wozu uns das eine und wozu das andere in einem jeweiligen Augenblick dienen soll. In jedem Augenblick steht unsere Freude an uns selbst und damit unser innerer  (Celan 1997, S. 256).

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Hoffmann, Deine Freiheit, deine Gelassenheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25475-9_1

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K. Hoffmann

Friede auf dem Spiel. Wenn wir die Waage zwischen „wahren“ und „wagen“ halten können, finden wir zu einer natürlichen Balance von Ordnung und Chaos, Harmonie und Kampf, Ruhe und Bewegung, Stabilität und Wandel. Allerdings entscheiden zumeist unsere Gefühle, wie wir uns in Situationen, in denen Ordnung oder Chaos vorherrschen, dann entsprechend verhalten. Und beide Pole dieser Balance lösen bei uns Menschen gegensätzliche Emotionen aus. Sicherheit und Ordnung lassen uns entspannt sein und uns wohlfühlen, bei Chaos und Disharmonie fühlen wir uns angespannt, unruhig oder ängstlich. Wir Menschen neigen dementsprechend intuitiv  – solange wir ungezwungen wählen können  – zu einem entspannten Lebensmodus, um Unruhe und Ängste zu vermeiden. Das jedoch führt dazu, dass wir in Routinen verfallen, weil wir den starken Gefühlen in uns davonlaufen. Unser Hang, den Level emotionaler Spannung niedrig zu halten, ist unverhältnismäßig größer als der Drang, das Abenteuer der Gefühle zu wagen. Lieber leiden wir im Stau, weil wir die Straßen gewohnheitsmäßig entlangfahren, als zur Abwechslung auch einmal unbekannte Wege zu nehmen, die uns schneller zum Ziel führten und dabei die Gegend neu kennenlernen ließen. Leiden fällt uns gemeinhin leichter als Handeln. Wir stellen uns den Preis, mal anders zu handeln, meist höher vor als unser Feststecken im längst schon durchgesessenen Leidenssessel. Ein Trugschluss mit oft verheerenden, weil einschränkenden Auswirkungen für das persönliche Leben. „Nichts ruiniert tiefer, innerlicher“, warnt uns Nietzsche, als unsere „Opferung vor dem Moloch der Abstraktion“ (Antichrist, S. 177). Unsere Gedanken, diese Abstraktionswerkzeuge seit Menschenbeginn, können unser Lebendigstes abtöten, wenn wir ihnen aus Gewohnheit mehr als unserem Lebendig-Sein vertrauen. Deshalb wird Ihnen dieses Buch hin und wieder Wachstumsschmerzen jenseits Ihrer Komfortzonen zumuten. Höchstwahrscheinlich werden Sie jetzt zustimmend nicken und an Ihrer kommenden Alltagskreuzung doch wieder dort abbiegen, wo Sie gestern schon abgebogen sind, und Ihren Leidenssessel weiter durchsitzen. Dabei zahlt der Mensch für seine Nervenkitzel-Scheu auf Dauer. Denn woraus haben Sie mehr gelernt, aus Ihren Annehmlichkeiten oder aus Ihren Problemen und Schlägen, die Sie bisher einstecken mussten? Gelassenheit entsteht gerade durch solche Grenzerfahrungen. Mit Ihrem freien Willen stehen Sie jeden Augenblick Ihres Lebens an einer Weggabelung und geben mit Ihrem Handeln, das die Grenzen der Routine überschreitet, dem Leben ein Versprechen. Den höchsten Preis in seinem Leben hatte Heinz Paffen für solche Gefühlsvermeidungen zu zahlen. „Jahrelang habe ich auf dieser Einweg-Tour mein Leben versäumt“, resümiert der 55-jährige IT-Bereichsleiter eines internationalen Versandhauses. Während seines Karriereaufstiegs knapp unters Sonnendach

  Eine Art Hinführung 

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der Vorstände lag Paffen seit über zwanzig Jahren nicht einmal krank im Bett, gab „aus Zeitnot“ seine Hobbys auf und vernachlässigte selbst seine früher gepflegten Freundschaften. Paffen vermied aufregende Abwechslungen in seinem gesamten Arbeitsleben. „Selbst im Büro mied ich Auseinandersetzungen mit Kollegen, Mitarbeitern und vor allem mit meinem Vorstand.“ Je mehr Paffen in Sachen Abwechslung und Aufregung aus der Übung kam und emotional bewegende Momente umging, umso behaglicher umfingen ihn seine Routine-Nischen. Und je mehr er diese Nischenfriedlichkeit aufsuchte, umso unruhiger und unsicherer wurde er, wenn’s mal drauf ankam. Ein Paradox: Der Mensch sucht, Aufruhr meidend, die Sicherheit und entwickelt dadurch Unruhe und Ängstlichkeit bis hin zu Depressionen. Diese Konsequenzen jedoch gehen auf Kosten unseres inneren Reichtums, und dieser Tribut zahlt sich niemals aus. Auch wenn’s schwerfällt: Unsere Gefühle, Ideen, Standpunkte, Wünsche und Hoffnungen sollten, gerade wenn wir innerlich ausgewogen und gelassen leben wollen, gewagt und zum Ausdruck gebracht werden. Es ist der ausgewogene Wechsel zwischen Sicherheit und Nervenkitzel, der cool macht und uns ermöglicht, aufzuwachen, bevor wir auf dem Boden aufschlagen. So kann alles zusammenbrechen, solange noch etwas anderes bleibt – der innere Frieden. Friedrich Nietzsche hat einprägsam eine Metapher für diese Ambivalenz von Regel und Unordnung geschaffen: „Jene Denker, in denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen, sind nicht die tiefsten; wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum hineinsieht und Milchstraßen in sich trägt, der weiß auch, wie unregelmäßig alle Milchstraßen sind; sie führen bis in’s Chaos und Labyrinth des Daseins hinein“ (Nietzsche, Bd. 3, 1980, S. 552). Das auszutragen fördert und erfordert zugleich Wagemut, Neugier, Freiheit, Selbstvertrauen – die Werte, auf die es uns im Folgenden auch ankommen wird. Nietzsche macht uns hierzu auf das Lebensfremde der Komfortzonen und vor allem auf die Gefahr der regelmäßigen „kyklischen“ Lebensbahnen aufmerksam. „Das Maß ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen … und (wir) sind erst dort in unserer Seligkeit, wo wir auch am meisten  – in Gefahr sind“ (Nietzsche, Bd.  5, 1980, S. 160). „Verdammt, das stimmt!“ Heinz Paffen lehnte sich plötzlich zurück, erstaunt über das, was Nietzsche, als ich ihm das vorgelesen hatte, wieder in Erinnerung gerufen hat. „Was hab ich mir damals anderen gegenüber alles rausgenommen und aus mir rausgeholt und mich einen Dreck geschert, was die Leute über mich dachten oder von mir erwarteten.“ Durch Indien, Asien, Nordafrika und die USA war er jahrelang gereist, hatte dort als „IT-Scout“ für eine englische Bank die Aufbauprojekte neuer Niederlassungen organisiert

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und „jede Herausforderung angenommen, mit denen auch ich mich neu entdecken konnte“. Natürlich hätten ihn damals mit Ende 20 Ängste und Sorgen gepackt und ihm „angstschweißnasse Asien-Nächte“ beschert. „Doch mit jedem Tag hab ich quasi das Ausland in mir entdeckt und bin jedes Mal überrascht über mich selbst gewesen, wie gelassen ich Probleme, die mir oft unlösbar erschienen, immer wieder neu angepackt habe.“ Was hatte ihm das ermöglicht? Was befähigte ihn zu diesen Wagnissen? Waren es allein Mut und Risikofreude? „Eigentlich bin ich ein Sicherheitsmensch“, gestand der hochgewachsene hagere Ex-Globetrotter. Er liebe und pflege seine Routinen aus Joggen, Lesen, Sparkonten-Kontrolle, Schachspielen, Mittagsschlaf und Kinobesuchen. Diese Ankerstellen der Sicherheit seien immer seine „Leuchttürme“ gewesen, an denen er sich orientieren konnte, wenn Unruhe, Aufregung und Chaos um ihn herum herrschten bei seinen Unternehmungen für die Bank. Dieser Wechsel war’s, der Heinz Paffen innerlich ausglich. Und wie verläuft entsprechend unser Alltag, wenn unsere Seelenantreiber mal Sicherheit, mal Wagnis fordern? Überwiegend kippt die Waage zwischen diesen fundamentalen Bedürfnisse meist unausgeglichen entweder in die chronischen Komfortzonen oder die unkontrollierten Ekstasen: Absicherungsroutinen oder Risikospiele; Stagnation oder Veränderungsmanie; Gewohnheitsrecht oder Rebellion; Dörrfleisch oder Suchtexzesse; Traditionsgehabe oder Grenzgänger-Wahn. Jede Einseitigkeit jedoch rächt sich. Wenn wir hier nicht achtsam hellhörig und hellsichtig dafür bleiben, sobald wir die Balance zu verlieren drohen, kriegen wir’s später ungewollt mit uns selbst zu tun. Dann wedelt unsere Seele mit Symptom-Flaggen herum, mit Depressionen, Selbstzweifeln oder Burn-outs, und die sollten wir in jedem Fall als weiße Sehnsuchtsflaggen nach innerem Frieden deuten. Das seelische Gesundheitsprinzip hierzu funktioniert nach physio-psychischen Gesetzen: Wie wir leben und was wir tun, stimmt überein mit dem, was uns wert und wichtig ist, und steht in einer innerlich spürbaren Balance und Ausgewogenheit zueinander. Wir können diesen inneren Frieden inmitten all unserer seelischen Vielfalt jederzeit beschließen und uns dazu entschließen, unsere Ambivalenzen und Polaritäten wie Gleichgewichte einer Waage anzunehmen. Wir wenden unsere Fähigkeit, dem inneren Gleichgewicht nachzuspüren und aufzuhorchen, wenn wir in Ungleichgewicht geraden, leider nur viel zu selten an. Heinz Paffen sackte, als er im heimischen Versandhaus Karriere gemacht hatte, in die bewährten Komfortzonen aus Sicherheit und Routinen zurück. „Ich hatte unglaubliches Glück, vieles wurde mir dabei leicht gemacht, und

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kämpfen musste ich um nächsthöhere Stellen kaum“, gesteht er sich ein, und das habe ihn „verführt, meine sicheren Pfründe zu hüten, statt wie früher regelmäßig Ungewisses zu wagen“. Hierzu mahnt uns Nietzsche: „Der freigewordene Mensch, um wie viel mehr der freigewordene Geist tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden (…). Der freie Mensch ist Krieger.“ (Nietzsche, Bd. 6, 1980, S. 139). Die Metapher vom „Krieger“ zitiere ich an dieser Stelle nicht nach dem Motto „auf Teufel komm raus, Du Nervenkitzel äußerer Tumulte und Gefechte!“. „Krieger“ müssen wir vielmehr uns selbst und unseren eigenen Widerständen gegenüber sein. Wir scheuen die Ungewissheiten der Veränderungen. Wir meiden den Wechsel zwischen dem, was ist, und dem, wie es bestmöglich sein sollte. Wir neigen dazu, uns dort behaglich einzurichten, wo wir uns wohlfühlen. Dagegen ist auch erst einmal gar nichts einzuwenden, soweit unsere Art und Weise, zu leben, unseren Wünschen und Vorstellungen entspricht. Doch der Wohlfühlfaktor ist tückisch. Wir verführen uns selbst allzu leicht durch unsere Gewohnheiten dazu, blind und taub zu werden gegenüber Möglichkeiten der Veränderung. Diese Komfortzonen-­Falle gilt es, als menschliches Wesensmerkmal erst einmal zu akzeptieren, und zugleich, soweit sie uns hindert, persönlich zu wachsen, als Si­ gnal und Chance für den inneren Krieger zu nutzen. „In ruhigen Zeiten überfällt der Krieger sich selbst“ (Nietzsche, Bd. 6, 1980). Drum keine Faust in der eigenen Tasche. Raus damit! Schmerzen vergehen – aufgeben verfolgt uns ein Leben lang. „Und das hab ich eben versäumt“, resümiert Heinz Paffen seine Depression, „ich hab aufgehört, mich selbst herauszufordern und mich damit auszugleichen, hab meine Fähigkeit echt brachliegen lassen, Aufregungen zu wagen oder mich zu etwas zu überwinden, das mich echt gefordert hätte.“ Rückblickend stellt er fest, während seiner früheren turbulenten Auslandszeiten, in denen er immer wieder zu seinen sicheren Ruhepolen zurückgekehrt war, viel gelassener mit der Welt und sich selbst umgegangen zu sein, als es ihm heute in der aufreibenden Routine möglich ist. Des Menschen Sehnsucht nach Sicherheit wirkt oft selbstzerstörerisch, wie die Geschichte von Heinz Paffen gezeigt hat. Eine solche Sicherheit, die uns vor Risiken der Veränderung und des persönlichen Wachstums schützt, kommt selbst in der Natur nicht vor. Wie leicht flieht die Seele in die Routine oder ins Musische oder flüchtet in die Stille und ist nachher, zurückgekehrt, umso erschrockener, wenn der Zeitraffer Arbeit und die Ungewissheiten des Wandels unverdrossen weiter marschieren. Natürlich existiert in unserer Gesellschaft auch das andere Extrem des unentwegten Nervenkitzels. Zockereien beim Börsenhandel, Workaholism als Karrieregier,

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Streitsucht von chronischer Aggression, Risikospiele als Internet-­Fieber  – solche Aufregungen können süchtig machen und hinterlassen doch meist nur verbrannte Erde zwischen Menschen oder den Katzenjammer innerer Leere. Auch der Adrenalin-Schub ist tückisch, weil begrenzt, und birgt das Suchtpotenzial einer unentwegten Suche in sich. Immer mehr, schneller, riskanter. Nun leugne ich keineswegs die mächtige Antriebsquelle des Adrenalins, sondern warne davor, diese physische Energie, die von Natur aus limitiert ist, mit dem psychischen Inhalt dessen zu verwechseln, was diese Energie entfacht. Außerdem verzerrt Adrenalin unsere Bilder der Wirklichkeit. Die Natur hat uns diese Energiequelle vor Urzeiten als einen Überlebensfaktor eingerichtet. Die Daseinsberechtigung des Adrenalins heißt: Risiko! Deshalb sind Menschen, die den Energie-Kick genießen wollen, gezwungen, die Risikolatte immer höher zu legen. Welche Konsequenzen von Fehlentscheidungen das nach sich ziehen kann, ist täglich in den Schlagzeilen nachzulesen. Im Wahn solchen permanenten Nervenkitzels zu sein, ist auch nur wieder ein Vorwand, in der Komfortzone turbulenter Ablenkungen zu verweilen, um tiefere Gefühle wie Furcht, Einsamkeit, Versagen oder Verletzlichkeit zu vermeiden. Und wenn wir uns mal ausruhen, scheint’s, als müsste die Ruhe selbst Überstunden machen. Wenn wir jedoch mit Nietzsche unseren inneren Krieger wachrufen und uns dem stellen, was wir vermeiden – ob in uns selbst oder draußen –, dann verschaffen wir unserem Geist gute Chancen, danach zu einer Ruhe zu kommen, die mehr mit innerem Frieden als äußerer Stille zu tun hat. Es geht um das Wagnis, in einem gesunden Wechsel zwischen Sicherheit und Nervenkitzel gelassen weiterzumachen wie nie zuvor. Denn Veränderungen sind wie Lebensmittel, wir bekommen sie nicht umsonst, auf jedem klebt ein Preisschild. Entscheide Dich! Hierzu brauchen wir die Bewusstheit, auf innere Schieflagen zu achten, sowie die Bereitschaft, den Wechsel zu wagen, der uns wieder ausgleicht. Dazu müssen wir uns willentlich immer wieder entscheiden. „Die Unsicherheit ist eine Ressource, ohne die nichts zu entscheiden bliebe“, schreibt der Psychologe und Organisationsberater Arnold Retzer (2002, S. 291). Also: Geben Sie Ihrem Handeln hin und wieder das Wagnis des Experiments: Ich probier’s mal, ich bin neugierig, was dabei rauskommt, ich wage den Schritt über den oxidierten Silberrand meiner Komfortzone hinaus und entdecke möglicherweise Gold in der Wachstumszone. Unser Leben bleibt riskant. Nur unser Tod scheint sicher.

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1.2 D  as Bedürfnis nach Kontrolle, Identität & Herausforderung Das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Im Laufe unseres Lebens entwickeln wir hierfür unsere individuellen Maßstäbe, dieses Bestreben angemessen zu befriedigen. Welche Maßnahme der Kontrolle hierbei „angemessen“ für uns wirkt, bleibt so unvergleichlich subjektiv wie jede unserer Lebensgeschichten. Sollen jedoch, wie die Geschichte von Heinz Paffen gezeigt hat, keine Symptome wie Stress, Depression, Abhängigkeit, Panik oder Sucht entstehen, gilt es immer wieder, achtsam in sich selbst zurückzutreten und zu reflektieren, welches Bedürfnis zum Ausgleich der Kontrolle noch befriedigt werden will, um das innere Gleichgewicht zu wahren. Wer vorwiegend kontrolliert, hat bald nichts mehr im Griff. Was hat es mit unserem Sicherheits- und Kontrollbedürfnis eigentlich auf sich? Was lässt uns oftmals so verbissen festhalten an Gewohntem? Horchen Sie hierzu einmal für einen Augenblick in sich hinein: Wenn Sie etwas absichern oder kontrollieren wollen, um was geht es Ihnen dabei eigentlich und wirklich? Was, glauben Sie, ist der tiefere Grund, die eigentliche Absicht hinter all dem? Es ist Ihre Angst zu sterben, die Angst vor dem Tod. Sie wollen das nicht glauben? Hierzu ein Gedankenexperiment: Angenommen, Sie wüssten, dass Sie übermorgen sterben würden, wäre dann noch Ihr Absicherungswille, Ihre Kontrollabsicht, Ihr Pochen auf Routinen aktuell? Sie hätten Ihren bevorstehenden Tod akzeptiert, schauten gefasst auf Ihren Lebensabschied, die Angst davor wäre dahin, und nun spüren Sie, wie alle Ihre Sorgen der Alltagskon­ trolle, all Ihr Misstrauen, ob die Dinge genau so laufen würden, wie Sie es geplant haben, ebenso nichtig werden. Die meisten unserer Kontrollstrategien und Ordnungspläne resultieren aus unserem Bedürfnis, unangenehme Gefühle, die von möglichen Situationen ausgelöst werden könnten, in Schach und uns am besten vom Leibe zu halten. Wir glauben zwar weiterhin, die Situationen kontrollieren und Dinge regeln zu müssen, doch darum geht’s nicht. Das Grundgefühl, das uns unbewusst zu schaffen macht, bleibt die Existenzangst. Und so, wie wir unseren eigenen Tod verdrängen, taucht unsere Angst davor zumeist nur maskiert in unserem Alltag auf. Wir sorgen uns ums Geld oder befürchten den Verlust unseres Ansehens, wir werden nervös vor öffentlichen Auftritten, die zu Fehltritten werden könnten, oder wir entwickeln Prüfungsängste. Wir wollen diese Gefühle vermeiden und fangen an, Listen, Pläne, Ordnungen, Regeln oder andere Kontrollstrategien zu schaffen oder gleich den Situationen, die uns Sorgen oder Angst machen, aus dem Weg zu gehen. Vergessen Sie’s. Gelassen werden Sie hierdurch bestimmt nicht.

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Es belastet uns sogar weit mehr, wenn wir unsere Kontrolle über etwas verlieren, als wenn wir stark belastet und herausgefordert sind (Ulrich Schnabel 2010, S. 49). Gelassen wird, es klingt paradox, wer seine Kontrollgedanken auch mal ad acta legen und loslassen kann, womit bislang miese Stimmungen, Gefühle oder Angstgedanken hinter Gitter gebracht werden sollten. Wer kontrolliert, „füttert“, was eingesperrt ist. Denn wer die Grundlage seines Lebens in der Kontrolle sieht, lebt unruhig und ungewollt riskant. Eltern, die ihre Kinder mit Argusaugen verfolgen, oder Chefs, deren Mitarbeiter ihnen jeden Kundenbrief noch mal vorlegen sollen, können ein Lied davon singen. Wer nicht loslassen kann, wird gezogen. Meistens sind es unsere selbst ­konstruierten Gedankenantreiber, mit denen wir die Welt um uns herum zur Signalgeberin innerer Kontrollansprüche ausstatten. Das Gefühl der Kontrolle über das eigene Tun, ja über das eigene Leben besitzt eine der wichtigsten Bedeutungen für die seelische Gesundheit. Wir wollen in unserem Denken, Fühlen und Handeln uns unserer selbst mächtig fühlen. Das hängt eng mit unserer „Selbst-Kohärenz“, also mit einem stimmigen Gefühl unserer Identität zusammen. Wie wollen in dem, was wir tun, fühlen und denken, mit uns selbst identisch und selbstmächtig sein. Ein Grundbedürfnis unseres Menschseins, das uns in unserem Leben hat laufen lernen lassen: „Ich will der Mensch bleiben, der hier beginnt, da weitergeht und dort ankommt.“ Auf diese Weise bleiben wir gerne selbst wirksam, so schöpfen wir Kraft, so fühlen wir uns gut. Und doch: Genau so können wir auch leicht in eine Falle geraten, indem wir unser Bedürfnis nach „Selbst-­ Kohärenz“ mit dem verwechseln, was uns dieses Identitätsgefühl zuerst verschafft. Beruf, Status, Geld, Besitz, Macht, vor allem unsere Gedanken und Einstellungen über diese Lebensgüter und uns selbst bewirken eine suggestive und damit verführerische Kraft: Du bist das, was Du denkst zu sein. Ich denke, also … – glaube ich das auch zu sein. Gelassen bleibt tatsächlich, wer hier zu unterscheiden weiß zwischen innerer Selbstakzeptanz und äußerem Besitz, zwischen Sein und Haben – zwischen unserem innerem Frieden und den äußerlichen Formen unserer Identität. Unsere Herausforderung in einer immer komplexer werdenden Welt lautet: Halte vor Dir selber inne! Geh Deinen gedanklichen und emotionalen Reflexen nicht auf den Leim! Tritt vor Dir selber zurück! Häufig nämlich verwechseln wir unser Gefühl der „Selbst-Kohärenz“ mit unseren Gedanken, die unser Gehirn uns hierfür gleichsam vorspielt, als seien sie Abbilder der Welt und unserer selbst: Du bist so, und so bist Du nicht, und Du kannst das, aber das kannst Du nicht, und so fort … Ob das tatsächlich auch faktisch der Fall ist, spielt dabei weniger eine Rolle. Wir glauben automatisch unseren Gedanken. Und so hängt auch unser „Gefühl“

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der Kontrolle ausschließlich von der Selbstperspektive ab, also von unseren Gedanken, Interpretationen und den damit verbundenen Gefühlseinstellungen uns selbst und den jeweiligen Situationen gegenüber. Gelassen bleibt, wenn’s brenzlig wird, wer hier zu unterscheiden weiß und entsprechend wählen kann. So erhielt Gabi Helling, Mutter von drei Kindern und Projektleiterin einer Agentur für Event-Marketing, eines Vormittags während eines Telefonats mit ihrer Agenturchefin gleich drei Projektaufträge, die Anfang der folgenden Woche synchron starten sollten. Panik packte sie, aufgepeitscht durch Gedanken, die in ihr Herzrasen und Schweißausbrüche auslösten: „Das pack’ ich nicht! Die Zeit ist viel zu kurz! Du erreichst auf die Schnelle so viele Kollegen überhaupt nicht! Jedes Projekt ist so wichtig, bei nur einem Flop ist mein Agenturruf dahin!“ Kurz darauf klingelte ihr Handy. Die älteste ihrer drei Töchter hockte mit einer schweren Magenverstimmung heulend vor dem Gymnasium und wollte abgeholt werden. Die Mutter schrie los: „Dann kotz doch! Ich kotze auch gleich!“ (Klingt derb, doch die Mutter schrie so.) – „Mama, steckst Du wieder im Tunnel fest? Komm doch, bitte!“ Pieps. Der Mutter schossen Tränen aus den Augen. Ihre Tochter kannte ihre Panikattacken allzu gut. „Als ich im Auto saß und zur Schule fuhr, machte es ‚klickʻ in meinem Kopf“, erklärte mir die Mutter ihren „Wendepunkt“. Sie konnte plötzlich die Projekte, die ihr kurz zuvor noch unkontrollierbar erschienen, unerwartet ruhig und damit neu überdenken. In der Beratung wollte sie daraus ein praktikables „Coolness-Tool“ entwickeln. Was also geschah genau während der Autofahrt? Wodurch hat Gabi Helling ihren „Wendepunkt“ zur gelassenen Betrachtung ihrer zuvor panikartigen Situation ermöglichen können? „Yvonne kennt meine Kopflastigkeit, die mich kopflos macht, und nennt das ‚Worttunnelʻ, was sie wohl mal bei Hermann Hesse gelesen hat. Und wie recht hat sie wieder gehabt. Das war mein Weckruf: ‚Tunnel!ʻ Ich klemmte in meinen Gedanken fest. Damit hatte ich mich vom Schreibtisch losreißen und ins Auto setzen können, und schon sah ich kurz danach meine Gedanken, die Projekte zu vergeigen, an der Windschutzscheibe vorbeiziehen.“ Was hatte ihr das ermöglicht? „Weg vom Schreibtisch, rein ins Auto, hin zur Tochter. Zuerst hab ich mich dazu gezwungen, dann wollte ich es auch. Ich hab mich bewegt, kurzfristig was ganz anderes gemacht und Abstand gekriegt und konnte nachdenken.“ Tritt zurück und reflektiere! Das werden wir später noch ausführlich behandeln. Nur so weit an dieser Stelle: Sobald wir willentlich Abstand zu unseren Gedanken bekommen und uns dazu noch in einen anderen emotionalen Bewegungsmodus hineinversetzen können, begreifen wir oft schlagartig die Künstlichkeit unserer Gedanken, mit denen wir die Dinge um uns herum interpretieren. Und was wir künstlich konstruiert haben, das uns im Leben weiter  – oder eben auch nicht mehr weiter  – bringt, das können wir auch wieder verändern, damit es passt für das, was uns am Herzen liegt.

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„Ich war so glücklich, meiner Tochter ihren Wunsch erfüllt zu haben, immerhin, sie ist das Wertvollste in meinem Leben, und dadurch konnte ich mir auf der Rückfahrt in die Agentur auch klarmachen, wie viele oft brenzlige Projektaufträge ich in der Vergangenheit schon erfolgreich abgewickelt habe, und dadurch wusste ich genau, was ich zu tun hatte. Und da hab ich was kapiert. Wenn ich denke, ich kann was kontrollieren, kann ich’s auch, und wenn ich denke, das schaffst Du nicht, geht’s leicht daneben. Nur, von der Sache, die ich da machen soll, hängt das gar nicht ab. Der Kniff dabei ist, das jedes Mal zu begreifen, vor allem, wenn Panik droht.“ Jeder von uns hat das schon einmal erlebt. Wir handeln in bislang heiklen Situationen unerwartet gelassen und spüren wie aus einer intuitiven eigenen Weisheit heraus, was unsere nächsten Schritte sind. Eine solche eigene Weisheit zu einer Maxime wiederholbarer Kompetenzen zu kreieren, macht jeden Menschen zum Experten seiner selbst. Und häufig kristallisiert sich aus solch individuellen Maximen eine grundlegende menschliche Weisheit gelassenen Lebens heraus. Der Fall von Gabi Helling liefert folgende (vorläufige) Gebrauchsanweisung gelassenen Handelns: 1. Bewusst werden: „Ich steckte gedanklich oder emotional fest!“ Unsere Gedanken suggerieren uns ein (gewolltes/ungewolltes) Szenario der Wirk­ lichkeit („Worttunnel“) und lösen Gefühle aus. 2. Willentlich Abstand nehmen: „Ich atme durch, halte inne und beobachte, was ist denke und fühle.“ Wir gewinnen innerlich Distanz, sobald wir unsere Gedanken und Gefühle als solche bewusst betrachten; wer etwas beobachtet, ist nicht direkt involviert. 3. Wertvolle Erfahrungen würdigen: „Ich mache mir klar, was mir wert und wich­ tig ist und was mir schon alles gelungen ist.“ Unser Leben steckt voller Schätze. Indem wir das achten und zu schätzen wissen, was uns ausmacht, gewinnen wir unsere Kontrolle über das zurück, was uns herausfordert.

Das Beispiel von Gabi Helling sollte Ihnen vor allem auch exemplarisch deutlich machen, dass Sie hauptsächlich nur über zwei Dinge in Ihrem Leben wirklich Kontrolle haben: Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Handeln. Weder Ihre Gefühle noch Ihre Gedanken und ebenso wenig das Tun und Treiben anderer Menschen und schon gar nicht der Lauf der Welt stehen unter Ihrer Kon­ trolle. Beeinflussen jedoch können Sie sich und andere, indem Sie sich entscheiden, worauf Sie Ihre Aufmerksamkeit richten und wie Sie handeln wollen. Mit diesen Fähigkeiten, unterscheiden zu können zwischen dem, was sich so alles abspielt in Ihnen, und der Welt „draußen“, sowie den hieraus folgenden

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Möglichkeiten Ihrer Wahl, entsprechend zu handeln, werden wir uns noch ausführlich beschäftigen. Was wir also in heiklen Situationen als „unsere Kontrolle“ erachten, hat immer seine Licht- und Schattenseiten. Mithilfe des Lichtschalters gelassenen Handelns können wir unsere „Schatten“ („Das schaff ich nicht …, … ich versage …“) durch eigene Lichtquellen (eigene Werte, Erfahrungen, Fähigkeiten etc.) verschwinden lassen. Wo liegt der Schalter? Wie und wann betätige ich ihn? Welches Licht wähle ich für welchen Schatten? Und wie finde ich den Schalter, wenn’s längst schon dunkel geworden ist? Hierfür werden Sie noch mit genügend Übungen neue Trainingsfelder ausprobieren. Sie werden etwas dazulernen. Und wie das mit unseren Veränderungen häufig so ist, sollten wir hierzu auch bereit sein, etwas zu verlernen, soweit unsere Gewohnheiten uns hindern, Neues zu erleben. So manche Fernbedienungen unseres Alltags ersparen uns nämlich, selber tätig zu werden und unsere Fähigkeiten für die wirklichen Kämpfe des Daseins beherzt einzusetzen. Unser Kopfkino mit all den gewohnten Heimatfilmen („Bequemlichkeit“, „Ausreden“, „Schönreden“, „Vermeiden“ etc.) bietet uns lediglich einen standardisierten Ersatz für die ersehnte Gelassenheit. Diese Filme schauen wir uns noch genauer an. Doch einen Moment! Werfen Sie jetzt bitte nicht gleich all Ihre Fernbedienungen weg. Stehen Sie einfach nur mal selber hin und wieder auf und wechseln per Pedes et Manus die Programme Ihres Lebens. Dazu möchte ich Sie anspornen. Aufstehen, klar, müssen Sie selbst!

1.3 Der Mensch sucht den Sinn & das Weite Glücklich kann doch fast jeder sein. Aber was bringt das? Bob Dylan

Unser Selbst ist in sich selbst nicht abgesichert und zudem durch äußere Optionen längst überfordert. Der nächste Trend, dem alle anderen mit Glückserwartungen folgen, könnte auch uns schon wieder zweifeln lassen, ob unser Weg der richtige ist. Worauf wir unsere Blicke gerade richten, zieht unsere Energien an, und wie leicht hängen wir da fest oder lassen uns ablenken oder verlieren den Überblick, weil unser innerer Kompass entweder klemmt oder durchdreht. Und zugleich sehnen wir uns danach, unbeirrt zu bleiben, oder beneiden solche, die seelenruhig ihren Weg weitergehen.

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Gelassen bleiben wir, sofern wir Toleranz und Abstand gewinnen gegenüber dem, was uns da alles an den Haken nimmt. Vor allem sind’s die eigenen Energien, ausgelöst durch unsere Aufmerksamkeit auf Gefühlsanstürme oder das pausenlose Kopfkino, die uns zu schaffen machen und unsere innere Ruhe rauben. Was hilft uns in solchen Situationen? Bei dieser Seelen-Frage verwechseln wir Menschen bei all den überbordenden Optionen einer möglichen Antwort, die uns das Leben anbietet, das sogenannte „Glücksversprechen“ mit unserer Seelenruhe. Was meine ich mit „Seelenruhe“? Hierzu möchte ich, weil’s treffender von mir kaum zu formulieren wäre, den amerikanischen Therapeuten und Hirnforscher Daniel J. Siegel zitieren, dessen Arbeiten zum Thema Achtsamkeit und Gehirn meine buddhistische Psychologie des inneren Friedens maßgeblich beeinflusst haben: „Tief in uns existiert ein Gefühl von Ganzheit, das alles durchdringt. Während die Ereignisse in unserem täglichen Leben Reaktionen wie Sorge und Zweifel, Enttäuschung und Traurigkeit oder auch Aufregung und Überraschung, Begeisterung und Zufriedenheit auslösen, existiert unter oder über diese Reaktionen hinaus ein Gefühl von Fülle. Das beste Wort, das ich finden kann, um diese Empfindung auf den Punkt zu bringen, ist Seelenruhe.“ (Siegel 2010, Der achtsame Therapeut, S. 333) – der innere Friede, den ich meine und dem dieses Buch gewidmet ist. Dabei geht es nicht um Glück, sondern um den inneren Frieden. Dauerhaften inneren Frieden kann nur eine Verbindung mit der inneren Quelle unserer Energie garantieren, was bedeutet, dass wir vom Ursprung unserer Energie her gesegnet sind. Wir leben quasi Tür an Tür mit unserer eigenen inneren Heimat. Frei sein heißt in diesem Zusammenhang, wählen zu können, was uns universell umgibt und uns überhaupt erst ausmacht: die Energie im Innersten unser aller Gedanken, Gefühle, Körper, Seinsweisen. Dieser unverlierbaren Kraft in uns gewahr zu werden schützt uns vor den Illusionen alltäglicher Heils- und Glücksversprechen. Denn selbst das vielfach beschworene „Glück“ blinkt uns als Optionssignal zumeist eher unter äußeren Suchscheinwerfern auf und lässt uns unzufrieden zurück, statt in uns selbst entdeckt zu werden als Wirkung der inneren Ruhe. Der neue Job, eine neue Diät, das neueste Smartphone, das nächste Selbsthilfebuch oder gleich eine neue Beziehung, … – mit all diesen Ver-Suchen, glücklich(er) zu werden, verführen wir uns selbst zu Ersatzteilen unserer selbst. Was wir vermeintlich „draußen“ suchen, ist das, was innerlich in uns sucht. „Wenn wir doch bloß damit aufhören würden, immer glücklich sein zu wollen, könnten wir hier auf Erden eine ziemlich gute Zeit verbringen“, schreibt Russ Harris in seinem Buch über die „Glücksfalle“ (Harris 2009).

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Was uns durch schwere Zeiten trägt und über Augenblicke hinweg hilft, in denen wir morgens nicht aufstehen wollen, weil uns ein Tag voller schwerer, schwerster Schritte erwartet, das sind unsere Ziele und ihr Sinn. Und vor allem helfen uns hierbei unsere Werte, nach denen wir unsere sinnvollen Ziele oder den einen Sinn, auf den unser Leben zielt, entwerfen. Wir hören auf zu grübeln, wenn wir wissen, was Wert hat für uns. Wo unsere Werte anfangen, hören Begründungen des Denkens auf. Denn was uns wert und wichtig ist, das ist so. Punkt! Unsere Werte (wir kommen konkret auf sie noch zu sprechen) sind weder begründbar noch zu kritisieren, sie sind, was sie sind – perfekt. Hier ruht die Drehachse unserer Kompasse für die einzuschlagenden Lebensrichtungen. Hier liegt unsere emotionale Basis für alle Wagnisse. Wer in seinem Leben den Sinn und das Weite sucht, erhält Rückendeckung aus dem heraus, was ihm wert und wichtig ist. Dabei wirkt unser Wille zum Sinn wie ein Überlebenswille und besitzt damit einen Survival Value. Sinn beruhigt. Sinn macht gelassen. Sinn fokussiert. Sinn macht vor allem: Sinn  – gerade heute. Wir verlieren durch die zunehmende Rundum-­ Vernetzung unserer Digitalwelten zunehmend den Kontakt zu uns selbst. Wer innerhalb von einer Stunde knapp 20-mal ins Smartphone schaut nach fremden Informationen, versäumt knapp 20-mal, innezuhalten und hineinzuhorchen in das einzige Lebensgebilde, dessen Signale entscheiden, was wirklich Sinn für uns macht: unsere Seele. Denn der wichtigste Kontakt zu unserem Leben führt durch unser Inneres, durch den Körper, die Sinne, Gefühle, Stimmungen und Fantasien. The only way out is within. Die Digitalisierung unserer Kommunikation verhindert es, uns durch uns selbst berühren zu lassen. Dabei bedarf die Selbsterkenntnis unserer eigenen Nähe der Reflexion. Diese Nähe zuzulassen, ist jedoch nicht jedermanns Sache. Dabei ist jeder Mensch so etwas wie sein eigener Tempel, dessen Fundament und Säulen und sein Dach er dabei immer wieder selbst instand zu setzen hat. Auch das klingt erst einmal nach Mühe und Überwindung, als gelte es, Keller oder Dachboden zu fegen, was wir umso mehr scheuen, je häufiger wir dem bislang ausgewichen sind. Die besten Gebrauchsanweisungen, wie hier anzupacken ist, liefern die Erfahrungsberichte von Menschen, die Gelassenheit und inneren Frieden gesucht und dabei jedes Mal festgestellt haben, auf eine Leerstelle in ihrem Leben gestoßen zu sein: Wozu tue ich etwas? Auf was will ich hinleben? Was macht es für mich wert, weiterzumachen? Was macht Sinn für mich? In dem Augenblick, wo Ihnen das klar wird, beruhigt sich etwas in Ihnen. Ihre Energien werden justiert durch Sinn, auf den sich Ihre Aufmerksamkeit richtet. Sie spannen zu dem, was Sie täglich tun, einen Horizont auf, den Sie selbst, ob nah oder fern, ob weit oder eng, bestimmen können.

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Wir sind verantwortlich für unser Sein, das zu antworten hat auf seine je eigenen Möglichkeiten und das aufgefordert ist, zu antworten, was es aus sich selbst machen will. Der Mensch befragt sich hierzu selbst, was Sinn für ihn macht. Das mag abstrakt klingen, zeigt aber tagtäglich konkrete Wirkungen. Schon in der sinnvollen Größe eines einzigen Augenblicks lässt sich die Größe eines ganzen Lebens ermessen. Ein einziger Augenblick kann rückwirkend dem ganzen Leben Sinn geben. Allein für diesen Augenblick gelebt zu haben, rechtfertigt das Leben bis dahin. Das hat beispielsweise die Geschichte von Heinz Paffen gezeigt, dem solche sinnvoll erlebten Augenblicke, an die er sich erinnern konnte, aus seinem depressiven Tal herausgeholfen haben. Das, woraufhin der Mensch sich entwirft, entspringt dem, was er kann und was er will. In jedem Augenblick – und das macht unser Leben so spannend – können wir auf das hinsteuern, was wir zu sein beanspruchen, auf der Basis dessen, was wir zu leisten fähig und bereit sind. Diese Spannung zwischen Sein (Können) und Sinn (Sollen) wirkt wie ein „Gummizug“ des Lebens. Im Leben von Heinz Paffen war dieser Gummizug ausgeleiert. Er konnte viel und leistete viel, doch was er wirklich wollte, war aus seinem Bewusstsein verschwunden. Die Spannkraft auf ein Ziel hin, für das sinnvoll sich herauszufordern er täglich bereit gewesen wäre – die fehlte. Ihn zog kein Sinn, kein Stern mehr über die Routine und den Alltagshorizont hinaus. Das hat neurophysiologische Folgen für die Psyche, weil ungenutzte Energien, wie Forschungen festgestellt haben, häufig destruktive Denkprozesse mit u ­ nliebsamen Gefühlen auslösen, die wir als wirklich erachten. „In ruhigen Zeiten überfällt der Krieger sich selbst“, bringt es Nietzsche auf den Punkt. An diesem Tiefpunkt angelangt, spürte auch Heinz Paffen die fehlende Spannkraft seiner Arbeit. Von dort aus zog ihn früher jeden Morgen der Sinn seiner Auslandsprojekte an. Darum nahm er sich jetzt täglich vor, als wär’s ein Training zur Stärkung der Rückenmuskulatur, über seinen routinierten Komfort hinaus Dinge voranzutreiben. So entwarf er für seinen IT-Bereich Ziele, die ihn und seine Führungsmannschaft wieder motivierten, weil sie ganz neue Prozesse der Verkaufsabwicklung und damit einen innovativen Mehrwert für die Kunden ermöglichten. Das stetig, doch zu langsam florierende Internetgeschäft des Versandhauses barg hierzu echte Herausforderungen. Plötzlich zog Heinz Paffen tagtäglich etwas nach vorn. Schon frühmorgens nach dem Aufwachen spürte er eine Kraft, die über ihn hinauswies auf etwas, das er selbst ausgewählt hat. Was der Mensch zu sein beansprucht, sein zukünftiger Sinn, sollte über den bloßen Selbstbezug des Gegenwärtigen (also was ich gerade bin) hinausgehen. Der Mensch sollte sich überschreiten, erweitern, transzendieren können, für diese Herausforderung ist er geboren, für diesen Wurf über die

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Komfortzone hinaus ist ihm Glück (neurophysiologisch: das Dopamin der Erregung & Motivation) beschieden. Glück ist eine Überwindungsprämie. Und das heißt: Sinn-Dynamik vom Feinsten. Diese Lebendigkeit bedarf eines selbsterschaffenen Raumes, der uns in einen heilsamen Abstand zu uns selbst treten lässt. Diesen Schritt über uns hinaus nennt Nietzsche das „Pathos der Distanz“ und berührt damit eine menschliche Triebfeder, „jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst“, als „fortgesetzte Selbstüberwindung des Menschen“ (Nietzsche, Bd. 5, 1980, S. 205). Das mag anstrengend klingen, als ob ein Trainer uns zuriefe, wir sollten die Bergspitze im Dauerlauf erreichen. Und tatsächlich, Nietzsche lässt nicht locker und entbindet uns nicht von der Pflicht, uns beharrlich selbst weiterzuentwickeln in dem, was uns möglich ist. Und das erfordert eine Selbstüberwindung unserer eigenen Grenzen, die nur wir selbst uns setzen und damit überschreiten können. Begreifen Sie also Ihren selbst entworfenen Sinn als ein Strandgut Ihrer Zukunft, als Chance, die Ihnen neue Lebensmöglichkeiten offenbaren kann – und machen Sie was draus! Auf die alte – religiöse, kosmische – Sinnfrage „Warum leben wir?“ können wir mittlerweile getrost verzichten, ohne durcheinanderzugeraten. Doch die Frage „Wie sollen wir leben?“ ist dagegen unverzichtbar in ihrer Herausforderung, wollen wir mit uns selbst ins Reine kommen. Dem Leben eine Richtung mit eigens positionierten Leuchttürmen zu geben, das ist der Heimatkurs der Seele mit einem in sich ruhenden Lot für den stürmischen Seegang des Alltags. Und seien Sie sicher, Sie werden eine Richtung und den Weg dorthin finden, sobald Sie sich entschieden haben und es wollen. Dazu werden Sie, auch in Anlehnung an existenzielle Lebensphilosophien, den pragmatischen Wert Ihrer Sinn-Gestaltung auf Ihr zukünftiges Denken, Fühlen und Handeln hin erproben können, indem ich Sie auf eine Art Trainingsfeld jenseits Ihrer Komfortzone begleite, wo Sie zu spüren bekommen, welche „Sinn-Muskeln“ in Ihnen überall schlummern. Und das bedeutet natürlich, üben, üben und nochmals üben.

1.4 D  er Mut – Impuls zu Selbsttreue, Wachstum & Siegeswille Die persönliche Wahrheit „Was will ich eigentlich wirklich?“ ist der Ursprung allen Mutes. Menschen, die genau wissen, was sie tun und wie sie handeln wollen, um sich selbst treu zu bleiben, erkennen Hindernisse, die sie davon abhalten könnten, als Herausforderungen an. Und meistens sind es mentale

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Barrieren im Kopf, auch „Innere Schweinehunde“ genannt, die unsere Komfortzonen bewachen und verhindern, über Gewohntes und Bequemes hinauszuwachsen. Betrachten wir dieses Bild genauer, dann kläffen unsere Schweinehunde uns selber an, sobald wir unsere Grenzen des Komforts überschreiten könnten in Richtung persönliches Wachstum. Den Preis einer solchen Unterlassungssünde, dem, was uns am Herzen liegt, auf Dauer untreu geworden zu sein, musste ja auch Heinz Paffen leidvoll lange zahlen. Ihn verließ der dazu nötige Mut, je öfter er Konfrontationen oder andere Herausforderungen vermieden hatte. Und je schwächer, weil ungeübter sein mutiger Selbstanteil wurde, umso unzufriedener und gereizter geriet Paffens Leben. Aber genau dort ist unser Mut gefordert, wo uns die Angst davon abhalten könnte, etwas zu tun, worauf wir Wert legen. Ohne diese Charakterfestigkeit versagt auf Dauer jedes System in Sachen Wachstum. Denn der Mensch ist ein Wesen, das sich – darin besteht unsere Freiheit – immer entscheiden kann, was es tut, um mit sich selbst im Reinen zu bleiben. Und das betrifft, wenn es um unsere Gelassenheit geht, vor allem unsere Treue zu uns selbst. Wem der Mut dazu fehlt, hadert, zaudert und wird unruhig und grübelt über all die Wenns und Abers diesseits und jenseits seiner Bequemlichkeit nach, zumeist mit dem Ergebnis, den vermiedenen mutigen Schritt mit irgendetwas rechtfertigen zu können: „Na ja, nicht so schlimm, Hauptsache, ich hab’ meine Ruh’, auch wenn ich nachgegeben und anderen das Feld überlassen habe.“ Was dabei auf der Strecke bleibt, ist unser Selbstwertgefühl. Das Hochgefühl der Selbstachtung, schreibt Camus in seinem Nobelpreisroman „Der Fall“, sei eine Triebfeder des Menschen, mächtig genug, „uns Haltung zu geben und vorwärts zu bringen“ (Camus 1984, S. 19). Der Mensch läuft oft weg vor der eigenen Berufung, dem eigenen Sinn-­ Entwurf und damit vor der Verantwortung, zu seinen Stärken und Möglichkeiten zu stehen, sie wirksam werden und damit sein Leben verändern zu lassen. Wie viele Menschen hocken jahrelang in ihren Vorzimmern herum und wagen es nicht, mit einer persönlichen Agenda ins eigene Chefzimmer vorzudringen? Die seelischen Symptome beispielsweise von Heinz Paffen sind regelrechte Strafzettel seiner wiederholten Unterlassungssünden: Er vermied es, sich selbst gegenüber anderen zu behaupten und einen achtsamen Umgang mit sich selbst zu pflegen. „Ach, dann stimm’ ich halt zu“, hatte er sich in so manchen Streitigkeiten innerlich zugeflüstert, wenn’s hart auf hart ging, vor allem mit dem Vorstand. Was wurde Paffen da nicht alles verwehrt etwa an strategischen IT-Innova­ tionen zum Online-Geschäft. Sein eigener Missmut ob seiner Harmoniesüch-

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tigkeit, den er geflissentlich herunterzuschlucken gelernt hatte, schmeckte jedes Mal bitter. Unser Verstand vergisst gerne solche Fahrlässigkeiten in Sachen Mut zur Selbsttreue. Die Psyche jedoch vergisst sie nicht. Jeder Mensch hat ein untrügliches Sensorium für solche Unterlassungen, eine Art Seelenwächter, der alles gewissenhaft notiert. Das Leben, schreibt der amerikanische Philosoph Waldo Emerson, ist voll von Gerichtstagen. Und ob wir wollen oder nicht: Stets wacht in uns die Achtung unserer selbst. Und irgendwann kommt für den, der das geflissentlich ignoriert hat, der Tag, wo hinter ihm die Zellentür zuschlägt: ein Gefängnis aus Ängsten, Zweifeln, Überdruss, Langeweile, Leere, Missmut. Aus solchen Schadstellen quillt ihm der eigene Modergeruch entgegen, die ungelüfteten Atemzüge seiner eingesperrten Chancen. Hierzu nochmals Waldo Emerson: „Alle Menschen sind weise der Anlage nach; aber nur wenige sind es in der Praxis“ (Emerson 1992, Von der Schönheit des Guten, S. 179). Und damit begehen wir mehr Unterlassungssünden unseren Potenzialen gegenüber, als wir uns je vorstellen können. Wir wissen viel öfter, was uns gut tut oder was uns schadet, als dass wir danach zu handeln bereit sind. Dieser Selbstbetrug rächt sich auf Dauer durch ein Gefühl, das bis zur Selbstverachtung reichen kann. Die wiederum verwehrt uns einen ­gelassenen selbstsicheren Blick auf das, was ansteht. Deshalb soll der Mensch, wenn es um ein gelassenes Handeln geht, festen Boden seiner Werte unter die Füße bekommen und hinaus ins Freie treten – ob da nun die Sonne scheint oder ein Gewitter herrscht, egal.

1.5 Wenn Risiko und Ungewissheit drohen Unser Handeln ist riskant geworden, weil uns häufig die (früher noch durch Traditionen, Religion oder Beruf gebotenen) sicheren Gründe fehlen. Aber was für Gründe sind das gewesen, die unseren Vorfahren Halt geben konnten? Was haben Traditionen, „Gott“ oder Berufe dem Menschen geboten zu einem sicheren Handeln? Handfeste Fakten, rutschfreie Wege oder zielsichere Ankunftsorte? Nein und nichts dergleichen im äußeren Umfeld. Was Generationen vor uns vielmehr möglich war, die Konzentration auf das, an was sie geglaubt oder was sie zu wissen vermeint haben, bleibt uns Nachgeborenen im Zeichen hypertechnischer Veränderungen verwehrt. Mit der unberechenbaren Schnelligkeit und einem häufig unvermuteten Wechsel unserer alltäglichen Wahrnehmungsreize fällt es dem Menschen immer schwerer, seinen Glauben an das, was gestern noch galt, für morgen ebenso aufrechterhalten zu können. Was früher in dem Glauben an Götter, Zünfte und Traditionen Halt

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gab, war immer auch die Gewissheit, morgen nicht schon wieder umdenken zu müssen. Auf was können wir dann in unseren sich wandelnden Umwelten bauen? Auf was ist Verlass? „Die Idee des Fortschritts ist eine wesentliche Bestimmung für das Risiko: Nicht die Tradition, sondern die Zukunft wird bestimmend für die Gegenwart“, schreibt der Psychotherapeut und Organisationsberater Arnold Retzer in seinen „Passagen“ (Retzer 2002, S. 283) und markiert damit einen fundamentalen Switch im Bewusstsein des Menschen. Was kommt, bewegt uns gedanklich mehr als das Gewesene. Damit quirlt permanent Unruhe aus unseren Denkgefäßen über die Zukunft. Nur, was genau lässt uns unruhig oder ängstlich werden? Hier entscheidet die Antwort auf eine ganz andere Frage: Herrscht innere Ungewissheit oder bloß äußere Unsicherheit? Diese Unterscheidung ist vielen Menschen nicht sofort geläufig und doch hilft sie sogleich, den Unterschied auszumachen: Ungewissheit drinnen oder Unsicherheit draußen? Schauen wir hierzu kurz auf ein Faktum der Gehirnforschung: Das Leben besteht zu zehn Prozent aus dem, was uns von „draußen“ an Sinnesdaten erreicht, und zu 90 Prozent aus dem, wie wir darauf „drinnen“ emotional und gedanklich handelnd reagieren. Das Gehirn ist hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Auf einen Input folgen ca. zehn Millionen neurologische Verbindungen (Spitzer 2004, S. 53). Das Bewusstsein jedoch kehrt das Verhältnis zwischen innen und außen durch eine Art Projektion um: Der Mensch glaubt demnach, das meiste passiere für ihn draußen („Es ist halt so, wie’s ist.“), und er reagiere nur darauf („Was soll ich da machen?“). Unser Denken verleitet uns zu der Ansicht, wir hätten den wahren Blick auf die Realität (draußen). Dabei ist unsere Sicht hinaus nur eine nach Gedanken (Theorie) konstruierte Wirklichkeit (drinnen). Wir erschrecken uns also bei allem, was draußen passiert, zumeist nur durch und mit uns selbst. Hier entscheidet auch, wie wir dabei innerlich „eingestimmt“ sind mit uns selbst. Zum Selbsttest (für 30 Sekunden): Was lösen Ihre Gedanken an die Zukunft mehr aus? Ruhe oder Unruhe? Alternativ: Was lösen Ihre Gedanken an die Vergangenheit mehr aus? Ruhe oder Unruhe? Und nun vergleichen Sie: Was obsiegt in Ihrer Aufmerksamkeit? Aus den vier möglichen Modulationen (Vergangenheit/Zukunft: beruhigend/beunruhigend) sticht bei fast allen Menschen zukünftiges Denken als Unruhefaktor hervor. Von Traditionen entwurzelt, schwankt der Baum des Bewusstseins leicht in alle Winde der Zukunft. In diesem Switch unserer Gedanken vom Ehedem zum Bald liegt das Problem unserer Unruhe und damit zugleich die Lösung zur Gelassenheit. Wenig stärkt uns das, was war, auf dem Weg nach vorn. Da Vergangenheit und Tradition schon längst nicht mehr ausreichen, um Gegenwart und Zukunft

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sicher zu erleben und zu gestalten, und die Zukunft zunehmend bestimmend wird für unser gegenwärtiges Handeln, sollten wir für diesen Fokus einen wesentlichen Unterschied beherzigen. Wer zu unterscheiden weiß zwischen dem, was er zu wissen glaubt, und dem, was ihm selbst-gewiss ist, differenziert zwischen Kopfkino und Selbstvertrauen: Zwischen Wissen und Gewissheit, zwischen Gedanken und Selbstwertgefühl, Kontrolle und Vertrauen – zwischen Denken und Sein – liegen die Welten seiner Lebenshaltung. Der Schlüssel zur Gelassenheit steckt in einem ganz bestimmt Drehmoment unseres Bewusstseins. Dazu ein Beispiel: Eines Morgens ließ der Personalvorstand einer Bank, für den ich bereits einige Coachings und Beratungsprozesse durchgeführt habe, telefonisch zu sich durchstellen und bat mich, in Absprache mit zwei seiner Vorstandskollegen einen Change Workshop für drei Bereichsleiter und deren sechs Abteilungsleiter durchzuführen. Innerhalb weniger Sekunden stieg meine Pulsfrequenz. Ich wusste, die drei Vorstandskollegen (zuständig für Finanzen, Risiko und Personal) fochten seit Monaten pressewirksame Kämpfe untereinander aus. Auf Nachfrage erfuhr ich, er und seine beiden Kollegen würden an dem Workshop „leider nicht teilnehmen“. Sogleich sank mein Puls wieder, und ich atmete beruhigt wieder durch. Doch dann verkündete mein Auftraggeber: Der Workshop sei innerhalb der Bank „ziemlich hoch aufgehängt“, da die Bank aufgrund heikler Asienmärkte die Bereiche umstrukturieren müsse und zwischen den betreffenden Führungspersonen „etliche Missstände der Beziehungsbelange“ den anstehenden Wandel „blockierten“. Mein Gesprächspartner hatte seine Erläuterungen noch gar nicht beendet, da geriet ich wieder in Aufregung. Mein Verstand war längst in den psychologischen Nebel der Aufregung geraten und damit beschäftigt, mich selbst zu beruhigen, weshalb ich kaum noch richtig zuhörte. Der Ärger der Bereichsleitungen resultierte aus dem Zwist der Führungsköpfe eine Etage über ihnen. Die Chefs der Chefs dürften beim Workshop auf keinen Fall fehlen. Aber darum geht es jetzt in unserem Beispiel gar nicht. Meine Balance war vielmehr aufgehoben: Nervosität wegen des Zeitdrucks („in zwei Wochen“), Aufregung wegen der Brisanz („hoch aufgehängt“), Unsicherheit aufgrund fehlender Erfahrungen („Du kennst die Bankbereiche ‚Risikoʻ und ‚Finanzenʻ zu wenig“) und natürlich auch Angst, den Kunden womöglich durch einen „Flop zu verlieren“, peitschten kreuz und quer durch meinen Kopf. Genau hier fehlte mir das besagte Drehmoment meines Bewusstseins zur Gelassenheit, der Schlüssel zur Unterscheidung zwischen innen und außen. Im Augenblick meiner Aufregung, des Vorstandes Stimme telefonisch noch am Ohr, konnte ich nicht gelassen reagieren. Das passiert schnell, wenn wir

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uns vor unseren eigenen Affekten selbst für dumm verkaufen (wie wir aus solchen Affekthypnosen herauskommen, dazu liefe ich später noch Beispiele und Übungen). Was hat mich denn so unsicher werden lassen? Von wo aus geriet ich in Unruhe? Welcher Reiz hat meine Aufruhe ausgelöst? Aber auch: Was hatte ich nicht auseinanderhalten können, das mich nun durcheinanderbrachte? Ich steckte fest zwischen Unsicherheit und Ungewissheit und hielt beides, hypnotisiert von der eigenen Nervosität, für eins (und nicht auseinander). Dadurch verwehrte ich mir selbst den Abstand von meinen Gedanken und Gefühlen und vermischte meine Gedanken mit dem Weltgeschehen draußen. Wer so (wie ich) auf Reize der Außenwelt (z. B. „… der Workshop ist ziemlich hoch aufgehängt“) reagiert, verwechselt leicht die innerlich gefühlte Ungewissheit mit dem berechneten Risiko draußen. Oder andersherum: Unser Selbstvertrauen basiert auf anderen Denkprozessen als unser Wissen über uns und die Außenwelt. Was ich zu wissen glaube über das, was auf mich zukommt (z. B. „Ich kenne mich aus mit dem Thema XY“ oder „Der Workshop in zwei Wochen beeinflusst mein Image“), ist nicht das, was mich selbstgewiss handeln lässt im Augenblick der jeweiligen Situation. Da beide Ebenen  – das Wissen und die Selbstgewissheit  – jedoch innig miteinander interagieren, bringen wir uns damit häufig durcheinander. Die Gleichsetzung von Wissen und Gewissheit ist so „falsch“, wie Öl und Wasser nicht eins sind. Diese Gleichsetzung bewirkt jedoch, weil sie allzu menschlich in unseren Gehirnprozessen kurzgeschlossen wird, eine Verwechslung von Risiko und Unsicherheit (die Ebenen des Wissens) mit der Ungewissheit und der Angst (die Ebenen des Selbstvertrauens). Was folgt daraus für unsre Gelassenheit? Vor oder in heiklen Situationen kann ich den jeweiligen Tatbestand als ein Risiko „richtig“ oder „falsch“ berechnen und damit auf der Ebene des Wissens Sicherheit oder Unsicherheit für mein Handeln kalkulieren. Ich muss nur begreifen, dass ich dabei mit meinem Verstand und seinen Sprach- und Rechenwerkzeugen hantiere. Wie ich dann auf die jeweiligen „Volltreffer“ oder „Fehlschüsse“ emotional reagiere, hängt jedoch davon ab, welches entsprechende Handwerkszeug meines Denkens ich gerade benutze. Was wir fühlen, ist meist eine Reaktion auf das, was wir denken. Auf der Ebene des Selbstvertrauens kann ich gelassen bleiben, weil ich mir und meines Wesens gewiss bin und in mir ruhe. Wer sich selbst akzeptiert und vertraut und weiß, für welche Werte er lebt, bleibt sich selbst gewiss, auch wenn unsere Gedanken vor oder in den jeweiligen Situationen uns Gefahr, Risiko oder Unsicherheiten suggerieren. Kennen Sie die Geschichte von So­ krates und dem Schierlingsbecher? Dieser wohl berühmteste Philosoph der

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Weltgeschichte (469–399 v. Chr.) fühlte sich von einem Wahrheitsantrieb beseelt, der in unserem Denken bis heute überlebt hat: „Erkenne Dich selbst!“ Damit zog Sokrates über die Marktplätze seiner Heimatstadt Athen und konfrontierte die Bürger mit dem Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Aussagen. Das brachte nicht nur Skepsis ins gewohnte Denken, sondern auch göttliche Wahrheiten ins Wanken und schlussendlich Sokrates dadurch vor Gericht. Die Anklage lautete: Unruhestiftung. Behauptete ein Athener zum Beispiel von sich selbst, er sei „ein guter Mensch“, so konterte Sokrates: „Was ist das: ein ‚guter Menschʻ? Und was Du jetzt auch antworten mögest – beweise es!“ Im Zeichen der Selbsterkenntnis hebelte Sokrates mit seinem weltberühmten Credo „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ das gewohnte Wissen der Menschen aus den Angeln ihrer Konventionen. „Was verstehst Du genau unter dem, was Du da gerade gesagt hast? Ich weiß es nicht. Weißt Du es? Dann beweise Deine Aussagen!“ Und im Laufe der daraus sich entwickelnden Dispute stellte Sokrates seinen Gesprächspartnern Fragen über Fragen, um gemeinsam Wahrheiten zu ergründen und zu klären. Damit wurde Sokrates unter den wissbegierigen Athenern zur Attraktion einer neuen Bewegung des Denkens. Diese Aufklärung im menschlich besten Sinne jagte den Politikern damals einen regelrechten Splitter in die verengte Optik ihrer Macht. Somit rief die Obrigkeit: Weg mit Sokrates! „Entweder Du lässt Deine kritischen philosophischen Umtriebe bleiben, lieber Sokrates, dann lassen wir Dich wieder frei, oder Du trinkst den tödlichen Schierlingsbecher.“ Ein Risiko höchsten Grades für den Angeklagten. Sokrates Gleichmut in diesem Augenblick hat Weltgeschichte geschrieben. Er sei sich gewiss, entgegnete er dem Gericht, nur um der Wahrheit willen leben, denken und handeln zu wollen, und deshalb wähle er lieber den Tod als eine Freiheit, die im Zeichen der Unwahrheit für ihn keine mehr sei. Seelenruhig hätte Sokrates, so die Augenzeugen des Geschehens, den Schierlingsbecher mit den Abschiedsworten ausgetrunken, die Zurückbleibenden müssten nunmehr – ohne ihn – mit der Unwahrheit weiterleben. Ihn aber, Sokrates, erwarte im Jenseits des beendeten Lebens weiterhin die Aufgabe, der Wahrheit zu dienen. Hier wirkt die Philosophie der Gewissheit pragmatisch: Stimmen wir im Augenblick des Handelns mit uns selbst überein, bleiben wir gelassen. Wir ersetzen dann fremde Maßstäbe des Denkens durch das Eichmaß des Vertrauens in unseren eigenen Selbstwert. Das lässt den Menschen unerschütterlich werden. Dazu müssen wir unser Bewusstsein schärfen für die Energien und Werte, die hinter unseren Handlungen stecken, auch wenn uns diese Handlungen – ja gerade dann – uns zeitweise zu schaffen machen sollten. Sokrates Liebe (grie. philo-) zur Weisheit(-sophie) wirkte als energetischer Kompass selbst im Risiko des Todes.

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Wir modernen Menschen, entlassen aus dem Sicherheitsgefüge fester Wertbezüge, fühlen uns oftmals zerrissen in uns selbst und schwanken zwischen Titan und Zwerg, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifel, zwischen Sicherheit und Verunsicherung, und treiben so haltlos zwischen Größenwahn und Selbstaufgabe umher. Dieses Schwanken, Schaukeln, Kippen löst in uns Ungewissheit aus, die uns wiederum schwanken, schaukeln, kippen lässt, und so fort. Dabei hängt unsere Gelassenheit von unserer inneren Einstellung ab. Überlegen Sie, was Sokrates im Augenblick seines nahenden Todes in sich hat ruhen lassen. Es war seine innerer Entschiedenheit, seinen Werten treu zu bleiben. Er hat die Gegenwart als seine freie Entscheidung begriffen und damit mögliche verpasste Entscheidungen („… vielleicht doch besser am Leben bleiben …“) abgewählt. Gewiss, Entscheidungen kosten viel, sie kosten letztendlich alles Übrige. Jede Entscheidung kommt einem kleinen Tod gleich, der Unmöglichkeit, noch weitere Möglichkeiten zu haben. Nervosität und Unruhe entstehen, weil wir innerlich keinen Verzicht zu leisten bereit sind nach der einmal ­getroffenen Entscheidung. Wir wollen mit unserer Wahl Übriges nicht abwählen. Damit bleiben wir unentschieden oder entfachen Wankelmut wie einen permanenten Schüttelfrost. Auch das jedoch bleibt unsere Entscheidung. Wir können nun mal nicht nicht-entscheiden. Der innere Wankelmut setzt zuerst das Wanken unserer Umwelt in Gang. Innen unklar, außen Gefahr. Der Chef erscheint als Feind, dem wir nicht trauen wollen, das Projekt wirkt in unserer Vorstellung als Szenario voller Risiken, der bevorstehende Besuch unserer Schwiegereltern geistert als Horrorfilm durchs Gemüt, im Vorstellungsgespräch verhaspeln wir uns zwischen Erwartungsdruck und Fehlerangst. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es gibt Risiken im Alltag, die haben mit unserem Mental-Kino nichts zu tun. Doch Risiken lassen sich berechnen und damit abwägen. Ob ich die Summe Geld beim Pferderennen oder Aktienkauf gewinn- oder verlustreich investieren werde, kann als Risiko berechnet, als Sicherheit jedoch nicht vorausgesagt werden. Sobald ich aber innerlich unschlüssig, zaghaft, labil, zweifelnd, zaudernd und damit unentschieden bleibe, wechselt jedes berechenbare Risiko durch unsere Fantasie ins Ungewisse. So halten wir uns lieber alle Türen weiter offen und eilen getrieben durch die zugigen Flure unseres Alltags. In dem Augenblick nämlich, wo wir die Zukunft mit in die Gegenwart einzuberechnen versuchen, verändern wie das Jetzt der Gegenwart, das nun riskant, unsicher oder ungewiss erscheinen kann. Durchschauen wir also dieses Spiel unserer Illusionen, dass nichts real und alles nur konstruiert ist, und machen gelassen den nächsten Zug!

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Literatur Camus, Albert (1984): Der Fall. Hamburg: Rowohlt Celan, Paul (1997): Die Gedichte aus dem Nachlass. Frankfurt: Suhrkamp Emerson, Waldo (1992): Von der Schönheit des Guten. Zürich: Diogenes Harris, Russ (2009): Wer dem Glück hinterher rennt, läuft daran vorbei. München: Kösel-Verlag Nietzsche, Friedrich (1980, Bd. 6): Der Antichrist. München: Dtv Nietzsche, Friedrich (ebd., Bd. 3): Die fröhliche Wissenschaft Nietzsche, Friedrich (ebd., Bd. 5): Jenseits von Gut und Böse Nietzsche, Friedrich (ebd., Bd. 6): Götzen-Dämmerung Retzer, Arnold (2002): Passagen. Stuttgart: Klett-Cotta Schnabel, Ulrich (2010): Muße. München: Blessing Siegel, Daniel J. (2010): Der achtsame Therapeut. München: Kösel Spitzer, Manfred (2004): Selbstbestimmung. Heidelberg: Spektrum Akademi­ scher Verlag

2 Die Herausforderungen

Was bleibt von all den Ängsten und Begierden, die mit deinen problematischen Lebensumständen verbunden sind und Tag für Tag den größten Teil deiner Aufmerksamkeit beanspruchen? Nichts als ein Strich zwischen Geburts- und Sterbedatum auf dem Grabstein, ein paar Zentimeter lang. Eckhart Tolle1

2.1 Der opake Überraschungsraum des Alltags Dem Menschen erscheint Unbekanntes ungewiss und beunruhigt ihn, wenn er sich selbst nicht vertraut und seiner unsicher ist. Dieses Selbstvertrauen, die Basis gelassenen Handelns, wirkt in uns als ein erfühlter Seinszustand jenseits unserer gedanklich vorgestellten Eigenschaften und bildet den Kern unserer Selbstgewissheit, wie wir denken und handeln. Fehlt dieses Gleichgewicht, so schwankt die Welt. Umgekehrt gilt Gleiches: Schwankt die Welt, verlieren wir leicht unser Gleichgewicht. Vielen Menschen droht ihr Selbstvertrauen als emotionaler Kontakt mit sich selbst mehr und mehr verloren zu gehen, weil uns der Trubel der Umwelt orientierungslos verführt. Stündlich befeuern Bild- und Sprachreize in Form von Anforderungen, Wahlmöglichkeiten oder Ablenkungen unser Gehirn, das gedanklich auf den Autopilot von Reiz und Reaktion geschaltet die emotionale Basis hierdurch  Tolle 2003, S. 35.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Hoffmann, Deine Freiheit, deine Gelassenheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25475-9_2

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verliert. Unser Gehirn hypnotisiert und verführt sich dabei selbst durch das Kopf-Kino unserer Gedanken. Wir sind so leicht zu irritieren, so schnell zu verletzen, so häufig nervös oder besorgt, weil das Gespür für uns selbst, dieses „ich akzeptiere mich so, wie ich bin“ im Strom der Kognitionen verloren geht und so keinen Schutz der inneren Gewissheit mehr bieten kann. Abstandslos kleben wir in unseren Identifikationen fest: „Ich bin (nicht) …, ich kann (nicht) …, ich habe (nicht) …, ich brauche (nicht) …, ich darf (nicht) …“ Und dann, plötzlich, beginnen die Turbulenzen um uns herum. Ein Streit bricht aus, Aktien schmieren ab, ein Termin platzt, der ICE fährt ohne uns los, die Waschmaschine streikt. Sekundenschnell feuern Unruhe, Ängste, Sorgen oder Ärger ihre Neuronen-Schüsse durchs Gehirn. Was uns aus der Bahn wirft, ist jedoch nicht der Knall draußen. Die Klammergriffe unserer Gedanken entziehen uns den Boden selbstgewissen Vertrauens und lassen uns zittern, sobald der Alltag unseren Erwartungen nicht entspricht oder das Telefon klingelt. So driften wir ab und leiden gedanklich am Narzissmus der kleinen Differenzen: „Das darf doch nicht wahr sein!“ – „Total schlimm ist die Sache!“ – „Das geht schief!“ – „Nicht das schon wieder!“ – „Ich bin erledigt, wenn das geschieht!“ Manche Menschen laufen mit einem „Ich-hab-nur-noch-einen-Nerv-und-denraubst-Du-mir-gerade“-Ausdruck durch ihr Leben in der Hoffnung, unterwegs bloß nicht angesprochenen werden. Diese gefühlte Dünnhäutigkeit resultiert zumeist aus der Turboladung unseres Denkens. Wir überzüchten uns selbst mit unseren permanenten Interpretationen, die nur eines erreichen wollen: sicher werden. Und meist das Gegenteil erreichen: Verunsicherung. Sind wir zu einem Essen mit uns unbekannten Personen eingeladen, flimmern in unserem Kopf Stunden vorher Szenen auf, wer neben wem sitzt oder was warum zu wem wie sagt oder nicht sagt. Ruft uns unser Ehepartner an und entschuldigt sich, er oder sie hätte am Abend noch eine Verabredung, geistern in unserem Kopf Szenen möglicher Liebesbändel herum. Wird ein Auftrag kurzfristig storniert, beschwören unsere Gedanken Ist- und Sollzustände zwischen roten und schwarzen Kontozahlen. Die Liste solcher Kata­ strophen-Fantasien über das, was auf uns zukommen könnte, überstiege den Umfang einer Science-Fiction-Bibliothek. Das Wesen der Zukunft, und sei es „nur“ der kommende Augenblick eines bevorstehenden Gesprächs, ist ihr mögliches Unbekannt-Sein. Denn die „Zukunft“, das mag auf Anhieb unrealistisch klingen, „gibt“ es im Augenblick unseres Denkens einzig und allein als Gedanken. Was in der kommenden Minute passieren könnte, bleibt bis dahin Fiktion. Aber die ist in unseren Köpfen vorhanden und kann emotional als Zittern im Ungewissen erlebbar werden.

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Die plötzliche Unruhe im opaken Überraschungsraum unseres Alltags schreckt nämlich die einen auf, die anderen aber nicht. Wer im Moment der Unruhe (z.  B.  Androhung eines Verlustes, unerwartete Veränderung, Zeitknappheit) innezuhalten vermag, um bewusst wahrzunehmen, was an inneren Reaktionen (z. B. Angst, Unruhe, Stress) zur reflexartigen Tat (Impuls/ Ex-Puls) drängt, der bleibt bewusst gegenwärtig und agiert bedacht. Zukünftiges lässt sich nun mal nicht beobachten. Deshalb fällt es uns so schwer, im Augenblick der Ungewissheit dessen, was auf uns zukommt, einen handfesten Unterschied zum Jetzt der Ungewissheit beobachten zu können, der uns sicher werden und entscheiden ließe. Was uns vielmehr hilft, ist unser Blick auf das innere Geschehen, auf uns selbst. Mit einem heilsamen Innehalten, das Ihnen mit etlichen Übungen noch hinreichend erläutert wird, eröffnen wir die lautlose Lücke zwischen Reiz und Reaktion als eine unermessliche Stille in uns selbst. „Vergiss auch nie“, schreibt Marc Aurel, „dass jeder nur diesen gegenwärtigen Moment lebt. Die übrige Zeit hat er entweder gelebt oder sie liegt im Ungewissen. Es ist also nur eine winzige Spanne Zeit, die ein jeder lebt“ (Aurel 1973, S. 28). Für die „winzige Spanne Zeit“ des Hier und Jetzt, entspannt durch den inneren Abstand, haben wir Menschen in unserem Gehirn etwas entwickelt, das ich das Sinn-Zentrum des Lebens nenne. Von hier aus entwerfen wir diejenigen Unterschiede, die wir für ein selbstgewisses Handeln brauchen. Sobald wir einen Sinn entworfen, gesetzt und entschieden haben, können wir die „Zukunft“ als heilsame Differenz erleben. Ich habe in meinem Beratungen Menschen kennengelernt, die beim Verlust ihres Jobs oder anderen privat veränderten Lebensumständen völlig durcheinandergerieten und nicht mehr weiterwussten. Sie sahen nur die Trümmer direkt vor sich, aber nicht den Himmel über den Ruinen. Ihnen fehlte das, was diejenigen hatten, die unter gleichen Umständen zielsicher die Dinge anpackten, die sie weiterbrachten: Sie konnten dem, was sie taten, Sinn geben. Was diese Menschen aus heiterem Himmel überrascht hatte, brachte sie nicht durcheinander. Sie spannten über das, was sie tagtäglich zu erledigen hatten, ihren ganz persönlichen Horizont aus Sinn und Zielen auf. Uns Menschen ist vor Zigtausenden von Jahren diese Fähigkeit, mit ungewissen Herausforderungen überlebenssicher umzugehen, als „Gehirn-Muskel“ zur Sinn- und Zielvorstellung evolutionär antrainiert worden. Von den Höhlenmalereien über Riten aus Regentanz und Götterkult bis hin zu Mythenerzählungen und wechselnden Philosophien haben Menschen ihrem Leben stets einen geistigen Anstrich an Sinn verleihen können und den Überraschungsraum ihres Alltags immer wieder

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mit einer spannend entworfenen Zukunft überdacht. Leider versäumen wir häufig, uns da immer wieder fit zu machen, und sind dann, wenn’s drauf ankommt, für so manche Überraschungen des Alltags ungeübt. Gelassen mit einem „Unglück“, „Problem“ oder welcher Herausforderung auch immer umgehen heißt, mit diesen Tatsachen wie mit „Gewichten“ zu hantieren, wodurch wir unsere inneren Kräfte, unsere „Muskeln“ zum Leben entwickeln und stärken. Kein Auftrieb ohne Widerstand. Keine Kräftigung ohne Training. Mitunter ist es Schwerstarbeit, Unangenehmes zu akzeptieren, weiter vorwärts zu streben und dabei stärker zu werden. Doch dieser Weg lohnt die Mühe. Unsere verborgenen inneren Kräfte entdecken und erleben wir oft nur dann, wenn wir uns gegen Widrigkeiten behaupten. Und mit jedem Rückblick auf einen solchen gemeisterten beschwerlichen Weg entsteht ein inneres Lächeln, mit dem wir einsehen, wie gelassen wir Kommendem entgegenstreben können, sobald wir einen Sinn in unserem Tun erkennen können. Daher möchte ich Ihnen dieses Erbgut des Sinn-Entwurfs als Ihr persönliches Naturell zur Gelassenheit ans Herz legen. Wenn Menschen solchen Herausforderungen, mit denen sie persönlich wachsen könnten, ausweichen, dann meistens, weil sie glauben, Vertrautes mit Unbekanntem tauschen zu müssen. Das Unbekannte bedeutet Ungewissheit, und das erzeugt Angst. Und noch etwas hindert Menschen oft, Grenzsituationen offensiv die Stirn zu bieten: In solchen Augenblicken befällt den Menschen die Furcht vor der eigenen Größe. Nur ein Bruchteil dessen, was in uns steckt, reagiert auf die Überraschungen unseres Alltags, und dann meist nur mit alltäglich gewohntem Denken und Fühlen. Vergangenes „schreibt“ Zukünftiges gegenwärtig weiter. So erleben wir uns in jedem Augenblick mit bisher bewährten Selbstkonzepten. Und doch ahnen wir fast jedes Mal, wenn das Leben unvermutet schwierige Entscheidungen oder unverzügliches Handeln von uns abverlangt, welches Potenzial in uns steckt und dass wir zu weit mehr in der Lage sind, als wir glauben. Diese Ahnung der eigenen Größe erschreckt uns unbewusst mehr als der Überrumpelungseffekt von außerhalb. In unserem Leben sind wir zumeist uns selbst gegenüber unser eigener und eigentlicher Überraschungsraum. Was da alles in uns steckt an Fähigkeiten, Kräften oder talentierten Chancen, das ahnen wir zwar und spüren es, wenn oftmals ungeplante Lebenssituationen das herausfordern. Mit dieser unermesslichen Kraft in uns umzugehen, bedarf eines Selbstvertrauens, das, wenn’s drauf ankommt, mehr auf sich selbst als auf (alles) andere Rücksicht nimmt. Doch überlegen Sie einmal, warum Sie all Ihre intuitiv erspürten Potenziale, mit denen Sie neue Wege gehen und damit sich selbst und Ihr Umfeld überraschen könnten, im entscheidenden Augenblick dann doch nicht nutzten.

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Sind es nicht zumeist, Hand aufs Herz, Ihre geistig vorgestellten Befürchtungen und Ihr Kopfkino an Konsequenzen, was das alles verändern, gefährden, herausfordern und in jedem Fall beeinflussen könnte in Ihren Beziehungen zu wichtigen Personen? Sehr häufig sind es gerade solche unterlassenen Chancen, die dem Leben eine Dauerstimmung ungelebten Wachstums verleihen. Der Grund: Menschen meiden in der Regel die unliebsamen und konfliktträchtigen Konsequenzen ihrer Autonomie zugunsten einer komfortableren, weil harmonischen Loyalität zu gewohnten Bezugspersonen. Doch wird Ihnen im weiteren Verlauf des Buches deutlich werden, dass es zum Überraschungsraum unseres opaken Alltags dazugehört, eben auch sich selbst mit allen Chancen und Potenzialen auszuhalten und entsprechend  – ohne Selbstbetrug – zu handeln. Nur so kann mit jeder mutigen Entscheidung eine neue Geschichte gelassen beginnen.

2.2 H  errscht Ungewissheit, Unsicherheit oder bloß Risiko? Bisher habe ich, zugegeben in absichtsvoller Nachlässigkeit, nicht immer streng unterschieden zwischen Ungewissem und Unsicherem. Wir sind uns gewöhnlich mal nicht ganz gewiss, mal nicht ganz sicher. Und im alltäglichen Sprachgebrauch mischen wir das häufig. Das mutet ähnlich an und hängt nah zusammen – und meint doch Unterschiedliches. Gerade wenn wir gelassen bleiben wollen, in welchen herausfordernden Situationen auch immer, hilft es, unterscheiden zu können, ob in uns Ungewissheit oder Unsicherheit herrscht und was uns da verwehrt, innerlich ruhig zu bleiben. Ein Risiko beispielsweise nehmen wir bewusst auf uns und sind uns, weil wir die Sache nicht hundertprozentig berechnen können, unsicher. Meine Sicherheit hängt davon ab, ob mein Verstand verschiedene Kriterien abwägen kann: ob ich etwas dabei gewinne oder verliere, ob ich heil bleibe oder verletzt werde, ob die Sache gut oder schlecht ausgeht. Dabei muss mir klar bleiben: Ein Risiko lässt sich berechnen, aber nicht beherrschen, sonst wär es kein Risiko mehr. Angenommen aber, ein Freund informierte mich beispielsweise aus sicheren Quellen über ein für mich „gut“ ausgehendes Konfliktgespräch mit einem Geschäftspartner und lieferte meinem Verstand positive Prognosen, mit denen meine Unsicherheit verschwände. Spürte ich jedoch weiterhin Unruhe, Sorge, Angst, Nervosität oder dergleichen, dann handelte es sich höchstwahrscheinlich um meine innere Ungewissheit, weil ich mir selbst nicht vertraute.

