Über die Wahrheit. Teilband 1: De veritate, q. 1-4 9783787333585, 9783787319015

Diese frühen und umfänglichsten Untersuchungen des Thomas von Aquin werden mit dem Begriff der Wahrheit eröffnet, der di

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Über die Wahrheit. Teilband 1: De veritate, q. 1-4
 9783787333585, 9783787319015

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae

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Thomas von Aquin

Quaestiones Disputatae

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung Herausgegeben von Rolf Schönberger Band 1

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

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THOMAS VON AQUIN

Über die Wahrheit De veritate Teilband 1 Übersetzt und herausgegeben von Rolf Schönberger

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Erzdiözesen Regensburg, Augsburg und Passau.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographi­ sche Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1901-5 ISBN eBook 978-3-7873-3358-5

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2023. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speiche­ rung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platte und andere Medien, soweit es nicht §§   53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.  – Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungs­beständigem, säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany.

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Elisabeth: dei mei saturitas Hl. Hieronymus uxori dilectissimae pietatis pignus

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INHALT

Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   XI Verzeichnis der Abkürzungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX Bibliographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI

Thomas von Aquin Ü BER DIE WA HRHEIT

I. Über die Wahrheit 1. Artikel: Was ist Wahrheit?  . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Artikel: Findet sich ›Wahrheit‹ im Verstand grundlegender als in den Dingen?  . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Artikel: Liegt Wahrheit nur im zusprechenden und ­absprechenden Verstand?  . . . . . . . . . . . . . 21 4. Artikel: Gibt es nur eine Wahrheit, durch die alles wahr ist?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 5. Artikel: Ist über die erste Wahrheit hinaus irgendeine ­Wahrheit ewig?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6. Artikel: Ist die geschaffene Wahrheit veränderlich?  . . . 48 7. Artikel: Wird ›Wahrheit‹ bei Gott bezogen auf das Wesen oder bezogen auf eine Person ausgesagt?  . . . . 54 8. Artikel: Hat in der ersten Wahrheit jede andere Wahrheit ­ihren Grund?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 9. Artikel: Ist in der Sinneswahrnehmung Wahrheit?  . . . . 65 10. Artikel: Ist irgendein Ding falsch?  . . . . . . . . . . . . . 67 11. Artikel: Ist in den Sinnen Falschheit?  . . . . . . . . . . . 74 12. Artikel: Ist im Verstand Falschheit?  . . . . . . . . . . . . 79

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VIII

Inhalt

II. Über das Wissen Gottes 1. Artikel: Kommt Gott Wissen zu?  . . . . . . . . . . . . .  83 2. Artikel: Hat Gott von sich selbst eine Erkenntnis bzw. ein Wissen?  . . . . . . . . . . . . . . . .   94 3. Artikel: Erkennt Gott anderes außer sich?  . . . . . . . . 106 4. Artikel: Hat Gott von den Dingen eine spezifische und ­bestimmte Erkenntnis?  . . . . . . . . . . . . . 123 5. Artikel: Erkennt Gott das Einzelne?  . . . . . . . . . . . 132 6. Artikel: Erkennt der menschliche Verstand das Einzelne?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 7. Artikel: Erkennt Gott, daß ein Einzelnes jetzt ist oder nicht ist?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 8. Artikel: Erkennt Gott das Nichtseiende und das, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist?  155 9. Artikel: Hat Gott ein Wissen vom Unendlichen?  . . . . 159 10. Artikel: Kann Gott Unendliches hervorbringen?  . . . . 168 11. Artikel: Wird ›Wissen‹ im rein äquivoken Sinne von Gott und von uns ausgesagt?  . . . . . . . . . . 173 12. Artikel: Hat Gott eine Erkenntnis vom zukünftigen ­kontingenten Einzelnen?  . . . . . . . . . . . . . 183 13. Artikel: Ist das Wissen Gottes veränderlich?  . . . . . . . 196 14. Artikel: Ist das Wissen Gottes die Ursache der Dinge?  . 204 15. Artikel: Hat Gott ein Wissen vom Schlechten?  . . . . . 209

III. Über die Ideen 1. Artikel: Besteht die Behauptung, daß es Ideen gibt, mit Notwendigkeit?  . . . . . . . . . . . . . . . 2. Artikel: Besteht die Behauptung, daß es viele Ideen gibt, mit Notwendigkeit?  . . . . . . . . . . . . . . . 3. Artikel: Gehört die Idee zur theoretischen oder zur ­praktischen Erkenntnis?  . . . . . . . . . . . . . 4. Artikel: Gibt es in Gott eine Idee vom Schlechten?  . . .

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215 228 237 246

Inhalt

IX

5. Artikel: Gibt es in Gott eine Idee von der ersten Materie? 6. Artikel: Gibt es in Gott Ideen von dem, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist?  . . . . . 7. Artikel: Gibt es in Gott eine Idee von Akzidentien?  . . . 8. Artikel: Gibt es in Gott eine Idee von den Einzeldingen? 

250 253 255 259

IV. Über das Wort 1. Artikel: Wird ›Wort‹ von Gott im eigentlichen Sinne ­ausgesagt?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Artikel: Wird ›Wort‹ von Gott bezogen auf das Wesen oder ausschließlich bezogen auf eine Person ­ausgesagt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Artikel: Kommt ›Wort‹ dem Heiligen Geist zu?  . . . 4. Artikel: Spricht der Vater das Geschöpf durch das Wort aus, durch das er sich selbst ausspricht?  5. Artikel: Beinhaltet die Bezeichnung ›Wort‹ eine Beziehung zum Geschöpf?  . . . . . . . . . . . . 6. Artikel: Sind die Dinge in wahrhafterem Sinne im Wort als in sich selbst?  . . . . . . . . . . . . . 7. Artikel: Bezieht sich das Wort auf das, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist?  . . . . . 8. Artikel: Ist alles, was geschaffen ist, im Wort Leben?  .

263

277 285 289 295 303 307 308

Nachwort I. Wahrheit  . . . . . II.  Das Wissen Gottes  III.  Die Ideen  . . . . . IV.  Das Wort  . . . . .

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. 313 . 324 . 337 . 347

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VORWORT

Das Übersetzungsprojekt ›Thomas von Aquin, Quaestiones disputa­ tae. Regensburger Ausgabe‹ ist weder einem Einzelwerk noch einem Gesamtwerk, sondern einer Werkgruppe gewidmet. Was dieses Un­ ternehmen abgesehen von der denkerischen Leistung ihres Autors rechtfertigt, bedarf einer wenigstens skizzenhaften Erläuterung. Disput ist der Austausch von begründeten Behauptungen. Bei­ des kann kontrovers sein, der Inhalt der Behauptung wie die Kraft der Begründung. Begründungen sind für theoretische Wahrheits­ ansprüche nicht weniger unerläßlich als für praktische und rechtli­ che Richtigkeitsansprüche. Die Philosophie hat sich gegenüber an­ deren Einstellungen dadurch definiert, daß sie für die in ihrem Rah­ men erhobenen Ansprüche Rechenschaft gibt und verlangt. Sie hat aber zugleich eine Reihe von Reflexionsfragen gestellt, die etwa den Begriff des Grundes oder die Möglichkeit, daraus ein Prinzip des Grundes zu machen, betreffen, aber auch die weitere Frage, wie diese Gründe jeweils beschaffen sein sollen, die man – vorausgesetzt (!), es gibt nicht für alles dieselbe Art von Grund – je nach Sachzusam­ menhang geben bzw. einfordern kann. Wie zu erwarten, sind gegen diese Form des Nachdenkens vielfältige Einwände aus ganz unter­ schiedlichen Formen der Philosophie erhoben worden. Leibniz be­ richtet in seinen ›Nouveaux Essais‹ von einer lakonischen Frage des Humanisten Isaac Casaubon: »On montra à Casaubon la salle de la Sorbonne: voici un lieu où l’on a disputé durant tant de Siecles; il re­ pondit: Qu’y a-t-on conclu?«1 Daß man zu keiner einhelligen Kon­ 1  Nouv. Ess. IV, 7 (AA VI/6, 418). Dieses Werk, das kein geringerer als Ernst Cassirer 1915 neu ins Deutsche übersetzt hat (Neue Abhand­ lungen über den menschlichen Verstand, Hamburg 1996 [PhB 498]), gibt den Passus folgendermaßen wieder: »Man zeigte dem Casaubonus einmal den Saal der Sorbonne und sagte ihm: Das ist der Ort, wo man so viele Jahrhunderte lang disputiert hat. Er antwortete: Was hat man denn her­ ausgebracht?« (446 f.). Auch Immanuel Kant spielt in einem Brief an Karl Leonhard Reinhold vom 19. Mai 1789 (AA XI, 41) nochmals darauf an.

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XII

Vorwort

klusion gelangt, der Syllogismus aber ohnehin steril sei, war auch die Kritik Descartes’. So nennt auch er Gründe dafür, »weshalb ich lieber Meditationen geschrieben habe als Disputationen«.2 Die Kette einschlägiger Zitate aus Hegel und Nietzsche, aus Heidegger und Jaspers, aus Bergson und Lyotard etc. hätte zahlreiche Glieder. Auch im Denken des Mittelalters steht keineswegs von Anfang an fest, daß die Begründung der Königsweg zur Überwindung von Beliebigkeit ist. Zudem kommt es darauf an anzugeben, was über­ haupt als Grund gelten kann. Ist nicht die göttliche Wahrheit, die sich mitteilt, allein geeignet, jede Beliebigkeit zu überwinden? Liegt nicht zudem erst darin die Möglichkeit der Identifikation und der abschließenden und nicht mehr revisionsbedürftigen Zustimmung, wohingegen das Erwägen von Gründen in gewisser Weise ebenso äußerlich wie unabschließbar bleiben muß? Wo es Gründe gibt, gibt es auch Gegengründe. Da aber selbst jene Wahrheit, wenn sie in Erfahrungen zugänglich werden sollte, dann nur so bestätigt wer­ den kann, daß sich die Erfahrung tatsächlich als eine solche erweist; wenn sie aber in anerkannten Texten enthalten ist, dann wird schnell unabweisbar, daß diese zwar der Auslegung bedürfen, Auslegung aber in Intention und Methode durchaus sehr verschieden sein kann. Bei Interpretationen gibt es einen Spielraum, denn sie können sich freilich ausschließen, sie müssen es aber nicht; sie können einander zu integrieren versuchen, es besteht aber kein Zwang dazu. Überaus bemerkenswert ist, daß ein Anselm von Canterbury ›Be­ gründung‹ im höchstmöglichen Sinne als Beweis versteht, als Ein­ sicht in die Notwendigkeit einer Behauptung – und damit in die Unmöglichkeit der gegenteiligen Behauptung –, und dies auf Fra­ gen anwendet, die existentiell für ihn selbst in keiner Weise fraglich sind. Die Begründung sollte so strikt sein, daß derjenige, der der Be­ hauptung der Existenz Gottes widerspricht, sich unweigerlich selbst widerspricht. Da er in seiner Leugnung den Selbstwiderspruch aber gar nicht bemerkt, unterliegt er nicht nur dem Irrtum, sondern er­ 2  Resp. II (AT VII, 157); dt. Übers. R. D., Meditationen. Mit sämtli­ chen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und herausgegeben v. Ch. Wohlers, Hamburg 2009, 166 [PhB 598].