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Das Risiko, auch wenn es sich nicht beherrschen lässt, ist gleichwohl qua Definition berechenbar, das Ungewisse hingegen bleibt bedeutbar. Dieser Unterschied ist einer ums Ganze: Ich kann, sobald eine Situation für mich riskant und die Zukunft unsicher wird, clever abwägen oder kalkulieren, damit ich sicherer werde, oder aber, unsicher bleibend, das Spielfeld einfach verlassen. Hier entscheidet, was ich berechnen und damit (vorläufig) wissen kann. Verspüre ich jedoch trotz aller Sicherheit gleichwohl innere Ungewissheit, dann erreiche ich wissend nichts mehr, sondern kann nur noch deuten. Dieser Zugang zu den Gründen meiner selbst, zum innersten Kernspektrum meiner Weltsicht, liegt jenseits zeitlicher oder räumlicher Berechnungen und damit jenseits des Wissens (und wird uns in den folgenden Kapiteln weiter beschäftigen). Da wir, wenn es um das Planen geht, in der Gegenwart die Zukunft bestimmen, ereignet sich, sobald ein Risiko für uns vorliegt, eine Art Zeitproblem. Risiken sind riskant, weil wir in der Gegenwart falsch gerechnet und entschieden haben könnten – auf die Zukunft hin, die es niemals aktuell gibt, sondern immer nur hypothetisch vorstellbar bleibt. „Risiko“, definiert es Arnold Retzer, „ist die gegenwärtige Antizipation zukünftiger Schäden, berechenbar in der Formel: Schadenshöhe x Schadenswahrscheinlichkeit“ (Retzer 2002, S. 284). Außerdem wächst mit der Höhe unserer Informationen und dem Zuwachs an Prognosen über die Zukunft unsere Unsicherheit über ihre Richtigkeit. Das lässt sich mit weiteren sicheren Daten auch nicht beheben. „Zu viel Informationen machen Entscheidungen nicht leichter, sondern schwerer“, stellt Reinhard Sprenger fest. „Wer alles weiß, handelt nicht mehr. Wer alle Spät- und Nebenwirkungen seines Handelns überblickte, wäre gelähmt. Deshalb bedarf es eines gewissen Tunnelblicks, um handlungsfähig zu sein, einer aufgeklärten Ignoranz“ (Sprenger 2012, S. 173). Es gibt in der Gesellschaft keinen Standort mehr, von dem aus sich ein Risiko steuernd vermeiden ließe, weil die Zukunft offen bleibt. Unsere „Sicherheit“ ist demnach niemals objektiv, sondern ein rein subjektiv kon­ struierter Zustand, der durch beobachtbare oder gedachte Konstruktionen von Unterscheidungen hergestellt wird. „Die schwarzen Zahlen meines Kontostandes machen mich absolut sicher, die roten verunsichern mich total“, erklärte mir einmal ein bekannter Fußballtrainer, der schon bei kleinsten Unregelmäßigkeiten außerhalb des Sportfeldes unter Panikattacken litt. In genau entgegengesetzter Richtung bekannte sich ein Tycoon-Typ von Devisenhändler: „Wenn sich vor mir der Abgrund von einem Millionenloch auftut, blutrote Zahlen wie die untergehende Sonne, dann bin ich voll da, fühl mich perfekt und absolut sicher, dann weiß ich: Hier fordert dich grad das Leben heraus!“

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Für beide Zustände (Unsicherheit/Sicherheit) gilt es also, sich gelassen klar zu werden, dass es nichts Objektives gibt, anhand dessen sich beide Zustände beweisen ließen. Unsere je subjektive Sicherheit gleicht daher einer wie auch immer riskanten Entscheidung, es so (und eben nicht auch anders) sehen (konstruieren) zu können. Wie ich was erwarte (oder befürchte), entscheidet über mein Gefühl der Sicherheit (oder Unsicherheit). Sobald ich mir bei aller denkbaren Sicherheit ungewiss bleibe, weil ich beispielsweise den Sprung ins kalte Wasser eines neuen Jobs nicht zu riskieren, eine kritische Bemerkung in einer öffentlichen Gesprächsrunde nicht auszusprechen oder eine mir unbekannte attraktive Dame auf einer Tanzveranstaltung nicht aufzufordern wage, dann liegt es höchstwahrscheinlich an meinem Selbstwertgefühl. Dann schätze ich mich selbst womöglich als „schwach, unfähig, minderwertig“ ein und untergrabe mit solchen Deutungen meinen Selbstwert. Der zwischen Risikooptionen Wankelmütige sucht und braucht somit einen Motivkanon, einen selbstgewissen Impulsgeber, um situativ sicher entscheiden und gelassen handeln zu können, und den findet er angesichts des Ungewissen einzig im inneren Lot des Selbstvertrauens. Dieses innere Licht meiner selbst reflektiert den selbst gewählten „Tunnelblick“ zielgewiss aus. Was auch immer uns aus der Haltung der Gelassenheit bringt, stets hängt an solchen Störfaktoren ein mentales Konstrukt unserer Gehirnarbeit. Unsere Gedanken an die Zeitbrücken, an das Zuvor oder Danach, zerren uns aus dem Augenblick heraus und machen uns kirre. Im Mittelalter beispielsweise lag den Menschen das Wort „Zukunft“ sprachgebräuchlich noch nicht auf der Zunge, weil es dieses Wort zur Markierung eines Zeitverlaufs noch nicht gab. Gedanken über die Zukunft, also zukünftiges Denken, waren nicht möglich, weshalb das Unsichere nicht gegeben war. Damals kamen umgekehrt die Dinge eher auf den Menschen zu („Ankunft kommender Zeiten“). Den Menschen selbst als verantwortlicher Gestalter der Zukunft, die zukünftig wirklich wird, gab es noch nicht und damit auch kein unsicheres Handeln-Müssen. Was da, schon vorbestimmt, ankommen wird, löste mehr Neugier und „Adventsstimmung“ aus statt Unsicherheit und Angst. Was ankommen wird, so dachten die Menschen im Mittelalter, das ist zwar schon vorhanden, doch nur noch nicht sicht- und erlebbar und hat denselben Realitätsgehalt wie die Gegenwart oder die abgelaufene Zeit der Vergangenheit. Damit lag dem mittelalterlichen Leben der Stress mit unsicheren Zukunftszufällen schlichtweg fern. Als die Zukunft dann im 15. Jahrhundert als Zeitbegriff regelrecht „erfunden“ wurde, entstand zuerst das Bewusstsein von Risiko (Retzer 2002, S.  285–286). Die Menschen blickten hinaus in denselben Alltag, nur mit einer gedanklich neu justierten Optik, die „hinter“ dem, was faktisch vorlag,

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zeitlich etwas einblendete, das als Option, als Möglichkeit aufgrund ihres eigenen Tuns passieren könnte. Damit erhielten das eigene Denken, Fühlen und Verhalten im Gedanken an die Zukunft eine Art Radarschirm ins Unsichtbare, Unfassbare, Unbegreifbare, das trotzdem wirksam wurde. Die Geburtsstunde der Unsicherheit ward geschaffen als emotionaler Effekt dessen, was wir heute als Gedankenkino bezeichnen würden. Unsicherheit existiert somit nicht im Hier und Jetzt, resultiert vielmehr aus dem Hinaus ins Bald, aus dem Vergleich mit anderem, aus einer gedanklichen Anzahl von Möglichkeiten, aus einem Zeitstrahl-Habitus der Fiktion. Panik, schreibt ebenso der amerikanische Philosoph Waldo Emerson, sei das „Zittern der Unwissenheit, die vor unserer Einbildung die Waffen streckt“ (Emerson 1992, S. 151). Denn wo wir nicht ergründen können, beginnen wir zu fantasieren. Unsere Blicke hinaus in den Alltag erzeugen dann allerlei Mutmaßungen, um dort Maß zu nehmen, wo uns der Mut zum Nichtwissen fehlt. Das können Sie jederzeit bei sich selbst erkennen, sobald Sie sorgenvoll, ängstlich, zweifelnd sind. Plötzlich jagen Gedanken hinüber ins Bald und voraus in die Zukunft. Nicht die Zukunft erzeugt unsere Ungewissheit, sondern die Ungewissheit, der sorgenvolle Gedanke, was gleich passieren könnte, erzeugt zuerst unseren Zeitgedanken „Zukunft“. Berichte über Naturvölker im Amazonas, die keine Worte und damit auch keine Gedanken für das Zeitintervall nach dem gegenwärtig gelebten Augenblick entwickelt haben und damit friedvoller und gelassener als der Rest der Welt durchs Leben kommen, belegen das eindrücklich. Im Augenblick achtsamen Tuns, das Sinn macht, gibt es keine Ungewissheit, keine Zukunft. Hier erinnere ich an die Gelassenheit Muhammad Alis im Augenblick seines Kampfes, sein entspanntes Tänzeln um seine Gegner herum, im Gewirr der Schläge hoch konzentriert mit Leib und Seele. Der Gedanke, was später auf ihn zukommen könnte, würde all sein Tun und damit seine Gewissheit zunichte denken. Stellen Sie sich Ihr tiefstes Selbstvertrauen und einen inneren Frieden vor und überlegen Sie, wie Sie in diesem Augenblick angesichts eines „schwierigen, unsicheren, sorgenvollen etc.“ Gedankens an die Zukunft emotional womöglich reagieren würden. Höchstwahrscheinlich stellten sich hierbei Ihre Neugier, Bereitschaft oder Zuversicht ein und ließen Sie wohlgemut und mit gelassener Haltung dem Zukünftigen entgegentreten. Selbstgewissheit löst Unsicherheit nicht auf, sondern geht sie gelassen an. Was folgt daraus für uns? Wir sollten umzudenken lernen angesichts unserer emotionalen Reaktionen auf das, was wir uns gedanklich selbst vorgaukeln.

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Statt zum Beispiel jährlich Scheinsicherheiten durch rationale Prognosen herzustellen, die weltweit Milliarden an Geldern verschlucken für eine Art Astrologie der Zahlen, sollten wir lernen, mit Risiken und Unsicherheiten gelassener umzugehen. Die Geschichten hierzu finden ebenso im Kopf statt. Nur, diese Geschichten folgen der Dramaturgie einer gelassenen Neugier. Nehmen Sie das Beispiel Internet. Das Internet ist als Netzwerk von Weltbezügen der unkalkulierbare Resonanzkörper schlechthin. Ein Hort von Möglichkeiten und Chancen und ebenso ein Ort von Unsicherheiten und voller Risiko. Das Beziehungsmuster zwischen uns und dem Netz spiegelt eine Option unseres idealen zukünftigen Weltbezuges wider. Wir sitzen sicher auf unserem Stuhl, umgeben von meist vertrautem Selbst-Mobiliar, und blicken durch ein Bildschirm-Fenster „hinaus“ ins schier unüberschaubar Mögliche. Unsere meist spielerische, neugierige, suchende und experimentierende Art, mit dem Web zu hantieren, ließe sich als eine Art Haltung zum Leben auf den Alltag übertragen, und zwar für diejenigen Situationen, die für uns augenblicklich nicht berechenbar unsicher oder unkontrollierbar sind. Dabei empfehle ich nicht, solchen heiklen Momenten des Lebens mit einer Haltung von gleichgültigem Leichtsinn oder unverbindlicher Oberfläche gegenüberzutreten. Ich meine vielmehr das flexible Denken, das uns Möglichkeitsräume eröffnet und Überraschungen als Chance begreift. Ein solches Bild-Fenster zur Welt, wo Dinge gerade schieflaufen oder sich der Kontrolle entziehen, kann unseren Blick über mögliche Unsicherheitsfaktoren hinaus weiten. Dazu sind wir fähig, wenn wir in uns ruhen und uns selbstgewiss fühlen. Die Gewohnheiten unseres Denkens verführen uns jedoch zu ganz anderen Haltungen. Allein die alltägliche Orientierung in hierarchischen Unternehmen suggeriert uns eine Scheinsicherheit, die wir, meist unbewusst, auf die Ereignisse innerhalb wie außerhalb der jeweiligen Firma übertragen. Und da hapert es meist mit Wenn-dann-Annahmen. Zwar mag der Chef hierarchie(und in den meisten Unternehmensgebäuden heute noch) stockwerksicher über anderen Menschen sitzen und ihnen per Vertrag auch mental quasi im Nacken, nur hat es sich damit auch schon in Sachen sicherer Ordnung. Was täglich tatsächlich passiert, ereignet sich jenseits hierarchisch suggerierter Berechenbarkeit. Dabei muss uns immer wieder klar bleiben: Wir sind in unserem nach Sicherheit suchenden „Anerkennungsblick nach oben“ unabdingbar geprägt durch unsere persönliche Erziehung, durch unsere Liebeswünsche und Strafängste, durch die Richtig-und -Falsch-Regeln kindlicher Lernerfahrungen. Hierin bleiben wir verführbar in dem, was wir von anderen erwarten und uns damit sicher fühlen lässt. Und genau das kreieren wir zum oftmals uneingestandenen oder nicht klar ausgesprochenen Anlass, uns selbst zu verunsichern. Wer zur eigenen Sicherheit etwas braucht, was andere tun oder lassen

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sollen, behält ein Problem. Wer solchermaßen zu Führungskräften aufblickt, sollte stattdessen, um nicht zu stolpern oder gar zu stürzen, sicherheitshalber hin und wieder einmal nach unten bzw. innen blicken, dort, wo er fest auf dem selbstgewissen Grund seiner eigenen Werte steht. Das Handeln in Hierarchien ist völlig unangemessen für meine Art und Weise, im globalen Netz zu handeln. Hier lasse ich innerlich los von kalkulierbaren Prognosen oder Erwartungen, wie wer oder was sich mir gegenüber verhalten oder „geben“ müsste. Hier schalte ich um auf Offenheit, Neugier, Flexibilität und Forschergeist. Hier schätze ich das Vage, das mir so oder auch anders antworten kann. Nochmals betont, ich proklamiere keineswegs die Unverbindlichkeit einer Netzkultur, sondern den Möglichkeitssinn von Denk- und Handlungsvielfalt. Dieser Sinn für Optionen erfolgt oft spontan aus dem Augenblick einer kreativen Neugier und weniger aus Gewohnheiten des Denkens heraus. In komplexen Netzwerken lässt uns die Intuition aufgrund von nicht erklärbarem Erfahrungswissen schneller und besser handeln und entscheiden als unsere Denkgewohnheit der Absicherung und Vorhersehbarkeit. Wir sind verstandesmäßig überfordert, sobald unsere Rechnung nicht gleich aufgeht. Dann sollten wir intuitiv offen Möglichkeiten ergründen, statt rational prüfen und begründen zu müssen. Wer frei von Konzepten in unsicheren Situationen spontan agiert, vertraut auf etwas, das von uns eine gewisse Stärke fordert. Wir müssen unseren eigenen Reichtum aushalten, nämlich das, was unser Alltagsverstand gewöhnlich nicht in Rechnung stellt, weil er nicht auszudenken wagt, frei, flexibel, offen und kreativ seine Schemas loszulassen. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen immer dort, wo sie Risiken im unsicheren Terrain oftmals sogar unvorbereitet gemeistert haben, über sich selbst hinausgewachsen sind. Es sind die ungebetenen Herausforderungen, die uns Menschen über unsere Komfortzone hinaus wachsen und uns selbst neu kennenlernen lassen. Der amerikanische Psychologe Richard Tedeschi, der langjährige Untersuchungen mit Krisenopfern durchgeführt hat, erklärt: „Niemand, der Schreckliches durchgemacht hat, behauptet, dass es toll gewesen sei. Und während der Krise hat auch niemand einen Gedanken daran verschwendet, dass man durch die Erfahrung wachsen könnte. Jeder hat einfach nur versucht, zu überleben. Aber im Rückblick haben diese Menschen mehr gewonnen, als sie jemals erwartet hatten“ (Tedeschi 1995). Und seine Kollegin, die amerikanische Psychologin Kathleen McGowan, schreibt hierzu weiter: „Jedes Mal, wenn ein Mensch in diese Situation des freien Falls gerät und selbst noch nicht weiß, was als Nächstes kommt, ergibt

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sich eine Gelegenheit für dramatische Persönlichkeitsveränderungen, für seelisches Wachstum. (…) Um sein Glückspotenzial voll ausschöpfen zu können, muss man durch bewältigte Probleme gereift, und das heißt in der Regel, mit dem Verlust zurechtgekommen sein“ (McGowan, ebd.). Das Glück solchen Wachstums ist eine Überwindungsprämie. Wir überwinden in solchen Situationen unsere Ängste vor irgendeinem Verlust oder dem Ungewissen, wir überwinden unsere Selbstzweifel, Skrupel oder auch unseren Harmoniezwang, aber wir überwinden in herausfordernden Erlebnissen auch – und vor allem – unsere Scheu vor unseren inneren Potenzialen, unseren inneren Stärken und Energien – unseren Reichtümern. Das persönliche Wachstum, von vielen ersehnt, wird zugleich gescheut, denn es bedeutet, uns oft ins innere Unbekannte vorwagen zu müssen, bedeutet, das Vertraute mit dem Unvertrauten auszutauschen, bedeutet also: Risiko, das wir uns selbst sind. So verkehrt sich unsere Wahrnehmung: Es gibt oft weniger Risiko draußen als dasjenige Risiko, das wir meistens uns selbst gegenüber sind. Der große italienische Philosoph und Psychologe Roberto Assagioli nennt das die „Furcht vor der eigenen Größe“, das „Vermeiden des eigenen Schicksals“ oder auch das „Weglaufen vor der eigenen Begabung“ (Assagioli 1998, S. 109). Jeder von uns hat diese Situation schon einmal erlebt, in der es um etwas ging, das unser weiteres Leben unwiderruflich verändern konnte. Wir spüren in solchen Augenblicken, dass wir damit auch die Konsequenzen zu tragen hatten, die allein der Freiheit unserer persönlichen Wahl und Entscheidung geschuldet waren. Dieses Wagnis, sich selbst gegenüber standzuhalten, indem wir unsere Kräfte aushalten, gehört zu den größten Herausforderungen unseres Lebens und zählt zugleich zum höchsten Risiko, vor dem die meisten Menschen aus Angst ausweichen (und das wir im Abschn. 5.2 ausführlich behandeln). Haben wir tatsächlich Angst vor dem Jobverlust, vor der Trennung, vor dem Konfliktgespräch, Angst vor der Dunkelheit oder der Zukunft? Nein! Wir haben Angst vor uns selbst und projizieren das als Risiko oder Unsicherheit auf unsere Umwelt. Ein Gedanke (Trennung, Konflikt, Zukunft) löst Angst in uns aus und bringt dadurch die Kulissen um uns herum ins Wanken. Dabei wird Angst zumeist als Mangel erlebt, der mir „sagt“, es würde mir in einem Zustand besser ergehen, der sich von dem jetzigen unterscheidet. Und was fehlt? Die Antwort markiert den Dreh- und Angelpunkt aller Gelassenheit: unsere Selbstgewissheit. Mir fehlt das Vertrauen in meine Kraft und den Mut dazu, mit deren Konsequenzen zu leben. Dadurch spüren wir die Ungewissheit in uns.

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Das Erleben des Ungewissen resultiert aus einem fehlenden prägnanten Unterschied heraus. Das ist für unsere Differenzierung von Ungewissheit, Unsicherheit und Risiko abschließend entscheidend. Wir erkennen uns und die Welt, indem wir beobachten und daraus gedanklich Unterschiede ableiten. Das Ich und das Du, oben und unten, gut und böse, heiß und kalt, Licht und Schatten und so fort. Mit solchen Bezeichnungen von Beobachtungsunterschieden ordnen wir Menschen unser Leben seit Urzeiten täglich immer wieder so, dass wir uns orientieren und miteinander verständigen können. Was passiert nun, wenn um uns herum alles soweit geordnet und gesichert scheint und wir uns dennoch ungewiss sind? Es fehlt etwas! Im Ungewissen „antwortet“ etwas in unserer Selbstbeobachtung, in unserer Art und Weise, uns selbst zu erleben. Dieses Etwas, das im Ungewissen Antwort in uns gibt, ist eine Art unserer inneren Justierung oder Auslotung. Fehlt dieses innere Lot, erleben wir Ungewissheit aus diesem Mangel heraus als negativ. Dieser Unterschied ist emotionaler Art und basiert auf einem vertrauenden inneren Frieden mit uns selbst. Dieses Selbstvertrauen inneren Friedens macht den Unterschied aus, der im Ungewissen entweder ganz fehlt oder, soweit wir uns selbst vertrauen, die Ungewissheit zumindest auszugleichen und zu heilen vermag. Fühlen wir uns in herausfordernden Augenblicken selbstgewiss (worum es in diesem Buch geht), wird Ungewissheit womöglich nicht sogleich verschwinden, doch wir nehmen sie in jedem Fall anders wahr. Wir nehmen Ungewissheit selbstvertrauend an und ermöglichen uns, innerlich zu wachsen. Damit möchte ich Ihnen das Ungewisse als Potenzialraum inneren Wachstums erfahrbar machen. Im Ungewissen spürt der Mensch eine Art Riss oder Leere in seinem Sein, und zwar jenseits aller Gedanken und erkennbaren Formen. Hier eröffnet sich im Menschen enormes Potenzial an Energie und Kraft, das jedoch häufig Angst auslöst. Warum? Weil wir Menschen uns oft nicht zutrauen, in dieses Kraftreservoir einzutauchen wie in ein inneres Meer der eigenen Fülle, weil wir es nicht kennen. Hier eröffnet sich zwar unsere Transzendenz zum potenziell Möglichen hin, jedoch  – und das erzeugt Angst – ohne unsere gewohnte Gedankenwelt. Was wir nicht benennen können, von dem glauben wir, es nicht zähmen zu können. Im Ungewissen stößt der Mensch an seine Grenze der sprachlichen Selbstreflexion. Hier versagt die gedankliche Essenz („Was kenne ich? Was stelle ich dar? Was habe ich? “ etc.). Stellen wir uns hierzu Sprache bildlich als umgrenzte Zone vor, in der nur erscheinen kann, was sprachlich fixierbar ist, beginnt dahinter ein Ort jenseits von Richtig und Falsch. Hier beschreitet der Mensch (bleiben wir beim Bild der Zone) seine innere sprachlose Transzendenz,

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gleichsam sein Übergang zur Existenz als Potenzial der Fülle. Erlebnisse wie ein Sonnenuntergang, Klavierstücke von Bach, Meditationen oder liebender Sex  – Erfahrungen tiefen Einssein mit sich selbst, das sprachlich nicht zu beschreiben und auch keiner Sprache bedürftig ist, um erlebt werden zu können – mögen diese Transzendenz als Überschreitung des sprachlichen Selbst annähernd verdeutlichen. Unsere Erfahrung des Ungewissen kann hierdurch eine neue Dimension an Wahrheit, Einsicht oder Selbsterkenntnis erhalten. Es kann uns zur Erfahrung einer tatsächlichen inneren Grenze zwischen dem erkennbar Bekannten („Essenz“:, Haben, Darstellen …) und dem unsagbar Unbekanntem („Existenz:“, Sein, Fülle …) gereichen. Existenzphilosophien (z. B. Jean-Paul Sartre, Martin Heidegger, Karl Jaspers) haben diese Grenzsituation zwischen Sag- und Unsagbarem als ein Inne- und Aushalten wahren eigentlichen Lebens erkannt. Im Alltag unserer konventionellen Sprach- und Handlungsmuster leben wir für gewöhnlich in einer selbst verschuldeten „Seinsvergessenheit“. Hier passen wir uns anderen an, weil wir Angst haben, unser Potenzial an Kräften individuell einmalig hervortreten zu lassen; wir scheuen vor der Fülle unserer Existenz zurück (lat. exsistere: hinausstehen, entstehen). Insofern bietet unser Leben mit all seinen Risiken, Unsicherheiten und inneren Ungewissheiten immer auch Gelegenheiten, uns mit ihnen – und eigentlich mit uns selbst – zu optimieren, indem wir uns solchen Grenzsituationen zuversichtlich stellen sollten. Jenseits unserer Ego-Gedanken von Richtig und Falsch gibt es ein Feld, das uns wachsen lässt. „Wenn dein Leben nicht länger vom Ego beherrscht wird, wird das psychische Bedürfnis nach äußerer Sicherheit, die ohnehin eine Illusion ist, schwächer“, schreibt Eckart Tolle. „Dann kannst du mit der Ungewissheit leben und genießt es sogar. Sobald du dich mit der Ungewissheit wohl fühlst, eröffnen sich dir ungeahnte Möglichkeiten im Leben. Zum Beispiel ist Angst kein dominanter Faktor mehr bei allem, was du tust, und hält dich nicht mehr länger davon ab, notwendige Schritte zu ergreifen, um etwas zu verändern. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus beobachtete sehr richtig, dass ‚das Sicherheitsbedürfnis jeder großen und edlen Tat im Wege stehtʻ. Wenn dir Ungewissheit unerträglich ist, verwandelt sie sich in Furcht. Wenn du sie bereitwillig annimmst, schenkt sie dir eine Steigerung deiner Lebendigkeit, Wachheit und Kreativität“ (Tolle 2005, S. 284). Gelassen wird, wer die Ungewissheit in den Bereich des Risikos überführt, sich dabei selbst vertraut und den freien Fall als festen Boden erlebt.

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2.3 Angst macht selten klug „Unsere tiefste Angst ist nicht, unzulänglich zu sein. Unsere tiefste Angst besteht darin, grenzenlos kraftvoll zu sein. Es ist unser Licht, das wir fürchten, nicht unsere Dunkelheit. Wenn Du Dich klein machst, hat die Welt nichts von Dir. Zusammenschrumpfen, nur damit sich andere in unserer Gesellschaft nicht unsicher fühlen, hat nichts mit Erleuchtung zu tun“ (Williamson, „Rückkehr zur Liebe“). Als ich diesen Gedanken der amerikanischen Meditationslehrerin Marianne Williamson vor vielen Jahren gelesen habe, half er mir, etwas in mir heilig sprechen zu können, das es immer und in jedem Fall wert macht, den Unmut der Welt und ihre zornigen Gesichter gelassen in Kauf zu nehmen, um verwirklicht werden zu können. Williamson bringt den ambivalenten Mechanismus zwischen natürlicher Kraft und gedanklicher Schuld wunderbar auf den Punkt. Und wodurch halten wir uns zurück, unsere Fülle an Energie und Kraft anderen gegenüber wirken und zum Ausdruck kommen zu lassen? Durch unsere Gedanken an mögliche Konsequenzen. In diesen Konsequenz-Geschichten stecken Skripte, die mit unseren natürlichen Kräften so viel zu tun haben wie das Öl mit dem Wasser, auf dem es doch nur schwimmt. Haben Sie schon einmal überlegt, wie viele gedankliche Voraussetzungen da drinstecken, wenn Sie glauben: „Tue ich A, reagiert der andere mit B“? Sie dehnen beispielsweise das Jetzt des Geschehens in ein Später aus – ein rein gedankliches Zeitkonstrukt. Zudem stellen wir uns, wenn wir so denken, die Partner, Kollegen, Mitarbeiter, Chefs oder Nachbarn zumeist getrennt von uns vor. Wir befürchten in solchen Szenarien, einsam, verlassen, abgelehnt, gemieden oder angegriffen zu werden. Dieses innere Wimmern, ‚Ach-hab-mich-doch-lieb!‘, macht Angst. Wir fühlen uns getrennt oder befürchten Verluste. Und was verlieren wir dabei tatsächlich? Unsere Möglichkeiten, Potenziale unseres Lebens auszuschöpfen – wir verlieren unsere Selbstachtung. Stattdessen entwerfen wir eine Art Schachspiel-Welt („Wenn ich den Zug so oder anders mache, passiert dies oder das“), verlassen somit den Augenblick und springen gedanklich in eine Zukunft, die es faktisch nicht gibt. Unsere Angst ist immer die Folge davon, wenn wir uns von unseren eigenen Kraftfeldern des Augenblicks trennen und gedanklich Zeit-Szenen fantasieren, mit denen wir uns in Zukünfte oder Vergangenheiten katapultieren. Wir ziehen das Streicheln Schlägen vor – um den Preis versäumter Siege. Und das nur gedanklich. Wer sich stattdessen entscheidet, zu bejahen und zu akzeptieren, was faktisch ist, reduziert, was nicht gelassen macht: Angst. Wir können die Wirkungen unserer Angst so lange nicht selbst kontrollieren, solange uns nicht klar wird, dass wir die Angst selbst erzeugt haben und

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an das glauben, was wir erzeugen. Darin gleichen wir einem halb blinden Schöpfer, der an sein Werk, das er schuf, als losgelöst von ihm glaubt, nur weil es existiert. Dann beginnen das Zweifeln, Grübeln, Zaudern, Wanken und Meiden. Das Grübeln, schreibt Nietzsche, versetze gerade durch das „Absurdeste seines Gebrauchs“ den Gegenstand, über den gegrübelt wird, in die „heiligste Heiligkeit“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 47). „Wo wir nicht zu ergründen wissen, lernen wir zu schaffen“ (Nietzsche, ebd.). Unser Gehirn werkelt in Sekundenschnelle eine Welt zurecht, deren Erschaffung im Effekt ihrer Plausibilität schlichtweg verschwindet. „Das Plausible lügt am feinsten“, ­schreibt der Philosoph Walter Benjamin. Und dann verschwinden wir selbst auch noch in unserem Werk aus Angst. Damit sind wir selbst verantwortlich für das, was uns Angst macht, für unsere Gedanken, Annahmen, Vorurteile, Schuldzuweisungen, Angriffs- und Verteidigungsimpulse. Solcherart distanzlos ins Machwerk unserer Gedanken zur Angst verschwunden, verlieren wir den Abstand zu unseren eigenen Konstrukten. Wir verlieren förmlich unser Bewusstsein für dieses Wie, für unseren Gedankenstil, der unser Leben ausmacht. Und wo wir das nicht bewusst wahrnehmen und uns Situationen nicht erklären können, wie sie durch unsere eigenen Gedanken überhaupt erst haben entstehen können, dort schaffen wir Fantasien der Ungewissheit, der Sorgen und Zweifel. Die Angst vor dem Unverständlichen, schreibt Nietzsche, ginge in den „Reiz des Schwerverständlichen“ über (Nietzsche, ebd.). Dieser selbst gebastelte Angst-Effekt löscht alle Effektivität der Reflexion aus und löst stattdessen Reflexe uralter Überlebensfragen aus: Freund oder Feind? Kampf oder Flucht? Gut oder böse? Stärker oder schwächer? Dabei bewerten wir emotional schneller, als wir die „Fakten“ zu sehen glauben. Deshalb „sind für unser Erleben die Fakten von den Werten nicht zu trennen: Die Werte sind immer schon da, wenn die Fakten sich endlich einstellen“, schreibt Manfred Spitzer, feststellend, dass diese emotionalen Fürs und Widers „im Gehirn mittels spezieller Module vollzogen werden und damit unabhängig von den Fakten sind“ (Spitzer 2004, S. 191). Hetze, Zeitnot oder „Sorgen über morgen“ und die bekanntlich damit verknüpften Stress- und Angstgefühle haben nichts mit einer scheinbar objektiv vorhandenen Zeit zu tun, die da auf uns zukommen wird, sondern allein mit verkürzten Blickwinkeln und Gedanken auf das, was ansteht. Wir vergessen unsere Sicht als unsere Sicht. Hier fällt mir die Geschichte des amerikanischen Schriftstellers David Forster Wallace aus seinem Buch „Das hier ist Wasser“ ein. Die geht etwa so: Schwimmt ein weiser alter Fisch eines Morgens in den Tiefen des Meeres zwei jungen Fischen entgegen und fragt: „Na, Jungs, wie ist das Wasser?“ Die

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beiden Jungfische schwimmen weiter, und nach einer Weile schaut der eine den anderen an und fragt: „Was zum Teufel ist Wasser?“ Achtsamkeit kann dem entgegenkommen und uns lehren, bewusst uns bewusst zu bleiben und unsere Sicht – „das Wasser“ – immer auch mit denken zu können. Und solange wir das Medium unserer Weltsicht nicht beachten und alles, was darin herumwirbelt, als (von uns) losgelöste Wirklichkeit begreifen, bleiben Ängste und Sorgen die Standard-Strudel unseres Lebens. Das wiederum mindert unsere Fähigkeit, Tatsachen bewusst als mit unserer Sicht (unserem „Wasser“) wahrgenommene Tatsachen zu begreifen. Denn Angst senkt unsere Urteilsfähigkeit rapide und lässt uns wie Fische an den Haken unserer Gedanken zappeln, die wir doch nur als Futter zum Leben begreifen sollten und nicht als das Leben selbst. Wie uns das gelingen wird, uns aus der Angstsicht auf das Leben im Augenblick des Geschehens herauszuholen, das werden Sie in den folgenden Kapiteln dieses Buches erfahren (insbesondere Kap.  5). Ein erster und zugleich fundamentaler Schritt, gelassen loslassen zu können von der inneren Angstmacherei, ist die Re-Flexion darüber, was wir eben nicht gesehen und begriffen haben, sobald wir bereits wieder am Haken hängen.

2.4 Erwartungsfallen und Identitätsverlust Je weniger wir am Selbst festhalten, desto freier und glücklicher werden wir.2 Matthias Ennenbach

Nichts, was echt ist, geht verloren. Diesem Kernkraftgedanken der Coolness spüren Sie einmal nach: Wenn Sie kurz Ihre Augen schließen und auf Ihren Atem horchen, dann werden Sie dieses Unverlierbare, das Sie von Geburt an bis zum Tod hin begleitet, spüren. Schließen Sie jetzt bitte Ihre Augen und folgen sieben Atemzüge lang (siebenmal ein-, siebenmal ausatmen) achtsam Ihrem Atem. Was Sie gerade verspürt haben (soweit Sie von Gedanken nicht wieder abgelenkt worden sind), wirkt pausenlos als Ihre Selbstnatur. Ihr Atem sichert Ihrem Leben seinen unverwechselbaren Rhythmus. Jeder Mensch ist echt, sobald seine wahre „Natur“ aus all dem Mess-, Denk- und Vergleichbaren hinaustritt, das uns zwar für einander verständlich, nicht jedoch verstehbar werden lässt. In unserem So-Sein jenseits des Verstandes erspüren und verstehen wir uns zutiefst selbst.  Ennenbach, Buddhistische Psychotherapie, 2001, S. 359.

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Doch genau da steckt die Falle allen Missverstehens und Selbstverlustes. Und womöglich haben Sie mit der kleinen Atemübung diese Falle bereits gespürt. Der Saugeffekt der Gedankenmaschine ist immens. Kaum verweilen wir achtsam bei unserem Atem – wusch, schon zieht uns wieder unser Denken fort: „Atme ich richtig?“; „Ich muss mich konzentrieren“; „Bin ich jetzt schon in der Selbstnatur?“; „So ein Quatsch, das Buch bringt mir nichts“; „Der Straßenlärm draußen lenkt mich ab“. In nur wenigen Sekunden mag die eine oder der andere von Ihnen möglicherweise die hypnotische Rasanz gedanklicher Verführung festgestellt haben, die so deutlich meist erst dann wird, wenn wir dazu achtsam einen Unterschied (z. B. das Atmen) erleben. Und jetzt stellen Sie sich bitte Ihren Geist inmitten Ihres gewöhnlichen Tagesgeschehens vor. Angenommen, Sie wurden bereits nach dem fünften Atemzug wieder angesaugt von Gedankenmustern, wie: „Ich muss mich konzentrieren“ (Erwartung) oder „Ist das jetzt meine Selbstnatur?“ (Identität), wie verführbar saust Ihr Geist dann erst in die Denkturbine, wenn der Wind von draußen kommt: Kinder quengeln Sie an, weil Sie …, der Partner beschwert sich bei Ihnen, weil Sie …, Kollegen fordern Ihre Hilfe, weil Sie …, Ihr Chef erwartet von Ihnen, dass Sie … Wer hält da Ihre Fernbedienung in der Hand? Wer lässt Sie nach seiner Agenda leben? Welchem Echo folgen Sie, das nicht Ihrem Ruf entspringt? Sie leben mit anderen, aber nicht wie andere. Geistige Unruhe resultiert oft aus dem Kampf mit fremden Blicken, Erwartungen und Bewertungen: Wer lässt sich durch wen warum und wozu beurteilen und verführen? Seien Sie gewiss (sonst hätten Sie bis hierhin gar nicht weitergelesen): Es geht auch anders. Die Gnade Ihrer Gelassenheit besteht für Sie darin, das eigene Denken kurz vergessen zu können. You never know. Die Kompetenz dazu wurzelt im Gewusel unterhalb unserer Schädeldecke, im millionenfachen Wunderwerk unserer Neuronen. Am Beispiel der alltäglichen Gefahr, durch übermäßigen Erwartungsdruck und daraus resultierendem Identitätsverlust mit unseren Energien auszubrennen, lassen sich die neuronalen Regionen, die im Fall des Burn-outs chronisch kurzgeschlossen werden, gut verdeutlichen. Burn-out-Kandidaten agieren im Dauer-Delay. Warum? Weil all ihre „Ich-bin-zu-spät“ und „Ichmach’s-nicht-gut- genug“ aus eigenen Erwartungsdrills resultieren, denen sie sich reflexhaft (und eben nicht reflektiert) ausliefern. Und wozu? Um die persönliche Identität (z. B. „Ich bin ein wertvoller Mensch“) mit Leistungsansprüchen abzusichern, die mit der Selbstnatur (s. hierzu die Atemübung S. 34) so viel zu tun haben wie ein Kondensstreifen mit dem Himmel; den meisten Workaholics suggerieren jedoch erfüllte Ansprüche zumindest eine Sicht von Höhe („Ich leiste doch so viel!“). Dabei hängt die Messlatte bloß wie die

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Möhre vorm Eselkopf und wirft stattdessen scharfe Schatten über jeder Handlung. Was hilft da heraus? Retreat & reflect! Abstand nehmen und nachdenken, und sei es nur für ein paar Sekunden. Den Anstoß hierzu spüren wir, wenn etwas in uns nervös oder aufgeregt reagiert. Dann gilt es, und hierzu bietet Ihnen dieses Buch genügend Übungen an, mit der Klarheit Ihres Bewusstseins die Engen des Denkens zu weiten und wieder ruhig zu werden. Wir sind dazu geboren worden, gelassen bleiben zu können. „Nur der Speer heilt die Wunde, der sie schlug“, schrieb Hölderlin einst sinngemäß. So retten wir uns denkend aus den Erwartungsfallen und wackelnden Ich-bin-Konzepten unserer Gedanken hinaus. Hierzu hält der Neokortex, Gehirnstätte unserer Gedanken, das Werkzeug unserer Reflexion parat. Gelassen damit hantieren zu können, wenn es turbulent wird, fordert allerdings, dass wir konsequent diese angeborenen „Gehirn-Muskeln“ trainieren. „Eine wesentliche Funktion des präfrontalen Kortex besteht damit in der Hemmung reflexhaften bzw. triebhaften Verhaltens“, schreibt Manfred Spitzer in seiner „Selbstbestimmung“ (Spitzer 2004, S. 166). „Ich kann die Zeit zwischen Input und Output überbrücken, etwas einschieben oder aufschieben, mich also von der Unmittelbarkeit des Augenblicks in meinen Handlungen lösen“ (Spitzer, ebd.). Diese Loslösung muss ich wollen können, und hierzu gilt es zu wissen: Wozu? Habe ich ein Familien-Picknick für das Wochenende geplant und ruft mich dann am Freitagnachmittag der Chef an, ich möge doch bitte zum Treffen mit der chinesischen Delegation morgen in der Filiale dazukommen, entscheiden Sekundenbruchteile, ob ich mir treu bleiben kann  – wenn ich es denn will. Unsere Gehirn-Muskeln im präfrontalen Kortex verfügen über die nötigen Bahnen dazu. Dieser Stirnteil des Gehirns weise, so Spitzer, „die deutlichsten Verbindungen mit Mandelkern und Dopaminsystem“ (Spitzer, ebd., S. 167) auf, also mit den im Gehirn tiefer liegenden Regionen, die uns signalisieren, was uns wert und wichtig ist. Machen wir uns also selbst mal wieder verrückt mit all unseren „Ich-mussund-soll-das-tun-um-das-und-jenes-zu-sein“, so können wir innehalten und dieses Hamsterrad unserer Soll-Ansprüche bewusst stoppen. Im Neokortex (vorderer Stirnteil) haben wir eine Gehirnfunktion, mit der wir uns besinnen, innerlich beruhigen und bewusst Kontakt zu unseren eigentlichen Werten aufnehmen können. Damit bleiben wir in jedem Augenblick unseres Lebens für uns selbst verantwortlich und „vor allem im Hinblick auf Bewertungen und deren langfristige Kristallisationen – Werte – zuständig“, so Spitzer (Spitzer, ebd.).

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Unsere Herausforderungen bestehen heute darin, gerade wenn es um Erwartungsfallen (eigene wie fremde) und einen dadurch drohenden Identitätsverlust geht, uns selbst – achtsam denkend – unterbrechen zu können. Hierzu haben wir alles, was wir brauchen, nur müssen wir achtsam gegenüber unseren eigenen Signalen werden: Was passt zu uns  – und was passt nicht? Das zu entscheiden ermöglichen unsere Werte. „Im orbifrontalen Kortex sind die Resultate vieler Bewertungsprozesse – sprich: Werte – langfristig gespeichert und sorgen für ausgewogene und repräsentationsbasierte (d. h. auch auf vergangene Erfahrung Rücksicht nehmende) Bewertungen“ (Spitzer, ebd., S. 179). Auf diesem kleinen Ausflug in die Hirnforschung sind wir erneut auf die drei Basisfaktoren gelassenen Handelns gestoßen: Welche Werte machen für mich Sinn? Habe ich den Mut dazu, mich selbst zu überwinden? Habe ich den Willen, auch konsequent danach zu leben? Und da wir tagtäglich einer dynamischen Komplexität (neudeutsch: Dynaxi) die Stirn bieten müssen, haben wir eben kein gott- oder schickalsergebenes Leben der Norm mehr zu durchleben, sondern ein möglichkeitsflexibles Dasein der Optionen. Die Suchmaschine hierzu ist unser eigener Geist.

Literatur Assagioli, Roberto (1998): Die Schulung des Willens. Paderborn: Junferman Aurel, Marc (1973): Selbstbetrachtungen. Stuttgart: Kröner Emerson, Waldo (1992): Von der Schönheit des Guten. Zürich: Diogenes Nietzsche, Friedrich (1980, Bd. 6): Der Antichrist. München: Dtv Retzer, Arnold (2002): Passagen. Stuttgart: Klett-Cotta Spitzer, Manfred (2004): Selbstbestimmung. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag Sprenger, Reinhard K. (2012): Radikal führen. Frankfurt: Campus Tedeschi, (1995): Trauma and transformation: Growing in the Aftermath of suffering., Sage-publications, Inc., 1995; zitiert auch in: Psychologie heute, Compact, Heft 32, 2012, S. 20, 21. Tolle, Eckhart (2005): Eine Neue Erde. München: Arkana Tolle, Eckhart (2003): Stille Spricht. München: Arkana

3 Die Werte der Gelassenheit: Sinn – Wille – Mut

Du fällst nie tiefer als in deine eigenen Hände. K.H.

Unsere Gelassenheit ist ebenso wie unser Selbstwertgefühl eine Konsequenz dessen, was wir wie tun – eine Wirkung unseres Handeln. Friedrich Nietzsche erklärt uns dann auch gleich zu Schöpfern unseres Tuns: „Die Tat erschafft den Täter.“ Mit diesem Paradigmenwechsel müssen wir auf kein innerliches Selbst, das allererst zu verwirklichen wäre, mehr warten, um auf ersehnte Auswirkungen im Verhalten hoffen zu dürfen. Das Verhalten ist eine der besten Drogen zur Gelassenheit unseres Selbstvertrauens, eine Droge zumal, die dem System unserer Psyche nur hinzufügt, was schon in uns steckt. Das ermöglicht eine Art Placebo-Effekt (placebo lat. Ich werde gefallen), der mit unserem Selbstglauben paktiert. Handle, und Du wirst. Deshalb auch befürworte ich, wo es sinnvoll erscheint, die Als-ob-Haltung, eine Art selbst gewählte Maske, die unser Sein mit kreiert: Hast Du Angst, tu einfach so, als hättest Du keine Angst. Dieser Überwindungsschritt gelingt uns Menschen am leichtesten, sobald wir wissen, was wir davon haben. Nach diesem W-h-i-d-Prinzip funktioniert unser Gehirn seit Urzeiten: Was hab ich davon? Dieser Effekt bewirkt in meinen Beratungen immer wieder ein tiefes Durchatmen. Zuvor zermürbt, verzweifelt, hoffnungslos oder mutlos, stecken häufig Menschen in ihren Problemschilderungen wie zwischen Trennmülltonnen ihrer Persönlichkeit fest, begleitet von Insuffizienzen wie „Schwäche“, „Machtlosigkeit“ oder „Unvermögen“. Dann stelle ich oft eine ganz einfache Frage, weil ich spüre: Etwas fehlt, und plötzlich geht ihnen Licht auf (das alle Müllabfuhren ersetzt). Der Mensch richtet sich auf, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Hoffmann, Deine Freiheit, deine Gelassenheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25475-9_3

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er atmet durch, hält inne, und seinen ins Weite gerichteten Blick umspielt nicht selten ein Lächeln. Was ist da im Menschen angesprochen worden? Ein Horizont, angestrahlt mit Sinn! Was war die Frage? Wozu wird Ihnen das, was Sie da problematisch beschreiben, bestens gedient haben, wenn Sie zufrieden zurückblicken werden? Ob ein Mensch seine sinnvoll vorgestellte Zukunft tatsächlich erreichen wird, ist dabei gar nicht so entscheidend. Viel wichtiger ist sein Gefühl der Lebendigkeit, das innere Erspüren eines (von Sprache kaum beschreibbaren) Seins. Hier atmet der Mensch tief durch, eröffnet sich eine Fülle von Möglichkeiten und gewinnt Abstand zu dem, worin er kurz zuvor noch festgesteckt hat. Der Sinn klärt unser Sehen und richtet uns auf. Wer weiß, wozu er lebt und was er dazu tut, handelt gelassen zielbewusst. Das Ziel, den Sinn, den Horizont vor Augen, bündeln wir unsere Kräfte und gewinnen, so dynamisch oder anstrengend der Weg auch sein mag, eine innere Ausgewogenheit durch das, was uns aus- und aufrichtet. Gelassen kommt von gehen und lassen: Abstand nehmen von dem, was uns behindert, loslassen von dem, was uns belastet, die Karten neu mischen für ein Spiel, das unseres ist, und somit gelassen woanders oder an gleicher Stelle anders weitermachen. Und damit dieser Prozess in Gang kommt, haben wir Menschen diese drei essenzielle Fähigkeiten mit auf den evolutionären Lebensweg bekommen, die uns gelassenes Handeln ermöglichen: Sinn erschaffen, mutig sein und wollen können.

3.1 Aufgewacht, Sinn – sag, wo’s langgeht! Das Erleben von Sinn ist seit Urzeiten in uns angelegt. Damit wir überleben konnten, hat unser Gehirn im Laufe von Hundertausenden Jahren neuronale Areale für ein geistiges Ereignis entwickelt, das wir „Sinn-Erleben“ nennen. Der Mensch besitzt seitdem die bedingungslose Sinn-Fähigkeit – er ist sinnträchtig. Bedingungslos deshalb, weil uns die Sinn-Gabe vom Leben mitgegeben worden ist wie der Blutkreislauf. Unserem Tun und Trachten Sinn geben ist eine Art der „Narration“: Wir fassen unsere Lebensgeschichte in Worte, um sie uns und anderen als eine bedeutungsvolle Ganzheitlichkeit erzählen zu können. Das Gehirn versetzt uns in die Lage, uns und anderen einen Reim auf uns machen zu können. Dieses Gut kann uns natürlich auch zum Verhängnis werden. Statt Gutes zu erzählen, verfangen sich Menschen in ebenso selbsterzählten Opferstorys eines dem Trübsinn geweihten Lebens. Solche Sinn-Fallen unserer Sprachbegabung arten derart aus, dass der Mensch beispielsweise lieber unter Trübsinn als unter gar keinem Sinn zu leiden gedenkt.

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Mit diesem Sinn-Erleben korrespondieren in unseren Gehirnarealen „Wertesysteme“, die als „neuromodulatorische Schaltkreise“ fungieren. Wo­rauf wir Wert legen in unserem Leben, das macht den Sinn für uns aus, und dieses Wertesystem lässt sich neurologisch messen (Siegel 2010a, „Wie wir werden, die wir sind“, S. 63). Der Mensch soll wünschen und auch so sein können, wie er es gewollt hat. Gelassen handelt, wer sich selbst Sinn gibt. Selbst schweren Tiefschlägen unseres Lebens gegenüber können wir gelassen bleiben, soweit wir den Ereignissen Bedeutung zu geben vermögen, die unseren gewünschten und gewollten Werten entspricht. Und weil uns das Leben keine Fragen stellt, sondern wir unser Leben selbst befragen, machen unsere Warums & Wozus nachweislich gelassen, wenn wir uns selbst die Ant­ worten geben. Andy Mühler brauchte oft lange, bis er antwortete. Häufig saßen wir beide minutenlang schweigend da, bevor er eine Antwort zu einer meiner Fragen fand. Herr Mühler hatte seinem Leben bisher keine Fragen gestellt. Der 50-jährige Zweizentnerhüne genoss in der Kreditkartenfirma den Ruf eines allwissenden Genies, seine Prozessabwicklungen von Kundendaten schnurrten Tag und Nacht an der Spitze deutscher Qualitätssicherung. Mühler zahlte dafür einen Höchstpreis. Wenn sein Bereichsleiter ihn morgens um Sieben vom Frühstückstisch aus anrief, flimmerten Mühlers Bildschirme ihm bereits seit einer Stunde mit einer der größten Zahlen- und Adressenlisten der Branche entgegen. Wenn sein Chef, dem Kontrolle im Arbeitsalltag wichtiger war als Vertrauen, vorm familiären Abendessen „seinen Mühler“ noch schnell am Handy strammstehen ließ, um Auslastungszahlen abzufragen, rieb sich Mühler vorm Bildschirmgeflimmer noch lange nicht die Augen. Er stellte seinem Leben keine Fragen. Nun kauerte der Koloss beim Coach aufgrund einer Burn-out-Diagnose auf der Couch. Andy Mühler hatte seine Seele nie befragt, ob’s ihr reichte. Seine Körperhaltung ließ zwar seine Stärke noch erahnen, doch sein Gesicht mar­ kierte eine Grenze: kein Weiter-so mehr. Tieftraurig, verzweifelt und ratlos, weil das, was ihm nun passiert war, so gar nicht in sein Selbstbild passte, schwieg er lange und ließ die Frage wirken: Was wird der Sinn von alledem gewesen sein? Zwischendurch flüsterte er kurz: „Ja, wozu das alles?“, und schwieg weiter. Mühler schien wie durch ein Fernrohr erstmals auf seinen Lebenskurs geblickt zu haben und dort, wo ein Horizont hätte sichtbar werden sollen, auf eine schwarze Leere gestoßen zu sein. All die Winde und Stürme, die zu nehmen er jahrelang gewillt war, hatten seine Seele richtungslos zerfleddert. Ungebunden wechselnde Energieantriebe laugen auf Dauer konsequent aus. Erst Him­ melsrichtungen, Horizonte oder Häfen lassen Winde zielgerichtet wehen. Menschen „mit kohärenten Narrationen haben breitere Toleranzfenster“, schreibt Daniel Siegel in seiner „Alchemie der Gefühle“ (Siegel 2010b, S. 265)

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und hebt damit unsere Fähigkeit hervor, starke Emotionen und Stimmungen in uns auszuhalten, wenn wir dem, was wir erleben, einen Sinn geben können (siehe Abschn. 6.2). „Eine kohärente Lebensgeschichte nimmt alle Sinne in Anspruch, von Kopf bis Fuß“ (Siegel, ebd., S. 270). Und wir besitzen diese Fähigkeit, uns auf sinnvolle Ziele zuzubewegen, aus einem einzigen Grund: Weil wir menschlich existieren. „Existenz“ beinhaltet vom Wortstamm her das Hinausgerichtet-Sein (lat. ex-sistere), das den gegebenen Zustand auf etwas hin überschreitet. Auf dieses angeborene Potenzial vertrauen zu können, kann helfen, gelassener zu werden, wenn sich uns Hindernisse in den Weg stellen oder wir mit unseren Denkbarrieren uns die Steine selbst in den Weg legen. „Sinngebung macht stark und flexibel“, bestätigt Siegel und erachtet es „für unser Wohlbefinden und Glück entscheidend“ (Siegel 2010b, S. 262), unseren Handlungen eine übergeordnete Dimension zu verleihen. Menschen wie Andy Mühler kreisen rastlos in und um sich selbst, wenn sie ihrem Handeln keinen Sinn verleihen können und letztlich den Sinn ihres Tuns – ihres Lebens – nicht gefunden oder verfehlt haben. Denn wie das Auge nicht dafür geschaffen worden ist, sich selbst zu sehen, so liegen das Glück und der Sinn des Menschen in der Hingabe an etwas, das über ihn hinausweist. Wovon der Mensch leben kann (Essen, Geld, Haus, Versicherung etc.), ist nicht das, wozu er leben soll. Die Psyche transzendiert sich auf den Sinn ihrer selbst hin und spannt hierdurch ihre Komfortzone zur Wachstumszone hin aus. Ohne Sinn-Entwurf degeneriert der Mensch zur Plattitüde einer DingFunktion. Was ihn zum Nicht-Ding macht, sein Wille zum Sinn, macht menschliches Handeln überlebenswert – sein Survival Value. Damit sind wir frei und schöpferisch genug, selbst verantwortlich zu sein für unsere eigenen Entwürfe, mit denen wir den Dingen Sinn verleihen können – ja: müssen! Andy Mühler blickte auf. „Ja, davor hatte ich immer Angst, genau davor.“ Er schien auf seinen blinden Fleck gestoßen zu sein, der zur schwarzen inneren Leere geführt hat. Eine kurze Betrachtung seines Lebenswegs klärte das auf. Der Vater hatte in der ehemaligen DDR Trabbis montiert und sein halbes Leben lang auf Anweisungen gewartet. „Was Vater wollte, sagte ihm sein Chef“, erinnerte sich Mühler und zog nun Parallelen. „Wenn Sie mich so fragen, was meiner Arbeit Sinn gibt, ich könnt’ Ihnen sofort sagen: Fragen Sie doch meinen Chef.“ Und was hat ihn davon abgehalten, sich die Antwort selbst zu geben? Wieder minutenlanges Schweigen. Dann: „Ich glaub, Angst davor, so was selbst zu bestimmen, so ganz ohne Rückendeckung. Und ich wär ja dann auch verantwortlich für all das, was dabei rauskommt, wenn ich selbst bestimme, was Sinn macht für mich.“ Mühler vermied den Eigen-Sinn aus Angst davor, selbst zu bestimmen, wozu er sich entscheiden will. „Lieber

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sag ich mir, es ist so, wie der Chef es sagt, und die Aufgaben sind, wie sie sind, da hab ich nicht viel Spielraum.“ Die Geborgenheit des Befehls betäubt des Menschen Wahlfreiheit. Die mächtigste Abwehr gegen die Bodenlosigkeit unserer Freiheit ist unser Glaube an eine „Realität“ so, wie sie uns in unserem Kopfkino erscheint. Da erleben wir z. B. den Vorgesetzten, wie er seine Akte auf unseren Schreibtisch knallt und ein paar Anweisungen gibt, und wir „filmen“ diese Szene als scheinbares Abbild dessen, „was draußen ist“, für uns ab. Dabei sehen wir im Kopf (Großhirnrinde) Bildabfolgen und vermeinen nun, dem Ablauf gehorchen zu müssen: Wir treten an, nicken ab, stimmen zu, arbeiten durch … – und etwas in uns stirbt dabei. Zwar glauben wir häufig, keine Alternative und damit keine Qual der Wahl zu haben („das Leben, der Alltag, die Partnerin, der Chef … ist halt so“), nur verbirgt sich hinter diesem Abbild unserer Weltsicht unsere Angst, mit eigenen Perspektiven antworten zu können. Wir haben immer die Wahl, so oder anders antworten zu können auf das, was „draußen“ passiert. Immer. Nur scheut die Psyche reflexartig davor zurück und sucht lieber im gewohnten Geschehen und Gebaren ihrer Routinen Schutz. Unsere Angst entpuppt sich damit als Schwindelgefühl der Freiheit, dem Leben selbst Sinn zu verleihen. Unser Geist beseelt sich selbst mit eigenen Sinn-Impulsen. Mit dieser Gabe sind wir für unser Leben ausgezeichnet. Wir können dem, was faktisch ist, Sinn verleihen, oder das, was noch nicht ist, bedeutend werden lassen, damit es für uns sinnvoll wird. Damit überschreiten wir den Abbildcharakter unserer Sicht der Dinge. Diese Freiheit der Sinn-Schöpfung, schreibt der Philosoph René Descartes in seinen „Meditationen zur ersten Philosophie“, sei „ohne alle Grenzen“ (Descartes 1976, S.  78). Und bisher hat es dazu in unserer Menschheitsgeschichte noch keinen Gegenbeweis gegeben. Dieser existenziellen Freiheit, unser Leben selbst bestimmen zu können, begegnen viele Menschen allerdings als eine Urangst, ähnlich grundlegend und tief empfunden wie eine Angst vor dem Tod. Jedoch: „Nichts in der Welt hat Bedeutung außer durch unsere eigene Schöpfung“, schreibt Irvin D.  Yalom. Der Mensch sei hiernach „vollständig verantwortlich für sein Leben, nicht nur für seine Handlungen, sondern auch für seine Versäumnisse zu handeln“ („Existentielle Psychotherapie“, S. 264). Um dieser existenziellen Freiheit zu entgehen, suchen viele Menschen woanders  – draußen  – Halt, Schutz, Struktur und Orientierung in bzw. an fremden Autoritäten, Süchten, Magien, Sekten, Zwängen oder anderen Abhängigkeiten. Sie konstruieren ihre Welt dann draußen so, als sei das Geschehen „draußen“ unabhängig von ihrem Freiheitspotenzial der eigenen Sinnschöpfung. Wer so lebt, wie es von anderen vorgegeben wird, lebt verantwortungslos seinen Möglichkeiten gegenüber und unaufrichtig gegenüber der inneren Autonomie.

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„Da hing ich früher schon fest drin, in Vaters ‚Lass-dies-und-mach-das!ʻ“, erinnerte sich Mühler, „und ich fragte ihn sogar, was er von meinen Freunden hielt, um mein Urteil abzusichern. Ging Vaters Daumen runter, tat’s meiner auch, und ich hab ‚tschüssʻ gesagt zum Freund. Wahnsinn.“ Mühler schüttelte nachdenklich den Kopf, und seine Augen wurden feucht. Noch sagte ich nichts, wartete nur ab. Ich spürte, wie Mühler nach Worten sucht für etwas, das innerlich bereits klar ist. „Nach der Wende, als ich nach S … zog, da erlebte ich diesen Schock der Freiheit. Auf der Uni wurde mir dann klar: Du hast falsch gelebt. Da wusste irgendwie jeder für sich, wo’s langging, nur ich stand oft wie blöd da und fragte rum, wo ich hin sollte. Echt irre. Hm …, geändert hab ich’s nicht.“ Was hatten ihm seine Kommilitonen damals voraus? Was machte den Unterschied aus? „Die sprachen von Zukunft und Zielen. Meine Freundin damals, wir lernten uns auf der Uni kennen, die studierte auch Betriebswirtschaft und die hatte immer vor Augen, wie’s später werden sollte. Die wusste, wofür das gut war, was sie grad machte. Ich weiß noch, fast jedes Seminar, das wir belegten, hatte für sie so’n Aufhänger der Zukunft. Es ging meist um Hilfe von Non-Profit-Projekten im Ausland.“ Andy Mühler schaute plötzlich auf und hinaus zu den Bäumen hinterm Praxisfenster. Was er dort sah, mochte vielleicht auch das Laub sein, doch er sah auch noch etwas anderes vor sich. Mir gefiel sein Ausdruck Aufhänger der Zukunft, und ich spürte, wie Mühlers Gedanken die Macht des Sinns eroberten. Der Mensch ist ein Wesen der Möglichkeiten, die er selbst wirklich werden lassen kann. Der Mensch belügt sich selbst, begeht Selbstbetrug, wenn er seine Möglichkeiten versäumt, seine Chancen vertut (verpassen kann schon mal passieren), wenn er – unaufrichtig – sich seiner Freiheit zu handeln beraubt. „In solchen Situationen wird deutlich, wie wichtig es ist, dass der Sinnbezug des eigenen Handelns auf einem inneren Referenzsystem basiert, das für viele Menschen eine ethische, werteorientierte und spirituelle Grundlage hat“, schreibt Markus Hänsel in seinem Buch „Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung“ (Hänsel 2012, S. 50). „Wer den Sinn des eigenen Handelns nur von seiner aktuellen beruflichen Funktion oder von der Bestätigung vom Chef oder den Kollegen erwartet, wird in eine Abhängig­keit von äußeren Referenzsystemen geraten. (…) Ein ausgebildetes inneres Referenzsystem von Werten stärkt dagegen Ressourcen wie die Kohärenz, Resilienz (Widerstandskraft, K.  H.) und Selbstwirksamkeit einer Person“ (ebd.). Diese „inneren Tankstellen“ hatten in Andy Mühlers Leben keine eigene Füllung, keinen Nachschub, keinerlei Pflege erhalten. Wie auch? An all den seelischen Hinweisschildern, die ihm signalisierten, wo er was hätte wie nachfüllen müssen, war er bislang achtlos vorbeigerauscht. „Puh, dazu war ich

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immer zu faul, mir hierüber ’n Kopp zu machen. Vaters Antrieb lautete ja auch täglich: ‚Genosse Vorgesetzte will …ʻ Das trichterte ich mir als Maßstab ein für das, was ich zu wollen habe. – Hm, klingt das komisch.“ Mühler hatte seine Fernbedienung in die Hände anderer gedrückt und wurde von dort her ständig mal hier hin, mal da hin gezappt. Nun gähnte ihn die eigene Sinnleere dieses Gezappels mächtig an, und er begriff, er musste selbst aufstehen und die Programme eigenhändig wechseln. Hierzu musste er die Programme zuerst in sich selbst entwerfen. Nun gehen bitte auch Sie einmal kurz in sich und überlegen, was Ihnen bisher alles möglich gewesen ist oder hätte werden können, und Sie werden bemerken, dass zumeist der erste Schritt zur Tat in Richtung Sinn der schwerste (gewesen) sein wird. Vor diesem alles Weitere entscheidenden Schritt, der die Weichen Richtung Zukunft stellt, weichen Menschen meist aus. Wozu? Um Schmerzen zu vermeiden, die uns plagen, sobald wir an die Grenzen unserer Komfortzonen stoßen. Das hatte auch Andy Mühler bislang zurückgehalten, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dabei bedarf es oft nur eines Winzigen, um Großes entstehen zulassen. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“ (Hesse 1986). Hierzu müssen Sie bereit sein, so wie Sie sich morgens die Zähne putzen oder zur Toilette oder zum einkaufen gehen. Es ist diese Bereitschaft Ihres Geistes, die weise macht – weil sie weise ist. Auch wenn es abgedroschen klingen mag, für gewisse Lebenssituationen kreiert die amerikanische Sprache den passenden Spruch: Just do it! Ihr SinnEntwurf sollte mit Ihrer Erwartungshaltung verknüpft sein, mit dem Anspruch, Sinn wirklich oder Wirklichkeit sinnvoll werden zu lassen. Unser Handeln können wir – eine Gabe des Geistes – durch das bestimmen, was noch nicht ist, durch den zu erreichenden Zweck, durch das von uns gesetzte Ziel. Oftmals folgt der Sinn aus unserem Blick auf die Welt, der einzigartig ist. Hierzu tätig werden heißt, das Angesicht der Welt verändern. Und das kann spannend werden.

3.2 K  ommt Sinn, kommen Gelassenheit & Sicherheit Das Leben fällt uns oft wie ein Dachziegel auf den Kopf, nur weil wir gerade vorbeigelaufen sind. Zufällig? Der Zufall wird im Nachhinein notwendig gewesen sein und fügt sich dann sinnvoll in das Leben ein und streift Zufälliges ab. Sobald ich dem, was ich gerade tue, Sinn verleihe, und wenn es das Tun als pures Tun ist, das ich in diesem Augenblick achtsam handelnd erlebe, so

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füge ich meiner Existenz Geistiges zu. Ich erobere mein Sein durch Sinn, durch ein selbst gebautes Dach der Transzendenz. Dieses Hinaus (lat. transcendere übersteigen) bildet das Haus meines Seins und meint kein Jenseits im Himmel. Wiewohl es himmlisch werden kann, wage ich, darin zu leben. Aufgrund meiner Existenz (lat. existere hinaus-stehen) ist es mir möglich, aus mir selbst heraus Sinn zu entwerfen und damit das Hinaus-Stehen meiner Sinngebung über das pure Dasein hinweg zu verantworten. Das erfordert natürlich von mir ein bewusstes Erleben meines Tuns und Denkens, ein aufmerksames Interesse an dem, was gerade mit mir (und anderen) passiert. In dem Augenblick, in dem Andy Mühler Stellung bezog zu seinen Ängsten und den Prägungen seiner Erziehung, zu seinem Körper und seiner Seele, zu seiner Partnerschaft und seinen Beziehungen im Büro, entdeckte er zugleich eine wertvolle Fähigkeit in sich. Sie sollte sich später als die Gelassenheit seiner geistigen Trotzmacht entwickeln. Die ärztliche Diagnose, ausgebrannt zu sein, hatte ihn hierzu mit der Wucht des herabfallenden Dachziegels aufgeschreckt. Gerechnet hatte er mit diesem Schmerz natürlich nicht. Dafür rechnete nun sein Leben von selbst mit ihm ab und zog gnadenlos Striche dort, wo er unachtsam kein Buch geführt hatte. Sein Vergleich mit damaligen Kom­ militonen, die wussten, was ihnen wert und wichtig war, sowie seine Erinnerung an seinen Vater, der dort, wo Wert und Sinn für Mühlers Seele hätten bedeutsam werden, stattdessen ein Vakuum hinterlassen hat, erschütterten ihn zutiefst. Was uns zugrunde gehen lässt, führt uns häufig auf unsere Gründe zurück. „Sobald ich ranklotze, spür’ ich nix, da robb’ ich wie ein Soldat unter Stacheldrahtnetzen im Schlamm. Aber sobald ich entspanne, kommt die Angst. Meine Frau hat das schnell rausgekriegt, die beschäftigte mich dann am Wochenende, so nach dem Motto ‚Repariere dies und besorge das!ʻ“ Mühler blickt auf seine im Schoß gefalteten Hände. „Wie ich mir das wünsche, zu wissen, was ich will, und das dann auch wirklich wollen zu können.“ Andy Mühler, das erspürte ich von Anbeginn unserer Beratung, trug seine Herzensgründe wohl in sich. Nur war sein Draht dazu gekappt, und so wusste er nicht, ob ihm überhaupt etwas am Herzen liegen könnte. Würden seine Werte und Motive ihm klar geworden sein, folgte daraus der ihm übergeordnete Sinn, dem Andy Mühler fortan treu bleiben wollte. Hier lag sein unverlierbares Potenzial gelassenen Lebens. Der Sinn, den wir unserem Handeln geben, sowie unsere Gewissheit, hinter dem, was wir tun, auch zu stehen, mindern die Angst, und das Handeln – das Sinn-Werden der Tat – verscheucht sie meist ganz von selbst. Diese innere Sicherheit des Menschen meistert die Unsicherheit draußen. Wir werden getragen von etwas in uns, das uns beschützt, weshalb wir Hilfe von außen

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nicht brauchen. Das reduziert zugleich die Ungewissheit äußerer Ereignisse (ohnehin nur ein Gefühl unserer Deutung) durch die Spannkraft des Sinns zum gegenwärtigen Zustand. Als könnten wir uns an einer Reck­stange, unsichtbar aufgespannt, hinaufziehen und ausrichten zur vollen Größe unseres gegenwärtigen Seins. Auf die Höhe der Stange kommt es dabei weniger an, aufrichten soll sie und unsere Lebendigkeit spüren lassen durch einen unverlierbaren inneren Halt. In jeder Stunde wartet auf uns Sinn, das Leben kann ein Sinn nach dem anderen sein. Diese Sinnmöglichkeit des Augenblicks, die Victor Frankl in seinem Buch „Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn“ die „Forderung der Stunde“ nennt (Frankl 1976, S. 157), kann das Leben zu einem gelassenen werden lassen. Wir müssen nicht großartig ins Zukünftige planen – allein das „Hier und Jetzt“ kann uns schon einen Sinn-Raum ohne Plangedanken an die Zukunft eröffnen. In dem Augenblick, in dem ich weiß, warum und wozu ich etwas wie tue, also welchen Sinn es macht, was ich wo gerade mache, beruhige ich mich, bin bei mir, ausgerichtet auf eben Sinnvolles, dessen Quelle in mir liegt. Spreche ich beispielsweise im Aufzug mit einem Kollegen, den ich reflexhaft fragte, wie es ihm so ginge, über dessen Picknickausflug am Wochenende, bin jedoch mit meinen Gedanken schon bei meiner Autowerkstatt, wo ich gleich meinen Wagen abholen soll, dann bin ich weder bei der reparierten Kupplung noch bei dem Eichhörnchen, das vom Baum seine Nuss in die Kaffeetasse auf der Wiese hatte fallen lassen. Und dieses Weder-hier-noch-­ dort spüre ich innerlich als Unruhe, Zerstreuung oder Fahrigkeit. Will ich das? Wollen Sie so (nicht) präsent sein in dem, was Sie gerade tun? Es liegt hundertprozentig an uns, ob und wie wir uns dazu entscheiden. Sinn als Präsenz unserer Geistesgegenwart können wir dem geben, • was wir gerade tun – hier entwickeln wir Kreativität; • was wir erleben als Begegnung oder Aufgabe – hier erfahren wir Commitment; • was uns als Leiden oder Schicksal herausfordert – hier zeigen wir Haltung.

Was bei alledem zählt, ist die mögliche Dimension dessen, was wir faktisch gerade tun, also inwieweit wir diesen Umfang auszufüllen wissen. Wie tief und intensiv ich mich meiner Erfahrung hingebe, entscheidet darüber, ob ich sie sinnvoll erlebe. In vielen Augenblicken unseres Alltags können wir so etwas wie ein Eichhörnchen entdecken – soweit uns der Sinn danach steht. Nur was, werden Sie einwenden wollen, erinnert uns im Alltagstrab daran? Hierzu tragen wir Menschen seit Tausenden von Jahren eine Instanz in uns,

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die als innerer Ruf aufzuwecken vermag: unser Gewissen – das unverlierbare „Sinn-Organ“ (Frankl 2002, S. 156). Der Auftrag des Gewissens ist es, jeder Situation einen übergreifenden oder augenblickswachen Sinn zu verleihen, der uns immunisiert gegenüber dem Gefühl des Ungewissen. Wer sich Sinn gibt, gibt sich etwas Gewisses aus dem Impuls des Gewissens, dem Leben Sinn schuldig zu sein, indem wir präsent und bewusst anwesend sind in dem, was wir tun. Der Kollege im Aufzug, wie jeder Mensch ein Wesen mit dem Geschmack von Persönlichkeit, eröffnet uns im Augenblick des Gesprächs ein einzigartiges Erlebnis. Es müssen gar keine Eichhörnchen mit fallenden Nüssen auftauchen, um aufmerksam bleiben zu können für sinnvoll erlebte Augenblicke. Wenn ich jemanden frage, wie es ihr oder ihm geht – worauf lege ich Wert? Wenn ich Lebensmittel einkaufe – worauf kommt es mir da an? Wenn ein Kunde mich anruft – worauf will ich da achten? Wenn mein Kind mich anblickt – wie will ich ihm begegnen? Schritt für Schritt eröffnet uns der Alltag Situationen, in denen wir mit solch einfachen Fragen aufmerksam werden für etwas, das uns antworten kann. Und weil unsere Energie sich neurologisch dorthin ausrichtet, wo unsere Aufmerksamkeit weilt, steuern wir so unsere Lebenskraft durch das, wonach wir fragen. Sinn ist biologisch fundiert und kann für uns zu einem „Schrittmacher des Seins“ (Frankl 2002, S. 226) werden. Er hält uns wach, er hält uns in Gang. Sinn hat Überlebenswert. Fehlt der Sinn – und sei es der Sinn der puren Sinnlichkeit im gegenwärtigen Tun –, können seelische Mängel wie Leere, Unzufriedenheit, Vakuum, Nervosität, Oberflächlichkeit oder Desorientierung aufkeimen. Das wiederum auf Dauer auszufüllen oder zu betäuben, wählt unsere Psyche Ausprägungen wie Sucht, Depression, Zwanghaftigkeit, Konsumgier oder Kriminalität. In solchen Ausprägungen vergegenwärtigt sich das gescheiterte Streben nach Sinn. Die elegante, weil legitime Form, die Sinnlosigkeit zu kaschieren, ohne als „krank“ oder „auffällig“ zu gelten, ist der Kon­ formismus: Tun, was andere tun. Hier hauste Andy Mühlers Seele ohne Heimat. Ihre stummen Schreie aus der Sinnleere hatte er bislang mit seinem Erfüllungsplacebo gestillt: „Der Chef will!“ Damit ließ er seine Seele in der Fremde ansässig sein. Wie kommt nun jemand wie Mühler zurück in die Heimat seiner Wünsche? Wie fasst ein Mensch wie er wieder Fuß auf dem, was ihn fortan unverlierbar trägt? Nur von dort her, wo der Mensch etwas wirklich will, weil es ihm wert ist, spannt sich der Horizont seiner Sinnentwürfe auf. Unser aller Leben beginnt mit Bedürfnissen und gründet darauf. Der Sinn muss hierzu passen, also zu dem, was der Mensch aus seiner Freiheit heraus, die Dinge selbst zu wählen und anzupacken, eigenverantwortlich bestimmt.

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Mit  der Sinnfrage reflektieren wir unsere Werte. Nur Achtung! Wie stark sind die Verführungen unserer alltäglichen Sinn- und Erklärungsmaschinerie, die uns zwar vieles plausibel oder notwendig erscheinen lassen, doch mit dem Sicherheitsgefühl, in dem wir uns wiegen, auch wieder in Fallen der Suggestionen locken. Hier fehlte Andy Mühler die Fähigkeit, Abstand zu nehmen zur Psychologik seiner Selbsteinredung: „… muss doch, wenn er’s so will, … dann isses halt so.“ Also aufgepasst: Widerstehen wir unseren Versuchungen so mancher Gewissheit, womit uns etwas erklärbar und plausibel wird. Menschen wie Mühler stimmen Erklärungen (eigenen wie fremden), die einleuchten, reflexhaft zu und laufen los. Doch oft sind sie nur Fallen aus Plausiblem – und das Plausible lügt, wie gesagt, am feinsten. Wenn eine Bedeutung von dem, was wir tun, von außen an uns herangetragen wird (Geschäftsführer zum Bereichsleiter: „Was ich Ihnen sage, ist die höher bezahlte Einsicht.“), dann kann sie uns von außen auch leicht wieder genommen werden. Dann haben wir die Unsicherheit in der Versicherung von Plausibilität gleich mitgepachtet. Denn gerade dort, wo wir verführbar sind, können wir irritiert und verunsichert werden. Was hier abhilft, ist Abstand gewinnen, auch und insbesondere zu unserem festen Glauben an die Sprache. Und diese Kunst der Seele ist ohne Alternative – Kunst im besten Sinne einer kreativen Fähigkeit, Leben zu gestalten, das sich von Genormtem heilsam unterscheidet. Unsere innere Sicherheit entsteht durch Re-Flexion, mit der wir Abstand nehmen von unseren Reflexen: Was lässt uns automatisch auf den eigenen Leim gehen? Was lässt uns reflexhaft reagieren und dann auf Dauer handeln, obwohl das häufig nicht in unserem Sinne ist? Mit der Sinnfrage heißt es also auch, Abschied nehmen zu können von gewohnten Mustern unseres Egos. Was uns im Leben oft unwillkürlich verführt zu reagieren, das sind nur wir selbst. Es gibt keine Verführung von außen. Um uns von den Reflexmustern in uns, die sinnvoll gelassenes Handeln vermasseln, verabschieden zu können, müssen wir sie in der Komplexität unser Persönlichkeit zuvor erst einmal erkannt und lokalisiert und damit demaskiert haben. Wir sprechen hierbei von einer „Des-Identifikation“: In dem Augenblick, in dem wir reflektieren, d. h. bemerken und erkennen, was uns warum und wozu psychisch an den Haken nimmt, lösen wir uns auch schon von dem inneren Anteil, der uns zu schaffen macht. Dadurch machen wir uns selbst gegenüber flexibel und gewinnen eine Über-Sicht über die Haken, Klemmen und Knoten in uns, mit denen wir uns dann schon nicht mehr identifizieren. Dieses Abstand-Nehmen ist ein wesentlicher Schritt zur Über-Schau über all das, was noch in uns steckt.

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Damit begreifen wir vor allem – und erleben sie häufig zum ersten Mal – unsere Freiheit uns selbst und unseren Persönlichkeitsanteilen gegenüber. Wir überschreiten ein Stück uns selbst und verlassen damit die Enge (lat. anagusta = Angst) mancher psychischer Strukturen.

3.3 Werde zu dem, was für Dich Sinn ergibt Näher an das Absichtslose sehnen wir uns menschlich hin; Laß uns lernen von der Rose was Du bist und was ich bin …1 Rainer Maria Rilke

Wir sind zur Freiheit verdammt und dazu verurteilt, keine anderen Gesetze für unser individuelles Handeln zu haben als unsere eigenen. Wir müssen, wollen wir aufrichtig uns selbst und anderen gegenüber sein, unsere eigenen Wege erfinden. Dieses Erfinden ist kein Hexenwerk und bringt vielmehr Ruhe in den Lärm unserer Suchprozesse und damit ein gelassenes Innehalten zur Reflexion für ein selbst gewähltes Handeln. Der Mensch erschafft sich jeden Augenblick selbst durch seine fortlaufenden Entscheidungen, die er aus seiner Freiheit, wählen und entscheiden zu können, permanent trifft. So erging es Erika Wegerich. Nach der Sitzung mit dem Geschäftsführer saß sie lange allein in ihrem kleinen Büro und grübelte, ob sie ihren Gruppenleiter tatsächlich abmahnen oder sogar, wie es ihr Chef unmissverständlich andeutete, am besten „rausschmeißen“ sollte. Ein Imageschaden sei für das Kreditinstitut entstanden, ausgerechnet in der Beratung eines Groß­ kunden, und sie müsse jetzt unverzüglich handeln. In Frau Wegerichs Kopf rotierte das Gedankenkarussell. Soll ich? Soll ich nicht? Wenn nicht, was hält dann mein Chef von mir? Und wenn ich meinen Gruppenleiter doch abmahne, was dann? Bin ich danach nicht das schwarze Schaf für seine Gruppe, die voll hinter ihm steht? Mache ich’s aber nicht, halte ich mich selbst für inkonsequent, denn vermasselt hat’s der Gruppenleiter ja schon. Andererseits, ihr Chef legt so viel Wert auf das Image seines Bereichs, dass ihm fast jedes „Opfer“ recht zu sein scheint. Aber dem einfach nachgeben? „Nein“, entschied sich Frau Wegerich, „dem will ich nicht so weit folgen. Darauf kommt’s mir nicht an.“ Aber was wollte sie stattdessen? Und sie spürte zugleich eine innere Wut über sich selbst, hier unklar und nicht für sich entschieden zu sein: Wo dem Tun Sinn fehlt, wächst oftmals die Aggression.  Rilke, Wie soll ich meine Seele halten, 1999, S. 13.

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Von diesem Gedankenwirbel nahm die Abteilungsleiterin in dem Augen­ blick Abstand, als ihr Nietzsches „Warum- & Wozu“-Aphorismus einfiel: „Wer sein Warum und Wozu kennt, erträgt fast jedes Wie.“ Worauf legte sie Wert und wie lautete hierzu ihr Ziel? Was waren ihre besten Erfahrungen, die ihr haben zeigen könnten, worauf es ihr ankommen soll in ihrem Leben? Welche Handlung, bezogen auf ihren Gruppenleiter, entsprach ihrem Wesen und ihrem Wollen? Welche Werte bildeten auf ihrem Weg die Leitplanken – zu welchem Ziel? Um das herauszufinden, musste sie zwar länger nachdenken, doch nicht lange suchen. Ein Erinnerungssprung klärte sie auf. Bereits in den verschiedenen Schulen ihrer „Jugendkarriere“, fiel es Erika Wegerich im anschließenden Coaching wieder ein, wurde sie häufig als Klassensprecherin gewählt, weil sie jedes Mal „Mumm“ zeigte, wenn es um eine gemeinsame Sache ging. „Was mich früher schon immer aufgeregt hat, war der Egoismus von Schülern, Lehrern oder Eltern, die Unfähigkeit, sich in andere Menschen reinzuversetzen. Damit erreicht man aber auf Dauer nicht viel, weil die andere Partei dann dicht macht und ebenso egoistisch reagiert.“ Empathie, Wertschätzung und Partnerschaftlichkeit wurden Erika Wege­ rich von ihren Eltern vorgelebt. Das gab ihr die Sicherheit von „Heimat-­ Wertgefühlen“. Und wenn diese Werte durch das, was andere taten, verletzt wurden, fasste Erika Wegerich früher schon entschlossen Mut, anderen zu helfen und sich selbst entsprechend zu wehren. Und auf der Basis der Partnerschaft zog sie die anderen Parteien immer mit ins Boot: „Was wollen wir gemeinsam erreichen? Worauf legt ihr und worauf legen wir dabei Wert? Wie sieht das Ziel aus, wo wir uns treffen können?“ Plötzlich gab es im Coaching einen Ruck, und das Gedankenkarussell hielt an. Der Wert „Partnerschaft“ lieferte ihr das gemeinsame Ziel für ihre Mitarbeiter, das Unternehmen und seine Kunden: eine vertrauenswürdige und empfehlenswerte Zukunftssicherung. Hier wurde ihr klar, den Grup­ penleiter musste sie sich tatsächlich vorknöpfen. Den Kunden hatte er wissentlich falsch informiert. Doch keineswegs sollte diese Konfrontation im Windschatten ihres Chefs und seines Image-Kurses geschehen. Sie wollte Empathie und Wertschätzung geben statt Egoismus und Brachial-Gehabe einsetzen. Irgendein Teufel musste den Gruppenleiter geritten haben, sonst hätte er als kundenerfahrener Berater nicht so gehandelt. Das wollte sie im Gespräch mit ihm erst einmal verstehen, ohne damit einverstanden zu sein. Und in der darauf folgenden Konfrontation, wie folgenschwer seine Beratung das gemeinsame Ziel verfehlt habe, musste ihm klar werden, mit Konsequenzen rechnen zu müssen, sollte das noch einmal passieren. Erst verstehen, dann verstanden werden, war ihre Devise. Damit, so hatte es Erika Wegerich oft

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erlebt, ließen sich die Dinge im Leben viel nachhaltiger bewegen und verändern. In dem Augenblick, als sie ihr Handeln von Zielen bestimmen ließ, die sie nach eigenen Werten ausgerichtet hatte, verspürte Erika Wegerich eine Ruhe und Ausgeglichenheit, die sie immer dann erlebte, wenn sie wusste, worum es ihr im Leben ging. Das vor allem ermöglichte ihr, gelassen und entschieden „Nein“ sagen zu können gegenüber den Erwartungen zum Beispiel ihres Chefs. Das gab ihr Gelassenheit und Kraft: Sich für die selbst gewählte Richtung entscheiden zu können auf der Basis persönlicher Erfahrungen. Wir sind damit wieder ins Zentrum des Willens und Gewahrseins von Werte-Impulsen vorgestoßen, wo der Mensch die Wahl hat, sich frei für ein Handlungsziel zu entscheiden. Was Erika Wegerich geholfen hat, aus dem Kopfkino herauszukommen und ihr eigenes Programm zu drehen, können wir tagtäglich üben: Mit einem solchen Werte-Willen klart unsere Selbstbewusstheit wie ein täg• Halten Sie inne, sobald Sie eine Diskrepanz verspüren zwischen fremden Ansprüchen und eigenem Dafürhalten. • Horchen Sie in sich hinein und werden sich Ihrer inneren Stimmen dessen gewahr, was Ihnen aus eigener Erfahrung für Ihr Leben wert und wichtig geworden ist. • Schöpfen Sie aus diesem inneren Werte-Gewissen Ihre Zuversicht, etwa wollen zu können, womit Sie Ihre Selbsttreue wahren. • Wählen Sie auf der Basis Ihrer Werte und in Abstimmung mit den alltäglichen Erfordernissen diejenigen Ziele, hinter denen Sie voll und ganz stehen wollen. • Entscheiden Sie sich für Ihre Wahl dieses Zieles und handeln Sie entsprechend konsequent. • Machen Sie sich darauf gefasst, gegebenenfalls „Nein“ sagen zu müssen, sobald andere Meinungen, äußere Ereignisse oder eigene Zweifel Sie abzulenken drohen. • Akzeptieren und begrüßen Sie so manchen Zusammenstoß gegensätzlicher Erwartungshaltungen als Crashkurs Ihrer Werte-Reflexion. • Genießen Sie jeden noch so kleinen Schritt auf Ihrem Weg zum Ziel als persönlich erfolgte Selbstwirksamkeit.

liches zweites Erwachen zur freien Flexibilität auf. Der Mensch ist bei allem neurologisch vorgeprägten Determinismus trotzdem frei zur Selbst­ dis­ tanzierung, zum inneren Abstand, aus dem heraus er frei wählen kann – zu jeder Zeit. Und hier liegt eine der wesentlichen Quellen unserer Gelassenheit – wir können wählen, weil wir frei dazu sind. Die Faszination dieser Freiheit besteht im Sinn-Entwurf, entgegen neurologischen Antrieben (von innen)

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einen Sinn, ein Ziel zu entwerfen, das mich (nach außen) anzieht, weil ich es (von innen) so will. Das setzt – wir behandelten es bereits – einen wesentlichen Unterschied der Freiheit in Aktion. Die Frage, frei wovon, muss aufgefangen werden durch die Antwort auf die Frage: Frei wozu? Und mit wem? Der innere Ruf des Gewissens sagt jedem, ob er das, was er tut, aus eigenen Stücken und von ganzem Herzen tut oder ob es nur wieder aus anerzogenem Fremderwartungsdruck heraus getan wird. Das Gewissen unseres Selbst drängt uns, etwas frei und selbstverantwortlich zu entscheiden und dafür auch geradezustehen. Genau dieser innere Ruf hat auch Erika Wegerich aufhorchen und ihr klar werden lassen, welche Werte und welche Menschen ihr am Herzen lagen und woraufhin sie sich damit in ihrer Arbeit konsequent ausrichten wollte. Diese Verpflichtung zum Herzensgrund macht zugleich deutlich: Die Freiheit, uns genau dafür entscheiden zu können, sollten wir keineswegs als Ungebundenheit missverstehen, was ein Zeichen von Unreife wäre. Sobald wir stattdessen verstehen: Keiner kommt, um die Last der Entscheidung abzumildern, wächst in uns die Reife inneren Commitments. Und das zieht Konsequenzen nach sich, die unser Leben bereichern.

3.4 Sinn entrollt, wozu wir frei sind Wir stecken oft fest, wenn das, was wir wollen, auf das stößt, was andere Menschen von uns wollen. Wenn es draußen dann gekracht hat, nennen wir das für gewöhnlich einen Konflikt (lat. konfligere zusammenstoßen). Doch häufig stoßen Menschen allein schon in sich selbst zusammen, sobald sie etwas wünschen und sich dann vorstellen, wie der andere darauf wohl reagieren könnte. Wir spüren einen Impuls, wollen damit raus und ran an den Alltag und zucken innerlich schon zurück, weil andere Überlegungen da­zwischenfunken. „Oh, … bestimmt fühlt der Partner sich angegriffen, wenn ich ihm sage, was ich will, … höchstwahrscheinlich denkt die Kollegin, dass ich ihr den Rang vermiesen will, … der Chef wird’s abbügeln, weil er sich von mir was sagen lassen müsste, … usw.“ Hierdurch passieren im Seelenverkehr die meisten Unfälle – lautlos. Nur, was passiert da eigentlich „wirklich“? Und was dann tun, wenn’s innen rummst, noch bevor es draußen gekracht hat? Unser Wollen, Wünschen und Trachten zirkulieren, sei es nun als Mutter oder Vorgesetzte, als Freund oder Autohändler, als Vereinskollegin oder Teammitglied in mentalen Netzwerken aus lauter Erwartungshaltungen umher. Was erwarte ich von anderen? Was wollen die anderen von mir? Und

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was vor allem erwarte ich von mir selbst und ebenso der andere von sich? In diesen Wirrnissen von Willenssignalen zerfasert gelassenes Handeln. Das Beispiel von Erika Wegerich hat gezeigt, in welcher Rolle sie ihrem Chef gegenüber festgezurrt und dadurch stagniert geblieben war. Was sie wirklich wollte, blieb verschüttet unterm Sollte. Dieses Sollen jedoch existiert nicht außerhalb unseres Denkens wie der Tisch vor uns oder der Baum im Park. Unsere Art und Weise, wie wir mit dem, was uns umgibt, umgehen, beruht auf Entscheidungen, die wir getroffen haben. Wir wählen, was wir wollen, und wir wollen, was wir wählen. Nur machen wir uns täglich zu selten bewusst, womit wir unsere Freiheit, wählen zu können, in jedem Augenblick unseres Lebens aufs Spiel setzen. Jeder Schritt, zu dem wir uns entschieden haben, beruht darauf, ihn frei gewählt zu haben – und sei es dazu, uns dessen nicht bewusst (gewesen) zu sein. Als immer wieder von uns auszuhandelnde Fiktion wirkt das, was wir Menschen voneinander erwarten, als mentales Koordinationsprogramm. Zwischen uns und all dem, was uns umgibt, liegt die Welt als Konstruk­ tionsmodell. Gerät dieses wertvolle Lebensprinzip, gestalten zu können, ins Hintertreffen gegenüber vordergründigen Erwartungsroutinen, gerät auch die Seele leicht ins Abseits und strauchelt. Dann neigen Menschen dazu, den Willen anderer zum Glücksgaranten ihrer eigenen Willensimpulse umzumünzen. Den solcherart selbsterkorenen Fremderwartungsgehilfen versiegt so langsam der eigene Saft. Verloren geht dabei die Selbstachtung samt ihrer Seelenruhe mit einer unheilvollen Konsequenz: Die Preise für solches Bravsein können auf Dauer ungewollte Depressionen einlösen. Glücklicherweise spürte Erika Wegerich, wie die Strippe ihres Chefs in eine Richtung zerrte, die sie aus dem Gleichgewicht ihrer Werte brachte. Das war ihr Warnsignal. Ihr Glück sollte nicht mehr vom Willen des anderen abhängen. Dazu musste sie etwas klären, und zwar ihr inneres Rollenmuster auf Basis ihrer Sinn-Fragen (s. o.). Wir Menschen bleiben durch Bezie­ hungsangebote verführbar – durch uns selbst wie durch andere –, solange wir den Reflex der Verführung nicht durchschauen. So plädiere ich gerade in beruflichen Situationen dringend für eine Entflechtung des Selbst-in-Rolle-Seins, also der oberflächlich unterstellten Identität des Selbst mit seiner Rolle. Wir sind eben nicht der „Hardliner“, die „Fürsorgliche“, der „Ja-Sager“ oder die „Rebellin“, sondern zeigen Ver­ haltensweisen, die dem entsprechen. Nur neigen wir Menschen dazu, aus dem Tun des anderen, sobald es sich mehrfach wiederholt, sogleich sein Sein zu machen, weil es einfacher ist, mit Festem statt Veränderbarem zu rechnen. Erwiesenermaßen entstehen aber Unruhe, Selbstzweifel, Sorgen oder Ängste sehr häufig, wenn Identitätsbildungen sich als Einbildungen entpuppen, die

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uns ungewollt zugeschrieben worden sind und abhängig gemacht haben. „Was geschieht, wenn der andere mich nicht mehr so sieht, wie er und ich es gewohnt waren, mich bisher (an)gesehen zu haben?“ Die Angst vor dieser Ungewissheit resultiert aus diesen Fixierungen des Menschen (Selbst) mit Etiketten (Rolle), die nicht seine sind und ihm, wenn es drauf ankommt, unverfügbar werden. Erika Wegerich wollte nicht mehr die firmenkonforme Haudegen-Frau „sein“ und wusste zugleich nicht, was danach kommen würde. Und genau damit wollte sie rechnen, mit dem Unberechenbaren ihrer beruflichen Umwelt. Diesen Preis des Ungewissen wollte sie zahlen, um die Rolle ihrem Chef gegenüber wechseln zu können. Um ihrer eigenen Seelenruhe willen musste sie hierzu mit ihm klären, was er von ihr und sie von ihm erwartete  – und vor allem: welche Ansichten sie von ihm und er von ihr in Sachen Führung hegte. Um solche Gespräche durchzuführen, die zu Beginn fast immer heikel sind, bedarf es Mut, der sich aber (fast ebenso immer) gelohnt haben wird. Denn ungeklärte Rollenmuster zwischen Menschen machen das Leben ungewollt schwer, weil menschliche Geschichten mit all ihren Wünschen und Ängsten ineinander wirken. Jeder fiebert, allein im Sessel und ohne Austausch mit dem Nachbarn, seinem eigenen Film hinterher. Hier zeigt sich einer der machtvollsten Zwänge menschlichen Miteinanders, eingeübt seit dem Tragen erster Kinderschuhe, die ja häufig auch den Blicken der anderen gelten sollen. „Was sollen bloß die anderen von uns denken?!“, mit dieser Standardfrage gesellschaftlicher Anpassung hypnotisiert und erpresst der Mensch zumeist doch nur sich selbst. Was die anderen tatsächlich von uns denken mögen, wissen wir so lange nicht, bis wir mutig nachgefragt haben. So lange lässt das innere Suchen nach bestätigenden Blicken keine Ruhe. Und das oft Fatale daran: Diese „Blick“-Suche kann so manche Nachtruhe rauben, weil das, was bestätigen soll, gar nicht von draußen kommen kann. Es ist der Eigen-Blick, mit dem der Mensch sich selbst zunicken möchte. Hier liegt die Schaltstelle ureigener Sinngebung, um klar nach außen blicken zu können. Nur werden Lebenssinn und Selbstbestätigung meist draußen gesucht, wenn in der Psyche Unklarheit darüber herrscht, wie und wodurch Eigenes von Fremdem zu unterscheiden ist. Erika Wegerich war jahrelang dem Fremdbild einer „strong lady“ hinterhergelaufen, in das sie sich regelrecht als suggeriertes Eigenbild verliebte, weil ihr dadurch etwas möglich wurde, was ihr ansonsten nicht ohne Weiteres gelingen wollte: durchzugreifen, ohne lange zu fackeln. Im Coaching wurde ihr auch klar, warum. Diese Rolle zog sie deshalb regelrecht an, weil ihr das in ihren Kindertagen als mögliches

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Verhalten nicht angeboten worden war. Und genau darin lag für Erika Wegerich heute die Gefahr ihrer Verführbarkeit, sich unbewusst in Rol­ lenmustern zu verstricken, um einen inneren Mangel auszugleichen. Denn soweit unser Selbst(-Bild) durch Rollenerwartungen von außen (z. B. Chef, Kollegen, Kunden) gesteuert wird, ohne dass wir innerlich dazu veranlagt sind, wird uns das geliehene Fremdbild für uns selbst unverfügbar bleiben. Das zu unterscheiden und scheinbar Eigenes als eingebildet und damit Fremdes zu entlarven, bleibt die große Aufgabe. Auch ich mache mir da selbst überhaupt nichts vor. Meinen Reflexen gehe ich häufig noch auf den Leim und bleibe, soweit ich unreflektiert nichts weiter unternehme, weiterhin verführbar und dadurch gefangen in Rollenmustern, die von außen etwas bedienen, was innerlich nicht verfügbar ist. Wir sind menschlich-allzu menschlich geschlagen, fixiert und festgezurrt mit einem neurologischen „Knoten in der Psychobiologie der Persönlichkeit“ (Ludewig 2002, S. 146), den wir als Charakterzug, Masche, Profilneurose, Tick oder wie auch immer szenisch präsent werden lassen und damit unsere Lebens­ bühnen reich und bunt gestalten. Auf- und herausgefordert, hier etwas zu klären, werden wir allerdings, wenn Rollen kollidieren und leiden lassen, weil von außen auf den Menschen Erwartungen projiziert werden (Selbst-inRollen), die zumeist eben nicht die seinen sind und ihn alleine lassen, wenn‘s drauf ankommt. Erika Wegerich begriff, hier musste sie konsequent mit ihrem Chef ihre Rollen entrollen und klären: „Was entspricht mir und was nicht?“ Das würde schmerzen, das war ihr auch klar. Aber: Das Leiden macht Sinn, wenn der Mensch dadurch authentisch und selbst-treu bleiben und sich mitunter neu begegnen kann. Und dieser Preis ließ Erika Wegerich wiederum zuversicht­ lich aus sich heraus nach vorne blicken. In vielen Beratungen, in denen es um die verlorene innere Ruhe und um die Heimkehr inneren Friedens geht, stoße ich immer wieder auf diese biologisch-­mentale (psycho-somatische) Konstitution der menschlichen Psy­ che, in der unsere Bedürfnisse und Wünsche, unsere Ängste und Sorgen sich wie Figuren in Rollen gebärden und einem Spiel unterworfen sind, das mehr den Rollen statt dem Innenleben der Figuren entspricht. Aufgrund einer solchen „Psychobiologie unserer Persönlichkeit“ (Yalom 2000, S.  265) wirkt diese implantierte Fremdsteuerung im Menschen wie eine panikmachende Zeitbombe. Beobachten Sie einmal Ihre Gedanken, wenn Sie sich sorgen, ärgern, ängs­ tigen oder beunruhigt sind. Meistens sind es Fantasien über Mitspielerinnen und Nebenakteure Ihres jeweiligen Rollenstücks, über deren möglichen

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Erwartungen oder Forderungen Ihnen gegenüber Sie sich Ihren Kopf ­zerbrechen und damit Ihre Ruhe rauben. „Welcher Akt erwartet mich in meiner Rolle als Nächstes?“ Diese Frage stellen sich Menschen zu 99,9 Prozent außerhalb der sie betreffenden Situationen. Dieser Sprung aus dem Jetzt in ein unsicheres Gleich wirbelt Staub auf. Sie wissen es einfach nicht, welcher Akt Sie als nächster erwartet in einem Spiel, das niemals festgeschrieben ist. Angesichts dieser Ungewissheit können wir uns nur selbst vertrauen und mit uns insofern rechnen, als wir Rollen und Akte selbst mit entwerfen. Und wir gewinnen alles Gelassene, wenn wir darüber hinaus lassen können von dem, was uns weiter nichts angeht. (Am Ende dieses Buches lassen Sie so ziemlich alles los, was Sie ohnehin schon lange hätten ungestraft weglassen können.) Seit der Postmoderne hat das Individuum aufgehört, als autonome Entität und selbstständige Steuerungszentrale zu agieren. Das Individuum handelt als Resultat von Beziehungen und Rollen. Rollen und ihre Beziehungen sind damit ebenso wichtig geworden wie das Selbst als psychobiologische Energieeinheit allen Tuns und Treibens. Wie aber hier entscheiden? Der Mensch – „nichts als ein Knotenpunkt in der Verkettung von Beziehungen“ (Ludewig 2002, S. 147)? Daraus ließe sich gleichwohl eine Utopie der entkoppelten Selbstsysteme entwickeln: der Mensch als locker fließendes und flexibel agierendes Konglomerat von unterschiedlichen Selbstaspekten, das als Gesamtnetz kohärent und konstant handelt und damit seine immer wieder neue Identität herstellt. Mal verhalte ich mich mutig, mal ziehe ich mich feige zurück, hier handle ich egoistisch, dort wieder altruistisch, heute fühle ich mich schwach und lasse mich von anderen führen, morgen haue ich wieder selbstmächtig auf den Tisch, beim Kunden zeige ich Anstand und Noblesse, unter Kollegen spiele ich gerne auch mal den Clown. Entscheidend hierbei bleibt: In all diesen Rollen will ich mich wohlfühlen und spüren, dass mein unterschiedliches Verhalten stimmig zu den jeweiligen Situationen und zu meinem Selbstverständnis passt. Hier wirkt meine innere Selbstnatur als individuelles Wahr- und Weisheitsprinzip in all meinem Tun und Trachten, das mir intuitiv anzeigt, ob das, was ich gerade mache, diesem Prinzip auch entspricht. Diese innere Stimmigkeit vergleiche ich (als großer Musikliebhaber) gerne mit dem Sound (Klang, Grundton) meines (unvergleich­ baren) Wie dessen, was ich (vergleichsweise) so alles tun oder auch lassen kann. Hierzu besitzen wir die Freiheit des „Als-ob“, die uns erlaubt, jederzeit die Rollen zu wechseln und unseren Entwurf, woraufhin wir unser Selbst ausrichten wollen, jederzeit neu zu wählen zu.

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Erika Wegerich hat das ausprobiert und damit nachhaltig ihre Beziehung zu ihrem Chef verändert. Nachdem sie ihm klargemacht hatte, mit dem betreffenden Mitarbeiter (und auch zukünftig als Chefin, die ihren Mitarbeitern „dienen“ will) partnerschaftlich vorzugehen, verhielt sie sich vorerst noch im „Als-ob“-Modus, das heißt, sie machte ihre ersten Schritte einer weichen Führung wie bei der Anprobe eines frisch geschneiderten Kostüms. Kratzt es? Zwicken Nähte beim Laufen? Passt das zu mir? Will ich das öfter tragen? Könnte mir das, was ich da zeige, neue Lebenszugänge ermöglichen? Was Erika Wegerich half, sich hier nicht vorschnell entscheiden zu müssen zwischen „Ja, passt“ oder „Nein, passt nicht“, sondern abwarten zu wollen, wie ihre neue Rolle wirkte, das war die Einsicht, dass ihr authentisches Selbst-Sein vom Vorzeigecharakter ihrer neuen Rolle unabhängig blieb. Im Gegenteil, ihr Selbst konnte bestimmen, womit es sich zukünftig zeigen wollte. Sie ließ los vom Anspruch, sich mit ihrer Rolle identifizieren zu müssen im Sinne von Ich-bin-­was-ich-tue. Das machte sie vor allem gelassener gegenüber dem, was ihr Publikum von ihr erwartete, es befreite sie sogar vom „Druck zur Rolle“. Weil sie zugleich wusste, den übergeordneten Zielen ihrer Aufgaben gerecht zu bleiben, spürte sie den Wagemut, überraschen zu wollen. Ihr Wert der Partnerschaft lieferte nunmehr den Sinn ihres Verhaltens und damit eine Art Aura des Auftritts. Diese Art, etwas auszuprobieren, von dem wir noch nicht wissen, ob es passt, hat neuronale und damit die Psyche verändernde Auswirkung. Die (Lebens-)Technik des „Als-ob“ verändert unseren emotionalen Zustand. Indem Erika Wegerich entschlossen „Nein“ zum Rollendruck des Chefs gesagt und ihm verdeutlich hatte, ihre Mitarbeiter im Falle massiver Fehler wertschätzend konfrontativ und damit partnerschaftlich konsequent zu führen, erzeugten ihre neuen Handlungen neue Gefühle, die wiederum neue Selbstbilder erzeugten. Es geht also nicht darum, z. B. keine Angst mehr zu haben, sondern um die Freiheit des „Als-ob“, so zu handeln, als hätte man keine Angst. Und die Erfahrung zeigt, dem (äußeren) Handeln folgt die (innere) Haltung. Wir sollten, wie das Beispiel von Erika Wegerich gezeigt hat, konsequent zum eigenen Maßstab unserer Werte und deren Sinn-Optionen stehen und hieraus unsere Rollenaspekte entrollen. Das heißt nicht, uns gleich als Maß aller Dinge missverstehen, sondern uns als Maß einer wählbaren Sicht auf die Dinge zu begreifen. Die Freiheit dazu leuchtet vielen Menschen, mit denen ich darüber spreche, sofort ein, meist jedoch im Glauben, diese Freiheit „für die richtige Gelegenheit“ aufsparen zu können; nur wird sie damit allzu häufig verspielt. Das sollten wir – vor allem uns selbst gegenüber – nicht mehr weiter zulassen, soweit auf Dauer der Verlust genau dieser Freiheit selbst auf dem Spiel steht.

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3.5 Die Visionszentrale Sinn sagt uns, wohin Wer seine Werte reflektiert, begegnet immer auch seiner Herkunft: • Was habe ich gelernt und mitbekommen in meiner Kindheit und Jugend von Eltern, Großeltern, Verwandtschaft, Lehrern, Vorbildern der Literaturoder Kinowelt etc.? • Worauf haben sie Wert gelegt, was mir zu Herzen ging  – und worauf nicht? • Wie bin ich mit dem umgegangen, was mir gegeben oder nicht mitgegeben worden ist, um meinen Selbstwert zu schützen? • Wen und was habe ich gerne nachgeahmt? • Wen und was habe ich vermisst? • Was wollte ich sein? Und wie wollte ich „sein“? • Was oder wie sollte ich „sein“, was ich nicht wollte? • Wie konnte ich „selbst sein“ inmitten von Akzeptanz und Unbill? Hier liegt der Humus, auf dem die Früchte unserer Zukunft gedeihen. Hier zu graben, meint zwar nicht, gleich Schätze finden, doch wir machen den Boden fruchtbar. Hier eröffnet sich, was uns wert und wichtig genug ist, zukünftig Sinn zu ermöglichen. Das können längst vergessene Wünsche und Motive sein (wie das Beispiel von Andy Mühler noch zeigen wird), die weit in der Kindheit, Jugend oder im frühen Erwachsenwerden zurückliegen; solche Anlagen sind zeitlos. „Werte sind immer tief in uns vorhanden, wie weit wir uns auch von ihnen entfernt haben mögen“, schreibt Russ Harris. „Ein Wert ist wie Ihr Körper: Auch wenn Sie ihn jahrelang vollkommen vernachlässigt haben, ist er immer noch da. Er ist noch immer ein wesentlicher Teil Ihres Lebens und es ist niemals zu spät, sich mit ihm zu verbinden“ (Harris 2009, S. 272). Menschen gehen tagtäglich auf einen oftmals fremden Horizont zu, ohne einen Sinn, ein Ziel im Kopf zu haben, und so weicht der Horizont stündlich zurück. Das kann ermüden und ließ Andy Mühler schlussendlich ausbrennen. Ihm wurde klar: Hast Du ein Ziel, kommt der Horizont näher, und dann kommt in dem, was ich tue, Zukünftiges Schritt um Schritt auf mich zu. In dieser Gegenwärtigkeit gestalten wir das, was uns zuvor geistig vorschwebte, zu etwas Wirklichem. Wir Menschen sind mit Geist begabte Wesen, die Ideen wirklich werden lassen können. So banal das klingt, so fatal ist unsere Missachtung dieser genialen Potenz. Sie kann selig und gelassen machen. Wir schreiben beispielsweise ein Buch, entwerfen ein Haus, gestalten den Garten, organisieren eine Reise, malen ein Bild oder erziehen unsere Kinder.

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Halten Sie einmal kurz inne und überlegen Sie, was Sie gleich tun könnten (z.  B. aufstehen, Dehn-Übungen machen, Kaffee kochen, eine Freundin anrufen, ein Buch online bestellen …), und werden sich bewusst, wie Sie mit dieser geistigen Kraft Wirklichkeit gestalten können. Eine solche Einsicht in bislang Unbedachtes kann unsere Sicht auf Wirkliches klären. Dabei hilft die uns angeborene Gabe, etwas anzustreben, als eine neuronal ausgestattete Fähigkeit des menschlichen Gehirns, mittels Wahrnehmung, Denken, Wollen und Handeln Sinn erzeugen zu können. Ob etwas Sinn für uns macht, ist also kein bloßes Gedankenspiel unserer Großhirnaktivität. Was „Sinn“ für uns macht, wird „gesteuert“ von unserem „limbischen System“ (Siegel 2010b, Die Alchemie der Gefühle, S. 46) und lodert quasi als emotionales Feuer in unseren Wünschen und Werten. Sich das klarzumachen, kann so befreiend wirken wie unsere Achtsamkeit auf den Atem, die uns gelassen werden lässt. Meistens vergessen wir diese aus uns selbst heraus erschaffene Teilhabe eines Zukunftsentwurfes im Augenblick unseres Handelns. Sobald wir uns aber diese machtvolle Selbstwirksamkeit vergegenwärtigen, beruhigt sich etwas in uns. Um „inneren Frieden zu erlangen“, schreibt Jon Kabat-Zinn, „bedarf es einer klaren Vorstellung von dem, was man anstrebt, einer Vision, die Schwierigkeiten und Hindernisse überdauert“ (Kabat-Zinn 2011, S. 58). Eine solche Begabung, den Sinn-Horizont einer Vision gestalten zu können, entdeckte Mühler, als er zu graben begann.

3.6 Sinn bündelt Kompetenzen und motiviert Das, was für uns „Sinn“ macht, beruht auf dem Zusammenwirken von Denken und Fühlen. „Die Integration von linker und rechter Hemisphäre (v.  denkender und fühlender Gehirnhälfte, K.  H.) trägt dazu bei, dass wir einen Sinn in unserem Leben sehen“ (Siegel, DaG, S. 74). Gedanken, die wir nicht erfühlen, oder Gefühle, die wir nicht auszudrücken vermögen, ergeben für uns keinen Sinn. Um Sinn zu kreieren, lernen wir, achtsam innezuhalten in dem, was wir erleben, und pendeln uns ein in die Sinn-Balance von Ratio und Emotion. Dann verbinden wir ausgewogen unsere analytisch denkende (wie beurteile ich das, was ich tue?) mit der emotional ganzheitlichen Gehirnfunktion (fühlt sich das gut oder schlecht an, will ich drauf zugehen oder es vermeiden?) und ermöglichen uns „Sinn“ als eine in sich und für uns stimmig gefühlte Erzählung dessen, was wir erlebt haben, gegenwärtig tun oder zukünftig uns noch vornehmen wollen (Siegel 2010b, Die Alchemie der

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Gefühle, S. 202). Und das heißt, zu dem werden, dessen und wozu wir fähig sind. Hier entwickelt sich, was wir Kompetenz nennen. Dazu feuern wir uns innerlich an, wenn wir wissen, was wir wollen und können, weil es uns am Herzen liegt. Hieraus entfachen wir unseren Willen zum Sinn – zum Horizont unseres Strebens und Handelns. Unseren „inneren Frieden“ (Kabat-Zinn), in welchen stürmischen Gezeiten auch immer, gewinnen wir aus der Spannkraft des Sinns zwischen Wollen (Wert), Können (Kompetenz) und Streben (Ziel). Der Wille zum Sinn: eine Motivation aus sich selbst heraus. Ein solcher Sinn zeigte sich vor Andy Mühlers innerem Auge, als ihm die Erlebnisse mit seinem Großvater einfielen. Dieser hatte auf seinem Bauernhof nahe Schwerin gelebt, wo Mühler die Ferien seiner Kindheit und frühen Jugend verbrachte. Dieser Großvater sei, so erinnerte sich Mühler, „ein Mann der Liebe gewesen, der in jedem Menschen stets das Gute gesehen hat, und egal, was passiert war, selbst bei einem Nachbarbauer, der ihm mal krumm kam, Großvater hatte immer versucht, den Menschen zu verstehen und zu ihm Verbindung aufzubauen. Und meistens hat das auch geklappt. Dieser Glaube an die Liebe hat mich tief beeindruckt und geprägt“. Wie hängt Andy Mühlers Vision mit seinem Berufskontext zusammen? „Genau das fehlt unserem Unternehmen, Verbindung und Verständnis zwischen den Kollegen, vor allem zwischen Geschäftsführung und Bereichs­ leitung.“ Hier atmete Mühler tief durch und schwieg eine Weile. Ich wartete ab und spürte eine Energie, die ich bei ihm noch nicht wahrgenommen hatte. Er wirkte ausgeglichen und gefestigt; das war neu für mich. „Ja …, das wär’s doch! Und ich weiß auch schon mit wem.“ Und was? „Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns miteinander verbinden. Das muss aber erst mal in die Herzen und Köppe von denen da oben rein (er deutete mit dem Daumen zur Decke). Die bekriegen sich intern mehr als die Konkurrenz draußen. Das könnte so was wie’n Überlebensfaktor werden – die Liebe. Klingt kitschig, ich weiß, aber …“ –… davon wollte er sich jetzt nicht irritieren lassen. Was Andy Mühler gerade erlebte, dem sollte Raum gegeben werden. Wie war ihm zumute? „Als läge ich am Strand, den Urlaubsort kenne ich noch gar nicht, keine Ahnung, was auf mich zukommt, und doch spüre ich: Ja, genau so stimmt’s. Hm, … passt!“ Wenn wir etwas Sinn geben (dem Leben, der Arbeit, der Beziehung, einer Tätigkeit etc.), können wir alle Sinne in Anspruch nehmen und ein Gefühl der Kohärenz entwickeln, der Stimmigkeit dessen, was wir wie und wo und wozu tun. So fördern wir Seins-Tiefe zutage.

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3.7 K  omplexität reduziert, was Sinn für uns macht Situationen sind wie Rohstoffe, und was wir daraus machen, ist unser Leben. Wir sind stündlich umzingelt von Möglichkeiten, auf unterschiedlichste Reize handelnd reagieren zu können. Dabei warten die alltäglichen Auslöser dieser Reize nicht lange auf uns. Und im Grunde ist es der Welt um uns herum egal, ob wir reagieren. Nur, wie wir uns auch verhalten, es hat Auswirkungen, die uns nicht egal sein dürfen. Dabei entscheiden wir uns augenblicklich und permanent, ob wir es nun wollen oder nicht. Schalte ich zuerst den Computer ein und schaue dann erst in die Post? Putze ich zuerst die Wohnung oder klappere ich zuerst die ausgesuchten Stellenangebote ab? Spreche ich vor oder erst nach dem Kundengespräch mit meinem Chef? Rufe ich meine PR-Agentur mit oder ohne Ge­sprächsvorbereitung an? Sage ich das Projekt wegen Termindruck ab? Nehme ich das Auslandsangebot an? Suche ich meiner Tochter ab der Note vier oder fünf eine Nachhilfe? Stelle ich mich bei Facebook vor? Egal, was wir zu tun beabsichtigen und dann tatsächlich machen oder sein lassen – wir können nicht nicht entscheiden. Alles, was wir gerade (nicht) tun, wir haben uns dazu entschieden. Und gleichzeitig haben wir mir jeder freien Wahl dessen, was wir tun, alles andere abgewählt. Die Bresche im Dschungel ist geschlagen – da geht’s lang! Doch wie gebe ich mir die Richtung vor? Wer steigt auf die nächste Palme im Dschungel und hält Ausschau ringsum? Hierzu eine gute Botschaft: Komplexität verwirrt nicht. Es ist die Art, wie wir darauf schauen, die bestimmt, ob wir verwirrt oder gelassen reagieren. Landet ein Städter im Dschungel, dreht er im Wirrwarr der Lianen und Tiergeräusche schnell durch; landet der Dschungelbewohner im Hauptverkehr einer Großstadt, dreht der wiederum im Ampellichter- und AutohupenGewirk durch. Beider Gehirne blicken nach vorn mit dem, was gewohnt zurückliegt. Atmeten beide ruhig durch, würden sich auf ihr jeweiliges Können besinnen und machten sich klar, dass sie nicht getrennt sind von dem, was sie gerade wahrnehmen, sondern Teile dessen, was sie beobachten, so beruhigten sie sich und könnten sicherer den nächsten Schritt entscheiden. Die Qual unserer Wahl, den „richtigen“ Weg zu wählen oder  – höchste Form der Selbstbestimmung – neu zu erschaffen, resultiert aus einem emotional unsicheren Werte-Bewusstsein, aus einem Mangel aus überzeugenden Motiven und daraus folgenden Zwecken und Zielen, eben aus einem Mangel an Sinn. „Das Fehlen von Sinn“, schreibt Irvin D. Yalom, sei „der hauptsächliche existenzielle Stress“ (Yalom 2000, S. 497). Die Suche nach Sinn beinhaltet die Suche nach Kohärenz, AufgehobenSein und Stimmigkeit. Dabei ist es etwas anderes, Ihrem Handeln einen Sinn

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zu geben, als es (bloß) auf ein Ziel hin zu fixieren, das mitunter tödlich sein könnte, wenn der Sinn fehlt. Das zeigt beispielsweise das „Bienenexperiment“, das Michael Faschingbauer beschreibt, um klarzumachen, wie sinnlos Ziele sein können, sobald sie den Sinn des Überlebens verfehlen. „Wenn man ein halbes Dutzend Bienen und die gleiche Anzahl von Fliegen in eine offene Flasche setzt und die Flasche waagerecht hinlegt, mit dem Flaschenboden in Richtung Fenster, wird man feststellen, dass die Bienen so lange versuchen, eine Öffnung im Flaschenboden zu finden, bis sie vor Hunger und Erschöpfung sterben, während die Fliegen innerhalb von nicht einmal zwei Minuten durch den Flaschenhals an der gegenüberliegenden Seite Reißaus nehmen. Für die fleißigen Bienen ist eine Flasche ein übernatürliches Mysterium. Sie haben jedoch ein klares Ziel, an dem sie sich orientieren. Sie denken anscheinend, dass dort, wo das Licht ist, auch der Ausgang sein muss. Ihr Ziel ist das Licht (und nicht das Überleben, K. H.), und sie verhalten sich entsprechend. Ihre strikte Zielorientierung ist tödlich für sie. Auch die Fliegen verstehen die Anatomie der Flasche nicht. Sie verfolgen jedoch einen anderen Ansatz der Problemlösung. Sie fliegen in der Flasche hin und her und finden dadurch innerhalb weniger Minuten den Ausgang“ (Faschingbauer 2010, S. 36). Andy Mühler brauchte etwas länger als ein paar Minuten. Und bis er den Ausgang für sich entdecken konnte, litt er mehrfach den seelischen Tod. Fixiert auf Kundenwünsche, Aufträge, Listen und die Befehle des Chefs, verfolgte Mühler Ziele wie eine Biene und hechelte der Routine der puren Pflichterfüllung hinterher („Licht am Flaschenboden“), ohne dass ein höherer Sinn („Flexibel Überleben“) ihn hätte anderes ausprobieren lassen zu seiner Rettung. Seine Verzweiflung wirkte jahrelang wie physischer Schmerz, nur ohne sichtbare Wunde, und seine Not erschien ihm ohne Distanz endlos. Als Mühler hinter den alltäglichen Kleinkriegen der Hierarchie den SinnHorizont zwischen Liebe und Verständnis aufleuchten sah, blickte er plötzlich auf sein Hamsterrad von oben und erkannte: Die Sprossen vor ihm sausten bislang nach unten und steckten keineswegs in einer Lebensleiter, die aufzustellen er selbst versäumt hatte. Da wechselte er vom „Bienenstarrsinn“ in die „Fliegenfreiheit“.

3.8 D  er Wille und die Freiheit – ein Spektrum Leben Bestimmt sind Sie schon einmal innerlich zurückgeschreckt vor Ihren eigenen Wünschen  – vor dem, was Sie eigentlich wollen könnten. Ins Ausland gehen?  Den Job wechseln? Sich beim Fernsehen bewerben? Vor der Betriebsversammlung eine ergreifende Rede halten? Sich endlich neu

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v­ ermählen? Aus Hierarchien aussteigen und selbstständig werden? Im Büro die Kleidung tragen, die Ihnen am Herzen liegt? Oder einfach nur selbst frei entscheiden, wie der Tag heute bestmöglich verlaufen soll? Oftmals hat der Mensch mehr Angst vor seinen starken Wünschen als vor seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Der Impuls, etwas wirklich zu wollen, wird zumeist aus Angst davor zurückgehalten, die Konsequenzen selbst verantworten zu müssen. Irgendjemand könnte mich nicht mehr mögen; Kollegen werden womöglich neidisch; Menschen müssten ihr gewohntes Bild von mir ändern; ungeliebte Veränderungen werden allein mir angerechnet; was immer passiert, es wird meine Schuld sein etc. Diese Selbstblockierung des Willens liegt im Echo alter Widerstände durch erlebte Verbote, die den Impulsen neurologisch eingespeichert sind. Wir brummeln uns da immer wieder alte Melodien einstmals gespielter Zuchtmärsche vor. Genau an solchen Stellen sind wir gefordert, aufzuhorchen und innezuhalten: Wollen wir so weitermachen und inneren Stücken gehorchend hinterher marschieren, deren Zeiten längst abgelaufen und aus der Mode sind? Unserem freien Willen zuliebe müssen wir erkennen, dass wir uns jederzeit in jede beliebige Richtung bewegen können, unabhängig von dem, was da früher alles passiert sein mag in unserer sogenannten „Vergangenheit“, die in unserem Erinnerungsgedächtnis abgespeichert ist. Wir besitzen die Freiheit, wollen zu können, was Sinn für uns macht, und daran sollten wir uns erinnern, wenn wir gelassener handeln wollen. Unabdingbar setzt der Wille damit seine eigene Freiheit voraus und zugleich handelnd in Gang. Frei sein heißt dabei weniger, tun und lassen können, was man will, sondern wollen können, was man sein will. Niemandem fehlt ein solcher Wille von Geburt an. „Was immer du meinst oder glaubst, tun zu können, beginne es“, schreibt uns der schottische Schriftsteller und Bergsteiger W.H. Murray ins Lebens­ buch. Diese Freiheiten des Wollens und entschiedenen Handelns besitzen wir gleichsam als Geburtsrechte. Nur, was tuen wir, um das tatsächlich umzusetzen? Hier wirkt die Allgegenwart der Entscheidung: Wir können nicht nicht entscheiden. Was auch immer wir tun oder eben nicht tun – wir entscheiden uns dazu, es zu tun (oder zu lassen). Zu dieser Freiheit sind wir verdammt. Wenn wir uns vor die Wahl gestellt sehen, beispielsweise das geerbte Haus der Eltern entweder zu verkaufen, zu vermieten oder selbst zu beziehen, so erfordert jede Entscheidung zugleich den Verzicht auf vieles andere in der Welt, und davor haben wir häufig Angst, vor dieser Freiheit, selbstverantwortlich die Konsequenzen zu tragen. Wenn wir unserer Entscheidungsmacht voll

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akzeptieren und bewusst danach handeln, verwirklichen wir uns authentisch in einer existenziellen Freiheit, die uns niemand nehmen kann (es sei denn, wir lassen das zu oder berauben uns ihrer selbst). „Unsere Entscheidungen sind die Atome des Wesens, das wir erschaffen.“ Als ich auf diesen Satz von Irvin D. Yalom (Yalom 2000, S. 395) stieß, glaubte ich, durch ein Mikroskop auf den Existenzgrund unseres Daseins blicken zu können. Unsere Entscheidungen – die Atome unseres Wesens. Ja, wir Menschen haben diesen Willen, das zu sein, was wir werden wollen. Und mit allem, was wir tun (oder lassen), wirken wir am Gewebe unseres Wesens mit. Wir können Ideen und Gedanken wirklich werden lassen, natürlich immer in dem Maße, wie die Natur des Menschen (Körper, Gehirn, Psyche) sowie die rea­ listischen Rahmenbedingungen es uns ermöglichen. Es wird noch gezeigt, wie bei vielen Menschen ein erheblicher Anteil ihrer Sorgen, Nervositäten oder Depressionen oft aus einem Mangel an Willenskraft resultiert. Hier liegt Energie ohne Richtung brach und richtet seelisch Schaden an. In dem Augenblick, wo der Wille als Lebenskraft zur Selbstkonstitution ausgerichtet wird auf den Sinn dessen, was der Mensch zu sein beansprucht, beruhigt sich die Seele ganz von selbst. Stürme können draußen toben – ist das Ziel des Willens klar, blickt der Mensch sicher hinaus. Und weil wir diesen selbstverantwortlichen Beweger in uns tragen, können wir uns entschlossenen einlassen auf das, was ansteht. Wir brauchen dazu niemanden von außen. Dieses Selbst-wollen-Können, gepaart mit Mut, es auch zu tun, macht zutiefst gelassen, wie turbulent es um uns herum auch zugehen mag. Eine solche Gelassenheit erfolgt aus der Macht unserer Freiheit, uns handelnd selbst zu gestalten. Weil unser Dasein nicht abgeschlossen und für Entwicklung offen und damit im positiven Sinne „nicht genug“ ist, sind wir frei und fähig, uns von uns selbst loszureißen, von der Enge (angusto = Angst) des Bestehenden. Damit wächst unser Handeln zum konstruktiven Lösungsfaktor unserer Angst heran. Der Wille, so verstanden, ist das Potenzial unserer Bereitschaft, lebendig bleiben, uns entwickeln, frei gestalten, ausdehnen oder auf etwas ausrichten zu wollen. Wir wollen bereit sein für das, was uns wert und wichtig ist. Wir können uns das wie die Magnetkraft unter einer Platte mit Eisenspänen vorstellen. Der Wille • • • •

bündelt unsere Energie, fokussiert sie auf einen Punkt, zentriert unser Handeln auf ein Ziel hin und gibt dem, was wir tun, Gestalt.

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Mit dieser Psychosynthese an Energie und gestalterischem Tun bewirkt der Wille, unsere Ideen, Visionen oder persönlichen „Leitsterne“ zu verwirklichen. Ohne unseren Willen bliebe vieles in uns, was unser Leben bereicherte, brach liegen. Andy Mühler hat diesen Leitstern-Willen erfahren können, als er in sich ging und dort seine höheren Selbstanteile menschlichen Verständnisses und die verbindende Kraft der Liebe (wieder-)entdeckte. Was Mühler daraufhin erlebt hat, gleicht einer Quellenerfahrung menschlichen Seins, das weniger ein zu erreichendes Ziel anvisiert, sondern den gelebten Augenblick wertvoll wirken lässt, weil das, was ich tue, mit meinen Motiven übereinstimmt. Sprach Mühler mit Kollegen, Mitarbeitern oder seinem Chef, achtete er mehr auf das, was er in dem jeweiligen Moment auf der Basis seiner Werte fühlte, dachte und wollte: • Kann ich den Menschen in dem, was er gerade denkt und fühlt wirklich verstehen? • Versteht er auch mich? • Haben wir ein gemeinsames Ziel? • Verfolgen wir unterschiedliche Interessen? • Spüre ich mehr das, was uns trennt, als das, was uns verbindet? • Wann muss ich hier Flagge zeigen? • Fühle ich mich mehr abgeholt oder eher stehen gelassen in dem, was ich will? Allein die Bereitschaft, hierauf achtsam zu werden, bewirkte bei Mühler eine innere Ruhe. Seine Energie bündelte sich wie von selbst und richtete sich als Wertewille aufmerksam auf das aus, was ihm spürbar gut oder eben auch nicht gut tat. Der Wille in seiner ursprünglichen Intention, so wie ich ihn hier als Impulsträger zur Selbsttreue verstehe, meint weniger das Haben-Wollen oder Erreichen-Wollen unserer Ego-Kategorien mit all ihren Status-Prothesen und Fremderwartungen, aus denen heraus wir uns mit anderen vergleichen oder für fremde Zwecke verdingen. Der Wille meint vielmehr unsere Ent­ schlossenheit, in der Gegenwärtigkeit des Augenblicks unseren je eigenen Wert und Sinn selbst bestimmen, erleben und bewahren zu können. Die Basisfragen zu unseren Willensimpulsen lauten: Was tust Du gerade? Was fühlst Du dabei? Was willst Du wirklich? Natürlich gestalten wir in dem, was wir gerade tun, das mit, was gleich kommen wird. Insofern ist unser Wille, wie die Philosophin Hannah Ahrendt

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formuliert, ein „Organ der Zukunft“. Wir kreieren wollend Zeit. Hierbei ist der Wunsch der erste Schritt zum Wollen, ein Sehnsuchtsfaktor für die Zukunft. Den spürte Andy Mühler zutiefst wie eine ersehnte Gesundheit nach langer Krankheit. Sich selbst mit seinen Wünschen führen zu wollen, ward ihm von da an zum Lebensprinzip. Er schöpfte aus versiegten, doch längst nicht ausgetrockneten Quellen seiner Grundhaltung zum Leben und zu Menschen. Mühler hatte die Gabe, Menschen emphatisch verstehen zu können, von seiner Mutter empfangen. Von ihr hatte er sich stets erfühlt, geliebt und verstanden gefühlt. Hier lag der Humus für seine Führung in der Firma, auf dem er säen und ernten konnte. Hier vermochte er zu geben, was er empfing. So wollte er Kollegen, Mitarbeitern und auch seinem Chef zukünftig begegnen und ihnen etwas mitgeben, was diese zu nehmen bestimmt bereit waren und es bisher nicht bekamen, um es selbst geben zu können. Von dieser Vision fühlte Andy Mühler sich angespornt zu seiner Mission: Ich baue Brücken des Vertrauens. Mit einer solchen natürlichen Kraft, etwas wollen zu können, machen wir uns frei vom Druck fremder Erwartungsansprüche (die gleichwohl noch gestellt werden können). Wir gehen, innerlich gelassen gegenüber dem, was andere von uns denken mögen, unseren Weg und einem inneren Ziel entgegen, das unserer eigenen Idee entspringt. Dessen müssen wir uns bewusst werden, hierzu überhaupt in der Lage sein zu können. Menschen unterschätzen häufig oder vergessen gar diese Kraft ihres Willens als einer Gabe zur Selbsttreue und Wirk-Macht eigener Ziele. Wollen können heißt, sich selbst befehlen und das Kommando über die inneren Strebungen und Hindernisse, Gefühle und Triebkräfte zu überneh­ men. Und natürlich erfordert es mitunter eine gewisse Disziplin, behag­ liche Komfortzonen zu überwinden. Zu diesem Preis sind wir verpflichtet, wollen wir souveräner handeln. Deshalb ist auch hier das Glück der Gelassenheit eine Überwindungsprämie. Halten Sie kurz inne und werden sich Ihrer angeborenen Willensfreiheit bewusst. Wo spüren Sie, wenn Sie etwas wirklich wollen, Ihre Kraft dazu? Im Bauch, in den Schultern, im Brustbereich, im Kopf? Und welches Wunschbild zündete diese Kraft? Werden Sie sich bewusst, dass Sie hierzu jederzeit aufstehen, zum Telefonhörer greifen oder wie auch immer losgehen können. Ihre Willensfreiheit ist Ihr fundamentaler Bezug zum Noch-nicht-Sein Ihres Lebens, das Sie handelnd erreichen können. Genau das kann uns gelassen machen, die Tat aus einer angeborenen Willensfreiheit heraus, die in unserer Macht steht.

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3.9 Der Wille ist trainierbar wie ein Muskel Unseren Muskeln ist es egal, mit welchen Bewegungen, Geräten oder Gewichten wir ihre Fibrillen trimmen. Ob Sie zur Stärkung Ihres Bizeps ein Kilo Kartoffeln oder Eisengewichte in Ihre Hände legen, ist für den Muskelaufbau nebensächlich. Wichtig ist der Widerstand, dessen Über­ windung Ihre Muskelzellen aktiviert. Gleiches gilt für unseren Willen. In unserem Gehirn liegen Neuronen bereit, die es zu trainieren gilt, soweit wir Wert darauf legen, unseren Willen zu stärken. Und bei genauer Betrachtung setzt ein solches Willenstraining wiederum ein Mindestmaß an Willenskraft selbst voraus. Dieses Mindestmaß entfachen wir durch unsere Freiheit, uns dafür entscheiden und bereit sein zu können. Damit können wir uns als Perpetuum mobile entdecken, als ein aus sich selbst heraus rollendes Rad des Lebens. So gehört zu den vielen Eigenschaften des Willens die Tugend der Geduld. Mit ihr können wir unseren Willen schulen und entwickeln, ihn trainieren und erproben, wenn wir sichergehen wollen, etwas zu erreichen. Diese „Schulung des Willens“ erfordert Mühe und Aufwand, und davor scheuen Menschen zurück, die es sich in ihren Komfortzonen behaglich gemacht haben. Das Resultat ist meist dasselbe: Kurzfristig erspare ich mir zwar Mühe und Aufwand, lasse ich ein Training ausfallen, doch der Genuss dieser Ersparnis währt kürzer als meine Reue danach. Der mir bewusste Gewinn des Trainings (z.  B.  Gesundheit, Fitness, Zufriedenheit etc.) ist abhandengekommen. Wer scheut, bereut. Den Willen, diese Lebenskraft, wertschätze ich wie eine Versicherungspolice, die regelmäßige Einzahlungen erfordert, damit sie im entscheidenden Moment ausgezahlt werden kann. Das von der Natur hierfür eingerichtete Konto liegt in Form neuronaler Netz­ werke in unserer Gehirnbank bereit. Den Willensimpuls  – die gewünschte Auszahlung  – liefert in unserem Stirnhirn ein Neuronenareal, das der Gehirnforscher Gerhard Roth „mit dem komplizierten Namen präsuplementärmotorisches Areal, kurz prä-SMA“ (Roth 2007, S.  168) bezeichnet; hier liege der „Sitz des freien Willens“. Von hier aus geht es los, „wenn wir etwas bewusst wollen“ (ebd., S. 169). Und damit wir gelassener bereit sein können, wenn’s drauf ankommt, das zu erreichen, was uns wert und wichtig ist, gilt es, diese neuronale Anlage regelmäßig zu pflegen. Hierzu hat der italienische Psychologe Roberto Assagioli (1888–1974) ein Standardwerk  – „Die Schulung des Willens“  – verfasst und den Preis der Anstrengung, die es kostet, den Willen zu trimmen, für uns sinnvoll und erstrebenswert versiegelt. Aus diesem Werk möchte ich Ideen und Übungen

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fortführen, weil mir Assagiolis pragmatische Erkenntnisse zeitlos gültig er­scheinen. Wir erhalten hierdurch Eigenschaften gesund, die unserem Leben seine unerschütterliche Vitalität verleihen können. Dazu noch einmal kurz G. Roth: Diese „Eigenschaften des Willens sind: . Energie – Dynamische Kraft – Intensität, 1 2. Beherrschung – Kontrolle – Disziplin, 3. Konzentration  – auf  einen Punkt gerichtet sein  – Aufmerksamkeit – Ziel­bewusstsein, 4. Entschlossenheit – Entschiedenheit – Unerschütterlichkeit – Unverzüglichkeit, 5. Beharrlichkeit – Ausdauer – Geduld, 6. Initiative – Mut – Wagemut, 7. Organisation – Integration – Synthese“ (Roth 2007, S. 27).

Welch eine Vielfalt an Lebendigkeit wir hier entfalten können, deren Kraftquelle knapp hinter unserer Stirn nur darauf wartet, vitalisiert zu werden. Und dazu mein Rat: Üben Sie sich in den kleinen Dingen Ihres Lebens. Seien Sie beispielsweise systematisch heldenmütig in den kleinen Verrichtungen des Alltags, die zwar nicht in dem Augenblick notwendig sein mögen, sich aber wie Einzahlungen auf das Konto Ihrer Willenskraft später auszahlen werden. Solche Trimmpfade der inneren Nötigung haben sich zeitlos bewährt, um nicht unnötig bequem zu werden. Die folgenden Übungen gelten allein Ihrer möglichen Schwierigkeit, diese kleinen Exerzitien gerade jetzt nur als Übung durchzuführen. Und sollten Sie bereits jetzt einen leichten Widerwillen verspüren („So was brauche ich nicht …, von solchen Übungen halte ich nichts …, es geht auch so … etc.“), macht sich womöglich ein Seufzer Ihrer Trägheit bemerkbar, deren Prinzip da lauten mag: Halte die Aufregung und Spannung niedrig, und Du sparst Energie und Kraft. Genau dieses Komfortzonen-Motto gerät vielen Menschen, weil vor entscheidenden Wachstumsschritten der innere Schongang einrastet, zum Glücksräuber. Und wenn’s dann mal drauf ankommt, etwas zu wollen, gähnt der Mensch zuerst sich selber an, bevor Missmut und Jammern gelassenes Handeln vermiesen. Sie erinnern sich bestimmt noch an Heinz Paffen, den IT-Bereichsleiter eines deutschen Versandhauses (Abschn.  1.1), der inmitten seiner beachtlichen Karriere unversehens in einer bequemen Vermeidungshaltung versackt war. Er hatte mehr und mehr all die beruflichen wie persönlichem Herausforderungen gemieden, die seiner Seele ihren Treibstoff aus

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Selbstachtung, Wachstum und Gesundheit weiter hätten liefern können. Er unterließ es, in der Internetwelt für seinen Bereich Neues zu wagen; er sagte seinen Freunden immer öfter ab, mit ihnen segeln oder angeln zu gehen, und seine Lungen verschonte er vor dem bislang regelmäßigen Dauerlauf. Kurzfristig hatte er zwar jedes Mal Ruhe gewonnen, doch seine Seele führte Buch und quittierte die fehlenden Einzahlungen in Sachen Trimmpfad des Willens mit Fehlbezügen aus Depression und Selbstverachtung. Seine Gelassenheit, mit der er noch Jahre vorher schwierige und riskante Projekte selbstbewusst gesteuert hatte, war einer nervösen Verstimmtheit gewichen. Kürzlich bekam ich dann eine E-Mail mit einem Foto, aufgenommen an einem Strand in Schweden. Aus einem regennassen Angleranzug lachte mir über einem meterlangen Hecht in seinen Armen Heinz Paffen entgegen. „Mein Wille scheut weder Wind noch Wetter und kriegt, was er will.“ Hierzu hatte er seinen Willen trainiert, wochenlang, eine vergleichsweise kurze Zeitspanne, gemessen an den Phasen seiner Nachlässigkeit und des darauf folgenden depressiven Dahindümpelns. Heinz Paffen war bereit, für sein Seelenheil die komfortablen Lust- & Laune-Zonen, die ihn abgehalten haben, seinen Willen zu trainieren, kurzfristig zu überwinden. „Der Wille ist mein Stirnmuskel, der fit bleiben will“, resümierte er die Ergebnisse der im Coaching besprochenen Gehirnforschung. Wer sich täglich – täg-lich! – in solchen Handlungen übt, die zwar nicht gerade notwendig erscheinen mögen, jedoch die Konzentration der Auf­ merksamkeit, das energische Wollen sowie die Kraft zur Komfort­ zonenüberwindung trainieren, „wird wie ein Turm dastehen, wenn alles um ihn her schwankt und seine weichlicheren Mitmenschen wie Spreu im Winde verstreut werden“ (Roth 2007, S.  44). Assagioli bezeichnet solche Willensübungen als „sinnlos“, weil sie den Zweck der neuronalen Vitalisierung, also das Wozu über den inhaltlichen Aspekt des Womit stellen. „Jede körperliche Bewegung ist in Wirklichkeit eine Tat des Willens, ein Befehl, der dem Körper gegeben wird. Und die absichtliche Wiederholung dieser Taten – mit Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Ausdauer  – übt und kräftigt den Willen. Dadurch werden organische Empfindungen geweckt: Sie erzeugen ein Empfinden der inneren Stärke, der Entschlossenheit, der Beherrschung, die die Spannkraft des Willens stärken und seine Energie entwickeln“ (ebd., S. 45). Auf Heinz Paffen wirkte das wie eine Brise frischen Seewindes vor einem Horizont aus „innerer Stärke“, „Entschlossenheit“, „Spannkraft des Willens“, was ihm zu Herzen ging. Nach Assagiolis Hinweisen hatten wir sodann eine kleine Liste von fünf Übungen aufgeschrieben, die ich seither auch vielen anderen Klienten höchst wirksam habe verschreiben können:

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. Mach täglich 30 Kniebeugen (Liegestütze, Sit-ups …) 1 2. Strecke jedes Mal den Rücken, wenn die Kirchturmglocken (Telefon, Türklingel …) zu schlagen (klingeln, läuten …) beginnen 3. Stell Dich täglich fünfmal auf einen festen Stuhl (Tisch, Hocker, Bett …) und breite dort zwei Minuten lang die Arme aus 4. Schreibe täglich (möglichst zur festen Zeit) Deine Gedanken, Stimmungen und Gefühle auf, die Du genau in diesem Moment hast (und wenn Du jedes Mal dabei genau diese Übung verfluchst, schreib das auf!) 5. Entferne jeden Tag aus Deinen Ordnern ein Dokument (nicht mehr und nicht weniger), das Du nicht mehr brauchst (weil es seit Jahren ungenutzt den Ordner beschwert)

Es liegt in diesen kleinen und nur scheinbar sinnlosen Übungen ein Schatz der Selbstüberwindung verborgen, der im neuronalen „Muskelwerk“ der Willensareale Vitalität aufbaut. Die Disziplin hierzu spornt zum Wetteifer mit sich selbst an, um Ihren Komfortgürtel täglich zu erweitern. Nehmen Sie eine sportliche Einstellung zu sich selbst an und schreiten Sie täglich in Ihre private Elementarschule des Willens. Diese Art der „Selbstverleugnung“ (Assagioli) in Sachen Ego-Lust & Komfortzonen-Laune ist der Preis zum Selbstwachstum. Klienten empfehle ich, den Büroalltag als Trimmpfad ihres Willens zu erobern. Da können ein unfreundlicher Chef, der streitsüchtige Kollege oder ein aggressiver Kunde zu mentalen Barren werden, um den eigenen Willen an Kraft und Ausdauer zu trainieren. Ein Gegner kann da so nützlich werden wie ein Buddha. Und bauen Sie dabei die viktorianische Vorstellung vom Willen als purem Zwang gelassen ab; das Training Ihres Willens sollte Spaß machen. Kennen Sie den amerikanischen Philosophen Waldo Emerson (ich zitierte ihn bereits weiter vorne im Buch)? Wenn nicht, befinden Sie sich in Gesellschaft. Hierzulande ist er leider wenig bekannt, dabei haben seine philosophischen Abhandlungen untergründig eines unserer wesentlichen Lebensprinzipien mit geprägt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formulierte Emerson an der Westküste Nordamerikas die Basisprinzipien der Individualismus als Lebensform. „Vertraue Deinem Selbst, glaube an Dich und gehe unbeirrt Deinen Weg“ (Emerson 1983, S. 23). Aus einem solchen tiefen Selbstglauben heraus entwickelt der Mensch seine unerschütterlichen Kräfte, um die Herausforderungen des Alltags zu meistern. So hat Emerson in seinem Essay „Selbst-Vertrauen“ für uns eine LeseÜbung zum starken Willen geschrieben, die via Wort und Bild unsere Kraft zur Selbstwirksamkeit entfachen kann: „Es kommt in der Erziehung eines jeden Menschen eine Zeit, in der er zur Überzeugung gelangt, dass Neid

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Unwissenheit ist, dass Nachahmung Selbstmord ist, dass er in Freud und Leid sich als sein Schicksal akzeptieren muss; dass, obgleich das Universum voll von guten Dingen ist, kein einziges nahrhaftes Korn zu ihm kommen kann außer durch seine Arbeit, die er dem Fleckchen Erde widmet, das ihm zur Bearbeitung gegeben ist. Die Kraft, die in ihm wohnt, ist neuer Art, und niemand als er allein weiß, was er zu tun vermag; und auch er weiß es solange nicht, bis er es ausprobiert hat“ (Emerson, ebd., S. 43). Heinz Paffen schrieb sich Emersons Gedanken auf einen kleinen Zettel, „das wird mein Talisman“. Wenn wir etwas lesen oder vor uns sehen, wirken die erzeugten Vorstellungen oder Bilder wie Zielscheiben des Willens, weil sie den Körper und den Geist zu genau denjenigen Bewegungen und mentalen Einstellungen samt Ge­danken und Gefühlen zu stimulieren und zu aktivieren vermögen, die ihnen entsprechen. Worte und Bilder können die mentalen Motoren unseres Denkens, Fühlens und Handelns werden. Paffen faltete und rollte den Zettel zu einem kleinen Röhrchen zusammen und schmunzelte. Er spürte plötzlich, was er brauchte, um etwas wollen zu können. Er spürte, was ihn über Komfortzonen und Routinebahnen hinaustreiben und hinziehen konnte zu seinen Herzensangelegenheiten. In seiner E-Mail schrieb Heinz Paffen dann noch unter seinem Gruß: „P. S. Sehen Sie die kleine Kupferboje unter meiner rechten Hand baumeln? Da stecken meine beiden Talismane drin, die fünf Willensübungen und der Aufruf von diesem Ami, zu handeln.“ Tatsächlich, unter dem Lachskopf sah ich auf dem Foto ein Röhrchen blinken (das, wie Paffen mir kurz vor Abschluss dieses Buches mitteilte, „für immer meine Willensboje“ bliebe).

3.10 D  ie Basis allen Wollens: Körper & Selbstwert Einem Klienten konnte ich aus seiner depressiven Phase mit einem Schluck Wasser heraushelfen. Eines Morgens schlurfte Hans Schwarz in meine Praxis, versackte im Sessel und dort sogleich in eine Art Problemtrance. Seine Stimme klang bedrückt und müde, als ob er Lasten fortschleppte, und so beschrieb er seine Antriebslosigkeit und Selbstzweifel, sein zunehmendes Desinteresse an seiner Arbeit (er war ebenso Berater) und wie schwer es ihm seit Langem fiele, den Tag überhaupt durchzustehen. Vor allem, so seine „größte Sorge“, empfände er bei Kunden eine innere Unruhe und zunehmend Ängste, zu versagen. Ich machte ihn daraufhin auf das Glas Wasser aufmerksam, das ich ihm hingestellt hatte. Zögerlich nippte er daran, stellte es jedoch gleich wieder neben seine Unterlagen auf den Tisch und fiel zurück in den Sessel. „Herr

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Schwarz, darf ich Sie fragen – und das geht kurz in eine andere Richtung –, wie ernähren Sie sich eigentlich?“ Nicht so gut, gestand er, überlegte kurz und zählte auf: viel Kaffee natürlich, ein Brötchen morgens, hin und wieder kochte seine Frau zu Mittag (er hatte seine Praxis zuhause), und ein spärliches Abendbrot nahm er gewöhnlich vor dem Fernseher ein  – die typischen Mahlzeiten eines energiearmen Lebens. Ich spürte bei Herrn Schwarz ein Bedürfnis, das weniger ein Verlangen nach dem Sattwerden war. Sein Körper schien auf Reserven zurückzugreifen, die mit unpassendem Treibstoff gerade so vor dem Versiegen bewahrt wurden, und seine Erzählungen über das, was er als „mein gegenwärtiges Leben“ beschrieb, wirkten auf mich als das Echo einer körperlichen Leere. Hierin machte er weiter und beklagte, was er alles nicht schaffen, woran er zweifeln und wie schwerfällig er Kundenaufträge bearbeiten würde. Unsere Gedanken, Emotionen und Willensantriebe werden vom Körper her determiniert. Unsere Vorstellungen von uns und der Welt, so der Gehirnforscher Antonio Damasio, „gründen“ auf Körperzuständen (Damasio 2005, S. 239). Wir blenden das für gewöhnlich aus und bemerken es meist nur, sobald uns körperlich mies zumute ist. Und selbst dann, wenn beispielsweise in Burn-out-Krisen unser Körper die letzten Meter kurz vor dem Exitus kaum noch passieren kann, wiegelt unser Verstand solche Notsignale mit „Ach-halb-so-schlimm-es-wird-schon-reichen“-Verunglimpfungen irgendwie ab, als käme der Körper mit seinen untrüglichen Anzeichen zum Innehalten überhaupt nicht infrage. Dabei besitzt unser Körper eine physische Intelligenz, die uns wie eine hochbegabte Dienerin helfen kann, glücklich zu sein, wenn wir lernten, umgekehrt auch dem Körper zu dienen, indem wir unsere Gedanken, Emotionen und Vorstellungen immer auch körper-nah zu verstehen versuchen. Die Gehirnforschung zieht daraus eine Konsequenz: „Der Geist ist für den Körper da, er ist damit beschäftigt, die Geschichte der vielfältigen Ereignisse im Körper zu erzählen, und optimiert mit Hilfe dieser Geschichte das Leben des Organismus“ (Damasio, ebd., S.  240). Diese „Körper­ gestimmtheit des Geistes“ (Damasio, ebd.) ist der Garant unserer Chance, glücklich zu sein, gerade dann, wenn unsere Gedanken (wie bei Herrn Schwarz) die Abwegigkeit des Glücks suggerieren. Drum sollen wir unseren Geist, so Damasio, stets auch als einen „Diener des Körpers“ begreifen (Damasio, ebd., S. 241). Unsere seelischen Zustände stehen damit in einer solchen „Abhängigkeit“ von der „Sprache der Körpersignale“ (Damasio, ebd., S.  136), dass hinter den meisten psychischen Missständen Unterlassungssünden der körperlichen Sorgfalt stecken, weshalb unser Körper, da er die Gefühle unserer Selbstzustände erzeugt, darüber

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mitbestimmt, ob wir uns selbst und die Welt mögen oder eben nicht (Damasio, ebd. S.  132). Unser „Geist“, schreibt Damasio an anderer Stelle, sei „nicht denkbar ohne eine gewisse Form der Verkörperung“ (Damasio 2001, S. 311). Genau das muss es wohl gewesen sein, was mir Hans Schwarz’ Haltung zu verstehen gab, diesen Signalcharakter seines innigen Gewebes von Geist und Köper aufzugreifen. Und weil unser Körper, anders als unser Geist, sich immer im Hier und Jetzt befindet, lag die Tankstelle dort. „Herr Schwarz, bevor wir all das bearbeiten, was Sie mir jetzt über Ihre Arbeit erzählt haben, möchte ich doch noch mal kurz auf Ihre Gesundheit zurückkommen. Sie machen auf mich einen kraftlosen Eindruck und wirken zugleich unruhig und nervös, so als suchten Sie etwas, von dem Sie nur nicht wüssten, was es sei.“ Hans Schwarz richtete sich etwas auf, atmete tief durch, und seine Augen kreisten nicht mehr hin und her, sondern schauten mich unvermutet ruhig an. „Ja, das stimmt wohl.“ Ich spürte, wie in ihm etwas ins Lot kam. „Zugleich entnehme ich Ihren Schilderungen, wie sehr Sie Ihren Körper vernachlässigen und ganz selten fragen, was er braucht, um gesund zu bleiben, es sei denn, Sie sind krank geworden.“ Hier nickte er nur. „Auch scheint der Zugang zu dem, was Sie innerlich fühlen, nicht so Ihr Ding zu sein.“ Schwarz musste schmunzeln (er beriet Firmen in deren Arbeitsorganisation, das „Seelenzeugs“ war ihm fremd). „Nur, wir müssten da wieder mal hin, so leid es mir tut, gerade weil Sie es für gewöhnlich vermeiden.“ Da richtete er sich im Sessel ganz auf: „Na gut, Sie Quälgeist, ich bin bereit.“ Dieses Wort passte so gar nicht zu Schwarz’ Art, mit mir zu sprechen, und signalisierte wohl, dass bei ihm etwas in Gang kam, das ihn herausforderte. „Bevor wir beginnen, bitte ich Sie, achtsam Ihr Glas Wasser auszutrinken, und Sie wissen ja, was achtsam bedeutet: aufmerksam ganz beim Wasser sein, wie es vom Mund langsam durch die Kehle in Ihren Magen hinabfließt.“ Alles Weitere konnte ich vorhersagen – im Selbstsystem von Hans Schwarz blühte gleich etwas auf. Meine Worte aktivierten den Teil seines Gehirns, der Verbindung mit seinen Emotionen und seinen Körperbedürfnissen aufnahm. Ein kurzer Abstecher in die Gehirnforschung mag das verdeutlichen. Die mittlere Präfrontalregion (hinter der Stirn) ermöglicht uns die Empathie mit uns selbst und damit „die Erfahrung unserer selbst als Zentrum subjektiver Gravitation“ (Siegel 2010b, Die Alchemie der Gefühle, S.  63). Diese Gehirnregion besitzt eine zur Gelassenheit unabdingbare integrative Fähigkeit als „Weisheit des Körpers“ (Siegel, ebd., S.  64) und dient unserer Selbst­ beobachtung: sich selbst noch während eines Erlebnisses achtsam wahrzunehmen, um die Muster durchbrechen zu können, die uns gewohnheitsmäßig zu automatisierten Verhaltensweisen verführen und damit von unseren selbst

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gewollten Sinn-Impulsen entfernen (Siegel, ebd., S. 67). Sobald ich mich achtsam auf meinen Körper besinne, sei es durch die Atmung, durch Konzentration auf bestimmte Körperregionen  – oder eben durch einen Schluck Wasser –, betritt mein Bewusstsein ein Feld jenseits des Denkens und damit jenseits von gut und böse. Hierzu werde ich Ihnen noch Übungen empfehlen, die Sie, wie immer Kleinkriege um Sie herum toben mögen, gelassen agieren lassen (Kap. 5). Hans Schwarz hatte solche Kleinkriege im Schlachtfeld-Film seines Kopfkinos gegen sich selbst laufen: „Du kannst nichts, die Kunden wollen Besseres als Dich, Du schaffst das nicht, andere sind besser, der Tag wird ein Graus …“ Und inmitten dieses stummen Geschreis seiner Ich-Gemetzel schien er im Laufe der Jahre mehr und mehr taub geworden sein für die Rettungsrufe seines Körpers. Hans Schwarz stellte das Glas wieder neben seine Unterlagen, blieb aufrecht sitzen und schloss seine Augen. Auf diese Wirkung hatte ich gewartet. „Wenn Sie so jetzt in sich hineinhorchen, was spricht da zu Ihnen?“ – „Hm …, so was wie Hunger.“ – „Hunger? Was hat in Ihnen Hunger? Und wonach?“ Er atmete tiefer durch. „Hunger nach … – nach mir selbst. Seelenhunger.“ – „Woran spüren Sie das?“ – „Dieses Glas Wasser, da floss was mit runter, das mehr als das Wasser war, und alles war gut. Das mit Worten zu beschreiben, langt nicht ganz hin.“ Diese Erfahrung mache ich mit Klienten immer wieder, die eine Art Heimkehr zu sich selbst erleben, sobald sie ihrem Körper dorthin nachspüren, was er benötigt. Unsere Energie, die uns antreibt und unser Wesen belebt, pulsiert jenseits der Worte und Gedanken und schenkt uns, spüren wir ihr nach, die Kraft, etwas zu wollen, das unserem Selbst ganz und gar entspricht. Mit einem „Schluck Wasser“ können wir die Achtung vor unserer Wesensenergie zurückgewinnen und unsere Gefühle und unsere Lebenshaltung uns selbst und anderen gegenüber tatsächlich verändern. „Ich war mir noch nie so nah“, sagte Hans Schwarz, als ich ihn bat, noch einmal einen Schluck Wasser zu trinken, diesmal ganz bewusst und langsam und darauf bedacht, achtsam dem Wasser von den Lippen in den Mund und seine Kehle bis hinab in seinen Magen zu folgen und seine Gedanken für zwei Minuten vorbeiziehen zu lassen. Mich machte diese überraschende Einsicht seiner Selbstnähe betroffen, zeigte sie mir zugleich, wie getrennt Menschen von sich selbst leben und das für gewöhnlich gar nicht so wahrnehmen. Bis ein Schluck Wasser sie aufweckt. Direkten Einfluss auf unsere Emotionen haben wir leider nicht, und die sind es zumeist, die uns zu schaffen machen, wenn es darum geht, uns selbst zu achten in unserem Wollen und Trachten. Sobald der Körper, die Basis unseres Geistes, aufblüht, sprießen unsere Willensimpulse und Selbstwertaspekte oft mit auf in dem, was wir tun. Und das beeinflusst wiederum unsere emotionale Haltung uns selbst und dem Leben gegenüber.

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Für Hans Schwarz kam das einer Erweckung gleich. Er konnte seinen Willen über den Körper, seine Bewegungen und eine gesunde Energiezufuhr viel entschiedener aktivieren und eine „Welt der Gelassenheit“ eröffnen als über Gedanken und Einsichten und Vorstellungen, weil wir Menschen mit dem Baukasten der Ratio nur einen eingeschränkten Einfluss auf Emotionen und Gefühle haben und unser Körper uns hierzu ein wunderbar natürliches Medium anbietet. Unser Selbstwertgefühl stabilisieren wir ebenso über solch körperlich gesunde Handlungen, wie es bei Hans Schwarz fast im Handumdrehen zu erleben war. Was wir tun, denken, fühlen, gehört unter dem mentalen Dach des Selbstsinns zu einem Organismus – zu einem Menschen. Hans Schwarz schien mit einem Mal all die losen Fäden seiner inneren Anteile straffen und auf ein Ziel hin bündeln zu können. „Verdammt, ich hab so viel erreicht und kann auch viel und werde geschätzt und gebraucht von meinen Kunden, und kaum achte ich auf meinen Körper, gewinnt das grad alles für mich wieder an Bedeutung. Irre. Von jetzt ab, ich schwör’s, kümmere ich mich um meine Gesundheit.“ So vermag der Sinn, den wir Menschen unserem Tun und Denken geben, einen gerichtet planenden und steuernden Aspekt durch die Basis unseres körperlichen Wohlgefühls erhalten, wobei es dann wiederum unsere Gefühle und insbesondere unser Selbstwertgefühl sind, die diesen „Selbstsinn“ konstituieren als eine „Sorge um den Organismus“ (Damasio 2005, S.  242). So gehen unser Sinn, den wir unserem Handeln geben, und unser Wille dazu Hand in Hand mit unserem Körper.

3.11 Sinn und Wille – survival values Wem die Wünsche fehlen oder Werte nicht bewusst sind, deren Befriedigung Glück und Sinn bescheren könnten, der krankt häufig an einem Vakuum seiner Existenz, das mit Sinnleere und Ziellosigkeit beschrieben werden kann. Der Existenz fehlt ihre Essenz. Aus einem solchen Vakuum entsteht die Angst vor dem Ungewissen als ein emotionales Echo innerer Leere. Mit „Wünschen“ meine ich mitnichten so manche Schaufenster- und Laufsteg-Effekte im Außen verlorener Seelen, die etwas für sich unbedingt haben oder für andere darstellen wollen. Wenn ich nach Wünschen (in anderen oder mir) frage, möchte ich vielmehr in Kontakt kommen mit einer auf Werten basierenden inneren Bestimmung des Menschen: • „Worauf kommt es mir im Leben an? • Was genau will ich?

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Wo geht meine Reise eigentlich hin? Worum geht es mir dort, wo ich ankommen will? Sind meine Ziele die Ziele anderer? Was hindert mich, das zu tun, was ich wirklich will? Was gewinne ich, wenn ich es wage? Stehe ich voll und ganz hinter dem, was ich tue? Wie schätze ich mich selber ein in dem, was ich vorhabe?“

Die Antworten weisen jenseits all der Spiegelreflexe unseres Egos und seiner Vergleiche mit sich und anderen. Sich seiner inneren Werte, Bedürfnisse und Motive bewusst werden heißt, Willensimpulse zu orten. Denn jedes Bedürfnis erweckt seinen ihm je gemäßen Willen, zu bekommen, was es möchte, und das wiederum zentriert, ordnet und nordet unser Handeln wie mit einem inneren Kompass. Damit verdichten sich der Wille und der Sinn zu Überlebenswerten (survival values) für jeden gelungenen Alltag, an dessen Abend wir uns bewusst werden können: Ja, diesen Tag hast Du stimmig mit Dir selbst und anderen gelebt, weil Du es so wolltest. Hans Schwarz spürte aus seiner Körpererfahrung einen Hunger nach sich selbst, eine Sehnsucht nach Selbstachtung, Kompetenz und Selbstwirksamkeit. Und kaum hatte er diese Bedürfnisse als Selbstwertimpulse geortet, richtete ihn sein Wille, hier sinnvoll tätig zu werden, von ganz alleine auf. „Wenn Du weißt, was Du willst, kannst Du tun, was Du kannst.“ Das zentriert die Haltung des Menschen, seine Persönlichkeit auch gegenüber Widrigkeiten weiterzuentwickeln, allein deshalb, weil er seine Bestimmung aus sich heraus kennt. Er hört auf seine inneren Stimmen, die ihm sagen, was Sinn im Leben macht. Er ist aus sich heraus auf etwas gerichtet. Wer eine solche Bestimmung erfährt und sich von innen her selbst leitet, erlebt seinen Willen als Zentrifuge gegen alles Ungewisse, gleichsam als Willens-Nabe und Drehpunkt dessen, was wir tun. Hier können Sie die Quelle Ihres gelassenen Lebens spüren, das unverlierbar individuell ist und nicht egozentrisch. Und dieses Bestimmt-Sein ist kein Privileg der Großen oder Berühmten, weil der Wille in unser aller Natur liegt und ihr nicht zuwiderlaufen kann. „Wenn wir diesen Prozess ‚im Innernʻ betrachten, finden wir, dass wir eine bewusste, existenzielle Erfahrung von ihm haben können. Wir können ihn als eine intelligente Energie erleben, die auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist und einen Zweck hat. Diese sind auch die spezifischen Merkmale des Willens als Ausdruck des synthetisierenden Selbst“, schreibt Assagioli und erklärt die „Eigenschaft des Willens (…) als eine innere Synergie, die die verschiedenen

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psychologischen Funktionen koordiniert; sie ist die vereinigende Kraft, die zur persönlichen Psychosynthese tendiert und das Individuum in die Lage versetzt, diese zu verwirklichen“ (Assagioli 1998, S.  37–38). Mit seiner Beschreibung unserer Energie als „Intelligenz“ streift Assagioli nebenbei die Feststellungen der Quantenphysik, wonach in uns eine Art Kraft- und Informationsquanten wirken. In dieser „Potenzialität“, schreibt wiederum der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, „steckt auch der Wille drin, denn Potenzialität meint auch Potenz“, in der eine „Woll-Möglichkeit zum Ausdruck (kommt)“ (Dürr 2011, S.  47). Den Sinn wollen und möglich machen – ein Überlebenswert-Prinzip. Unsere innere Spannkraft zwischen Sinn und selbstgewolltem Sollen enthebt uns von den Tragödien der Nebensächlichkeiten, die Tragödien nur werden, wenn uns der Sinn verloren geht. Dann wissen wir nur noch, was wir nicht wollen, was uns nervt, stört, ärgert oder ängstigt. Sobald jedoch der Sinn unserem Sein vorausgeht, wird er zum „Schrittmacher“ (Frankl 1976) unserer Existenz. Und wirklich, als Hans Schwarz seine körperliche Gesundheit als Basis seines Selbstglaubens  – sprichwörtlich am eigenen Leib – entdeckt hatte, trieb dieser „Schrittmacher“ ihn voran. Die Arbeit als Berater, die Kundenwünsche, die Projekte – all dies bleib, was es zuvor war, nur blickte er jetzt ganz anders darauf und packte es anders an. Dieses Handling ließ Hans Schwarz in sich eine Gelassenheit erfahren, nach der er sich vor allem im Kontakt mit Menschen gesehnt hatte. Er bewertete sich nicht mehr in grübelnden Vergleichen mit anderen, ließ dieses EgoGeplapper vielmehr an seiner Stirnwand vorbeiziehen. Was aber ist es, das dem Menschen den entscheidenden Impuls gibt, sich solcherart von Vergleichen, Bewertungen und Konventionen abzuheben? Es ist das Bewusstsein der eigenen Mission, des übergeordneten Sinns, für das zu leben oder auch zu leiden sich lohnt. Natürlich wirkt nicht alles, was Sinn macht, gleich stark auf Ihren Willen. Hier sollten Sie (wenn ich Ihnen diesen Anstoß geben darf ) sich zurückbesinnen auf Ihre Werte und das, was wir in Abschn.  3.3 „Werde zu dem, was für Dich Sinn ergibt“ bereits reflektiert haben. Denn eines ist sicher: Die Meisterschaft Ihres Willens ermisst sich an der Güte und Tauglichkeit Ihres Sinns. So gleicht die Gabe, Sinn zu schaffen, einem Willensakt, der im Bewusstsein seiner selbst seine eigene Statue meißelt und spürt: Es ist alles bereits da wie in einem Marmorblock, ich muss etwas wegnehmen, was überflüssig ist, und beiseitelassen, was mich hindert (im Unterschied zur Malerei, die hinzufügt), und dazu brauche ich den mutigen Pakt zwischen Sinn und Wille.

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3.12 D  er Wille hat die Zukunft im Visier – eine Ruhequelle für das eigene Handeln Unsere Existenz geht, wie der Philosoph Jean-Paul Sartre es formulierte, der Essenz in dem Sinne voraus, dass wir natürlich zuerst da-sein (existieren) müssen, um das zu werden, was wir sinnvollerweise (essenziell) zu sein beabsichtigen. Daraus entsteht nun eine Wechselwirkung: Unsere Existenz folgt wiederum dem, was wir als Essenz anstreben, was wir als Entwurf uns selbst vorausdenken, um die Zeit bis dorthin entsprechend zu gestalten. Wir entwerfen somit eine Spannkraft zwischen Sein und Sollen. Sartres Philosophie des Existenzialismus hat uns mit dieser uns wesensgemäßen Freiheit den Entwurfscharakter unsrer Existenz klargemacht. Danach gibt es kein Zurück mehr hinter unsere Freiheit; wir sind, wie Sartre es formuliert, „zu Freiheit verdammt“. Hiernach haben wir jederzeit nicht nur die Chance, sondern einen Selbstauftrag, die uns angemessenen Seins­ möglichkeiten selbst zu wählen und zu verwirklichen. Möglich ist uns das aufgrund unserer „existenziellen Transzendenz“, womit wir über die augenblicklichen Gegebenheiten hinaus stets einen Schritt in Richtung Selbstent­ wurf machen können. Wir sind uns stets vorweg mit dem, was wir uns zu tun vornehmen. Wir können das Hier und Jetzt überschreiten – transzendieren – durch das Abstand-­nehmen-­Können hin zum Dort und Gleich. „Der Mensch gelangt zu sich durch den Abstand des Nichts“, so Sartre, und dieses „Nichts“ ist alles andere als nihilistisch. Es ermöglicht uns als „produktive Negation“ im Sinne der Distanz, Abstand nehmen zu können von uns selbst und allem, was uns umgibt. Wir können zu allem, was uns betrifft, Ja oder Nein sagen und entsprechend handeln. Das Nichts eröffnet die Quelle unserer Seinsmöglichkeiten, die uns, weil wir uns entwerfen und Gegenwärtiges überschreiten („nichten“) können, frei sein lassen. Wir leben ein Leben, das durch unsere Möglichkeiten bestimmt ist. Das erfordert unseren Willen, der die Kraft hat, das, was ist, zu erweitern auf das, was sein soll. In dieser Spannkraft zwischen Sein und Sinn kann unsere Erhabenheit wachsen oder unsere innere Ruhe auf dem Spiel stehen. Diese beiden Haltungen zeigte eine Abteilung einer deutschen Flug­ gesellschaft während eines Workshops, der einschneidende Veränderungen vorbereiten sollte. Die einen Mitarbeiter blieben aus- und aufgerichtet auf eine sinnvolle Partnerschaft mit dem Wandel, die anderen zuckten vor lauter Ängsten nervös zusammen. Die einen fühlten sich mit verantwortlich für das Überleben der Fluggesellschaft und packten die bevorstehenden Einschnitte offensiv und zuversichtlich an; die anderen zogen sich resigniert zurück und

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pochten trotzig auf Arbeitsplatzsicherung. Die Abteilung war in die zwei Haltungen aufgeteilt: eine essenziell sinnvolle Zukunftsgestaltung mit dem Willen einer offensiven Mitbestimmung gegenüber einer Beharrung auf Existenzsicherung von gewohnten Abläufen, bestehenden Verträgen und vergangenen Zusagen. Sinnigerweise blieben diejenigen weitaus gelassener, die willens waren, tatkräftig mit den verantwortlichen Entscheidern die anstehenden Rahmen­ bedingungen zu gestalten, als die Beharrungsfraktion, die nervös im Sorgensog herum lamentierte. Die Zukunftsorientierten schenkten möglichen Gedanken des Scheiterns, Verlusts oder Zweifelns einfach keinen Glauben. Bereits im Workshop schauten sie nach vorne und kreierten eine für alle Beteiligten sinnvolle Vision eines gemeinsamen Wandels. Die wunsch- und willensblockierten Mitarbeiter glaubten ihren Gedanken des Scheiterns und Zweifelns. Und dabei passierte etwas, das Menschen häufig erleben, wenn ihr Wille nicht zielgebündelt agiert: Sie kippen den Schalter ihrer Energie auf ein richtungsloses Netzwerk der Ungewissheit oder Beliebigkeit statt auf die Spannkraft und Leitung eines sinn- und zielgerichteten Handelns und kaufen dem Geplapper der Gedanken so ziemlich alles ab, was sie zu beschränken oder zu vermeiden gedachten. Die Nörglerfraktion begann draufloszuquengeln, die Arme zu verschränken und meistens nur da­ rauf zu reagieren, wogegen sie argumentieren konnte. Solcherart unausge­ richtet das Neue vermeidend, gebiert der Mensch die Neurose von heute: die Willenlosigkeit einer unentschiedenen Desorientierung. Und wie gehen umgekehrt Menschen vor, die sich entschieden haben, ein Zukunftsbild wirklich werden zu lassen? Hier möchte ich noch einmal auf Roberto Assagioli zurückkommen, dessen Willensschulung zum Aspekt der Zukunftsgestaltung exemplarisch ist. Nach den folgenden „Stadien des Willens in Aktion“ (Assagioli 1998, S. 123), grundlegend für das, was wir sinnvoll erreichen wollen, verlief auch der Veränderungsprozess in der Abteilung zur Flugabwicklung. Die „Stadien des Willens“ sind dabei: 1. Der Zweck oder das Ziel • Hier ist es wesentlich zu klären, aufgrund welcher Werte, Motive und Absichten etwas bezweckt oder erreicht werden soll. Das Ziel soll also bewertet werden, um motivieren zu können, weil unsere Werte die dynamische Energie zur Motivation liefern, sobald uns ein Ziel sinnvoll erscheint. –– Die Mitarbeiter, denen (in der Mehrzahl) der Veränderungsprozess der Flugabwicklung selbst wichtig war, einigten sich auf eine Zielvision „Den Wandel gemeinsam gestalten“. Hierzu lagen ihnen die Werte der

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Selbstverantwortung, der Kooperation und der Freiheit im Handeln am Herzen. Mit dieser emotionalen Wertebasis kam ihr gemeinsamer Wille in Aktion, das übergeordnete Ziel als Konsens aller Beteiligten zu verwirklichen. 2. Die Erwägung oder Beratschlagung • Hier müssen wir die verschiedenen Ziele und deren Zwecke untereinander abwägen und überlegen, mit welchem Ziel und Zweck wir bestmöglich unsere Werte verwirklichen und zugleich unseren alltäglichen Lebens­ bedingungen Rechnung tragen können. –– Bei der Flugabteilung stand eine gemeinsame Klärung der Rahmen­ bedingungen, unter denen der Wandel vollzogen werden sollte, an oberster Stelle. Dieses Ziel, nur in Verhandlungen mit den Verant­ wortlichen zu erreichen, erfüllte für alle Beteiligten ihre Werte der Selbstverantwortung, der Kooperation und der Handlungsfreiheit. 3. Die Wahl oder Entscheidung • Wer wählen kann, ist frei, und wer sich entschieden hat, wird gelassen. Und dazu sind wir sind immer frei genug, wählen und uns entscheiden und unsere Gelassenheit entfalten zu können. Eine Wahl muss getroffen werden, für welches der bestimmten Ziele aufgrund welcher Werte wir uns entscheiden wollen, sonst verspielen wir unsere Freiheit. Mit dieser Entscheidung beginnt die Energie des Willens komprimiert zu fließen (was uns zugleich die Abwahl der nicht gewählten Ziele erleichtert). –– Was allen MitarbeiterInnen der Fluggesellschaft aus der Teamunruhe heraushalf, war der Entschluss, mit der gewählten Entscheidung zugleich akzeptiert zu haben, auf was sie sich einlassen wollten. Selbst die Gegner bekräftigen, „Klarheit vor Schönheit“ stellen und an der dynamischen Kraft zur Mitgestaltung der Zukunft teilhaben zu wollen. Diese gemeinsame Bekräftigung einer getroffenen Entscheidung markierte für die Abteilung eine Voraussetzung, in den folgenden Wochen und Monaten kreativ und schöpferisch zu werden. 4. Die Entschlossenheit und der selbstsichere Befehl des Willens „Los geht’s!“ • Der Augenblick der Entscheidung zentriert im Menschen das Energiefeld seiner Aufmerksamkeit auf ein gewähltes Ziel. Hier spüren wir uns selbst gesichert im Sinne eines „Los geht’s! Da will ich hin!“. Hier fällt es uns leicht, Preise zu zahlen, die ohne Ziel-Entschlossenheit schwerfielen. Hier ruhen Zweifel und Angst. Wir lassen los vom Rest denkbarer Alternativen und fühlen uns innerlich gesichert. –– Den Seminarraum beherrschte plötzlich eine konzentrierte Gesprächs­ dynamik der Gruppenarbeiten. Themen der Prozessqualität, der Dia­ logforen, der Arbeitsstrukturen oder Zeitregelung bündelten die Energien der Flugabteilung in eine für alle Beteiligten spürbar beruhigende Gemeinsamkeit. Die anfänglichen „Gegner“ der Veränderungs­ prozesse wurden von den Befürwortern bewusst als „kritische Geister“ willkommen geheißen und in die jeweiligen Themengruppen als aktive Hinterfrager integriert. 5. Das Planen und Arbeiten an den Schritten und Wegen zum Ziel • Erdachtes wirklich werden lassen können, ist eines der faszinierendsten Gaben menschlichen Lebens. Hierzu planen wir diejenigen Maßnahmen, die unsere Schritte sichern, und schmieden Pläne für ein Leben aus dem Geiste handfester Griffe. Hier schult sich Denken tüchtig zum Tun.