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Vorwort

XIII

weist sich als Tor. Anselms Anstrengung hat aber wohl den Fortgang der denkerischen Anstrengungen nicht so stark geprägt wie vielfach unterstellt, denn große Beachtung hat das Argument Anselms zu­ nächst nicht gefunden. Unabweisbarer war schon Peter Abaelards Demonstration der Uneinheitlichkeit der Auslegungstradition. Das vielfältige Für und Wider erfordert Klärung. Im 12. Jahrhundert wird das Bedürfnis nach rationaler, also Begründung gebender Klä­ rung so groß, daß das Mittelalter eine Form findet, die es in dieser Weise weder in der Antike noch in philosophischen Kulturen des Judentums oder des Islams gegeben hat: die quaestio, also Frage im Sinne von Untersuchung. Diese Fragen sind nun wesentlich klein­ räumiger als etwa Anselms Frage: ›Cur Deus homo?‹ Aus welchem Grunde ist Gott Mensch geworden?3 Das vervielfältigt natürlich die Anzahl der Einzelfragen, die daher ihrerseits in ein verständliches Verhältnis zu bringen sind. Vor allem aber bekommt die quaestio einen typischen Aufbau:4 Die Frage eröffnet nicht – gerade nicht! – unmittelbar den Gang zu ihrer Beantwortung, sie setzt vielmehr ein mit referierten Argumenten. Die Frage ist so gestellt, daß man darauf eine bejahende oder eine verneinende Antwort geben kann. Die Argumente werden so gruppiert, daß sie zuerst entweder für eine affirmative oder eine negative Antwort sprechen und dann um­ gekehrt. Erst nachdem mit dem Für und Wider gezeigt ist, worum es geht und was auf dem Spiel steht, wird die Antwort entwickelt. Dabei kommt es immer wieder vor, daß sich die zuerst aufgestellte Alternative als eine Scheinalternative erweist oder es sich zeigt, daß die Frage in anderer Weise gar nicht hinreichend bestimmt oder 3  Vgl. Klaus Jacobi, Der disputative Charakter scholastischen Philo­ sophierens, in: A. Speer (Hg.), Philosophie und geistiges Erbe des Mit­ telalters. Beiträge gehalten auf dem Symposion zum 65. Geburtstag von Professor Albert Zimmermann am 9. Juli 1993, Köln 1994, 31–42; hier 39 [Kölner Universitätsreden, 75]. 4  Wenn die Quaestio nur das Thema angibt, werden die konkreten Fragen dann nicht wiederum quaestiones, sondern articuli genannt, es bleibt aber ohne Abstriche bei der skizzierten Struktur. Dazu jüngst: K. Jacobi, Thomas von Aquin, Summa theologiae, Bd.  9 A: Ziel und Handeln des Menschen, Einleitung, Text und Übersetzung. I-II, 1–21, Berlin  /  Bo­ ston 2021, (31)–(36).

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Vorwort

gar unter falschen Voraussetzungen gestellt ist. Denken ist, wenn es philosophisch ist, nicht optieren. Die Klärung bzw. »Lösung« der Frage setzt also die Klärung der Begriffe, der Voraussetzungen und Folgerungen sowie nicht zuletzt auch die Bestimmung der Ansprü­ che voraus. Diese Aufgabe der Bewältigung kann man bescheidener oder anspruchsvoller betreiben – Thomas betreibt sie sogar heraus­ ragend anspruchsvoll. Die Argumente für die zurückgewiesene Al­ ternative müssen dann am Ende noch Punkt für Punkt widerlegt werden, und wenn die Argumente zwar zugunsten der gegebenen Antwort sprechen, aber gleichwohl unzulänglich sind, muß auch das noch eigens gezeigt und korrigiert werden. Dieser Aufbau bildet den Kern dessen, was wohl die berühmteste Form der mittelalterlichen Scholastik gelten kann: die sog. Summa, die entweder einem ganzen Fach oder einem größeren Themen­ komplex gilt. Die ›Summa der Theologie‹ des Thomas von Aquin enthält etwa 3000 solcher Fragen. Ihr Aufbau hat vielfach Bewun­ derung hervorgerufen und den vielzitierten Vergleich mit der mit­ telalterlichen Kathedrale nahegelegt.5 Da diese aber einführenden, jedenfalls zusammenfassenden Charakter hat – denn das meint hier ›Summa‹ –, ist die Anzahl der Argumente auf ein Minimum redu­ ziert. Während es hier meistens drei für die eine und ein einziges für die andere Seite sind, können es in den ›Quaestiones disputatae‹ bis zu drei Dutzend sein – und das zugunsten jeder der beiden Seiten. Abgesehen von der Disputationslust (manchmal wohl auch Streit­ lust) der magistri und studiosi hat dies aber auch noch einen ande­ ren Grund: Diese literarische Gattung hat einen viel engeren Zu­ sammenhang mit der Mündlichkeit, sprich den akademischen Lehr­ veranstaltungen, als das bei den Summen der Fall ist. Auch in dieser 5  A. Dempf, Die Hauptform mittelalterlicher Weltanschauung. Eine geisteswissenschaftliche Studie über die Summa, München 1925; E. Pa­ nofsky: Gothic Architecture and Scholasticism. Latrobe 1951; dt.: Gothi­ sche Architektur und Scholastik. Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter, Köln 1989. Die Voraussetzung einer Spie­ gelung von Lehre und Werk hat in der Forschung zu der Debatte geführt, ob denn ein Artikel jeweils einer Sitzung entspricht. Den besonnensten Vorschlag hat J.-P. Torrell gemacht: Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg  /  Basel  /  Wien 1995, 81–83.

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Vorwort

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Hinsicht sind diese Texte nicht mit einem Dialog Platons vergleich­ bar. Man darf gleichwohl darin auch kein Protokoll einer seminar­ artigen Diskussion sehen – der Ablauf einer solchen universitäts­ öffentlichen Disputation unterliegt ohnehin strengen und festen Regeln. Thomas hat seine Texte diktiert und sie anschließend noch­ mals korrigiert.6 Die Gesamtdarstellung und ihr durchdachter Auf­ bau7 hat nicht nur große Bewunderung, sondern auch große Auf­ merksamkeit auf sich gezogen. Wolfgang Kluxen, der der Stellung der Moralphilosophie im Denken des Thomas von Aquin eine Un­ tersuchung, die zum Referenzwerk geworden ist, gewidmet hat,8 hat korrigierend davon gesprochen, daß es sich bei diesen ›Quaestiones disputatae‹ um eine Art »›Forschungsbeiträge‹«9 handelt, die deshalb an aktuellen Debatten orientiert sind. Auch Kurt Flasch hält diese gegenüber der Summa für »philosophisch gründlicher«10. Das scheint ein plausibler Grund dafür zu sein, daß diese Werk­ gruppe das Interesse auch außerhalb von Neuscholastik und Neutho­ mismus erregt hat. Die Konvertitin Edith Stein, die philosophisch durch die Phänomenologie Husserls geprägt ist, beschäftigt sich in­ tensiv mit dem Kirchenlehrer Thomas von Aquin. In diesem Zu­ 6  Für ›De veritate‹ ist erst im 20. Jahrhundert ein solcher Text entdeckt worden, der von q.  2 bis q.  22 reicht. Darin sind ca. 10.000 Korrekturen ge­ genüber den früher gedruckten Ausgaben gefunden worden: J.-P. Torrell, Magister Thomas, p.  85. 7  Auch dieser selbst ist Gegenstand einer ausgiebigen Diskussion ge­ worden. Ein ganzes Buch dazu mit besonders sensiblen Beobachtungen und überaus vielfältigen Bedeutungsrelationen: W. Metz: Die Architekto­ nik der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Zur Gesamtansicht des thomasischen Gedankens, Hamburg 1998 [Paradeigmata, 18]. 8  Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 31998 [1. Aufl. 1964]. 9  Thomas von Aquin: Das Seiende und seine Prinzipien, in: W. Kluxen, Aspekte und Stationen der mittelalterlichen Philosophie, hg. v. L. Honne­ felder / H. Möhle, Paderborn  /  München  /  Wien  /  Zürich 2012, 69–103; hier p.  70. 10  Das philosophische Denken im Mittelalter [1986], Stuttgart 32013, p.  390. Er nennt allerdings verschiedene Hinsichten, in denen seiner Ein­ schätzung nach die anderen großen Werke jeweils der Summa überlegen sind.

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XVI

Vorwort

sammenhang macht sich Stein, die schon Alexandre Koyré und John Henry Newman ins Deutsche übersetzt hat, an die Übersetzung von ›De veritate‹, dem mit Abstand umfangreichsten Werk dieser Gat­ tung bei Thomas. Da sie dies nur zusätzlich zu ihren beruflichen Pflichten bewältigen kann, ist dies einerseits eine enorme Arbeits­ belastung, andererseits aber ausdrücklich für sie ein Weg, in das Denken des Thomas, dessen Fremdheit ihr in aller Deutlichkeit vor Augen steht, einzudringen. Als die Übersetzungsausgabe Anfang der 1930er Jahre erscheint, steuert der international bekannte Mittelalterforscher Martin Grab­ mann ein Geleitwort bei. In gewisser Hinsicht war ihre Übersetzung auch Anlaß dafür, daß der noch ganz junge Theologiestudent Joseph Ratzinger ein anderes Werk dieser Gruppe übersetzt hat, dabei aber anders verfährt und auch sprachlich anders vorgeht.11 Wenn nun in diesem schon lange im Gang befindlichen Unter­ nehmen einer Gesamtübersetzung gleichwohl nicht nur die bislang unübersetzt gebliebenen Werke, sondern die gesamte Werkgruppe übersetzt wird, hat dies nicht mit der sprachlichen Qualität der deut­ schen Erstübersetzungen zu tun. Man kann Steins Übersetzung nur mit Bewunderung lesen. Aber die Präsentation ist doch bedenklich, auch wenn – merkwürdig genug – die zünftige Mediävistik in den Rezensionen seinerzeit kein Problem darin gesehen hat. Edith Stein übersetzt nämlich selektiv. Die Eingangsargumente bleiben vollständig außer Betracht, von den Erwiderungen auf diese Eingangsargumente übersetzt sie nur einen kleineren Teil. Die Texte werden mit Überleitungstexten versehen und am Ende der Quaestio formuliert Stein ein Resümee. Daher werden die übersetzten Texte in Anführungszeichen gesetzt. Das sind keine Seltsamkeiten, denn all dies entspricht genau der Intention der Übersetzerin: Sie fertigt diese Übersetzungen für ihr eigenes Eindringen in die Gedanken 11  Erst sieben Jahrzehnte später publiziert: Thomas von Aquin, Unter­ suchungen über die Liebe. Übersetzt von Joseph Ratzinger. Durchgese­ hen, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen und herausgege­ ben von Rolf Schönberger, Regensburg 2017 [Monographische Beiträge zu den Mitteilungen. Institut Papst Benedikt XVI., hg. v. R. Voderholzer, Ch. Schaller, F.-X. Heibl, 4].

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Vorwort

XVII

des Thomas an und will so seine Lehre anderen zugänglich ma­ chen. Sie hat zweifellos den immensen Wert dieser Texte erkannt. Sie nennt es sogar sein »philosophisches Hauptwerk«12 und erachtet diese Textform derjenigen der Summa überlegen. In ihrer Rezension des ersten Bandes der Deutschen Thomas-Ausgabe sagt sie: »Darum beschränkt sich der Hl. Thomas in der Summa bewußt in der Abwä­ gung der Gründe und Gegengründe, und vielfach werden die tiefe­ ren Zusammenhänge für uns erst aus der ausführlichen Behandlung derselben Fragen in anderen Schriften des Doctor Angelicus, vor allem aus seinen Quaestiones Disputatae, ersichtlich.«13 Aber die Kürzung der Eingangsargumente ist eben nicht, wie der schon ge­ nannte Martin Grabmann14 oder auch Franz Pelster15 meinen, eine willkommene Tilgung von Kleinkram,16 sondern verkennt die Form des Wissens, die sich in dieser literarischen Gattung artikuliert. Die Konfrontation der Argumente zeigt an, welches Problem genau zu lösen ist, denn dies entsteht und zeigt sich ja gerade erst durch diese Konfrontation. Platon und Aristoteles nannten dies mit unterschied­ 12  Brief Nr. 89 vom 8. 8. 1925 an R. Ingarden, ESGA IV, p.  158. 13  ESGA XXVII, p.  193. 14  Grabmann urteilt, die eingangs obligatorischen Einwände und Ge­

genargumente sowie die abschließenden Erwiderungen seien nur von ge­ schichtlichem Interesse, aber »für einen sachlich und inhaltlich eingestell­ ten modernen Menschen vielfach wenig ansprechend […] Frl. Dr. Edith Stein hat deshalb gut daran getan, sogleich die prinzipielle Lösung der Frage im corpus articuli oder in der responsio principalis wiederzugeben und anschließend daran aus den Einwänden und deren Lösung das Wich­ tigste herauszuheben« (Geleitwort, ESGA XXIV, 926). Anders als man­ cher Rezensent und Briefpartner attestiert er der Übersetzung, sie sei »mit größter Hingabe und reichstem Verständnis« (927) erarbeitet. 15  Pelster begrüßt es in einem Brief (Nr. 155, 9.5.1931; ESGA II, 172) an E. Stein, daß man durch die »resolute Auswahl« sich nicht mehr »durch unendlich viel mehr oder minder wertlosen Ballast hindurcharbeiten« muß, und lobt die Übersetzerin: »Da ist es gut, daß einmal eine Frau kommt und resolut sagt: Lassen wir das wertlose Zeug beiseite.« 16  Auch A. Zimmermann bietet in seiner Übersetzung von De veri­ tate, q.  1, nicht den vollständigen Text: Thomas von Aquin, Von der Wahr­ heit. De veritate, Quaestio I, hg. v. Albert Zimmermann, Hamburg 1986 [PhB 384].

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XVIII

Vorwort

lichen Akzenten »Aporie«. Die dann einsetzende konzeptionelle und legitimatorische Anstrengung dient der Auflösung der Aporie. Man assoziiert mit Scholastik vielfach die Beweisform des Syllogismus. Aber vor allem die Beschreibung des Zieles bei diesen Disputen scheint mir – der Sache nach, nicht historisch – ganz aristotelisch: »Die spätere Klarheit ist die Lösung der zuvor gestellten Probleme.«17 Eine so umfängliche Werkgruppe zu übersetzen bedarf auch einer Gruppe von Übersetzern. Daher kann man Einheitlichkeit nur in formalen Belangen, nicht im Stil erwarten. Allen Übersetzern sei an dieser Stelle für ihr Interesse, ihr Engagement und ihre Geduld von Herzen gedankt. Dieses Interesse bliebe aber privat, wenn nicht auch ein Verlag dafür Sinn und Interesse aufbrächte. Dafür, aber auch für die besondere Ausstattung der Ausgabe habe ich dem Ver­ lag Felix Meiner sehr zu danken. Darüber hinaus hat aber auch die Laufzeit der Unternehmung viel Verständnis und Geduld erfordert. Dies verpflichtet mich ebenso zu großem Dank wie die vielfältige und großzügige Unterstützung durch Druckkostenzuschüsse von unterschiedlicher Seite. Rolf Schönberger

17  Aristoteles, Met. III, 1; 995 a 28–29: ἡ γὰρ ὕστερον εὐπορία λύσις τῶν πρότερον ἀπορουμένων ἐστί [Übers. Th. A. Szlezák]; vgl. Eth. Nic. VII, 4; 1146 b 7–8: ἡ γὰρ λύσις τῆς ἀπορίας εὕρεσίς ἐστιν (»Die Wahrheitsfindung besteht nämlich in der Auflösung der Schwierigkeit« [Übers. D. Frede]).

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VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN

a. articulus c. capitulum CCSL

Corpus Christianorum. Series latina

Comp. theol.

Compendium theologiae

Corp. art.

Corpus articuli (= Antwort)

CPhDMA

Corpus philosophorum danicorum medii aevi

CSEL

Corpus scriptorium ecclesiaticorum latinorum

De pot.

Quaestiones disputatae de potentia

De ver. rel.

De vera religione

Dion. Dionysiaca DW

Deutsche Werke

Ed. Col.

Editio Coloniensis

Ed. Leon.

Editio Leonina

Ed.

editio  /  edidit

Ench.

Enchiridion de fide, spe et caritate

ESGA

Edith Stein Gesamtausgabe

HBPhMA

Herders Bibliothek der Philosophie des Mittel­ alters

HWPh

Historisches Wörterbuch der Philosophie

In De an.

Sentencia libri De anima

In De div. nom.

In librum beati Dionysii De divinis nominibus expositio

In Ioh.

Lectura in Iohannis evangelium

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Abkürzungen

XX

In Met.

In duodecim libros Metaphysicorum Aristote­ lis expositio

In Periherm.

Expositio libri Peryhermenias (Expositio libri Peri­hermeneias)

In Phys.

In octo libros Physicorum Aristotelis expositio

LW

Lateinische Werke

Met. Metaphysica OPh

Opera philosophica

PhB

Philosophische Bibliothek

Philos. prima

Philosophia prima

PL

Patrologia latina

Proleg.

Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta­ physik, die als Wissenschaft wird auftreten können

q. quaestio Quodl.

Quaestiones de quolibet

Retract. Retractationes ScG

Summa contra gentiles

Sent.

Lectura in […] Sententiarum (Scriptum super libros Sententiarum)

Solil. Soliloquia Sum. theol.

Summa theologiae

Top. Topica

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BIBLIOGRAPHIE

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XXII

Bibliographie

Thomas de Aquino: Quaestiones quodlibetales, in: Opera omnia (editio Leonina), XXV/1–2, ed. René-Antoine Gauthier, Rom  /  Pa­ ris (Cerf) 1996. Thomas de Aquino: Scriptum super libros Sententiarum. Bd.  I–II, ed. P. Mandonnet; Bd.  III–IV, ed. M. F. Moos, Paris 1929 ff.; [un­ vollständig; für die restlichen Teile: 1872–1874. Opera omnia. Bd.  VII–XI, ed. S. E. Fretté. Paris (Vivès) 1874. Thomas de Aquino: Sentencia libri De anima, in: Sancti Thomae de Aquino opera omnia, XLV/1, ed. René-Antoine Gauthier, Rom  / Paris (Commissio Leonina  /  Vrin) 1984. Thomas de Aquino: Sententia libri Ethicorum, in: Opera omnia (edi­ tio Leonina), XLVII/1–2, ed. René-Antoine Gauthier, Paris (Ad Sanctae Sabinae) 1969. Thomas de Aquino: Super librum de causis expositio, ed. Henri Dominique Saffrey, Fribourg  /  Louvain (Sociétés philosophique  / Éditions E. Nauwelaerts) 1954 [Textus philosophici Friburgenses, Bd.  4/5].

b) Übersetzungen Bonino, Serge-Thomas, La science en Dieu, Fribourg  /  Paris 1996 [Vestigia, 17]. Thomas von Aquin: Untersuchungen über die Wahrheit [1931–1932], in deutscher Übertragung von E. Stein, Louvain  /  Freiburg 1952. Thomas von Aquin: Von der Wahrheit. De veritate (Quaestio I). Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von A. Zimmermann, Hamburg (Meiner) 1986 [PhB 384]. Stein, Edith: Übersetzung: Des Hl. Thomas von Aquino Untersu­ chungen über die Wahrheit. Quaestiones disputatae de veritate. Eingeführt und bearbeitet von Andreas Speer und Francesco Vale­ rio Tommasi, in: Edith Stein Gesamtausgabe, XXIII–XXIV [Über­ setzungen, III–IV]. Herausgegeben vom Karmel »Maria vom Frie­ den« zu Köln, Freiburg  /  Basel  /  Wien (Herder) 2008. Thomas von Aquin: Über Gottes Vermögen. De potentia Dei. Teil­ band 3. Übersetzt und herausgegeben von Stephan Grotz. Über die Einung des menschgewordenen Wortes. De unione verbi in­

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Bibliographie

XXIII

carnati. Übersetzt und herausgegeben von Andreas Schönfeld. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae. Vollständige Aus­ gabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung. Herausgegeben von Rolf Schönberger, Bd.  IX, Hamburg (Meiner) 2019. Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden. Herausgegeben und übersetzt von Karl Albert und Paulus Engelhardt, unter Mitarbeit von Leo Dümpelmann (Bd.  I u. II), Karl Allgaier (Bd.  III, 1 [Lat. Text besorgt u. m. Anm. versehen von L. Gerken]; Bd.  III, 2), Mar­ kus H. Wörner (Bd.  IV), Darmstadt (WBG) 1974–1996. Thomas von Aquin: Die Seele. Erklärungen zu den drei Büchern des Aristoteles »Über die Seele«, übertragen und eingeleitet von Alois Mager O. S. B, Wien (Hegner) 1937. Thomas von Aquin: Compendium theologiae. Grundriß der Glau­ benslehre. Deutsch – Lateinisch. Übersetzt von Hans Louis Fäh. Herausgegeben von Rudolf Tannhof, Heidelberg (Kerle) 1963. Thomas von Aquins Kommentar zum Johannesevangelium, Teil 1, ed. P. Weingartner, M. Ernst u. W. Schöner, Göttingen (Vanden­ hoeck & Ruprecht) 2011; Teil 2 2016. Thomas von Aquin: Das Wort. Verdeutscht von Josef Pieper, Mün­ chen (Kösel) 31955. Jetzt auch: Das Wort. Kommentar zum Prolog des Johannes-Evangeliums (lat. / dt.), Übersetzt von Josef Pieper. Hrsg. von Hanns-Gregor Nissing und Berthold Wald, München (Pneuma) 1917 [Einführende Schriften, 1]. Thomas von Aquin: Über die Wahrheit. Quaestiones disputatae de veritate. In der Übersetzung von Edith Stein [»behutsam revidiert nach der Ausgabe Breslau 1931/32«], Mainz (Marix) 2013. Thomas von Aquin: Über das Seiende und das Wesen. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Wolfgang Kluxen, Frei­ burg  /  Basel  /  Wien (Herder) 2007 [HBPhMA, 7]. Thomas von Aquin: Das Eine und das, was aus dem Einen folgt. Kommentar zu Aristoteles’ Metaphysik. 10 Buch. Deutsch – La­ teinisch. Aus dem Lateinischen übersetzt von Raphael Georg Kürzinger, Neunkirchen-Seelscheid (Editiones scholasticae) 2020 [Lectiones Thomisticae, hg. v. K. Obenauer, Bd.  8]. Thomas von Aquin: Materielle Substanz – immaterielle Substanz – Gott. Kommentar zu Aristoteles’ Metaphysik. Deutsch – Latei­ nisch. 12. Buch. Aus dem Lateinischen übersetzt von Klaus Obe­