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–– Nun war kein Halten mehr, als es darum ging, die ersten praktischen Maßnahmen zur Zukunftsgestaltung nach eigenen Vorstellungen griffig zu machen. Als ob die Mitarbeiter von der Reise zur Vision heimgekehrt seien ins Reich des Dingfesten, wurden Organigramme und Prozessabläufe zur neuen Flugabwicklung gezeichnet, Pro- und KontraArgumente für die Verhandlungsgespräche aufgelistet oder Mode­ rationsabläufe für regelmäßige Dialogtreffen zum Verände­rungsprozess entwickelt. 6. Dranbleiben und durchführen • „Ich glaube nicht, dass es eine andere Eigenschaft gibt, die so wesentlich für jede Art von Erfolg ist wie die Beharrlichkeit“, schrieb John D.  Rockefeller nicht nur dem Wirtschaftsleben ins Handwerkbuch. Nur wenn der Wille beharrlich sein Ziel verfolgt, wird unsere Absicht sichtbar. In diesem beharrlichen Bemühen ruht die Essenz einer gelassenen Aufmerksamkeit, wie turbulent unsere Mühen auch wirken mögen. Unserem Willen obliegt hierzu die „Leitung und ein ständiges Überwachen der Durchführung“ (Assagioli, ebd., S.  124). In dieser konsequenten Pragmatik ermisst sich unsere Selbstwirksamkeit – den Blick auf die Fakten mit der Zukunft im Visier. –– Jeder im Workshop fühlte sich jetzt verantwortlich, als es darum ging, gemeinsam Geplantes im Alltag zu konkretisieren. Die Beharrlichkeit, dranzubleiben, wurde von der Flugabteilung zur Tugend erhoben: „Der Flieger landet erst, wenn das Ziel erreicht ist.“ Ungefähr zwei Monate später rief ich die Teamleiterin an, um nachzufragen, ob die Flieger noch in der Luft oder ob bereits Notlandungen geplant seien. „Nichts landet Not hier, im Gegenteil“, schwärme sie, „die Abteilung der Gepäckabfertigung, auf die bald ähnliche Veränderungen zukommen, fragte sogar bei uns an, wie wir das so engagiert und zuversicht­ lich anpacken würden.“

Die Erfahrung dieser Flugabteilung hat exemplarisch zeigen können, wie seit Urzeiten der Mensch Neues entwickelt und hierzu bereit ist, bislang Gewohntes mitunter schmerzvoll zu verändern. Der Wille geht dabei mehrstufig vor (s. Abschn. 3.8): • • • •

„er fokussiert das erstrebenswerte Ziel, überwindet hierzu aufkommende Widerstände, kassiert notgedrungen unangenehme Preise dorthin, nimmt diese Art Kostenrechnung des Widerstandes in Kauf, indem wir unser Ziel als höheren Preis kassieren, • und belohnt uns obendrein mit einem Höchstpreis: gelassen auf die Willensstufen zurückschauen und gelassen bleiben können für Neues.“ So bereichert uns die Willenskraft mit der Gabe, langfristig zu schauen, statt kurzfristig orientiert zu sein, und jede Weitsicht auf ein gewolltes Ziel

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(das sehen wir noch bei den Stoikern, s. Abschn. 4.2 ff.) beruhigt, relativiert und entspannt. Der Wille braucht einen Sinn und ein Ziel und liefert uns dann ganz von selbst als Essenzen die Geduld und die Beharrlichkeit. Denn Konzentration und Aufmerksamkeit sind die entscheidenden Funktionen für den Willen, und es sind diese Funktionen, die Gelassenheit bewirken. Der Blick des Seemanns am Steuerrad hinaus zum Horizont mag eine Metapher für die gelassene Haltung bieten: Wo befinde ich mich gerade? Wohin will ich? Und warum? Und wozu? Und mit wem und womit? Was unser menschliches Gehirn für seine Zukunftswirkung auszeichnet, ist die Gangart unserer Gedanken: Ich schreite so voran, wie ich denke zu gehen. Dabei konzentriere ich meinen Willen (oder meine Aufmerksamkeit, je nachdem) auf die Bilder oder Vorstellungen, um deren motorisches Potenzial freizusetzen, das Bildern innewohnt: „Bilder oder mentale Vorstellungen und Ideen haben die Tendenz, die ihnen entsprechenden körperlichen Zustände und äußeren Taten zu erzeugen“ (Assagioli, SdW, S. 33). Indem Sie beharrlich das Bild Ihrer Zielhandlung aufrechterhalten und verfolgen, spüren Sie, wie gelassen Sie handeln, weil der Maßstab dessen, was Sie wie tun wollen, Ihre ureigene Kreation darstellt. Dem Wollen geht das Wünschen voraus und verleiht ihm die Wärme der Seele und die Einbildungskraft des Geistes. Umgekehrt schenkt der Wille dem Wünschen Kraft und Schutz und sichert es ab (und ihm zu), weiter existieren und reifer und selbst gesteuert werden zu können. So haben wir einst laufen und die Welt im Kleinen entdecken gelernt, durch diesen zuver­ sichtlichen Pakt zwischen Wünschen und Wollen. Ohne Willen bleibt der Wunsch Fantasie, ohne Wunsch bleibt der Wille kalt, beliebig, ja mitunter widersprüchlich. Der schottische Schriftsteller und Bergsteiger W. H. Murray sei hier nochmals zitiert: „Was alle Handlungen von Initiative (oder Schöpfung) angeht, so gibt es eine elementare Wahrheit, deren Nichtbeachtung zahllose Ideen und hervorragende Pläne umbringt: dass in dem Moment, in dem man sich defi­ nitiv verpflichtet hat, sich die Vorsehung ebenfalls bewegt. Alle möglichen Dinge, die sonst nie passiert wären, passieren, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen folgt aufgrund der Entscheidung und bringt zu eigenen Gunsten alle Arten von Vorfällen und Begegnungen und materieller Unterstützung, von denen kein Mensch geglaubt hätte, dass sie auf diesem Wege kommen würden. Was immer du meinst oder glaubst, tun zu können, beginne es“ (Murray, „The Scottish Himalaya Expedition“, 1951).2

2  Dieses Zitat wird häufig Goethe zugeschrieben. Den Hinweis zur Murray-Quelle des Zitates verdanke ich dem Philosophen und Textexegeten Bernd Kissling.

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Gelassenheit liegt in der Verantwortungsübernahme all dessen, was auf dem Weg in die Zukunft in dem Moment passiert, in dem ich es erfahre und wie ich es erfahre. Die Wirklichkeit, die hierbei zählt, ist unsere Erfahrung, wir allein sind ihre Schöpfer. Und vergessen wir nicht: Jeder Tag ist Gerichtstag für den Willen, sich von Neuem entscheiden zu können auf das hin, was Sinn für uns macht.

3.13 Achtung: Ladehemmung! „Nur, jedes Mal, wenn ich mir was vornehme, beispielsweise meine Mitarbeiter zu mehr Veränderungsbereitschaft herauszufordern, dann mach ich innerlich schlapp, wenn die vor mir sitzen. Und was ich anfangs wollte, versackt dann komplett.“ Andy Mühler versinkt im Sessel (noch etliche Sitzungen vor seiner „Sinn-Findung“). Mir fällt hierzu die Botschaft seines Vaters ein, an die sich der Klient in einer vorangegangenen Sitzung im Zusammenhang mit seinem Willen erinnerte: „Um das, was Du willst, Junge, geht’s nicht.“ Mühler hatte daraus ein inneres Selbstkonzept entwickelt: „Um mich geht es nicht. Ich hab nichts zu melden. Andere sagen mir, was ich will.“ Das erlebe ich immer wieder bei Menschen, wenn sie etwas wollen und es doch nicht tun, weil ihr Impuls zur Handlung innerlich blockiert ist. Vielen Willensimpulsen haftet ein Schuldgefühl an, ist der Wille doch oftmals geboren aus der „Fruchtbarkeitsblase des schlechten Gewissens“ (Yalom 2000, S. 380) durch elterliche Widerstände, Werturteile oder Missachtungen: „Kinder, die was wollen, die kriegen was auf die Bollen.“ Im Widerstand gegen elterliche Befehle und Verbote hat der Wille sich erproben müssen und wurde – leider, wie auch bei Andy Mühler – zu oft gebrochen und vor allem: missachtet. Bei sehr vielen Klienten kommt dieses schlechte Gewissen immer wieder zum Vorschein, wenn sie sich willentlich zu etwas entscheiden wollen, das allein ihren Wünschen geschuldet ist. Doch die alten Geschichten der Eltern legierten die neue Tat mit miesen Gefühlen: schlechtes Gewissen, Angst vor Rivalität, Versagensangst oder einfach nur Halbherzigkeit. Die Verletzungen elterlicher Kommentare oder Konsequenzen trüben die freie Willenswahl unwillentlich ein. Da will der Mensch etwas und tut es doch nicht, weil er glaubt, Schlechtes zu bewirken, den Unmut der Umwelt auf sich zu ziehen oder anderen etwas vorauszuhaben, wenn er es doch täte. Und wer etwas nicht tut, obschon es selbst gewollt war, reagiert oft mit Selbsterzählungen im Stil aus Schuld und Versagen, und zwar auf den Missstand einer inneren Buchführung, der verheerend wirken kann: Was kann ich? Was will ich? Was ist mir möglich? Und was tue ich dafür? Unterm

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Strich können daraus Gefühle der Unterlassungssünden resultieren, ein bitterer Nachgeschmack versäumter Chancen, den Willen tätig werden zu lassen. Daraus wiederum entsteht eine Art existenzieller Schuld, unser Selbst verletzt zu haben und damit unserer Existenz, unserem Leben untreu geworden zu sein. Genau dieser Makel, die eigene Existenz versäumt zu haben, machte Andy Mühler zu schaffen. Unbewusst hatte er jahrelang bedauert, sein Leben ungelebt anderen überlassen zu haben, und das wegen einiger Sätze seines Vaters, mit denen er das väterliche Manko übernahm. Diese untergründige Selbstbeschuldigung resultierte in einer Depression. Es machte dann in Mühler regelrecht „Klick“, als er diese Ladehemmung seines Willens erkannt hatte und löste: Er ließ los davon, sich selbst zu beklagen, Chancen verpasst oder Entwicklungen vermieden zu haben, weil er begriff, hierfür niemanden anderen verantwortlich machen zu können als nur sich selbst. Diese Selbstverantwortung befreit von eingebildeten Strippen, mit denen angeblich andere an uns herumzerren, und lässt uns gelassen selber wählen, was wir wollen.

3.14 Mut ist Wille mal Sinn Gelassenheit ist eine Sache der Entscheidung und damit des Willens. Das klingt einfacher gesagt, als wir es in dem Moment, wo wir gelassen sein wollen, tatsächlich erleben können. Und doch beweisen Menschen immer wieder (wie das Beispiel der Flugabteilung mit ihrer Visionsarbeit gezeigt hat), dass unsere Entschlossenheit, auf ein sinnvolles Ziel hin zu leben, eine neue Zentrifuge unserer Willensstärkung aufbauen kann. Da segeln wir wie Odysseus an den Verführungen der Sirenen vorbei, wir reagieren nicht auf jeden Ruf, der uns vom Weg abbringen will, wir verstopfen unsere Sinne vor der Ablenkung und horchen auf die Rufe unserer inneren Werte, binden uns erfolgreich an die Masten weniger Prinzipien und steuern genau das Ziel an, das wir uns vorgenommen haben. Wir streben zu etwas hin und schwingen uns damit hinaus über die verführ­ baren Reize des Alltags, sagen gelassener „Nein“ zu dem, was uns aufhält in unserem Hinauf zum Sinn-Horizont einer persönlichen Vision. Dazu ist (ich möchte es immer wieder betonen) jeder Mensch frei genug, das für sich selber klären zu können – wenn er will. Diese Freiheit kann es für uns allerdings nicht ohne Grenzen oder Widerstände geben, sonst wäre sie leer und verantwortungslos. Sobald wir etwas wollen, aktivieren wir unsere Selbstwirksamkeit als eine Kraft zur

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Rückkoppelung: Ich bin es, der/die hier in der Welt Spuren hinterlässt, oft gegen – ja: wegen der Widerstände von außen oder aus uns selbst heraus. Hier gilt: Nur wer sich reibt, gewinnt Auftrieb. Und wer weiß, wozu es gut ist, sich an Widerständen reiben zu müssen, geht mit diesen Widrigkeiten gelassener um als jene, die ziellos anecken. „Menschen sind in Bedeutungen hineingeboren und streben unablässig nach Bedeutung. Unser Wille, Bedeutung im Leben zu finden, ist unsere Hauptmotivation zu leben. Bedeutung wird nicht gegeben, sie muss erlangt werden. Die Bedeutungsschaffung ist wesentlich für den Umgang mit Distress. Bedeutung bringt außerdem positive Gefühle und sogar Wohl­ befinden.“ Der amerikanische Psychologe Leslie S.  Greenberg beschreibt diese heilsame Zusammenkunft von Gedanke, Wille und Gefühl als eine Art Überlebensprinzip des Menschen (Greenberg 2011, S. 40). Unsere Begabung, Bedeutung zu erschaffen, gleicht Emotionen wie Angst oder Stress aus und kann unsere weiteren Schritte im Alltag klären. Sobald uns das Leben am Kragen packt und wir diesem Griff Sinn geben oder mit einem über die Situation hinausweisenden Ziel bedeutungsvoll antworten können, lindern wir unsere Angstgefühle und entwickeln damit einen weiten Basiswert zur Selbstwirksamkeit: Mut. Diese menschliche Tugend, die in unserer mausklickenden Wohlfühl-Kultur zunehmend seltener wird, macht ohne Angst keinen Sinn. Nur, wir digitalisieren mehr und mehr, verwöhnt im Bildschirmkontakt zum Leben, den Aufwand körperlich-emotionaler Unruhe ohne Anstrengung weg. You lose what you don’t use. Mut jedoch, schreibt Hemingway, sei unsere „Würde unter Druck“. Gerade in brenzligen Mo­menten zeigt sich, ob wir zu uns selber stehen und wie es um die Sache unserer Selbstachtung bestellt ist. Unsere Würde geht zum Beispiel mit dem Gefühl Angst anders um, als wenn wir an uns zweifelten oder uns auf andere Weise abwerteten. Insofern begrüßen Sie, wenn es mal hart auf hart kommt, die Chance zum Innenblick: Glaube ich an mich? Stehe ich zu mir? Bleibe ich mir treu? Diese Fragen treffen ins Zentrum unserer Selbstwürde, die Herausforderungen standhält und den Mut zu uns selbst aktiviert. Heming­ ways Mut-­ Definition packt das Prinzip der Selbstachtung in heiklen Situationen typisch knapp zum Wort-Anker der Gelassenheit zusammen. Wissen wir, was wir wirklich wollen, weil wir es uns selbst wert sind, wagen wir Wege, von denen uns selbst unsere Angst nicht abhält. Und in unserem Leben geht es, sobald wir erwachsen geworden sind, um unser ursprüngliches Selbstprinzip, um das Richtmaß unserer Eigentlichkeit. Versäumen wir uns da auf Dauer selbst, naht Unglück endlos. „Ein jeder leidet, der nicht für sich selbst handelt“ (Goethe 1979, S. 69). Dazu müssen wir ein untrügliches Gespür entwickeln für diesen inneren Seismografen des

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Selbst und sodann Wege wagen, die andere nicht gehen oder nicht so gehen, wie wir es tun. In diesen Wagnissen gestalten und entwickeln wir zuerst, was sonst gar nicht existierte, und werden so zu Schöpfern unserer selbst. Darin liegt die Herausforderung unseres Lebens, von dem wir einen Preis erhalten, nachdem wir unsere Komfortzonen durchbrechen – glücklich wird, wer sich selbst überwindet. „Ich war jenem Selbst sehr nahe gekommen, das man nur erschafft, wenn man alles riskiert, wenn man dahin geht, wo andere nicht hingehen, das gibt, was andere nicht geben wollen“, schreibt James Salter in seiner Autobiografie „Verbrannte Tage“ (Salter 2000, S.  229). Dieser große amerikanische Schriftsteller schoss, bevor er mit Romanen den Zenit der Weltliteratur mehr­ fach umkreist hat, als Pilot der Air Force durch die Himmelsstürme zahlreicher Kriege. Dabei entkam er mehrfach nur knapp dem Tod. Einen solchen Heroismus erwähne ich, weil das Held-und-Heldin-Sein-Können seit Urzeiten im Menschen verankert liegt als eine archetypische Quelle, gegenüber Widrigkeiten des Lebens genau das zu tun, was unserer tiefsten Überzeugung entspricht. Nur erliegt diese Mutfigur allzu leicht unserem Rotstift einer konventionellen Dramaturgie, die anpasst oder entfernt, was nicht passt oder aneckt. Einen Helden aber interessiert die Frage nicht, was andere von ihm denken mögen oder was passieren könnte, wenn er einen Kampf verliert.

3.15 M  ut befreit von Bedingungen, die nicht unsere sind Unsere Widerstandskraft (Resilienz) resultiert aus unserer Fähigkeit, die Dinge des Lebens so zu meistern, wie es situativ für uns stimmig ist und passt. Das klingt so banal, wie es schwierig zugleich ist, gelebt zu werden. Diese Balance einer Passung zwischen unserem gefühlten Wertesystem und dem gelebten Alltag jedes Mal und immer wieder neu zu finden, gehört zu den größten Herausforderungen unseres Lebens. Zum einen kann ich beispielsweise mein frisch bezogenes Arbeitszimmer in der neuen Firma oder ein Gespräch mit einem Autoverkäufer so gestalten, wie es meinem Geschmack oder meinen Werten und Bedürfnissen entspricht. Oder ich entwickle mit meinem Team aufgrund einer neuen Marktkonkurrenz neue Arbeitsabläufe und Umgangsformen, und zwar nach meinem Führungs­ verständnis in herausfordernden Zeiten. Oder ich springe, nachdem der engagierte Clown zur Geburtsfeier meiner Tochter kurzfristig abgesagt hat, kurzerhand selbst auf die kleine Bühne und improvisiere ein Stegreif nach

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meinem Gutdünken. Klappt das eine oder andere Mal dann nicht so, wie ich mir das vorstellt habe, liegt es an mir, den nötigen Willen und Mut aufzubringen, das zu äußern und zu ändern und die Situationen für mich stimmig einzurichten. Ich habe die Personalchefin einer Reinigungsfirma gecoacht, nachdem ihr nach aufwendigen Gebäuderenovierungen in der Firma vom Geschäftsführer „verboten“ worden war, ihren Bürostuhl auf die andere Seite ihres Schreibtischs zu stellen; sie wollte damit zum Garten hinaus und auf einen wunderbaren Ahornbaum schauen. Der Architekt jedoch hatte die Schreibtische in den neu eingerichteten Büros längs vor die Fenster mit Blick zur Bürotür postiert. Und so schrieben die „architektonischen Richtlinien“ laut ihres Chefs vor, „mit dem Rücken zum Garten und dem Gesicht zur Tür zu sitzen“. Sind die Bedingungen, unter denen ich dauerhaft leben will, meine oder fremde? Mit dieser Frage schüre ich meine Widerstandskraft, sobald ich emotional spüre, was mir wert und wichtig ist und ich wirklich will. Das ist die Basis gelassenen Handelns. Diese Basis reicht aber nicht aus, um in die Tat umgesetzt werden zu können. Der Schritt zur Tat erfordert einen Tritt, der zu stolpern wagt und weiter schreitet. Hier hapert es häufig, Schritte straucheln mutlos zurück, und dann verwehren manche Stolpersteine wie Grenzgemäuer den eigenen Weg. Warum es da nicht weitergeht, hängt zumeist mit verinnerlichten Verboten oder gesellschaftlichen Konventionen zusammen. Unter deren Zensuren oder Rotstiften werden viel zu häufig kreative Impulse, innovative Ideen oder spontane Handlungen von Menschen, die etwas wagen wollen, im Keim erstickt oder gestrichen und wie auch immer kalt gestellt. Ruhe bitte, kein Drama hier draußen! Und die Mutlosen ziehen sich dann meist zurück und bekämpfen mit nach innen geschlucktem Drama sich selbst. Um selbsttreu für uns selbst zu handeln, dazu haben wir mitunter Grenzkämpfe zu bewältigen, die uns mehr in unserem Selbst als um uns herum herausfordern. Monatelang traute die Personalchefin sich nicht, ihren Bürostuhl Richtung Ahornbaum zu stellen. Kaum saß sie am Schreibtisch, mit dem Rücken zum Garten und die Bürotür via-à-vis, stieg Groll in ihr auf, ein Gemisch aus Ärger über ihren Chef und Wut auf sich selbst. Sie wollte sich wehren, traute sich aber nicht und spülte ihr Aufbegehren täglich mit einer Menge Kaffee herun­ ter. Ihr Schreibtisch wurde allmählich zum Unruheherd einer Ambiva­lenz von Ohnmacht und Selbstbehauptung, den sie innerlich noch im Privaten mit sich herumschleppte. In solchen Augenblicken gilt es, innezuhalten, um die eigene Anwaltschaft innerer Ambivalenzen anzutreten: Wir müssen zwischen Autonomie und Loyalität, zwischen der Freiheit für uns selbst und der Hingabe an andere

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immer wieder neu justieren. Sobald wir unsere Motivwelt reflektieren, liefert sie den Maßstab für die Bedingungen unseres Umfelds. Hier teile ich aus und zeige der Welt, wo’s langgeht. Geben ist seliger denn nehmen (sprach nicht nur der Boxer). Hier erlebe ich Rückhalt durch meine ureigene Geschichte. Hier entwickle ich meinen Mut als Atem des Selbstwertes durch die Röhre der Angst, um mein Eigenes Fremdem gegenüber zu wagen. Und in fast allen bislang besprochenen Fällen haben die betroffenen Menschen genau hierdurch den Impuls erfahren, für sich zu handeln und die Bedingungen entsprechend zu ändern. Was tat die Personalchefin? Sie sprach mit ihrem Chef über das, was ihr auf der Seele lag. Ihre Liebe zur Natur, ihr Hobby als Gärtnerin, ihre Sehnsucht nach dem Ländlichen, wo sie aufwuchs  – all dem musste sie täglich den Rücken kehren. Nur weil ein Architekt das so vorsah, dessen Pläne die Bedürfnisse der betroffenen Menschen kaum berücksichtigten. Ob ihr Chef nun nachgab oder bei seiner Route blieb, war ihr plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Entscheidend für sie war, ihrem Chef zu sagen, wie ihr zumute und was ihre Meinung war. Aufgeregt betrat sie das Büro der Geschäftsleitung und gelassen ging sie wieder fort. Sie hatte sich getraut, konfrontativ Stellung zu beziehen für ihre Bedürfnisse und Werte. Dieser Mut verlieh ihr eine Kraft und Würde, die sie morgens wieder aufrecht an ihren Schreibtisch gehen ließen. Ihr Chef, erzählte sie mir, sei in dem Gespräch sichtlich berührt ge­wesen und verblüffte sie, indem er ihre Beweggründe verstand. Nun bat auch er wiederum, ihn zu verstehen. In allen Büros auf dieser Etage, für internen wie externen Kundenkontakt eingerichtet, stünden die Schreibtische den eintretenden Menschen hin zugewandt. Gäbe er hier jetzt nach, widerspräche er nicht nur der architektonischen Form, die den Kunden im Blick hat, sondern auch seinem Fairnessprinzip; die Kollegen auf demselben Flur fühlten sich benachteiligt. Diese Verbindung zur scheinbar entgegengesetzten Welt des anderen ließ die Personalchefin gelassen die Tür hinter sich schließen. Warum? Sie hatte mutig klargestellt, was ihren Werten gegen den Strich ging (womit sie alles andere als recht behalten wollte), fühlte sich hierdurch selbstgeachtet, was ihr wiederum ermöglichte, die Gegenpartei zu verstehen. Was folgt daraus für das, worum es hier geht? Wir glauben, auf Schlachtfeldern kämpfen zu müssen, die für das, worum es uns eigentlich geht, vollkommen unbedeutend sind. Vordergründig verschleudern wir tagtäglich Energien für Kämpfe ums Recht-­Behalten, wo es untergründig um die Balance von Basiswerten des Selbstvertrauens und der Autonomie sowie des gegenseitigen Verstehens und der loyalen Gemeinschaft geht. Dieses Feld jenseits von Richtig und Falsch ist ein Ort gelassenen Handelns, um das es sich lohnt, gelegentlich zu kämpfen.

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Und das zeigte der Personalchefin vor allem: Menschen vermögen unter scheinbar widrigen Bedingungen stimmig mit sich selbst zu leben, wenn sie sich selbst treu bleiben und das gebührend anderen gegenüber ausdrücken und ihnen die Chance geben, selbst ebenso verstanden zu werden. Es gibt jedoch noch eine andere Richtung, mit der uns tagtäglich das Leben unabdingbar herausfordert. Ein geliebter Mensch stirbt plötzlich, ein Unternehmen feuert mich, eine schwere Krankheit zieht mich aus dem Verkehr, ein Unwetter vermasselt ein lang geplantes Familienpicknick  – Unerwartetes zwingt mich zu einer Haltung, in der ich mich den Tatsachen des Daseins anpassen muss. Hier kommt es nun darauf an, unser Denken, Fühlen und Verhalten an die Tatsachen der Außenwelt anzupassen und flexibel genug zu sein, auf unveränderlich neue Situationen neu zu antworten. Da wir in die Zukunft und damit aufs Neue eines jeden nächsten Augenblicks mit unseren bislang benutzten „alten“ Brillen blicken, sind wir herausgefordert, unsere eingeschliffenen Perspektiven, Erklärungen und Bewertungen dessen, was wir da sehen, zu ändern. Der entscheidende Dreh hierbei liegt also im Switch unserer bisherigen Erwartungen und Lebenskonzepte, die es zu erweitern, zu verändern, zu säubern oder gar abzulegen gilt. Wenn Sie schwierige Situationen erleben, die nicht in Ihre Lebens­ vorstellungen oder Selbstbilder passen, die Sie also nicht integrieren können in Ihre bereits bewährten Seelenzustände, dann sind Sie gefordert, neue Daseinsannahmen oder Selbsterzählungen Ihrem bisherigen Welt­ bildbestand hinzuzufügen. Wer also mit einem erlittenen Ehebruch, Jobverlust, einer schweren Krankheit, tiefen Enttäuschung oder gar Gewalt konfrontiert wird, muss das Leben neu interpretieren und sich selbst ebenso neu erfahren können. Die schwierigen Situationen, unabänderlich, erhalten damit einen für den Menschen und sein Selbstverständnis stimmigen und sinnvollen Platz. Hierzu eine wahre Geschichte: Benjamin und Cäsar, zwei jugendliche Freunde unterschiedlicher Herkunft, machen Urlaub am französischen Atlantik. Benjamin fühlt sich dem Leben und seinen Menschen gegenüber unterlegen und von Alltagsproblemen schnell gebeutelt. Von Kindheit an verwöhnt, weil Einzelkind einer vermögenden Ärztefamilie, nagt in seiner Seele zugleich ein tiefer Zweifel an sich selbst. Ihm wurden nicht nur sämtliche Beschwernisse des Lebens durch Kindermädchen und Privatschulen erspart, sondern zugleich vonseiten der Eltern fürsorglich eingeredet, „halte Dich von Schwierigkeiten fern und aus Konflikten raus, Du bist zu sensibel und schwach“. Mitten in Benjamins Selbstsystem schleift seither ein Zahnrad mit der Gravur „ich genüge nicht“ herum und blockiert, wenn’s drauf ankommt, ein sicheres Handeln.

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Sein Freund Cäsar dagegen geht mit einem ganz anderen Laufwerk an Selbstkonzepten durchs Leben. Unverwüstlich, sich selbst vertrauend und optimistisch, packt der Spross eines Taxiunternehmers die Dinge so an, wie sie grad kommen. Aufgewachsen zwischen zwei Brüdern, hatte Cäsar gelernt, sich durchzusetzen, wozu ihm sein Vater eine Haudegen-Weisheit mit auf den Weg gab: „Wenn Du etwas willst, glaub an Dich, tu’s einfach und scher Dich nicht drum, was andere denken.“ Und wenn’s mal wieder schieflief, pflanzte ihm seine Mutter ihren heiteren Optimismus ins Herz: „Über den Wolken scheint für Dich immer Deine Sonne.“ So schlendern Benjamin und Cäsar eines Abends vom Strandcafé zurück zum Zeltplatz, als plötzlich ein Gewitter losbricht. Es schüttet wie aus Kübeln, Atlantikwind peitscht den Regenguss quer, und die beiden Freunde müssen sich schräg gegen den Sturm legen, um im Sandmatsch voranzukommen. „Unser Zelt“, schreit Benjamin, „… bestimmt schon weggefegt, und alles nass, verdammt! In dem Boden kriegen wir das heut nicht mehr aufgebaut.“ Cäsar schaut ihm durch umherwirbelnde Wassersträhnen kurz ins Gesicht. Aus Benjamins Augen blickt pure Angst, sein Mund verzerrt zum Heulen. „Wo sollen wir nur schlafen, Mann, ohne uns zu erkälten, und keine Apotheke weit und breit.“ In Benjamins Denken spult die Dramaturgie „Es-wirdschlimm-und-ich-­schaff-es-nicht“ ab. Dabei springt er, von Angst gesteuert, in eine vorgestellte Zeitepisode und kreiert per Kopfkino den bekannten Leinwandeffekt aus Imagination und Schrecken. Daraus lässt sich Benjamins Selbstkonzept ablesen: selbstzweiflerisch, Opferhaltung, Unterlegenheit, Sorgen, Minderwertigkeit, zukunftsängstlich. „Genieß doch erst mal diesen fantastischen Wasserrausch, Benni, so herr­ lich wie die Wellen vorhin“, ruft ihm Cäsar zu, „und dieser Matsch hier, ’n richtiges Training für die Beine, klasse!“ Cäsar handelt ganz im Hier und Jetzt und vertraut sich selbst. Sein unerschütterliches Gefühl für das, was er kann, lässt ihn in sich ruhen und bewusst im Augenblick verweilen. „Was weiß denn ich, was gleich auf uns zukommt. Schritt für Schritt, mein Freund, wir werden schon sehen!“ Der Marsch der beiden Freunde vom Strand zum Zeltplatz zeigt zwei Weltsichten, die zwar unterschiedlicher nicht sein können und doch des Menschen alltäglichen Zwiespalt symbolisieren: Seelen-Friede und Kopfkino-­ Krieg. Die Tatsachen außerhalb ihrer Psyche sind, wie sie sind: ein Unwetter im Urlaub und ein Fußmarsch zum Campingplatz. Wie die beiden Freunde auf diese Fakten reagieren, das macht erst deren Lebensweisen aus. Am Zeltplatz angekommen, bleiben die beiden tatsächlich vor einem zerstreuten Haufen aus Zeltplane, Stangengerippe, Luftmatratzen, Kochtöpfen und Campingstühlen stehen. „Wusst’ ich’s doch, hab ich wieder recht gehabt“,

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flucht Benjamin und rennt im Gewitter zwischen den Kiefern ihres Zeltplatzes kopflos herum, reißt mal hier ein Stück Zeltplane hoch, zieht einen heruntergefallenen Ast von seinem VW-Käfer, hebt dort eine Luftmatratze vom Waldboden und lässt alles gleich wieder fallen. „Hey, Benni, beruhige Dich, atme mal tief durch“, ruft ihm Cäsar zu, „außerdem, Du Besserwisser, willst Du jetzt recht behalten oder glücklich sein? Beides geht nicht.“ Dabei son­ diert Cäsar im windgepeitschten Regenfall seelenruhig die Lage. „Cäsar, wir müssen das Zelt wieder aufbauen!“, ruft Benjamin, fingert eine Zeltplane hoch und schaut zu, wie unter seinen Händen aus einer Mulde angesammeltes Regenwasser über einen Rest trockenen Zeltbodens fließt. Hilflos blickt er nach hinten, sieht dort aber, wo eben noch sein Freund ge­standen hat, nur Wasserstriemen herumwirbeln. „Cääääsaaaaar!!!“ Unter dem Holzvordach eines nahe gelegenen Badehauses hockt Cäsar auf einer Bank und raucht eine trocken gebliebene Zigarette. „Lass alles liegen und komm rüber ins Trockene“, ruft er durchs Gewitterdunkel. „Du hältst den Regen nicht auf und vermasselst das Beste. Schau Dir lieber das Naturschauspiel von hier aus an. Morgen scheint wieder die Sonne.“ Stunden später, es ist längst Nacht geworden über dem Atlantik, trommeln noch ein paar Regentropfen auf dem Wagendach die beiden Freunde leise in den Schlaf. Ein Ereignis, zwei Lebenshaltungen. Benjamin, angstgetrieben im Festhalten an Gewohntem (trocken schlafen, Gesundheitsschutz, Zeltaufbau), steckt im Kopfkino seiner erlernten Hilf­ losigkeit fest und bestätigt kopflos umherzappelnd genau dieses Selbstkonzept. Cäsar nimmt Abstand zu dem, was er nicht ändern kann, bleibt gelassen und zieht daraus seine Stärke für den kommenden Augenblick, der es lohnen wird, zu handeln. Er pflegt die Tugend des akzeptierenden Loslassens. Er unterbricht, sich selbst vertrauend, die Regelkreisläufe routinierter Denkhandlungen, die darauf geeicht sind, Lebenssituationen nach dem Ursache-WirkungsPrinzip (wenn ich A tue, dann folgt B, wodurch ich C kontrolliere) beherrschen zu können. Cäsar passt sich den Gegebenheiten flexibel an, ohne sich dabei selbst zu verleugnen. Benjamin dagegen hält am Konzept seines Ungenügens gegenüber der Wirklichkeit krampfhaft fest und verliert so seine Selbstkontrolle.

Literatur Assagioli, Roberto (1998): Die Schulung des Willens. Paderborn: Junferman Damasio, Antonio (2005): Der Spinoza-Effekt. Berlin: List-Ullstein Damasio, Antonio (2001): Descartes Irrtum. München: dtv

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Descartes, René (1976): Meditationen zur ersten Philosophie. Stuttgart: Reclam Dürr, Hans-Peter (2011): Wir erleben mehr als wir begreifen. Freiburg: Herder Emerson, Waldo (1983): Essays. Zürich: Diogenes Faschingbauer, Michael (2010): Effectuation. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Frankl, Victor (1976): Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn. Freiburg: Herder Frankl, Victor (2002): Der Mensch vor der Frage nach Sinn. München: Piper Goethe, Johann-Wolfgang (1979): Maximen und Reflexionen. Frankfurt am Main: Insel Greenberg, Leslie S. (2011): Emotionsfokussierte Therapie. Basel: Ernst Rein­ hardt Verlag Hänsel, Markus (2012): Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Harris, Russ (2009): Wer dem Glück hinterher rennt, läuft daran vorbei. München: Kösel-Verlag Hesse, Hermann (1986): Lebensstufen. Frankfurt: Suhrkamp Kabat-Zinn (2011): Gesund durch Meditation. München: MensSana Ludewig, Kurt (2002): Leitmotive systemischer Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta Murray, W. H. (1951): Companion Guide. Roth, Gerhard (2007): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Stuttgart: Klett-Cotta Salter, James (2000): Verbrannte Tage. Berlin: Berlin-Verlag Siegel, Daniel J. (2010a): Wie wir werden die wir sind. Paderborn: Junfermann Siegel, Daniel J. (2010b): Die Alchemie der Gefühle. Pößneck: Random-Kailasch Yalom, Irvin D. (2000): Existentielle Psychotherapie. Köln: Edition Humanistische Psychologie

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Geist ist geil!1 Fritz Simon

4.1 D  as bestmögliche Fundament zur Sinnorientierung Die Philosophie, die Liebe (philo) zur Weisheit (sophia), genügte den Griechen, um das Leben danach auszurichten und dabei glücklich werden zu können. Sie übten das Denken, schulten die Willenskraft und praktizierten im Miteinander einen tugendhaften Umgang zur Pflege weisen Lebens. Damit waren im Kern der Philosophie als Lebensform der geistige Fortschritt und eine radikale Umkehr täglichen Handelns enthalten. Die Übungen (askese) des Denkens und des Willens dienten der Bemühung, Weisheit und Glückseligkeit (Eudämoniea) zu erlangen. Was für eine Zeit damals, als Weisheit noch was galt! Was heißt Weisheit? Wann leben wir weise? Die Antwort der Griechen trägt ihre Gültigkeit zeitlos in unsere Gegenwart hinein: „Die Weisheit war eine Lebensweise, die Seelenruhe (ataraxia), innere Freiheit (autarkeia) und kosmisches Bewusstsein mit sich brachte. Zunächst stellte die Philosophie ein Heilverfahren gegen die Angst dar“ (Hadot 2005, S.  165). Und in diesem

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 Prof. Dr. Fritz Simon, mündl. Mitteilung während einer Fortbildung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Hoffmann, Deine Freiheit, deine Gelassenheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25475-9_4

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Bugwasser der philosophischen Seelenheil-Fahrt treiben fortan die Nachen aller Lebensratgeber – bis heute. Mit Sokrates trat die Philosophie sinnbildlich auf den Marktplatz des menschlichen Daseins und mahnt uns seither, Sorge für uns selbst zu tragen und unser Leben, frei von vorgegebenen Glaubenssystemen, selbstkritisch für den alltäglichen Umgang mit uns und anderen zu prüfen und zu vervollkommnen. Der Mensch sucht und findet hiernach die Prinzipien und Anhaltspunkte, wie er mit sich und anderen bestmöglich umzugehen hat, in sich selbst. Halte den Tempel Deines Geistes sauber und Du erblickst die Welt durch klare Fenster. Dieser wertvolle und bis heute gültige Kerngedanke des Humanismus wirkt als Antriebsfeder einer gelassenen Authentizität, die ihren Vertrag erst einmal mit sich selber schließt. Ohne die eigenen Anhaltspunkte in sich selbst zu finden, ist ein freies Leben ohne Angst nicht möglich. Dem Menschen ist es anheimgegeben, Sinn und Zusammenhalt seines Lebens aus sich selbst he­ raus zu schöpfen und aktiv zu gestalten. Das heißt natürlich keineswegs, unsere griechischen Ahnen abendländischer Lebensphilosophien hätten einem Ego-Kult gehuldigt. Unser Dasein bleibt vielmehr in seinen dem Seelenfrieden dienenden Übungen stets einbezogen in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte (hierfür sorgt die Ethik) sowie in den kosmischen Zusammenhang (hierfür sorgt die Physik). Der Dreh- und Bewusstseinspunkt für ein Handeln im Sinne der Gemeinschaft und der Natur bleibt gleichwohl der Mensch in seiner inneren Freiheit (autarkeia), ein Wesenskern, in welchem wir nur von uns selbst abhängen und für dessen Wirkung wir ganz allein verantwortlich sind. Fast alle Werte und Überzeugungen unserer Zivilisation gründen in den großartigen Weltanschauungen unserer Philosophiegeschichte, von Sokrates bis Nietzsche, von Marc Aurel bis Sartre, von Seneca bis Heidegger. Unser Leben bleibt eingeschrieben in diese philosophischen Basiswerte unserer Geistesgeschichte. Und unsere Aufgabe ist es, uns dieser Geistesfundamente (wieder) bewusst zu werden. Hier finden wir im Sinne der Selbsterkenntnis, was schon immer auf uns wartet: die Quintessenz der je eigenen Lebenswerte, Handlungsprinzipien und Sinn-Entwürfe als die unverlierbaren Maßstäbe unseres gelassenen Selbsterlebens. „Mit der Philosophie kann man die Ängste besiegen, die das Leben lähmen, und es ist ein Irrtum zu glauben, die Psychologie könne heute an ihre Stelle treten“, schreibt der französische Philosoph Luc Ferry in seinem Buch „Leben lernen: Eine philosophische Gebrauchsanweisung“, für den die „großen philosophischen Antworten (…), die seit grauer Vorzeit auf die Fragen nach dem richtigen Leben gegeben worden sind, aktuell bleiben“ (Ferry 2007, S. 10–11).

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Wer philosophiert, hält inne, tritt einen Schritt zurück und reflektiert über Bedingungen seines oder ihres Lebens, um es menschenwert gestalten zu können. Der Dreh philosophischen Denkens bringt das Heil des Menschen von keinem übergeordneten Botschafter (Mythen, Gott, Religion, Diktatur etc.), sondern ganz aus ihm selbst heraus zum Menschen. Philosophie ist mit Freiheit so eng verbunden wie Blut im Kreislauf. Dabei unterschied die Philosophie von Anbeginn kurzfristige Glücksmomente einer Bedürfnisbefriedigung (Hedonie) vom dauerhaften Glück der Wahrheitssuche und der Erkenntnis (Eudämoniea). Der Grundimpuls der Philosophie, den Urängsten zu entrinnen, ist philosophischem Denken bis heute geblieben und hat großartige und zeitlose Weisheiten ins Leben gerufen. Wie faszinierend diese Lehren Sie als Leser neu ausrichten können auf Ihrer Lebensspur, deren Richtung Ihnen voll und ganz entspricht, das sollte Ihnen zugleich als Impuls zum neuen Denken dienen. Sie haben es, philosophisch betrachtet, gänzlich im Griff, neue geistige Gewohnheiten für sich selbst zu schaffen, um Ihr Gehirn auf das hin zu trainieren, wozu die Philosophie seit jeher in das Leben der Menschen ­getreten ist: Weisheit, innerer Friede, Gleichmut, Glückseligkeit und die Tugenden der Menschlichkeit. Dabei sollten Sie, gerade was die Tugend der Menschlichkeit betrifft, mit Ihrem philosophischen Denken nicht allein im stillen Kämmerlein verweilen. In meinen Seminaren erlebe ich immer wieder ein Aufatmen der Teilnehmer, wenn sie aus thematischen Paar- oder Gruppenübungen ins Plenum zurückkehren und schwärmen, wie gut es ihnen täte, „endlich mal mit jemandem über wesentliche Lebensdinge sprechen zu können“. Die zeitknappen Alltagsroutinen können jegliche Besinnung abtöten. „Unsere Wahrheit beginnt zu zweit“, schreibt Nietzsche. Ich brauche den anderen und unseren gemeinsamen Freimut, um Wahrheiten über mich selbst erspüren und aussprechen zu können und hören zu wollen, ob das, was ich sage, für mich selbst wahr ist und Sinn macht. Hier hat die Philosophie die Geburtsstunde unserer Meta-Gabe weltgeschichtlich eingeläutet. Unser Bewusstsein ermöglicht uns, über (griechisch: Meta) etwas nach zu denken und zu sprechen (oder schreiben). Wir werden uns über uns selbst und unsere Geisteszustände bewusst und können damit das „Gefängnis“ unserer automatisierten Reflexe verlassen. Dieses Bewusst werden-über-etwas ist eine der größten Gaben unserer geistigen Entwicklungsgeschichte und wurde in der Evolution mit der griechischen Philosophie im westlichen sowie mit dem Buddhismus im östlichen Kontinent um ca. 600 vor Christus parallelgeschichtlich zum Leben erweckt. Übrigens muss das eine wahrlich irre Zeit damals gewesen sein, was die sprunghafte Entwicklung kontinentaler Geisteszustände anbelangte.

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4.2 D  er Dialog klärt Welten auf und führt nach Hause Diesen Geburtseffekt der Sinngebung erleben Sie beispielsweise in einem Gespräch mit jemandem, dem Sie etwas anvertrauen, das Sie beschäftigt, und der Ihnen interessiert zuhört und nachfragt, um Sie zu verstehen, was genau Sie da innerlich so bewegt. Sie überlegen und antworten, und er fragt weiter nach, und Sie tauschen sich vertrauensvoll über das, was Sie zuvor noch ungeklärt beschäftigt hat, gemeinsam weiter aus, suchend, prüfend, tastend, und finden plötzlich eine Erklärung, die Sinn für Sie macht. Diesen Sinn können Sie fühlen, weil er mit Ihrem inneren Sein übereinstimmt. In einem so verstandenen Dialog werden die Beteiligten zu Beobachtern ihres eigenen Denkens, Fühlens und Handelns. Sie kreieren Wahrheiten, Lösungen oder Sinn und erleben sich in ihrem Suchen und Finden mitunter neu. Aus jedem wirklich guten Gespräch geht der Mensch anders hinaus, als er hineingegangen ist. So formt ein echter Dialog den Menschen, statt ihn bloß zu informieren. Diesen Unterschied können Sie als Gütesiegel jedem Ihrer Gespräche einprägen. Damit komme ich zu einem für das menschliche Miteinander entscheidenden Austausch, der sich von einem kommunikativen Informationsaustausch strikt unterscheidet: der Dialog. Die Wurzel dieses Wortes entstammt dem griechischen Altertum und wuchs aus dia (hindurch) und logos (Welt, Wort, Austausch, Rede) hervor. Redend gehen wir durch unsere Welten hindurch: ein Fließen von Worten. Wir führen einen Dialog, wenn der Mensch achtsam und gegenwärtig dem Dialogpartner zuhört und emphatisch mitverfolgt, was die Welt des anderen bedeuten könnte. Hier verlässt der Mensch sein täglich antrainiertes Schachspiel-Syndrom, bloß wieder nur seine eigenen nächsten Züge durchzukalkulieren, während er dem Gesprächspartner (dann meist nur noch „halb“) zuhört. Hier unterbricht der philosophische Dialog im Sinne der Wahrheit, die sich nicht halbieren lässt. Was meinen wir genau mit den Worten, die unsere Gedanken ausdrücken, die wiederum meist Nichtgedankliches zur Sprache bringen wollen? Was bewegt den Menschen, wenn er nachdenkt oder spricht und sich damit über die Tatsachen des Alltäglichen (Büro, Haushalt, Politik, Erziehung, Geld etc.) erhebt und nach Sinn, Erklärungen oder Lösungen sucht? Sein innerlich stimmiges Selbsterleben im Kontakt mit der Welt. Diesem Impuls des Geistes, über das Leben nachzudenken, liefert philosophisches Denken seit jeher vielfältige Sinn-Gebäude und damit ein echtes Interesse am Menschen und dessen Sehnsucht, heimzukehren in eine Behausung aus Sinn.

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Diese philosophische Haltung sich selbst und anderen gegenüber möchte ich Ihnen ans Herz legen: „Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem Gespräch mit sich selbst und dem Gespräch mit einem anderen. Nur derjenige, der einer authentischen Begegnung mit dem anderen fähig ist, ist einer authentischen Begegnung mit sich selbst fähig, und das Umgekehrte ist gleichfalls wahr. Ein authentischer Dialog ist nur gegeben, wenn man für andere und für sich selbst präsent ist. So gesehen ist jede geistige Übung in dem Maße ,dialogischʻ, wie sie die Übung eines echten Gegenwärtigseins darstellt, eines Gegenwärtigseins für sich selbst und für andere“, schreibt der französische Philosoph Pierre Hadot in seiner „Philosophie als Lebensform“ (Hadot 2005, S. 26). Mit einer echten Gegenwärtigkeit deeskalieren Sie vor allem die Teufelskreise Ihrer Gedanken, die fast ständig ohne Ihren Kontakt zum gegenwärtigen Augenblick einer Eigendynamik unterliegen und Sie im Autopiloten der Sprache mit sich fortjagen. Nicht Sie denken da Ihre Gedanken – die Gedanken denken Sie. Wahrhaftig dialogisieren heißt insofern, gewohnte Meinungen über Themen oder vor allem auch über Ihren Gesprächspartner loszulassen. Versuchen Sie mal, dem Anderen zu begegnen, als begegneten Sie ihr oder ihm wie zum ersten Mal. Das nennt beispielsweise der Zen-­Buddhismus den „Anfänger-Geist“, der Menschen und Dingen stets die Chance einer Geburt der ersten Stunde ermöglicht. Gehen Sie auf die Menschen zu und sprechen mit ihnen über Stimmungen, Wünsche, Befürchtungen und über das Zu­mute-Sein. Nach einem solchen Miteinander-Sprechen, und das erleben Menschen immer wieder, wenn sie solcherart mit anderen geredet haben, atmen sie auf, entspannen sich, sehen die Dinge mit anderen Augen und spüren eine Gelassenheit, die von jenseits der Sprache aus einem innerlich stimmigen Sein aufsteigt. Das meine ich mit nach Hause kommen, und das philosophische Gespräch gewährt hier eine Seelenführung heimwärts.

4.3 A  m Anfang war das Ungewisse – ein Rätsel aus Angst Aller Philosophie Anfang waren das Staunen und die Angst. Das Staunen als die Quelle des Rätsels und die Angst als der Urgrund allen Denkens und Handelns. Woher kommen die Bewegungen der Sterne? Was lässt die Wasser über die Nilufer treten? Wieso steigt die Sonne immer an der gleichen Himmelsstelle auf? Was macht die Zuverlässigkeit des Naturkosmos aus? Was steckt hinter alledem als unverlierbar Sicheres? Mit diesen Fragen geriet der

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Mensch ca. 600 Jahre vor Christus ins Staunen und Rätseln über die Naturphänomene um ihn herum und beantwortet sie mit den ersten kosmologischen (die Natur und den Kosmos betreffenden) Philosophien unserer Kulturgeschichte. Unsere Welt bestünde im „Urgrund der Dinge“ aus Wasser, erklärte Thales (624–546); die Welt sei in ihren Fundamenten getragen vom „Unendlichen“, erwiderte Anaximander (585–525); alles Leben existiere in seinen Harmonien und Disharmonien auf errechenbaren Zahlenverhältnissen, entgegnete Pythagoras (570–496); alles Leben unserer Erde sei durchwirkt vom geistig-­ fließenden Prinzip des Logos, glaubte Heraklit zu erkennen (544–484); der gesamte Kosmos bestehe aus Atomen, weissagte Demokrit (460–370). So blätterten die alten Griechen ihre großartigen kosmologischen Weltan­ schauungen für die nachfolgenden Kulturgeschichten auf, und noch heute zehren wir vor allem in unserem Verhältnis zu uns selbst als einem menschlichen „Kosmos“ (altgr. Welt, Ordnung, Schmuck) von dem Gedanken eines „Prinzips“, das unser Ganzes durchwirkt. Überlegen Sie einmal, wie Ihr persönliches Prinzip lautet, das Ihnen Einheit, Sinn und Zusammenhalt ermöglicht und Ihnen als zuverlässiges Gesetz Ihrer selbst bis zum Tod unverlierbar bleibt. Was macht Ihr Selbst eigentlich aus? Worin liegt die Quintessenz Ihres Lebens? Mit solchen fragenden Gedanken entfalten Sie eine zutiefst menschliche Dimension: das Bedürfnis, dem Leben Halt, Sinn und Ordnung zu geben. Des Menschen Seelenheil kreist oftmals um die Fragen des Warum und Wozu. Und im Kern all dieser Fragen liegen die Kreationen der griechischen Philosophie als zeitlose Prinzipien des Menschseins verborgen. Das heißt, wir können uns auf so etwas wie unser „Selbst“, den „Sinn unseres Daseins“ oder auf „Ordnungen der Dinge“ nur besinnen, weil ein paar Hundert Jahre vor unserer Zeitrechnung weise Köpfe solche Sprachfiguren zu mentalen Zentren unseres Denkens und Handelns, ja unseres Menschseins kreiert haben. Um der eigenen Demut willen, die Abstand nehmen lässt vom Kleinkram unserer Egos, sollten wir uns hin und wieder auf dieses Jahrtausende währende Erbgut in unserem eigenen Denken besinnen, das uns grenzübergreifend mit Prinzipien der Menschlichkeit verbunden sein lässt. Was aber hat nun diese Männer damals bewogen, überhaupt nach Ursachen und Gründen zu forschen und dem eigenen Suchen Antworten zu geben, die uns heute noch prägen? Diese Frage könnten Sie selbst beantworten, wenn Sie überlegen, was Sie einst hat anfangen lassen, Ihrer Welt (z. B. Eltern, Spielzeug, Haushund, Regenguss, Apfelmus etc.) Namen zu geben. Anthropologisch seit Urzeiten als Sprachgeburt eruiert, ist es das Grundgefühl aller Menschen – die Angst. Wer sie benennt, zähmt sie (to name is to tame).

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Diese ganz andere Dimension eines Gefühls ist ursprünglicher als das mentale Prinzip der Rätsellösung durch Sinn und Ordnung. Mit der Geburt des Menschen – als Gattung wie als Individuum – tritt die Angst als emotionales Echo auf das Fremde, Ungewisse, Verlorene oder Unverfügbare in Erscheinung. Dieses Urgefühl entsteht, wenn in oder um uns etwas auftaucht (eine Befürchtung oder Sorge, berufliche oder private Veränderungen, ein Konflikt oder Verlust etc.), das wir nicht zu meistern glauben. Und die Philosophie verspricht dem Menschen von Anbeginn, ihn heilen zu können von diesem Urgefühl Angst. Unsere Angst wird dabei nicht verschwinden, wir gehen einfach gelassener mit ihr um. Im Unterschied zu den Religionen und ihren Götter- und Propheten-­ Kulten kommt mit den Philosophien das Heil für den Mensch ganz aus ihm selbst heraus. Somit waltet das „göttliche Prinzip“, das uns weise und gelassen werden lässt, nicht als etwas Transzendentes über unser Leben, sondern immanent als Halt und Heil in uns selbst. Die Suche nach dem Heil und der Weisheit ist und bleibt damit unsere innere Antriebsfeder, philosophisch zu denken. Weise, glücklich und frei zu leben heißt für den philosophierenden Menschen also auch, mit seinen Sorgen und Ängsten, die zum Alltag gehören wie Regen zum Wetter, bestmöglich umgehen zu können. Angstfrei leben werden wir nicht, dafür ist die Angst viel zu wertvoll, hält sie uns immerhin wach vor möglichen Gefahren und sichert so das Überleben. Doch philosophierend erobern wir gelassen diesen Grundimpuls und bleiben trotzdem ruhig angesichts seiner emotionalen Aufruhr. „Unser Angst verschwindet, wenn wir ihr unsere volle Aufmerksamkeit widmen“, schreibt der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti in seinem „Einbruch in die Freiheit“ (Krishnamurti 2012, S. 59–70) und ermutigt uns, dieses Rätsel aus Angst zu meistern, indem wir achtsam durch sie hindurch und ihr auf den Grund gehen und dabei ihre Lösung sichten. Eine solche Innenschau entdeckt uns zumeist einen allgegenwärtigen Auslöser unserer Sorgen und Ängste: den Verlust von etwas (z. B. Leben, Menschen, Status, Geld, Arbeit, Gesundheit, Besitz …), gefolgt von der Ungewissheit, was ohne das, was wir zu verlieren befürchten, mit uns geschieht.

4.4 Trost kann trügen Der Mensch ist in der Tiefe seiner Psyche seit jeher mit sich alleine, wie nah er auch anderen sein zu können glaubt. Wie trösten wir uns darüber hinweg? Wie trösten wir uns überhaupt? Früher gab es Gott, noch früher die animisti-

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schen Riten, später dann die Traditionen und für viele bis vor Kurzem sogar die Firma und das sichere Regelwerk der Arbeit. Doch nun? Wird es das Internet sein? Facebook? Die Blogs aus einsam Selbstgefilmtem? Der Blick ins Bildschirmleben? Das Modediktat der Konsumindustrie? Die Angst jedenfalls ist geblieben, die früher Gott bzw. unser Glaube an die entsprechenden Vorstellungen haben beruhigen können, und mit dieser Angst auch die „Demutsstarre“ (Retzer 2002, S. 300), sobald der Mensch in seiner Gläubigkeit sich einer Fremdvergabe von Sinn und Identität unterwirft. Diese Gefahr erlebe ich bei Menschen immer wieder, wenn sie Trost suchen, um ihrer befürchteten Einsamkeit samt Ungewissem zu entgehen. Die einen suchen beispielsweise im Chat-Room des Internets nach Erfüllung, andere flehen dem lobenden Cheflächeln hinterher, gieren nach Anerkennung für ihre Leistung, schinden Eindruck durch Besitz und Aussehen oder ackern am Statusgehabe ihrer Karriere, und sie alle hoffen, die Pflaster innerer Wunden gefunden zu haben. Darunter litt monatelang der Bereichsleiter eines Dax-Unternehmens dessen Vorstand ihm den erwünschten Direktor-Titel verweigerte. Er empfand das als Demütigung („Andere leisten weniger und kriegen den Titel.“), plagte sich mit Selbstzweifeln an seiner Karriere, entwickelte Angst vor offiziellen Kontakten („Ohne Titel nehmen die mich nicht ernst.“) und versackte zunehmends in Antriebslosigkeit. Er sei zu entscheidungsschwach und wenig innovativ, so die Begründung seines Chefs, und mit diesem Fremdurteil samt Titelabsage würgte sich der Bereichsleiter den Saft seines Selbstglaubens selber ab. Worum ging es dem Mann eigentlich? Kein Direktor „zu sein“, bedeutete für ihn, „nicht dazuzugehören“, „Anerkennung zu verlieren“, „weniger als andere etwas darzustellen“, „keine gesicherte Zukunft“ zu haben – die Angst vor dem Verlust und dem Ungewissen danach. Der Direktor-Titel sollte wie ein Pflaster seine innere Wunde verkleben, für sich selbst in dem, was ihm Sinn und Wert gibt, selbstverantwortlich und alleine zu sein. „You find your identity in your wounds“, singt Bruce Springsteen. „Für mich ist das wie eine Befreiung gewesen“, fasst der Bereichsleiter zusammen, „zu begreifen, dass es um die Auszeichnungen, denen ich hinterherjage, gar nicht geht, sondern darum, was ich mir selbst wert bin. Und das kann ich nur mit mir selbst ausmachen. Ich hab das immer von anderen abhängig gemacht. So befreiend das jedoch ist, es macht mir auch Angst. Davor bin ich wohl die ganze Zeit weggerannt.“ Unsere Angst, die wir durch Zuspruch, Sinnvorgabe, Glaubenssystem oder Rollenmuster von außen zu beschwichtigen versuchen, spielt sich unmerklich als Gewissheit auf, sobald wir an das glauben, was uns gegeben, erklärt oder vorgegeben wird. Wir sind ja beruhigt. Doch jeder Versuch der Gesellschaft,

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Gewissheiten zu schaffen, tendiert zur suggestiven Unterwerfung der Gläu­ bigkeit und damit zur Abschaffung der Gelassenheit. Hier stiftet philosophisches Denken heilsame Unruhe. Sokrates musste von Gerichts wegen zur Selbsttötung den Schierlingsbecher leeren, weil sein Auf-den-Grund-Fragen das herrschende Gedanken-Leben im damaligem Athen in Aufruhr gebracht hatte. Sein Tod hat der Nachwelt ein wertvolles Erbe beschert: Hinterfrage, was Dir vorgegeben wird und was Du Dir selbst vorgibst. Ergründe, wie Du das, was Du erlebst, mittels Denken bedeutsam für Dich und andere machst. Diese Freiheit bleibt uns unverlierbar wesentlich.

4.5 D  ie Philosophie des Ungewissen wider gewohntes Denken Die Herrschaft unserer alltäglichen Sorgen, was wohl als Nächstes auf uns zukommen mag, hindert viele Menschen daran, gelassen zu leben. Das hatte die Philosophen damals bewogen, eine Therapie der Gedanken (gr. therapeia: das Dienen) systematisch zu entwickeln, um Ängste und Leidenschaften zu beherrschen. Hierbei denkt der Mensch zutiefst autonom, um innerlich gewappnet zu sein gegenüber seinen Emotionen sowie äußerlich gegenüber Glaubenssystemen, die nicht seine sind. Will Ihnen also jemand Gewissheit von außen versichern, so wäre demgegenüber Ihre innere Gelassenheit die Alternativantwort als ein Sparring mit dem Ungewissen: Sie üben wie beim Boxtraining den Schlagabtausch mit unvorhergesehenen und nicht kalkulierbaren und damit immer neuen Herausforderungen. Sie können das täglich, stündlich, ja in fast jedem Augenblick trainieren mit einer Haltung von: „Ich weiß nicht, was als Nächstes kommt, doch werde ich bereit sein!“  – Ihr Trainingstool zur Gelassenheit wider die Gewohnheiten von Kontrolle, Ordnung, Sicherheit, Perfektionismus und Planung – you never know. Diese Haltung, mit dem Ungewissen philosophisch einen Pakt zu schließen, erwächst aus der Lebensgestaltung unserer Gehirne, insbesondere aus der neuronalen Konstruktion der Zeit. Daraus folgt: Nicht die Zukunft erzeugt das Ungewisse – das Ungewisse erzeugt die Zukunft. Die Zukunft, also all das, was zeitlich im nächsten Augenblick um die Ecke und damit auf uns zu kommt, gibt es nicht im Sinne einer gegebenen Tatsache, fassbar wie die Schreibtischlampe vor mir, hörbar wie meine soeben lachende Familie in den Räumen nebenan oder messbar wie diese Zeile hier im Buch vor Ihnen. Und doch glauben wir (meist unbewusst), mit kommenden Momenten permanent so rechnen zu können. Wir sind in Rationalitäten verhaftet und übertragen unsere gedankliche Kontrollmöglichkeit des gegenwärtigen Augenblicks (z.  B. „weil ich diese Zeile ausmessen kann, kann ich auch mit Zeilen der

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nächsten Buchseite und mit allen Satzzeilen meines kommenden Lebens so verfahren“) automatisch auf das, was noch nicht da ist. Indem wir diese Haftbarkeit unweigerlich auf die Augenblicke, die folgen werden, zu übertragen versuchen, produzieren wir selbst mental unseren eigenen blinden Fleck des Ungewissen, das sich einfach nicht berechnen lässt, wie eine Art Wasserzeichen im Schein des sichtbar Festen. Und tagtäglich, ja stündlich ereilen uns Überraschungen, die unser psychophysisches Kontrollsystem aufhebeln und uns auf Dauer-Hab-Acht programmieren. Schrecken, Hektik, Ängste, Nervosität oder gar Panik wirbeln als gewohnte Emotionen durch die Alltagsfilter unserer Wahrnehmungen und trüben das, was wir erleben, entsprechend ein. Das löst oft permanente Unruhe in uns aus, das, was gleich folgt, müssten wir, um uns zu beruhigen, in jedem Fall kontrollieren, planen, vorhersagen, beseitigen, vermeiden oder wie auch immer beherrschen. Das Ungewisse erzeugt die Zukunft. Wir planen, um nicht überrascht zu werden, und rutschen leicht in unsere selbst aufgestellten Gewissheitsfallen. Damit erzeugen wir gerade, was wir befürchten. Vor lauter Absicherungen kippen wir weg, sobald die Krücken mal wegrutschen. Dem entgegen sollten wir hin und wieder auch von wackeligen Sprungbrettern aus uns abzustoßen wagen. Gelassen ist, wer Sprünge mit wackeligem Abstoß meistert. Hierzu hält die Philosophie des Ungewissen unseren Ängsten stand, sobald wir emotional auf absichernde Gedanken reagieren, deren Verfallsdaten wider unserem Glauben an sie längst abgelaufen sind. Kann ich meine Gedanken über das, was kommt oder nicht kommt, beweisen? Auf welche Fakten stützen sich meine Gedanken? Beschreiben oder interpretieren meine Gedanken die Wirklichkeit? Wie hängen meine Gedanken mit welchem übergeordneten Sinn, den ich der Situation gebe, zusammen? Welche vergangenen Erfahrungen beweisen oder widerlegen meine Gedanken? Ist das, was ich bisher gedacht habe, noch gültig? Solche Fragen klären häufig den Illusionscharakter unserer Gedanken, aus denen das Gefühl des Ungewissen resultiert, befreiend auf.

4.6 D  ie innere Burg des Selbst – die beste Erfindung der Philosophie Gerade in Zeiten der Unsicherheit und fehlenden Geborgenheit des Menschen erlebt die Philosophie ihre Wiedergeburten heilsamen Denkens. Wir besinnen uns, philosophisch denkend, unserer unverlierbaren Stärken zum Glück und inneren Frieden. Das setzt voraus, dass wir uns auf uns selbst als einen inneren Ort von Maßstäben für ein gutes Leben überhaupt besinnen können.

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Diesen Raum einer für den Menschen heilsamen Resonanz, nennen wir ihn Seele, Psyche, Selbst, Wesen oder Innenwelt, hat es vor der Geburtsstunde der Philosophie nicht gegeben. Die mit den Griechen entstandene Sorge um sich selbst gilt in der Geschichte der Philosophie als „der erste Augenblick des Erwachens“ einer Reflexion des Menschen auf sich selbst (Foucault 2009, S. 23). Diese Sorge um sich selbst wirkt seither als „Stachel“ unseres Denkens, unser Leben selbst in Bewegung zu halten, sich nicht fremdbestimmen zu ­lassen, sich selbst treu zu bleiben und vor allem sich selbst nicht zu vernachlässigen in dem, was wir tun, denken und fühlen. „Erkenne Dich selbst“ (gr.: gnothi seauton) meißelten die Griechen als Leitgedanken weisen Lebens Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus auf eine Säule in der Vorhalle des Apollon-Tempels zu Delphi. Die Tempelstätte können wir in Ruinen noch heute besuchen und uns erinnern an die Kraft der philosophischen Sorge, unser Selbst als den eigentlichen Tempel des Lebens anzuerkennen und ihn von Grund auf stets zu pflegen. Aus sauberen Räumen und Fenstern blickst Du klar hinaus ins Leben. Der solcherart philosophische Ursprung unserer Selbst-Reflexion hebt bis heute, zeitlos gültig, unsere Gedanken über den unmittelbaren Alltag hinaus und verhilft uns, den Überblick zu gewinnen und uns selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Aus diesem Selbstanspruch heraus gewinnt Seelengröße, dieses hehre Wort der Universalität des Denkens, ihren zutiefst menschlichen Wert. Wir begegnen anderen so, wie wir uns selbst begegnen. Dieser Spiegelungseffekt unseres Selbstbildes in all unseren Sichtweisen auf das, was in uns und um uns herum geschieht, leuchtet seit knapp zweitausendfünfhundert Jahren durch die Monolog-Räume unsere Selbstreflexion. Das Erkenne-Dich-selbst wirkt seither als Therapie der inneren Ruhe und Gelassenheit. So birgt Ihre innere Burg tief drinnen eine Klause der Gelassenheit. Fernab Ihrer Gedanken, die Sie sich machen, und den durch sie erzeugten Gefühlen, die Sie haben, spüren Sie die Kraft Ihres Wesens, das Sie sind. Unsere wichtigste Energie der Wirklichkeit wirkt im Innern, die sekundäre ist draußen. Der viel zitierte Gedanke des Stoikers Epiktet, nicht die Dinge draußen seien schlecht, sondern unsere Ansicht solcher Dinge, schwenkt die Scheinwerfer unserer Lebensansichten auf die Innenbeleuchtung unserer Selbstbilder, Werte und Glaubenssätze. Mit diesem philosophischen Schwenk aufs Gedankeninventar unserer Seelenräume entdecken wir plötzlich, dass wir es sind, die das Licht der Reflexion bewegen können und uns damit wesentlich unterscheiden von dem, was wir als Gedanken, Werte oder Selbstbilder sichten. Was also überhaupt bewusst wird und den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit zuallererst schwenken lässt, ist unsere Selbstheit, ursprünglicher noch als die anerzogenen Charaktereigenschaften oder Talente.

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Daniel Siegel spricht hier vom „Kern-Selbst“, unsere unberührbare „Soheit“, die „der Aktivität aller Ich-Zustände zugrunde liegt“, ohne die Aktivität selbst zu sein. Das ermutigt uns, den Strom von Ereignissen unterbrechen zu können, ohne selbst die Ereignisse zu sein (Siegel 2010a, Die Alchemie der Gefühle, S. 312–313). Dieser Point of Coolness lässt uns „geistige Aktivitäten einschließlich der Gemütszustände lediglich als geistige Aktivitäten sehen statt als Gesamtheit unseres Seins“ (Siegel, ebd., S.  313). Sobald wir wissen, dass es sich um Schaltkreise im Gehirn handelt, die verrücktspielen, und nicht um die Gesamtheit unserer selbst, können wir uns gelassen vom Automatismus unserer angst- oder sorgenvollen Gedanken und Verhaltensweisen distanzieren. Unser wahres Selbst wirkt als Kontext unseres Bewusstseins und kann daher nicht bedroht werden, im Unterschied zu unserem psychologischen Selbst, das wir im Laufe unseres Lebens als Konzept und Ich-Struktur aufbauen. Dieses Ego erzählt sich Geschichten, erklärt etwas als gut oder schlecht, richtig oder falsch und trennt so das Leben mit sprachlichen Konzepten willkürlich in „mein“ und „dein“ auf. Und damit schürt das Ego unsere Angst nach Maßgabe seiner Erfahrungen. Unser Geist reproduziert unser Leben immer so, wie er im Leben produziert worden ist. Philosophierend können wir diese Kette der Wiederholung erkennen und uns überlegen, mit welchem Ziel wir sie unterbrechen wollen. Wohin auch immer unsere Wege dann führen mögen, das delphische „Erkenne Dich selbst“ dient hierbei als unverzichtbare Therapie unserer inneren Ruhe. Philosophie ist ein Akt der Lebenshaltung, der uns hilft, allgegenwärtig mit unserem jeweiligen Dasein eins zu sein und der bis zu unserem Tod in jedem Augenblick aufrechterhalten, bewusst gemacht und gepflegt werden muss. Pierre Hadot definiert „diesen Akt als eine Orientierung der Aufmerksamkeit“ (Hadot 2005, S.  168). Philosophisch achten wir auf die „Reinheit der Absicht“, also auf die Impulse und Gegenimpulse unseres Willens, den wir in Übereinstimmung zu bringen versuchen mit dem Zustand unseres Seelenfriedens. So manche Klienten saßen vor mir, die der Aufforderung ihres Lebens, sich selbst zu dem zu machen, was sie hätten werden sollen, aus dem Weg gegangen sind, also eben nicht sie selbst sein wollten oder konnten. Sie gehorchten den Agenden anderer Menschen und verschrieben sich dem Zuspruch einer Anerkennung, die einer autonomen Selbstachtung entgegensetzt lag. Hier sollte die vom Tod her rückwärts gewandte Frage lauten: „Bist Du der geworden, der nur Du je hättest werden können?“ Sich selbst zu dem gemacht zu haben, der nur wir je werden konnten, beruhigt zutiefst und erfüllt uns mit einer inneren Freude, die unserem Selbstsein entspricht.

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Auf diese Selbsttreue hat die Philosophie als mentaler Pilgerweg zur Glückseligkeit immer Wert gelegt. Besinnen Sie sich auf einen Augenblick in Ihrem Leben, in dem Sie zutiefst mit sich selbst eins und zufrieden waren. Womöglich verspürten Sie just den Geschmack von Wahrheit Ihrer selbst. Dieser Zustand ist beglückend und vermag wie ein Richtmaß Ihres Wesens die Dinge des Lebens ins rechte Licht zu rücken. „So stimmt’s für mich, wie ich das hier gerade erlebe!“ Sich seiner selbst inne werden zu können, ohne zu erschrecken. Hier empfinden wir Freude an uns selbst, und sie liefert stets den ersten Atemzug zum gelassenen Lächeln dem Leben, anderen Menschen und uns selbst gegenüber. Das ermöglicht den gewissen Abstand, der uns unterscheiden lässt zwischen uns selbst und beispielsweise unserer Arbeit, anderen Menschen, unseren Leistungen, ja selbst unseren Gedanken gegenüber.

4.7 W  eisheit heißt wissen, was wir ungestraft weglassen können Wir begegnen Menschen, Situationen oder Orten auf der Leinwand unseres Erlebens meist mit einem inneren Vorspann zu dem, was da gleich auf uns zukommt. Sobald Kollegin Petra im Büro auftaucht, spult unser Vorspann „Kollegin Petra“ Daten unserer bisherigen Erfahrungen mit ihr ab; auf unserem Nachhauseweg läuft der Vorspann „Autofahrt, Kreuzung, Ampel rechts einbiegen …“ ab; gehen wir im Park spazieren, fiele uns die Eiche nur noch auf, läge sie gefällt im Gras; öffnen wir unsere Wohnungstür, flimmern ohne unser Zutun die entsprechenden Gewohnheitsdaten im Hinterkopfkino auf und lassen uns glauben zu wissen, was uns gleich erwartet. Und wehe, es kommt anders. Unser Vorspann listet mit unseren Erinnerungsdaten zugleich die Möglichkeiten auf, unsere Gelassenheit zu verlieren, wenn anderes kommt. Wir fühlen uns gestört, irritiert, genervt, nervös, gestresst, sobald unser Vergleich „Bisher-Jetzt“ für das „Gleich“ nicht mehr stimmt. Dabei regt uns gar nicht das auf, was gerade passiert, sondern die Diskrepanz zwischen Vorspann und Filmgeschehen („Wieso geht Petra mit dem Chef plötzlich essen, die will bestimmt ihre Gehaltserhöhung durchsetzen“). Wir können unvoreingenommen nicht mehr staunen, sind gleichsam verblüffungsresistent geworden und erdichten sofort unsere Geschichten zu dem, was gerade passiert. Was alles wir zu glauben wissen, hindert uns, das Neue ungefiltert zu erleben. Wir sollten, um Neuem gelassen begegnen zu können, uns wieder üben im Wundern und Verblüfft-Sein, im Staunen und Entdecken. Halten Sie einmal inne, wenn Sie die Wohnungstür abends aufschließen und irgendetwas ist anders: Das Flurlicht ist defekt; ein unerwarteter Gast sitzt mit

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Ihrem Ehepartner in der Küche; Ihre Tochter bedrängt Sie, sie sogleich zum Kino zu fahren etc. Nichts raubte Ihnen Ihre innere Ruhe, spukten da nicht noch Ihre Erwartungshaltungen samt Ist-Soll-Gedanken durch den Kopf. Betrachteten Sie hingegen solche Situationen als pure sinnliche Augenblicke, die auf der Leinwand Ihres Bewusstseins auftauchen und irgendwann auch wieder verschwinden, dann übten Sie sich in der Coolness der Reduktion. Kommen Sie zurück in die Sinne! Schauen, hören oder ertasten Sie solche Augenblicke ohne Vorspann Ihrer Erwartung, ohne Untertitel Ihrer Inter­ pretationen, ohne Off-Kommentar Ihrer Selbstbewertungen. Und täglich erleben wir diese Haltung, Erlebnissen offen, neugierig und unvoreingenommen zu begegnen, bei unseren Kindern. Wenn ich meine zwölfjährige Tochter Stella, scheinbar gedankenversunken, aus dem Fenster schauen sehe und sie frage, woran sie denn gerade dächte, antwortet sie: „Ich denke an nichts, Papa. Ich schaue bloß so.“ Diese offene, absichtslose und annehmende Haltung unserem Erleben gegenüber lehrt seit über 2000 Jahren die Geistesschule des Buddhismus und nennt sie unseren Anfängergeist. Die Philosophie dieser Geisteshaltung schult, dasjenige wegzulassen, was wir zum puren Phänomen als Zutaten noch alles hinzufügen (und das ist, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln erfahren haben, eine Menge). Wir lernen, die Phänomene des Lebens wie mit einer ersten Wahrnehmung und ungetrübt von bisherigem Wissen zu erleben. Zur Grundhaltung für einen solchen Anfängergeist, wegzulassen, was unsere Sicht befreit von vergangenen Meistern, gehört die Bereitschaft zu üben. Das erfordert natürlich unsere Wachheit, rechtzeitig aufzumerken, was uns gerade mal wieder an den Haken nimmt und welche unserer eigenen Geschichten als die Angelschnüre in unseren Seelengewässern fortzieht. Unseren Anfängergeist schulen wir durch einen Zweierschritt: Wir lassen (1.) unsere Ego-Reflexe beiseite, bemerken sie zwar im Augenblick des Staunens, gehen ihnen aber nicht weiter auf den Leim und nehmen (2.) bewusst Abstand zu unseren gewohnten Doppelpacks von Ding und Abbild, Sache und Beschreibung, Faktum und Erklärung. Was wäre die Dunkelheit im Flur als solche, ohne unsere Erwartung, die Glühbirne solle Licht werfen? Was wäre der Gast in der Küche, ohne unser Urteil, er würde unerwartet unser gewohntes Ritual aus Abendessen und „Tagesschau“ stören? Durch uns Menschen kommt zuerst das „heilige Nichts“ in die Welt, das heißt unsere Möglichkeit, von etwas, das uns betrifft, reflektierend Abstand zu nehmen und unseren Bezug dazu geistig zu nichten. Retreat und reflect: Die fundamentale menschliche Weise der Re-Flexion, des geistigen Zurücktretens und Sich-Distanzierens ermöglicht das Sein-Lassen zur Gelassenheit. Denn der Mensch hebt sich vom Sein der Dinge und Gedanken ab und existiert,

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steht hinaus, trennt sich ab, lässt das Sein los und  – nimmt Abstand. Alle Gelassenheit ist ein Abstand-Nehmen. „Moment mal! Was passiert hier gerade eigentlich?“ Hier liegt die Quelle unserer geistigen Freiheit gegenüber dem Faktischen, unsere innere Transzendenz ohne Gott oder Götzendienst, unser Übergang des Tatsächlichen zum Möglichen hin. Wir sind als geistige Wesen frei genug, etwas weglassen zu können, um ungestraft weitermachen zu ­können. Wir erinnern uns, was die Gehirnforschung bestätigt: „Freiheit gibt es nicht nur als Gefühl. Eine Person ist – aus ihrer Perspektive – frei“, schreibt Manfred Spitzer, und kann sich zu dem, was faktisch passiert, „distanziert verhalten, zu jeder Zeit und ohne Widerspruch“ (Spitzer 2004, S.  301–303). Der gelassene Abstand von heute ist der Antrieb von morgen.

4.8 Jeder Augenblick kosmisch Was der Buddhismus ca. 500 Jahre vor der Zeitrechnung als Achtsamkeit des inneren Abstands gelehrt hat, um Glück zu erleben, entfaltete wenige Hundert Jahre später der Stoizismus in Griechenland. Gegründet wurde diese Phi­ losophenschule vom Philosophen Zenon von Kition (ca. 300 v. Chr.), und als Ort seiner Dispute über das Wesen des Lebens wählte er für seine Schüler hierzu eine bemalte Säulenvorhalle („stoa“) auf einem Markplatz in Athen aus. Was hier als pragmatisches Denkgebäude, als lebensorientierte Philosophie entstanden und bis einige Hundert Jahre nach Christus weiterentwickelt worden ist, bleibt einmalig in der gesamten Philosophiegeschichte. Zum ersten Mal seit dem Beginn der Philosophie erhält das Individuum einen festen und vor allem vorrangigen Platz in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt. Selbstbeherrschung, Seelenheil, Affektkontrolle, Gelassenheit, Lebens­ glück und Seelenruhe sind die ethischen Vehikel eines weisen Lebens. Sie gelten noch heute als Prinzipien des Glücks. Der Stoizismus ist die Geburtsstunde des Augenblicks als eine zeitlos gelebte Weisheit des Glücks. Die Gegenwart ist die einzige uns verfügbare Wirklichkeit, die uns gehört und in unserer Macht steht. Alles Davor und Danach bleibt Fiktion. Und wer wollte bestreiten, Fiktionen dem Glück zuliebe ausgeblendet lassen zu können. „Für den stoischen Weisen“, schreibt Piere Hadot in seiner „Philosophie des Lebens“, „ist in jedem Augenblick die Totalität des Kosmos enthalten und bewahrt den Wert einer einzigartigen Wirklichkeit“ (Hadot 2005, S. 169). Diese kosmische Bewusstheit als praktikable Spiritualität dem Menschen verfügbar gemacht zu haben, ist dem Stoizismus hoch anzurechnen und wird heutigentags durch die Entdeckungen der Quantenphysik als Lebensessenz bestätigt. Dem philosophisch Weisen ist

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das Ganze hier und jetzt geistig präsent. Er vergegenwärtigt sich den unermesslichen Wert eines jeden gelebten Augenblicks aus der Perspektive des Kosmos. Regen Sie sich beispielsweise auf, weil Ihnen der Bus vor der Nase weggefahren ist, dann richten Sie kurz Ihren Blick hinauf in eine universell-­ kosmische Sichtweise und schauen von dort aus auf das Fleckchen Haltestelle, wo Sie gerade geflucht haben. Diese Perspektive rückt so manche Lebens­ fahrpläne zurück ins rechte Maß und macht gelassen. Werden Sie sich bewusst: Sie stehen dort nur und haben soeben einen Bus verpasst, weil es Jahrmillionen von Jahren und Zigtausende von Ereignissen bedurft hat, damit Sie hier genau stehen, wo Sie jetzt sind. Unser tägliches Sein ist in jedem Augenblick kosmisch verwoben, was heute die Quantenphysik objektiv errechnet und der stoisch Weise als eine kosmische Haltung durch tägliche Übungen seines Geistes seit je erlebt: „toti se inserens mundo, in die Totalität der Welt eintauchen“ (Hadot 2005, S. 175). Das können wir in jedem Augenblick erfahren, wenn wir mit all unseren Sinnen gegenwärtig bleiben und weglassen, was von unserem auf Unterschiede und Bewertungen fixierten Verstand lediglich hinzugedacht wird: die Rückkehr zum Da-Sein. Jede geistige Übung der Philosophie als Lebensstil bedeutet eine solche Rückkehr auch zu sich selbst. Die Philosophie unserer Moderne, schreibt Ludwig Wittgenstein (1889–1951), sei der lebensbejahende Kampf gegen die Verhexung des Verstandes durch die Hypnosen der Sprache. Mehr noch: ein Kampf gegen die Technik, die den Menschen, der ihr gläubig verfällt, seiner Vitalität beraubt, weil sie ihn träge, mutlos, impulsarm werden lässt. Und diese nicht genutzten Kräfte, die ja vorhanden sind, wenden sich nach innen, gegen den Menschen selbst. Das Leben nimmt Rache an sich selbst. Wer über den verpassten Bus flucht, greift, unterm Joch seiner Verstandesdoktrinen geknechtet, letztendlich nur sich selber an. Wie oft erwischt mich Ärger über Bagatellen, der doch nur Ärger über mich selbst ist, weil ich im Tunnelblick des Egos momentan den Sinn fürs Ganze verloren habe. In solchen Momenten hilft mir der universelle Blick. „Die Seele des Menschen misshandelt sich selber, vor allem dann, wenn sie ein Geschwür, sozusagen ein Auswuchs des Kosmos wird, soweit dies an ihr liegt. Denn sich über irgendetwas ärgern, was geschieht, ist ein Abfall von der Natur, in deren Bereich die Naturen aller anderen Wesen enthalten sind“, schreibt der Philosoph und römische Kaiser Marc Aurel (121–180 n. Chr.) in seinen weltberühmten „Selbstbetrachtungen“ (Aurel 1973, S. 18). Es widerspricht unserer Natur, uns selbst zu misshandeln durch willentliche

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Abfallprodukte des Ärgers oder der Selbstabwertung. Indem wir kosmisch denken und uns der Allgegenwart einer inneren Naturverbundenheit bewusst werden, kehren wir den Abfall unseres Ärgers als Trennprodukt unseres Wesens gelassen beiseite. Hier umfängt uns das unserem Verstandesdenken kaum zugängliche, weil universale Gesetz der Allverbundenheit des Menschen, worauf Marc Aurels Stoizismus unseren Gleichmut gegenüber Lebenswidrigkeiten begründet. Unser Alltagsdenken trennt, klassifiziert, bewertet, wägt ab und teilt ein. Hierdurch Sinndimensionen der Verbundenheit teilhaftig zu werden, gleicht dem Versuch, mit einem Hammer, der auf das Nagelschlagen geeicht ist, Atem zu holen. „Wohlbefinden und wahres Glück entsteht, wenn wir unser ,Ichʻ als Bestandteil eines miteinander vernetzten Ganzen definieren“ (Siegel 2010a, Die Alchemie der Gefühle, S. 383). Ich erzeuge das, was ich wahrnehme, als ein Teil dessen, was ich wahrnehme, und bleibe in meiner Weltwahrnehmung verwoben mit eigenem Garn, dessen Webstruktur universell ist und uns Menschen, welcher Nationalität auch immer, miteinander verbindet. Diesen uns übergeordneten Zusammenhang allen Lebens bewusst erleben zu können, relativiert im Nu unser Anhaften und Kleben am Kleinkram des Alltags. Gelassen sein bedeutet in solchen Augenblicken, loszulassen vom Scheuklappen-Paradox unseres Alltagsdenkens, das uns zuallererst scheu macht durch unsere Blindheit für das Ganze. Dann lassen wir das Rücklicht des gerade verpassten Busses, den wir kurz zuvor so dringend noch erreichen wollten, verglimmen wie ein vom universalen Atem ausgehauchtes Streichholz. Sobald wir unser Denken über die Fixpunkte unserer Ichfahrpläne erweitern, „offenbart (sich) die grundlegende Wahrheit, dass wir in der Tat Bestandteile einer miteinander vernetzten Welt sind“, schreibt Siegel weiter, denn „unser ,lebendiger Organismusʻ ist die ausgedehnte Gemeinschaft aller Lebewesen“ (Siegel, ebd.). Diese Tatsache, auf die Siegel hinweist, lässt sich leichter lesen als verstehen. Das hängt zutiefst mit unserer Sprache zusammen und unserer gewohnten dreidimensionalen Art der Sinneswahrnehmung, unser Leben zu erleben und grammatisch zu erklären. Es gibt jenseits unserer dimensionierten Fahrplanwelt eine Dimension des Seins, das uns in jedem gelebten Augenblick präsent sein kann, soweit wir loszulassen verstehen von den Dreibuchstabenfixpunkten unseres I-c-hs. Um diese Dimension zu verstehen, führt Siegel einen Physiker an: „Albert Einstein bekam 1950 einen Brief von einem Rabbi, der eine seiner beiden Töchter bei einem Unfall verloren hatte. Der Rabbi fragte, welche Weisheit er seiner verbleibenden Tochter anbieten könne, die um ihre Schwester trauerte. Hier Einsteins legendäre Antwort:

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„Wie alle Wesen ist der Mensch Teil des Ganzen, das wir ,Universumʻ nennen, und rein äußerlich betrachtet von Raum und Zeit begrenzt ist. Er erfährt sich, seine Gedanken und Gefühle als etwas, das ihn von den anderen trennt, aber dies ist eine Art optischer Täuschung des Bewusstseins. Diese Täuschung ist wie ein Gefängnis, das unsere eigenen Wünsche und unsere Zuneigung auf einige wenige Menschen beschränkt, mit denen wir näher zu tun haben. Unsere eigentliche Aufgabe besteht darin, uns aus unserem Gefängnis zu befreien, indem wir den Kreis unseres Mitgefühls und unserer Fürsorge auf alle Wesen und die Natur in ihrer ganzen Schönheit gleichermaßen ausdehnen. Auch wenn uns dies nicht vollständig gelingt, so ist doch bereits das Streben nach diesem Ziel ein Teil der Befreiung und die Grundlage für das Erlangen inneren Gleichgewichts.“ (Dieser Brief wurde Jahre später in „The New York Times“, 29. März 1972, sowie in der „New York Post“, 28. November 1972, zitiert.)“ (Siegel, ebd., S. 377).

Solcherart kosmisch seine Lebensmomente erkennen zu können, ist Ihnen (ich komme gern darauf zurück) an jeder Bushaltestelle möglich, indem Sie die Grenzen des Denkens und der Wahrnehmung als „eine Art optischer Täuschungen“ begreifen. Ihre Zeiteinteilung („Ich muss acht Minuten warten, …“), Ihr Konsequenzdenken („… und wenn ich zu spät komme, dann …“), Ihre Befürchtungen („… sind bestimmt die Kollegen auf mich sauer, …“), Ihre Selbstbilder („… und ich stehe wieder als Chaot da …“) – solche Denk- und Bildkonstrukte kehren Sie als künstlichen „Abfall“ (Aurel) Ihrer Allverbundenheit beiseite. Ihr Wesenskern bleibt von Denkangriffen und Verstandesgrenzen unantastbar. Diese Jahrtausende alte Wahrheit hat nicht nur den Buddhismus als großartige Alternative zu unserer künstlich trennenden Rationalität lebensbejahend legitimiert. Selbst die Quantenphysik der Elementarteilchen und Energiefelder belegt: Die Essenz unserer energetischen Lebendigkeit ist grenzenlos mit den Kräftefeldern des Universums verbunden und bleibt unberührt von den Formen des Denkens. Unsere Gedanken trennen zumeist: „Ich hier und du da; ich hab recht, du unrecht; ich bin okay, du nicht …“ Das sind neuronal fabrizierte und damit künstliche Gedanken, ein Gehirn-Effekt, der, weil „Täuschung“, ungestraft weggelassen werden kann, wenn es darum geht, uns und anderer Menschen in einem Feld jenseits von richtig und falsch gewahr zu werden. Für einen von Trenn-Effekten des Verstandes befreiten Geist bleibt hingegen niemals etwas ohne Alternative, weil er autonom innehalten und wählen kann, was ihm und anderen, losgelöst von Rechthaberei, wesenhaft entspricht.

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4.9 Die Philosophie der Gelassenheit Frieden findest du nicht, wenn du deine Lebensumstände neu ordnest, sondern indem du dir bewusst wirst, wer du im tiefsten Innern bist.2 Eckhart Tolle

Ein wesentliches Merkmal der stoischen Philosophie ist, in den beiden Zeitindexen der Vergangenheit und der Zukunft die wesentlichen Quellen unserer Lebensübel entdeckt zu haben. Was einmal war oder bald sein könnte, damit belasten wir unser alltägliches Dasein. Vergangenheit und Zukunft sind von der Zeitrechnung der Menschheitsgeschichte an bloß Illusionen, Hirngespinste, mit denen wir uns selbst diejenige Dimension verderben, die allein Gelassenheit und Glück ermöglicht: die Dimension des Hier und Jetzt  – den gegenwärtigen Augenblick. Was aktuell von Lebensratgebern als die Rettung aus den Alltagsübel „Stress, Angst, Sorge“ empfohlen wird, die Achtsamkeit für den Augenblick – die alten Griechen hatten es bereits begriffen und uns die achtsame Haltung für das Hier und Jetzt zeitlos nachvollziehbar vererbt. Springsteens Song „We take care of our own“ mahnt an diese Selbstsorge der Griechen, wachsam achtsam zu bleiben für die Gefahr, das Maß der Mitte zu verlieren, die Mitte seiner selbst und der Gemeinschaft, weil wir in einem Kontinuum leben, in dem jeder unserer Schritte nachhallt und die Schritte anderer beeinflusst. Bedauern oder Sorgen, Groll oder Stress, Verfluchen oder Hoffen, das sind die Standard-Stimmungen, wenn wir uns gedanklich fixieren in Vergangenem oder Zukünftigem und damit genau das versäumen, auf das es ankommt in unserem Leben und das das Einzige für uns bleibt, das wir gestalten und genießen, erfahren und beherrschen können  – die Gegenwart als Zeitort unseres Selbstseins. Hierzu entwickelten die Stoiker eine Haltung (ethos) der Selbstführung (arché) aus der Freiheit zu sich selbst heraus. Der französische Philosoph Michel Foucault erkennt in dieser griechischen Haltung einer gelassenen Selbstführung den Ausdruck unserer Freiheit wieder: „Das ethos war die Weise zu sein und sich zu verhalten. Es war eine Sichtweise des Subjekts und eine bestimmte, für die anderen sichtbare Weise des Handelns. Das ethos von jemandem äußert sich in seiner Kleidung, seiner Bewegung, seiner Art zu gehen, in der Ruhe, mit der er auf die Ereignisse reagiert usw. Darin besteht für sie (die Griechen, K. H.) die konkrete Form der Freiheit, so problematisierten sie ihre Freiheit. Der Mann, der ein schönes  Tolle, „Stille spricht“, S. 58.

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ethos besitzt, der bewundert und als Beispiel zitiert werden kann, ist jemand, der die Freiheit auf eine bestimmte Weise praktiziert. (…) Damit jedoch diese Praxis der Freiheit in einem ethos Gestalt annehmen kann, die als gut, schön, ehrenhaft, achtbar und erinnerungswürdig erscheint, bedarf es eingehender Arbeit des Selbst an sich selbst. (…) Die Freiheit ist also in sich selbst politisch. Und schließlich verfügt sie in dem Maße über ein politisches Modell, in dem frei zu sein bedeutet, nicht Sklave seiner selbst und seiner Begierden zu sein, was impliziert, dass man zu sich selbst eine bestimmte Beziehung der Beherrschung, der Bemeisterung herstellt, die man als arche, als Macht oder Führung bezeichnete“ (Foucault 2007, S. 260). Damit wird die Freiheit unserer Selbstführung eines gelassenen Lebens zum Programm unserer individuellen Innenpolitik. Wir sind nun mal ein lebender Staat im Staat, innerlich bewegt, getrieben, zerrissen, bedroht und immer wieder in uns selbst auf die Probe gestellt durch eine Vielfalt von Begierden, Glaubenssätzen oder Persönlichkeitsanteilen, die geführt zu werden unsere unumstößliche Aufgabe bleibt. Die stoische Schlichtheit, das anzugehen, rettet im Komplexen alltäglicher Herausforderungen, und das mit dem inneren Klima der Heiterkeit und des Gleichmutes. Das gibt uns etwas, das der ewige Glückswert griechischer Philosophie für die Nachwelt bleiben wird. Die griechische Philosophie hat nämlich weise unterschieden zwischen der Eudämoniea als Glückseligkeit des seelischen Wohlbefindens und nachhaltigen Erkennens sowie der Hedonie als augenblicklicher Genussimpuls. Hierzu schreibt der Neurologe Daniel J. Siegel: „Bei Eudaimonie geht es mehr um ein Gefühl von Gleichmut als um die sinnliche Lust, wie es bei der Hedonie der Fall ist. Eine eudaimonische Form des Wohlbefindens umfasst die psychologischen Qualitäten Autonomie, Beherrschung der Umwelt, positive Beziehungen, persönliches Wachstum, Selbstakzeptanz und Sinn und Aufgabe im Leben. Hedonisches Wohlbefinden konzentriert sich im Gegensatz dazu auf die Befriedigung im Leben, häufige Lustemotionen und sporadische unangenehme Emotionen.“ Im Gehirn lassen sich demnach, um eudaimonisch zu leben, Neuronenmuskel aktivieren. So haben „hemisphärenspezifische Analysen gezeigt, dass die Aktivierung des linken Präfrontals assoziiert wurde mit eudaimonischem, aber nicht mit hedonischem Wohlbefinden. (…) Annäherungstendenzen korrelieren mit Eudaimonie: Wir können uns auf quälende Ereignisse mit Gleichmut hinbewegen“ (Siegel 2010b, Das achtsame Gehirn, S.  272–273). Für diese heute neurologisch überprüfbare Konsequenz zufolge trimmte bereits vor mehr als 2000 Jahren die stoische Lebenshaltung das menschliche Gehirn zu mehr Gelassenheit. Beschreibt Siegel unsere „Annäherungstendenzen“ als neurologische Impulse, uns auf alltägliche Ereignisse zugehen (statt sie vermeiden)

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zu lassen, so rät Marc Aurel dem Menschen, er solle „schnurgerade auf sein Ziel losgehen, ohne rechts und links zu blicken“ (Aurel 1973, S. 37). Dieses „Auf-etwas-Zugehen“ liegt wie ein Muskel für unser Glück bereit: „Aufrecht muss man sein, nicht aufgerichtet“ (Aurel, ebd., S. 25). Probieren Sie es wieder aus, sobald Sie innerlich vor einer Sache zurückscheuen, und gehen Sie mit aufrechtem Gang entschlossen drauflos, und in Ihnen wird eine Kraft mobilisiert, die aus Ihrer Haltung (ethos) resultiert und nicht aus Gedanken über die Sache. Diese Ihnen stets verfügbare Kraft verbindet Sie mit Energiefeldern des Lebens, die uns Menschen allen gemeinsam sind.

4.10 W  onach wir suchen ist das, was sucht: Unsere Lebendigkeit Die Gelassenheit der Stoa resultiert gerade aus eben diesem groß entworfenen Sinn eines kosmologisch, das heißt ganzheitlich angelegten und harmonisch geordneten Weltgefüges. Was der Mensch erlebt, bleibt verbunden mit dem Kosmos. „Das einem jeden zugeteilte Schicksalslos wird mit in das Weltgeschehen hineingezogen und zieht ihn zugleich mit in dieses hinein. Er denkt auch daran, dass alle vernünftigen Wesen miteinander verwandt sind und dass es gemäß der menschlichen Natur ist, sich um alle Menschen zu kümmern, dass man sich aber nicht an die Meinung aller Menschen halten darf, sondern nur an diejenige, die in Einklang mit der Allnatur leben“ (Aurel, ebd., S. 24). Wir Menschen stehen uns seit der Zeitrechnung selbst im Weg, wenn es um unseren inneren Frieden und die Glückseligkeit geht. Unsere Werturteile über das, was nicht von uns abhängt, das unablässige Genörgel: „Das gefällt mir nicht, Du regst mich auf, der Chef ist unfreundlich …“ gleicht seit dem Altertum einer Stolperei, die abzustellen wäre, achteten wir bewusster auf unsere Füße und höben sie achtsamer um nur wenige Zentimeter höher vom Boden der Tatsachen, als wir es gewohnt sind. Stattdessen klagen wir über den Weg und geben den Dingen die Schuld, dort herumzuliegen, wo wir gerade entlanglaufen. Aus dieser Stolpertrance weckt uns Marc Aurel doch auf: „Unter den Sätzen aber, die dir unmittelbar zur Hand sein müssen, auf die du dich zurückziehen kannst, sollen die zwei folgenden sein: Erstens, dass die Dinge nicht die Seele berühren, sondern außerhalb dieser regungslos dastehen, dass vielmehr die Beunruhigungen ausschließlich aus der Meinung in uns kommen. Und zweitens, dass all das, was du siehst, beinah schon in Umwandlung begriffen ist und bald gar nicht mehr sein wird. Denk auch stets daran, wie vieler Dinge und Menschen Umwandlungen du schon erlebt hast. Der Kosmos ist Veränderung, das menschliche Leben Meinung“ (Aurel, ebd., S. 34).

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Die gesamte moderne Psychotherapie könnte aus dieser stoischen Quelle fließen: „Du bist nur eine subjektive Vorstellung“ (Hadot 1996, S. 163). Mag das auch vielen von uns klar geworden sein, so fehlt uns doch für den Schritt, dieses Bewusstsein auch zu leben, die nötige Disziplin, mit der wir unserer Werturteile achtsam-kritisch gewahr werden und sie angemessen steuern könnten. Aber nein, stöhnt und zuckt das Komfortzonendenken zurück, das ist uns zu anstrengend, dieses achtsame Beobachten unserer eigenen Gedanken. Dabei erwartet uns als Erfolg der Bewusstseinsübung nichts Geringeres als unser innere Friede, frei von Angst und Grübelei. Und wir erkennen mit einem Mal, wie die Dinge um uns herum, aller Werturteile und Etikette unseres blindwütig verblendeten Anthropomorphismus entkleidet, ihre „wilde Schönheit“ preisgeben. Hier scheint die reine Physis der Tatsachen auf, die wir (damals nach Marc Aurel, heute beispielsweise mit Forschungsergebnissen der Elementarphysik) als einen Teil der kosmischen Allnatur erkennen. Solcherart des Blickes frei geworden, nehmen wir unser Leben, unseren Tod und die Ereignisse dazwischen wie winzige Wogen des großen Meeres erst einmal an und werden uns bewusst, wie unabhängig wir doch sein können von Rettungsringen unserer Maßstäbe. Üben wir diszipliniert diese Bereitschaft der achtsamen Akzeptanz der Lebensphysis tagtäglich, erleben wir mit diesem Frei-werden-von unserer Urteilsmacht über die Welt zugleich ein Frei-werden-zu der Wahlmöglichkeit unserer selbst und dem, was uns wert und wichtig ist. Die stoische Philosophie hat uns diesen Ursprung unserer Freiheit zeitlos veredelt. Blicken wir befreit auf die Welt, so blicken wir befreit auf uns zurück und verändern in unserem Bewusstsein von der puren Physis unseres Lebens das Bewusstsein unserer selbst. Somit wird sich mit der stoischen Philosophie „das Ich seiner selbst als einer kleinen Insel der Freiheit inmitten der unermesslichen Notwendigkeit bewusst. (…) Und eben dies wird die Bedingung für die Seelenruhe sein: Nichts kann mich mehr berühren, wenn ich entdecke, dass das Ich, das zu sein glaubt, nicht das Ich ist, das ich bin“ (Hadot 1996, S. 164). Und was bin ich – jenseits meines Glaubens von Gut und Böse, jenseits meiner Gedanken von „dies ist so und das ist anders“? Es ist das Leben selbst, das in uns lebt in jedem Augenblick unserer Gegenwart. Es ist das, wonach wir suchen – und damit genau das, was in uns sucht. Damit wir uns dessen in jedem Augenblick wieder bewusst werden können, hat die stoische Philosophie eine Unterteilung unserer menschlichen Existenz aufgedeckt, die bis heute gültig geblieben ist: der Körper, die Seele (Psyche) und der Geist (Bewusstsein). Wann immer wir an unsere Grenzen

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stoßen, nicht mehr weiter wissen, ängstlich reagieren, an uns selbst zweifeln oder uns ärgern, liegt eine Vermengung der drei Existenzbereiche vor, und der Abstand zu uns selber ist dann verloren. Unter den drei Basisfaktoren zeichnet sich unser Bewusstsein als die uns originäre Wesenheit aus, mit der wir Menschen menschlich werden. Der Körper und die Psyche sind Einflussfaktoren ausgesetzt, die oftmals nicht von uns abhängen. Krankheiten, Umwelteinflüsse, Triebimpulse, Beziehungsgeflechte und Emotionen stehen außerhalb unserer bewussten Kontrolle. Hier besteht unser Einfluss in der uns zeitlebens aufgegebenen Pflege und Hygiene. Hierzu bietet uns die Kraft unseres Denkens die Macht der Reflexion, um Abstand und Einfluss nehmen zu können im Sinne eines gedanklichen Zurücktretens und der darauf folgenden willentlich neu ausgerichteten Sinngebung. Der Geist „ist in eigentlichem Sinne dein“, notiert Aurel in seinen „Selbstbetrachtungen“. Kraft dieser Bewusstseinsmacht im positiven Sinne der Bemächtigung sind wir selbst befähigt, das unserer Individualität allein gemäße und damit unvergleichliche Leben zu leben. Wir müssen da nirgendwo anders oder bei anderen suchen. Wir erlauben dem Leben in uns, durch uns zu leben. „Wenn du daher von dir selber, d. h. von deinem Geist, all das fernhältst, was andere Menschen sagen oder tun oder was du selber gesagt oder getan hast und was dich als (dir) bevorstehend beunruhigt oder was dir von dem dich umhüllenden Körper oder dem ihm gesellten Lebenshauch (d. i. Seele/ Psyche, K. H.) – dem Bereich deines Willens entrückt – anhaftet und was der dich von außen umströmende Strudel herumwirbelt, (…) und du nur darauf bedacht bist, zu leben, was du lebst, d. h. die Gegenwart, dann wirst du imstande sein, die Spanne Zeit, die dir bis zum Tode noch übrig ist, in Ruhe und in Eintracht und Frieden mit deinem Genius zu durchleben“ (Aurel 1973, S. 170). Bis heute ist diese stoische Unterscheidung unserer Existenz – der Körper, die Psyche und das Bewusstsein – ein bewährtes Differenzierungsprinzip zur Seelenruhe geblieben. Das uns hierbei „leitende Prinzip“ (griechisch: hegemonikon) ist und bleibt unser Bewusstseins, unser Denkvermögen (griechisch: dianoia), das uns Abstand nehmen lassen kann von den unzuträglichen Verquickungen unseres psychophysischen Gemenges. Unser Bewusstsein ist fähig, uns da herauszuziehen (wie am Münchhausen-Schopf aus dem Sumpf ) und zu entscheiden, was uns gut tut und was nicht. „Der erste Schritt bei der Abgrenzung des Ichs besteht in der Erkenntnis, dass in dem Wesen, das ich bin, weder der Körper noch der Lebenshauch, der ihn beseelt, wirklich mein sind“, schreibt Hadot über das stoische Befreiungsprinzip unseres Bewusstseins, das uns „gegeben“ sei „als Quelle der Initiative,

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als ,Ichʻ, das entscheidet“ (Hadot 1996, S. 167). Entscheidet wozu? Um sich nicht vereinnahmen zu lassen von Gedanken, Menschen, Vorkommnissen in einer Art und Weise, die uns schadet. „Verzettle nicht den Rest deines Lebens mit Nachdenken über andere Menschen – falls du damit nicht die Beziehung auf einen gemeinnützigen Gedanken verbindest“, rät uns Marc Aurel (Aurel 1973, S. 23). Das Leben in uns lebt nach dem Prinzip der Energie-Balance. Wird sie gestört, verwehrt, blockiert, abgedrängt oder in anderer Weise verhindert, reagiert in uns das Meldesystem der seelischen Gestimmtheit, das unsere Achtsamkeit herausfordert. So einfach kann das sein. „Die Menschen aber, die nicht auf die Bewegungen der eigenen Seele achten, müssen unweigerlich unglücklich sein“ (Aurel, ebd., S.  15). Dieses Schärfen der Achtsamkeit auf das, was im eigenen Energiefeld passiert, ist bis heute ein grundlegender Heilaspekt zur seelischen Gesundheit geblieben. Zum Vergleich: Wenn es irgendwo klappert in unseren Autos oder Waschmaschinen, denken wir sogleich an die Inspektion. Wie leicht jedoch hören wir über das Rütteln und Zittern der Seele hinweg und geizen mit unserer Zeit, hier innezuhalten. Es ist die stoische Sorgfalt unserer seelischen Balance gegenüber, die uns auf Dauer gelassen bleiben lässt wie in einer ruhigen Fahrt nach der Wageninspektion. Der Stoiker Seneca (1–65 n. Chr.), zwei Generationen vor seinem Landsmann Aurel als Philosoph in Rom berühmt geworden, erkennt die innere Unruhe des Menschen als „eine einzige Folge des Charakterfehlers: keinen Gefallen an sich zu haben“. Welch ein für die damalige Zeit ungewöhnlicher Mikroskopblick in das Selbstgefüge unseres Lebens, in der Art, wie wir uns als Menschen selbst beurteilen, eine Quelle unserer Nervosität zu erkennen. Und als hätte er das Selbstmanagement unserer Moderne 2000 Jahre zuvor erahnt, preist Seneca, um unsere nervösen Selbstzweifel zu lindern, als Tugend zur Gelassenheit zweierlei: die Kraft des Menschen, sich zu entscheiden, und die Gabe erfolgreichen Handelns. Werden Sie aktiv und machen Sie das Beste daraus! Fehlt es uns daran, sinkt der Selbstglaube. „Dies entsteht aus einer Unausgeglichenheit der Seele und aus ihren Trieben, die entweder nicht entschieden genug oder zu wenig erfolgreich sind. In diesen Fällen wagt man entweder nicht so viel, wie man eigentlich begehrt, oder es fehlt an der letzten Durchsetzungskraft, und so baut man ganz auf Hoffnung. Ständige Unrast treibt sie um als eine unausweichliche Folge ihres Schwebezustandes“ (Seneca 2011, S. 21). Das kann ich als Coach nur bestätigen. Häufig resultieren bei Klienten deren innere Unruhe und Selbstzweifel aus der eigenen Unentschiedenheit zur selbstwirksamen Tat. Und dabei sind es genau die Energien („Triebe“),

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die uns die Kraft geben könnten, gelassen und glücklich zu handeln. Hierzu müsste der Mensch sich jedoch entscheiden können, um selbstverantwortlich zu handeln. Stattdessen lassen wir unsere Energien und Kräfte, unsere kostenlosen Glücksmacher, brachliegen. Und die ersparte Tat wirkt auf den Vermeidungsimpuls nur verstärkend zurück. „Da packt sie (d. Menschen) Reue wegen ihres Unterfangens und Furcht davor, es wieder anzupacken, und es beschleicht sie unmerklich jener schwankende seelische Zustand, in dem sich kein Ausweg auftut, da sie ihre Begierden weder zu zügeln noch ihnen zu willfahren in der Lage sind, ein Zaudern und Zagen beherrscht ihr Leben, das sich zu entfalten und selbst zu bestimmen unfähig ist“ (Seneca, ebd., S. 21). Könnte Senecas Zitat nicht als zeitlose Mahnung in einem aktuellen Ratgeber zu lesen sein? „Zaudern & Zagen“ – die Komfortzonenhüter und Quellenfiguren der Unzufriedenheit. Für den Stoizismus trifft ebenfalls zu: Glück ist eine Überwindungsprämie und muss immer wieder neu errungen werden und wird nur im Unterschied zum Vorherigen geboren.

4.11 W  irst Du herausgefordert, genieße den Augenblick Hand aufs Herz – wenn es nichts gäbe, mit dem wir fertig werden müssten, fühlte sich unser Leben da nicht irgendwie leer an? Unser Leben ist und bleibt nun mal ein verdammtes Ding nach dem anderen. Frage ich Klienten, welches Problem sie, wenn ihr gegenwärtiges gelöst wäre, stattdessen hätten, schmunzeln sie häufig. Unser Verstand ist evolutionär geboren worden, um Schwierigkeiten zu lösen. Hat er keine, schafft er eine. Dem Gelassenen schlägt dabei keine Stunde! In uns schlummern Fähigkeiten, die erst so richtig wirksam werden, wenn wir durch schwierige Lebensumstände herausgefordert und im Meistern regelrecht geprüft werden: postextremes Wachstum. Untersuchungen zufolge bestätigen die meisten Menschen, denen Schicksalsschläge widerfahren sind und richtig zu schaffen machten, dass es ihnen nach deren Bewältigung weitaus besser ergangen sei als zuvor und sich ihr Leben positiv gewandelt habe (Psychologie Heute Compact, Heft 32 2012, S. 19). Frei nach dem Philosophen Friedrich Hegel, eröffnen solche Grenzsituationen unsere existenzielle Wahrheit: Glaubst Du, zugrunde zu gehen, entdeckst Du stattdessen allererst Deine wahren Gründe. Zu schaffen machen uns zumeist zwei Phänomene: die Angst und das Ungewisse. Unsere Angst ist oft „nur“ die Folge, wenn wir das Jetzt des

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Augenblicks verlassen. Lesen wir hierzu, was Fritz Perls, Begründer der Gestalttherapie, zu einem Klienten sagt – paradigmatisch uns allen: „Es gibt keine Probleme mit dem Hier-und-Jetzt. Du kannst ein Problem da­ raus machen, indem du vergisst, dass du hier und jetzt bist. Bist du hier, jetzt? – Nein. Du bist hier, aber im Grunde bist du nicht hier. Du bist in deinem Computer. Das ist Deine Jetzigkeit. Ich bezweifle, ob du hier bist und atmest, oder mich siehst oder dir deine Haltung bewusst ist, dein Da-Sein ist also beschränkt, Deine Existenz mag sich um dein Denken drehen. Viele Menschen unserer Zeit existieren nur als Computer. Sie denken und denken und denken und konstruieren eine Erklärung und dann eine andere Erklärung und was fehlt, ist Verständnis“ (Perls 2002, S. 131).

Sobald wir verstehen, dass wir mit unserem Gedankensprung aus dem Jetzt auch die Angst sprungbereit machen, können wir bewusst zurücktreten, reflektieren und gelassen ausatmen, um uns wieder dem gegenwärtigen Augenblick zu widmen. Die Angst vor dem Gleich, Später oder Bald lässt uns schwanken, und auf was wir da stoßen, ist wieder das Ungewisse (vgl. Abschn. 1.5 und 2.2). Unsere Ungewissheit, wir erinnern uns, entsteht aus einem Mangel an Informationen über die Zukunft. Wir wollen jetzt wissen, was gleich, später oder bald sein wird, und stochern dabei nur mit Gedanken im Nebel einer Illusion herum. Wer so stochert, stolpert, weil Gedanken über die Zukunft als Gegenwärtigkeit erlebt und dabei wie ein Jetzt nach dem anderen missverstanden werden. Damit wiederum – Perls nennt das treffend „Computer-­Jetzigkeit“ – erzeugen wir einen Mangel an Augenblickskonzentration, was wir wiederum einen Mangel an Zeit spüren. Wir vermissen – scheinbar – die Zeit für eine Informationsgewinnung über die Zukunft, weil wir den Augenblick als Zeitlosigkeit vergessen bzw. nicht erleben können. Die „Zeit“ bleibt, gerade weil sie in unseren Gedanken nicht sicher auszufüllen ist, ein mentales Konstrukt. So erleben wir die Ungewissheit als Tagestrance, die keine Prognosen zulässt, wohl aber das Risiko. Und damit kann es spannend werden, und zwar jeden Augenblick. Darum rate ich Ihnen, stecken Sie mal wieder in einer solchen unberechenbaren Tagestrance fest, die Zukunft besser schlafen zu lassen und nicht gleich vorzeitig wecken zu wollen, sonst bekommen Sie womöglich eine verschlafene Gegenwart, die Sie nicht wollen, weil Sie stolpern. Hierzu lesen wir bei Goethe: „Das wenigste muß dich verdrießen; mußt stets die Gegenwart genießen.“ In einem seiner Briefe an Zeller schreibt er, die Weisheit der griechischen Lebenskunst bestünde darin, fähig gewesen zu sein, in der Gegenwart zu leben und ein Wissen davon gehabt zu haben, was er,

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Goethe, die „Gesundheit des Moments“ bezeichnet (Brief an Zeller, 19. Okt. 1829, s. Zitat Harodt, Philosophie als Lebensform, S. 104). Aus dieser weisen Haltung erwuchs den griechischen Philosophen die „Ataraxia“, die Unerschütterlichkeit der Seele als Fundament unserer inneren Verlässlichkeit. Diese uralte Tugend der Menschheit nehme ich mir täglich selbst zu Herzen als eine Art Trimmpfad der Enthaltung oder zumindest Zurückhaltung meinen eigenen Urteile, Bewertungen oder Interpretationen gegenüber. Mit der Ataraxia sichern wir uns quasi vor uns selbst ab. Bereits 300 Jahre vor Christus empfahl diese Lebenshaltung Pyros von Elis, der die philosophische Schule der Skeptiker begründet hat, weil er wusste, dass wir weniger wissen, als wir glauben. Die Skeptiker misstrauten grundsätzlich der Logik des Verstandes aus dem Prinzip der Trugschlüssigkeit. Was uns das Denken vorspiegelt, sind Spiegel des Denkenden und keine Wahrheitsbilder der Welt. Unser Verstand kann mit dem Augenblick unseres Erlebens, frei von Sprachmustern, nichts anfangen und fängt darum an zu spinnen.

4.12 W  ird es unübersichtlich, nimm den „Blick von oben“ Ich frage mich häufig, ob es irgendein Muster oder eine Ordnung der Dinge in unserem Leben gibt – nicht eine, die wir kennen, sondern eine, die verborgen in einem wirksam ist und Ereignisse, wenn sie geschehen, richtig erscheinen lässt oder uns Zuversicht ihnen gegenüber verleiht oder die Bereitschaft, sie zu akzeptieren, auch wenn sie uns falsch vorkommen. Oder, das frage ich mich auch, geschieht alles immer einfach nur so, in einem Wirbel ohne Ende oder Ursache – so wie wir Ameisen sehen oder Moleküle unter dem Mikroskop oder wie andere uns sähen, wenn sie unsere Probleme nicht kennten und uns von einem andern Planeten aus beobachteten? Und indem ich dies frage, antwortet etwas in mir auf das, was uns Menschen tagtäglich umtreibt. Hier erobere ich fragend ein Stück Freiheit in mir, die uns allen möglich ist und zurückholt aus dem „Wirbel ohne Ende oder Ursache“. Wir lassen kurz los vom Strom des Geschehens, treten zurück von den Suggestionen der Alltagswelt und wagen einen Gleichmut gegenüber dem Gleichstrom der Bilder und Fremdreize unserer Umwelt, der uns, weil wir loslassen, gelassen macht. Dieser Schritt zurück erfordert von uns eine Entschlossenheit, deren Wagemut zum ersten Mal in unserer Kulturgeschichte die griechischen Philosophen geprägt und vorgelebt haben.

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Die Stoa konnte uns eine Antwort mit auf den Lebensweg geben, die wir als makrokosmische Analogie und Vorahnung zu dem erachten, was gegenwärtig in den Mikrospektren der Quantenphysik für gültig erklärt wird. Ist das Primäre universellen Lebens das, was im Energieraum die Elementarteilchen und Atome miteinander verbindet (mikro), so sind wir Menschen, die teilhaben an dieser Lebensenergie, entsprechend miteinander verbunden (makro). Die Stoa hat den Kosmos für uns als einen alltäglichen Sinnzusammenhang der Tiefe begriffen. Wir Menschen sind damit Teile eines großen Ganzen, das uns unsere eigene Selbsttranszendenz erfahren lässt, sobald wir augenblicklich innehalten und das Suchen nach dem nächsten Glück loszulassen vermögen. Einen solchen Sinnzusammenhang in seiner lebendigen Tiefe erfahren zu können heißt, vom Geplapper unseres Verstands und seiner Alltagsgeschichten Abstand nehmen können, heißt meditativ (lat. meditatio: nachsinnen) einer Dimension jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung gewahr werden und im Zustand vom No-Mind gerade dadurch universell verbunden zu sein. Was uns im Kern ausmacht, ruht jenseits des Denkens. Ulrich Schnabel erachtet diese Erfahrung als ein „massives kulturelles Beschleunigungshindernis“ (Schnabel 2010, S. 199), das uns beispielsweise auch die Religionen zum Abstand-Nehmen gegenüber der „Anhäufung von Gütern und Erfolgen“ bieten können. Unsere universelle Verbundenheit mit den kosmischen Energien befreit uns augenblicklich vom trennenden Ego-Zentrismus und seinem Trennungsfetischismus: „Ich hier, Du da …, das ist schlecht, jenes dagegen gut …, der verhält sich mies im Vergleich zu mir, der/die …, wenn ich … tue, passiert …, damit es mir besser geht, muss ich …(usw.).“ Hiervon einen Schritt zurückzutreten, gleicht tatsächlich einem Quantensprung ins physisch Verbindende der kosmischen Energien. Unsere Gelassenheit resultiert aus dieser Sicht einer höheren Instanz in uns selbst, aus der Teilhabe an universellen Kräften, die Unterschiede beseitigen, die uns vom Verstand und seinen Erklärungen her kurz zuvor noch beunruhigt haben. Deren universelle Gesetze beschreibt eindringlich der Physiker und Philosoph Fritjof Capra in seinem Klassiker „Das Tao der Physik“. In seinen quantenphysikalischen Erkenntnissen erläutert Capra insbesondere unsere eigene beobachtende Teilhabe und Mitgestaltung der Lebensphänomene, die wir erleben. Mit dieser Erkenntnis, soweit wir sie verinnerlichen, können wir uns davon befreien, zwischen dem Leben „draußen“ und unserem bewussten Erleben „drinnen“ zu trennen. Fritjof Capra schreibt: „Der Universalzusammenhang der Dinge und Ereignisse scheint jedoch ein Grundzug der Realität zu sein, der nicht von einer bestimmten Deutung (…) abhängt. (…) Die Quantentheorie zwingt uns, das Universum nicht als eine Ansammlung physikalischer Objekte zu

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sehen, sondern als kompliziertes Gewebe von Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen eines vereinigten Ganzen. (So) schließt diese universelle Verwobenheit immer den menschlichen Beobachter und dessen Bewusstsein ein (…). Auf der atomaren Ebene können ,Objekteʻ nur in Begriffe der Wechselwirkung zwischen den Vorbereitungs- und Messverfahren verstanden werden. Das Ende der Kette von Vorgängen liegt immer im Bewusstsein des menschlichen Beobachters. (…) Der entscheidende Zug der Atomphysik ist, dass der menschliche Beobachter nicht nur für die Beobachtung der Eigenschaft eines Objekts notwendig ist, sondern sogar, um diese Eigenschaft zu definieren. In der Atomphysik können wir nicht von den Eigenschaften eines Objektes als solchem sprechen. Sie sind nur im Zusammenhang mit der Wechselbeziehung des Objekts mit dem Beobachter von Bedeutung.“ Diese Weltsicht der Quantenphysik „sieht jetzt das Universum als zusammenhängendes Gewebe physikalischer und geistiger Beziehungen, dessen Teile nur durch die Beziehung zum Ganzen definiert werden können“ (Capra 2000, S. 139–143). So blicken wir, schauen wir hinaus in die Welt und auf Menschen, immer nur uns selber an und bleiben gelassen, wenn wir es sein lassen zu trennen zwischen uns und der Welt. Eine Konsequenz daraus hat Marc Aurel knapp 2000 Jahre zuvor vorweggenommen: Hört auf, mit dem Spaten der „Warums“ Problemen auf den „Grund“ (den es nicht gibt) gehen zu wollen. Denn, so stellt Marc Aurel fest, es verliert derjenige seinen inneren Frieden, der „die Dinge unter der Erde erforscht“ und entsprechend dieser Spaten-Technik ebenso „den Vorgängen in den Seelen seiner Mitmenschen durch Schlüsse nachspürt“ (Aurel 1973, S.  17). Was wir da zu finden glauben, sind Er-Findungen (Urteile, Annahmen, Schlussfolgerungen …) unserer selbst, „sagen“ also nur etwas über unsere mentalen Maßstäbe aus. „Verzettle nicht den Rest deines Lebens mit Nachdenken über andere Menschen“ (Aurel, ebd., S.  23). Warum …?  – Weil jedes Urteil über andere („Der Meier ist unverschämt, er hat schon wieder nicht zurückgegrüßt.“) oder Grübeleien über unsere Außenwirkung („Was denken die Kollegen jetzt über mich, nachdem ich diesen Fehler gemacht habe?“) nur Spiegelbilder und Schattenspiele unserer eigenen Wertmaßstäbe und Gedanken sein können. So treffen wir uns immer nur uns selbst. Damit aufhören und inneren Frieden erlangen können wir ebenso durch einen gedanklichen Zeitsprung. Hierzu wechselt die Stoa vom Innenblick unserer Weltsicht hinaus zum Grabstein unseres Lebens. Seelenruhe erleben wir nach dieser Gedankenhaltung, mit der Marc Aurel kulturgeschichtlich Schule gemacht hat, „wenn du alles, was du tust, mit dem Gedanken tust, dass es die letzte Tat deines Lebens sein könnte“ (Aurel 1973, S. 14). Lassen wir kurz diese Sicht Schicht um Schicht in uns sacken und spüren dem Tod

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in seiner Allgegenwart in uns selbst nach. Mit dieser Versenkung begreifen wir womöglich den Zeitindex unserer Endlichkeit. Wer gedanklich hier ankommt, lässt emotional los. Von Sorgen, Ängsten, Grübeleien, Zweifeln oder Ärger und Enttäuschungen lassen wir mit einem Mal die Zügel schießen und sichten wie in einem umgedrehten Fernrohr neue – die realen – Proportionen. Heute fragen wir Berater unsere Klienten ähnlich: „Angenommen, Sie wüssten, dass Sie morgen sterben, würden Sie dann heute noch …?“ Mit diesem mentalen Switch relativieren wir unsere Ansicht über uns selbst im Sekundenschnitt auf das Hier und Jetzt dessen, was uns wert und wichtig ist in unserem Leben. Als ich im Philosophieunterricht des Gymnasiums zum ersten Mal auf diesen Satz von Marc Aurel gestoßen war, hob ich ihn behutsam wie ein wertvoll wirkendes Strandgut am offenen Meer des Lebens in meinem Gedächtnis auf, noch ungewiss, in welchem Lebensfach das aufbewahrt werden und später mal zur Wirkung kommen sollte. Aber ich ahnte damals sogleich, das war etwas, mit dem ich „auf ewig“ etwas anzufangen wusste. Bis heute blitzt Aurels Metapher „die letzte Tat deines Lebens“ in Momenten, die mich emotional an den Haken nehmen, wie ein unverwüstliches Messer auf, das all die Taue aufschneidet, mit denen ich mich immer noch an Dinge oder Erwartungen binde, die im Angesicht des Todes nichts mehr zählen. So können wir unsere Krusten aus Stress, Ärger und Sorgen getrost vom eigentlichen Wert unseres Daseins abschälen. Und behalten wir etwas zurück, das uns unverlierbar geblieben ist: unsere wahre Natur, reines Bewusstsein unser gegenwärtigen Energie, das tiefe Selbst jenseits unserer Gedanken. Marc Aurel hat solche Sentenzen, mit denen er sein Leben lebenswert bewahrte, oftmals in den stillen Augenblicken mörderisch tosender Kriegs­ schlachten geschrieben. Und wir? Zucken wir nicht schon mitunter grübelnd zusammen, wenn etwa der Kollege uns grimmig anblickt, ein Vortrag beim Publikum nicht den erhofften Erfolg bescherte oder ein Kunde sich über uns beschwert? Dann wüten Schlachten aus Gedanken und Gefühlen bisweilen tagelang in unserm Kopfkino herum, während „draußen“ lediglich eine Tür laut zugeschlagen wurde.

4.13 D  ie Ermahnung an Dich selbst: Dein innerer Weg In diesem Kapitel möchte ich Ihnen einen Weg zu unserem Selbstgewissen zeigen. Von Geburt an wirkt in uns ein Sensor, der uns spüren lässt, wann uns etwas gut tut oder widerspricht. In den ersten Jahren signalisiert dieser Sensor

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die Frustrationstoleranz unserer seelischen wie körperlichen Bedürfnisse. Damit üben wir, uns selbst und unserer Umwelt unsere eigenen Grenzen zwischen gut und schlecht bewusst zu machen. Wer leidet, spürt einen Widerspruch in sich, den aufzuheben der Mensch bestrebt sein will. Haben wir dann mit der Zeit gelernt, mit dem, was wir möchten oder darstellen oder gestalten wollen, uns von andern zu unterscheiden, so üben wir uns darin, dem gerecht zu werden, was wir als individuelles Selbst (lat. Individuum: Unteilbares) zugleich bewahren und von anderen Menschen abheben wollen. Aus diesem Wechsel zwischen uns und anderen entsteht unser inneres System von Werten und Motiven, die uns anleiten (sollten), das zu tun, was uns und anderen gut tut. Hierbei kristallisiert sich unser Sensor, der uns anfangs mit Signalen vom Hungergefühl bis zum Sattsein, vom Hilfeschrei bis zum Mama-kommt, vom Bibbern bis zur wärmenden Bettdecke auf Trab und am Leben gehalten hat, zu einem Signalgeber unserer Selbstwerte heraus. Was ist mir wert und wichtig und wann hapert es damit? Wann treibe ich mit mir selbst, wann andere mit mir Schindluder, wenn es darum geht, was mir gut tut? Diesen Sensor nenne ich das Selbstgewissen. Dieses Gewissen leuchtet als Infrarot unserer Selbsttreue auf, sobald wir es überschreiten. Manche Menschen spüren es, wenn sie selbst oder andere die eigene Zone überschritten haben, andere merken kaum noch etwas, sondern wachen erst auf, wenn es für sie schmerzhaft wird und die Mullbinde her muss. Wird dem Menschen klar, dass er sich im Namen seines Werte-Seins sich selbst gegenüber zu verantworten hat in dem, was er aus sich macht, dann mag er sich bisweilen wie vor dem eigenen Richterstuhl vorkommen. Entweder wir gehen unseren eigenen Weg oder vergehen uns an uns selbst. Durch sein Gewissen ist jeder Mensch Richter seiner selbst. Jeder Tag ist Gerichtstag. Wir stehen mit unserem freien Willen immer vor Weggabelungen. Das erzeugt häufig Angst und damit eine Vermeidung vor der Selbstverantwortung. Mit dieser allzu alltäglichen Lebensstrategie vermeiden wir jedoch Chancen, die innere Ruhe unserer Selbsttreue zu wahren. Solche Chancen erfordern mitunter schmerzliche Preise. Denn aufgefordert, sich selbst zu dem zu machen, der wir werden sollen, also unsere Selbstbestimmung zu verwirklichen, bleibt die große Herausforderung dazu, unsere Angst, hierbei zu verzagen und zu versagen, gelassen zu meistern. Gelassenheit resultiert genau aus diesem Bewusstsein heraus, der Prüfung unseres Selbstgewissens standzuhalten und sie zu bestehen. Nicht gelebtes Leben beunruhigt und rächt sich mitunter in Schuldgefühlen. Wer seine Fähigkeiten nicht auslebt und seine Möglichkeiten, die eigenen Werte und Sinn-Ziele zu verwirklichen, versäumt, der verspürt diese Unterlassung als eine Art beunruhigender Selbstsünde. Dieses Gefühl, sich

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selbst gegenüber schuldig geworden zu sein, sollten wir annehmen und als Weckreiz zu Neuem akzeptieren. Wir erinnern uns beispielsweise an Andy Mühler (Kap. 3), der jahrelang sich selbst fremdgegangen, dem Ruf des Chefs gefolgt und dann aufgewacht war, weil sein Selbstgewissen nicht locker und zuletzt die Ambulanz zum Burn-out aufheulen ließ. Er hatte die eigenen Wege immer wieder versäumt und verirrte sich damit. Hier liegt eine Art existenzieller Schuld vor, mit der uns das ungelebte Leben in uns selber anklagt. Das mag trist klingen, dient jedoch als Weckruf zum heiteren Erwachen aus unserem Nicht-Wissen, was uns alles möglich ist, um glücklich und gelassen zu leben. Diese „Schuld“ markiert die von uns nicht gegangenen, doch immer noch möglichen Lebenswege und kann damit im lebensphilosophischen Sinne gestalterisch als ein Stachel zur geistig gesundenden Umkehr wirken. Unser Selbstgewissen ruft so den Menschen heim in die innere Burg der Entelechie (Aristoteles: das Ziel in uns), wo all unsere individuellen Anlagen und Fähigkeiten darauf warten, verwirklicht zu werden – ein gesunder Ruf zur Heimkehr. Umgekehrt formuliert: Wer sich von seinen Werten und Wesenskernen entfernt und gegen seinen inneren Ruf handelt, liefert sich Anlässe genug, sich selbst zu verachten. Vielen ist das nicht bewusst und sie verachten stattdessen die Welt. Diese verkappte Rache der Selbstverachtung verschlimmert häufig die Lage, weil die helfenden Hände anderer Menschen sich zurückziehen. Ein Teufelskreis lauert, der den Betroffenen mitunter in die Depression führen kann, dieser ungewollte Preis für den Ungehorsam der eigenen Kommandostimme gegenüber; depressive Symptome sind Preise solchen Selbsttrotzes. Diese Verschuldung sich selbst gegenüber resultiert häufig aus einer Unachtsamkeit heraus: Häufig fühlen wir uns weniger verantwortlich für die Folgen des Unterlassens einer Handlung als für die Folgen einer Handlung selbst. Andy Mühler vermied zum Beispiel, seinem Chef gegenüber auch einmal Klartext zu sprechen, fühlte sich jedoch nicht für die Konsequenz dieser Unterlassung verantwortlich; darauf machte ihn dann seine Krankheit aufmerksam. Was all das für unser Seelenheil und ein Leben in heiterer Gelassenheit bedeutet, wurde erstmals in unserer Geistesgeschichte vom Stoizismus formuliert und vor allem als Ethik praktiziert. Das uns „leitende Prinzip“ unserer Seele ist für Marc Aurel unsere „innere Rede“, also unsere Art und Weise, wie wir über uns und die Dinge um uns herum denken und urteilen. „Die Grundverfassung deiner Seele wird so sein wie die Vorstellungen, denen du nachhängst. Denn die Seele wird von den Vorstellungen gefärbt“ (Aurel 1973, S. 58).

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Darin liegt das Zentrum unserer Freiheit und unserer Macht, uns abgrenzen zu können gegenüber schädlichen oder beunruhigenden Ereignissen, mögen diese auch als innere Erlebnisse aus unserem eigenen Denken und Fühlen resultieren. Denn von uns hängt dreierlei ab: die Art, wie wir urteilen (über uns und die Welt), unser Antrieb zum Handeln (tue oder lasse ich dieses und jenes?) sowie unsere Wünsche bzw. Abneigungen (will ich das eine oder lehne ich das andere ab?). Das ist unsere innere Burg der Autonomie, unsere Seele als das leitende Prinzip unseres Lebens. Hier entfalten wir unsere innere Rede, die uns sagt, was uns zuträglich oder schädlich ist. Marc Aurels Stoizismus gründet in unserer Fähigkeit zur inneren Rede, mit der wir uns in die Lage versetzen können, denkend Abstand zu gewinnen sowohl von unserer Umwelt und unseren Urteilen über sie als auch  – vor allem  – von unseren eigenen Gefühlen und Vorstellungen über uns selbst. Alles ist eine Frage dessen, wie ich etwas beurteile – welche innere Rede ich über mich und mein Leben halte. „Tilge die Meinung: dann ist (die Vorstellung) ,Ich bin geschädigt wordenʻ getilgt! Tilge (die Vorstellung), Ich bin geschädigtʻ, und der Schaden ist getilgt“ (Aurel, ebd., S. 35). Aus meiner inneren Rede resultieren zuerst mein Begehren und Handeln (die beiden anderen Aspekte meiner Autonomie). Sobald wir etwas wollen oder ablehnen, folgt das aus unseren (bewusst oder unbewusst vorangegangen) Selbst-Reden. Und es liegt an uns, Ja oder Nein zu sagen zu unserem Glück oder Leid. Unsere Traditionen aus Beratung, Therapie oder Coaching bewahrheiten immer wieder unsere innere Autonomie, die uns alltäglich verloren gehen und darum eben auch (und sei es mithilfe anderer) wiedergewonnen werden kann. Was in diesen helfenden Gesprächen zur gelassenen Haltung unserer inneren Burg zurückführt, ist die Reflexion unserer gedanklichen und emotionalen Zutaten, die wir all den inneren und äußeren Reizen unserer Wahrnehmung hinzufügen. Und es war Marc Aurel, der bereits kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung diese mentalen Zutaten, die wir sekundenschnell dem Fak­ tischen unserer Realitätswahrnehmung hinzufügen, als das Beiwerk zu unserem Glück oder Unglück begriffen hat. Alles ist eine Frage des Werturteils, erkennt Marc Aurel. Und bis in die letzten Verästelungen unserer Unruhen, Sorgen und Ängste stoßen wir auf diesen Gedankenreflex, der das, was unser Bewusstsein wahrnimmt, sogleich bewertet. Wenn wir etwas wollen, wollen wir es, weil wir uns zuvor (bewusst oder unbewusst) sagen (bewerten), es sei gut. Wenn wir etwas nicht wollen, wollen wir es nicht, weil wir uns zuvor … – Aurels Tipp hierzu: Lass nur diejenigen Vorstellungen in Deinem Geist gelten, die nichts dem hinzufügen, was Du wahrgenommen hast. Seit Menschengedenken gilt die Fähigkeit, wahrnehmen zu können, ohne zu bewerten oder zu interpretieren, als eine der höchsten Qualitäten von Intelligenz.

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Warum wiederhole ich diese Weisheit in diesem Buch so häufig? Warum taucht diese Quintessenz zum Glück in unserer Seelsorge und Heilungsgeschichte immer wieder auf? Weil sie seit Beginn unserer zivilisierten Geschichte und wider besseren Wissens stündlich missachtet wird durch Automatismen unserer Wort- und Verstandesmaschine. Das Kriterium hierzu, das uns anzeigt, was und wie viel wir in unseren „inneren Reden“ den Vorstellungen über die Welt und uns selbst hinzufügen und damit zu unserem Glück oder Unglück beitragen, ist die „Übereinstimmung“ zwischen unserer Wahrnehmung und unserer Sprache. Nehme ich die rote Farbe auf dem weißen Grund als das wahr, was meine Sinne sehen, oder denke und bewerte ich nicht schon sogleich „roter Fleck auf weißem Tischtuch, verflucht noch mal!“? Sehe ich die weiße Linie in winzigen Aufs und Abs auf dunklem Grund von oben nach unten ziehen oder denke und bewerte ich nicht schon sogleich „Oh verdammt, der Aktienkurs fällt, ich bin ruiniert!“? Der Stoizismus rät, in solchen uns beunruhigenden Fällen in einen Dialog zu treten mit den Ereignissen. Denn der Gedanke „der fallende Aktienkurs ist beängstigend“ besteht lediglich als „Hirngespinst“ (Aurel), entbehrt jeglicher realistischen Grundlage und schießt über die adäquate Sicht der Realität unpassend hinaus, erzeugt gleichwohl darauf folgende Gefühle von Sorge und Angst, die im Organismus wirklich wirken und den „Hirngespinsten“ Realitätscharakter verleihen. (Soweit Sie in den bisherigen Fallbeschreibungen noch keine für Sie passende Übung zur „Ent-Sorgung“ solcher selbst gebastelten Gefühlsfallen entdeckt haben, werden Sie in Kap.  6, „Training zur Coolness“, bestimmt noch fündig werden.)

4.14 Was Dich trifft, berührt Deine Seele nicht Aber ich bin nicht so sicher, ob jemals einer das Recht hat zu sagen, was verrückt ist und was nicht. Es ist, als wär in jedem Menschen noch ein Anderer, der jenseits von Normalität und Verrücktheit steht und der die normalen und die verrückten Handlungen dieses Menschen mit dem gleichen Entsetzen und dem gleiche Staunen ansieht.3 William Faulkner

Kennen Sie das? „Sie Idiot, Ihre Arbeit ist doch für die Tonne. Da suche ich mir besser jemand anderen, bevor ich Entwicklungshilfe für Sie verschleudere“ (Originalton eines Investmentbankes zu einem Mitarbeiter). Wer hier  Faulkner, „Als ich im Sterben lag“, S. 226.

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jetzt cool bliebe, beherzigte höchstwahrscheinlich einen wesentlichen stoischen Unterschied, wehrte solche Schläge damit achtsam ab und ließe sie nicht zu Treffern werden. Doch wie häufig haben berufstätige Menschen mit den gezielten Tiefschlägen ihrer Chefs oder auch Arbeitskollegen zu kämpfen, weil solche Äußerungen eben doch persönlich gedeutet und verletzend eingesteckt werden. Diese Verletzungsgefahr im alltäglichen Miteinander besteht seit Menschengedenken. Auf dem Schlachtfeld „Psyche“ klingen und klirren die Waffen der Worte, obwohl die Schlachten längst geschlagen worden und vorüber sind, mitunter ein Leben lang nach, denn unser Gedächtnis schleift manche Äußerungen von Personen, die in unserem Leben eine Rolle gespielt haben, unermüdlich nach. Um unsere Seele von dieser psychischen Verletzlichkeit frei zu halten, hat die stoische Philosophie das Prinzip des Unterscheidens entwickelt. Die Stoa rät: Unterscheide das Ursächliche Deiner Verletzung, also Dein eigenes Urteil, von dem, was Deine Psyche stofflich umgibt. Dazu gehören die Natur Deines Körpers sowie die durch seine Sinne wahrnehmbaren Reize. Hierzu zählen sowohl die Umwelt der Dinge (Fakten) also auch das Umfeld der Menschen (Meinungen). Diese Unterscheidung, grundlegend für die Hygiene unseres Seelenheils, bestätigt heute die Gehirnforschung als sensorische (sinnliche) versus cortextuale (gedankliche) Informationsverarbeitung. Spricht beispielsweise jemand zu uns, trifft das zuerst einmal als rein akustische (natürliche) Welle in unsere Ohren. Was dann damit passiert, hängt maßgeblich von unseren Wortgebilden, erlernten Sprachmustern und daraus resultierenden Gedanken und Urteilen ab. Und darin sind wir frei zu entscheiden, wie wir urteilen wollen, um unser Seelenheil zu wahren. Deshalb sollen wir uns auf das bewusst richten, was von uns abhängt (die Freiheit zu urteilen), und das von denjenigen Dingen zu unterscheiden wissen, die unabhängig von uns (sinnlich wahrnehmbar draußen oder körperlich drinnen) sind. Als Feldherr und Staatsmann hatte Marc Aurel allen Grund, seine Gedanken und Urteile frei zu halten von den ihn bedrohenden Machtintrigen jener Zeiten. Aus seiner Tugend, Abstand zu halten zu den Meinungen anderer Personen sowie zu seinen eigenen seelischen Reaktionen auf seine Umwelt, hat er uns Menschen ein unschätzbares Gedankengut zum achtsamen Innehalten hinterlassen. Aurels extreme Erfahrungen des Leids und der Sorgen um das Wohlergehen seines Imperiums lieferten den Prüfindex für einen heute alltagsbewährten Hygienefaktor zur Seelenpflege. Schon damals war dem Stoiker klar, wir müssen auf die Impulse der Psyche ebenso achten wie auf körperliche Anzeichen, wollen wir möglichen Krankheiten vorbeugen. „Soll ich mich jetzt ständig mit irgendwelchen Regungen in mir beschäftigen, weil sie möglicherweise psychisch krank machen könnten?“, mögen Sie

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fragen. So fixiert natürlich nicht. Aurels Tugend zur seelischen Hygiene rät Ihnen keineswegs, sich mit Ihrer Psyche „ständig zu beschäftigen“. Gemeint ist vielmehr Ihr innerer Abstand zu sich selbst im Augenblick psychischer Aufruhr. „Die Menschen aber, die nicht auf die Bewegungen der eigenen Seele achten, müssen unweigerlich unglücklich sein“ (Aurel 1973, S. 15). Umgekehrt hat dieses Prinzip sich bis heute bewahrheiten können: Die meisten Coachingfälle zum Thema „psychische Unzufriedenheit“ resultieren aus einer inneren Taubheit, Blindheit oder Sprachlosigkeit gegenüber eigenen See­ lenzuständen. Also: Sobald wir unsere Selbstbeobachtung schärfen und damit innere Zustände überwachen, bewahren wir uns tendenziell vor nachhaltigem Schaden. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Auto und nehmen plötzlich ein leises Klappern im Motor wahr. Genügt das oft nicht schon, um Sie aufmerken und an einen Werkstattbesuch denken zu lassen? Mit unserer Psyche jedoch gehen wir Menschen zum Leidwesen seelischer Gesundheit kaum so sorgsam um. Für diese Schärfung unsere psychischen Wahrnehmung dürfte eines klar sein: Treffer können wir nicht nur von draußen kassieren und uns (wie nach einem Unfall) verletzt fühlen, indem wir es persönlich nehmen. Treffer landet die Psyche auch im Inneren, indem wir uns durch Selbstzweifel, Grübeleien oder Sorgen selbst belasten. Und damit, genau betrachtet, gibt es keine Angriffe von außen, denn jeder Angriff stammt aus uns selbst – uns selbst gegenüber. Ein weiterer Coachingfall: Manfred Schlösser hatte bei der Tochtergesellschaft einer internationalen Fluggesellschaft soeben die Leitung des Auslandsgeschäfts im Fernen Osten übernommen. Seit Jahren residierte in Neu-Delhi ein Niederlassungsleiter, der sich von dem jungen Neuen, so schien dem Klienten klar zu sein, „nichts sagen lassen wollte“. Im Coaching klagte Schlösser los: „Schon beim zweiten Telefongespräch gab der mir zu verstehen, das neue Kartensystem zur Abrechnung, das ich einführen wollte, käme für seine indischen Kunden nicht infrage. Ich solle mich da vorher doch vor Ort selbst schlaumachen und meine Marktanalysen aus dem fernen Frankfurt nicht immer gleich für bare Münze halten.“ Das war alles? Deshalb nahm Schlösser eine Beratung in Anspruch? „Na hören Sie, das hat bei mir so reingehauen, dass ich glaubte, der hätte recht und ich keine Ahnung vom Fernostmarkt.“ Also, genau betrachtet, traf ihn der „Schlag aus Indien“ nicht von außen, sondern, von innen und mitten ins Herz der Selbstakzeptanz durch ein Selbsverharren. Was Manfred Schlösser in seinem Anspruch, etwas Neues zu wollen (z. B. ein Abrechnungssystem einführen), von einem Niederlassungsdirektor aus Indien als Reaktion darauf an

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Worten gehört hatte, löste in Schlössers Gedächtnis alte Denkgewohnheiten aus, die mit dem Mann aus Indien allenfalls so viel zu tun hatten wie der bewölkte Himmel mit einer schlechten Laune. Und nicht nur das – ja grundlegender: Schlösser bekämpfte mit gedanklichen Wortgefechten zwischen Aufund Abwertung sich selbst. Von dem Telefongespräch mit Indien ausgelöste Denkkaskaden (z. B. „ich bin inkompetent; der andere weiß mehr; ich versage, weil etwas nicht gleich klappt; der andere hat das Sagen … etc.“) kollidierten regelrecht mit entgegengesetzten Selbsterzählungen (z. B. „ich akzeptiere mich, wenn ich kompetent bin; mein Selbstwert fühlt sich gut an, wenn andere Menschen mir wohlgesonnen sind; ich fühle mich zufrieden, wenn ich keinen Widerstand erlebe … etc.“). Solche „Ich-bin-gut-wenn“-Geschichten rangen mit zuvor ausgelösten „Ich-bin-ungenügend“-Erzählungen um den Sieg – ein endloser Story-Fight, der immer eine Niederlage enthielt. Das also war Schlössers Dilemma. Er hing im Neuronen-Netz seiner Geschichten aus Worten, Bildern und Szenen wie an unterschiedlich geflochtenen Marionettenfäden fest, gezogen von sich widerstrebenden Zugrichtungen, die er selbst nicht zu steuern vermochte. Auf diese „Selbstwertmacke“ hatte Schlösser so noch nicht geschaut, „so von oben und mit Abstand“. Bislang erlebte er ihre Wirkungen, als sei er ein „Papierflieger im Luftwirbel“. „Automatisch schaltet dann etwas in mir auf den Autopilot, und ich kann weder meine Gedanken frei wählen noch meine Gefühle.“ Worin bestand denn seine Freiheit? Was ermöglichte ihm, wählen zu können? Von wo aus konnte er seine Perspektive inneren Friedens auf sich selber werfen? Für die Antworten hierzu ließ ich ihn literarisch etwas entdecken. Schlösser las auf meinen Tipp hin bei Marc Aurel nach und stieß auf einen Gedanken, der ihm weiterhalf. Der Mensch, schreibt der Feldherr, habe die Gabe, „den in seinem Herzen wohnenden Genius nicht zu besudeln oder durch einen Haufen von Vorstellungen aufzuregen, sondern in heiterer Ruhe zu bewahren“. Da horchte Schlösser innerlich auf und las einige Seiten weiter, was er hierbei zu beachten und ich bereits vorstehend zitiert habe in Differenzierung zu den sie auslösenden Selbst-Erzählungen. Marc Aurel formulierte damit das psychische Prinzip der Verwechselung, das sich in der Menschheitsgeschichte oft als verheerender Irrtum entpuppt hat. Wir verwechseln nicht nur unsere Gedanken mit dem Gedachten, sondern grundlegender noch das Begreifende unseres Verstandes mit dem Unbegreiflichen des Lebens. Was als universelle Energie in unserem Leben fließt, droht zu erstarren, sobald der Mensch mit all seinen Symbolen, Gedanken, Plänen, Konzepten, Ordnungen oder Glaubenssystemen diese Energie ignoriert, missachtet oder zu beherrschen versucht. Uns fällt es gedanklich eben leichter zu sagen, ich „bin“ (z. B.) schlau, unfähig, tolerant,

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schwach etc., oder die anderen „sind“ (z.  B.) intelligent, zurückgeblieben, besser, unhöflich etc., als der Veränderbarkeit des Lebens sprachlich gerecht zu werden, indem wir unterscheiden (z. B.): „In diesem Augenblick beurteile ich mein Verhalten (oder das der anderen) als …, und in einem anderen Augenblick kann das gleiche Verhalten von mir (oder anderen) schon wieder ganz anders interpretiert werden.“ Unsere Sprachwelt ist durch Jahrtausende ihrer Tauglichkeit hindurch übermächtig geworden und filtert nach ihren eigenen allgemeinen Gesetzen in unseren Köpfen eine künstliche Szenerie „Leben“ ab. So auch bei Schlösser. In seiner Psyche haben sich in all den Jahren unbemerkt Reaktionen von negativen Energien angesammelt, von Missmut und Wut, von Ärger und Angst, von Aggressionen und Minderwertigkeitsgefühlen. Diese als Emotionen jederzeit spürbaren natürlichen Energien hätten bewusst gemacht und stimmig für ihn selbst geäußert werden sollen, sobald sich Schlösser uneins gefühlt hatte mit sich oder seinem direkten Umfeld. Doch etwas in ihm hatte auf innere Taubheit gestellt. Der Preis dieser erkauften Schein-Stille ließ lange auf sich warten und erforderte seine schmerzhaften Abzahlungen. Er begann, an sich selbst zu zweifeln, weil all die negativen Energieimpulse, einmal auf seine Selbst-Taubheit gestoßen und wieder zurückgeprallt, unbewusst als Treffer in die Selbstakzeptanz umgemünzt wurden, die damit Dellen erlitt. Die Psyche verwechselt, was der Seele nicht gebührt. Jedes Mal, wenn Schlösser beispielsweise Wut verspürt hatte, tat etwas in ihm so, als sei nichts gewesen, und die Wut machte gleichsam wieder kehrt und wurde in eine ihr fremde Währung des Selbstzweifels umgemünzt. Ein Kippeffekt von nicht gelebter Aggression (nach außen) in ungewollte Depression (nach innen). Nach welchen Deutungsmustern die Psyche sich selbst wie auch immer auslegt, es bleibt interpretiert. Schlössers unbewusster Wechselkurs verrechnete „schlechte“ Gefühlslagen, auf taube Innenohren gestoßen, in die Währung „Inkompetenz“ des eigenen Selbst um. Fühlte er sich mies, dachte etwas in ihm, er „sei“ mies. „Der Aurel hat echt recht“, erkannte er, „das sind die uralten Meinungen meiner Eltern, die mir früher weisgemacht haben, ich hätte mich nicht im Griff, wenn ich mal wütend, traurig oder einfach nur schlecht drauf war. Das hab ich natürlich geglaubt, und jedes Mal, wenn ich mich schlecht fühlte, wegen was auch immer, redete ich mir ein, ich sei komplett unfähig.“ Übertragen auf seinen aktuellen „Schlag aus Indien“, beherzigte Manfred Schlösser mit Marc Aurel drei wesentliche Schritte zur Gelassenheit, die ihm halfen, seine „Seele“ aus dem Sperrfeuer seiner Selbsterzählungen zu retten.

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1. Die Meinungen und Urteile anderer über ihn selbst siedelte er auf der gleichen „künstlichen“ Sprachebene an wie seine eigenen Selbstzählungen. Diese austauschbaren Etikettierungen und Bewertungen wusste er tunlichst zu unterscheiden vom Energie-Wesen seiner Seele jenseits von richtig und falsch. Zufällig war er nun mal Kind seiner Eltern gewesen, deren Selbstverständnis, mit dem sie ihn erzogen hatten, wiederum von Zufallsmeinungen von deren Eltern gebildet worden war, und so fort. 2. Seine Seele nahm er nunmehr als fließende Energie seiner wandelbaren Stimmungszustände wahr, zu spüren wie Wellenkreise auf der Wasseroberfläche eines tiefen Sees, die von zufällig geworfenen „Steinen“ aus Meinungen und Vorkommnissen in der Psyche oder aus der Umwelt hervorgerufen werden können. In der Tiefe des Sees – seiner Seele – herrschten Friede und Ruhe, unberührbar von den Zufallswürfen des Lebens oberhalb des Wassers. Für diese Quelle seiner individuellen und zugleich kosmischen Energie wollte er empfänglich und sensibel werden, hier erwartete ihn seine ureigene Heimat an Kraft zur inneren Gelassenheit. 3. Sein Bewusstsein musste achtsam werden für diese Unterschiede und deren Zusammenhänge. Zufällige Meinungen oder Vorkommnisse (z.  B. „… kommt für indische Kunden nicht infrage“) konnten jederzeit zufällige Selbsterzählungen wachrufen (z. B. „ich-bin-gut-wenn …“ oder „der andere hat das Sagen“), die wiederum Stimmungsschwankungen – Wellenkreise – in unserer Psyche erzeugen. Sobald er bewusst diese Gefühlskreise und die sie erzeugenden Gedankenentwürfe als Zufallsbildungen reflektierte, konnten sie kein Eigenleben mehr führen und in seiner Psyche suggerieren, er „sei so“. Manfred Schlösser übte täglich diesen achtsamen Umgang mit sich selbst. Ihm war klar geworden, was Aurel vor langer Zeit festgestellt hatte: Er wollte „auf die Bewegungen der eigenen Seele achten“, um frühzeitig innehalten und nachdenken zu können, welche Impulse welche Gefühle nach welchen Meinungsentwürfen aktivieren. Auszuschalten vermochte Schlösser seine „Wortmaschine“ im Kopf dadurch keineswegs, doch er beugte ihrem Automatismus vor, der ihm somit nicht mehr hinterrücks Selbstsuggestionen zum Unglücklichsein verabreichen konnte. So bleibt die Lehre der Stoa zeitlos gültig: Impulse und Triebe hemmen zu können im Augenblick ihres Auftretens, kann ein Zeichen von Weisheit sein. Hier treten wir vor uns selbst zurück, halten kurz inne, erkennen, was da gerade in uns passiert – retreat und reflect – und wählen, was wir daraufhin tun wollen. So erobern und gewinnen wir, hemmend, den Ort zur Reflexion als einen Raum unserer Freiheit, entscheiden und wählen zu können. Das lässt unsere Seele vor den Treffern der Triebe und Impulse unerschütterlich werden.

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4.15 Die Liebe zum Schicksal und etwas Disziplin „Akzeptiere, was immer eingewebt in das Muster deines Schicksals zu dir kommt, denn was könnte deinen Bedürfnissen besser entsprechen“ (Aurel 1973). Was wir alltäglich als schlecht, böse, unpässlich, falsch, ärgerlich oder widrig beurteilen, ist, aus der Distanz heraus und damit wertfrei betrachtet, Teil eines höheren Ganzen, das kein Gegenteil hat (so wie unser Organismus oder der Himmel keine Gegenteile haben). Indem wir den Widrigkeiten des Alltags mit Blick auf das kosmische Ganze vergeben, also Missgeschicken keine Schuld, Fehlerhaftigkeit oder böse Absichten unterstellen, eröffnen wir eine universelle Balance in uns, die uns jenseits von Gut und Böse unseres Ego-Denkens in jedem Augenblick verfügbar für uns ist und uns mit etwas, das größer ist als wir, verbindet. Dann ist „Schicksal“ etwas, dessen Ankunft zwar nicht in unserer Macht steht, dessen Wirkung jedoch wir sehr wohl beeinflussen und gestalten können. Dann wirkt jeder „Schlamassel“ im Alltag wie eine Schaumkrone über der Stille des Ozeans. Diese Tatsache eines universalen Zusammenhangs belegen aktuell die Forschungen der Physik, „dass das Universum im umfassendsten Sinne innerlich zusammenhängt, dass alle seine Teile voneinander anhängig und untrennbar sind“ (Capra 2000, S. 313). Die sogenannte „dynamische S-Matrix-Theorie“ erkennt in allen Energie- und Lebensphänomenen „die Teilchen als miteinander zusammenhängende Energiestrukturen in einem fortlaufenden universalen Prozess – als Korrelationen oder Verknüpfungen zwischen verschiedenen Teilen eines untrennbar kosmischen Gewebes“ (Capra, ebd., S. 318). Capra erläutert das anhand der Entfernungen von Teilchen zwischen Paris und dem Mond: „Das Verhalten jedes Teils wird bestimmt durch seine nichtlokalen (raumzeitlich nach klassischen Methoden nicht messbaren, K.  H.) Beziehungen zum Ganzen, und da wir diese nicht genau kennen, müssen wir den klassischen Begriff von Ursache und Wirkung durch den weiterreichenden Begriff statistischer Kausalität ersetzen. Die Gesetze der Kernphysik sind statistische Gesetze, nach denen die Wahrscheinlichkeit atomarer Geschehnisse durch die Dynamik des ganzen Systems bestimmt wird. In der klassischen Physik bestimmen die Eigenschaften und das Verhalten der Teile das Verhalten des Ganzen. In der Quantenphysik ist es genau umgekehrt: Es ist das Ganze, das das Verhalten der Teile bestimmt“ (Capra, ebd., S. 309). Das bedeutet: „Obwohl im Raum weit voneinander getrennt, sind sie durch augenblickliche und unmittelbare (!, K. H.) nichtlokale Zusammenhänge miteinander verbunden. Diese Verbindungen sind keine Signale im Einsteinschen Sinne; sie transzendieren unsere konventionelle Vorstellung von Informationsübermittlung.“ Die Elemente des Universums beeinflussen

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sich untereinander. „Das eine Teilchen kann sich in New York, das andere in Paris befinden, oder das eine auf der Erde, das andere auf dem Mond“ (Capra, ebd., S. 312–313). Und diese Verbindung – besser: Verbundenheit – mit dem energetischen Feld des Universums verlieren wir, sobald wir der Trennschärfe unseres Verstandes Macht zubilligen, sobald wir also anfangen, zu urteilen, recht zu behalten, zu interpretieren und das Leben in Kategorien aufteilen. Umgekehrt: Sobald wir uns wieder mehr spüren und unsere Gefühle einfach nur wahrund annehmen und Abstand zur Wort-Maschine gewinnen, verschwinden mit der bewertenden Trennung alsbald auch Gefühle wie Angst, Nervosität, Ungeduld oder Ärger; diese Gefühle und Emotionen erleben wir dann als Sprühfunken unseres Abgeschnittenseins vom universalen Energiefeld. Wer diese Einsicht nicht nur versteht, sondern wie einen Schluck klaren frischen Wassers verinnerlicht und in das Gewebe aus Körper, Gefühlen und Denken lebendig integriert, fantasiert sich nicht mehr länger als Nabel der Welt und kann sich trotzdem noch ernst nehmen als ein Mensch, der zu unterscheiden gelernt und Abstand gewonnen hat. Was nicht von uns abhängt und worauf wir keinen eigenen Einfluss haben, das haken wir demnach gelassen ab und betrachten es fortan mit Gleichmut. So einfach das klingen mag, so schwierig fällt es uns doch, uns selbst in dem, was uns verführt, diszipliniert zurückzuhalten. Marc Aurel empfiehlt eine für die Stoa maßgeblich gewordene „Disziplinierung des Begehrens“ zur Schulung menschlicher Vollkommenheit. Hierbei konzentrieren wir uns auf drei Bereiche unseres alltäglichen Daseins: • auf unsere Impulse, nach denen wir etwas begehren oder ablehnen wollen, • auf unsere Handlungen, mit denen wir unsere Strebungen vernünftig oder unvernünftig verwirklichen, • auf unsere Urteile, in denen wir etwas zustimmen oder ablehnen. Sinn und Zweck dieser Disziplin ist folgender: Wer es schafft, nur das zu begehren oder abzulehnen, was in seiner Macht steht, d.  h. was von ihm abhängig ist, bewahrt seine Selbstwirksamkeit im Radius der eigenmächtigen Kontrolle und damit die für ein stoisches Leben so typische Selbstgenügsamkeit. Und diese Disziplinierung fordert von uns, loslassen zu können von eigenen Strebungen nach Dingen, Menschen, Gütern oder eigenen Lebenszuständen, die in unseren Gedanken immer nur scheinbar Glück oder Leidlosigkeit versprechen, weil sie letztendlich außerhalb unserer Selbstwirksamkeit und damit von uns unabhängig bleiben. Auf ein solches Begehren verzichten zu können, schafft inneren Frieden.

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Bei Marc Aurel finden wir hierzu den Übungsbereich der „Zustimmung (synkatathesis). Jede sich bei uns einstellende Vorstellung (phantasia) muss einer Kritik unterzogen werden, damit die innere Rede, das Urteil, welches wir darüber abgeben, dem, was an der Vorstellung objektiv ist und der Wirklichkeit ,adäquatʻ, nichts Subjektives hinzufügt, und wir mithin einem wahren Urteil unsere Zustimmung geben können“ (Hadot 1996, S.  132). Zwischen dem Faktum von drei Cent auf dem Konto und dem Urteil „Ich bin pleite“ besteht nun mal ein Unterschied ums Ganze. Bernd Gruner, IT-Abteilungsleiter eines großen Versandhauses, hatte das ausprobiert und dabei anfangs befürchtet, mit seiner stoischen Disziplin eigene Wünsche doch nur zu unterdrücken und sie lediglich in den seelischen Untergrund zu verbannen, von wo aus sie als verdammte Begierden ihr Unwesen treiben würden. Doch weit gefehlt. Er war in die Beratung gekommen mit dem Ziel, seinen inneren Frieden zu finden. Was Gruner beispielsweise seinem Vorstand (und generell ihm nahestehenden Menschen, mit denen er sich verglich) neidete, waren dessen Kontakte zu Netzwerken einflussreicher „mächtiger“ Personen. Gruner wollte ebenso „dazugehören“, wollte teilhaben am „Machtpol“, um über diese begehrten Kontakte mehr Einfluss und „Macht-Glanz“ zu gewinnen. Doch begehrte er danach wirklich? Und hatte er auf die Erfüllung seines Wunsches Einfluss? Und einmal angenommen, er sei tatsächlich vernetzt mit den von ihm als „einflussreich“ etikettierten Personen – was hätte er damit eigentlich gewonnen? Und was hätte er dafür alles in die Wege leiten und an Preisen zahlen müssen? Mit der „Disziplinierung seines Begehrens“ gewann er erstmals Abstand zum Kopfkino seiner inneren Macht- und Neidfilme. Zu unterdrücken gab es da nichts, Gruner musste vielmehr sich selbst und die unbedachten Reflexe seiner eigenen Verführbarkeit kontrollieren. Seine Disziplin bestand nicht im Gegendruck zum Begehren, sondern im Abstand-Nehmen zum Automatismus seiner Kopfgedanken. Was suggerierten ihm denn seine Gedanken? „Wenn Du Person XY der Firma Z kennst, dann …“ Sein innerster Wunschantreiber solcher Szenarien hieß: Selbstachtung und innere Zufriedenheit. Und den musste er wahrlich nicht unterdrücken. Vielmehr galt es, Mittel und Wege zu finden, mit denen er seinen Wunsch selbst erfüllen konnte, unabhängig von Umweltfaktoren (z.  B.  Personen, Karriereleitern, Status, Titel, Ansehen etc.), deren „Eigendynamik“ nicht unter seiner Kontrolle steht. Wollte hinter seinem Bestreben, zum Top-Netz der Branche zu gehören, sein Wunsch nach Anerkennung befriedigt werden, der wiederum als eine Art Maskenwunsch eines tiefer liegenden Bedürfnisses nach Selbstwertigkeit

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fungierte, so bestand Gruners Disziplin erst einmal in einem kontrollierten und sich selbst beobachtenden Innehalten. Das hat uns die Stoa vor aller modernen Reflexionstheorie gelassen vorgemacht: Wer innehält und sich selbst beobachtet, handelt nicht im Reflex und ist nicht verwickelt im Automatismus seiner alltäglichen Reize und Reaktionen. Da unseren Handlungen (griechisch kathekonta) innere Mechanismen zugrunde liegen, denen wir entweder blind oder aber reflektiert folgen können, sind wir frei genug dazu, entscheiden zu können, dies oder das zu tun oder zu unterlassen. Gruner hatte es zwar geschafft, in seiner Branche persönliche Kontakte zu bedeutenden Personen wie Geschäftsführern, Vorständen, Gebietsleitern oder Außendienstchefs aufgenommen zu haben, doch erlebte er auch jedes Mal, wie unkontrollierbar und damit ungewiss der Nutzen dieser Beziehungspflege für ihn war. Bis in schlaflose Nächte hinein bekam Gruner diese Ungewissheit besonders zu spüren, als sich der Vertriebschef eines Landmaschinenherstellers, zu dem Gruner für seine Netzwerkpflege mühsam Kontakt aufgenommen hatte, mit Gruners Vorgesetzten zerstritt. Damit drohte automatisch auch der Abstand zu Gruner. In seiner Vorstellung rissen vielversprechend verzweigte Bekanntschaften jäh ab. Dieser Deutschlandchef erwartete von Gruner, der ihm gegenüber recht offen seine Kontaktwünsche eingestanden hatte, Freude am Golfsport zu entwickeln (Gruner mochte den Sport nicht). Die meisten Treffen mit den Tops wurden im Sommer spätnachmittags auf dem Golfplatz arrangiert. „Na toll“, dachte Gruner, „wo es mir ohnehin nur selten möglich ist, bei meiner Familie sein zu können.“ Gruners Urteil („phantasia“), Top-Kontakte seien wichtig für sein Ansehen, sein Impuls, danach zu streben, sowie seine Handlungen, das auch umzusetzen, zerrten ihn plötzlich in eine fremdgesteuerte Erwartungsumwelt („… wenn Sie das und jenes erreichen wollen, dann erfüllen Sie bitte zuerst dies und das …!“) aus unkontrollierbaren Anforderungen, dass er innerlich auf den Prüfstand seiner selbst gestellt wurde. Hierzu erinnerte sich Gruner an die Bildhauer-Metapher zur antiken Suche der Selbstverwirklichung: Seine eigene Statue meißeln. Das erforderte, etwas wegzunehmen (statt malerisch hinzuzufügen), das zum Wesen seiner selbst nicht passte. Nach diesem Bild liegt die Statue – das Wesen – im Stein begründet und ruft uns Menschen (Bildhauer) auf, Überflüssiges wegzumeißeln. Wir bleiben unglücklich, solange wir diesen inneren Ruf überhören und sklavisch Leidenschaften für Dinge verfolgen, die uns wesensfremd und damit überflüssig sind. Gruner wählte das Glück der Freiheit und kehrte mit der Disziplin zur Unabhängigkeit bald zum Wesentlichen seiner selbst zurück.