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XXIV

Bibliographie

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XXVI

Bibliographie

Aristoteles: Physica, in: Opera, hg. v. I. Bekker, Berlin (de Gruyter) 1831 [ND 1960]. Aristoteles: Rhetorica, in: Opera, hg. v. I. Bekker, Berlin (de Gruy­ ter) 1831 [ND 1960]. Aristoteles: Ethica Nicomachea, hg. v. I. Bywater, Oxford (Claren­ don Press) 1979. Augustinus: Confessiones, ed. L. Verheijen, Turnhout (Brepols) 1981 [CCSL 27]. Augustinus: De trinitate, ed. W. J. Mountain / F. Glorie, Turnhout (Brepols) 1968 (ND 2001) [CCSL 50–50 A]. Augustinus: De vera religione, ed. K.-D. Daur, Turnhout (Brepols) 1962, 187–260 [CCSL 32]. Augustinus: Enarrationes in Psalmos, ed. D. E. Dekkers u. I. Fraipont, Turnhout (Brepols) 1956 [CCSL 38–40]. Augustinus: Enchiridion ad Laurentium de fide et spe et caritate, ed. E. Evans, Turnhout (Brepols) 1969 [CCSL 46]. Augustinus: De civitate Dei, ed. B. Dombart / A. Kalb, Turnhout (Brepols) 1955 (CCSL 47–48]. Augustinus: De diversis quaestionibus octoginta tribus, ed. A. Mut­ zenbacher, Turnhout (Brepols) 1975, 1–249 [CCSL 44 A]. Augustinus: De Genesi ad litteram. De Genesi ad litteram liber im­ perfectus, Locutiones in Heptateuchum, ed. Joseph Zycha, Wien (Hoelder-Pichler-Tempsky) 1894 [CSEL 28/1]. Augustinus, De inmortalitate animae, in: id., S Soliloquiorum li­ bri duo, ed. W. Hörmann, Wien (Hölder-Pichler-Tempsky) 1986, 99–128 [CSEL 89]. Augustinus: De libero arbitrio, ed. W. M. Green / K. D. Daur, Turn­ hout (Brepols) 1970, 209–321 [CCSL 29]. Augustinus: De natura boni, ed. J. Zycha 1892, CSEL 25/2, Prag  / Wien  /  Leipzig 1892, 853–880. Augustinus: Enarrationes in Psalmos, ed. D. E. Dekkers / I. Fraipont, Turnhout (Brepols) 1956 [CCSL 38–40]. Augustinus: Enchiridion ad Laurentium de fide et spe et caritate, ed. E. Evans, Turnhout (Brepols) 1969 [CCSL 46]. Augustinus: Epistulae [I–LV], ed. K.-D. Daur, Turnhout (Brepols) 2004 [CCSL 31].

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Bibliographie

XXVII

Augustinus: In Iohannis evangelium tractatus CXXIV, ed. D. R. Willems, Turnhout (Brepols) 1954 [CCSL 36]. Augustinus: Retractationes, ed. Almut Mutzenbecher, Turnhout (Brepols) 1984 [CCSL 57]. Augustinus: Soliloquiorum libri duo. De inmortalitate animae. De quantitate animae, ed. W. Hörmann, Wien (Hoelder-PichlerTempsky) 1986, 1–98 [CSEL 89]. Augustinus (?): Principia dialecticae, ed. J.-P. Migne, PL 32, col. 1409– 1420. Averroes: Commentarium magnum in Aristotelis De anima libros, ed. F. S. Crawford, Cambridge, Mass. 1953 [Corpus Commenta­ riorum Averrois in Aristotelem, Versionum latinarum VI/1]. Averroes: Commentarium magnum in libros De anima, in: Aristo­ telis opera cum Averrois Cordubensis commentaries, Venedig (Iunta) 1562–1574, Bd.  VI/1 [ND: Frankfurt a. M. (Minerva) 1962]. Averroes: Commentum medium in Aristotelis Posteriorum Ana­ lyticorum libros, in: Aristotelis opera cum Averrois Cordubensis commentaries, Venedig (Iunta) 1562–1574, Bd.  I/2 [ND: Frank­ furt a.  M. (Minerva) 1962]. Averroes: Commentarium magnum in Metaphysicam, in: Aristo­ telis opera cum Averrois Cordubensis commentaries, Venedig (Iunta) 1562–1574, Bd.  VIII [ND: Frankfurt a. M. (Minerva) 1962]. Averroes: Commentarium magnum in Physicam, in: Aristotelis opera cum Averrois Cordubensis commentaries, Venedig (Iunta) 1562–1574, Bd. IV, 1562 [ND: Frankfurt a.  M. (Minerva) 1962]. Averroes: In librum V (Δ) Metaphysicorum Aristotelis commen­ tarius. Edizione condotta su manosritti scleti con introduzione, note ed uno studio storico-filosofico, ed. Ruggero Ponzalli, Bern (Francke) 1971. Avicenna: Metaphysica, Venedig 1508. Avicenna: Liber de philosophia prima sive scientia divina. Édition critique de la traduction latine médiévale par S. Van Riet, 2 Bde., Louvain  /  Leiden (E. Peeters / E. J. Brill) 1977/1980. Avicenna: Liber canonis, Venedig 1507 [ND: Hildesheim (Olms) 1964]. Avicenna: Sufficientia, I, in: Opera. In lucem redacta ac nuper quan­ tum ars niti potuit per canonicos emendata, Venedig 1508 [ND: Frankfurt a.  M. (Minerva) 1961].

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XXVIII

Bibliographie

Boethius: Philosophiae consolatio, ed. L. Bieler, Turnhout (Brepols) 1984 [CCSL 94]. Boethius: In Isagogen Porphyrii commenta – copiis G. Schepss comparatis suisque usus ed. S. Brandt, Wien (Hoelder-PichlerTempsky) 1906 [CSEL 48]. Bonaventura: Commentarius in quattuor libros Sententiarum, in: Opera omnia, ed. Collegium s. Bonaventurae, I–IV, Quaracchi 1882/1885/1887/1889 (4 Bde.). Bonaventura: Collationes in Hexaemeron, in: Opera omnia, V, Qua­ racchi 1891, 329–449. Dionysius Areopagita: De divinis nominibus, in: Corpus Dionysia­ cum, I, ed. B. R. Suchla, Berlin  /  New York (de Gruyter) 1990 [Pa­ tristische Texte und Studien, 33]. Dionysius Areopagita: De ecclesiastica hierarchia, in: Corpus Dio­ nysiacum, II, ed. G. Heil † u. A. M. Ritter, Berlin  /  New York (de Gruyter) 1991, 61–132 [Patristische Texte und Studien, 36]. Dionysiaca. Recueil donnant l’ensemble des traductions latines des ou­ vrages attribués au Denys de l’Aréopagite et synopse marquant la valeur de citations presque innombrable allant seules depuis long­ temps, remises enfin dans leur contexte au moyen d’une nomen­ clature d’un usage très facile, ed. Philippe Chevallier, Brügge (De­ sclée de Brouwer & Cie) 1937 [ND Stuttgart-Bad Cannstatt (From­ mann-Holzboog) 1989, mit einem Nachwort von Martin Bauer]. Gregorius Magnus: Dialogi. Dialogues, ed. Adalbert de Vogüé / Paul Antin (Übers.), Paris (Cerf) 1978/1979/1980 (3 Bde.) [Bd.  I: Intro­ duction, bibliographie et cartes; Bd.  II: lib.  I–III; Bd.  III: lib.  IV] [SC 251; 260; 265] [ND: 2006]. Gregorius Magnus: Moralia in Iob, ed. M. Adriaen, Turnhout (Bre­ pols) 1985 [CCSL 143, 143 A, 143 B]. Guillelmus Alveriensis [Wilhelm von Auvergne]: De universo, in: Opera omnia, Paris 1674. I, 593–1074. [ND: Frankfurt a.  M. (Mi­ nerva) 1963]. Hilarius Pictaviensis: De trinitate, ed. R. Smulders, Turnhout (Bre­ pols) 1980 [CCSL 60–62 A]. Hugo de Sancto Victore, De sacramentis christianae fidei, ed. Rainer Berndt, Münster (Aschendorff) 2008 [Corpus Victorinum. Textus historici, 1].

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Bibliographie

XXIX

Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive Originum libri XX, PL 82, Paris 1850, 73–728. Isidorus Hispalensis Episcopus: Etymologiarum sive originum libri XX, ed. Martin Lindsay Wallace, Oxford (Clarendon Press) 1911. Iohannes Damascenus: De fide orthodoxa. Versions of Burgundio and Cerbanus, ed. Eligius M. Buytaert, Louvain 1955 [Franciscan Institute Publications. Text series, 8]. Iohannes Duns Scotus: Reportata Parisiensia, in: Opera omnia, XXII–XXIV, ed. L. Vivès, Paris 1894. Johannes Duns Scotus: De rerum principio. Über das erste Prinzip. Herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Kluxen, Darmstadt (WBG) 1974 [Texte zur Forschung, 20]. Justinianus: Digesta Iustiniani Augusti, ed. Th. Mommsen, Berlin (Weidmann) 1962. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd.  II, Frankfurt a.  M. (Insel) o. J. Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd.  III, 111–264, Frankfurt a. M. (Insel) o. J. Martinus de Dacia: De modis significandi, in: CPhDMA II, ed. Hen­ rich Roos, Kopenhagen 1961, 1–118. Nicolaus de Cotrone: Liber de fide trinitatis e diversis auctoritatibus sanctorum graecorum confectus contra graecos, in: Sancti Tho­ mae Aquinatis opera omnia, ed. Leon. XL, Rom 1969, A 109–151. Origenes: Commentaire sur l’Épître aux Romains, Livres I–II, tome I., L. Brésard, M. Fédou Paris (Cerf) 2009 [SC 532]; III–V, tome II., L. Brésard, M. Fédou Paris (Cerf) 2010 [SC 539]); Livres VI–VIII, tome III., L. Brésard, M. Fédou Paris (Cerf) 2011 [SC 543]; Livres IX–X, tome IV., L. Brésard, M. Fédou, Paris (Cerf) 2012 [SC 555]. Petrus Lombardus: Sententiae in IV libros distinctae, ed. Collegii S. Bonaventurae ad Claras Aquas, Grottaferrata, Rom 1971 [Spi­ cilegium Bonaventurianum, 4–5]. Petrus Lombardus: Glossa in Psalmos, in: PL 191, ed. Jacques-Paul Migne, Paris 1854, 55–1296.