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„Für meinen freien Willen ist der meines Mitmenschen ebenso gleichgültig wie sein Atem und sein Fleisch. Denn, wenn wir auch noch so sehr um einander willen da sind, so ist doch die herrschende Vernunft eines jeden von uns ihr eigener Herr“, schreibt uns Marc Aurel (1973, S. 119) ins Logbuch unserer Seelenreise und fügt hinzu: „Heute bin ich von jedem Hindernis frei geworden oder vielmehr, ich habe jedes Hindernis hinausgeworfen. Denn es lag ja nicht außerhalb meiner Person, sondern in mir selbst, meinen Einbildungen“ (Aurel, ebd., S. 126).

4.16 Die Philosophie des Willens „Als mir plötzlich klar wurde, was ich eigentlich wollte, da habe ich mein Leben, meine Ehe, meinen Beruf mit ganz neuen Augen gesehen. Vor allem in den kleinen Dingen des Alltags habe ich begonnen, festen Boden unter die Füße zu kriegen. Ich trat anders auf. Egal, was ich auch tat, ob es der Kinobesuch mit meiner Frau war oder die Projektplanung mit einem Teamleiter, ich legte bei alledem Wert auf mein inneres Gefühl von so was wie: ,das muss stimmen für mich!ʻ.“ Bernd Gruner hat daraus, angestoßen durch den Stoizismus, eine Lebenshaltung entwickelt, die in ihrer weiteren Entwicklung an das Willensprinzip von Friedrich Nietzsche erinnert. Der Wille in uns ist einer unserer stärksten Antriebe zur inneren Autonomie, was uns allerdings nicht bedingungslos ins Lebensgepäck rutscht. Wir müssen uns täglich, stündlich, immer und immer wieder frei zu etwas entscheiden und damit immer auch gegen anderes wenden, das wir abwählen, dem wir uns entgegenstellen, trotzen oder das wir überwinden wollen. Wie ich eingangs erklärte, steigt unsere Gelassenheit in schwierigen Lebensmomenten zuverlässig an, sobald wir wissen, was wir wollen, weil es uns wert und wichtig ist. Mit unserer inneren Kraft, dem eigenen Entschluss auch zu folgen, können wir so manches aus den Angeln heben, was zuvor unüberwindlich erschien. Friedrich Nietzsche hat aus dieser Urkraft des Menschen eine Lebensphilosophie des Willens entwickelt. Wer wirklich etwas will und in sich eine Energie mobilisiert, mit der Widrigkeiten wie Blätter im Wind weggefegt werden, meistert Überwindungen, die in der Willenskraft und deren Entwicklungsprinzip selbst stecken. Um das zu verdeutlichen, versinnbildlicht Nietzsches weiser Prophet Zarathustra das Aufkeimen unseres Willens anhand einer Geschichte „von den drei Verwandlungen“ (Nietzsche 1968, S. 25). „Zarathustra“ erzählt diesen Prozess menschlichen Wollens in plastischen Bildern als eine Entwicklungsgeschichte von zwei Tieren und einem Kind.

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Der Mensch rutscht im Laufe seines Lebens in die Fallen der „Bürde zur Würde“, der Lasten aus lauter „Du-sollst“ zum Zwecke der Anerkennung und Lebenslegitimation. Vernarrt in den Zuspruch von außen, in die Verführungen zustimmenden Nickens und Lächelns anderer (zumeist vorgesetzter) Personen, verwandelt sich der Mensch, sozialisiert, zum „Kamel“, dessen einzige Lust eine verpuppte List der Last ist. Hier muss der Mensch sich irgendwann fragen: Will ich dieses Leben so weiterleben? „Nein!“, ruft der Lebenswille dem Menschen als sein innerstes Gewissen zu, und mit Nietzsches Zarathustra fordert uns der Wille befreienden Lebens damit zur zweiten Verwandlung heraus. Der Mensch wird zum „Löwen“, der sich befreit und gegen fremde Bestimmungen wehrt. Der Mensch kämpft gegen die Welt der „Du-sollst“, weil er sein „Ich will“ entdeckt hat. In diesen Kämpfen gegen Fremdes bleibt der Mensch allerdings oppositionell und damit negativ eingestellt zur Umwelt. Er weiß, was er nicht will. Sein „Frei-von-etwas“ beantwortet ihm noch nicht sein „Frei-wozu“. Hier verkündet Zarathustra die für unsere selbstbestimmende Freiheit notwendige dritte Verwandlung, die dem Menschen sein „Wozu“ ermöglicht, sein Ziel allen Strebens, den Sinn seines Tuns. Genau das „vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte“, schreibt uns Nietzsche als Metapher „Spiele des Schaffens“ ins Selbstbestimmungsbuch. „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“ In diesem unverfälschten Schaffensdrang des Kindes liegt das gelassene Glück der Selbstschöpfung; genau diesen „seinen Willen will nun der Geist“ (Nietzsche, ebd., S. 27). Dieser Entfaltungs- und Gestaltungsprozess aus ureigenem Wollen heraus schöpft aus der unverlierbaren Quelle menschlicher Existenz als eines Seins-zu-etwas-hin. Viele Klienten schrecken vor dieser Frage: „Was willst Du wirklich?“ erst einmal zurück. Sie schrammen hier am Fundament ihrer eigenen Freiheit samt Selbstverantwortung und Konsequenz vorbei und werden herausgefortert, auf solcher Basis zu sich selbst zu stehen: „Herr sein in seiner eigenen Wüste (und) Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen“ (Nietzsche, ebd., S. 26). Es ist Nietzsches Verdienst, für unsere Kulturgeschichte diesen „Willen zu …“ als einen Brennpunkt unserer Selbstreflexion konkretisiert zu haben. Und so manche Nervosität verschwindet auch sogleich mit der Antwort auf die Frage: „Was will ich eigentlich wirklich?“ Trägt uns der Boden unter unseren Füßen mit der Erde unseres Weges, schreiten wir gelassen voran. Der Kerngedanke Nietzsches ist hierbei die Selbstüberwindung im Sinne eines elementaren „Willens zur Macht“. Fürwahr, hier kommt sogleich ein

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Beigeschmack an herrschaftsmächtige Tendenzen auf, doch ist diese düstere Geschichte niemals im nietzscheanischen Sinne verlaufen. Nietzsches Wille zur Macht begreift unser Leben vielmehr als eine elementare Energie, die zur Entfaltung und Steigung der im Menschen angelegten Möglichkeiten strebt. Es ist das Geburtsrecht des Menschen wider oktroyierten Konventionen, ein „Recht sich nehmen zu neuen Werthen“ (Nietzsche, ebd., S. 26). Und dieses Streben, unsere Potenziale zu verwirklichen, fordert uns Menschen in bestimmten Phasen und Formen unseres Daseins unweigerlich das Prinzip der Selbstüberwindung ab. Dabei handelt es sich mitnichten um die Überwindung des Selbst, sondern der einmal angenommenen und (meist aus Bequemlichkeit heraus) angewöhnten Arten und Weisen, wie wir tagtäglich mit uns selbst und anderen umgehen. Hierzu hilft uns der Wille, unsere Komfortzonen, Gewohnheiten („…kenn’ ich nicht, …hab’ ich noch nie gemacht …“) und Sicherheitstrakte unserer Vermeidungen („…bloß kein Streit …“) zu überwinden, uns aus der Geborgenheit fremder Befehle („…ich kann nichts dafür, mein Chef hat gesagt …“) zu verjagen und damit die eigene Blindheit der Selbstverleugnungen („…hat doch gar nichts mit mir zu tun …“) kritisch auszuleuchten. Bernd Gruner hatte genau das beherzigt und zog sich nach Jahren einer freudlosen inneren Unruhe aus seinem eigenen Schlamm selbst heraus. Dieser Münchhausen-Griff, Sinnbild jeglicher konstruktiver Selbstüberwindung, ist uns Menschen jederzeit möglich, und Gruner wandte ihn mit der Hebelwirkung seiner persönlichen Werte und Ziele an – mit dem „Löwen“ und dem „Kind“ in ihm. Was ihn bisher seine bequeme Ja-Sager-Haltung im Zustand des „Kamels“ hat einnehmen lassen, lässt sich mit der Seligkeitsformel „Mein-Glück-ist-­ Dein-Wille“ umschreiben. Diesen von Nietzsche sogenannten „Kniff unserer inneren Sklaven“ hatte Gruner früh herausbekommen, nämlich als Kind, das gelernt hat, den „weichen Weg der fremden Weisung“ (Gruner) zu gehen, um die Liebe seiner dominanten Eltern zu erhalten. Sein Eigenwille machte damals schon zu oft kehrt vor der inneren Zentrifuge, die ihn an- und hinaustreiben wollte, und ließ in Gruners Seele den „Sklaven“ draußen ans Ruder, jedoch nun nach den Taktschlägen anderer. Wer danach lebt, knüpft das Lot seiner Seele an den fesselnden Griff fremder Hände fest, und die innere Ruhe bleibt abhängig von den Haltepunkten draußen. Über 60 Prozent aller „Lohntütenempfänger“, so bestätigen alljährliche Motivationsforschungen in deutschen Unternehmen, sind eigenverschuldet zugleich „Frusttütenschlucker“. (Wie Bernd Gruner diesen Zustand bewältigte, lesen wir später.)

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4.17 ‚Wer sein Warum und Wozu kennt, erträgt fast jedes Wie.‘ Diesen Sinnspruch hat uns Nietzsche spruchreif ins Lebensbuch notiert, und so wirksam dieser Gedanke unser alltägliches Handeln auf das Fundament unserer Werte justiert und mit der Zugkraft unserer entsprechenden Ziele bereichert, so macht er doch auch Angst zugleich, weil wir damit, wollten wir nach diesem Diktum entschlossen handeln, Entscheidungen treffen müssten. Nietzsche nennt denn auch die „Furcht“ eine „Lehrmeisterin des Verstehens“, womit unsere Ratio, unser Hang, Dinge erklären und ihnen Bedeutungen und Zwecke und Funktionen andichten zu müssen, schlichtweg angstgetrieben ist (Nietzsche 1980, Bd.  3, S.  134). Damit seien „alle Arten des Verstehens und Sich-Verstellens unter den ängstlichen Völkern zu Hause“ (Nietzsche, ebd., S. 135). Hier entlarvt Nietzsche die Maskerade eines unserer Hauptmotive, im alltäglichen Miteinander Spielchen zu spielen, um Angst zu vermeiden. Wir spüren innerlich, was wir eigentlich wollen, treten damit auf den anderen zu, wollen entsprechend handeln und  – tun es dann doch nicht. Wir weichen aus. Wir weichen aber nicht vor dem Draußen aus, sondern vor unserem Gefühl der Angst, das wir in uns selbst erzeugen durch das, was wir aufgrund des Draußen befürchten. Wer diese Mental-Mechanik einmal durchschaut hat, mit der wir uns dazu verführen, das, was uns wert und wichtig ist, anderen gegenüber und insbesondere vor uns selbst zu verleugnen, weil wir vor einem Gefühl wegrennen, das wir mittels gedanklicher Strickmuster selbst erwirken, der mag innehalten und reflektieren und gelassener auf die Befürchtungen seiner Strickmuster antworten. Wer hierbei herausfinden will, was ihm wirklich am Herzen liegt, um es mit Leben zu erfüllen, dem stellt Matthias Wengenroth eine wunderbar einfache wie tief greifende „Testfrage“: „Was wäre, wenn niemand davon erführe? – Würde ich es dennoch tun?“ (Wengenroth 2010, S. 216) Und in dem Augenblick, wenn wir „Ja“ sagen zu dem, was wir tun, ertragen wir das Wie unseres Weges mit der inneren Ruhe unserer Würde. Die Losung dieser inneren Ruhe als Loslösung von äußerem Halt erfordert eine innere Ja-Haltung zu uns selbst sowie den Mut, entsprechend zu handeln. Das nietzscheanische Frei-wozu? löst mehr Angst aus als das Frei-wovon?, weil wir uns selbst – allein – entwerfen müssen auf das hin, was für uns – selbstverantwortlich – allein Sinn macht. Dieses Verantwortungsgefühl, das mit der Konsequenz paktiert (was keine Konsequenz hat, ist nicht wichtig), löst Angst auch vor dem Schuldigwerden aus. Ich werde mess- und angreifbar

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mit dem, was ich selbstverantwortlich tue. Der „Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt“ (Nietzsche 1980, Bd. 5, S. 210). Ohne Disziplin und Konsequenz, die uns „Nein“ sagen lässt zu dem, was uns abzuhalten droht von unserem selbst gewählten Weg, bleibt alles Denken und Reden vom Wollen hinfällig und müßig. „Was wäre, wenn niemand davon erführe?“ Wer hier weitergeht, gelangt dorthin, wo wir uns selbst begegnen. Gruners resoluter Bereichsleiter baute auf Gruners Loyalität, strickte damit aber auch einen psychologischen Vertrag zwischen ihm und seinem Abteilungsleiter zurecht, den er im Ärmel versteckt hielt. Und im Zuge der immensen Veränderungsprozesse zur Umstellung auf E-Commerce im Versand stand der IT-Bereich unter Hochdruck vonseiten des Marktes und unter Beobachtung seitens des Vorstandes. Da war einer wie Gruner genau der richtige Mann. Die Umstellung von klassischen Katalogangeboten auf die Dynamik der kundenorientierten Produktwelten des Internets forderte den IT-Teams hohe Arbeitsbelastungen und vor allem Strukturveränderungen ab. Und Gruner genoss natürlich die Anerkennung „von oben“, noch bis nachts die „Wacht am Netz“ elektronisch zu sichern. Beziehungsweise: Ein psychischer Anteil funktionierte nach dem Mechanismus „Mein-Glück-ist-Dein-Wille“ und verführte Gruner dazu, sich selbst maßgeblich durch die Anerkennung anderer zu akzeptieren. Selbst im Privaten ließ Bernd Gruner sich von diesem innerlichen Fremderwartungsgehilfen ein Handeln nach eigenem Willen vermasseln. Schlug Gruner ein Restaurant vor und machte seine Frau einen Gegenvorschlag, gab er nach. Befürwortete er für seine Tochter den gymnasialen Französischunterricht, seine Frau jedoch das Fach Latein, büffelte der Teenie Monate später Vokabeln zum Cäsar-Text. Was Gruners Selbstwert auf Dauer mürbe machte, waren diese tagtäglichen Niederlagen in den Nischen und Gassen, nicht die großen Schlachten auf den Feldern und Lichtungen. Es sind die kleinen Schritte in Richtung Freiheit, mit denen wir über unseren Weg entscheiden und die mit am schwersten sind. „Die heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich selbst befragen. Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-­ Schreiten, nein! Vor allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt.“ Nietzsche erblickt im Psychogramm des Menschen zugleich das Heldentum der Weltgeschichte. Was unsere Menschheit über Jahrtausende hat werden lassen, steckt komprimiert in

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jedem Einzelnen von uns als Potenz zur eigenen Entwicklung – „die uralte Tragödie von den Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 31). Gruners Sumpf lag in seiner Geschichtslandschaft mit dem Vater. Dort verharrte er nach rettenden Befehlen von außen und ließ in diesem Sumpf seinen inneren Helden schlafen. Kein ureigenes Wozu trieb seinen Willen an. Wir seien „die Narren kindlich angewöhnter Urtheile“, schreibt Nietzsche (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 92) knapp 100 Jahre vor der Entdeckung Sigmund Freuds, dass der Mensch sein Tun und Trachten nach zumeist unbewussten Prinzipien der frühkindlichen Bezugspersonen ausrichtet. Diese unbewussten Fremdsteuerungen und deren hintergründige Taktschläge wirken, gerade wenn der Alltag uns herausfordert, wie Synkopen und Disharmonien, die uns emotional aus dem Rhythmus bringen. Nietzsche schrieb denen, die Bernd Gruners Wandlung zur inneren Autonomie und ihre Loslösung von fremden Erwartungen noch vor sich haben, in Erinnerung an die Stoa Folgendes ins Lebensbuch: „Diese größten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wussten nichts von der jetzt herrschenden Verherrlichung des Denkens an Andere; man würde sie (d. Stoiker, K. H.) nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch n ­ ennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften für ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den Anderen gewehrt. Vielleicht dass sie uns antworten würden: ,habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder hässlichen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere mehr, als an euch! Ihr thut gut daran!ʻ“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 123). Der Mut zum sozial verträglichen „Egoismus“ schafft den nötigen Freiraum zur Gelassenheit. Denn wir verlieren täglich unser inneres Lot eigener Willensziele, weil wir „Alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Werthschätzungen“ von uns leben, „Einer immer im Kopfe des Anderen, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen: eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so natürlichen Anschein zu geben weiß! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt fast unabhängig von uns Menschen, die er einhüllt; in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urtheile über ,Menschenʻ  – alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstractum ,Menschʻ, das heißt, an eine Fiction“ (Nietzsche, ebd., S. 93). Dieses für mich so erhellend klare Bild vom „Kopf-in-anderen-Köpfen“ im „Nebel von Meinungen und Gewöhnungen“ macht es zugleich einfach, diesem menschlichen Spuk ein Ende zu bereiten. Nietzsches Lösung für den

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Menschen lautet, sein „wirkliches, ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiction entgegenzustellen und sie damit zu vernichten“ (Nietzsche, ebd.). Diese „Nebel“-Metapher aus Nietzsches „Morgenröte“ las ich Bernd Gruner vor, und als könnte er knapp überm Vatersumpf die Nebelschwaden hängen sehen, rief er: „Jetzt fühl ich’s auch!“ Er atmete tief aus und blies etwas fort und kam an etwas heran, worauf er sich verlassen konnte. „Ich kann’s nicht erklären, muss ich vielleicht auch gar nicht, − aber es wirkt.“ Ich spürte, Bernd Gruner hat etwas tief in sich klären können, das echter wirkte als all seine Gedanken an das, was andere möglicherweise von ihm erwarteten. „Tut das gut, zu spüren, was ich eigentlich will. Das lässt mich gelassen werden.“ Ihm war bewusst geworden, dass seine Beziehungen zu Menschen, den „mein Herz zuhören will“, sowie seine Arbeit, „womit ich Menschen etwas erleichtere“, seine eigentlichen Triebfedern des Glücks bildeten (in Nietzsches Drei Verwandlungen symbolisiert durch das Kind als ein aus sich heraus rollendes Rad). All der Nebel aus „im-Club-der-Großen-sein“ und „Euer-Wille-sei-­ mein-Wunsch“ löste sich im Licht seines Willens auf. Auch auf den Coach wirken solche Augenblicke des Klienten erhebend. Gruner war es jetzt auch egal, ob es Streit gab, wenn er das Spiel nicht mehr mitspielte. Er machte sich sogar einen Plan. Damit fokussierte Gruner seinen Willen konzentriert und aufmerksam auf Bilder von Handlungsabläufen („zuerst den Chef …, dann rufe ich den Golfklub an, danach rechne ich mit Streit vonseiten …, dann …“), die ihn (dem Bild des Löwen entsprechend) frei machen würden von seinem „Kopf-in-anderen-Köpfen“ (Nietzsche). Er hatte das in sich entdeckt, worauf er sich verlassen konnte. Gruners Gelassenheit, zu handeln, war gepaart mit einer entschlossenen Unerschütterlichkeit, die jeden Menschen beseelt, der weiß, was er will. „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich mit fast jedem wie?“, schreibt Friedrich Nietzsche in der „Götzen-Dämmerung“ (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 60) und bringt es auf den Punkt: die „Formel meines Glücks: Ein Ja, ein Nein, eine Linie, ein Ziel“ (Nietzsche, ebd., S. 66).

4.18 Die Selbstwertsteuerung: Wer will, wirkt! Der Wille ist die Fähigkeit des Menschen, einen Anfang zu setzen, weil er selbst ein Anfang ist. Unsere Ungewissheit hebt sich auf mit der Fähigkeit zu wollen. Wer will, hat sich entschieden, verantwortlich zu sein für sein Handeln, und durchmisst das Ungewisse in sich selbst wie mit einem

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Sprung ins kalte Wasser. Das befreit uns vom Spekulativen unserer Zweifel. „Wo aber ist euer innerer Werth, wenn ihr nicht mehr wisst, was frei athmen heißt?“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 184). Es ist unser Geburtsrecht, die Freiheit zu wollen. Und wie häufig müssen wir erst mit dem Rücken an die Wand prallen, um zu verstehen, worauf wir eigentlich Wert legen und hinaus wollen. Grenzsituationen, in denen wir befürchten, zugrunde zu gehen, klären oftmals erst unsere Gründe – zu unseren freien ureigenen Atemzügen. Speziell der Deutschen Zauder- und Zweifelkultur ins Stammbuch der „Trägheit“ schreibend, diagnostiziert Nietzsche treffend: „Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie thut: denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geist wohlthut. Wird er in Noth gebracht, allein zu stehen und seine Trägheit abzuwerfen, ist es ihm nicht mehr möglich, als Ziffer in einer Summe unterzuducken (…) – so entdeckt er seine Kräfte: dann wird er gefährlich, böse, tief, verwegen, und bringt den Schatz von schlafender Energie an’s Licht, den er in sich trägt und an den sonst Niemand (und er selber nicht) glaubte. Wenn ein Deutscher sich in solchem Falle selbst gehorcht – und es ist die große Ausnahme –, so geschieht es mit der gleichen Schwerfälligkeit, Unerbittlichkeit und Dauer, mit der er sonst seinem Fürsten, seinen amtlichen Obliegenheiten gehorcht: sodass er, wie gesagt, dann großen Dingen gewachsen ist, die zu dem ,schwachen Charakterʻ, der er bei sich voraussetzt, in gar keinem Verhältnis stehen. Für gewöhnlich aber fürchtet er sich, von sich allein abzuhängen, zu improvisieren: deshalb verbraucht Deutschland so viel Beamte, so viel Tinte. – Der Leichtsinn ist ihm fremd, für ihn ist er zu ängstlich“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 186). Nietzsche richtet unseren Blick somit von außen nach innen: „Wir lieben das Leben, nicht, weil wir an’s Leben, sondern weil wir ans Lieben gewöhnt sind“ (Nietzsche 1968, S. 45). Mit dieser wunderbar einfach überzeugenden Erkenntnis lässt uns Nietzsches Zarathustra die Zauberkraft unserer Selbstwirksamkeit spüren. Unsere Selbstschöpfungen und ein damit notwendiger Gestaltungswille rechtfertigen unser Leben, das wir führen wollen. Bernd Gruner erlebte seinen Blick sowohl auf den Berufsalltag wie auch auf sein Privatleben nunmehr als erkennendes Sehen, er begriff sein Handeln als lernendes Handeln und empfand damit das „Glück des Erkennenden“, das ihm den Reichtum seines Lebens schenkte und die Schönheit der Welt mehrte. Das mag pathetisch klingen, und Gruner wollte genau das: leidenschaftlich (griechisch: pathos) und mit Klarheit die Augenblicke des Alltags als Übungsorte seines freien Willens erleben.

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Auseinandersetzungen mit dem Bereichsleiter über das Budget, der Unmut seiner Teamleiter wegen fehlerhafter Prozessketten oder auch die Zuversicht seiner Frau, nach den Jahren als Hausfrau und Mutter wieder in die Selbstständigkeit als Werbetexterin zurückzukehren, erkannte Gruner immer mehr als Lebensphänomene, aus denen er lernend Erkenntnisse schöpfen wollte. Was beispielsweise hatte genau zu der Demotivation seiner Teamleiter geführt? Etwa die Fehler in der Prozessplanung? War es nicht vielmehr die Art und Weise, wie seine Mitarbeiter das wahrnahmen, was nicht sogleich zum geplanten Kundenverhalten gepasst und damit zur Verzögerung geführt hatte, und es sogleich als „Fehler und Misserfolg“ deuteten? Ließen seine Mitarbeiter aus ihrer Interpretation nicht erst ihren emotionalen Unmut folgen? Und konnte Gruner aus diesem Missmut seiner Mitarbeiter nicht etwas ganz anderes interpretieren, das möglicherweise mehr Sinn machte und zum gemeinsamen Ziel, „Kunden als Unternehmensberater“ zu gewinnen, viel besser beitrug? Gruners Impuls, seine Arbeit sinnvoll und seinen Zielen entsprechend passend zu gestalten, belebte ihn zugleich mit einer ganz neuen Lust an der Konfrontation. Sein „Glück des Erkennenden“ folgte dabei seinem Willen, den Geschehnissen um ihn herum einen passenden Sinn zu geben. Kamen seine Mitarbeiter mit ihrer Fehler- und Problemhypnose ihrem Ziel nicht näher, konfrontierte er sie mit einer anderen Sicht der Dinge. Seiner Abteilung fehlte die Selbstwertschätzung von Könnern. Klappte mal etwas nicht, brach der Selbstglaube des Teams als Kartenhaus zusammen, und jeder weitere Windstoß wirbelte die Joker der Zuversicht gleich fort. Gruner, dessen selbstkritischer Perspektivenwechsel ihm neue Hand­ lungsmöglichkeiten schuf, stellte seine eigene Führung den Mitarbeitern gegenüber zur Disposition. „Was kann ich ändern im Umgang mit euch? Was erwartet ihr von mir? Was ich von euch?“ Das Blatt wendete sich. Die Karten wurden neu gemischt. Und Gruner verspürte seine „Lust des Erkennenden“ zugleich mit einer Neugier des Lernenden. Der Wille schöpft seine Nahrung aus sich selbst, wirkt aus sich selbst he­ raus und beschenkt uns Menschen mit dem Zauber der Selbstschöpfung. „Lieber ein Narr sein auf eigene Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutdünken“ (Nietzsche 1968, S.  307). Dieses Maß der Lebensprägung bewusst in sich selber entdeckt zu haben, empfand Gruner als ein ruhendes Lot seines Lebens. Und er machte dabei vor allem vor sich selbst nicht halt. Sein Wille, sich selbst wertschätzen zu können, half ihm dabei, sich selbst dort zu überwinden, wo er seiner Selbstachtung im Wege stand. Solche Selbst­ überwindungen forderten natürlich auch die Preise oft heftiger Gefühle und von Unruhe, die reinigenden Stürme vor der dann folgenden Ruhe der Selbstakzeptanz. Die Selbstklärung des Menschen vollbringt in wundersamer

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Weise den Münchhausen-Effekt eines sich selbst wollenden Lebens, das sich aus dem eigenen Schlamm zieht. Was Gruner so enthusiastisch gepackt hat an Nietzsches Lebensphilosophie der Selbstwirksamkeit, war der Pragmatismus der Leiberfahrung. Will ich mich besser fühlen und wirksam wertschätzen können, muss ich handeln. Da lag für Gruner der Stachel zur Tat. Wer will, wirkt. Solche Selbstwirksamkeit, die entscheidende Impulsquelle gelassenen Handelns, ist das auf Erfahrung beruhende Selbstvertrauen, Ziele aus eigener Kraft zu erreichen. „Die tätigen, erfolgreichen Naturen handeln nicht nach dem Spruch, Kenne Dich selbstʻ, sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte: Wolle ein Selbst“ (Prosslinger, „Nietzsche-Lexikon“ 2001, S. 217). Über das bloße Nachdenken und Reflektieren allein erleben wir zur Selbstakzeptanz nicht viel Neues, dafür sind wir Menschen zu sehr Körper, Biologie und Gefühl. „Unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja, es merkt sie nicht. Wäre unser Intellekt streng nach dem Maße unserer Kraft und unserer Übung der Kraft entwickelt, so würden wir den Grundsatz zu oberst in unserem Denken haben, dass wir nur begreifen können, was wir thun können – wenn es überhaupt ein Begreifen giebt. Der Durstige entbehrt des Wassers, aber seine Gedankenbilder führen ihm unaufhörlich das Wasser vor die Augen, wie als ob nichts leichter zu beschaffen wäre, − die oberflächliche und leicht zufriedengestellte Art des Intellektes kann das eigentliche nothleidende Bedürfniss nicht fassen und fühlt sich dabei überlegen: er ist stolz darauf, mehr zu können, schneller zu laufen, im Augenblick fast am Ziel zu sein, − und so erscheint das Reich der Gedanken im Vergleich mit dem Reiche des Thuns, Wollens und Erlebens als ein Reich der Freiheit: während es, wie gesagt, nur ein Reich der Oberfläche und der Genügsamkeit ist“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, 116).

4.19 Der Wille zu Chaos und Komplexität Was macht uns meist solche Sorgen, wenn wir an die Zukunft denken? Wie reagieren wir, wenn Dinge plötzlich schieflaufen? Es ist unsere Erwartung, alles unter Kontrolle zu halten und dabei nicht sonderlich überrascht zu werden, die uns am meisten zu schaffen macht. Was passiert, passiert. Und wie wir das eintüten, hängt von unserem Vorrat und Variantenreichtum an Tüten ab. Von unserem Vorrat hängt ab, in welcher Verfassung wir bleiben, während wir die Dinge gerade einordnen. Es ist (und bleibt) unser eingefleischtes rationales Muster – die Dinge, die uns zustoßen, gedanklich beherrschen zu können und dabei ohne Angst zu sein –, das uns kirre macht, weil es Kontrolle

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nur suggeriert und zugleich submental ahnen lässt, zukünftig möglicherweise doch eine Schlappe erleiden zu können. Dabei reagieren wir emotional mit Angst, Sorge, Unruhe, Ärger und dergleichen auf unseren kontrollierenden Interpretationen, die ja immer vergangene Gewohnheiten betreffen können und trotzdem auf die Zukunft übertragen werden sollen. Hier umzudenken und die unbeherrschbaren Zufälle als herausfordernde Glücksmomente zu deuten, kann einen Paradigmenwechsel für unsere gelassene Haltung in der Gegenwart bedeuten, aus der heraus wir allein in die Zukunft schauen können (die immer nur gedanklich vorgestellt werden kann). Zu glauben, irgendwann würden wir schon alles bewältigen können, ist unrealistisch und auf Dauer nervenaufreibender, als die Unsicherheit als Sicherstes zu akzeptieren. Wer zu den grundlegenden Bedürfnissen und den daraus resultierenden Werten der Kontrolle und Sicherheit keinen Abstand gewinnt, gibt dem Unkontrollierbaren seines Lebens alle Macht und schürt in sich selbst damit die Unsicherheit als latente Dauerstimmung. Weil Nietzsches poetische Sprache eine Bildlichkeit erzeugt, die unserem Zwang, alles scheinbar „objektiv“ durchdenken zu müssen, eine heitere Note verleiht, möchte ich den Chaos-Gedanken zur Komplexität unseres Lebens anhand eines längeren Zitats erläutern. Im Aphorismus „Zwecke? Willen?“ seiner „Morgenröthe“ schreibt Nietzsche:„Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufälle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne dass Jemand sagen könnte weshalb? wozu?  – Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der großen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meist so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel: wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft todt getreten, − aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spinnennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz zerriss, − nicht dass sie es gewollt hätten, diese Unvernünftigen! Nicht dass sie es merkten! Aber ihre groben Knochenhände greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wäre“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 120). Nietzsche ruft uns auf, unsere Vernunft selbst zum einen als Spinne zu entlarven, die unsere Netze spinnt, als auch zum anderen als den Riesen, der mit

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Ziegelsteinen in unsere eigenen Netze wirft. Wer sich plötzlich aufregt und zu toben beginnt, weil seine Planung (eines Wochenendausflugs, Projektablaufs, Aktienkaufs, Kinobesuchs etc.) durch den verdammten „Ziegelstein Zufall“ zerstört wurde, sollte durchzuatmen lernen. Sein Glaube an die „alte Romantik“ von Zweck und Zufall suggeriert ihm, alles im Griff und damit ein Recht auf Ärger über Ziegelsteine zu haben. Wer trotzdem weiter tobt, spinnt die „schauerliche Poesie“ von Zweck und Zufall wider die Langeweile des Lebens fort. Wer jedoch sein eigenes Mitwirken am „Spinnennetz“ erkennt, gewinnt eine neue Sicht auf seinen Ärger als bloße Wirkung starrer Erwartungen. Und damit gelänge es uns, das Netz- und Wurf-Szenario von außen zu betrachten und den nötigen Abstand zu gewinnen. Es ist auch hier wieder unsere Perspektive („Welche Tüte wähle ich für das, was gerade nicht funktioniert?“), die entscheidet, ob wir auf das, was uns zustößt, gelassen reagieren können. Da fällt mir Alfred Sahlmann ein (Zufall?), Teamleiter der Personalverwaltung einer schwedischen Bank. Fast jeden Abend verließ er ausgelaugt sein Büro. Er war noch keine Vierzig und wirkte schon wie frühberentet. So kam er eines Tages nach der Arbeit zu mir in die Praxis. Wann mochte dieser Mann wohl das letzte Mal gelächelt haben? Meine Frage überraschte mich im Stillen dann auch nicht weiter. Sahlmann versuchte täglich, den Wind in Tüten zu packen. Seine Energie verbrauchte er immer mehr mit der „Kontrolle und Nachbesserung meiner Teammitglieder“. Allein diese Formulierung enthielt das innere Scheitern. Was glaubte er, kontrollieren zu können oder zu müssen? Menschen? Oder seine Ansicht von Menschen? Oder seine durch Ansichten ausgelösten Gefühle diesen Menschen gegenüber? Oder seine durch Kontrollabsichten ausgelösten Ängste? Sahlmann listete auf: Abrechnungssysteme und Personallisten änderten sich innerhalb eines Jahres dreimal, Neueinstellungen wurden teilweise doppelt gelistet und auf die Payroll gesetzt, Bewerbungsgespräche wurden nicht dokumentiert und nachgefasst, und im Hause kursierte bald das Etikett „chaotisches Team“. Dabei setze er doch alles daran, die Sache unter Kontrolle zu bringen. Er war davon überzeugt, durch möglichst konkrete Vorgaben und regelmäßige Absprachen mit seinen Teammitgliedern, zwei Frauen und drei Männern, einen perfekten Output zu leisten. Seinem fachlichen Ansehen in der Bank glaubte er durch entsprechende Qualitätsmaßstäbe für die Teamarbeiten gerecht werden zu können. Weit gefehlt. Seine Planungen wurden durch seine eigenen Kriterien von „richtig“ und „falsch“ tagtäglich durchkreuzt. Die Stimmung im Team sank auf das Niveau von Tiefkühlkost menschlicher Nährwerte.

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Was Sahlmann erst später klar werden sollte, war seine (bislang verdrängte) Selbstverantwortung in der Annahme, die Fehler und Probleme der Teamarbeit seien durch ihn kalkulierbar. Sein Rückblick in seine eigene Kindheit entschlüsselte den Fehlschluss. Selbst wenn seine ältere Schwester oder der jüngere Bruder im gemeinsamen Kinderzimmer Chaos hinterließen, seine Eltern, so bildete sich der mittlere Alfred ein, hingen das immerzu ihm an. Also mühte er sich ab, das Zimmer in Ordnung zu halten, was seine Geschwister schnell verstanden und ihn zum „Hausmeister“ abkommandierten. Auf den Titel war Alfred auch noch stolz und zog, ging es vor dem Abendbrot ans Aufräumen, Opas zerschlissenen Blaumann an, über den seine Beine immer wieder stolperten. Das „Hausmeistersymptom“ sperrte im Seelenhaushalt Sahlmams heute jegliche Flexibilität und alle Frische aus, weil alles, was draußen nicht kalkulierbar erschien, in ihm unbewusst Angst vor Schelte erzeugte. All diese „blöden Zwischenfälle“ im Team, die täglich unkalkulierbar verursacht wurden durch die Veränderungsprozesse im Bankgewerbe, erhielten zusätzlich das Etikett „Chaos“ durch Sahlmanns eigene „Fehlplanungen“ und „schlechten“ Organisationen der Teamarbeit. Seine eigenen „Filter“, wie er die Dinge sah und zu regeln versuchte, machten ihm Freude, Entspannung oder Zuversicht komplett madig. All die Ablaufpläne, Protokolle und Listen, mit denen er Zuständigkeiten, Rollenprofile oder Abgabetermine exakt vorgeben oder steuern wollte, bewirkten Unmut und Spannungen im Team. Dabei widerfuhr Sahlmann in der Reflexion seiner eigenen Teamleitung unbewusst eine Projektion: Wer nicht tanzen kann, beschuldigt den DJ. Er bezichtigte sein Team, ineffizient zu arbeiten. Das wiederum quittierte ihm sein Team mit der Schelte schlechter Führung. Welche Einsicht hatte Sahlmann ermöglicht, klarer zu sehen und einen regelrechten Quantensprung in seiner Teamführung zu leisten? Lesen wir hierzu vorweg noch einmal Nietzsches Gedanken zu dem, was unser gewohntes Denken glaubt, regeln zu können. „Lernen wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsere Zwecke und unsere Vernunft sind keine Zwerge, sondern Riesen! Und unsere eigenen Netze werden durch uns selbst ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger Alles Wille, was Wille heißt! Und, wenn ihr schließen wolltet: ,es gibt also nur Ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit?ʻ – so ist hinzuzufügen: ja, vielleicht gibt es nur Ein Reich, vielleicht gibt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet. (…) Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als

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eben solche Würfe – und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äußerste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr tun, als das Spiel der Notwendigkeit zu spielen. Vielleicht! – Um über dieses Vielleicht hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 120–122). Sahlmann erlitt eines Tages eine schwere Nierenentzündung und wurde für drei Wochen krankgeschrieben. Ihm sollte später klar werden, mit seiner Kur zugleich eben diesen von Nietzsche verschriebenen Abstand „jenseits aller Oberflächen“ genommen haben zu können. Weil seine Teammitglieder trotz allen Unmutes über die Arbeitssituation ihn persönlich sehr schätzten, bedauerten sie seinen Ausfall, ja sie vermissten sogar in den ersten Tagen seine umtriebige Ungeduld. Doch sie atmeten auch endlich auf – und legten los. Sie sprachen sich ab, wenn es die Situationen erforderten, bewältigten spontan ihre Aufgaben und Ziele, fertigten unumwunden neue Listen und Teamabläufe an, riefen sich Lösungen zu anstehenden Personalmaßnahmen beim Kaffeeplausch zu und handelten intuitiv den jeweiligen Anforderungen entsprechend optimal. Resultat: Die Fehlerquote sank rapide, Nachfragen oder Beschwerden anderer Abteilungen ließen merklich nach. Und vor allem: Die Stimmung im Team glich zeitweise einer Champions League. Als Sahlmann, genesen und fünf Kilo leichter, in die Bank zurückkehrte, erlitt er stündlich leichte Schocks. Nichts von dem, was er an Teamabläufen ausgetüftelt und vereinbart hatte, konnte er noch wiedererkennen. Sahlmann hielt sich aber, besonnen geworden durch seine Genesung, wohlweislich zurück und beobachtete interessiert das lebhafte Treiben seines Teams. Nach zwei Tagen seiner Wiedereinarbeitung lehnte er sich sogar entspannt zurück und spürte um sich herum einem dynamischen Zauber, dessen „Gesetz“ jenseits seines gewohnten Denkens beheimatet sein musste. Was Sahlmann intuitiv begriff, das Wunder der Eigendynamik von Lebensund damit auch Arbeitsprozessen, zog ihn zugleich sanft zurück in eine Betrachtung seiner eigenen – alten – Wirklichkeitskonstruktion und damit an einen Ort, von wo aus Nietzsche unser alltägliches Spiel aus Zweck und Zufall aus den Angeln hebt. Anspielend auf den griechischen Mythos der Persephone, Göttin der Fruchtbarkeit und der Unterwelt zugleich, schafft Nietzsche ein Sinnbild für das Pathos der Distanz und für die Freude am Spiel mit dem Zufall. Weil Persephone abwechselnd mal in der gefürchteten Unterwelt, mal auf unserer Erde verweilte und dadurch Einblick gewann in den Unterschied dieser lebensbeherrschenden Dimensionen, ermöglicht ihr Mythos eine Art

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„Blick von außerhalb“ unseres Lebens. Diese Genesung zur Distanz wurde Sahlmann durch den heilungsbedingten Abstand zu den eigenen Denkmus­ tern möglich. Hierzu hat Nietzsche mit dem Ausdruck „jenseits aller Oberflächen“ wie mit einem Scheibenwischer über die Schicksalsscheibe unserer rationalen Kurzsichtigkeiten hinweggewischt und uns den Blick frei gemacht für eine mögliche Freude am Unberechenbaren, Ungewissen und Unfassbaren. Das mögliches Chaos hinter unserem Ordnungsbegriff, die mögliche Komplexität hinter unseren Abstraktionen bleiben die Spielfelder eines uns befreienden Umgangs mit dem, was in unserem Leben nicht zu kontrollieren und abzusichern ist. Dazu bedarf es des Mutes und der Bereitschaft zum engagierten Handeln auf der Basis dessen, was uns wert und wichtig ist. Wie machen es denn die Kinder? Kindern sagen sich nicht: „Oh, Mist, meine Welt ist so unkontrollierbar, ich kann sie nicht berechnen“, oder „wie blöd, das Leben ist zu chaotisch, viel zu komplex“. Kinder sind  – noch!  – frei vom Anspruch solch sprachlicher Beurteilungen. Ihnen fehlen die mit dem Älterwerden (und ich sage ausdrücklich nicht Erwachsenwerden) angewöhnten und eingeschliffenen Kategorien der Kontrolle, der Planung und Ordnung, der Etikettierung und des Überblicks. Kinder entwickeln im Augenblick ihres Tuns mit dem, was gerade vorhanden ist, einen Spieltrieb der Neugierde und Freude. Sie können jetzt einwenden, unser fortschreitendes Leben benötige nun mal den Verstand und seine Intelligenz der begrifflichen Beherrschung. Was uns Nietzsche nahelegt, ist ja nicht die Beseitigung unseres rationalen Denkens und die fortschrittliche Gestaltung unseres Lebens, sondern eine spielerische Haltung unserer Verstandesarbeit gegenüber. Andernfalls gerät unser Leben in die „äußerste Beschränktheit“ seiner Handhabe der eigenen rationalen Mittel, die doch selbst eher „Würfelwürfe“ statt Säulen und Tischplatten sind, auf denen wir zu spielen und zu wetten von Nietzsche wieder eingeladen werden. Nietzsche empfiehlt den spielerischen Umgang mit unserer Denkmaschine „Superschlau“ und ihren Funktionen, alles haargenau dingfest machen zu können. Alfred Sahlmann war dankbar dafür, Abstand gewonnen haben zu können zu seinem eigenen „Ordnungsdrill“, den er im Laufe eines vertiefenden Coachings dann als angststeuernde Kontrollmaßnahme hat entlarven können. Jetzt hatte er gelernt, seine innere Unruhe achtsam und gelassen zuzulassen, anstatt mit dem „Zwang zum Schema“ zu beherrschen. Dankbarkeit empfand Sahlmann vor allem seinem Team gegenüber, das Mut bewiesen hatte, seine gewohnten Steuerungselemente beiseitegelassen und ihm seit seiner Rückkehr stattdessen konsequent einen eher spontanen und situativen Arbeitsstil vorgelebt zu haben. Wohlweislich befürwortete er

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diese Entwicklung ob ihrer erfreulich sichtbaren Teamqualitäten als zukünftige agile Prozesskultur. Er spürte, hier lief Lebendiges auf stimmige Resultate zu, ohne dass er das hätte vernünftig erklären können. Er wurde plötzlich gelassen, musste sich nicht mehr Sorgen machen um Einhaltungen seiner Pläne. Sahlmann ließ los. Und darum ging es: „So lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt“ (Nietzsche 1980, Bd.  6, S.  73). Damit meint Nietzsche so etwas wie das Hinüber in die Wachstumszone, unser instinktives Spiel an den Grenzen unserer Komfortzonen, wo wir das Glück als Überwindungsprämie erfahren. Sahlmann pflegte bislang, ordnungsvernarrt, den Komfort seiner Autopiloten aus Regeln, Listen und Beschlüssen – den Entspannungsfaktor aus Ratio und Abstraktion. Das hatte ihn nur mehr zerrieben als entspannt. Wer Ordnung und Kontrolle als seine letzten Trümpfe zurückbehält, lebt nervös. „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ (Nietzsche 1968, S. 12). Diese innere Freiheit vom Regelwerk der Kontrolle erlaubt uns, kreativ zu werden und Gelassenheit angesichts ungewisser Situationen zu entwickeln. Und Sahlmanns Team lebte ihm diese wunderbare Alternative vor: Gewagte Ex-Statse (lat. hinausstehen) als kreatives Wachstum statt abgesicherte Homöostase als Komfort. Wir Menschen sind ursprünglich beseelt von einer regulierenden Kraft unserer Existenz (lat. existere: hinausstehen) als ein natürliches Chaos-Prinzip, das in uns lebt und aus sich heraus natürliche Ordnungen schafft. Diese frei sich entfaltenden Ordnungen lehren uns, spielerisch zu tanzen und dabei ein Selbstvertrauen zu entfalten, das in jedem von uns auf solche Chancen wartet.

4.20 L eib & Gesundheit – die Energiequellen allen Wollens Wenn Sie vor eine Wahl gestellt werden, sich so oder anders zu entscheiden, und das mit solchen Konsequenzen, die in Ihrem Leben spürbare Unterschiede bewirken, dann wird das, was Sie gleich tun, nur von einem Bruchteil Ihres Denkens gesteuert. Sie mögen glauben, was Sie denken – entscheidend bleibt Ihr Denken nicht. Unsere Entscheidungsprozesse werden intuitiv, also abseits der kognitiven Gehirnareale, von unserem Gesamtwissen an erlebter Erfahrung beeinflusst. Dieser Erfahrungsschatz ist emotional geprägt und liegt in „somatischen Makern“, also im Körper (gr. Soma) abgespeichert bereit und bedingt das, was wir denken, fühlen und tun, maßgeblich mit. Sie wählen meist diejenigen Handlungsoptionen aus, die, gemessen an Ihren früheren Erfahrungen, die

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bestmöglichen Ergebnisse erahnen lassen und damit aus einer Tiefenstruktur Ihrer Gesamterfahrung quasi vorentschieden werden. Von diesem Prozess bekommt unser Bewusstsein wenig bis gar nichts mit und erfährt von der Entscheidung bisweilen nur so viel wie die Öffentlichkeit von der Papstwahl durch Rauchsignale aus einem Vatikanschornstein (Damasio 2005, S. 176). Das hatte Alfred Sahlmann zu spüren bekommen, als er krank wurde. Seine Nierenentzündung, ein psychosomatisches Symptom, signalisierte, dass in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen erhebliche Spannungen und Probleme vorlagen, die er verdrängt, also nicht bewusst reflektiert oder aktiv angesprochen hatte. Das quittierte ihm seine Psyche in ihrem engen Kontakt mit dem Körper durch dessen Krankheit. So rangiert die Niere laut psychosomatischer Fachkunde als bevorzugtes Organ für Krankheiten, wenn es zwischenmenschlich dauerhaft kriselt und wir dabei untätig bleiben. Unser Körper besitzt eine Weisheit für unser gesundes und harmonisches Leben, die unserem Verstand unbegreiflich bleibt, solange wir unser Denken nicht sensibilisieren für eben solche somatischen Meldezeichen. Sahlmann, selbst ernannter „Kopftyp“, fühlte sich bis dato taub, sobald er in sich hineinzuhorchen versuchte, um emotionale oder körperliche Signale wahrzunehmen. Da hätte er genauso gut versuchen können, seine Schuhsohle unter seinen Füßen erspüren zu wollen, während er zum Bus rannte. Und richtig, im Nachgang bis zur Teamkrise entdeckte Alfred Sahlmann rückerinnernd entscheidende Signale seiner Stimmungen, Emotionen und Körperimpulse, die ihn frühzeitig hätten warnen können, dass etwas nicht stimmte zwischen ihm und dem Team. In Teamsitzungen kniffen ihn oft Magenkrämpfe, nächtelang grübelte er über Qualitätsverbesserungen nach, Schweißausbrüche überfielen ihn selbst im Winter bei morgendlichen Teamplanungen, und wie oft krampfte er auf seinem Bürostuhl plötzlich zusammen, um Schmerzen im unteren Lendenwirbelbereich zu entgehen. „Und ich glaubte die ganze Zeit, das hing nur mit der vielen Arbeit zusammen, und ich müsste das nur besser deichseln.“ Sahlmann blieb dennoch sinnbildlich sitzen, bewegte sich nicht, ließ seinen Körper unerhört rebellieren nach dem Motto: Leiden ist leichter als Handeln. Bewegung? Sport? Körperlicher Ausgleich zur Arbeit? „Keine Zeit, auch hab ich keine Lust, mich abends auch noch zu trimmen.“ So lauteten seine Phrasen, deren Grammatik einer Ohnmachts- und Opferhaltung geschuldet waren. Alfred Sahlmann schluckte lieber mit gedanklichen Pillen seinen Stress hinunter, als seinem Organismus gelegentlich eine Frischkur durch Bewegung zu gönnen, und das nach einem ganz anderen Motto, das uns Albert Einstein einst lieferte: Ein Problem kann nicht auf derselben Ebene gelöst werden, auf der es entstanden ist.

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Die Routine des Menschen, so ziemlich alles, was ihn angeht, rational klären zu wollen, stößt täglich an eigene Grenzen, die anders als wieder nur denkend überwunden oder erweitert werden können. So zeigen Befunde aus der Stressforschung, dass unser Denken („das pack ich wieder nicht …, die Zeit reicht nicht … usw.) körpereigene Hormone wie Cortisol oder Adrenalin produziert, die nicht wieder durch Gedanken, sondern mittels anderer Ebenen des Organismus abgebaut werden können (z. B. Sport, Meditation, Schlaf, Yoga). Unser Schicksal, an rationalen Zugängen zur Umwelt und uns selbst gebunden zu sein, dreht ungewollt Willensimpulsen im Körper den Saft ab und besteht größtenteils in einer selbst verschuldeten Entfremdung von körperlichen Bedürfnissen, die uns gesunden ließen, gäben wir ihnen, was sie brauchten. Doch das Schicksalsrad läuft andersherum: Die zeittypische Dauerbelastung der Psyche fördert Stress, der durch ebenso zeittypische Bewegungsarmut des Menschen (im Unterschied zu unseren bewegungsherausfordernden Vor­ fahren) nicht abgebaut und damit zu dem ebenso zeittypischen StresstunnelDenken führt. Wer nach einem Streit mit dem Chef oder Ehepartner Holz hackt, spürt, wovon hier die Rede ist. Damit tauchen wir noch einmal (vgl. Abschn.  3.10) kurz hinab in ein Kraftfeld, das uns alle Energie liefert, gut zu leben: der Körper. In seiner „Morgenröthe“ vermerkt er: „Was kündet Euer Leib von Euren Seelen?“, mahnt Zarathustra, für den „sein Kopf nur das Eingeweide seines Herzens“ ist (Nietzsche 1968, S. 9, 12). Die Achtsamkeit auf die Signale des Körpers stellt Nietzsche als Grundimpuls philosophischen Lebens fest. Er war einer der ersten Denker, die den Körper zum existenziellen Wert der Philosophie erkoren. In seiner „Morgenröthe“ vermerkt er: „Arme Menschheit! – Ein Tropfen Blut zu viel oder zu wenig im Gehirn kann unser Leben unsäglich elend und hart machen, dass wir mehr an diesem Tropfen zu leiden haben, als Prometheus an seinem Geiern. Aber zum Schrecken kommt erst, wenn man nicht einmal weiß, dass jener Tropfen die Ursache ist. Sondern ,der Teufelʻ! Oder, die Sündeʻ!“ (Bd. 3, S. 79). Wir erfinden oftmals rationale Ursachen („die Welt ist schlecht“, „ich bin schuld an der Misere“, „du akzeptierst mich nicht“ usw.) zu Wirkungen, die rein körperlich sind und mit der Welt da draußen oder meiner Persönlichkeit gar nichts zu tun haben. Was also können wir tun, damit unser scheinbar bewusstes Leben durch keine psychosomatischen Symptome hinterrücks ins Stocken gerät, weil wir kopfgesteuert taub geblieben sind für das Energiegut unseres Körpers? Nietzsche erkennt diesen blinden Fleck zur Eigenwahrnehmung des Körpers im Denken. „Die Vernunft ist die Ursache, dass wir die Sinne verfälschen“ (Nietzsche 1980, Bd.  6, S.  75). Entsprechend reagierte auch Sahlmann,

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typisch für psychosomatische Krankheitsbilder, auf seine körperlichen Warnsignale mit kopfkinogesteuerten Storys („Ich muss mehr kontrollieren, durchhalten, besseres Zeitmanagement organisieren, stärker und autoritärer werden …“ etc.). Deshalb auch warnt uns Nietzsche: „eine bloße Zucht von Gedanken und Gefühlen ist beinahe Null (…): man muss den Leib zuerst überreden“ (Nietzsche, ebd., S. 149). Säße Nietzsche heute in einer Talkshow, befragt, was er uns zur seelischen Gesundheit derzeit riete, er würde alle psychologischen Ratgeber, die den Körper als Fundament seelischer Gesundheit außer Acht ließen, auf den Index setzen. Dem psychologischen Hantieren mit Begriffen wie „Seele“, „Psyche“, „Selbst“ oder „Ich“ misstraute er heute zutiefst, entlarvte er sie doch als sprachliche Konstrukte, mit denen Psychologen an Befindlichkeiten des Menschen herumdokterten und dabei lediglich ihren jeweils individuell studierten Beratungssystemen folgten und letztendlich lediglich ihre selbstversteckten Ostereier finden würden. Nietzsches Stopp-Schild „nicht an der ,Seeleʻ“ versucht gerade, den „verhängnisvollen Aberglauben der Priester und Halb-Priester“ anzuhalten, über das Himmelfahrtskommando erdichteter Götter („Das wahre Selbst“, „Die Glückskur positiven Denkens“, „Befreie Dein Inneres Kind“, „In fünf Schritten zum neuen Ich“ usw.) könne zwecks innerem Frieden am Seelischen angesetzt werden. Nein: „die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus … das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das größte Unheil der Menschheit“ (Nietzsche, ebd.). Ein kurzer Blick in die Quantenphysik macht deutlich, was Nietzsche als leibliche Kraftquelle unseres Willens intuitiv erkannt hat. Dem Universum und damit unserer Welt, unserem Leben und unserem Körper liegt eine Potenzialität zugrunde, aus der heraus alles entstanden ist und die in uns steckt wie der Strom im Licht der Leselampe. Dieses Quantum können wir uns als eine Kraftquelle vorstellen, die alles um uns herum nach einer Art Bauprinzip hat entstehen lassen. Damit ist kein vorgezeichneter Plan gemeint, sondern eher die Möglichkeitsstruktur einer Energie, die nicht beliebig ist. Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr erklärt dieses universelle Potenzial als etwas, das Leben in seiner Vielfalt überhaupt erst möglich machen kann. „Das, was kann-möglich ist, da ist die Offenheit, das ist der lebendige Spielraum zukünftiger Gestaltung. Potenzialität ist ja nicht beliebige Möglichkeit. In der Kann-Möglichkeit steckt auch der Wille drin, denn Potenzialität meint auch Potenz. Die bloße Möglichkeit ist etwas Schlappes. In der Kann-Möglichkeit kommt die Woll-Möglichkeit zum Ausdruck“ (Dürr 2011, S. 47). Dürr beschreibt damit das Prinzip einer Wirkkraft, wie

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sie in Nietzsches Wille als Körperkraft begründet liegt. Unser Körper trägt mit diesem Bauprinzip demnach seine eigene Weisheit in sich, die wir nicht verletzten oder ignorieren sollten, soweit wir gesund bleiben wollen. Werden wir dieser Weisheit achtsam inne und richten unser Denken und Handeln danach aus, können „wir in jedem Augenblick, auch wenn unser Handlungsspielraum noch so eng ist, mitwirken an der Umsetzung von Kann-Möglichem in Realität“ (Dürr, ebd., S.  48). Dieses Kann-Möglich-Werden-Prinzip, quantenphysikalisch ein aus Elektronen, Protonen und Atomkernen bestehendes Energie- und Informationspotenzial, formuliert Nietzsches „Willen zur Macht“ ins naturwissenschaftliche Vokabular um. Was tat Alfred Sahlmann, als er, von seiner Nierenkrankheit gesundet, ins Teamgeschehen zurückgekehrt war? Er nahm Abstand vom Kopfkino seiner Kontrollen und seinen automatisierten Bewertungen, er akzeptierte und ließ geschehen, was ohne ihn und wie von selbst als Teamerfolg sich entwickelt hatte. Er folgte einem Treiben an Handlungsabläufen und Verständigungsmustern, die wie aus einem Tanz heraus spielerisch zu Erfolgen führten. Seine Genesung wurde begleitet von der Einsicht, dass er jenseits seiner Verstandeskategorien sensibel und empfänglich werden konnte für die innere Weisheit seines Körpers und für die Energiefelder von gesunden Wirkkräften um ihn herum. Dazu änderte er beharrlich vor allem die ‚kleinsten Gewohnheiten’ seines Alltags und folgte dem, was Friedrich Nietzsche „Langsame Curen“ nennt: „Die chronischen Krankheiten der Seele entstehen wie die des Leibes, sehr selten nur durch einmalige grobe Vergehungen gegen die Vernunft von Leib und Seele, sondern gewöhnlich durch zahllose unbemerkte kleine Nachlässigkeiten. – Wer zum Beispiel Tag für Tag um einen noch so unbedeutenden Grad zu schwach athmet und zu wenig Luft in die Lunge nimmt, sodass sie als Ganzes nicht hinreichend angestrengt und geübt wird, trägt endlich ein chronisches Lungenleiden davon: in einem solchen Falle kann die Heilung auf keinem anderen Wege erfolgen, als dass wiederum zahllose kleine Übungen des Gegentheils vorgenommen und unvermerkt andere Gewohnheiten gepflegt werden, zum Beispiel, wenn man sich zur Regel macht, alle Viertelstunden des Tages Einmal stark und tief aufzuathmen (womöglich platt am Boden liegend; eine Uhr, welche die Viertelstunden schlägt, muss dabei zur Lebensgefährtin gewählt werden). Langsam und kleinlich sind alle diese Curen; auch wer seine Seele heilen will, soll über die Veränderung der kleinsten Gewohnheiten nachdenken. Mancher sagt zehnmal des Tages ein böses Wort an seine Umgebung und denkt sich Wenig dabei, namentlich nicht, dass nach einigen Jahren er ein Gesetz der Gewohnheit über sich geschaffen hat, welches ihn nunmehr nöthigt, zehnmal jedes Tages seine Umgebung zu verstimmen. Aber er kann sich auch daran gewöhnen, ihr zehnmal wohlzutuhn!“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 278)

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Und so übte Alfred Sahlmann täglich, achtsamer zu werden für seine körperlichen Signale (mehr Anleitungen dazu s. Kap.  5  ff.) Es gelang ihm, ohne seine eingefleischten Etiketten von „…das richtig, … das falsch“ einfach nur wahrzunehmen, wie sein Körper zu jedem Zeitpunkt ein regelrechtes Universum an Spannungen, Energien, Kribbeln, Fließen, Druck oder Pochen aktivierte und ihm, Sahlmann, als Fokus zur Aufmerksamkeit wie einen inneren Sternenhimmel darbot. Und je mehr er hierfür sensibel und offen wurde und auf nonverbaler Ebene von Augenblick zu Augenblick präsent und wach blieb, umso gelassener wurde er und gewahrte gleichzeitig mehr und mehr das Beziehungsgeflecht seines Teams um sich herum. Diese Koinzidenz von körperlicher Achtsamkeit und situativer Wachheit ist wissenschaftlich mittlerweile hinlänglich bestätigt worden. Die Weisheit unseres Körpers übertrifft bei Weitem die Klugheit unseres Denkens. „Alles Gute“, schreibt Nietzsche, „ist Instinkt – und, folglich, leicht, nothwendig, frei“ (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 90).

4.21 P  athos der Distanz – die Höhen des freien Willens Als ich während meiner Studienzeit zum ersten Mal mit der Lebensphilosophie von Friedrich Nietzsche vertraut wurde, faszinierte mich seine Haltung vom „Pathos der Distanz“. Welch ein Ansatz! So hatte ich mein Leben noch gar nicht betrachtet: aus einer gewissen Ferne oder von oben, wie aus einem Himmel heraus. Mit dieser Lebensperspektive, meinen Alltag (für mich damals zwischen Philosophiestudium, Geld verdienen, Mittelmeerreisen, Liebesbeziehungen und Elternhaus recht turbulent) aus der Höhe der Reflexion zu betrachten, bin ich bis heute bestens zurechtgekommen. Womöglich hat Nietzsches „Pathos der Distanz“ dazu beigetragen, dass ich heute mit Leib und Seele Menschen gerne darin berate, diesen Abstand zu gewinnen. Selbst mein Lieblingstier, das seit früher Jugend durch die Firmamente meiner Weltanschauung kreist, symbolisiert meine Sehnsucht, Abstand gewinnen zu wollen – der Adler. Der Quellpunkt unserer Freiheit besteht darin, zu uns selbst und zu anderen Menschen und den Dingen um uns herum Abstand zu nehmen. Abstand wozu? Damit wir, wenn nötig, wählen können, was wir als Nächstes tun, denken oder fühlen wollen. Dieses Innehalten und Zurücktreten ermöglicht, wie dieses Buch bisher deutlich gemacht hat, unsere mentale Distanz den eigenen Etiketten, Identifikationen, Bewertungen oder Erklärungen unserer selbst beziehungsweise unserer Umwelt gegenüber.

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Ein Hauptgrund von Ungewissheit, Unruhe, Angst oder Nervosität ist die meist uneingestandene (um nicht zu sagen: unbewusste) Abhängigkeit von anderen Menschen, die – neurologisch und damit: faktisch – nur als Bilder, Symbole, Repräsentanten in der Psyche des Menschen produziert und in gewisser Weise „erfunden“ und als „Illusion“ trotzdem festgehalten werden. Hält der Mensch dagegen seine unhintergehbare – faktische – Isolation der Individuation (d. h. Nicht-Teilbarkeit) aus und akzeptiert diese innere Einsamkeit, so kann er Halt in sich erfahren, soweit der Mensch sich selbst als Gipfelpunkt seines Lebens zu akzeptieren vermag. „… liebt euch selber aus Gnade, − dann habt ihr euren Gott gar nicht mehr nöthig, und das ganze Drama von Sündenfall und Erlösung spielt sich in euch selber zu Ende!“, ruft uns Nietzsche in seiner so typischen Klarsicht für den Projektionsmechanismus der Selbstbeschuldigung zu (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 78). Der Mensch inszeniert all seine Angreifer, Verfolger, Gegner oder Beichtväter als Figurenen­ semble um sich herum, weil er im Innersten zuallererst sich selbst angreift. Sein „Pathos“ (griech. Leidenschaft), dazu Distanz einnehmen zu können, entspringt seiner Liebe zu sich selbst. Sie können hierzu einen Selbsttest durchführen, indem Sie prüfen: Sobald Sie sich aufgrund irgendwelcher Gedanken über Bezugspersonen (Partner, Kunden, Chefs, Kollegen etc.) Sorgen machen sollten oder sich ärgern bzw. an etwas zweifeln, gehen Sie kurz in sich, lösen sich von den Sorgengedanken und stellen sich intensiv vor: „Angenommen, ich akzeptierte mich voll und ganz und liebte mich und mein Dasein aus ganzem Herzen, ohne Wenn und Aber, würden mich dann noch jene Gedanken an diese oder jene Person(en) in der gleichen Intensität Sorgen und Kummer bereiten?“ Der Vertrag mit sich selbst aus einer inneren unumstößlichen Akzeptanz der eigenen Person verändert oder ersetzt gar die Trostsuche oder enttäuschte Schuldzuweisung außerhalb des Selbst. Der Glaube an Gott oder andere übersinnliche Mächte, vielen Menschen unserer gottverlassenen Erde die oft einzige Spirit-Injektion zur Gelassenheit, würde hierdurch minimiert werden. Ein Fortschritt? Aus der Perspektive einer mental-emotionalen Autonomie des Individuums – in jedem Fall! Gerade inmitten der alltäglichen Verführungen durch Medienbilder, Unterhaltungsprogramme, Modetrends oder Sinnfindungsangebote gilt es, mit Abstand zu diesen Reizen und vor allem zur dadurch angeregten eigenen Verführbarkeit und mit Bedacht zu antworten. „Ja, wenn ich’s mir recht überlege, stimmt das, was mir grad angeboten wird, (z. B.) mit meinen Werten überein …, und das da, … – nein, das nicht!“ Diese Inne-Haltung drückt Nietzsches „Pathos der Distanz“ im Sinne einer allzeit bereiten Selbstdisziplin aus.

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In der Menschenmenge mit all dem, was sie begehrt, die „Unabhängigkeit der eigenen Abgeschiedenheit“ bewahren, den Abstand der inneren Einsamkeit zum Getöse der Reize ringsum, das ist Nietzsches Vision der gelassenen Größe. Wenn Sie sich hierunter jetzt einen vom Alltag abgeschiedenen Eigenbrödler oder arroganten Besserwisser vorstellen mögen, so meint Nietzsche alles andere als das. Seine Philosophie sucht gerade den Kontakt zu Menschen, jedoch im Sinne der Grenzsituation, des Widerspruchs oder der Auseinandersetzung: „die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben. Das, was ich Pathos der Distanz nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, − die Extreme verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit“ (Nietzsche 1980, Bd.  6, S.  138). Deshalb empfiehlt uns Nietzsche, aufgrund unserer unverwechselbaren Individualität Unterschiede zu wagen. Groß und stark sein heißt, auch missverstanden werden und das gelassen annehmen und dazu stehen zu können. Denn wodurch missverstehen wir Menschen uns untereinander? Durch die Geschichten unserer Begriffe von uns selbst und anderen. Wir vergleichen unsere Begriffe und töten damit unser Glück. Damit verlieren wir, was gelassen macht, das unvergleichliche, unbegreifliche, weil unbegriffliche Dasein in uns, wozu innen Größe Kontakt hält. Nietzsche wirft einen Blick ins Universum und relativiert hierzu: „Und ihr Erdenbewohner mit eueren Begriffelchen von ein paar Tausend Zeitminütchen wollt dem ewigen allgemeinen Dasein ewig lästig fallen! Giebt es etwas Zudringlicheres!“ (Nietzsche 1980, Bd.  3, S.  190). Aus diesem Abstand zur eigenen Begriffswelt wuchtet Nietzsche seinen Hammer der freien Selbstverantwortung in unseren Alltag. Und das kann weh tun, wie ich es selbst an meiner eigenen Gewohnheit, andere und mich zu beurteilen, hin und wieder zu spüren bekomme(n habe). Für eine Stahlfirma im Ruhrgebiet sollte ich einen Workshop zur „Optimierung der Kundenbetreuung“ konzipieren. 40 Männer aus Vertrieb und Technik sollten in zwei Tagen die Kooperationen untereinander ver­ bessern, um einheitlicher am Markt zu agieren. Den Kunden beriet das Unternehmen, ein guter Ansatz, stets zu zweit; ein kontaktversierter Vertriebler kümmerte sich um die Beziehung, ein werkstoffkundiger Techniker um die Produktanwendung. Ich wollte hierzu ein offenes Workshop-Szenario („Open Space“) mit interaktiven Übungen inszenieren, arbeitete einen gut durchdachten Ablauf aus, sandte mein Konzept (das sich in vergangenen Workshops hinlänglich bewährt hatte) den Bereichsleitern und der Personalchefin zu und

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erwartete, überzeugt von meinem Entwurf, zuversichtlich die verabredete Telefonkonferenz. Und dann läutete das Telefon, ich nahm ab und und musste nach knapp zehn Minuten den Hörer wieder auflegen. „Wenn ich hier in die Gesichter meiner Kollegin und meines Kollegen schaue“, sagte der Bereichsleiter der Werkstofftechnik noch, „dann brechen wir jetzt hier mal besser ab.“ Mein Konzept wurde stahlhart vom Tisch gefegt. So kurz und knapp wurde mir bis dahin noch keine Absage erteilt. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie ein Gemisch aus Ärger, Enttäuschung, Wut, Selbstzweifeln, Verlustangst und Traurigkeit in einem Sturzbach aus Gefühlen und Gedanken durch meinen Kopf und Körper schoss. „Was denken die jetzt von Dir? Du bist nicht auf der Höhe der Zeit mit Deinen Tools! Das spricht sich rum! Das verdirbt Deinen guten Ruf! Du verlierst den Kunden und eine Menge Geld! Du bist nicht geeignet für diesen Job! Du hast keine Lust mehr, weiterzumachen! …“ In meinem Kopfkino führten blitzartig der innere Kritiker, der Richter, der Angsthase und der Zweifler abwechselnd und mit je unterschiedlicher emotionaler Vehemenz, aber allesamt madig machend kräftig Regie. Und während ich das aufschreibe, taucht auch gleich wieder der Film samt Plot und Spannung schlagartig auf. Und genau darum geht es. Es ist und bleibt ein Film und war es auch damals nur. Aus einem „Pathos der Distanz“ heraus bleiben wir fähig, uns den Film als Projektionsband, den Projektor als Lichtmaschine und vor allem die Leinwand als im Prinzip weiße Fläche bewusst zu machen. Mir wurde wieder einmal klar, an welchen Ego-Blasen ich immer noch hing (und bis zum Sargdeckel wohl hängen bleiben würde), sobald ich den Abstand verlor. „Ich bin toll und der Beste! Ich vereinnahme alle Menschen! Alle lieben und wollen mich bedingungslos! Wenn ich auftrete, verstummen alle Zweifel! Mein Beraterjob sitzt mir wie eine zweite Haut an Leib und Seele! …“ Hier beginnt ein Schmerz, der ein anderer ist als der, diese Selbstbilder und Erwartungen im Alltag nicht erfüllt zu bekommen. Es ist der Schmerz der eigenen Desillusion, wenn ich die Hirngespinste zerplatzen lassen oder, sollten es resistente und festgefahrene Ich-Strukturen sein, regelrecht zerschlagen muss. Womöglich ist „zerschlagen“ auch nicht ganz das treffende Wort, sondern eher ein freiwilliges Sich-Losmachen und Loslassen von inneren Bildern der eigenen Geschichte. Pflaster von Wunden abziehen, schmerzt. Zwar hören solche oder ähnliche Filme oder Bilder nicht auf, immer wieder zu flimmern, wenn die Lichter unseres Bewusstseins dunkel werden und wir dadurch unsere Distanz zur Leinwand, zum Projektor und zum Filmmaterial

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verlieren. Und natürlich sind wir im Augenblick einer brisanten Situation, wenn wir – scheinbar! – kritisiert, abgelehnt, angegriffen oder beleidigt werden, häufig erst einmal perplex, sprachlos, reflexhaft, vermeidend oder auch ängstlich nachgebend, was auch immer. Hier handeln die Ego-­Muster mit oft kindlichen Prägungen. Mögen sie bleiben, mögen sie vergehen  – unsere Selbstpflicht bleibt es, unseren eigenen Gewohnheiten zu widerstehen, sobald wir uns wieder träge in den selben (Kino-)Sessel plumpsen lassen wollen. Unsere Freiheit hierzu haben wir  – es ist die Wahl im Dienste unserer von innerem Frieden und Gelassenheit getragenen Zukunft. Woran aber misst sich die Freiheit? „Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird: fünf Schritte weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unter den ,Tyrannenʻ unerbittliche und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern“ (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 140). Als ich das vor vielen, vielen Jahren zum ersten Mal gelesen habe, wurde mir klar: Innerer Friede, Freude, Glück und Freiheit haben ihre Preise, die schmerzen können, wollen wir unserer inneren „Knechtschaft“ widerstehen. „Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält“ (Nietzsche, ebd., S. 139). Was hat das mit Gelassenheit zu tun? Es ist das Los-Lassen-Können von scheinbar nur festgefahrenen Zuständen. Hierzu empfiehlt Nietzsche einen Kniff: „das ,Ichʻ verdoppeln! – Unsere eigenen Erlebnisse mit dem Auge ansehen, mit dem wir sie anzusehen pflegen, wenn es die Erlebnisse Anderer sind, − dies beruhigt sehr (…), denn wir urtheilen über den Werth und Sinn eines Ereignisses objectiver, wenn es an anderen hervortritt und nicht an uns“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 130). Nietzsche setzt hier das „Ich“ in Anführungszeichen, ist es doch ohnehin ein sprachliches Konstrukt, das meist aus der eigenen Erklärungsgeschichte und deren Sprachgewohnheiten heraus sein „Problem“ konstruiert. Er nimmt hier vorweg, was wir heute in den Professionen unserer Beratung als „systemischen Blick von außen“ anwenden. Mit solch einem „Pathos der Distanz“ wird es uns auch möglich, uns selber humorvoll zuzulächeln, sobald unser „Ich“ mal wieder glaubt, nicht mehr weiterzuwissen. „Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hi­ naus“ (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 128).

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4.22 B  ilder des Wollens versus Bilder des Reflexes Zum Glück, wie wenig genügt schon zum Glücke! (…) das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augenblick - Wenig macht die Art des besten Glücks. Still! Nietzsche4

Eine der effektivsten Methoden, einen gewünschten Umgang mit der Welt, dem Leben, dem Ungewissen zu erzeugen, ist die Gestaltung von inneren Bildern im neuronalen Netz unserer Schädeldecke. Der Wille, sobald er sich, entschieden, mit dem Vorstellungsbild der beabsichtigten Tat verbunden hat, setzt das motorische Element des Bildes in Bewegung um. Jedes Bild, das wir uns vorstellen, besitzt eine „ideo-motorische“ Kraft, die „das wartende Muskelsystem freisetzt“ (Assagioli 1998, S.  53). Wenn Sie am Schreibtisch sitzen und zur Zimmertür gehen möchten, weil der Kaffee in der Küche fertig geworden ist, dann motivieren Ihre sekundenschnellen Bilder (z. B.) „Gehen-­ Tür-­ Öffnen-Gehen-Küche-Kaffee-Trinken“ Ihren Muskelapparat zum Aufstehen aus dem Sessel. So kreieren wir das Ziel als Bild und haben eine mentale Szene dessen vor Augen, was wir erreichen wollen. Dann setzen automatisch Prozesse des Organismus unsere Emotionen und die neuronalen Nervenbahnen unserer Großhirnrinde und damit unseren Denkapparat in Gang und können unser entworfenes Ziel wirksam werden lassen, soweit wir aufmerksam diesen Willensprozessen folgen. Die meisten Stress- und Born-out-Symptome entstehen zum einen durch permanente Ablenkungen und Unterbrechungen, durch eine unangemessene, weil unterschätzende Vorstellung unserer tatsächlichen Ressourcen und Fähigkeiten, vor allem aber durch eine ich-fremde Installation eines (meist unbewussten) Ziel-Bildes. Unsere inneren Bilder sprechen die Sprache unseres Herzens  – oder widersprechen ihm. Eine tief greifende Instandsetzung unserer stimmigen Willensprozesse führt eine Inventur der Bildarchive unserer Seele durch. Auch das habe ich früh von Nietzsche angenommen: in Bildern und Metaphern denken, sich entsprechend fühlen und danach handeln. Ein berühmtes Beispiel aus dem „Zarathustra“: Der Mensch „als Brücke“, der seine „Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer“ (Nietzsche 1968, S. 11) abschießt, ist für Nietzsche das Sinnbild des Wachstums, der Vision, des „Übermenschen“, der die Komfortzonen des Gewöhnlichen fortlaufend  „Zarathustra“, 1968, S. 340.

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überschreitet. Wie leicht versäumen oder vermeiden wir diesen Schritt aus dem Bequemen und hinüber in unsere eigene persönliche Wachstumszone, weil wir hinterrücks das bevorstehende Neue und zumeist Ungewisse mit Altbekanntem zu beurteilen, zu vergleichen und danach häufig zu vermeiden versuchen. Zu über 90 Prozent schauen wir im gegenwärtigen Augenblick mit vergangenen Mustern auf das Hier und Jetzt oder von hier aus in die Zukunft, die immer Hypothese bleiben wird. Unsere Gewohnheiten beruhigen uns in dem, was wir kennen, und beunruhigen uns zugleich vor dem, was zukünftig und unbekannt auf uns zukommen könnte. „Es steht bei uns, über Dies und Das keine Meinung zu bilden und so unserer Seele die Unruhe zu ersparen. Denn die Dinge selbst können ihrer Natur nach uns keine Urtheile abnöthigen“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 78). Das hat uns schon die Stoa mit auf den Lebensweg gegeben. Wir können innehalten und uns vornehmen, nicht sogleich auf das, was uns antriggert, zu reagieren – wenn wir das wollen. Nietzsche warnt uns, jeden Impuls, ob von außen oder aus unserem Innern, sofort unseren Erklärungswahn unterzuschieben, nur weil wir damit beruhigter durchs Leben gehen. „Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt außerdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben, − der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist besser als gar keine. Weil es sich im Grunde nur um ein Loswerdenwollen drückender Vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit den Mitteln, sie loszuwerden: die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie ,für wahr hältʻ. Beweis der Lust (,der Kraftʻ) als Criterium der Wahrheit“ (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 93). Wir hemmen oder blockieren uns mit unseren inneren Bildern ständig selbst auf den Wegen zu unseren Wachstumszonen durch die „Kraft“ unserer Beruhigungsnot. Da will einer endlich selbstständig werden oder ein Buch schreiben oder Kritik äußern oder mit dem Sport beginnen, und, patsch, schlägt die Klatsche unserer gewohnten Selbsterzählungsmuster (z.  B.) des Scheiterns oder der Schmerzvermeidung zu. Wir erklären uns dann selbst für (z. B.) „dumm und dämlich“, um das Unbekannte zu vermeiden oder uns mit Erklärungsansätzen darüber zu beruhigen. „Dass etwas schon Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache angesetzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. (…) Es wird also nicht nur eine Art von Erklärungen als Ursache gesucht, sondern eine ausgesuchte und bevorzugte Art von Erklärungen, die, bei denen am schnellsten, am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten weggeschafft worden ist“ (Nietzsche, ebd.).

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Wie schnell vergessen und verlieren wir unsere Haltung für das, was uns am Herzen liegt, und zerstreuen uns wieder, abgelenkt durch eine zu schwache Aufmerksamkeitsspanne, in unsere alltäglichen Verführungen. Unsere gewohnten Bildarchive und routinierten Erklärungsmuster als solche sind dabei gar nicht das Problem. Nietzsche warnt uns vielmehr vor unseren eigenen flinken (Sprach-)Griffen nach längst überholten, ungültigen oder unpassenden, aber eben lange eingeübten und damit automatisierten Erklärungsformaten, die unser reflexhaftes Bewerten, Zweifeln, Zögern oder Beurteilen auslösen, Neues schuldig sprechen und Gewohntes ins Alte Recht zurückversetzen. Uns über diese Reflexe hinwegsetzen, „dies erst ist die große Befreiung, − damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt“ (Nietzsche, ebd., S. 97). Hierzu schult Nietzsche beispielsweise unsere Art, Dinge zu betrachten: „Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-­ lassen angewöhnen; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehen und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf den Reiz nicht sofort zu reagieren, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht ,wollenʻ, die Entscheidung aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reiz Widerstand zu leisten  – man muss reagieren, man folgt jedem Impuls. In vielen Fällen ist ein solches Müssen bereits Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, − fast Alles, was die unphilosophische Rohheit mit dem Namen ,Lasterʻ bezeichnet, ist bloß jenes physiologische Unvermögen, nicht zu reagieren. – Eine Nutzanwendung vom Sehen-gelernthaben: man wird als Lernender überhaupt langsam, misstrauisch, widerstrebend geworden sein“ (Nietzsche, ebd., S. 108 f.). Ohne es ausdrücklich beabsichtigt zu haben, formuliert Nietzsche hier unsere Bewusstseinshaltung, achtsam mit sich und dem umzugehen, was in uns passiert. Kennen Sie das? Eine Kollegin, der Kunde, die Vorgesetzte oder ein Nachbar steht vor Ihnen, fragt Sie etwas, und Sie antworten, ohne groß nachgedacht zu haben. Oder: Sie gehen auf eine Gruppe von Freunden, Vereinsmitgliedern oder Familienangehörigen zu, die Sie erwartet haben, und nach fünf Minuten – „Hallo …, wie geht’s …, und übrigens …, und sag doch mal …, und was hältst Du davon …, und weißt Du schon …“ – haben Sie mit so vielen Antworten und Entgegnungen reagiert, dass Sie, der Situation kaum entronnen und besonnen, im Nachhinein knapp die Hälfte davon so lieber nicht gemacht oder anders formuliert oder genau umgekehrt gesagt

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hätten. Und wenn ich Klienten, die lernen wollen, ihren eigenen Willen unmissverständlich zu äußern, hierzu rate, innezuhalten und einfach nur mal zwei tiefe Atemzüge zu machen, bevor sie antworten, scheitern sie regelmäßig vor dem eigenen Reflex, zu antworten. Bloß nicht schweigen, was könnte der andere denken. Bloß nicht zögern, was könnte die andere denken. Hier verführen wir uns selbst mit einem Muster des Reflexes, den wir mitunter als „eitel“ bezeichnen könnten. Nietzsche warnt uns vor dieser „Eitelkeit“, die unsere innere Gelassenheit raubt, weil unser Ich nach Geltung giert. Das steckt quasi genetisch seit Urzeiten wie in abgelagerten Verhaltensschichten in unserer Seele. Besonders dort, wo „seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen Volksschichten der gemeine Mensch nur Das war, was er galt: − gar nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, maß er auch sich keinen anderen Werth bei, als seine Herren ihm beimaßen“ (Nietzsche 1980, Bd.  5, S.  213). Aus meiner eigenen Vergangenheit tönt aus dieser Erziehungsschicht noch ein Satz hervor: „Kinder, die was wollen, die kriegen was auf die Bollen.“ Nietzsche verdammt den „Atavismus“, „dass der gewöhnliche Mensch auch jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich wartet“ (Nietzsche, ebd.). „Es ist der, Sklaveʻ im Blute des Eitlen“, geboren „aus jenem ältesten Instinkt der Unterwerfung, der an ihm ausbricht“ (Nietzsche, ebd., S. 214). Dieser Unterwerfungsinstinkt ist heute einer der Hauptgründe, warum Menschen ins Burn-out geraten, ins selbst verschuldete Energie-Aus unter fremden Werten und Erwartungen. Doch gerade dann, wenn unsere Gelassenheit und Seelenruhe bedroht sind, können wir unseren Willen, eigene Werte zu setzten, bestens (wenngleich nicht leichthin) trainieren. Sind wir uns unserer Reflexe erst einmal bewusst, ziehen wir unsere Aufmerksamkeit von den „psychischen Giften“ (Assagioli 1998, S. 68) zurück, wodurch wir die Energie der Aufmerksamkeit befreien und sie auf Bilder, Gedanken und Gefühle richten können, die uns gut tun. Dieses konzentrierte „Zurückziehen der Aufmerksamkeit“ (Assagioli, ebd., S. 69) ist ein „Akt des Willens“ und stärkt ihn zugleich. Sie müssen nicht sofort reagieren und strammstehen und brav antworten, wenn jemand vor Ihnen steht. Sie können in so gut wie jedem Augenblick Ihres Alltags psychische Hygiene betreiben und Gelassenheit üben, soweit Sie das wirklich wollen und sich auch dafür entschieden haben. Sie kultivieren damit Ihre Aufmerksamkeit, Ihr Interesse und auf einer universellen menschlichen Ebene Ihre göttliche universelle Energie mit besseren Pflegestoffen (wozu Ihnen die Kap. 5 und 6 noch Übungen anbieten werden).