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XXX

Bibliographie

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THOMAS VON AQUIN

Über die Wahrheit

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I. ÜBER DIE WAHRHEIT

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Was ist Wahrheit? 2. Findet sich ›Wahrheit‹ im Verstand grundlegender als in den Dingen? 3. Liegt Wahrheit nur im zusprechenden und absprechenden Verstand? 4. Gibt es nur eine Wahrheit, durch die alles wahr ist? 5. Ist über die erste Wahrheit hinaus irgendeine Wahrheit ewig? 6. Ist die geschaffene Wahrheit unveränderlich? 7. Wird ›Wahrheit‹ bei Gott bezogen auf das Wesen oder bezo­ gen auf eine Person ausgesagt? 8. Hat in der ersten Wahrheit jede andere Wahrheit ihren Grund? 9. Ist in der Sinneswahrnehmung Wahrheit? 10. Ist irgendein Ding falsch? 11. Ist in den Sinnen Falschheit? 12. Ist im Verstand Falschheit?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Was ist Wahrheit?1 Es scheint nun aber der Fall zu sein, daß das Wahre schlechthin dasselbe ist wie das Seiende; denn: 1.  Augustinus sagt in seiner Schrift Selbstgespräche, daß »das Wahre das ist, was ist«2. Nun ist aber das, was ist, nichts anderes als das Seiende. Also bezeichnet das Wahre schlechthin dasselbe wie das Seiende.

1  Paralleltexte: Sent. I, d. 19, q.  5, a.  1; Sum. theol. I, q.  16, a.  3. 2  Augustinus, Solil. II, 5, 8 (CSEL 89, 56).

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Quaestio · 1

2.  Der Respondent entgegnete, daß sie zwar denselben Träger ha­ ben, sich aber dem Begriff nach unterscheiden. – Doch dem steht wiederum entgegen: Der Begriff eines jeden Dinges ist dasjenige, was durch seine Definition bezeichnet wird.3 Doch wird von Augu­ stinus »das, was ist«, als Definition des Wahren angegeben, womit gleichzeitig andere Definitionen zurückgewiesen werden. Wenn also im Hinblick auf »das, was ist«, das Wahre und das Seiende über­ einkommen, scheint es, daß sie in ihrem Begriff dasselbe sind. 3.  Was immer sich dem Begriff nach unterscheidet, verhält sich so zueinander, daß das eine ohne das andere verstanden werden kann. Daher sagt Boethius im Buch Über die Hebdomaden4, daß es mög­ lich ist, zu denken, daß Gott ist, auch wenn für eine kurze Zeit sein Gutsein durch den Verstand weggedacht wird. Das Seiende kann aber auf keine Weise verstanden werden, wenn das Wahre wegge­ dacht wird, weil durch jenes gerade verstanden wird, was das Wahre ist. Also unterscheiden sich das Wahre und das Seiende nicht in ­ihrem Begriff. 4.  Wenn das Wahre nicht dasselbe wie das Seiende ist, ist es not­ wendig, daß es ein Bestimmungsmoment des Seienden ist. Es kann aber kein Bestimmungsmoment des Seienden sein, weil es keine vollständig aufhebende Bestimmung ist, denn andern­ falls würde folgen: ›Es ist ein Wahres, also ist es ein Nichtseiendes‹, wie ja auch folgt: ›Es ist ein toter Mensch, also ist es kein Mensch.‹ Ebenso ist es keine einschränkende Bestimmung, weil andernfalls nicht folgen würde: ›Es ist wahr, also ist es‹, so wie auch nicht folgt: ›Er hat weiße Zähne, also ist er weiß.‹5 Genauso ist es keine näher bestimmende und artbildende Be­ stimmung, weil es auf diese Weise nicht mit ›seiend‹ austauschbar wäre. Also sind das Wahre und das Seiende schlechthin dasselbe.

3  Vgl. Aristoteles, Met. IV, 7; 1012 a 23–24: »denn die Formel (der Satz), der für das Wort ein Zeichen ist, wird die Definition sein« [Übers. Th. A. Szlezák]. 4  Boethius, De hebdomadibus, ed. R. Peiper, 171, 85; ed. H. F. Ste­ wart  /  E. K. Rand  /  S. J. Tester, 44; ed. M. Elsässer, 39. 5  Vgl. Aristoteles, De soph. elench., c.  5; 167 a 8 u. 11.

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1. Artikel

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5.  Diejenigen Dinge, denen ein und dieselbe Beschaffenheit zu­ kommt, sind dieselben. Die Bestimmung des Wahren und Seienden ist nun aber dieselbe. Es heißt nämlich im 2. Buch der Metaphysik: »Die Verfaßtheit eines Dinges ist hinsichtlich seines Seins so wie seine Verfaßtheit hinsichtlich seines Wahrseins.«6 Also sind ›wahr‹ und ›seiend‹ schlechthin dasselbe. 6.  Alles, was nicht identisch ist, unterscheidet sich in irgendeiner Weise. Nun unterscheiden sich das Wahre und das Seiende in keiner Weise, weil sie sich weder ihrem Wesen nach unterscheiden, da jedes Seiende seinem Wesen nach ein Wahres ist, noch aufgrund irgend­ welcher Unterschiede, weil es dann notwendig wäre, daß sie in einer gemeinsamen Gattung übereinkämen. Also sind sie schlechthin identisch. 7.  Wenn sie nicht schlechthin identisch wären, wäre es unum­ gänglich, daß ›wahr‹ etwas zu ›seiend‹ hinzufügt. ›Wahr‹ fügt jedoch nichts zu ›seiend‹ hinzu, weil es sogar in mehr Dingen als ›seiend‹ vorkommt. Dies wird durch Aristoteles im 4. Buch der Metaphysik ersichtlich, wo er Folgendes sagt: Wenn wir das Wahre bestimmen, sagen wir, »daß wir von dem, was ist, aussagen, daß es ist, oder von dem, was nicht ist, aussagen, daß es nicht ist.«7 Demzufolge schließt das Wahre das Seiende und das Nichtseiende ein. Daher fügt das Wahre nichts zum Seienden hinzu, und demzufolge scheinen ›wahr‹ und ›seiend‹ schlechthin dasselbe zu sein.

6  Vgl. Aristoteles, Met. II, 2; 993 b 30–31: »[…] so daß sich ein jegli­ ches Ding, wie hinsichtlich des Seins, so auch hinsichtlich der Wahrheit verhält« [Übers. Th. A. Szlezák]. Thomas benutzt die von Michael Scotus angefertigte Aristoteles-Übersetzung aus dem Arabischen, die im Zuge von dessen Averroes-Übersetzung entstanden ist; ganz ähnlich auch die Version in seinem Kommentar zur Metaphysik, bei dem er mehrere Über­ setzungen zugrunde legt; vgl. Auctoritates Aristotelis, ed. J. Hamesse, 118: unumquodque sicut se habet ad entitatem, sic se habet ad veritatem. 7  Aristoteles, Met. IV, 7; 1011 26–28: »Zu sagen, daß das, was ist, nicht ist, oder daß das, was nicht ist, ist, ist falsch, hingegen zu sagen, daß das, was ist, ist und das, was nicht ist, nicht ist, ist wahr, so daß auch jeder, der sagt, daß ist oder nicht ist, Wahres oder Falsches sagen wird« [Übers. Th. A. Szlezák].

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Quaestio · 1

Dagegen spricht: 1.  »›Geschwätz‹ ist die unnütze Wiederholung desselben.«8 Wenn nun das Wahre dasselbe wäre wie das Seiende, wäre es Geschwätz, wenn man ein Seiendes ›wahr‹ nennen würde;9 dies ist jedoch falsch. Also meinen die beiden Ausdrücke nicht dasselbe. 2.  ›Seiend‹ und ›gut‹ sind austauschbar. Doch ›wahr‹ ist mit ›gut‹ nicht austauschbar; es ist nämlich von etwas wahr, daß es nicht gut ist, wie beispielsweise mit jemand Unzucht treiben. Also ist auch ›wahr‹ nicht mit ›seiend‹ austauschbar und daher sind sie nicht iden­ tisch. 3.  Nach Boethius in seinem Buch Über die Hebdomaden ist in al­ len Geschöpfen das Sein und das, was ist, verschieden.10 Das Wahre bezeichnet nun aber das Sein des Dinges; also ist bei einem Geschöpf das Wahre verschieden von dem, was ist. Nun ist jedoch das, was ist, dasselbe wie das Seiende. Also ist bei den Geschöpfen das Wahre vom Seienden verschieden. 4.  Was immer zueinander im Verhältnis von grundlegender und nachrangiger steht, muß voneinander verschieden sein. Nun ver­ halten sich das Wahre und das Seiende in der besagten Weise, weil, wie es im Buch von den Ursachen heißt, »das erste der geschaffenen 8  Vgl. Aristoteles, Top. V, 2; 130 a 34; De soph. elench., c.  3; 165 b 15. 9  Thomas v. Aquin, In Phys. II, 4 (ed. M. Maggiòlo, nr. 173): Et quia de

ratione finis est quod sit cuius causa fit, poeta hoc apposuit, quod deriso­ rie se habet dicere finem cuius causa fit. Videtur enim esse nugatio, sicut si diceretur homo animal: quia animal est de ratione hominis, sicut et cuius causa fit de ratione finis. Vult enim poeta quod non omne ultimum sit finis, sed illud quod est ultimum et optimum, hoc est cuius causa fit (»Da es den Begriff des Zieles ausmacht, das zu sein, um dessentwillen etwas geschieht, hat der Dichter dies hinzugefügt, daß die Aussage lach­ haft sei: ›Ziel, um dessentwillen etwas geschieht‹. Es scheint nämlich eine Wortemacherei zu sein, so wie wenn man sagt: Mensch Lebewesen. Denn Lebewesen gehört zum Begriff des Menschen wie eben auch um dessent­ willen etwas geschieht zum Begriff des Zweckes. Der Dichter will nämlich sagen, daß nicht alles Letzte ein Ziel sei, sondern nur dasjenige, was das Letzte und Beste ist« [Übers. R. S.]). 10  Boethius, De hebd., ed. Peiper, 169; ed. M. Elsässer, 37: »Verschieden ist das Sein und ›das, was ist‹«.

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1. Artikel

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Dinge […] das Sein«11 ist, und der Kommentator sagt im selben Buch, daß alles andere im Sinne einer Formung vom Seienden ausgesagt wird und also gegenüber ›seiend‹ nachrangiger ist.12 Also sind das Wahre und das Seiende verschieden. 5.  Dasjenige, was gemeinsam von einer Ursache und den von ihr verursachten Dingen ausgesagt wird, ist in der Ursache eher in hö­ herer Einheit als in den Wirkungen; dies gilt insbesondere von dem, was von Gott und den Geschöpfen ausgesagt wird. Diese vier Be­ griffe – ›seiend‹, ›eines‹, ›wahr‹ und ›gut‹ – werden in der Weise Gott zugeeignet, daß das Seiende zum Wesen gehört, das Eine zur Person des Vaters, das Wahre zur Person des Sohnes, das Gute zur Per­ son des Heiligen Geistes. Die göttlichen Personen unterscheiden sich nun nicht nur dem Begriffe nach, sondern in der Wirklich­ keit; daher werden sie nicht voneinander ausgesagt. Es gilt also um so mehr von den Geschöpfen, daß die genannten vier Begriffe sich mehr als nur dem Begriff nach unterscheiden müssen. Antwort: So wie es bei Aussagen, für die sich Beweise angeben lassen, not­ wendig ist, eine Zurückführung auf bestimmte Prinzipien vorzu­ nehmen, die vom Verstand von sich her erkannt13 sind, so auch bei der Untersuchung dessen, was etwas jeweils ist. Andernfalls ginge man in beiden Fällen ins Unendliche, und damit fiele überhaupt jede Wissenschaft und jede Erkenntnis der Dinge dahin. Dasjenige nun, 11  Liber de causis, prop. 4; n. 37 (ed. A. Schönfeld, 8). 12  Liber de causis, prop. 4; n. 43–45 (ed. A. Schönfeld, 10). Anhand von

Wilhelm von Moerbekes Erstübersetzung von Proklos’ ›Elementatio theo­ logica‹ (1268) erkannte Thomas erstmals dieses Werk als Quelle für den Liber de causis. An dieser Stelle geht er offenbar wie andere Kommentato­ ren dieser Schrift vor und nach ihm davon aus, daß die Axiome von einem anderen Autor stammen als die Erläuterungen und Begründungen, so daß er bei den jeweils anschließenden Begründungen von einem »Kommenta­ tor« spricht. 13  Notum: nicht bloß ›bekannt‹ wie eine Tatsache, sondern auch ver­ standen und darin zugleich anerkannt; vgl. De ver., q.  3, Anm.  59. »Von sich her erkannt« heißt: durch die im Prinzip enthaltenen Begriffe und nicht wieder durch ein externes Argument.

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Quaestio · 1

was der Verstand zuerst und als bekanntestes begreift und auf das er alle Begriffe zurückführt, ist das Seiende, wie Avicenna am Anfang seiner Metaphysik14 sagt. Daher ist es notwendig, daß alle anderen Begriffe des Verstandes aus einer Hinzufügung zum Seienden ver­ standen werden. Zum Seienden läßt sich allerdings nichts ihm Äußeres hinzufü­ gen, sprich in der Weise, wie eine spezifische Differenz einer Gattung oder ein Akzidens einem Träger hinzugefügt wird; jede Wesensnatur ist nämlich ihrem Wesen nach ein Seiendes. Damit führt auch Ari­ stoteles im 3. Buch der Metaphysik15 den Beweis, daß ›seiend‹ keine Gattung sein kann. Man kann hingegen von einer Hinzufügung zu ›seiend‹ in dem Sinne reden, daß diese Hinzufügung eine Weise des Seienden zum Ausdruck bringt, die im Terminus ›seiend‹ nicht zum Ausdruck kommt. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: Einmal in dem Sinne, daß die zum Ausdruck gebrachte Weise eine spezifische Weise des Seienden ausmacht. Es gibt nämlich ver­ schiedene Grade des Seiendseins, aufgrund derer die verschiedenen Weisen des Seins und entsprechend diesen Weisen die verschiede­ nen Kategorien der Dinge verstanden werden: ›Substanz‹ fügt zu ›seiend‹ keinen Unterschied hinzu, der eine Wesensbestimmung bezeichnet, die zum Seienden hinzugefügt würde, vielmehr wird mit dem Terminus ›Substanz‹ eine bestimmte Weise des Seins zum Ausdruck gebracht, nämlich das Durch-sich-Sein,16 und so verhält es sich auch bei den anderen Kategorien. 14  Avicenna, Philos. prima I, 5 (ed. S. Van Riet, 31 f.): »Wir sagen also, daß ›Ding‹ und ›seiend‹ und ›notwendig‹ von der Art sind, daß sie unmit­ telbar durch eine Einprägung am Anfang in der Seele eingeprägt werden; diese Begriffe werden nicht aus etwas entnommen, was bekannter ist als sie; so wie die Gewißheit, welche die ersten Prinzipien haben, aus denen diese von selbst hervorgeht, und diese ist eine andere als andere Gewißhei­ ten, doch um deretwillen« [Übers. R. S.]. 15  Aristoteles, Met. III, 8; 998 b 22 ff. 16  Vgl. Thomas von Aquin, ScG I, 25 (ed. C. Pera, nr. 236): »Auf Grund des oben Gesagten aber ist dazu zu sagen, daß in der Begriffsbestimmung der Substanz nicht enthalten ist: ›durch sich Seiendes‹. Denn auf Grund dessen, daß sie als ›Seiendes‹ bezeichnet würde, könnte sie keine Gattung sein, da ja schon nachgewiesen wurde, daß das Seiende nicht die Bedeu­

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1. Artikel

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Im anderen Sinne der Hinzufügung geschieht dies so, daß die zum Ausdruck gebrachte Weise des Seins eine allgemeine Weise ist, die notwendig in jedem Seienden ihre Grundlage hat. Diese allge­ meine Weise läßt sich wiederum in zwei Spielarten denken: einmal so, daß sie notwendig in jedem Seienden für sich genommen ihre Grundlage hat, zum anderen so, daß sie notwendig in der Beziehung von einem Seienden auf ein anderes ihre Grundlage hat. Im ersten Fall geschieht dies zweifach, weil im Seienden etwas entweder im bejahenden oder im verneinenden Sinne zum Ausdruck gebracht wird. Es läßt sich nun aber unter dem, was von etwas als solchem ausgesagt wird, nichts anderes finden, das in jedem Seienden ge­ dacht werden kann, als sein Wesen, aufgrund dessen von ihm Sein ausgesagt wird; und in diesem Sinn wird der Terminus ›Ding‹ ge­ prägt, der sich laut Avicenna17 am Anfang seiner Metaphysik darin von ›seiend‹ unterscheidet, daß ›seiend‹ von der tätigen Verwirkli­ chung des Seienden seine Bedeutung bekommen hat,18 der Terminus ›Ding‹ hingegen das Wassein bzw. das Wesen eines Seienden zum Ausdruck bringt. Diejenige Verneinung, die mit jedem Seienden, so­ fern es für sich genommen wird, notwendig einhergeht, ist die Un­ geteiltheit; und diese drückt das Wort ›eines‹ aus; denn ›eines‹ meint nichts anderes als ›ungeteiltes Seiendes‹.19 tung einer Gattung hat. – Ebenso auch nicht auf Grund dessen, daß sie als ›durch sich‹ bezeichnet würde. Denn dies scheint nichts als eine bloße Verneinung zu besagen. Die Substanz wird nämlich deshalb als das durch sich Seiende bezeichnet, weil sie nicht in anderem ist; und dies ist eine reine Verneinung. […] Der Begriff der Substanz muss also auf folgende Weise verstanden werden: Substanz ist ein Ding, dem zukommt, nicht in einem Träger zu sein« [Übers. K. Albert  /  K. Engelhardt]. 17  Avicenna, Philos. prima I, 5 (ed. S. Van Riet, 34). 18  Vgl. Thomas v. Aquin, Sent. I, d. 8, q.  1, a.  1 (ed. P. Mandonnet, I, 195): hoc nomen ›qui est‹ vel ›ens‹ imponitur ab ipso actu essendi; In Met.  IV, 2 (ed. R. M. Spiazzi, nr. 553): hoc vero nomen ens, imponitur ab actu essendi (»der Terminus ›seiend‹ wird jedoch von der tätigen Wirk­ lichkeit des Seins abgeleitet« [Übers. R. S.]). 19  Vgl. Aristoteles, Met. V, 6; 1016 b 3–5: »Denn allgemein wird, was keine (begriffliche) Einteilung (Zerlegung, διαίρεσις, dihairesis) aufweist, in der Hinsicht Eines genannt, in welcher es keine Einteilung aufweist« [Übers. Th. A. Szlezák].

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Quaestio · 1

Wenn hingegen die Weise des Seins im zweiten Sinne verstan­ den wird, nämlich im Sinne der Relation eines Seienden zu einem anderen, dann kann dies wiederum in zweifacher Weise geschehen: einmal im Sinne der Scheidung des einen vom anderen – und dies bringt das Wort ›etwas‹ zum Ausdruck; ›etwas‹ hat nämlich den Sinn von ›etwas anderes‹.20 Daher gilt: So wie das Seiende insofern ›eines‹ genannt wird, als es in sich ungeteilt ist, so wird es ›etwas‹ genannt, insofern es von anderem unterschieden ist. In der anderen Weise trifft dies zu im Sinne der Übereinstimmung des einen mit einem anderen. Dies kann nur so sein, daß von etwas die Rede ist, das darauf angelegt ist, mit jedem Seienden in Übereinstimmung zu sein. Dies ist nun aber die Seele, die »in gewisser Weise alles ist«, wie es im 3. Buch der Schrift Über die Seele21 heißt. Zur Seele wie­ derum gehört eine Erkenntnis- und eine Strebekraft. Die Überein­ stimmung des Seienden mit dem Streben drückt der Terminus ›gut‹ aus, daher heißt es am Anfang der Ethik, daß »das Gute das ist, was alles erstrebt«22, die Übereinstimmung des Seienden mit dem Ver­ stand hingegen drückt der Terminus ›wahr‹ aus. Jede Erkenntnis erreicht nun aber ihre Vollkommenheit im Ähn­ lichwerden des Erkennenden mit dem Erkannten, so daß das besagte Ähnlichwerden Grund der Erkenntnis ist; beispielsweise erkennt der Gesichtssinn dadurch, daß er gemäß dem Erkenntnisbild der Farbe bestimmt wird, die Farbe. Das erste Verhältnis des Seienden zum Verstand besteht darin, daß das Seiende dem Verstand gleich wird, welche Übereinkunft als Ähnlichkeit von Verstand und Ding be­ zeichnet wird. Darin ist im eigentlichen Sinne der Begriff des Wah­ ren erfüllt. Dies ist es, was ›wahr‹ zu ›seiend‹ hinzufügt, nämlich die Gleichförmigkeit bzw. Angleichung des Dinges und des Verstandes; mit dieser Gleichförmigkeit ist, wie schon gesagt, die Erkenntnis eines Dinges notwendig verbunden: Daher geht also das Seiendsein

20  Die sprachliche Brücke von ›etwas‹ (aliquid) zu ›etwas anderem‹ (aliud quid) läßt sich im Deutschen nicht schlagen. 21  Aristoteles, De an. III, 8; 431 b 21. 22  Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 3: »Daher hat man zu Recht das Gute als das bestimmt, wonach alles strebt« [Übers. D. Frede].