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4.23 B  ildgeschichten fürs Gehirn: Erleben heißt erdichten Wenn Sie ein Buch flink durchblättern, bleibt Ihre Aufmerksamkeit wo haften? An Bildern. Sie aktivieren unsere Neuronen mehr als Worte allein, im Guten wie im weniger Guten. Das hängt zusammen mit der frühzeitigen Erfahrung des Gehirns, wenn das Menschenkind sich selbst mit seiner Umwelt bildlich erlebt. Emotionen prägen sich, bevor das Sprachgeplapper grammatisch wird, neuronal als Bildgefüge ein. Zu dieser Erkenntnis allerdings bedurfte es nicht erst der heutigen Gehirnforschung. Die Gelassenheit zur inneren Poesie unserer Bilder und Interpretationen beschreibt Nietzsche als ein „Erleben und Erdichten“, als eine Fantasietätigkeit unseres neuronalen Denkens, mit der wir unsere Höhen und Tiefen des Lebens selbst ausloten. Warum nur packt uns beispielsweise in Situationen, die gestern noch wie ein nebensächliches Treibgut unseres Tagesablaufes an uns vorbeigezogen sind, nächstentags der Beelzebub aus Furcht und Sorgen? Hierzu zieht uns Nietzsche in den betrachtenden Abstand zu unserer eigenen Bild- und Gedankenwerkstatt: weil „die dichtende Vernunft heute und gestern so verschiedene Ursachen für die selben Nervenreize sich vorstellt“. Er beschreibt, ähnlich einem Gehirnforscher, wie die Reize der äußeren Vorkommnisse oder inneren Regungen und Strebungen vom Gehirnsystem als „Nervenreize“ zu verbuchen sind, und zwar nach Stimmung und Situation jedes Mal anders: „das hat darin seinen Grund, dass der Souffleur dieser Vernunft heute ein anderer war, als er gestern war, − ein anderer Trieb wollte sich befriedigen, bethätigen, üben, erquicken, entladen, − gerade er war in seiner hohen Fluth, und gestern war ein anderer darin“ (Nietzsche 1980, Bd. 3, S. 113). Was in den Gehirnsystemen geschieht, deren unablässige Produktionen wir unbedacht mit dem verwechseln, was uns da scheinbar täglich von außen zustoßen könnte, dazu hat Nietzsches Diagnose noch heute Bestand. Unsere neuronal vernetzten Zustände und deren „Geschichten“ werden die in jedem weiteren Augenblick unseres Lebens neu auftauchenden „Nervenreize interpretieren und nach ihrem Bedürfnis deren ,Ursachenʻ ansetzen“ (Nietzsche, ebd.). Was dabei wieder als neue „Wirklichkeit“ herauskommt und uns etwa als bevorstehende Herausforderung sorgenvoll „vor Augen steht“, würde wiederum nur eine „Interpretation“ sein und bestätigen, „dass es zwischen Wachen und Träumen keinen wesentlichen Unterschied gibt“ (Nietzsche, ebd.). Damit macht uns Nietzsche mehr als einhundert Jahre vor den technisch überprüfbaren Ergebnissen der Gehirnforschung klar, dass „Urtheile und

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Werthschätzungen nur Bilder und Fantasien über einen uns unbekannten physiologischen Vorgang sind, eine Art angewöhnter Sprache, gewisse Nervenreize zu bezeichnen“, womit „all unser Bewusstsein ein mehr oder weniger fantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist“ (Nietzsche, ebd.). Wenn wir wissen, was wir wollen, können wir tun, was uns heilt. Nietzsches Handwerkszeug der Reflexion liefert uns einen heilsamen Abstand von doch immer nur selbst produzierten Wunden, zugefügt durch eine schädliche „Art angewöhnter Sprache“. Zudem zeigt er uns den Wert intuitiven Handelns in den Augenblicken bewusster Herausforderungen. Nietzsche macht uns an einem selbst erlebten Ereignis deutlich, wie wir das Kopfkino unheilsamer Szenarien durch den Willen konzentriert gelassenen Handelns sprengen ­können – vorausgesetzt, wir wissen in den Augenblicken der Herausforderung, was wir wollen. „Man nehme ein kleines Erlebniss. Gesetzt, wir bemerken eines Tages, dass Jemand auf dem Markte über uns lacht, da wir vorübergehen: je nachdem dieser oder jener Trieb in uns gerade auf seiner Höhe ist, wird dieses Ereignis für uns dies oder das bedeuten, − und je nach der Art Mensch, die wir sind, ist es ein ganz verschiedenes Ereigniss. Der Eine nimmt es hin wie einen Regentropfen, der Andere schüttelt es von sich wie ein Insekt, Einer sucht daraus Händel zu machen, Einer prüft seine Kleidung, ob sie Anlass zum Lachen gebe, Einer denkt über das Lächerliche an sich in Folge davon nach, Einem thut es wohl, zur Heiterkeit und zum Sonnenschein der Welt, ohne es zu wollen, einen Strahl gegeben zu haben – und in jedem Falle hat ein Trieb seine Befriedigung daran, sei es der des Ärgers oder der Kampflust oder des Nachdenkens oder des Wohlwollens. Diese Trieb ergriff das Vorkommnis wie seine Beute: warum er gerade? Weil er durstig und hungernd auf der Lauer lag. – Neulich vormittags um elf Uhr fiel unmittelbar und senkrecht vor mir ein Mann plötzlich zusammen, wie vom Blitz getroffen, alle Weiber der Umgebung schrieen laut auf; ich selber stellte ihn auf seine Füße und wartete ihn ab, bis die Sprache sich wieder einstellte, − während dem regte sich bei mir kein Muskel des Gesichts und kein Gefühl, weder das des Schreckens noch das des Mitleidens, sondern ich that das Nächste und Vernünftigste und gieng kalt fort. Gesetzt, man hätte mir Tags vorher angekündigt, dass morgen um elf Uhr Jemand neben mir in dieser Weise niederstürzen werde, − ich hätte Qualen aller Art vorher gelitten, die Nacht nicht geschlafen und wäre vielleicht im entscheidenden Augenblick dem Manne gleich geworden, anstatt ihm zu helfen. Inzwischen hätten nämlich alle möglichen Triebe Zeit gehabt, das Erlebnis sich vorzustellen und zu commentiren. – Was sind denn unsere Erlebnisse? Viel mehr Das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt! Oder muss es gar heißen: an sich liegt Nichts darin? Erleben ist ein Erdichten?“ (Nietzsche, ebd., S. 114)

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Diese Passage habe ich deshalb ausführlich zitiert, weil sie den Alltag mit den Produktionen unserer Nervenreize „kurzschließt“ und unsere Illusion löscht, Erlebtes sei faktisch, objektiv, tatsächlich oder wie auch immer nachprüfbar, messbar, vorhersehbar. Passen Sie also auf, welcher Ihrer Storys Sie wieder einmal auf den Leim gehen und dann festkleben und glauben, draußen hätte Sie stattdessen jemand festgenagelt. Sie könnten jetzt argwöhnen, „wir schmuggeln die Gottesfunktion (von dessen Gnaden Gläubige noch heute ihr Leben abhängig machen) hinterrücks in die Funktionen des biologischen Determinismus ein?“. Die Neurologie des Gehirns und seine Synapsen entschieden, was wir täten, befürchten Sie? Nicht gänzlich. Die Natur des Gehirns funktioniert zwar autonom und ohne unser direktes Zutun, mutiert aber keineswegs zum Ersatz einer Gottesfunktion, der den Menschen ein weiteres Mal aus der Verantwortung entließe. Unsere Freiheit davon besteht darin, Einspruch erheben zu können. Wir sind, wie bedingt auch immer, frei genug, unser Ja oder Nein an das zu r­ ichten, was bis dahin ohne uns vonstattengegangen ist. Von diesen Wahlmöglichkeiten handeln die beiden nächsten und letzten Kapitel.

Literatur Assagioli, Roberto (1998): Die Schulung des Willens. Paderborn: Junferman Aurel, Marc (1973): Selbstbetrachtungen. Stuttgart: Kröner Capra, Fritjof (2000): Das Tao der Physik. Bern: Scherz Damasio, Antonio (2005): Der Spinoza-Effekt. Berlin : List-Ullstein Dürr, Hans-Peter (2011): Wir erleben mehr als wir begreifen. Freiburg: Herder Ferry, Luc (2007):Leben lernen: Eine philosophische Gebrauchsanweisung. München: Verlag Antje Kunstmann Foucault, Michele (2009): Hermeneutik des Subjekts. Frankfurt: Suhrkamp Foucault, Michele (2007): Ästhetik der Existenz. Frankfurt: Suhrkamp Hadot, Pierre (2005): Philosophie als Lebensform. Frankfurt am Main: Fischer-Verlag Hadot, Pierre (1996): Die innere Burg. Frankfurt: Eichborn Jiddu Krishnamurti (2012): Einbruch in die Freiheit. München: Lotos-Verlag Nietzsche, Friedrich (1980, Bd. 6): Der Antichrist. München: Dtv Nietzsche, Friedrich (ebd., Bd. 3): Morgenröthe Nietzsche, Friedrich (ebd., Bd. 6): Götzen-Dämmerung Nietzsche, Friedrich (1968): Zarathustra. Berlin: Walter de Gruyter Perls, Fritz (2002): Gestalt-Therapie in Aktion. Stuttgart: Klett-Cotta Prosslinger, Johann (2001): Das Lexikon der Nietzsche-Zitate. München: dtv Psychologie heute, Compact (2012, Heft 32): Selbsterkenntnis. Weinheim: Beltz

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Retzer, Arnold (2002): Passagen. Stuttgart: Klett-Cotta Schnabel, Ulrich (2010): Muße. München: Blessing Seneca (2011): Von der Gelassenheit. München: dtv Siegel, Daniel J. (2010a): Die Alchemie der Gefühle. Pößneck: Random-Kailasch Siegel, Daniel J. (2010b): Das achtsame Gehirn. Freiamt im Schwarzwald: Arbor Spitzer, Manfred (2004): Selbstbestimmung. Heidelberg: Spektrum Akademi­ scher Verlag Wengenroth, Matthias (2010): Das Leben annehmen. Bern: Hans Huber

5 Die Gesetze gelassenen Handelns

Bei Erdschein Schlaf fordern vom wachen Nebenhimmel.1 Paul Celan

5.1 Die Achtsamkeit und der innere Abstand Wir hasten oftmals wie Teller-Jongleure durch den Alltag, und das mit der Aufmerksamkeitsspanne einer Mücke. Und abends bemerken wir mitunter, weder bei uns noch bei den erledigten Dingen wirklich präsent gewesen zu sein. All die Teller haben uns verleitet, zu hantieren, statt dass wir uns selbst bewusst zu den Tellern hingeleitet haben. Bleibt dieses Gerichtet-Sein unseres Geistes dauerhaft auf der Strecke, sirrt die Seele gleich einer Mücke zwischen den Spiegelreflexen der Teller und in den Lichtreizen des Alltags weiter umher – und bleibt am Abend leer. Zu Beginn des Buches schrieb ich, Gelassenheit würde von ganz allein entstehen, sobald Sie achtsam Ihren Geist schulten, und das tagtäglich, weil Sie damit den Basisfaktor Ihres Lebens klären würden: das Bewusstsein dessen, was Sie wahrnehmen und wie Sie darauf agieren. „Wenn Sie innen klar sind, wird das Draußen für Sie stimmig sein.“  Celan 1997, S. 276.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Hoffmann, Deine Freiheit, deine Gelassenheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25475-9_5

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Was lässt mich da so sicher sein? Nichts weiter als die Jahrtausende alte Tradition achtsamen Lebens, das über Äonen von Generationen geschult, getestet, weiterentwickelt und immer wieder bewahrheitet worden ist. In der Tiefe unseres Geistes (ein Bild, das Buddha vor knapp 2500 Jahren in zeitloser Gültigkeit geschaffen hat) herrschen wie in einer Meerestiefe Ruhe, Stille, Gleichgewicht, Harmonie. Diese Ruhe und Tiefe unserer selbst erreichen wir und nehmen sie wahr, sobald wir die Inhalte unseres Bewusstseins (all die „Wellen“ des Alltag sowie damit umherstrudelnde Gedanken, Gefühle, Sinnenreize etc.) vom Bewusstsein als Medium all dessen (das „Meer“) zu unterscheiden verstehen. Unser Kern-Selbst – der „Edle Kern“ unseres Wesens – bleibt als Mittel-, Dreh- und Angelpunkt des Bewusstseins – gleichsam die Meerestiefe – unberührt von den Unruhen unserer Gedanken, Gefühle und Sinne. Und all die Beispiele von Menschen und ihren alltäglichen Schicksalen, von denen ich Ihnen bisher berichtet habe, sollten zudem deutlich gemacht haben, dass wir alle diesen inneren Kompass haben, der uns zeitlos den Weg dorthin weist, wo es still und friedvoll ist und wir die innere Freude, Liebe und Hingabe erleben können, die uns mit uns selbst und anderen Menschen versöhnt. Die Gelassenheit ist oftmals ein Akt nach der Angst – eine Erfahrung hinter der Grenze –, was uns bewusst macht, wie getrennt und isoliert wir für gewöhnlich von uns selbst und von Menschen und Dingen sind und wie sehr wir mit jedem Versuch, uns die Menschen und Dinge und uns selbst vorzustellen und umgänglich oder abweisend zu machen, doch immer nur auf unsere eigenen Filme von ihnen stoßen. Gelassen wird, wer sein Kopfkino als Isolationsabwehr erkennt und das Licht der Bewusstheit einschaltet. Bevor wir uns einige Regeln gelassenen Handeln vergegenwärtigen, lassen Sie uns kurz noch einmal den hierzu erforderlichen Gelassenheitsmuskel näher anschauen. Zu wissen, wo das Werkzeug liegt und wie es zu bedienen ist, lässt uns zuversichtlicher die Baustelle betreten. Der betreffende Neuronenverbund arbeitet im Stirnbereich ungefähr dort, wo der innere Augenbereich unter der Gehirnmasse liegt, wird mittlerer Präfrontalkortex (sinngemäß: im vorderen Teil der Gehirnfront liegend) genannt und lagert, von oben betrachtet, zwischen unseren Schläfenseiten. Von hier aus werden wir fähig, innezuhalten, wenn Ängste, Sorgen, Ärger, Wutimpulse oder Depressionen unsere Gemüter in Aufruhr oder Verzweiflung bringen. „Dies ist im Gehirn die Grundlage für Gleichmut und Gelassenheit – die Fähigkeit, angesichts sowohl innerer wie äußerer Stürme klar und konzentriert zu blieben“ (Siegel 2010a, Die Alchemie der Gefühle, S. 61). Weshalb ist dieser Gehirnteil überhaupt zu solchen Steuerungen in der Lage? Weil hier Gamma-Aminobuttersäure produziert wird, ein Neu­ rotransmitter, „der eine wichtige Rolle bei der präfrontalen Hemmung

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subkortikaler Feuerungsmuster spielt (und deren) limbische Ausbrüche zügeln kann“ (Siegel, ebd., S. 62). Daniel Siegel nennt solche neuronal-chemischen Gelassenheitsschleifen unseres mittleren Präfrontalkortex „Gaba-Soße“, die wir gleichsam über die Angstimpulse der Amygdala „schütten“ können (Siegel, ebd.). Als ich das gelesen habe, hat in mir eine Art Sportsgeist der Zuversicht gezündet. Wir trainieren durch regelmäßige Übungen unseren Geist, um Ängste überwinden, Impulse kontrollieren sowie in uns einen „Zufluchtsort“ entfalten zu können, von dem aus wir im „Gewahrsein“ all das zu beobachten in der Lage sind, was uns andernfalls leicht an den Haken nimmt (Siegel, ebd., S. 160). Unser Vermögen, bewusst unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, verleiht uns die Kraft, die Feuerungsmuster des Gehirns zu lenken und dadurch von Stressreaktionen, Grübelzwängen, Sorgen, Ärger oder Befürchtungen Abstand zu nehmen. „Geistige Aktivität regt das Feuern im Gehirn ebenso an, wie dieses Feuern geistige Aktivität hervorruft“ (Siegel, ebd., S. 77). Wollen wir also unser Gehirn wie einen Muskel in den Griff kriegen, damit es uns nicht mehr unbeherrscht in den Griff bekommt, so ist es hilfreich zu wissen, wie das Gehirn funktioniert und wozu es in der Lage ist, also wie wir unser intelligentes Instrument gleichsam sich selber anwenden lassen. Daniel Siegel klappt uns diesen Werkzeugkasten der Neuronen funktionsspezifisch wieder auf. Ich möchte Ihnen Siegels wissenschaftliche Erläuterungen ausführlich zitieren, weil seine Prägnanz Ihnen eine gleichsam organische Technik zur Gelassenheit hinter den Kulissen unserer Illusionswelt widerzugeben vermag. Es mag wie der Schaltplan eines Motors anmuten, den wir Laien im Detail zwar nicht so ganz verstehen, der uns jedoch aufzeigt, dass hier die Dinge geregelt wirken und von uns zumindest tendenziell beherrschbar vor sich gehen. Es sei noch einmal daran erinnert: Was wir benennen können, können wir zähmen – to name is to tame –, ein Mantra gelassenen Lebens. Hinter unserer Stirnwand, werden wir gleich lesen, regulieren, kontrollieren und koordinieren die mittleren Bereichen unseres Präfrontalkortexes unsere Körperimpulse, Gedankenwelten und Gefühlsregungen. Was wir als „unsere Welt“ zu erkennen vermeinen  – hier sitzt die Schaltstelle des Wie. Hier erfolgt: 1. „die Körperregulation dadurch, dass Brems- und Beschleunigungsfunktionen koordiniert und ausgeglichen werden. 2. Abgestimmte Kommunikation beinhaltet die Koordination des geistigen Inputs mit dem eines anderen Menschen. Dieser Resonanzprozess findet unter Einbeziehung der mittleren Präfrontalbereiche statt.

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3. Emotionale Ausgeglichenheit impliziert, dass die affekterzeugenden limbischen Bereiche genügend Aktivierung erfahren, um dem Leben Vitalität und Sinn zu verleihen, diese aber nicht so stark ist, dass das Leben chaotisch wird. Die mittleren Präfrontalregionen haben die Fähigkeit, das limbische Feuerverhalten durch den starken bidirektionalen Fluss zwischen der subkortikalen limbischen Regionen und der mittleren Präfrontalregion zu überwachen. 4. Reflexionsflexibilität ist die Fähigkeit, vor dem Handeln innezuhalten. Ein solcher Prozess erfordert die Bewertung der aktuellen Stimuli, die Verzögerung der Reaktion, die Auswahl aus einer Vielzahl möglicher Optionen und die Initiation einer Handlung. 5. Empathie scheint auf den inneren Verschiebungen zu beruhen, die durch die Resonanzschaltkreise zustande kommen, bei denen limbische und ­körperliche Veränderungen dann initiiert werden, wenn wir die Signale einer anderen Person wahrnehmen. Als Nächstes scheinen die mittleren Präfrontalregionen die Interozeption (Wahrnehmung von Innenreizen) zu nutzen, also den Input dieser subkortikalen und körperlichen Gegebenheiten in die mittlere Präfrontalregion über die Inselrinde. Die Daten werden dann einer Interpretation unterzogen, und diese Bewertung wird einem anderen als Form emphatischer Vorstellungskraft dessen zugeschrieben, was sich möglicherweise in seinem Inneren abspielt. 6. Einsicht oder sich selbst kennendes Gewahrsein verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander. Der mittlere Präfrontalkortex hat Input- und Outputfasern, die in viele Bereiche hineinreichen. In diesem Fall betreffen sie die kortikalen Repräsentationen des autobiografischen Gedächtnisspeichers und das limbische Feuerverhalten, das den Themen unseres gegenwärtigen Bewusstseins, unserer Lebensgeschichte und unseren Bildern von der Zukunft eine emotionale Struktur verleiht. 7. Angstmodulation könnte durch die Ausschüttung des hemmenden Neurotransmitters Gammaaminobuttersäure (GABA) in die unteren, für die Angst zuständigen limbischen Bereiche, wie die zahlreichen Kerne der Amygdala, erfolgen. Auf diese Weise könnte Angst limbisch erlernt werden, doch das Ablegen der Angst könnte durch ein Wachstum der mittleren Präfrontalfasern erfolgen, die jene Angst zu modulieren vermögen. (Hierzu siehe Abb. 5.1 gescannt). 8. Intuition scheint das Registrieren des Inputs aus den informationsverarbeitenden neuronalen Netzwerken zu beinhalten, die unsere inneren Organe umgeben, zum Beispiel Herz, Lungen und Darm. Die Weisheit unseres Körpers ist also mehr als eine poetische Metapher. Sie ist ein neuronaler Mechanismus, durch den wir über die PDP (parallel distributed processing),

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Cingulärer Cortex Orbitomedialer Präfrontalkortex Hypothalamus Inselrinde Hippocampus Amygdala

Abb. 5.1  Die Strukturen unseres sozialen Gehirns

die um diese Hohlorgane herum stattfinden, einen tiefen Zugang zum Wissen unseres Körpers erlangen. Der entsprechende Input wird im mittleren Präfrontalkortex registriert und beeinflusst dann unsere Schlussfolgerungen und Reaktionen. 9. In Studien hat sich herausgestellt, dass Moral (im Sinne von moralisches Empfinden und Verhalten) ebenfalls durch den mittleren Präfrontalkortex vermittelt wird. Moral lässt sich wohl dadurch charakterisieren, dass man das größere Bild in Betracht zieht, dass man sich vorstellt, was das Beste für das Ganze ist, und nicht für einen selbst (selbst wenn man allein ist). Es hat sich gezeigt, dass Schädigungen der mittleren Präfrontalregion zu Beeinträchtigung im Moralempfinden und damit zu amoralischen Verhaltensweisen führen“ (Siegel 2010b, Das achtsame Gehirn, S. 69 ff.). Mit diesem Einblick in Daniel Siegels neurologische Analyse und unsere Fähigkeit, emotionale Impulse regeln zu können, dürfte eines klar geworden sein: Die Weisheit, innerlich Abstand nehmen zu können, liegt in unserer Natur: Selbststeuerung als Selbstabstandstraining. Ihre Achtsamkeit können Sie trainieren, wie Sie Ihre Zähne morgens regelmäßig sauber halten. Und je öfter Sie Ihr Gehirn darin schulen, umso leichter

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gelingt Ihnen der innere Abstand zum Hypnose-Mechanismus Ihres Erlebens. Egal, ob Sie ein angenehmes oder unangenehmes Erlebnis hierzu wählen, Sie können sich immer folgende Fragen stellen, während Sie die Situation oder Ihren inneren Zustand erleben: • Was passiert gerade – hier und jetzt? • Wie fühlt sich mein Körper an? Welche Empfindungen nehme ich wahr? • Welche Gedanken oder Bilder (Fantasien) gehen mir bei diesem Erlebnis durch den Kopf? • Welche Stimmungen und Gefühle begleiten mein Erlebnis? Ich möchte solche Augenblicke zum inneren Reflexionstraining das Heilige Innehalten nennen, das mitunter nur wenige Sekunden dauert kann, doch eben auf Dauer nachhaltig Ihren Achtsamkeitsmuskel aufbaut. Sie schulen hiermit Ihre „Selbstregulierungstechnik“, indem Sie Ihre Gefühle, Bilder, Gedanken oder Körperempfindungen schlichtweg nur benennen (z. B. „Da spüre ich Wut; hier tauchen Sorgen auf; dort empfinde ich Anspannung; jetzt fühle ich Freude; ich spüre Liebe …, Angst …, Ärger … etc.“). Mit diesen von Geschichten und Interpretationen („Weil Meyer mich nicht mag, bin ich traurig aufgrund meiner Abhängigkeit von Anerkennungen …“) befreiten Benennung dessen, was im Augenblick gerade da ist, gewinne ich Abstand zu den betreffenden emotionalen, gedanklichen oder körperlichen Prozessen. Ich erhebe mich über das, was in mir passiert, achtungsvoll zum eigenen CEO (chief emotional officer). Nicht sogleich auf jeden Impuls zu reagieren, ist keine Schwäche, sondern Stärke, ist Vergebung, ist Hindurchschauen in die geistige Gesundheit eines jeden Menschen – in die Meerestiefe unterhalb alltäglicher Wellenkämme. „Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass das Benennen von Gefühlen die Aktivität im rechten ventrolateralen präfrontalen Cortex (rVLPFC) erhöht, der im Allgemeinen als ‚Bremspedal des Gehirns giltʻ“, sekundiert Chade-Meng Tan in seinem wunderbaren Buch „Search inside yourself“ die Ergebnisse Siegels. „Dies wiederum steigert die Aktivität im sogenannten medialen präfrontalen Cortex (MPFC), einem Teil des Steuerzentrums des Gehirns, der daraufhin die Aktivität der Amygdala he­ runterfährt“ (Tan 2012, S. 47). „Diese Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Achtsamkeit es Ihrem Gehirn ermöglicht, einen größeren Teil der vorhandenen Schaltkreise zu nutzen, was seine Effektivität im Umgang mit Gefühlen erhöht“ (Tan, ebd.). Gedanken, Gefühle und Empfindungen lösen sich im Fokus Ihrer Achtsamkeit wie von selbst auf. Sind Sie wütend, ärgern oder ängstigen Sie sich oder spüren Sie Aufregung oder Selbstzweifel, dann richten Sie Ihre

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Konzentration achtsam auf genau die Körperregion, wo Ihre Gefühle in dem Augenblick wirksam sind. Ihre Achtsamkeit aktiviert damit eine auflösende Wahrnehmung, indem Sie das, was gerade in Ihnen körperlich als Emotion entsteht und da ist und dann auch schon wieder vergeht, einfach nur beobachten, annehmen und benennend geschehen lassen. Die amerikanische Psychologin Kristin Neff, deren Konzept des Selbstmitgefühls bahnbrechend für die Praxis der Achtsamkeit geworden ist, rät uns hierzu: „Statt sich von Ihren problematischen Emotionen davontragen zu lassen, tragen Sie Ihre problematischen Emotionen zu einem besseren Ort. Sie können bei ihnen verweilen, sie akzeptieren und sich selbst Mitgefühl entgegenbringen, wenn Sie sie fühlen. Und das Erstaunliche dabei ist, dass Sie sich auf nichts und niemanden verlassen müssen, sondern sich dieses Geschenk selbst machen können“ (Neff 2012, S. 137). Denn: „Das Schöne am Selbstmitgefühl ist, dass dabei nicht einfach negative Gefühle durch positive ersetzt, sondern positive Emotionen erzeugt werden, indem man die negativen annimmt.“ (Neff, ebd., S. 155) Auch lösen Sie damit die Aversionen des Grübelns, Brütens und Ärgers auf, der Nervosität und Angst, Ihrer Sorgen und Befürchtungen. Bei diesem gelassenen Gewahrsein „gewinnt“ im „neuronalen Wettbewerb“ zur analytisch denkenden linken Gehirnhälfte in dem Augenblick, wo Sie innehalten und akzeptierend beobachten, die ganzheitlich fühlende rechte Gehirnhälfte als die Körperlandschaftshälfte unseres Geistes. Probieren Sie das am besten einmal aus, sobald Gefühle in Ihnen losfeuern: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit achtsam auf die jeweiligen Körperregionen, atmen bewusst tief in diese betreffenden Stellen, nehmen bewertungsfrei an, was da ist, und verweilen dort präzise konzentriert und in reiner Beobachtung. In der Neuropsychologie bedeutet dies „eine funktionale Verschiebung weg von sprachlichen und gedanklichen Fakten und hin zu nonverbalen Bildern und somatischen Empfindungen der rechten Hemisphäre“ (Siegel 2010b, Das achtsame Gehirn, S. 75). Hierdurch trainieren Sie Ihre Impulskontrolle gegenüber inneren Reizen, Ihren Toleranzmuskel für schwierige Gefühle, Ihre unbeirrbare Konzentrationsfähigkeit sowie Ihren Gleichmut für etwas, das nur Ihren linksseitigen Verstand kirre macht, Sie selbst aber gelassen sein lässt. Unser Gehirn ist in der Lage, qua „Geist“ oder Bewusstsein die Energie und Information im Gehirn zu beobachten, ihrer gewahr zu werden. Und nicht nur das: Auf diese beobachteten Daten (Bilder, Impulse, Gefühle, Stimmungen etc.) kann der Geist aktiv einwirken und die „Richtung des Flusses“ beeinflussen (Siegel 2010a, Die alchemie der Gefühle, S. 98). Schon Nietzsche hat den bewussten Reiz-Abstand als ein geistiges Prinzip beschrieben und daraus eine Übung zur Gelassenheit formuliert:

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„– Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-­herankommenlassen angewöhnen; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehen und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagieren, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: Das Wesentliche daran ist gerade, nicht zu ‚wollenʻ, die Entscheidung aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten  – man muss reagieren, man folgt jedem Impulse. In vielen Fällen ist ein solches Müssen bereits Krankheit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, − fast Alles, was die unphilosophische Rohheit mit dem Namen ‚Lasterʻ bezeichnet, ist bloß jenes physiologische Unvermögen, nicht zu reagieren“ (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 108). Gesund bleibt, wer innehält und dazu bereit ist, es beabsichtigen zu wollen. Mit Nietzsche haben wir die Frage zu beantworten, ob wir das wollen und wollen können.

5.2 Wem der Mut zur eigenen Stunde schlägt Wenn es nichts gäbe, womit wir täglich fertig werden müssten, fühlte sich unser Leben leer an. Gerade die schwierigen Momente des Alltags können Augenblicke unseres Erwachens und einer Heimkehr zu uns selber sein. Angenommen, Sie müssten ins Ungewisse hineinspringen, weil Ihr Verstand keine Erklärung parat hat, dann springen Sie einfach. Es wird immer etwas da sein, das Sie auffängt. Und rückblickend, das bestätigen immer wieder Menschen, die es gewagt haben, werden Sie froh sein, es ebenso getan zu haben, vertrauend in eine Kraft, die erst an Grenzen in Ihnen auflebt. Hierzu müssen wir jeden Tag offen bleiben für den ewigen Kampf zwischen „Gott und Teufel“ in uns, zwischen all den Ambivalenzen von Gehorsam und Autonomie, von Zweifeln und Wagemut, von Befürchtungen und Zuversicht. Laufen wir vor Situationen fort, die uns ängstigen oder in Panik versetzen? Nein, das tun wir nicht. Wir laufen vor unseren Gefühle weg, ausgelöst durch Reizimpulse in den jeweiligen Situationen, weil unser Verstand darauf konditioniert worden ist. Wir sind drauf und dran, „negative“ Gefühle abzulehnen oder zu vermeiden. Hier schlägt der Mut zur eigenen Stunde, nämlich nicht zu fliehen, sondern dabei zu bleiben. Lernen wir, dranzubleiben und uns in dem, was wir fühlen, auszuhalten und einfach bei unseren Empfindungen zu verweilen und damit selbst gegenüber standzuhalten, kehrt der Innere Friede und mit ihm Gelassenheit in unser Bewusstsein zurück. Diese Ruhepole sind, Sie erinnern sich an das Bild von der Tiefe des Ozeans und seinen wirbelnden

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Wellen, in unserer Mitte immer vorhanden. Uns wird bewusst, dass wir immer mehr und „reicher“ sind, als „nur“ diese aufwühlenden Gefühle zu haben. „Das ist das Seltsame bei der Panik: Wenn man ‚dabeibleibtʻ, lockert sie ihren Griff. Die Kraft der Reflexion erlaubt uns, auf alles zuzugehen, was uns das Leben bringt, statt uns zurückzuziehen. Und wenn wir lernen, bei einem Gefühl zu bleiben, ihm Zeit des Gewahrseins zu schenken, dann entdecken wir, dass Gefühle – auch sehr starke und bedrohliche – zuerst aufsteigen und sich dann auflösen, wie Wellen, die vom Strand ins Meer zurückfließen. Panik ist einfach nur ein weiteres Gefühl, ein neuronales Feuerungsmuster im Gehirn. Lernen, offen zu bleiben und bei diesem oder irgendeinem anderen Gefühl zu bleiben, ist nicht leicht, aber ein wesentlicher Schritt, um den Zaun der Abwehr zu überwinden“ (Siegel 2010a, Die Alchemie der Gefühle, S. 216). In solchen Augenblicken können wir den Reichtum unseres Selbst erfahren, der so viel mehr sein kann als das Gefühl, vor dem wir fortlaufen wollen bzw. das Gefühl, das wir zu halten und bewahren wünschen, indem wir vor Turbulenzen Reißaus nehmen. Unsere eigene Stunde erfordert den Mut, uns selbst auszuhalten in dem, was unsere gewohnte Selbsterfahrung übersteigt und uns trotzdem ausmacht. Die Utopie der Angstfreiheit leuchtet hier als Vision auf. Alle unsere bisherigen Muterfahrungen können zur Navigation unserer weiteren Persönlichkeitsentwicklung dienen und uns helfen, immer wieder neue Fixsterne am Sehnsuchtshimmel zu justieren und dazu erneut Wagnisse einzugehen. Angstfreiheit jedoch meint hier mitnichten, keine Angst mehr zu haben, sondern frei zu sein von der Angst vor der Angst, die uns stets wird begleiten können. Wer hier klein beigibt und im Komfortzonen-­ Sektor seine Routinen pflegt, vermeidet und verfehlt womöglich für immer die Expeditionsschätze seiner selbst. Und unsere Erfahrung beweist es immer wieder, wir besitzen und finden im Angesicht unserer Selbst-Wagnisse das rettende Seil über den Abgründen unserer Angst in uns selbst. Wem der Mut zur eigenen Stunde schlägt, der kann sich beispielsweise mit dem „Atem-Griff“ (s. hier S. 165, 184) vom Gedankensog aus Sorgen und Befürchtungen abseilen und innerlich ins Lot sichern. Wer sich auf seinen Atem konzentriert in Augenblicken, wo Angstgedanken im Kopfkino verrücktspielen, gelangt zur „Nabe des Geistes“ zurück, zu einem „offenen, empfänglichen Zustand des steuernden und selbstberuhigenden Präfrontalkortex“ (Siegel, ebd., S. 217). So können wir gedankliche oder emotionale Barrieren, ganz im Sinne einer geistigen Fitness, zu mentalen Barren der eigenen Selbstüberwindung transformieren. Der Mensch ist sich selbst, gemessen an Routinen des Alltagsdenkens, das größte Risiko mit dem, was er an Größe, Kraft und Wachstumspotenzial in sich trägt (s. Abschn. 2.2). Daraus resultieren für den Menschen, so Assagioli, eine „Furcht vor der eigenen Größe“, das „Vermeiden seines Schicksals“ oder

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auch das „Weglaufen vor der eigenen besten Begabung“ (Assagioli 1998, S.  109). Diese angstgesteuerte Vermeidungskultur im Dienste eines Komfortzonen-Daseins gebiert häufig begleitende Trancezustände aus Selbstzweifeln, Konfliktszenarien, Depressionstiefen, Verlustsorgen, Rivalitätsoder anderen Konsequenzängsten, die wir meist als „Preise fürs Bravsein“ zu zahlen haben für unsere wissentlich unterlassenen Wagnisse neuer Chancen. „Für die meisten von uns ist es gewiss möglich, größer zu sein, als wir tatsächlich sind. Wir alle haben ungenutzte oder nicht voll entwickelte Möglichkeiten. Es ist sicher wahr, dass viele von uns den durch unsere Konstitution angedeuteten Berufungen ausweichen … So oft laufen wir von den Verantwortungen weg, die von unserer Natur, unserem Schicksal, oder manchmal sogar durch Zufall diktiert (oder eher suggeriert) werden“ (Assagioli, ebd.). Sich selbst hier standzuhalten in dem, was unsre inneren Kräfte ermöglichen und wirklich werden lassen könnten, kann weh tun. For whom the bell tolls – Suchen Sie den Schmerz auf, sobald das Signal der Herausforderung ertönt, sobald Sie spüren: Hier muss ich handeln, auch wenn ich Angst habe. Schreiten Sie wie der Boxer oder die Boxerin zur Ringmitte, ohne lange nachzudenken, ohne zu zögern, ohne grübelnd innezuhalten. Üben Sie sich mit jedem Signal, das Sie in Gestalt von Zweifel, Angst, Ungewissheit oder Nervosität in sich spüren, den Schmerz aufzusuchen und ihn anzunehmen wie eine Art mentalen Blutkreislauf, der überhitzt ist. Sich selbst auszudrücken, ohne nervös darüber nachzugrübeln, was andere wohl über uns denken mögen, gilt seit dem Altertum als Grundeigenschaft des Universums. Wer voll und ganz zum Ausdruck bringt, was sie oder er denkt und fühlt oder sich wünscht, harmoniert mit dem universalen Gesetz der Verbindung mit sich selbst und anderen. Und diese Entschlossenheit benötigt den Mut zur eigenen Stunde.

5.3 Das schwirrende Lasso der Sprache loslassen „Weisheit erkennt, welche Gefühle präsent sind, ohne sich in ihnen zu verlieren.“2 Matthias Ennenbach

In Beratungen erlebe ich es immer wieder, wie selten Menschen zum Stift (oder der Tastatur) greifen, um schreibend über sich selbst klar zu werden, und wie hilfreich, wohltuend oder emotional berührend sie es erleben, wenn  Ennenbach 2011, S. 359.

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das Coaching, und sei es nur für Minuten, sie dazu einlädt. Das persönliche Schreiben über Erlebtes oder Gelesenes haben schon die Griechen als eine therapeutische Funktion etabliert, die uns hilft, unsere Wahrheit in das persönliche Ethos einer Haltung zum Leben zu überführen (Foucault 2007, S. 139 ff.). Wir kreieren mit dem, was wir aufschreiben, eine Sicht auf uns und die Welt, die weniger etwas mit objektiver Wahrheit zu tun hat, sondern mit einer Schriftoptik, mit der wir unsere Energien bündeln. Wer seine Gedanken und Gefühle, die durch Erlebtes (oder Gelesenes) ausgelöst worden sind, aufschreibt, ohne sie sogleich wieder erklären und in Deutungsmuster verpacken zu wollen, erfährt die Ruhe der inneren Distanz zu eigenen Gedanken- und Gefühlstreiben. Worte dienen hierbei nicht der Objektivität („So ist das!“), sondern einer Art Fokus zur Achtsamkeit („So erlebe ich das!“). Benennen beruhigt. Zugleich gewinnen wir schreibend einen Standpunkt, der uns Halt geben kann und unserer „Haltung zum Leben“ mentale Deckung gibt im Sperrfeuer der Umweltreize. Versetzen wir uns noch einmal kurz zurück in jene Zeit des griechischen Altertums, in die Jahrhunderte um den Beginn unserer Zeitrechnung herum. Was ist da mit dem Denken und Schreiben der Philosophen über des Menschen Leben entstanden? Etwas seither Unsterbliches: die Geburt unseres Selbst als geistiges Lebenszentrum, das in den Wonnen und Wirren seiner individuellen Geschichte es selbst bleibt. Die Griechen haben, indem sie über sich zu anderen schrieben, einen Reflexionskern wie die Mitte eines Zirkels gestaltet, auf den hin das Leben am Radius, selbst das Innenleben einer Person, in Bezug gesetzt wird – denkend und schreibend. Hier liegt der Dreh- und Angelpunkt einer gelassenen Sicht auf das, was in und um uns herum geschieht. Schreiben Sie auf, was Sie bewegt, und Sie sehen klarer auf das hin, was Sie ausmacht. Mit unseren Schreibübungen (siehe unten), und die Griechen haben uns das vorgemacht, kreieren wir unsere je eigene Einsicht und Wahrheit zu Bestandteilen unserer selbst, zur Konstitution des Selbst, zur Herstellung einer angemessenen und vollkommenen Beziehung zu uns selbst. Schreibend legen wir einen Schatz an Erlebtem, Bedachtem und Gelesenem an und verdauen so unsere je eigene Kost – wir überführen das, was wir schreiben, nicht nur ins Gedächtnis, das uns mit jedem neu Erlebten ausmacht, sondern transformieren es zum Wesen unserer selbst. Die Fähigkeit, beispielsweise einem Gefühl, das uns beunruhigt, einen Namen zu geben, hilft, uns aus der Unmittelbarkeit zu erheben und unseren Werten und Zielen entsprechend anders darauf zu reagieren. Worte befreien, indem sie unserem Bewusstsein einen Abstand (nicht Widerstand) ermöglichen zu dem, was uns gerade bewusst wird. Worte sind hier die selbstzentrierten Horizontlinien unserer Erkenntnis und keine „objektiven“ Wahrheiten.

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Denn kann nicht jede Kommunikation zum Risiko werden? Ist nicht sogar jedes Selbstgespräch mit einem Unsicherheitsfaktor beseelt? Und zwar dann, wenn wir die Sprache, das Wort, den Gedanken als Sicherheitsgaranten ­missverstehen und verkennen, dass das schwankende Band zwischen uns und den Worten und Symbolen immer nur als lose und vorübergehende Verknüpfung begriffen werden kann. Im Zen-Buddhismus gibt es hierfür eine Metapher, wonach der Finger, der zum Mond weist, nicht der Mond ist. Hierzu empfehle ich Ihnen folgende Anleitung zur Selbsteinschätzung durch das Tagebuchschreiben (angelehnt an Chade-Meng Tan „Search inside your­self“):

Selbsteinschätzung durch das Tagebuchschreiben Vorbereitung Bevor Sie mit dem Tagebuchschreiben beginnen, bereiten Sie sich geistig darauf vor. Denken Sie zwei Minuten über eine oder mehrere Situationen nach, in denen Sie positiv auf eine Herausforderung reagiert haben und das Ergebnis äußerst zufriedenstellend für Sie war. Sie hatten das Gefühl, Ihre Sache gut gemacht zu haben. Falls Ihnen mehr als ein Beispiel einfällt, achten Sie darauf, ob Zusammenhänge oder Muster erkennbar sind. Gönnen Sie sich nun ein paar Sekunden, um geistig zu entspannen. (30 Sekunden Pause) Schreiben Themenvorschläge (zwei Minuten pro Thema): • Es macht mir Freude … • Meine Stärken sind … Vorbereitung Denken Sie nun zwei Minuten über eine Situation nach, in der Sie negativ auf eine Herausforderung reagiert haben und das Ergebnis nicht zufriedenstellend für Sie war. Sie hatten das Gefühl, Ihre Sache nicht gut gemacht zu haben, und Sie wünschten, Sie könnten etwas daran ändern. Falls Ihnen mehr als ein Beispiel einfällt, achten Sie darauf, ob Zusammenhänge oder Muster erkennbar sind. Gönnen Sie sich ein paar Sekunden, um sich geistig zu entspannen. (30 Sekunden Pause) Schreiben Themenvorschläge (zwei Minuten pro Thema): • Es stört mich … • Meine Schwächen sind … Nehmen Sie sich anschließend ein wenig Zeit und lesen Sie, was Sie an sich selbst geschrieben haben.

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Mit der Kapitel-Metapher „Das schwirrende Lasso der Sprache loslassen“ meine ich genau das: Sobald Sie achtsam aus Ihrem gegenwärtigen Augenblick heraus schreiben, was Sie erleben, was Sie wahrnehmen, sehen, hören, riechen oder fühlen, was Sie mögen oder meiden, was Sie stärkt oder schwächt, achten Sie auf das, was Sie gerade schreiben, und sind präsent in dem, was Sie tun. Sie lassen Ihren Worten freien Lauf, folgen ihnen bewusst und lösen sich vom abstrakten Automatismus Ihres Verstandes mit all seinem Grübeln, Planen, Befürchten, Vergleichen und Bezweifeln. „Wir sind Sklaven der Grammatik“, warnt uns Nietzsche. Wir tappen laufend in die Fallen der Semantik. Und die Neurobiologie sekundiert: Wir hängen, wenn es sprachlich zugeht, in den Strängen der Neuronen fest. Aus deren Forschungen wissen wir sodann: Die zu einer gelassenen Lebenshaltung hilfreichen Konstruktionsmuster bietet die rechte Gehirnhälfte mit ihren analogen, bildlichen und emotionalen Strukturelementen an. Dazu hilft Ihnen das „Tagebuchschreiben“, um sinnlich, bildlich und emotional einen freien Ausdruck zu gewinnen. Beispielsweise „arbeitet“ Ihr Geist, wenn Sie emotional schreibend die rechte Gehirnhälfte aktivieren, mit dem „und“-Modus, der verbindet, und einer „Sowohl-als-auch“-Haltung, die Unterschiede oder Gegensätze gleichberechtigt zulässt. Hier trennen Sie nicht, weil das, was Sie fühlen und beschreiben, jenseits von richtig und falsch und dem Entweder-­ oder der verstandeslastigen linken Gehirnhälfte liegt (Siegel 2010a, Die Alchemie der Gefühle, S. 172). Umgekehrt überlegen Sie einmal, in welchen Situationen Sie unruhig, genervt oder verärgert waren, eben weil Sie sich haben „versklaven“ lassen durch die Grammatik eines „Entweder-oder“ der linken Verstandeshemisphäre. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich; ich will Harmonie, da kann ich nicht konfrontieren; wenn Du das nicht machst, bist Du …; ich kann andere Menschen nicht ansprechen, weil ich Angst habe; weil ich mich schwach fühle, bin ich nicht stark genug für …“ (etc.). Wer so zwischen den Stühlen seines Alltags hängt und glaubt, immer nur den einen wählen zu können und den andern abwählen zu müssen, klemmt zumeist im „Entweder-oder“ fest. Eine Sprachfalle! Da heraus führt die Haltung der Koexistenz, des Miteinander- oder Verbundenseins. Ich kann sowohl Angst haben als auch gleichzeitig damit Menschen ansprechen; mein Kollege kann etwas „gegen“ meinen Willen tun und gleichzeitig für meine Person „sein“; ich kann mich schwach fühlen und trotzdem etwas tun; mein Harmoniestreben ist vereinbar mit kritischen Aussprachen gegenüber Mitarbeitern, ich bin sowohl als auch … Die Sprache suggeriert Trennung, Ausschluss oder Unvereinbarkeit, wo Verbindung, Gleichzeitigkeit oder Ergänzung möglich ist. Das heißt nun

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keineswegs, was im Denken links passiert, ist schlichtweg abträglich für die gelassenen Balance-Module der rechten Gehirnhälfte. Hier haben nämlich auch die heftigen Gefühle ihr Revier, und wenn es da in uns turbulent zugeht, weil die Neuronen emotional feuern, verbrennen wir uns mit gelassenen Sprechverbindungen leicht die Finger. Da helfen uns vielmehr die Trennwerkzeuge der linken Gehirnhälfte, deren Sprachaktivität uns Abstand verschaffen kann vom Wirbel der Gefühle im rechten Revier. Drum macht es „Sinn“, erkennt Daniel Siegel, „dass die Verknüpfung des rechten und linken Modus dank der linkshemisphährischen Sprachfunktion das nötige Gleichgewicht herzustellen vermag“ (Siegel 2010a, Die Alchemie der Gefühle, S. 183). Mit Worten können wir uns verbinden oder distanzieren, je nachdem. So haben neurologische Tests ergeben, „dass schon die Benennung eines Affekts das limbische Feuern eindämmt. Manchmal muss man das Gefühl ‚benennen, um es zu zähmenʻ (name it to tame it). Wir können die linken Sprachzentren dazu einsetzen, die allzu stark feuernden rechten emotionalen Bereiche zu beruhigen. Doch auch hier liegt der Schlüssel darin, links mit rechts zu verbinden und nicht etwa, das eine Ungleichgewicht durch ein anderes zu ersetzen“ (Siegel, ebd.). Gelassen bleiben wir, sobald wir das „Schubladendenken“ unseres Hip­ pocampus reflektieren, dieses lautlose Auf-und-zu, mit dem dieser Gehirnteil zwischen Außenwelt, Innenwelt und Mandelkerngefühlen die uns bewusst werdende Wirklichkeit in bekannt/unbekannt einsortiert. Wir sollten die „Selbstzensur des Hippocampus“ (Warnke 2012, S. 56) samt Regalen, Fächern und Schlössern streckenweise über Bord werfen können und ein „stimulierbares Jenseitsmodul“ (ebd.) aktivieren, mit dem wir jenseits von all den Trennungen des Verstandes und seiner Logiken eine uns allen immanente universelle Energie anzapfen. Von hier aus gelingt es uns, das ‚Lasso der Sprache‘ loszulassen und mitzuschwingen mit einer natürlichen Energie in uns, die pragmatisch so verfügbar ist wie der Strom für das Licht unserer Zimmerlampe.

5.4 R  aum und Zeit schaffen Distanz und Gelassenheit Gelassenheit hat viel mit unserem Zeitgefühl (Zeit als gefühlter Gedanke) zu tun. Früher warteten wir wie selbstverständlich auf eine Briefantwort geschlagene zwei, drei Wochen und blieben ruhig. Ich erinnere mich noch (heute gerne) an meine allmorgendlichen Gänge zum Briefkasten, von denen ich

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tagelang ohne die erhoffte Post in meinen Händen zurückgekehrt war. Heute? Kommt einmal eine E-Mail-Antwort nicht sofort zurück, können schon zwei, drei Tage (für viele Manager sind es bereits die Stunden) zur Tortur werden. Wie lang kommen uns doch diese Warte-Tage vor, weil unser Zeitgefühl durch die gewohnten Sprints der Geschehnisse allein innerhalb eines Tages so viel an aufzuspeichernden Reizen umfasst wie früher das Zeit-Gefühl einer ganzen Woche. Dabei tragen wir unseren subjektiven Zeitrhythmus knapp unterhalb unserer Uhren, innen am Handgelenk, direkt am Puls. Versuchen Sie einmal, Ihre Zeitgedanken, sobald Sie Ungeduld und Sorgen aufgewirbelt haben, dadurch auszugleichen, dass Sie Ihre Fingerspitzen auf Ihren Puls legen und achtsam aufmerken. Das benötigt mitunter nur wenige Sekunden, und Sie spüren den beruhigenden Unterschied wie eine gleichmäßig pulsende Stille in der Tiefe des Meeres – fernab all der windgepeitschten Wellen Ihrer Gedanken an der Oberfläche. Nehmen Sie für diesen Tiefgang zu Ihrer eigenen Puls-Stille gerade solche Stressfaktoren wie Ungeduld, Groll, Ärger oder Sorgen als die Wachmacher-Signale Ihrer „Gedanken-Gischt“, unterhalb derer Sie die tiefe Gelassenheit Ihrer subjektiven Ruhe-Zeit spüren können, Ihren inneren Frieden, der von Gedankenwellen unberührt bleibt. So werden Sie sich im Gewahrsein Ihres Pulsschlages oder Atems Ihres inneren Lebensrhythmus bewusst, der Sie von Geburt an treu begleitet und mit Ihren Zeitgedanken und dem daraus resultierenden „Zu-knapp-zu-spätzu-­lange“-Stress so wenig zu tun hat wie eine Kompassnadel mit den natürlichen Himmelsrichtungen. Andererseits  – hier möchte ich manchen Stresswirkungen eine positive Sicht hinzufügen  – kann die innere Nervosität uns auf etwas aufmerksam machen. Unsere gelebte Zeit ist ein wichtiger Indikator für unseren Willen und das, wofür wir brennen: Womit verbringen wir die meiste Zeit – freiwillig oder unfreiwillig? Häufig entsteht innere Unruhe durch das unverschüttbare, doch eben nicht immer bewusste Gefühl, die meiste Zeit mit Dingen totzuschlagen, die nicht die Dinge des Herzens  – die keine Herzenssachen sind. Das ließe uns innehalten und fragen: Lohnt es sich, gemessen an unseren eigentlichen Wünschen und Werten, an die Decke zu gehen, weil unsre E-Mail nicht beantwortet oder der Bus verpasst wird? Unser „Problem“, das wir mit dem Kleinkram des Alltags durch verzerrte Wahrnehmungen selbst initiieren, resultiert nicht allein aus unseren zeitlichen Ver-rechnungen. Oft besteht ein „Problem“ auch in einer zu dichten Nähe unserer Sicht auf die Dinge. Sie erinnern sich noch an Bernd Gruner, den IT-Leiter eines Versandhauses (Abschn. 4.15 ff.)

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Gruner schaffte es nach konsequentem Üben, in Bruchteilen von Sekunden gedanklichen Abstand zu nehmen, etwa zum „Problem“: „Meine Sekretärin bringt mich auf die Palme, weil sie wieder meinen Zug falsch gebucht hat.“ Für solche Fälle beherzigte er Marc Aurels Kniff, entweder von einem andern Ort oder einer anderen Zeit aus das pure Faktum „Zug falsch gebucht“ zu betrachten: • Mal beamte er sich als Astronaut in eine im Weltall schwebende Kapsel hinauf und schaute auf die augenblickliche Situation lächelnd hinab. • Mal stellte er sich vor, an seinem griechischen Lieblingsstrand zu liegen oder als Weltensegler um die afrikanische Südküste zu schippern, um die Tatsache der Zugbuchung neu zu beurteilen. • Oder er fantasierte sich in sein weises Alter von 70 Jahren, um rückblickend zu überlegen, ob es sich damals, als seine Sekretärin den Zug nach München falsch gebucht hatte, gelohnt haben würde, sich derart aufzuregen. Und noch etwas anderes half Gruner, sich loszulösen von seinen Gedankenkonstrukten und innezuhalten. Hierzu hatte er gelernt, eine „Ruhe der Leere“ zu spüren, die uns allen jederzeit zugänglich sein kann, indem wir uns auf das besinnen, was die Quantenphysik mit „Essenz des Lebens“ bezeichnet. Um das zu verstehen, möchte ich einen kleinen Exkurs in die Entdeckungsreisen der modernen Physik unternehmen – hin zum „leeren Raum“ allen Lebens, wo die Stille allen menschlichen Suchens jederzeit auf uns wartet. Alle Geschehnisse unseres Lebens resultieren aus physikalischen Bewegungen von Kräften, die noch jenseits von Atomen und ihren Elementarteilchen als die essenziellen Energiequellen des Universums wirken. Als Teile des Universums macht in unseren Körpern, unseren Gedanken, Wünschen, Gefühlen und Handlungen diese Bewegungsenergie von Kräften die Grundsubstanz unseres Lebens aus. Stellen Sie sich das wie Elektrizität vor, die Ihre Schreibtischlampe erleuchtet, den ICE-Zug in Bewegung setzt oder die Stimme eines Kontinente entfernten Bekannten durch Ihr Telefon leitet. Gruner erlebte diese stille Energie jedes Mal bewusst, wenn er, statt nachzudenken und zu rationalisieren, mit seinen Mitarbeitern achtsam ins Gespräch kam und sich auf die Klangbewegungen von Worten, Gesten und Körperhaltungen konzentrierte, und zwar im Augenblick ihres Geschehens und ohne das wieder zu bewerten oder mit Gedanken an die Zukunft steuern zu wollen. „Und fast jedes Mal spüre ich, ohne dass ich’s mir vorgenommen habe, wie ruhig ich innerlich werde, wenn ich mich ganz auf meinen

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Gesprächspartner ausrichte. Da tickt draußen keine Uhrzeit mehr. Vergan­ genheit und Zukunft bleiben ausgeschaltet.“ Diese Gelassenheit verschafft uns eine „Eigenzeit“, in der wir die Augenblicke – und dauern sie nur Sekunden – nach einem selbst gewählten Rhythmus der Achtsamkeit erleben. In ihrem Buch „Eigenzeit“ schreibt die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny: „Muße ist die Übereinstimmung zwischen mir und dem, worauf es mir in meinem Leben ankommt“ (Nowotny 1993, S.  89). Und worauf es mir dabei konkret ankommt, das sagen mir meine Gefühle, die Herzsprache meiner Werte und Bedürfnisse. Bernd Gruner spürte in den Augenblicken seiner Gespräche, wie wert und wichtig es ihm war zu erfahren, was seine Mitarbeiter wirklich beschäftigte und vor allem, wie ihnen dabei zumute war, also wie es ihnen emotional dabei erging. Er gab ihnen, frei von eigenen Erwartungen und Meinungen, den Raum seiner Gegenwärtigkeit zur stimmigen Entfaltung ihrer Stimmung, die Eigenzeit ihrer Bedürfnisse und damit die nötige Distanz zur jeweiligen Gedankenmaschinerie in den Köpfen der Mitarbeiter. Geduldig geübt hatte er hierzu und immer wieder innegehalten, um dieser inneren Stille einer Lebensenergie, die uns allen eigen ist, im Kontakt mit seinen Mitarbeitern gewahr werden zu können und ihnen das Resonanzfeld eines vorurteilsfreien Verstehens zu eröffnen. Und wie hängt Gruners Erlebnis dieses Resonanzfeldes mit den quantenphysikalischen Entdeckungen zusammen? Seit Heisenbergs Quanten- und Einsteins Relativität-Theorie beweist uns die Physik, dass die Festigkeit der Materie und damit auch unsere eigenen Physis eine Illusion unseres Verstandes und seiner Weltvorstellungen ist. Unsere Körper bestehen fast gänzlich (die Physiker errechnen uns das als zu mehr als 90 Prozent) aus leerem Raum, weil die Bewegungsabstände der Atome und die Elementarteilchen, die diese Atome und damit uns ausmachen, so groß sind. Die Grundsubstanz der Materie (auch unserer Körper) besteht darin, „dass Bewegungsenergien in Masse umgewandelt werden“ (Capra, „Das Tao der Physik“, S. 285). Damit erweist sich die Essenz aller Dinge und unseres Lebens als eine Leere. Bewegung im leeren Raum, die unsere Existenz größtenteils ausmacht, ist die Bewegung unserer inneren Ruhe. Gerade wenn wir handeln und unseren Zielen entgegenstreben, sind wir zu jeder Zeit im Kontakt mit der Bewegung in diesem leeren Raum, vorausgesetzt, wir bleiben achtsam für unsere innere Teilhabe daran. Wer diese Leere im Festen, das „Nichts“ im „Etwas“ nicht nur rational begreift, sondern emotional tatsächlich erspürt, atmet durch und lässt los, bestätigt Eckhart Tolle in seinem Bestseller „Jetzt“: „Dadurch, dass du für den leeren Raum um dich herum Achtsamkeit entwickelst, entsteht in dir zugleich

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ein Bewusstsein für den Raum von No-Mind, für reines Bewusstsein, das Unmanifeste. So kann die Betrachtung des leeren Raumes für dich zu einem Portal werden. Raum und Stille sind zwei Aspekte derselben Sache, desselben Nichts. Sie sind eine äußere Darstellung von innerem Raum und innerer Stille, die Stillheit ist: Die endlose kreative Matrix für alles, was existiert“ (Tolle 2011, S. 165–166). Das zu begreifen und zuzulassen, bereitet unserem Verstand, der gewohnt ist, einzuteilen und das Leben nach seinen Begriffen in einfache Bestandteile festzustellen, seit Jahrtausenden immer noch große Schwierigkeiten. „Die neue Weltanschauung (d. Quantenphysik, K.  H.) betrachtet das Universum als dynamisches Gewebe zusammenhängender Vorgänge. Keine dieser Eigenschaften irgendeines Teils dieses Gewebes ist fundamental, sie alle ergeben sich aus den Eigenschaften der anderen Teile, und die Gesamtübereinstimmung der gegenseitigen Wechselbeziehungen bestimmt die Struktur des ganzen Gewebes“ (Capra 2000, S.  286). Für die gegenwärtige Physik „gibt es nicht nur keine Grundbausteine, sondern überhaupt keine fundamentalen Gesetze, Gleichungen oder Prinzipien“, schreibt Capra. „Damit gibt sie eine weitere Vorstellung auf, die jahrhundertelang ein wesentlicher Bestandteil der Naturwissenschaft war. Der Begriff von fundamentalen Naturgesetzen ist vom Glauben an einen göttlichen Gesetzgeber abgeleitet“ (Capra, ebd., S. 287). Das wiederum macht deutlich: Um der inneren friedvollen Leere der Lebensdinge teilhaftig werden zu können, müssen wir uns von den Vorstellungen unseres Verstandes distanzieren können. „Die Physiker erkannten, dass alle ihre Theorien über Naturerscheinungen, einschließlich der durch sie beschriebenen ‚Gesetzeʻ, Schöpfungen des menschlichen Verstandes sind; Eigenschaften unserer begrifflichen Landkarte der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst“ (Capra, ebd.). Bernd Gruner beschreibt hierzu ein passendes Bild, wie er neuerdings seine Teamsitzungen erlebt. „Mir passt das gut in mein Weltbild, mit dem ich mir das Leben gerne schon mal naturwissenschaftlich erkläre“, resümiert er seinen Sinneswandel, „und in Teamsitzungen vergleiche ich dann meine Mitarbeiter, wenn sie um ein Thema debattieren, mit Planeten, die in einem Raum aus Stille kreisen, an dem ich selbst teilhabe. Dann werde auch ich still.“ Einen Klienten so etwas sagen zu hören, hatte mich selber überrascht. Es war ein entscheidender und auch ein schöner Moment, weil ich teilnahm am Perspektivenwechsel eines Menschen, der von nun an, da war ich mich fast sicher, eine neue dauerhafte Grundhaltung für sein Leben bewirkt hatte. „Nur das Endliche ringt und leidet“, schreibt der amerikanische Philosoph Waldo Emerson, „das Unendliche liegt da in lächelnder Ruhe“ (Emerson 1983,

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S.  105). Was Gruner als Resonanzraum der Stille beschrieben hat und Emerson als „Unendliches“ begreift, können wir Menschen in Augenblicken, in denen wir innehalten, als eine Art Schweigen des Übersinnlichen erfahren, das uns innerlich selbst ausfüllt, weil wir, quantenphysikalisch, in Energiefeldern leben, wo Trennungen von innen oder außen, von Du da, ich hier, von ich oben, Du unten nicht existieren. Was würde uns das falsch gesetzte Komma da noch kümmern, wenn wir das ganze Universum sähen? Oder, frei nach Marc Aurel: „Wo ist der Schnee des vergangenen Jahres? Wo der Ärger von gestern?“

5.5 D  ie Freiheit gelassener Selbst-Schöpfung: Entwerfen, wählen, entscheiden, wollen, verantworten Wir werden zu denen, die wir zu sein beanspruchen, wenn wir unsere Handlungen und Taten frei entscheiden und selbst verantworten. Hier aber kommt oft das große Jammern: „Ich würde ja gern …, kann nur nicht, weil …; die Umstände zwingen mich zu …; der Chef will doch …, sonst täte ich schon …; wenn ich nur … hätte, dann … etc.“ Der Konjunktiv ist die beliebteste Sprachform der Vermeidung von Freiheit und Verantwortung. Der Mensch meidet die Verantwortung für die Konsequenzen, sein Leben könnte anders laufen und ihn dafür zukünftig in die Pflicht nehmen. Was genau meidet der Mensch da? Er meidet die Angst vor Veränderungen, verbunden mit dem Verlust der Sicherheit, der Anerkennung durch andere, seiner Selbstachtung (weil das Lob anderer wegfallen könnte) oder auch (und das zumeist) der gewohnten Komfortzonen. Im Kern jeder Angst steckt eine Verlustangst des Lebens – die Angst vor dem Tod. Nicht wählen, nicht entscheiden, nicht entschieden wollen und konsequent handeln zu können, auf Nummer sicher gehen, nicht sterben zu müssen. Seine Zukunft bewusst selbst zu gestalten, bürdet dem Menschen eine Verantwortung auf, die ihm die Routinen der Gesellschaft täglich abzunehmen bereit ist. Das Glück der Freiheit ist hier eine Art Überwindungsprämie. Erst unter einer gewissen Last der Verantwortung unserer selbst gewählten Taten werden wir frei zu uns selbst: eine Befreiung zum Eigenen mit der verantworteten Tat, in der wir uns selbst entwerfen und wiederkennen. Das allerdings setzt voraus, zu wissen, was wir wollen. Viele Menschen wissen das nicht und wollen entsprechend wenig oder sind unentschlossen oder hadern mit sich. Leiden (nochmals) erscheint da leichter als Handeln.

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Wer weiß, was er will, und sich dazu entscheidet, das Wollen wirklich werden zu lassen, gestaltet sein Wollen und seine Entscheidung wie Bausteine zur Selbstschöpfung. Dabei setzt der Wille unsere Entschlusskraft, handeln zu wollen, voraus. Auch das haben viele Menschen verlernt, die Reihenfolge selbst gestalteten Lebens: 1. Möglichkeiten entwerfen; 2. wählen; 3. entscheiden; 4. entschieden wollen; 5. verantworten; 6. entschlossen handeln; 7. dranbleiben. Diese Entschiedenheit, schreibt Sprenger, sei „wie eine Wettervorhersage, die Einfluss auf das Wetter nimmt“. Wählen und entschlossen bleiben heißt, die Bausteine der Selbstschöpfung bejahen, heißt Ja sagen, sonst verlieren wir Energie. Diese Entschlossenheit bringt uns oftmals unserem Selbst viel näher, als der Verstand es mit seinem Etikett „Sprung ins kalte Wasser“ uns vorgaukeln möchte. Hierzu möchte ich den amerikanischen Therapeuten Rollo May (1909–1994), der im letzten Jahrhundert die existenzielle Psychologie in den USA begründet hat, aus seinem Hauptwerk „Liebe und Wille“ (May 1988, S. 215) zitieren: „Dem ‚Wunschʻ verdankt der ‚Willeʻ die Wärme, den Inhalt, die Einbildungskraft, das Spielerische, die Frische und den Reichtum. Der ‚Wunschʻ verdankt dem ‚Willenʻ die Selbststeuerung und die Reife. Der ‚Willeʻ schützt den ‚Wunschʻ und ermöglicht es ihm, weiterzuexistieren, ohne zu große Risiken einzugehen. Aber ohne ‚Wunschʻ verliert der ‚Willeʻ seine Vitalität und Leidenschaft und ist in Gefahr, sich in Widersprüchen zu verstricken. Wenn man nur ‚Willeʻ und keinen ‚Wunschʻ hat, dann hat man es mit dem vertrockneten, viktorianischem, neopuritanischen Menschen zu tun. Wenn nur ein ‚Wunschʻ und kein ‚Willeʻ vorhanden ist, dann hat man den zwanghaften, unfreien, kindlichen Menschen vor sich, der als infantil gebliebener Erwachsener zum Roboter werden kann.“ Wer etwas gewählt und sich dazu entschieden hat und es jetzt will, der fühlt, was er wünscht, und wahrt so handelnd Kontakt zum Selbst. Diese „Wärme“ (May) im Wollen erzeugt in der Konsequenz mitunter dann eine ganz andere Temperatur. Etwas wollen heißt, soll der Wille wirklich Zug- und Tatkraft bekommen, alles andere abwählen, heißt: ‚Neinʻ zum Rest der Welt sagen – die ‚Kälteʻ mancher Entscheidung faucht uns an. Jedes Wozu rechnet

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mit seinem Wogegen. Das kann uns im positiven Sinne abhärten: Entscheidungen stärken durch das Nein zu allem anderen und kosten so einiges, nämlich alles Übrige. Um das Bildhauerprinzip noch einmal zu verwenden: Sie schlagen etwas weg, um die Figur Ihres Willens zum Vorschein zu bringen. Diese Selbstschöpfung, sich selbst zu gestalten, indem wir etwas wirklich wollen, erfordert den Mut, der Welt willkürlich eine – unsere – Bedeutung zu geben, ohne Haltegriff externer Prothesen, ohne äußeren Bezugspunkt. Das bedeutet wiederum, wir müssen die Bodenlosigkeit im Schwindelgefühl unserer eigenen Freiheit aushalten, soll die Existenz authentisch und damit unverwechselbar sein. Hier fällt mir der Name eines Western-Klassikers ein, in dem ein abgehalfteter Sheriff einem jungen Mädchen hilft, die Mörder ihres Vaters zur Strecke zu bringen: „True grit“. „True grit“ meint, entschlossen an etwas dranbleiben, etwas von Anfang bis Ende durchziehen, egal, was andere Leute sagen, egal auch, welche Treffer uns zwingen könnten, aufzugeben. Das nenne ich die Geborgenheit des eigenen inneren Befehls, die wahre Gelassenheit gegenüber Schicksalsschlägen oder Fremdeinflüssen. Ein Sheriff „zieht sein Ding durch“. Der Mensch gibt sich selber sein Gesetz des Handelns. Wir sind Chefinnen und Chefs unserer selbst. Wer verantwortlich und damit Urheber seiner Entscheidungen ist und sich dazu entschließt, diese Freiheit gegen alles, was ihr widerspricht, zu verteidigen, bleibt in seiner Haltung gelassen, auch wenn es an den Grenzen Unruhe gibt. Sie kennen das bestimmt aus eigener Erfahrung: Alles tobt um Sie herum, schlägt die Hände über den Köpfen zusammen, irrt entgeistert hin und her, und Sie spüren in sich nur Ruhe, ein inneres Lot der Erdung, weil Sie wissen, was Sie wollen. Diese Haltung der Gelassenheit schöpft aus einem Zustand des inneren Friedens mit sich selbst und dem, was uns wert und wichtig ist. Wir müssen zur Gelassenheit dieser Ur-Tat, der Schöpfung unserer Welt durch unser Wählen und Wollen (zurück)kommen. Natürlich lauert in uns in jedem Augenblick die Gefahr, dem auszuweichen, weil unsere Freiheit, entscheiden zu können, mit Angst verbunden ist. Wer sich dieser Freiheit zur Verantwortung seines je eigenen und höchst individuellen Sinn-Entwurfs zutiefst bewusst wird, erlebt seine Angst als eine zutiefst existenzielle Angst der Freiheit, sein belebendes Schwindelgefühl über der Bodenlosigkeit scheinbar fester, gegebener Bedeutungen. Der Angst vor der Bodenlosigkeit seiner eigenen Freiheit entgeht der Mensch für gewöhnlich durch seine Fremdbezüge („Was könnten die anderen von uns denken“, „Chef, sag’, wo’s langgeht“, „Im Internetportal steht doch, ich müsste jetzt Folgendes tun …“), durch seine fremdgesetzten Normen,

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Autoritäten, seine Süchte und Privat-Mythen. Solche Abhängigkeiten werden gespeist durch die allzu menschliche Illusion, die Dinge um uns herum seien unabhängig von uns von Bedeutung und wir müssten uns ihnen anpassen: ein Unterwerfungskult, der von Angst gesteuert wird, um sie zu vermeiden. Umgekehrt verhinderte unsere Angst, hielten wir ihr stand, dass wir uns dazu verführen lassen, Halt in den äußeren Verhältnissen zu suchen und zu finden. Gerade unsere Angst könnte unsere Wachmacherin werden, um gelassen, frei und entschieden handeln zu können, und zwar aus der Freiheit unserer Wahl heraus. Damit kehrte der Mensch gerade in und mit seiner Angst aus dem konventionellen „Man“ der Menge zu sich selbst zurück, zur Chance der eigentlichen Existenz. Warum? Weil wir uns in der Loslösung vorgefertigter Baukastenteile dessen, was „man“ zum Leben braucht, mit der Bodenlosigkeit unseres Selbstentwurfs konfrontiert sehen. Niemand kommt, kein Retter, keine Beichte, niemand segnet uns. So gedeiht zuerst in Freiheit, was reif wird für sich selbst. „Denn was ist Freiheit?“, fragt Nietzsche und antwortet: „Dass man den Willen zur Selbstverantwortung hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Dass man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, dass (…) die kriegs- und siegesfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andere Instinkte, zum Beispiel über die des ‚Glücksʻ. Der freigewordene Mensch, um wie viel mehr der freigewordene Geist, tritt mit Füßen auf diese verächtliche Art von Wohlbefinden. (…) Der freigewordene Mensch ist Krieger. – Woran misst sich die Freiheit, bei Einzelnen, wie bei Völkern? Nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird: fünf Schritte weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unsrer ‚Tyrannenʻ unerbittliche Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern“ (Nietzsche 1980, Bd. 6, S. 139–140). Nietzsches Gedanken haben es stellenweise in sich und schmecken nach hartem Tobak und bitter für diejenigen, denen Freiheit unter Wohlfühlfaktoren daherkommen möge. Und genau darum geht es. Sich selbst und andere Menschen ggf. „opfern“ zu müssen, meint die kleinen Tode des Alltäglichen sterben und loslassen von Bindungen und Abhängigkeiten, die unserem Selbstwert, den wir uns selbst nur geben können, entgegenstehen. Überlegen Sie, wie gelassen uns eine solche Lebenshaltung werden lässt, sobald wir uns der Angst vor Verlusten oder dem Schmerz der Überwindung hinzugeben bereit sind – stets „fünf Schritte weit“ und „dicht an der Schwelle“ zur eigenverschuldeten Unfreiheit.

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Halten wir uns dagegen selber aus und all unseren Ängsten und Schmerzen stand und erkennen, dass (nur) wir es sind, die das Geschäft aller Unruhe aus Abhängigkeiten, Feindschaften, Ablehnungen oder Ungewissheiten selbst betreiben, so könnten wir vor unseren selbstgedrehten „Lass-Dich-nicht-­ töten“-Programmen aufwachen, könnten zurücktreten, den Lichtdimmer wieder hochdrehen und klarer sehen. Wie ausgeführt, unsere Angst (nicht jede, sonst liefen wir in manches echte Feuer) könnte hierzu unseren Weckreiz liefern, eine Art Gewissensruf: Entweder wir befolgen unseren inneren Ruf, uns treu zu bleiben, oder wir schlagen ihn in den Wind. Die Freiheit, hier immer wieder entscheiden zu können, haben wir – unverlierbar! Alles andere sein lassen zu können, macht wahrlich gelassen. Und häufig lohnt sich ein Kampf gegen scheinbare Widrigkeiten oder angebliche „Feinde“ überhaupt nicht. Drehen Sie sich einfach um und lassen so manches Gefechtsgeklirre rücklings verklingen. Mitunter kann es nämlich passieren, dass Ihre Gelassenheit aus Niederlagen in Kämpfen resultiert, die zu gewinnen für Sie eine Katastrophe (geworden) wären.

5.6 D  ie Innere Burg der Gegenwart hält Komplexitäten stand – ein Quantensprung „Erkenne zutiefst deinen eigenen Wert: dein unendlich kostbares Leben, symbolisiert durch den edlen Kern in dir.“3 Matthias Ennenbach

Zu Beginn des Buches entwirrten wir bereits das alltägliche Lebensgefühl, vor lauter Außenreizen nicht mehr zu wissen, wo’s eigentlich langgeht für uns (Kap. 2). Für Ihre gelassene Haltung im Alltag möchte ich zu diesem Thema der Komplexität noch etwas hinzufügen, das uns Menschen von Natur aus unverlierbar mitgegeben worden ist auf unserer Reise durch das Leben. Sie tragen dieses Gut Zeit Ihres Lebens mit sich, − ja, es macht Ihre Fähigkeit zu leben überhaupt erst aus. In Anlehnung an unsere stoische Leitfigur Marc Aurel nenne ich es die „Innere Burg der Gegenwart“, Schatzkammer unseres Energiepotenzials seit Urzeiten. Da Ihre Aufmerksamkeit mir bis hierhin gefolgt ist, möchte ich dieses Potenzial, dessen Wirksamkeit Ihnen durch Klientengeschichten verdeutlicht wurde, kurz als einen Basisfaktor des Lebens  Ennenbach 2011, S. 309.

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sichtbar machen, der Ihrem inneren Erleben zugleich als Quelle der Gelas­ senheit innewohnt. Das Herz aller Dinge, selbst jeder Ihrer Lebensmomente, ist das Ereignis selbst im Augenblick seines Geschehens, und nichts, was gedacht, gesagt oder gefühlt wird, wird daran etwas ändern können. Doch weil wir genau das mit unseren Deutungsreflexen (die bekanntlich mehr trennen als verbinden) permanent versuchen, verlieren wir den Pulsschlag unseres Lebens zur Gelas­senheit. Die Naturwissenschaft klärt auf: „Das Primäre ist Beziehung“, wenn es darum geht, zum Herz der Dinge und ins Zentrum unserer selbst zu gelangen. Das klingt zwar auf Anhieb plausibel, doch was meint das konkret? Um eine Ahnung davon zu bekommen, achten Sie (wieder) auf Ihren Atem und (wenn Sie können) auf Ihren Herzschlag. Was spüren Sie da? Bemerken Sie eher etwas Verbindendes oder Trennendes? Nehmen Sie mehr Nähe oder mehr Distanz wahr? Und fühlen Sie sich, wenn Sie dort hineinspüren, eher ruhig oder eher nervös? Ihr Atem und Ihr Herz sind die wichtigsten Quellen Ihres Lebens. Und wenn Sie achtsam Kontakt zu diesen Quellen aufnehmen, dürften Sie tendenziell die verbindende Nähe einer inneren Ruhe spüren statt trennenden Abstand, der Sie nervös machte. Das mag simpel klingen, ist aber essenziell für das, weshalb Sie dieses Buch bis fast zum Schluss gelesen haben. Das Primäre unseres Lebens ist etwas (uns mit allem) Verbindendes, das uns unverlierbar zu uns selbst zurückholt, sobald wir darauf achtgeben. Was ist nun dieses „Primäre“ als Quelle unseres Lebens? Hierzu darf ich Sie noch einmal ins Energiereich der Quantenphysik einladen, um dem Ursprung allen Daseins (vorerst gedanklich) zu begegnen. Nach neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen kommt der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr „zur Erkenntnis, dass die Welt im Allerkleinsten nicht einfach ein verkleinertes Abbild unserer Lebenswelt ist, dass sie nicht die Struktur einer russischen Matryoschka-Puppe hat, die beim Zerlegen im Wesentlichen immer wieder auf Gleiches oder Ähnliches stößt. Ein Atom ist sozusagen kein kleiner Apfel, kein Objekt wie ein winziges Sandkorn, auch kein kleines Planetensystem. Nein, nichts dergleichen: Wenn wir die Materie immer weiter auseinandernehmen, bleibt am Ende nichts mehr übrig, was uns an Materie erinnert. Am Schluss ist kein Stoff mehr, nur noch Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung. Materie ist nicht aus Materie zusammengesetzt. Was bedeutet das? Wir haben eine Umkehrung: Das Primäre ist Beziehung, der Stoff das Sekundäre. Materie ist ein Phänomen, das erst bei einer gewissen gröberen Betrachtung erscheint. Stoff ist geronnene Form. Vielleicht können wir auch sagen: Am Grunde bleibt nur etwas, was mehr dem Geistigen ähnelt – ganzheitlich, offen, lebendig, Potenzialität. Materie ist die Schlacke

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dieses Geistigen  – zerlegbar, abgeschlossen, determiniert, Realität. In der Potenzialität gibt es keine ein-eindeutigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Zukunft ist im Wesentlichen offen. (…) es gibt keine Teilchen, die unzerstörbar sind, die mit sich identisch bleiben, sondern wir haben ein ‚feuriges Brodelnʻ, ein ständiges Entstehen und Vergehen“ (Dürr 2012, S. 33 f.). Diese „Potenzialität“, die „unzerstörbar“ alles Leben entstehen lässt, bemerken wir im Frequenzbereich unseres Atems, soweit wir achtsam diesem von Gedanken leeren Energiefluss bewusst beobachtend folgen. Mit diesem Hier und Jetzt erleben Sie Ihr gegenwärtiges Gewahrsein und eröffnen Ihre „Innere Burg der Gegenwärtigkeit“, Ihren Heimatort, der Sie sicher bleiben lässt, wenn um Sie herum Anforderungen komplex herumwirbeln. Der kurze Abstecher in die Quantenphysik macht uns klar: Wir tragen von Natur aus ein energetisches Regulativ in uns, mit dem wir immer wieder heimkommen können zur Stille in uns selbst, jenseits unserer Gedankenmühlen und Sorgen um den nächsten Steuerbescheid. Franz Kornter war Mathematiklehrer an einem Gymnasium in Wien und sah den bekannten Wald vor lauter Bäumen nicht. Stand die nächste Klassenarbeit bevor, geisterten sogleich die Eltern einiger seiner Schüler tagelang vor seinem inneren Augen umher, die am folgenden Elternabend „bestimmt wieder Schlange zu Beschwerdedialogen“ standen wegen zu schwieriger Aufgaben, ungenügender Vorarbeit oder ungerechter Benotungen. In seinen schlaflosen Nächten analysierte Kortner dann die möglichen psychologischen Hintergründe in den „Beziehungsnetzen“ zwischen den „soziologisch heterogenen Erziehungsmethoden“ der Eltern zu ihren Kindern im „Kontext zu meinem Unterrichtsstil und im Vergleich zur gesamten Lehrerschaft“. Ein solches „Netzwerk meiner Lebensanalytik“ spannte Kortner über so ziemlich alles, was im Alltag mit „Dissonanzen in menschlichen Kontaktgeflechten drohte“. Für den Wiener Mathelehrer galt, worunter viele Menschen regelrecht leiden: Das Abstrakte (Gedanken) wirkt konkret (Schlaflosigkeit, Schweißattacken, Nervosität, Unmut, Minderwertigkeitsgefühle etc.) und fasert in assoziativen Kettenreaktionen aus (z. B. in übertriebene Konfliktbefürchtungen). „Wie oft bete ich, mir mögen Ruhe und Gelassenheit geschenkt werden“, erklärte mir Kortner, dessen katholischer Glaube ihn empfänglich sein ließ für Dinge, die außerhalb seiner alltäglichen Gedanken liegen. Und so schätzte ich, Kortners mathematischer Geist würde ihn aufgeschlossen machen für quantenphysikalische Fakten. Natürlich kannte er sich da einigermaßen aus, nur war ihm der Zugang von der Quantenphysik als allgegenwärtiger Modus „lebendiger Potenzialität“ (Dürr) hin zum eigenen Erleben nicht klar, und schon gar nicht, wie ihm das seine erhoffte innere Ruhe ermöglichen sollte.

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Übung zur inneren Ruhe (mit dem „Atem-Griff“) (Folgende Übung führten wir hierzu durch:) 1. Versetzen Sie sich bitte gedanklich und emotional in die für Sie heikle Situation. 2. Spüren Sie, sobald Sie „voll drin“ sind, den körperlichen Wirkungen Ihrer Gefühle nach (die von Gedanken an die Situation zuerst ausgelöst werden). Wo lagern deren „Heimatorte“? Wo gibt es Spannung, Schwere, Druck oder ein Kribbeln? 3. Atmen Sie nun bewusst tief in diese körperliche Region hinein und atmen Sie dabei in Ihren Bauch ein und aus …, ein und aus … 4. Folgen Sie bitte achtsam Ihren Atemzügen in diese „Heimatorte“ Ihrer Gefühle hinein und spüren Sie dem nach. Was bemerken Sie da? Was verändert sich? Wie fühlt sich das an? 5. Beatmen Sie achtsam bewusst diese körperlichen Stellen (häufig der Brust-, Herz- oder Magenbereich), als könnte Ihr Atem reinigen und einen inneren Raum zur Entspannung eröffnen. 6. Beobachten Sie nun Ihre Gedanken an die „heikle“ Situation, ohne Ihre Beobachtung zu bewerten. Schauen Sie, weiterhin bewusst atmend, achtsam auf das, was an Gedanken auftaucht. Was bemerken Sie da? Was hat sich verändert? Wie nehmen Sie das jetzt wahr?