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1. Artikel

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des Dinges dem Begriff des Wahren vorher, die Erkenntnis ist dem­ gegenüber eine Art Folge der Wahrheit. Demgemäß findet man also ›Wahrheit‹ bzw. ›wahr‹ auf dreifache Weise definiert: Einmal im Sinne dessen, was dem Begriff der Wahr­ heit vorhergeht und in dem das Wahrsein gründet; in diesem Sinne definiert Augustinus in seiner Schrift Selbstgespräche: »Wahr ist das, was ist«23, und Avicenna in seiner Metaphysik: »Die Wahrheit jedes Dinges ist diejenige Eigentümlichkeit seines Seins, die ihm unveränderlich zukommt«24; irgendein Autor auch in der folgenden Weise: »Das Wahrsein ist die Ungetrenntheit von Sein und dem, was es ist.«25 Auf andere Weise wird es in dem Sinne definiert, der im eigentlichen Sinne den Begriff des Wahren ausmacht; in diesem Sinne sagt Isaac: »Die Wahrheit ist die Angleichung des Dinges und des Verstandes«26 und Anselm in seiner Schrift Über die Wahrheit: »Die Wahrheit ist die Rechtheit, die einzig mit dem Geist erfaßbar ist«27 – die Rechtheit im Sinne jener Angleichung verstanden – und Aristoteles sagt im 4. Buch der Metaphysik: Wenn wir das Wahre definieren, sagen wir, »daß das, was ist, ist, oder daß das, was nicht ist, nicht ist«.28 Im dritten Sinne wird ›wahr‹ im Sinne der sich not­ 23  Augustinus, Solil. II, 5, 8 (CSEL 89, 56). 24  Avicenna, Philos. prima VIII, 6 (ed. S. Van Riet, 413). 25  Die Definition wird von anderen Autoren vor Thomas ebenfalls be­

reits angeführt, aber fast nie einem bestimmten Philosophen zugeschrieben. 26  In Wahrheit ein Zitat aus Avicenna: Philos. prima I, 8 (ed. S. Van Riet, 55 f.): veritas autem, quae adaequatur rei, illa est certa, sed est certa, ut puto, respectu suae comparationis ad rem, et est veritas respectu com­ parationis rei ad ipsam (»Jene Wahrheit, die dem Ding gleich ist, ist be­ stimmt, sie ist nun aber, wie ich meine, bestimmt im Hinblick auf ihre Beziehung zu diesem Ding und sie ist die Wahrheit im Hinblick auf die Beziehung des Dinges zu ihr selbst« [Übers. R. S.]). Isaac ben Salomon, geb. in Ägypten, war Arzt und Philosoph; sein Werk Über die Definitionen und Beschreibungen hat Gerhard von Cremona in Toledo zwischen 1157 und 1187 vollständig übersetzt. 27  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  11 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 191: »Wahrheit ist eine mit dem Geist allein erfaßbare Recht­ heit« [Übers. H. Verweyen; ganz ähnlich M. Enders]). 28  Aristoteles, Met. IV, 7; 1011 b 26–28: »Zu sagen, daß das, was ist, nicht ist, oder daß das, was nicht ist, ist, ist falsch, hingegen zu sagen, daß

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wendig ergebenden Folge definiert; in diesem Sinne sagt Hilarius: »Das Wahre ist das, was das Sein aufzeigt und offenbar macht«29, und Augustinus in seinem Buch Über die wahre Religion: »Wahr­ heit ist das, wodurch gezeigt wird, was ist«30, und in demselben Buch: »Die Wahrheit ist das, aufgrund dessen wir über das urteilen, was unterhalb der Vernunft liegt.«31 Zu 1.  Jene Definition des Augustinus wird von der Wahrheit ge­ geben, sofern sie eine Grundlage im Ding hat, und nicht insofern, als der Begriff des Wahren in der Angleichung des Dinges an den Verstand erfüllt wird. – Man kann aber auch folgendermaßen sagen: Wenn man sagt, daß das Wahre das ist, was ist, wird das ›ist‹ nicht in dem Sinne verstanden, daß es die Wirklichkeit des Seins bezeichnet, sondern insofern es ein Zeichen des urteilenden Verstandes in der Hinsicht ist, als es eine bejahende Aussage bezeichnet.32 Der Sinn ist dann der folgende: Das Wahre ist das, was ist, wenn von etwas gesagt das, was ist, ist und das, was nicht ist, nicht ist, ist wahr, so daß auch jeder, der sagt, daß ist oder nicht ist, Wahres oder Falsches sagen wird« [Übers. Th. A. Szlezák]. 29  Vgl. Hilarius v. Poitiers, De trin. V, 3 (CCSL 62 A, 153); diese in vie­ len Editionen mittelalterlicher Werke, in denen sich das Hilarius-Zitat fin­ det, angegebene Stelle enthält den angeführten Text nicht wörtlich. Der Text erinnert an das, was Heidegger als Offenheit und Sich-Zeigen dem Korrespondenzbegriff der Wahrheit in bestimmten Phasen seiner Ausein­ andersetzung vorangestellt hat. In seiner wiederholten Beschäftigung mit dem Thomas-Text ist ihm dieser Text natürlich begegnet: »In einem drit­ ten Sinn heißt Wahr-sein Sichtbarmachendsein (manifestativum esse), declaraticum esse: im Klaren halten ein Seiendes«, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA XVII, 170; die augustinische Formu­ lierung zitiert er in: Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant, GA XXIII, 56. 30  Augustinus, De vera rel. 36, 66 (CCSL 32, 230); bei Augustinus ist es die Wahrheit selbst, die das, was ist, zeigt: […] intellegit eam esse ve­ ritatem quae ostendit id quod est [Übers. W. Thimme: »der erkennt auch, daß es die Wahrheit ist, die uns zeigt, was ist«; die neue Übers. von J. Lössl: »sie ist es, die jenes zeigt, wie es ist«]. 31  Vgl. Augustinus, De vera rel. 31, 58 (CCSL 32, 225). 32  Vgl. Aristoteles, Peri herm., c.  3; 16 b 23–25.

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wird, was es ist, so daß die Definition des Augustinus auf dasselbe hinauskommt wie die oben angeführten Definition des Aristoteles. Zu 2.  Die Antwort wird aus dem Gesagten deutlich. Zu 3.  Den Ausdruck ›etwas ohne ein anderes verstehen‹ kann man in zweifachem Sinne auffassen: einmal so, daß ein Etwas ver­ standen wird, ohne ein anderes zu verstehen; die Sachverhalte, die sich in ihrem Begriff unterscheiden, verhalten sich so, daß der eine ohne den anderen verstanden werden kann. In anderer Weise kann das ›etwas verstehen ohne das andere‹ so aufgefaßt werden, daß das eine verstanden wird, während gleichzeitig das andere nicht exi­ stiert. In diesem Sinne kann man ›seiend‹ nicht ohne ›wahr‹ verste­ hen, weil das Seiende nicht ohne den Umstand verstanden werden kann, daß es mit dem Verstand übereinkommt bzw. ihm angegli­ chen wird. Es ist jedoch gleichwohl nicht notwendig, daß, wer immer den Begriff des Seienden versteht, den Begriff des Wahren versteht. So gilt ja beispielsweise auch nicht, daß, wer immer ›seiend‹ versteht, den tätigen Verstand versteht, obgleich ohne den tätigen Verstand nichts verstanden werden kann. Zu 4.  Das Wahre ist eine Bestimmung des Seienden nicht in dem Sinne, daß ihm eine Wesensbestimmung hinzugefügt würde oder irgendeine spezifische Weise des Seins darin zum Ausdruck ge­ bracht würde, sondern etwas, das sich allgemein in jedem Seienden findet, was gleichwohl im Terminus ›seiend‹ nicht zum Ausdruck kommt. Daher ist es nicht notwendig, daß es entweder eine aufhe­ bende oder eine vermindernde bzw. eine auf einen Teil einschrän­ kende Bestimmung ist. Zu 5.  Die Bestimmung wird dort nicht in dem Sinne verstanden, wie sie in der Kategorie der Qualität vorkommt,33 sondern insofern sie eine Rangordnung mit sich bringt. Da nämlich jene Wesen, die für andere Wesen die Ursache des Seins sind, im höchsten Maße seiend sind, schließt Aristoteles34, daß in Bezug auf etwas die Rang­ stufe im Sein und in der Wahrheit dieselbe sei, so nämlich, daß gilt: Wo das vorgefunden wird, was im höchsten Maße seiend ist, wird auch das im höchsten Maße Wahre gefunden. Daher ist dies nicht 33  Vgl. Aristoteles, Cat., c.  8; 9 a 10–13. 34  Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 30–31.

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deshalb der Fall, weil ›seiend‹ und ›wahr‹ dem Begriff nach dasselbe sind, sondern weil in dem Maße, in dem etwas Seiendheit hat, es geeignet ist, dem Verstand angeglichen zu werden. Also ist der Be­ griff des Wahren dem Begriff des Seienden gegenüber nachrangig. Zu 6.  Das Wahre und das Seiende unterscheiden sich in ihrem Begriff, und zwar dadurch, daß etwas im Begriff des Wahren liegt, was im Begriff des Seienden nicht liegt, nicht hingegen dadurch, daß etwas im Begriff des Seienden läge, was nicht im Begriff des Wah­ ren läge. Daher unterscheiden sie sich nicht dem Wesen nach und werden auch nicht durch Unterschiede, die einander entgegengesetzt sind, unterschieden. Zu 7.  Das Wahre findet sich keineswegs in mehr Dingen als das Seiende. Das Seiende wird nämlich in einem gewissen Sinne ver­ standen auch vom Nichtseienden ausgesagt, insofern , als das Nichtseiende vom Verstand aufgefaßt wird. Daher sagt Aristote­ les im 4. Buch der Metaphysik, daß die Negation und die Privation in einer gewissen Hinsicht ›seiend‹ genannt werden.35 Daher sagt auch Avicenna zu Beginn seiner Metaphysik, daß sich nur deswe­ gen eine Aussage über das Seiende bilden läßt, weil es notwendig ist, daß dasjenige, von dem eine Aussage gebildet wird, vom Verstand aufgefaßt worden ist.36 Von daher wird ersichtlich, daß alles Wahre in gewisser Weise ein Seiendes ist. Auf die Argumente, die im entgegengesetzten Sinne eingewandt worden sind, ist zu antworten: Zu 1.  Es ist deshalb kein leeres Gerede, wenn man vom ›wahren Seienden‹ spricht, weil etwas mit dem Terminus ›wahr‹ ausgedrückt wird, was mit dem Terminus ›seiend‹ nicht ausgedrückt wird. Aber deswegen unterscheiden sie sich nicht der Sache nach. Zu 2.  Obwohl das Unzuchttreiben schlecht ist, ist es doch in der Hinsicht, daß es Seiendsein in sich hat, darauf angelegt, daß dies mit dem Verstand zur Übereinstimmung kommt, und demgemäß ergibt sich daraus der Begriff des Wahren. Daraus wird ersichtlich, daß we­ 35  Aristoteles, Met. IV, 1; 1003 b 9–10: »Daher sagen wir auch vom Nichtseienden, daß es das Nichtseiende ›ist‹.« [Übers. Th. A. Szlezák]. 36  Avicenna, Philos. prima I, 5 (ed. S. Van Riet, 33 f.).