In fast allen Fällen, so die Praxis der Achtsamkeit, spüren die Menschen mit diesem Achten auf den Energiefluss des Atems ein Wohlgefühl, die innere Ruhe und Entspannung, mitunter Leichtigkeit und sogar innere Freude. Hier haben wir atmend Teil am unkonditionierten, also frei von gedanklichen oder emotionalen Einschränkungen aktiven Energiefluss unserer selbst. Franz Kortner war erstaunt. „So nah war ich mir noch nie, alles irgendwie eins und still und zusammen, … – hm, beschreiben kann ich’s eigentlich nicht.“ Und genau dieses Eingeständnis der eigenen Sprachlosigkeit ist ein Zeichen, jenseits unseres Denkens und seiner Trennung an etwas in uns zu gelangen, das uns ein tiefes Gefühl des Einsseins und der Stille vermittelt. Hierfür hat die Natur weiter vorgesorgt und uns praktisch eine Klinke zum Tor unserer Inneren Burg angeboren (hierzu der „Atem-Griff“). Den Gehirnmuskel zu dieser Gegenwärtigkeit liefert der anteriore cinguläre Cortex. Dieses Neuronenareal „sorgt für die Kapazität der Aufmerksamkeit, während er im Dienst von Entscheidungen, die für zukünftiges Wohlbefinden relevant sind, Gefühle und Kognition koordiniert“ (Badenoch 2010, S. 193). Dadurch ist eine Bewusstheit gesichert, die ermöglicht, über das „Anwachsen der

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Aktivität“ im mittleren präfrontalen Cortex eine „Abnahme der Aktivität in der Amygdala“ (ebd.) zu bewirken und so unseren Körper und seine Emotionen zu regulieren. Wächst der Muskel in der mittleren Gehirnregion achtsam an, nimmt der Muskel der Angstregion automatisch ab. Hierdurch gelingt es uns, auf Situationen, deren Signale in uns Stress auslösen mögen, „mit relativem Gleichmut heranzugehen“ (ebd., S. 194). Daniel Siegel sekundiert: „Der Präfrontalkortex steuert die Art und Weise, wie wir Gefühlszustände ins Gleichgewicht bringen“ (Siegel 2010a, Die Alchemie des Geistes, S. 134). Und wer von Ihnen Fakten mehr glaubt als philosophisch-psychologischen Beschreibungen von Bewusstseinszuständen, schlägt in der Gehirnforschung bei Siegel weiter nach. Dort lesen wir über die (bereits erwähnte) Gamma-Aminobittersäure („Gaba-Soße“), dass sie vom mittleren Präfrontalkortex auf die subkortikalen limbischen Amygdalastoffe „geschüttet“ wird und, schlicht gesagt, das emotionale Gefeuer abkühlt  – durch kortikale Aufmerksamkeit (Siegel, ebd., S. 160). Die Tür unserer Inneren Burg geht nach innen auf und kann mit diesem Neurotransmitter „Gaba-Soße“ heilsam immer wieder geölt und jederzeit in Schwung gebracht werden zum gegenwärtigen Augenblick. Für Kortner öffnete dieses Scharnier zwischen Quantenphysik und Gehirnsubstanz einen bislang ungeahnten Zugang zu sich selbst, der ihn körperlich zentrierte und ruhig werden ließ. So „nah bei sich“ sein zu können, lässt den Menschen sich selbst so annehmen, wie es ihrer oder seiner unkonditionierten Energie, das heißt unserer inneren Natur, entspricht. Diese Erfahrung, quantenphysikalisch vitalisiert, rüttelte Franz Kortner auf. Wenn wir mit dem Innen klar sind, hatte er festgestellt, wird das Außen für uns wie von selbst stimmig. Mit dem Hier und Jetzt kommen wir meistens klar, nicht aber mit dem vorgestellten Sprung in die Zukunft, ins gedanklich fabrizierte Gleich-und-Bald-und-Später-mal, diese Blase Zeit, die sich so leicht mit Angst und Sorgen füllt. Hier rutschen wir unweigerlich in die Vor-Stellung von Projektionen, ausgefüllt mit gespeicherten Geschichten des Ehedem und Einst und Damals. Selbst das Vorhin kann das Gleich zur Hölle werden lassen  – auf dem Bildschirm unserer Projektionen. Mit dem Hier und Jetzt jedoch hat das nichts zu tun. Kortner bekam regelrecht Lust auf den Augenblick und lernte hierzu, bewusst atmend, die Zukunft auszublenden, soweit es für ihn nicht notwendig war, absichtsvoll planen zu müssen.

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So stand die nächste Klassenarbeit bevor, und Franz Kortner war bereit, „meinen inneren Raum der Quantenphysik mobil zu machen“, sobald er die ersten Anzeichen seiner „Grübeltänze“ bemerkte: 1. Innehalten, 2. beobachten, welche Gedanken negative Emotionen auslösen (ohne diese Beobachtung zu bewerten), 3. beobachten, wo diese Emotionen körperlich gelagert sind (ohne diese Beobachtung zu bewerten), 4. achtsam diese „Heimatorte“ der Gefühle tief ein- und ausatmend mit Energie versorgen (ohne diese Beatmung zu bewerten), 5. aus dieser „Inneren Burg der Gegenwärtigkeit“ heraus erneut auf die Gedanken der mit reiner Energie beatmeten Emotionen schauen (ohne diesen Vorgang zu bewerten) und den Gedanken nun zulächeln. „Eine wunderbare Fünffingerübung zur inneren Ruhe“, resümiert Franz Kortner seinen achtsamen Zugang zum „inneren Raum der Quantenenergie“. Von hier aus kam er sorgenfrei zu dem, was für ihn gerade hier und jetzt zu tun war. Probieren auch Sie es selbst aus, sobald Sie wieder in Ihren gewohnten Modus aus Unruhe, Sorge, Angst oder Ärger stecken bleiben sollten, und erleben Sie: Ihre „Innere Burg der Gegenwärtigkeit“ basiert auf einem spürbaren energetischen Fundament. Die quantenphysikalische (also rational nicht mess- oder erklärbare) Energie in uns schafft seit Urzeiten des Lebens unseren Raum der Präsenz und Entfaltung, der immer auf uns wartet zur eigenen Heimkehr inneren Friedens. Franz Kortner begriff, dass sein Glück eine Sache seiner inneren Entscheidung ist, nicht ans Morgen zu denken, ja noch nicht einmal ans Gleich oder Vorhin. Und indem er voller Energie auf das achtete, was er gerade tat, ergab sich für ihn noch etwas anderes. Als Mathematiker liebte er die Objektivität, die Unumstößlichkeit aus Zahlen und Gleichungen. Und genau das erlebte er mit seiner Sicht innerer Gegenwärtigkeit auf die Welt. Kortner nahm objektiv das wahr, was hier und jetzt für ihn tatsächlich ist. In dieser Objektivität bleiben wir empfänglich für das, was wir wahrnehmen, ohne es zu bewerten oder uns sogleich in die Klammergriffe unserer Soll-­Zwänge zu pressen. Wir halten unseren inneren Abstand aufrecht gegenüber unseren Gedanken, Gefühlen, Erwartungen, Erinnerungen, Anoder Absichten, die sich permanent zwischen uns und der tatsächlichen Welt „draußen“ schieben können wie Fotoapparate, mit denen wir Touristen unser Leben fotografieren, statt es wirklich zu sehen und zu erleben. Was da

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so alles passiert oder uns zustößt, mögen wir nicht im Griff haben, wie wir darauf reagieren, schon. Objektivität unterstützt hierbei unsere geistige Gesundheit, mit einem inneren Lächeln Abstand zu wahren zu unseren mentalen Fotoapparaten, deren Objektive austauschbar sind.

Literatur Assagioli, Roberto (1998): Die Schulung des Willens. Paderborn: Junferman Badenoch, Bonnie (2010): Gehirn und Psyche. Freiburg: Arbor Capra, Fritjof (2000): Das Tao der Physik. Bern: Scherz Celan, Paul (1997): Die Gedichte aus dem Nachlass. Frankfurt: Suhrkamp Dürr, Hans-Peter (2012): Geist, Kosmos und Physik. Amerang: Crotona Emerson, Waldo (1983): Essays. Zürich: Diogenes Ennenbach, Matthias (2011): Buddhistische Psychotherapie. Oberstdorf: Windpferd Foucault, Michele (2007): Ästhetik der Existenz. Frankfurt: Suhrkamp May, Rollo (1988): Liebe und Wille. Köln: Edition Humanistische Psychologie. Neff, Kristin (2012): Selbstmitgefühl. Pößneck: Kailash Nietzsche, Friedrich (1980, Bd. 6): Der Antichrist. München: Dtv Nowotny, Helga (1993): Eigenzeit. Frankfurt: Suhrkamp Siegel, Daniel J. (2010a): Die Alchemie der Gefühle. Pößneck: Random-Kailasch Siegel, Daniel J. (2010b): Das achtsame Gehirn. Freiamt im Schwarzwald: Arbor Sprenger, Reinhard K.: (2001). Die Entscheidung liegt bei Dir! Frankfurt. Campus Tan, Chade-Meng (2012): Search Inside Yourself. München: Arkana Tolle, Eckhart (2011): Jetzt!. Bielefeld: J. Kamphausen Warnke, Ulrich (2012): Quantenphysik und Spiritualität. Berlin: Scorpio

6 Das Training zur Coolness

Die Coolness des Loslassens ist unser Nirwana. K.H.

6.1 L eibesübung: Vergiss alles, was gerade keine Rolle spielt, und handle! Wenn ich nach der Behandlung bei meiner Physiotherapeutin nach Hause gehe, schüttle ich hin und wieder innerlich den Kopf, über was ich mir noch Stunden zuvor so alles Sorgen gemacht habe. Weg. Leere. Stille (auch wenn Autos lärmen). Innerer Frieden. Da muss ich noch nicht einmal zwölf Runden im Ring gekämpft oder 700 Kalorien auf dem Ergometer verbraucht haben, um diesen Zustand der inneren Ruhe und Gedankenleere erleben zu können. Allein die achtsame Konzentration auf körperliche Bewegungen und das Sich-­ fallen-­Lassen in die Intelligenz des Körpers und seiner Energiefelder eröffnen uns einen inneren Raum gelassenen Selbsterlebens. Sie mögen mir jetzt innerlich zunicken, aber tun Sie selbst auch etwas dafür? Aus zahlreichen Untersuchungen lässt sich schlussfolgern, der Sport eliminiert problematisches und damit beunruhigendes Denken. Wir schulen uns darin, beharrlich, konzentriert und gegenwärtig zu sein und uns mit Energie zu versorgen, und zwar aus uns selbst heraus. Nach jedem guten Training oder einer konzentrierten Körpergymnastik sind alle Gedanken einfach. Die „ruhige Schnelligkeit“ sportlicher Bewegungen lässt beunruhigende Gedanken gar nicht erst zu und stärkt zudem unseren Geist und unseren Willen, mit uns © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Hoffmann, Deine Freiheit, deine Gelassenheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25475-9_6

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selbst zu wetteifern. Hier springen wir, innerlich angetrieben, aus der Kom­ fortzone ins Wachstumsfeld unserer selbst. So nennt Roberto Assagioli „Leibesübungen“ das „Modell für die Schule des Geistes“. „Jede körperliche Bewegung ist in Wirklichkeit eine Tat des Willens, ein Befehl, der dem Körper gegeben wird. Und die absichtliche Wiederholung dieser Taten – mit Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Ausdauer – übt und kräftigt den Willen. Dadurch werden organische Empfindungen geweckt: Sie erzeugen ein Empfinden der inneren Stärke, der Entschlossenheit, der Beherrschung, die die Spannkraft des Willens stärken und seine Energie entwickeln“ (Assagioli 1998, S. 45). Einen starken Willen hatte Franz Kortner tatsächlich gehabt, der ihm in schwierigen Augenblicken seines Lebens immer wieder geholfen hatte, äußere Hindernisse oder innere Barrieren überwinden zu können. „Meine Parole dazu lautete ganz einfach: ‚Los jetzt!ʻ“ Das wollte er nutzen, „damit ich cool bleiben kann, sobald ich nervös werde“. Und ihm fiel dazu auch gleich eine passende Chance ein. Da seine Frau ihn seit jeher aufzog, welch „streichholzdünne Beinchen“ er doch habe, steckte Kortner hierzu einen Trimmpfad zur Coolness ab, einen Parcours gleich neben seinem Schreibtisch. Er wollte seinen nervösen Grübelzwang gleichsam wegtrimmen. Da Leiden (ich wiederhole) leichter als Handeln ist, wollte er es sich da nicht mehr weiter leicht machen: Handle, wenn du vom Leiden genug hast. Er nahm sich vor, mit ruhiger Schnelligkeit seinen Beinen auf die Sprünge zu helfen und Kniebeugen zu machen. So skurril das klingt, so praktisch war es dann. Aus dem Coaching hatte Kortner, gelegentlich unterstützt durch Fachliteratur über entsprechende Untersuchungsergebnisse, die Intelligenz lebender Systeme schätzen gelernt, die ihre (Überlebens-)Ziele erreichen, wenn sie spontan die gewohnte Bewusstseins- und Handlungsebene wechseln. Kortner brauchte hierzu einen Startschuss. Da er, achtsam geworden, wusste, welche inneren Reize er als erste Signale für seine Aufregungen und Grübelspiralen wahrzunehmen hatte, musste er nach Startschüssen nicht lange suchen. Die nächste Klassenarbeit oder eine Lehrerkonferenz stand an, Kortner saß am Schreibtisch, bereitetet sich wie immer sorgsam vor, und er brauchte nicht lange zu warten, bis seine Gedanken vom Text Reißaus nahmen, sich verselbstständigten und Richtung Katastrophenszene abdrifteten. Bislang war Kortner fixiert geblieben auf stures Sitzenbleiben, Nachdenken, Vorbereiten, Grübeln, Sitzenbleiben … Jetzt hatte er gelernt, das zu beobachten, ohne sich selbst fortreißen zu lassen. Sobald das Gedankenkarussell ihn emotional oder nervös aufwirbelte, was er meistens im Nacken und vorderen Halsbereich zu spüren bekam, sprang er auf, stellte sich neben seinen Schreibtisch auf, streckte beide Arme waagerecht vor sich hin und begann mit

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seinen Kniebeugen. Anfangs schaffte er knapp fünfzehn; bereits nach zwei Wochen hatte er die Serien auf 50 Kniebeugen gesteigert. „Wenn ich mich dann wieder an meinen Schreibtisch setze, wo ich fünf Minuten vorher noch meine nervösen Katastrophenszenen beobachtet hab, jetzt außer Atem und mit leicht brennenden Oberschenkeln, dann frag ich mich jedes Mal, worüber ich mir vorher Sorgen gemacht habe. Die sind meist verfolgen wie Wolken unterm klaren Himmel. Und als hätte sich das in meinem Kopf wie von selbst ausgerichtet, weiß ich genau, was ich zu tun hab, um wieder in Ruhe arbeiten zu können.“ Geben auch Sie, wenn Sie in Emotionen oder Gedanken feststecken, Ihrem Gehirn die Chance, seine Bewusstseinsebene für Sie zu wechseln, um Sie danach wie von selbst zu Ihrem gewünschten Ziel zu führen. Stehen Sie kurz auf und kommen körperlich leicht außer Atmen, durch welche Leibesübung auch immer. Die Intelligenz Ihres Körpers richtet Ihnen das schon ein. Nur, aufstehen müssten Sie schon! Diese ruhige Schnelligkeit, die den Sinn der Bewegung verfolgt und nicht blind fixiert bleibt auf ein gewohntes Ziel, lässt sich auch wunderbar veranschaulichen anhand des Experiments, das ich Ihnen bereits im Abschn. 3.7 vorgestellt habe. Die fleißigen Bienen sterben in der Flasche, weil sie stur auf ihr gewohntes Ziel zum Licht hin fliegen, das hinter dem Flaschenboden leuchtet, vor dem sie erschöpft zusammenbrechen. Die Fliegen jedoch, kurze Zeit ebenfalls auf das Licht gerichtet, wechseln schnell die Richtung, suchen herum und finden am gegenüberliegenden (wenngleich dunkleren) Flaschenhals den rettenden Ausgang. Ebenso bewegten Kortners Kniebeugen, so wenig sie mit seinem zuvor verfolgten Ziel der gedanklichen Vorbereitung etwa einer Mathearbeit zu tun haben, seinen Geist kurz darauf zu einem gelassenen Abstand aus seinem Teufelskreis und damit hin zur Lösung seines Problems. Denn Probleme, frei nach Einstein, können nicht auf der Ebene gelöst werden, auf der sie entstanden sind. Wird es ungewiss oder brenzlig, ist es also oftmals klug, gleich zu handeln, aufzustehen, etwas ganz anderes zu tun oder beherzt loszugehen, zu suchen und auszuprobieren. Handeln baut Ungewissheit und Ängste ab, weil im gegenwärtigen Augenblick eines solcherart bewegten Seinszustandes wir dabei einer höheren Intelligenz von Kraft- und Energiefeldern folgen, die ein zielfixierter Alltagsverstand für gewöhnlich für uns ausblendet. Das Gelassenheitsmantra für den Augenblick Ihres Handelns formuliert Eckhart Tolle: „Machst du dir Sorgen? Denkst du oft ‚Was wäre, wenn …?ʻ Dann bist du mit deinem Verstand identifiziert, der sich selbst in eine zukünftige Situation hineindenkt und Angst erzeugt. Es gibt keinen Weg, mit einer solchen Situation umzugehen, weil sie nicht existiert. Sie ist nur ein Hirngespinst.

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Diesen gesundheits- und lebensschädigenden Wahnsinn kannst du nur beenden, indem du den gegenwärtigen Moment anerkennst. Sei dir deiner Atmung bewusst. Fühle, wie die Luft in deinen Körper ein- und ausströmt. Fühle die Energie in dir. Im wirklichen Leben ist dieser Moment das Einzige, um das du dich kümmern musst, kümmern kannst – im Gegensatz zu den Einbildungen des Verstandes. Frage dich, welches, Problemʻ du in diesem Moment hast, nicht nächstes Jahr, morgen oder in fünf Minuten. Was stimmt nicht in diesem Moment? Du kannst immer mit dem Jetzt zurechtkommen, doch nie mit der Zukunft – das musst du auch nicht. Die Antwort, die Kraft, die richtige Handlung oder die Mittel werden da sein, wenn du sie brauchst, nicht früher und nicht später“ (Tolle 2011, S. 107). Oftmals braucht es gar nicht mehr, um aus Teufelskreisen auszubrechen, als unsere Körperenergien mit bewussten tiefen Atemzügen über einen bestimmten Level hinaus zu aktivieren, der kurz zuvor noch im Problemmuster unserer Gedanken bestanden hat. So spüren Sie den Geschmack der Gemütsruhe, Coolness oder Gelassenheit, wie immer Sie es nennen wollen, als ein inneres Fluidum, das keinerlei Substanzen von außen bedarf. Nur, nochmals: Aufstehen müssten Sie da schon selbst! Ein paar Tipps hierzu: Ihre „Stopp-Zeit“ zum „Los jetzt!“ • Treten Sie innerlich, wenn ein Problem Sie packt, einen Schritt zurück, als würden Sie im Kopfkino Ihrer Gedanken das Licht anschalten. • Diese Stopp-Zeit ist ausschließlich Ihre Zeit – Zeit Ihres Lebens, Zeit gelassenen Lebens. • Sagen Sie „Los jetzt!“ und verschaffen sich Bewegungsfreiheit, die Ihren innersten Wünschen entspringt – darauf können Sie sich immer verlassen. • Stehen Sie auf, strecken Sie sich, dehnen Sie Ihren Körper, Ihre Arme, machen Sie leichte Kniebeugen oder Rumpfdrehungen und atmen Sie dabei bewusst tief ein und aus. • Spüren Sie (wenn Sie mögen mit geschlossenen Augen) Ihrem Körper und all den jetzt in diesem Moment aktivierten Impulsen, Spannungen, Entspannungen oder Herzschlägen bewusst nach und tauchen so mit Achtsamkeit ins Energiefeld Ihres Inneren Seins. • Kehren Sie dann zurück an den Ort, wo zuvor noch Ihr „Problem“ Sie im Nackengriff hatte – und lassen sich überraschen, wie das, was Sie vorhin als Aufgabe beschäftigte, nun auf Sie wirkt.

Mit dieser Übung wechseln Sie den Gang zwischen Ihren beiden Gehirnhälften und stiften eine heilsame Balance zwischen Denken und Fühlen, zwischen Sprache und Bildlichkeit, Ratio und Gefühl, zwischen Körper und Gehirn.

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Wem dieser Wechsel zwischen (z. B. problematischer) Gedankenhypnose und Leibesübung nicht passt, dem rate ich, die unterschiedlichen Modalitäten unseres Leib-Seele-Systems spielerisch zu synchronisieren: Ihre „Stopp-Zeit“ zum „Los jetzt!“: Variante • • • • • • • •

Gehen Sie spazieren, um nachzudenken; Hören Sie Musik, um zu schreiben; Atmen Sie tief ein und aus und wieder ein und aus, um sich zu konzentrieren; Lächeln Sie, entspannen Sie Ihre Stirn und nehmen Haltung an, wenn Sie herausgefordert werden; Summen Sie ein Lied vor sich hin, sobald Sie sich gedanklich Sorgen machen; Schauen Sie hinauf zu den Sternen (oder stellen Sie sich den Sternenhimmel vor), bevor Sie ein Problem lösen wollen; Rechnen Sie im Kopf 113 minus 7 (oder 107 minus 13 o. Ä.), während Sie emotional am Haken hängen; … Etc.

Solche Stopp-Zeiten kosten Sie vielleicht drei bis fünf Minuten, ersparen Ihnen aber Stunden. Bedenken Sie aber: Die Wirksamkeit zur Seelenruhe erfordert Übung, Übung und nochmals Übung und damit Ihren Willen als Gerichtet-Sein auf etwas, das Sinn für Sie macht, sowie Ihre Entschlossenheit, danach zu handeln (beides wurde in Kap. 3 ausführlich bearbeitet).

6.2 Frag Deinen Helden, Deine Heldin in Dir Wenn Sie nicht mehr weiterwissen oder glauben, mal wieder mit dem Rücken an der Wand zu stehen, halten Sie inne und befragen Sie Ihren inneren Helden. Erleben Sie seinen Händedruck noch in Ihren Niederlagen und stehen somit auf den Schultern Ihrer eigenen Giganten. Wir alle tragen diese Heldinnen und Helden in uns, wir müssen hierzu keine Sagen, Mythen oder Märchen lesen, um zu begreifen, wie gelassen oder stark wir sein können, sobald wir uns besinnen auf helfende Persönlichkeitsanteile in uns, je nachdem, welche Situation wir gerade zu meistern haben. In keinem Coaching bin ich in den Seelenlandschaften meiner Klienten bisher auf eine von Ressourcen leer gefegte Wüste gestoßen, irgendwo hielt sich immer ein helfender oder starker Persönlichkeitsanteil verborgen. Gerade diese Zuversicht, in uns rettende Hände ergreifen zu können, auch wenn wir darauf mitunter länger warten müssen, erfüllt jede Suche danach mit Sinn.

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Mit einem letzten Ausflug in die Gehirnlandschaft unseres Geistes möchte ich Ihnen diesen Helden als eines unserer wichtigsten Nervensysteme vorstellen, wenn es darum geht, gelassen, zuversichtlich oder gleichmütig zu bleiben, sobald draußen Stürme tosen oder in uns Chaos herrscht. Und ich bin mir sicher, jedes Mal, wenn wir in uns starke, helfende oder beruhigende Selbstanteile mobilisieren, ist dieses Nervensystem im innersten Mark unserer Helden aktiv. Woraus folgt, wir müssen sie ausfindig machen und trimmen, trimmen und immer wieder trimmen. Wir laufen nicht vor äußeren Situationen oder Menschen davon – wir nehmen vor uns selber Reißaus, vor unseren Gefühlen, Stimmungen, Befürchtungen oder Zweifeln, die vom Draußen in uns ausgelöst werden. Wir halten Emotionen nicht aus, weil unser Verstand den Katastrophenfilm abspult und uns da wer weiß was vorgaukelt. Der Gedanke, beim Vortrag „Mist“ zu reden und die Zuhörer zu langweilen, die Vorstellung, im Streitgespräch den „Kürzeren“ zu ziehen und „auf ewig“ der Verlierer zu „sein“, die Befürchtung, vom Chef vor allen Kollegen „fertiggemacht“ und „unwiderruflich ins Abseits“ verwiesen zu werden, die Sorge, im Flugzeug „Platzangst“ zu bekommen oder gar „abzustürzen“, aktiviert Gefühle, die oftmals durch den gesamten Körper wirken. Es sind diese Gefühle, die wir nicht auszuhalten und deshalb zu fliehen vermeinen. Wir halten vor uns selber nicht stand. Hier gibt es einen individuellen Level, den es zu erweitern gilt. Es ist die eigene Toleranz uns selbst gegenüber. Wir glauben, gewisse Gefühle ab einem bestimmten Siedepunkt nicht tolerieren zu können, was nichts anderes meint als: „Ich will das nicht aushalten.“ Doch Gehirn- und Entwicklungsforschungen beweisen: Wer sein „Toleranzfenster“ gegenüber Stress, Angst, Sorge, Ärger, Panik und dergleichen vergrößert, bewahrt Gelassenheit. Und das lässt sich täglich üben. Dieses „Fenster“ erklärt uns Daniel J. Siegel: „Stellen Sie sich das Fenster wie eine Erregungsbandbreite (egal bei welcher Art von Stimulus) vor, innerhalb deren jemand gut funktioniert. Dieses Band kann eng sein oder weit. Wenn eine Erfahrung unser Toleranzfenster überschreitet, verfallen wir entweder in Starrheit und Depression oder in Chaos. Ein enges Toleranzfenster engt das Leben ein“ (Siegel 2010, Die Alchemie des Geistes, S. 212). Dann vermeiden wir diejenige Situation, deren Reizimpulse in uns das Gefühlsgewitter vor dem Fenster auslöst. „Innerhalb unseres Toleranzfensters sind wir aufnahmefähig. Darüber hinaus verhalten wir uns nur noch reaktiv. (…) In vielen Fällen hängt das Wohlbefinden von unserer Fähigkeit ab, das Toleranzfenster so zu verbreitern, dass uns die Elemente unserer Innenwelt bewusst bleiben, ohne dass wir in Starrheit (Depression, Abschotten, Vermeiden) oder in Chaos (Aufruhr, Angst, Wut) verfallen“ (Siegel, ebd., S. 213).

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„Dabeibleiben“, schwört Siegel, sei die beste Art, selbst Panik in die Knie zu zwingen; „das lockert ihren Griff“. So könnten wir „kraft der Reflexion (…) auf alles zugehen, was uns das Leben bringt, statt uns zurückzuziehen“ (Siegel, ebd., S. 216). Uns selbst gegenüber bereit sein und standhalten, fordert eine Heldennatur in uns heraus, die jeder Mensch – jeder – in sich entfalten kann, wenn er nur will. Haben Sie einmal Autobiografien von Extremsportlern gelesen, von Rennfahrern, Bergsteigern oder Boxern? Vor jeder Herausforderung wartet die Angst, und die Meisterschaft gewinnt, wer sich der Angst stellt. Und haben Sie schon einmal überlegt, wie unsere Weltgeschichte des Sports aussähe, wenn Sportler nicht bereit (gewesen) wären, sich ihrer Angst zu stellen? Verglichen mit diesen Ängsten wirken die Ängste des Alltags allzu oft wie Pusteblumen im Wind. Diesen Natureffekt vorüberziehender Emotionen leistet, sportlich erklärt, der Gehirnmuskel des „selbstberuhigenden Präfrontalkortex“. Dieses Hochleistungsgetriebe im vorderen Stirnbereich koordiniert und integriert visuelle, auditorische und somasensorische Informationen zu einem motorisch und emotional angemessenen Verhalten und steuert so die „Nabe des Geistes“ zur Gelassenheit (Siegel, ebd., S. 217). Wie als Achse in uns ruhend, halten wir so die Drehzahl unsres Rades mit all seinen Speichen aus Emotionen, Gedanken und Impulsen um uns herum aus. Damit dieser Koordinator in unserem Gehirn seine Arbeit mit Kontenance („gelassen ist, wer trotzdem ruhig bleibt“) ausführen kann, hat die Natur eine Art Eichmaß-Ensemble eingerichtet, den ventralen Vagus (VeVa): Dieser Nervenkomplex hat es in sich, vor allem, wenn es brenzlig wird für uns, sei es emotional oder situativ draußen. Hier ruht unser Cool-down-System, abrufbereit zur inneren Heldennatur. Im VeVa laufen aus den unterschiedlichsten Gehirnregionen Nerven zu einem Knoten zusammen, der mit Herz und Lunge verbunden ist, das Saugen, die Stimmgebung, den Gesichtsausdruck, die Augenbewegungen und das Hören steuert und vor allem den Sympatikus hemmt, dasjenige Nervensystem, das unser Kampf-Flucht-Verhalten aktiviert. Indem der VeVa solcherart unser aggressives oder ängstliches Reagieren reguliert, hilft es uns, uns selbst zu beruhigen und gelassen zu bleiben: eine Heldennatur von unschätzbarem Wert in uns. Damit steht dieses neuronale Eichmaß in engem Zusammenhang mit zwischenmenschlichem Kontakt, mit Resonanz (sich aufeinander einschwingen) und Empathie und wird deshalb auch als „soziales Nervensystem“ bezeichnet, denn Zuhören und Kommunikation erfordern Ruhe und Sicherheit. Wie könnten wir diese inneren Heldennerven, gerade wenn um uns herum plötzlich ein Gefecht im Alltag losbricht, bestmöglich mobilisieren? Sie erinnern sich noch an den IT-Abteilungsleiter eines großen Versandhauses, Bernd

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Gruner. Dessen Begeisterung für die Lebensgeschichte Marc Aurels lieferte ihm eine wunderbare Metapher zur Imagination, um hierzu seinen ventralen Vagus aktiv zu nutzen. Der Feldherr Aurel sitzt mitten in der Schlacht (!) unter dem Leinenvordach seines Zeltes und schreibt in sein Handbuch Reflexionen über die tugendhafte Natur des Menschen, das er uns als eine der berühmtesten Gedankensammlungen der Literaturgeschichte hinterlassen hat, seine „Selbstbetrachtungen“. Mit diesem Bild nahm Gruner Abstand von heftigen Emotionen (Aufregung, Wut, Ärger, Angst), während er konzentriert tief ein- und ausatmete, und aktivierte so sein Nervengeflecht des ventralen Vagus im Neokortex, was aufgrund der engen Verbindung dieses Nervensystems zur neuronalen Sprachregion auch gut klappte. „Und dein Herz sei voll Heiterkeit!“, lautet hierzu Gruners stilles Mantra, ein von Marc Aurel oft empfohlener Indikativ, um Herausforderungen des Lebens gelassen anzunehmen. Gruner rezitierte diesen Off-Monolog zur Zeltdach-Szene immer wieder. „Und dein Herz sei voll Heiterkeit!“ Wenn der ventrale Vagus als soziales Nervensystem aktiv ist, erleben wir Wohlbefinden, Frieden, Freude, Ruhe, Leichtigkeit, Weite. Hierbei produziert der Körper Oxytocin, eine „Wunderdroge“ leibeigener Substanzen, womit der Mensch heilsam fürsorglich zu sich selbst und seinen Mitmenschen wird. Ein „Popstar“ körperlicher Botenstoffe (Die Zeit, 14. April 2016, Nr. 15). Wir können anderen Menschen gegenüber Verbundenheit, Mitgefühl und Liebe empfinden  – selbst wenn wir von ihnen mit anderen Ansichten oder gar Angriffen konfrontiert werden. Bernd Gruner erzählte mir von seinem Onkel Georg, seines Vaters Bruder, der noch in den heftigsten Streitereien mit seiner Mutter oder mit einem Nachbarn „unbeirrbar freundlich und cool“ geblieben sei. Onkel Georg, dieser „Naturbursche“ aus dem Schwarzwald und Inhaber einer Gartenbaufirma, schien für seinen Neffen auf die Dinge und Ereignisse des Lebens „wie von einer lichten Anhöhe aus“ zu blicken. „Der hatte was Wildes, Ungezähmtes in sich, und das wirkte auf mich trotzdem friedvoll – wie ein Sonnenaufgang hinterm Wald.“ Dieser Bezug zur Natur lieferte Gruner den Schlüssel für seine innere Seelenruhe. Sein Erinnerungsbild an Onkel Georg wählte Gruner (neben Aurel) als inneren Helden der Coolness, wenn es in heiklen Situationen für ihn galt, durch tiefes Ein- und Ausatmen seinen ventralen Vagus als soziale Schaltstelle zwischen Gedanken und Körper zu aktivieren. Dieser mentale Bild-Kontakt, den Gruner intuitiv zu seiner inneren Heldennatur hergestellt hat, macht Sinn. Der VeVa stellt in unserem Gehirn eine Verbindung her zwischen Gedanken und Bauch, Kopf und Körper, Geist und Leib. Er symbolisiert eine Balance unserer menschlichen Ambivalenz.

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Das leistet der VeVa über seinen neuronalen „Draht zum Darm“, der wie eine Art zweites Gehirn – die Urzeit in uns – von 100 Millionen Nervenzellen umgeben ist und als „enterisches Nervensystem“ bezeichnet wird. „Bauchgefühle“ oder „Bauchentscheidungen“ resultieren hieraus. Dieses System ist über den Nervus Vagus mit dem Gehirn verbunden und trägt als intuitives Wissen zu unserem Erleben und Handeln bei. In herausfordernden Situationen, in denen uns keine Zeit bleibt, lange nachzudenken, in denen wir uns schnell entscheiden und entschlossen handeln müssen, in denen die resolute Tatkraft über abwägendes Nachdenken obsiegt, dort steuert der ventrale Vagus unsere Nervensystem kohärent aus. Entscheidend bleibt: In unserer menschlichen Ganzheit als Geist-Leib-­ Wesen existieren hochintelligente Überlebenssysteme, eigenständige Wesenheiten, unsere inneren Helden, auf die wir uns, sind wir herausgefordert, unbeirrt verlassen können, soweit wir die Systeme bewusst wahrnehmen und benennen können. Unsere Gelassenheit erobern wir uns im Überraschungsraum des Alltags zurück, indem wir diesem Balance-Regler in uns vertrauen, ihm ein Bild, einen Namen geben und achtsam Atemluft schenken. Der Rest folgt durch regelmäßiges Üben. All die Übungen in diesem Buch können Ihnen hierzu dienen.

6.3 W  eißt Du nicht weiter, tu einfach so, als wüsstest Du’s Als ihn der Vorstand in der großen Runde fragte, wie er es sich denn bitteschön erkläre, dass ein Konkurrenzunternehmen im Online-Geschäft doppelte Umsätze erziele, und zwar maßgeblich aufgrund innovativer IT-Programme, da sackte Bernd Gruners Herz für Sekunden wieder Richtung Sitzfläche. Doch er war nun gewappnet. Seine Nervosität, eine „unwillkürliche Reaktion des emotionalen Systems“, war zwar unvermeidlich. Allen Menschen passiert so etwas, wusste Gruner, natürliche Schmerzen eben, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind und nicht so leicht ausweichen können. Was wir daraus allerdings machen, auch das ist Gruner mittlerweile klar geworden, hängt von unserer Wahl ab, welche Weiche wir in Richtung Leiden oder Freude stellen. Schmerzen sind real, das Leiden eine Wahl. „Die Gedanken biegen unaufhörlich unsere Muskeln nach dem Rhythmus der Gebärde, der aus dem Wesen des Charakters fließt“, schreibt der amerikanische Philosoph Prentice Mulford in seinem Klassiker „Unfug des Lebens und des Sterbens“ (Mulford 1997, S. 17). Wir fühlen, was wir fühlen, weil wir denken, was wir denken, und handeln dann entsprechend. So können selbst

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aus Katastrophen, sind wir uns dessen bewusst, Strophen mit Katapultwirkung komponiert werden, heitere Lieder mit Sprungwirkung. Ähnlich deutete einmal Mohammad Ali die Angst um: „Hast Du Angst, tu so, als täte sie Dir gut.“ Mit dem Akt unseres Denkens erschaffen wir uns als Akteur. Genau das nahm sich Gruner in der Sitzung mit seinem Vorstand jetzt vor. In einer unserer Coaching-Sitzungen zu solchen Situationen („… und alle Augen der Kollegen nagelten mich plötzlich fest …“) hatte er sich einmal an einen Rat seiner Mutter erinnert, den sie von ihrem Vater bekam, der diesen Rat wiederum von seiner Mutter aufgeschnappt hatte. Hierzu noch eine Erläuterung: Nehmen Sie sich willentlich vor, gelassener zu werden, so ist zu beachten, dass wir auf unsere Gefühle und Stimmungen mental zwar Einfluss nehmen können, dieser Einfluss jedoch oft indirekt bleibt. Was wir direkt beeinflussen und sogar steuern können, sind unsere Handlungen und die körperlichen Haltungen, die wir dazu einnehmen wollen. Spreizen Sie jetzt leicht Ihre Finger, die das Buch halten – sehen Sie, es klappt. Sind Sie beispielsweise niedergedrückt oder nervös oder ängstlich, nützt es wenig, wenn Sie fröhlich und gelassen sein wollen, indem Sie sich das gedanklich vornehmen oder einsagen bzw. vorstellen. Willentlich können Sie Ihre Aufmerksamkeit von den störenden Gedanken und Gefühlen abziehen und so beispielsweise der Nervosität ihr Fixbild entwenden, gleichwohl, der Einfluss Ihres Willens auf das Gefühl bleibt ein indirekter. Was Sie willentlich direkt beeinflussen können (wie das Zurückziehen Ihrer Aufmerksamkeit), sind Ihre körperliche Haltung sowie Ihr Handeln. „Glätte Deine Stirn, hebe Deinen Kopf, straffe Dein Kreuz, atme tief durch und lächle!“, rief die Mutter ihrem Sohn Bernd früher oft zu, wenn der sich Sorgen über Kumpels oder für ihn damals schon typischen Stress vor Klassenarbeiten gemacht hatte. „Diesen einfachen Tipp meiner Mutter rufe ich mir dann selber zu: ‚Glätte Deine Stirn, hebe Deinen Kopf …!ʻ, wenn ich wieder nur Probleme sehe und mich unnötig beunruhige“, sagte Gruner, „und das wirkt Wunder, genauso wie das, Nimm Haltung an, streck’ Dein Kreuz durch meines Großvaters, von dem meine Mutter das übernommen hat. Das entspannt sofort.“ Wir sind fähig, uns jederzeit so zu verhalten, „als ob“ wir gut gestimmt und zuversichtlich wären, und schaffen dadurch die Basis, uns tatsächlich auch so zu fühlen. „Aus Sicht der Hirnforschung gehören die Handlungsabsicht, die dazugehörigen Gefühlslagen und Denkstile sowie der passende Körperausdruck zu ein und demselben neuronalen Netzwerk“, erklärt Maja Storch diesen „Als-ob“-Zusammenhang (Storch 2011, S. 136). Das lässt sich ebenso umkehren: „Kann es vielleicht auch sein, dass ich genervt bin, weil ich die Stirn runzle?“, fragt Storch und liefert nach etli-

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chen hirnphysiologischen und verhaltenspsychologischen Untersuchungen das Ergebnis: „Ich bin fröhlich, weil ich beschwingt laufe, und ich bin genervt, weil ich die Stirn runzle. Das Körpergeschehen ist in diesem Fall die Ursache des psychischen Erlebens und nicht die Wirkung davon“ (Storch, ebd., 39). In der Fachsprache nennt man das „Body-Feedback“, also „Rückkopplungsprozesse, die das psychische System aus dem Körper bekommt“ (Storch, ebd.). Die Kraft etwa eines einfachen echten Lächelns, uns schwierigen Situationen gegenüber zu öffnen und zu beruhigen und gelassen zu handeln, ist wissenschaftlich längst bestätigt. „Die für das Lächeln eingesetzten Muskeln senden eine biochemische Botschaft an unser Nervensystem, dass wir von unserem Flucht-, Kampf- oder Erstarrungsreflex Abstand nehmen und uns entspannen können“, schreibt die Psychologin und buddhistische Meditationslehrerin Tara Brach. „Ein Lächeln ist das Ja bedingungsloser Freundlichkeit, das die Erfahrung angstfrei willkommen heißt“ (Brach 2013, S. 110). Und Bernd Gruner tat nun genau das, als die Blicke der Kollegen ihn „festnagelten“, nachdem der Vorstand ihn zur Stellungnahme aufgefordert hatte. „Glätte Deine Stirn, hebe Deinen Kopf, straffe Dein Kreuz, atme tief durch und lächle!“ Gruner beschrieb mir diesen Sekundenmoment als einen Wendepunkt in Zeitlupentempo. Mit seinem vor Schreck Richtung Hose gerutschten Herz atmete er genau dort erst einmal in seine Unterleibsgegend tief hinein, dann folgten Stirn, Kopf, Rücken, Gesichtsmuskeln seinem Rat „glätten – heben – straffen – lächeln“ in Nano-Sekunden, und über Gruners ihn aufpeitschenden Emotionen lichteten sich unverzüglich seine Gedanken wie der schwebende Gleitflug einer Möwe über dem stürmischen Meer. „Das erkläre ich Ihnen gerne“, erwiderte Gruner die Aufforderung seines Vorstandes zur Stellungnahme, „hierzu erinnere ich Sie an meinen Budgetantrag zur Websale-E-Commerce-Lösung vor über einem Jahr, den Sie aus Kostengründen und weil Ihnen die Software nicht geheuer war, abgelehnt haben. Genau dieses System benutzt die Konkurrenz.“ Augenblicklich mussten sich die Blicke seiner Kollegen wie fallen gelassene Stecknadeln gelockert haben, beschrieb Gruner den Moment danach, und sein Chef verwies auf Vorgaben des Finanzvorstandes; der Rest blieb geschäftsführende Ausweichroutine. Sollten Sie kurzfristig einmal nicht mehr weiterwissen, handeln Sie im „Als-ob-Modus“. Aus diesem neuronalen Wirkfeld resultiert unsere menschliche Freiheit, über das Faktische hinaus einen Entwurf unserer selbst zu gestalten, der unseren augenblicklichen Zielen und Werten entspricht. Das „Handeln als ob“ kalibriert die Als-ob-Schleifen des Gehirns zu mehr Freibahnen der Gelassenheit. Das überführt Teufels- in Engelskreise: Ihre Absicht erzeugt einen Gedanken, der eine Haltung hervorruft, die einen Körperzustand bewirkt, der ein Gefühl erzeugt, das wiederum Ihr Bild als

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Absicht bestätigt, das dann wieder gedanklich …  – in unseren Fällen gelassen macht. Das erst macht uns den Schritt ins „Als ob“ der gelassenen Haltung möglich. Wir haben hierzu die Wahl und vor allem die Freiheit, unseren Entscheidungen (Entwürfen) entsprechend Taten folgen zu lassen. „Das musste mir erst mal wieder klar werden, was meine Mutter mir intuitiv ­mitgegeben hat“, besinnt sich Gruner, „und allein das mir bewusst machen zu können, das hilft mir ja schon, wenn es hektisch wird und der panische Tunnelblick droht, ruhig zu bleiben. Allein diese Möglichkeit, wählen zu können, beruhigt mich schon.“ Hiernach bleibt gelassen, wer seine Freiheit vor allem sich selbst gegenüber begreift, in heiklen Situationen sich so verhalten zu können, wie sie oder er fühlen und handeln würde, wenn die zur Gelassenheit notwendigen seelischen Eigenschaften und geistigen Zustände präsent wären. Diese Technik des „Als-ob“ verändert unsere Unruhe in Richtung desjenigen Zustandes, den wir – vorerst bloß vorgestellt – emotional zu erleben wünschen. So wie Du gehst, so geht’s Dir. Und im Reichtum Ihres inneren Lächelns werden Sie sich niemals einsam oder verlassen fühlen, sondern sich selbst annehmen und gelassen bleiben.

Literatur Assagioli, Roberto (1998): Die Schulung des Willens. Paderborn: Junferman Brach, Tara (2013): Mit dem Herzen eines Buddha. München: O.W. Barth Mulford, Prentice (1997): Unfug des Lebens und des Sterbens. Frankfurt: Fischer Siegel, Daniel J. (2010): Die Alchemie der Gefühle. Pößneck: Random-Kailasch Storch, Maja (2011): Embodiment. Bern: Huber Tolle, Eckhart (2011): Jetzt! Bielefeld: J. Kamphausen



Cool-down & Entspannung

Jedes Hindernis ist die Basis zur Weisheit. K.H.

Wenn es etwas gibt, das wir an Filmhelden bewundern, dann ist das ihre beneidenswerte Contenance in brenzligsten Situationen. Doch Gelassenheit ist keine Exklusiveigenschaft von James Bond und Co. Auch jeder Manager kann sich eine Haltung entspannter Coolness gegenüber den Fährnissen und Ärgernissen des Businessalltags aneignen. Wie das funktioniert, zeige ich Ihnen zum Schluss noch einmal als resümierendes Enter-Mezzo: Ein kleiner Vorspann zur Orientierung hierzu: • Die größten Gelassenheitskiller: Was uns den letzten Nerv raubt • Denken auf Distanz: Warum es hilft, Abstand zu eigenen Gedanken und Gefühlen nehmen • Problem unserer Zeit: Die Angst vor dem Ungewissen • Denken auf Distanz: Warum es hilft, auf Abstand zu den eigenen Gefühlen und Gedanken zu gehen • Alternativprogramm: Wie man es schafft, gedanklich im Hier und Jetzt zu bleiben und alle vorhandenen Ressourcen zu aktivieren, statt in Worst-­ Case-­Szenarien abzudriften und damit handlungsunfähig zu werden • Werte-Polster: Warum Klarheit über eigene Werte und Ziele die beste Gelassenheitspolice ist

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Hoffmann, Deine Freiheit, deine Gelassenheit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25475-9

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Cool-down & Entspannung

In aller Ruhe, so als hätte er alle Zeit der Welt, zündet sich Clint Eastwood – „der Blonde“ im Film „Zwei glorreiche Halunken“  – sein Zigarillo an. Dabei könnte ihn die Situation Kopf und Kragen kosten: Der Haudegen muss sich einem Duell stellen. Aber Eastwoods „Blonder“ weiß, wo er steht, und er sieht, wo die Sonne steht und vor allem, wo seine Gegner stehen. Er ist ein Musterbild an Gelassenheit – und hat damit vielen Managern sehr viel voraus. Diese nämlich sind von einer solchen Coolness in heiklen Situationen oft weit entfernt. In Konflikten und schwierigen Situationen reagieren sie hektisch und unangemessen. Oder sie verfallen in ich-bezogene Ängste, verlieren jeden Mut durch Selbstzweifel und blockieren damit ihre wertvollen Kompetenzen selbst. Gelassenheit ist heutzutage eine seltene und damit zugleich eine zutiefst ersehnte Eigenschaft in der Welt des Managements. Es vergeht mittlerweile kein Tag ohne Hilferufe aus den Medien-Schlagzeilen wie „Stress-Opfer resignieren“, „Die Psyche schreit nach Ruhe“, „Hektik frisst Seele auf“, „Muße – ein Seltenheitswert“. Warum das so ist? Weil die hilfreichen Tricks der Technik tagtäglich mit sekundenschnellen E-Mails, weltweit umspannenden Informationsnetzen der Gleichzeitigkeit oder hypergeschwinden Arbeitsprozessen unsere Arbeitstakte ohne jeglichen Maßstab der psychischen Zumutbarkeit beschleunigen und wir uns dadurch in einen Bann der Funktionen spannen lassen, der auf unsere Psyche hypnotisch wirkt. Diese selbst gebastelte Alltagsreiz-Hypnose verstärken wir zudem durch unsere Suggestion, wir könnten, wenn wir uns nicht permanent „updaten“, etwas verpassen, das uns zurückwirft (was immer dort in unserer Einbildung „passieren“ könnte). Wir befinden uns quasi im Dauer-Delay. Noch vor wenigen Jahren (!) war beispielsweise ein Gespräch zwischen zwei Managern auf dem Büroflur für mehrere Minuten (!) ungestört und aufmerksam möglich. Heute halten beide, während sie miteinander reden, gleichzeitig ihre Smartphones mit typisch abschweifenden Display-Blicken zwischen sich und erinnern sich später kaum noch an das, was der Gesprächspartner gesagt, geschweige denn eigentlich gemeint hat. Die „Epoche der rasant zunehmenden Aufmerksamkeitsstörungen“ (Ulrich Schnabel) ist längst angebrochen und reißt uns täglich mit Reizen der Bilder, Symbole und Informationsdaten aus dem inneren Lot, das selbst noch nachts im Schlaf häufig rotiert und nicht zur Ruhe kommt. So geben laut einer Forsa-Umfrage (bereits!) von 2009 über 60 Prozent der Menschen „Hektik und Unruhe“ als Hauptfaktoren ihrer Stressleiden an. Tendenz mitnichten fallend im Online-Zeitalter, das uns zunehmend erschwert, seelisch offline zu gehen und abzuschalten.

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Was hilft dagegen? Die äußeren Lebensräume der Arbeit können wir zwar nicht direkt beeinflussen. Was uns jedoch bestens und (seit über 2500 Jahren) bewiesenermaßen gelingen kann, ist die Hygiene unserer inneren Räume aus Gedanken, Gefühlen und der psychischen Erlebnisfaktoren und damit die Pflege unseres augenblicklichen Umgangs mit dem, was uns von außen zustößt. Halten wir also unsere inneren Räume sauber! Halten wir hierzu kurz inne! Wie das gelingen kann, dazu liefern uns die Gehirnforschungen erprobte Maßnahmen. Ein Abstecher zum Sport: Haben Sie schon einmal probiert, mit einer Kurzhantel Ihren Bizeps fünf Minuten lang pausenlos zu trimmen? Kurz vor dem Krampf meldet sich Ihr Muskel wie von selbst: Stopp! Geht nicht mehr! Pause! Nicht so unser Gehirn, das sich ebenfalls als Muskel versinnbildlichen lässt. Die Region des Neokortex (die „Frontallappen“ direkt hinter unserer Stirn), Ort unserer Rationalität aus Gedanken, Sprachsymbolen, Planungssystemen etc., gerät durch die täglich zunehmende Flutwelle von Informationsreizen in eine Art Turbodynamik, die sich ohne Stoppschild selbst verstärkt. Wir denken uns pausenlos sorgend, planend, befürchtend, vermutend oder urteilend in stets nur vorgestellte und damit „künstlich“ konstruierte Wirklichkeitsmuster hinein. Im Unterschied zum Bizeps-Krampf, dem wir bewusst Einhalt gebieten können, gerät unser Bewusstsein im neuronalen Wirbel unserer Gedanken in eine chronische Selbsthypnose. Wir verwechseln unsere Gedanken mit dem, was sie in unserem Bewusstsein doch nur abstrakt vorstellen. Wir fahren suggestiv laufend Achterbahn im Neuronen-Tunnel der Gedanken und Gefühle und verlieren den sinnlichen Kontakt zu unserer wahrnehmbaren (und eben nicht denkbaren) Gegenwart unserer selbst. Aus diesem Frontallappen-Turbo können wir bewusst aussteigen, sobald wir bewusst einen anderen Gehirnmuskel zur Entspannung aktivieren. Durch eine bewusst achtsame Wahrnehmung unserer Sinne (was wir sehen, hören, fühlen, tasten) beleben wir den sogenannten mittleren Präfrontalkortex (PfK; hinter dem Frontalkortex gelegen), zuständig für Herz, Atmung und Nervensystem, und entziehen damit fast automatisch dem Gedanken-Turbo Energien unserer Aufmerksamkeit. Auch schafft es dieser PfK, einen Abstand zu ermöglichen zwischen gedanklichem Reiz („Oh, das geht jetzt schief.“) und unserer körperlichen emotionalen Reaktion („Angst“) auf diesen Reiz. Für unser seelisches Ying und Yang dieser Kortex-Balance gilt es, bewusst auf unsere Reize und Reaktionen zu achten. Wie das konkret klappt, möchte ich im Folgenden erläutern.

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Viele Menschen beherrscht vor allem eine Angst  – die Angst vor dem Ungewissen (s. Kap.  2). Mit dem Gefühl der Ungewissheit, das eigentlich zum menschlichen Dasein gehört, kommen Menschen häufig nur sehr schwer zurecht. Natürlich gehört das Ungewisse zum Leben wie der Windumschlag zum Segeln dazu. Nur driften im Zeitalter globalisierter Beschleunigungs­ prozesse zwei Lebensphänomene schier unhaltbar immer weiter auseinander. Gegenüber den täglich steigenden Veränderungsprozessen sinkt zugleich unsere Fähigkeit, uns emotional auf uns selbst verlassen und gelassen auf den Wirbel um uns herum reagieren zu können. Vervielfacht wird dieser Drift durch die reizbedingte Hyperaktivität unserer Gedankenareale. „Ich kann nur noch sekundenschnell auf Vermutungen und ausgedachte Urteile reagieren, und dann versuche ich, mit Berechnungen etwas zu kontrollieren, was gar nicht zu kontrollieren ist“, gesteht mir ein Vorstand, „und das macht mir Angst. Mein Alltag wirkt wie eine Blaupausen-Matrix ohne inneren Halt.“ Das Paradox ist komplett. Je mehr wir gedanklich zu kontrollieren gedenken, was sich jederzeit unserer Kontrolle entzieht, umso stärker ereilt uns der Effekt des Ungewissen, was wiederum die Angst auslöst. Unser Verstand haftet an Bekanntem, arbeitet mit Kategorien, die er kennt, und schöpft damit in seinem Wirken aus vertraut Vergangenem. Das Unvertraute macht ihm Angst. Das Zukünftige kann vom Denken immer nur „künstlich“ vorgestellt werden, wirkt damit als Zeitkategorie unvertraut und produziert tendenziell Unruhe weil als zukünftig Vorgestelltes eben nicht handhabbar. Hier schraubt sich die Paradoxie zur Spirale zusammen: Je mehr der Verstand mit vertraut-vergangenen Kategorien unser Denken in die Zukunft projiziert, desto mehr steigen die Chancen der Unruhen, Sorgen und Ängste. Ein Mohrrüben-vorm-Eselskopf-Effekt. Größter Gelassenheitskiller: das dauernd wirbelnde Gedankenkarussell Bahn bricht sich die Angst vor dem Ungewissen beispielsweise in Kommunikationssituationen. Die Furcht vor Ungewissheiten führt häufig dazu, dass Menschen in ihr Gegenüber und dessen Aussagen allzu viel hi­ neininterpretieren und projizieren – und zwar häufig Negatives. Da wirft die etwas sonderbare Mimik eines Mitmenschen gleich die bange Frage auf: „Werde ich noch gemocht?“ Da werden geheimnisvolle Gesten des Chefs angstvoll ausgedeutet: „Werde ich entlassen? Verkauft der Vorstand das Privatkundengeschäft? Macht die Firma pleite?“ Angstvoll ausgedeutet wird aber auch die Lebenswirklichkeit im Allgemeinen, ja das Weltgeschehen: „Wenn das so weitergeht, schwemmt uns die nächste Krise garantiert vom Markt …“

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Dass solche Gedankenspiralen in der Regel zu nichts führen, Gelassenheit dagegen weiterhelfen würde, ist den meisten Menschen natürlich bewusst. Und doch fällt es ihnen schwer, gelassen zu sein. Viele haben gar das Gefühl, dass ein Zustand der Gelassenheit für sie unerreichbar ist. Was diese Getriebenen vergessen, ist, dass sie die Fähigkeit zur Gelassenheit längst besitzen. Denn diese ist uns angeboren. Kinder zum Beispiel können auch noch in der größten Hektik um sie herum seelenruhig eine Papierblume basteln. Sie besitzen diese natürliche Gelassenheit im Augenblick ihres Tuns, weil ihr Verstand, noch „unerwachsen“, sie nicht ständig vorausplanen oder nach- bzw. zurückdenken und damit unweigerlich aus der Gegenwart fallen lässt. Der Neokortex, Hauptsitz des Verstandes, ist die anthropologisch späteste Gehirnentwicklung und ursprünglich „nur“ dafür geschaffen, zu planen (Wo können wir die nächste Herde jagen?) und sich zu erinnern und fehlervermeidend zu ergründen (Wann hatte die Herde zuletzt uns gejagt? Und warum?). Unser Verstand ist somit ständig mit Science-Fiction-Filmen (Zukunft) oder Heimatfilmen (Vergangenheit) beschäftigt. Mit dem Hier und Jetzt des jeweiligen Augenblicks kann unser Verstand so gut wie nichts anfangen. Kinder sind zwar von den erwachsenen Zeitsprüngen aus der Gegenwart heraus noch heilsam verschont. Doch auch diese natürliche Quelle der Kindheit, im gegenwärtigen Augenblick gelassen zu verweilen, droht im Turbo-Deal der Smartphones und Flachbildschirme zunehmend zu versiegen. Je mehr die Kleinen (oft angeregt durch ohnehin meist rastlos-unachtsame Eltern) den Digitalwelten ausgesetzt werden, umso unaufmerksamer, nervöser, aggressiver und ängstlicher werden sie, sobald das Displayleuchten verlöscht. Wir können von Kindern  – noch!  – lernen, den gegenwärtigen Augenblick als einzigen wirklich erfahrbaren Lebensmoment wertzuschätzen und zu genießen. Eigentlich könnte auch unser Erwachsenenalltag voll von „Papierblumen“ sein. Von Tätigkeiten also, auf die wir uns derart achtsam fokussieren, dass das Gedankenkarussell in unserem Kopf mit dem Tenor „Was ist, wenn …“ von allein zum Stillstand kommt. Der erste Schritt dorthin liegt in der Erkenntnis, dass Reize – innere wie äußere, die Papierblume wie der Kundenanruf und auch die damit verbundenen Gefühle – eben nur Reize sind. Unsere Haltung zu ihnen entscheidet, was wir daraus machen. Gelassen bleibt, wer zwischen Reiz und Reaktion zu unterscheiden oder gar durchzuatmen weiß. Viele Manager aber reagieren auf Reize mit automatisierten Reflexen. Sie versetzen sich damit in eine Art Selbsthypnose. Aus dem Boxsport ist bekannt: Der Gedanke „Verdammt, das wird ein schwieriger Kampf“ fliegt schneller durchs Hirn, als die Schläge des Gegners je schlagen könnten. Selbst die

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s­ tärksten Naturen erliegen dieser destruktiven Kraft. Im Business-Alltag laufen Reizreflexe ähnlich ab: „Oh je. So wie der Kunde durchs Telefon schreit, löst der den Devisen-Deal garantiert auf …“, „ … wenn das Unternehmen diese Sparte verkauft, bin ich ruiniert.“ Auch diese Selbsthypnose kann zur Self-­Fulfilling-­Prophecy werden. Sobald wir einem Gedanken (z. B. „Das wird ein schwieriges Gespräch“) Glauben schenken (mit ihm „verschmelzen“), löst die Gedankensuggestion mentale Kettenreaktionen aus, die uns tendenziell entsprechend fühlen und handeln lassen (z. B. werden wir nervös, zweifeln an unseren Fähigkeiten, unterstellen dem anderen mehr Kompetenz etc.). Dieses Handeln und Fühlen bewirkt Resultate (beim anderen und bei uns), die dem Gedankenkonstrukt entsprechen, es bestätigen und dadurch verstärken (können). Dadurch bereiten wir der nächsten Erfahrung den entsprechend vorhergesagten Weg. Hier sollten wir eine Wahl treffen und uns entscheiden können: Nützt mir mein Denken, Fühlen und Handeln, um das zu erreichen, worauf ich Wert lege? Bewahren wir solcherart einen Abstand zu unseren Gedanken/Gefühlen, können wir wählen und haben immer (!) eine zweite Chance, gelassener an die Herausforderungen heranzugehen. Dadurch können wir einen psychologisch fundamentalen Mechanismus unterbrechen, der Gelassenheit und damit konstruktive Entscheidungen per se verhindert: die Aversion. Wir verhalten uns aversiv, wenn wir Situationen vermeiden, gegen Menschen angehen, Meinungen abwehren, in einer Kurzschlussreaktion handeln oder sogleich die Flucht vor alledem ergreifen. Dieses Verhalten wird gesteuert durch das neurologische Angst- und Aggressionszentrum des Mandelkerns (Amygdala). Wird dieses Zentrum durch bedrohlich wirkende oder interpretierte Reize angetriggert, entstehen emotionale Wirbelstürme, die sämtliche anderen Gehirnareale beeinflussen und hier entsprechende Reflexe bewirken. Vor allem lähmt Angst unser kreativ-flexibles Denken – „Angst macht dumm“. Es macht nun mal einen Unterschied aus, ob ich mit einem Puls von 180 zuversichtlich energiegeladen beispielsweise auf einem Börsenparkett intuitiv Entscheidungen treffe oder mit gleichem Herzrhythmus in Panik gerate und reflexartig handle. Gelassen bleibt, wer auch bei 180 in sich ruht. Da jedoch in unserem Langzeitgedächtnis Erinnerungen an emotional „negative“ Erfahrungen (Erlebnisse der Angst oder Scham, des Ärgers oder Selbstzweifels, der Hilflosigkeit oder Sorge) zigmal schneller durch innere oder äußere Erlebnisse wachgerufen werden als die „guten“ Erinnerungen, geraten vor allem Manager in schwierigen Situationen allzu leicht in die mentale Einbahnstraße emotionaler Aufruhr.

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Erste Hilfe: sich auf die bloße Wahrnehmung konzentrieren Ein Trick, um aus dieser, die Wirklichkeit verzerrenden Selbsthypnose herauszukommen, heißt: Konzentration auf die pure augenblickliche ­ Wahrnehmung. Ob es beim Boxen der auf einen zukommende Schlag ist oder im Business die Lautstärke einer Kundenbeschwerde: Was auch immer wir sehen, hören, fühlen – es gilt zunächst einmal schlicht wahrzunehmen. Und zwar, ohne den Reiz gleich zu bewerten, zu deuten und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. „Sei menschlich und nimm Abstand“, riet schon der Dichter Friedrich Dürrenmatt. Abstand nehmen zum eigenen Gedankenkarussell ist einer der wichtigsten Schritte zu mehr Gelassenheit. Wer beobachtet, ist nicht „verwickelt“. Das kann man trainieren. Man kann sich darin üben, sich auf etwas außerhalb seiner Gedanken zu konzentrieren, statt den Gedankenmustern suggestiv nachzuhängen. Diese Fähigkeit hat etwas zu tun mit dem energetischen Fokus unserer Aufmerksamkeit. Worauf wir uns konzentrieren, dorthin richten wir unsere Kraft. Die alte Weisheit der hawaiianischen Huna-Religion, „energy flows where the attention goes“, ist neurologisch hinlänglich bestätigt (und zigfach zitiert) worden. Wesentlich für das Training zur Gelassenheit ist hierbei, dass wir uns bewusst entscheiden können, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten wollen. Wir haben immer (!) die Wahl.

Training zur Gelassenheit mit dem „Atem-Griff“ Probieren Sie es doch aus: • Denken Sie an einen kürzlich erlebten Vorfall, der Sie aufgeregt, geängstigt oder geärgert hat. • Fokussieren Sie darauf Ihre ganze Aufmerksamkeit. • Stellen Sie sich den betreffenden Vorfall (Situation, Menschen, Ereignis etc.) plastisch vor und spüren Sie intensiv den dadurch nochmals ausgelösten Gefühlen nach. • Hängen Sie im Korsett Ihrer Gedanken und Gefühle fest? • Nun schalten Sie bewusst um und nehmen Ihren Atemfluss wahr oder das leichte Gewicht dieses Buches an den Kontaktstellen Ihrer Hände oder den Kontrast der schwarzen Buchstaben dieser Sätze auf dem hellen Papieruntergrund. • Fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz auf diese Wahrnehmungen und verweilen dort ein paar Atemzüge lang. • Was passiert? Genau. Ihre Energie fließt – hier und jetzt – in Ihre Wahrnehmung und eben nicht in einen vorgestellten Gedanken über Vergangenes oder Zukünftiges.

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Ein Kundenberater, der sogleich in Selbstzweifel, Ängste oder Befürchtungen abdriftet, statt sich weiterhin auf das Gespräch zu konzentrieren, wenn ihm Kunden kritisch oder unfreundlich begegnen, kann zum Beispiel versuchen, sich erst einmal auf die Lautstärke und den Tonfall des Gesagten zu konzentrieren. Das bewahrt davor, überstürzte Ich-bezogene Bewertungen anzustellen wie „Der ist unzufrieden mit meiner Beratung“. Auch ein geplatzter Autoreifen auf dem Weg zu einem wichtigen Kundentermin ist erst einmal nur ein Knall. Nicht etwa das Signal dafür, dass jetzt durch die Verspätung garantiert die Kundenbeziehung Schaden nimmt. Allerdings lassen sich unwillkürlich auftauchende Gedanken und Gefühle oft nicht komplett und dauerhaft dadurch ausschalten, sich auf die pure Wahrnehmung zu konzentrieren. Und man sollte auch nicht versuchen, sie zu bekämpfen. Denn was man bekämpft, geht in den Keller, übt Gewichtheben, kehrt wieder und bricht sich umso stärker Bahn. Das ist wie mit einem Ball, den wir mit unseren Händen unter Wasser drücken wollen: Druck erzeugt Gegendruck – auch und vor allem in unseren psychischen Energiesystemen. Unsere Gedanken sind im Mental-Verbund mit Emotionen voller Energie (Ball). Sobald ein Gedanke oder Gefühl in unserem Bewusstsein (Wasser) auftaucht und wir mit unseren Urteilen und Bewertungen (Hände) dagegen ankämpfen (Druck), entwickeln die betreffenden Gedanken und Gefühle aufgrund ihrer individuell längst eingeübten Funktionen Widerstände (Gegendruck). Das wiederum verstärkt in der Psyche reaktiv die Aversion (Abneigung, Widerwille), was wiederum … – ein Teufelskreis. Vor knapp 2.500 Jahren hatten Buddhisten wie Taoisten dies schon erkannt: Leiste den Energien des Lebens (Gedanken, Gefühlen oder auch anderen Menschen) keinen Widerstand, sondern akzeptiere, was Dir begegnet, und sei im Fluss damit und gewinne so auf einer höheren Bewusstseinsebene friedvoll Deine Lebensrichtung zurück. Deshalb spielt auch die Haltung gegenüber unwillkürlich auftauchenden angstvollen, furchtsamen, ärgerlichen oder gar panischen Gedanken und Gefühlen eine entscheidende Rolle. Es gilt, diese Gedanken und Gefühle als das zu begreifen, was sie sind: nicht die Wirklichkeit, sondern eben bloß Gedanken und Gefühle. Gefühle und Gedanken, die entstehen und wieder vergehen. Wer zu mehr Gelassenheit finden will, muss sich dies klarmachen. Wenn nötig, auch immer wieder aufs Neue: „Was ich da an Gedanken und Gefühlen in mir wahrnehme, das bin nicht ich. Das ist nicht die Realität. Das ist bloß ein Angebot. Ich bin frei, zu wählen, welchen Gedanken und Gefühlen ich folgen will und welchen nicht.“

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Be cool: Gedanken sind bloß Gehirnprodukte Das lässt sich üben, indem man sich seine Gefühle und Gedanken bewusst als pure Fakten auf der Reizmembran der inneren Sinneswahrnehmung vorstellt, sie sich als Sinnesprodukt denkt, das keine Wertung und Bedeutung in sich trägt. Was grundsätzlich hilft und in jedem Augenblick möglich ist, bezeichne ich als AIG-Haltung: Die AIG-Haltung • Halte, sobald Dich ein Gedanken oder Gefühl vereinnahmt, achtsam inne und sage still vor Dich hin: „Hallo, Gedanke! Hallo Gefühl!“ • Begrüße die Gedanken/Gefühle als (gebetene/ungebetene) Gäste in Deinem Kopf als Bewusstseinsraum und frage sie ehrenvoll: „Was bringt ihr mir in meiner gegenwärtigen Situation? Was habe ich von euch?“ • Atme gleichsam in die G bewusst tief und ein und aus  – Dein Atem ist der heilsam hingebungsvolle Weichmacher psychischer Phänomene. • Beobachte Deine G je nachdem als „Gedanken über …, Gefühl von …, Urteil über …, Befürchtung wegen …, Ärger über …, Angst vor …“ • Akzeptiere sie als mögliche Informationsträger über Deine gegenwärtige Situation, ohne damit zugleich einverstanden sein zu müssen. • Akzeptiere die G, während Du sie atmend beobachtest, zudem als 100-­prozentig vorübergehende Erscheinungen Deiner Gehirnproduktion. • Und achte auf den inneren Abstand zwischen Deiner bewussten Beobachtung („Begrüßung und Frage“) und den G („Gäste“).

Diese achtsam innehaltende Akzeptanz uns selbst und unseren Gedanken und Gefühlen gegenüber verhindert die reflexartigen Verschmelzungen unseres Bewusstseins mit den Mental-Sequenzen unseres Gehirns. Auch wenn Sie, was immer wieder vorkommen wird, Ihren Abstand zu Ihren „Gästen“ verlieren und mit ihnen „verschmelzen“, nehmen Sie auch das achtsam wahr, atmen Sie durch, halten inne und gehen erneut zurück in Ihre Beobachtung. Verlieren Sie fünf- oder 20-mal Ihren Abstand, dann holen Sie sich fünf- oder 20-mal wieder zurück. Denn Sie sind nicht Ihre Gedanken und Gefühle, Sie haben sie lediglich in Ihren Bewusstseinsräumen zu Gast. Also: Glauben Sie nicht jedem Ihrer Gedanken, sie sollten Ihre Gäste, nicht Ihre Meister sein. Eine Mentaltechnik, mit der das Abstand-Nehmen gelingen kann, ist, sich die eigenen Gedanken und Gefühle als Film vorzustellen, der über die Leinwand des Kopfkinos flimmert.

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Der Leinwand-und-Werte-Sitz-Trick Wenn äußere Hektik und innere Unruhe oder Angst akut drohen, stellen Sie sich Folgendes vor: • Sie schauen auf die Leinwand Ihres Kopfkinos. Und dort sehen Sie z. B. den Film „Meine typischen Gedanken und Gefühle in brenzligen Situationen“. Schauen Sie auf Ihre Gedanken und Gefühle wie auf vorbeiziehende Bilder. Etwa so: Aha, da zieht der Gedanke „Das wird schlimm“ vorbei und dort „Das schaffe ich nicht“. Atmen Sie bei jedem Gedanken oder Gefühl tiefer als üblich ein und aus (Bauchatmung). • Wenn Sie dennoch in Ihre Gedanken und Gefühle hineintauchen, sich von ihnen mitreißen lassen und sich dann womöglich in Selbstkritik verlieren („Das ist jetzt wieder typisch für mich“), dann holen Sie sich zurück, indem Sie auch dies als Filmeffekt betrachten, der kommt und der auch wieder geht. • Atmen Sie tief durch und kommen bewusst auf Ihren Sitz zurück. Stellen Sie sich vor, dass Ihr Sitz gepolstert ist, und zwar mit Ihren Werten und Erfahrungen, Ihrem Wollen und Können. Sie sitzen auf dem, was wirklich zählt in Ihrem Leben. Das sichert Sie ab vor dem hypnotischen Einswerden mit Ihren Kopffilmen. • Befragen Sie sich: Woraus besteht mein Sitzpolster?, also konkret: Worauf kommt es mir an? Was will ich erreichen? Was tut mir dabei gut? Was bereichert mich? Was entspricht mir? Wie will ich mich dabei fühlen, wie denken und handeln? • Stellen Sie einen Situationscheck her zwischen dem, was augenblicklich ansteht (z. B. kurzfristige Vorbereitung einer Präsentation) und Ihrem Werteund Stärke-Sitz: Worauf kommt es mir dabei persönlich wirklich an? Was will ich optimal für die Situation bewirken? Was sind hierzu meine Erfahrungen und Stärken? Wie will ich mich dabei fühlen? (Siehe hierzu unten den Kasten „Werte- und-Stärken-Analyse“.) • Entscheiden Sie sich, welchem Gedankenfilm Sie vor dem Hintergrund Ihres Wollens, Ihrer Werte und Ihrer Erfahrungen Glauben schenken wollen, welche Szenen Ihnen gut tun, welche Aktion Sie weiterbringt. • Lassen Sie diejenigen Gedanken auftauchen, die für Ihren Gefühlszustand und die Situation förderlich sind (z. B. „Meine Erfahrung sagt: Das werde ich wieder schaffen, in Ruhe und konzentriert auf Qualität und zufrieden mit dem Resultat“). • Handeln Sie Ihren Gedanken über ihre Werte, Ziele und ihr Können entsprechend. Ihre Gefühle werden folgen.

Und mit der Hygiene unsere Psyche („Räume“) ist es wie beim Sport: „Einmaliges Üben hat so gut wie keinen Effekt. Die Stoiker, unsere kulturgeschichtlichen Giganten in Sachen Coolness (s. Kap. 4), haben es uns schon vor 2.000 Jahren vorexerziert: Tägliches, stündliches, ja ständiges Üben führt zur Meisterschaft der Gelassenheit. Und es bieten sich gerade im Berufsalltag genau die schwierigen, hektischen oder emotional aufrührenden Augenblicke hervorragend als Herausforderungen an, in denen wir übend zur Meisterschaft innerer Ruhe gelangen.

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Zwar lösen sich dadurch unsere Gedanken oder Gefühle nicht sogleich auf, doch wir bewahren auf der Basis („Polstersitz“) unserer Werte und im achtsam beobachtenden Bewusstsein von unseren G s menschlichen Abstand. Gelassen ist, wer trotzdem ruhig bleibt. Klarheit über Werte und Ziele hilft gegen Angstszenarien Die richtige Haltung zählt indes nicht nur im Umgang mit den inneren Reizen, sondern auch den äußeren. Letztlich geht es um die Bewertung der Reize: Nach welchen Maßstäben wird ein Vorkommnis, eine Aussage, eine Situation bewertet? Wenn die unwillkürlich auftauchenden, oft angstbesetzten Gedanken und Gefühle nicht der rechte Maßstab sind, was soll dann an ihre Stelle treten? Die Antwort ist: das, was einem wirklich wertvoll und wesentlich ist. Die eigenen Werte und übergeordneten Ziele. Wer das begriffen hat, projiziert beim geplatzten Autoreifen auf dem Weg zu einem wichtigen Termin (einem unwillkürlichen Impuls folgend) kein Drama mehr vor sich her, sondern ergreift den Umstand, nun zu spät zu kommen, als willkommene Chance, das folgende Telefonat mit dem wartenden Gesprächspartner als Bewährungsprobe für Vertrauen und Verständnis zu nutzen. Ganz nach dem Motto: Gelassen bleibt, wer seine Karten neu mischt und abwartet. Wissen wir, was wir wollen, und kennen wir unsere Werte genau, haben wir gute Chancen, uns in brenzligen Situationen nicht in ängstlichen Gedankenketten zu verheddern. Denn unsere Aufmerksamkeit ist auf das höhere Ziel gerichtet. Das holt uns aus dem Kopfkino mit unseren vergangenheits- und zukunftsbezogenen Warums und Wohins in die Gegenwart zurück, macht handlungsfähig. Eines sollten Manager beachten: Im gegenwärtigen Augenblick können wir immer (!) gelassen bleiben; nur die zeitlichen Projektionen des Verstandes, was alles passiert war oder passieren könnte, können wir schlecht bewältigen, solange wir ihnen glauben und folgen. Einen Weg, zu erkennen, von welchen Werten wir unser alltägliches Denken, Fühlen und Handeln bestimmen lassen wollen, weil uns das wirklich bedeutsam und wichtig ist, bietet eine „Werte-und-Stärken-Analyse“. Sie hilft, Kompetenzen und Fähigkeiten zu vergegenwärtigen, um mit neuen Situationen klarzukommen. Unsere Werte, Fähigkeiten und Talente eröffnen unserem Leben die Leitplanken, nach denen wir handeln und unsere Ziele ausrichten sollten. Folgende Fragen können als Werte- und Stärken-Analyse persönliche Potenziale bewusst machen:

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Werte- und Stärken-Analyse • Welche meiner Arten, zu leben und zu arbeiten, liegt mir wirklich am Herzen? • Was hat für mich Bedeutung gewonnen und verleiht meinem Handeln einen übergeordneten Sinn? • Aus welchem Werte-Grund bin ich empfindlich, weil etwas in mir (z. B. durch Handlungen anderer) verletzt wird? • Wofür gehe ich durchs Feuer und riskiere äußeren Frieden, um inneren Frieden zu bewahren? • Nach welchen Werten, Charaktereigenschaften und Fähigkeiten will ich, rückblickend, mein (berufliches) Leben ausrichten? • Was hebt von meiner Art und Weise, gelebt und gearbeitet zu haben, ein guter Bekannter in seiner Trauer-Rede zu meiner Beerdigung als wertvoll hervor? • Was kann ich wirklich gut, worauf ich mich immer wieder verlassen kann und stolz bin? • Welche dieser Fähigkeiten macht mich zuversichtlich und sicher, Herausforderungen zu meistern? • Wofür in meiner Art, zu leben und zu arbeiten, will ich von anderen zurate gezogen werden? • Welche „Gebrauchsanweisung“ meiner wertvollen Stärken würde ich anderen Menschen besten Gewissens empfehlen?

Unsere Werte und Fähigkeiten, die emotionale Basis unseres Lebens, benötigen keinen weiteren Grund, sondern bilden den Grund unseres Handelns, und das macht uns gelassen. Wir können unsere Gedanken und Gefühle nicht immer steuern, doch wir können jederzeit unsere Handlungen nach unseren Werten steuern. Wer sich seiner Werte und Ziele bewusst ist, kann auch in akuten Konfliktsituationen gelassener reagieren. Eigenblut-Transfusion: Rückgriff auf vergangene Erfolge Winfried Scheurich (Name wie immer geändert), Bereichsleiter im Immobiliensektor einer Bank, hat diese Erfahrung gemacht. Scheurich stand vor dem Problem, dass das Top-Management einen neuen Sparkurs einschlagen wollte, der seine Tantiemen um ein Viertel gekürzt hätte. Und das, obgleich die Bank von der von ihm verantworteten Großkunden-Klientel enorm profitierte. Aber der Manager fürchtete die Auseinandersetzung mit seinem Vorstand: „Ich kenne den nun schon lange genug und weiß: Der bügelt jeden, der seine Strategien kritisiert, rhetorisch glatt. Bevorzugt vor versammelter Mannschaft. Das ist pure sadistische Degradierung.“ Gleichzeitig jedoch grämte sich der Manager darüber, so ein „Waschlappen“ zu sein. Eine negative Gedankenspirale, die ihn gefangen hielt. Eine klassische Coaching-Methode, die aus solchen Fallen hinaushilft, ist, sich solcher Situationen zu besinnen, in denen man in ähnlicher Lage eben

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doch schon einmal erfolgreich gehandelt hat  – oder zumindest so, dass es nicht den eigenen Selbstwert herabgesetzt, sondern ihn gestärkt hat. Denn unsere Erfahrungen und ihre Erlebniswerte, abgespeichert im Langzeitgedächtnis als individuelle Selbst-Erzählungen, sammeln einen regelrechten Fundus an Kompetenzen, Stärken und geglückten Handlungsmustern an. Hier sind unsere Erfolgsquotienten abgespeichert, die uns sicher werden lassen, sowie unsere lebenspraktischen Gebrauchsanweisungen, anhand deren wir unserem Grübeln, unseren Zweifeln und Sorgen gegenüber jederzeit innere Ruhe und Zuversicht erreichen können. Folgende Fragen klären uns über unsere sicheren Erfahrungsschätze auf: Erfahrungsschätze • Wann hat es schon mal geklappt (wovor ich nun zurückschrecke)? • Was habe ich damals auf welche Weise vollbracht (woran ich nun wieder zweifle)? • Welche meiner Fähigkeiten, Stärken, Werte oder Charaktereigenschaften (die ich mir, wenn’s wieder drauf ankommt, zu selten bewusst mache) haben zum Erfolg geführt? • Wie lautete in der geglückten Situation meine wirksam bestärkende Selbsterzählung (die ich jedes Mal vergesse, wenn ich grüble oder zweifle)? Nochmals: Unsere Gedanken sind per se nicht schädlich und unsere Gefühle nicht unsere Feinde. Halten wir also Abstand zum Gedankenkino und kaufen seinen Szenen nicht alles ab, sondern vertrauen stattdessen unseren wertvollen Erfahrungen.

Auch Bereichsleiter Scheurich wurde in seiner Erinnerung fündig: Während einer Vorstandssitzung ging es einmal um eine Auseinandersetzung über die neue Strategie, den Immobilien-Sektor in Osteuropa auszubauen. Scheurich fand das unsinnig und argumentierte eloquent dagegen. Der Chef sparte auch damals nicht mit Anfeindungen, doch Scheurich blieb auf seinem Kurs. Der Unterschied war: Er hatte in dem Fall nur sein Ziel vor Augen. „Ich wusste genau, was ich wollte. Weil es mir wichtig war.“ Dieses sinn- und zielkonzentrierte Handeln ließ ihn frei, gelassen und flexibel argumentieren, und zwar nach folgendem Resümee: Gelassen bleibt, wer … • … auf das schaut, zulässt und akzeptiert, was ist; • … das, was ist, zunächst einfach nur wahrnimmt, ohne es zu interpretieren; • … Abstand zu den eigenen, in schwierigen Situationen unwillkürlich auftauchenden Gedanken und Gefühlen hält, das heißt: diese Gedanken und

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Gefühle bewusst als etwas wahrnimmt, das nicht die Realität ist, sondern nur ein Produkt seines Hirns; … seiner Kompetenz im gegenwärtigen Augenblick mehr vertraut als den Gedanken an Zukünftiges oder Vergangenes; … sich seiner Werte und Ziele erinnert und sein Handeln daran ausrichtet; … sich daran erinnert, wie er eine ähnliche Situation schon unter Rück­ griff auf seine Werte, Ziele, Fähigkeiten und Kompetenzen erfolgreich bewäl­tigt hat; … gutheißt oder zumindest sein lässt, was er nicht ändern kann; … sich auf sich selbst besinnt, sich vertraut und sich selbst annimmt in dem, was seine Geschichte ihm an Erfahrungen, Fähigkeiten und Werten mitgegeben hat; … loslässt, was er krampfhaft anstrebt, ihm aber fremd ist und ihm nicht entspricht.

Der Bereichsleiter, der unter dem Einfluss seines widerständigen Vorstandes immer völlig aus dem Konzept gerät, konnte gegensteuern, indem er sich ins Gedächtnis rief, was ihm in solchen Situationen, die am Ende eben doch positiv ausgegangen sind, eigentlich weitergeholfen hat. Seine Eigenblut-­ Transfusion bestand, neben seiner Fähigkeit, Großkunden dienen und Vertrauen in seinen Beziehung aufbauen zu können, nicht zuletzt in seiner Fähigkeit zur Selbstempathie und -akzeptanz. Vor diesem Hintergrund fiel es ihm erheblich leichter, seine stressbedingten und selbstbezogenen Gedanken wie Wolken am Himmel vorüberziehen zu lassen und stattdessen ins produktive Handeln zu kommen: „Ihr Sparkurs greift mit unfairen Mitteln in die Unternehmenskultur. Mein Osteuropagebiet ist das profitabelste Segment der Bank, und mein Engagement sollte sich nicht nur für den Jahresumsatz auszahlen!“ Wer solcherart weiß, was er kann, hat einen großen Trumpf in der Hand, wenn es darum geht, allen Fährnissen des Lebens zum Trotz gelassen zu ­bleiben: Er hat eine hohe Selbstwirksamkeitsererwartung. Von diesem Werte-­ Polster aus gelingt es viel leichter, gelassen zu bleiben. Wie Clint Eastwoods „Blonder“, der weiß, was er kann. Und was er will. Und was er im Hier und Jetzt der Herausforderung erreichen wird. Und der sich deshalb im Angesicht des Feindes erst einmal seelenruhig seinen Zigarillo anzündet.

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