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der das Wahre über das Seiende hinausgeht noch es umgekehrt vom Seienden überschritten wird. Zu 3.  Wenn man sagt: »Sein und das, was ist, sind verschieden«, dann unterscheidet man die Wirklichkeit des Seins von dem, dem jene Wirklichkeit zukommt. Der Terminus ›seiend‹ hat von der Ver­ wirklichung des Seins seine Bedeutung und eben nicht von dem, dem die Verwirklichung des Seins zukommt. Deshalb ist das Argu­ ment nicht stichhaltig. Zu 4.  In dem Sinne ist das Wahre abgeleiteter als das Seiende, als der Begriff des Wahren sich vom Begriff des Seienden auf die vorher genannte Weise unterscheidet. Zu 5.  Das Argument hat in dreierlei Hinsicht einen Mangel: Er­ stens unterscheiden sich die göttlichen Personen der Wirklichkeit nach, das jedoch, was den Personen jeweils zugeeignet wird, unter­ scheidet sich nicht der Wirklichkeit, sondern nur dem Begriff nach; zweitens weil gilt: Auch wenn die Personen sich der Wirklichkeit nach voneinander unterscheiden, so unterscheiden sie sich doch nicht der Wirklichkeit nach vom göttlichen Wesen; daher trifft es nicht zu, daß sich das Wahre, das der Person des Sohnes zugeeignet wird, vom Seienden, das zum Wesen gehört, unterschei­ det; der dritte Mangel besteht in Folgendem: Auch wenn das Seiende, das Eine, das Wahre und das Gute in Gott eine höhere Einheit bilden als bei den Geschöpfen, so besteht doch keine Notwendigkeit, daß sie sich in der Weise, in der sie sich in Gott unterscheiden, auch in den geschaffenen Dingen der Sache nach unterscheiden. Dies trifft nämlich bei den Dingen zu, in deren Begriff es nicht liegt, daß sie der Sache nach eines sind. Dies ist etwa bei Weisheit und Macht der Fall, die, da diese in Gott der Wirklichkeit nach eines sind, sich in den Geschöpfen der Wirklichkeit nach unterschei­ den. Doch dem Seienden, dem Einen, dem Wahren und dem Guten kommt es seinem jeweiligen Begriff entsprechend zu, daß sie der Wirklichkeit nach eines sind. Daher gilt: Wo immer sie angetroffen werden, sind sie der Wirklichkeit nach eines, ungeachtet dessen, daß es sich um eine vollkommenere Einheit handelt, in der sie in Gott eine Einheit bilden, als es jene ist, in der sie bei den Geschöpfen eine Einheit bilden.

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2. Artik el Die zweite Frage lautet: Findet sich ›Wahrheit‹ im Verstand grund­ legender als in den Dingen?37 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  ›Wahr‹ ist, wie schon gesagt,38 mit ›seiend‹ austauschbar. Das Seiende findet sich aber grundlegender in den Dingen als in der Seele – also auch das Wahre. 2.  Die Dinge sind in der Seele nicht ihrem Wesen nach, sondern ihrem Erkenntnisbild nach, wie Aristoteles im 3. Buch seiner Schrift Über die Seele39 sagt. Wenn sich also Wahrheit grundlegender in der Seele fände, wäre sie nicht das Wesen des Dinges, sondern dessen Entsprechung und Erkenntnisbild, und das Wahre wäre ein Erkennt­ nisbild desjenigen Seienden, das außerhalb der Seele ist. Doch wird das Erkenntnisbild, das sich in der Seele befindet, nicht von dem Ding ausgesagt, das sich außerhalb der Seele befindet, wie es ja auch mit diesem nicht austauschbar ist. ›Austauschbar sein‹ heißt wech­ selseitig ausgesagt werden können. Also ist das Wahre auch nicht mit dem Seienden austauschbar. Dies ist freilich falsch. 3.  Ein jegliches, das in etwas ist, ist bestimmt durch das, in dem es ist.40 Wenn also die Wahrheit grundlegender in der Seele ist, dann wird das Urteil über die Wahrheit nach Maßgabe der Einschätzung der Seele sein, und demzufolge wird der Irrtum der alten Philoso­ phen wiederkehren, die behauptet haben, daß alles, was jemand im Verstand als Meinung hat, wahr sei und daß zwei kontradiktorische entgegengesetzte Aussagen zugleich wahr seien.41 Dies ist wider­ sinnig. 37  Paralleltexte: In Periherm. I, 3 (ed. Leon I*/1, 14–18); In Met. VI, 4. 38  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S. 10). 39  Aristoteles, De an. III, 8; 431 b 28: »Denn es ist kein Stein in der

Seele, sondern die Form« [Übers. Th. Buchheim]. 40  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  91. 41  Die alten Philosophen (antiqui philosophi) sind nicht die antiken, sondern die Philosophen vor Aristoteles (und Platon). Beide Irrtümer kennt Thomas aus Aristoteles: Der erste Irrtum ist der des Protagoras (Met. IV, 5–6), der an zweiter Stelle angeführte der des Heraklit (Met. IV, 3–4).

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4.  Wenn die Wahrheit grundlegend im Verstand ist, ist es not­ wendig, daß irgend etwas, das zum Verstand gehört, in der Defini­ tion der Wahrheit mit gesetzt wird. Doch Augustinus weist in seiner Schrift Selbstgespräche eine solche Definition zurück, wie etwa jene Definition: »Wahr ist, was so ist, wie es scheint«42, weil in diesem Sinne das nicht wahr wäre, was nicht erscheint. Dies ist offensicht­ lich falsch bei den gänzlich verborgenen kleinen Steinen, die sich im Erdinneren befinden. Ähnlich weist er jenen Satz: »Wahr ist, was so ist, wie es dem Erkennenden erscheint, wenn er zu erkennen willens und in der Lage ist«43, zurück und widerlegt ihn. Der Grund liegt darin, daß in diesem Sinne etwas nur dann wahr wäre, wenn ein Erkennender es erkennen wollte und könnte. Dasselbe Argument würde auf jegliche andere Definition der Wahrheit, in der etwas zum Verstand Gehöriges gesetzt wird, zutreffen. Also ist die Wahrheit nicht grundlegend im Verstand. Dagegen spricht: 1. Aristoteles sagt im 6. Buch der Metaphysik: »›Wahr‹ und ›falsch‹ sind nicht in den Dingen, sondern im Geist.«44 2.  »Wahrheit ist die Entsprechung des Dinges und des Ver­stan­ des.«45 Diese Entsprechung kann nur im Verstand sein. Also ist auch die Wahrheit nur im Verstand. Antwort: Bei demjenigen, was von mehreren Trägern in einem grundlegen­ den und in einem abgeleiteten Sinne ausgesagt wird, besteht keine Notwendigkeit dazu, daß jenes Grundlegendere, das der gemeinsa­ men Aussage zugänglich ist, sich als Ursache zu dem anderen ver­ hält. Vielmehr wird der Begriff jenes gemeinsam Ausgesagten erst­ rangig von jenem ausgesagt, in dem der Begriff erfüllt ist; so wird beispielsweise ›gesund‹ grundlegender von einem Lebewesen aus­ gesagt, in dem sich zuerst der vollständige Begriff der Gesundheit 42  Augustinus, Solil. II, 5, 8 (CSEL 89, 55). 43  Augustinus, Solil. II, 5, 8 (CSEL 89, 55). 44  Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 25. 45  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S. 11).

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findet, obgleich auch ein Heilmittel als etwas, das die Gesundheit bewirkt, ›gesund‹ genannt wird. Deshalb gilt: Wenn ›wahr‹ von mehreren Trägern teils in einem grundlegenderen und teils in einem abgeleiteteren Sinne ausgesagt wird, ist es notwendig, daß es grundlegend von jenem ausgesagt wird, in dem sich zuerst der vollständige Begriff der Wahrheit fin­ det. Die Vollendung jeglicher Bewegung oder Tätigkeit liegt nun aber in ihrem Ende. Die Bewegung der Erkenntniskraft wiederum findet ihren Endpunkt in der Seele. Es ist nämlich notwendig, daß das Erkannte im Erkennenden in der Weise des Erkennenden ist, die Bewegung der Strebenskraft hingegen hat ihren Endpunkt im Ding. Darin liegt begründet, daß Aristoteles im 3. Buch seiner Schrift Über die Seele46 einen Kreislauf in den Tätigkeiten der Seele behaup­ tet. Dieser besteht darin, daß das Ding, das außerhalb der Seele ist, den Verstand bewegt und das verstandene Ding das Streben bewegt; das Streben wiederum ist darauf gerichtet, daß es zu dem Ding ge­ langt, von dem die Bewegung ausgegangen war. Da zudem das Gute, wie schon gesagt,47 eine Relation des Seienden zur Strebenskraft besagt, das Wahre hingegen eine Relation zum Verstand, ist dies der Grund, daß Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik48 sagt, daß das Gute und Schlechte in den Dingen ist, das Wahre und Falsche hingegen im Geist. Ein Ding heißt lediglich insofern ›wahr‹, als es dem Verstand entspricht, daher findet sich das Wahre in abgeleite­ ter Weise in den Dingen, in grundlegender hingegen im Verstand. Doch muß man wissen, daß ein Ding zum theoretischen Verstand in einem anderen Verhältnis steht als zum praktischen Verstand. Der praktische Verstand bringt nämlich Dinge hervor, daher ist er das Maß der Dinge, die durch ihn entstehen. Doch der theoretische Verstand wird, da er von den Dingen aufnimmt, in gewisser Weise von den Dingen bewegt, und daher sind die Dinge sein Maß. Daraus wird ersichtlich, daß die natürlichen Dinge, von 46  Aristoteles, De an. III, 10; 433 a 17–21. 47  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S. 10). 48  Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 25–27: »Denn ›wahr‹ und ›falsch‹ sind

nicht in den Dingen – z. B. daß das Gute wahr wäre, das Schlechte ohne weiteres falsch – sondern im Denken« [Übers. Th. A. Szlezák].

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denen unser Verstand das Wissen aufnimmt, für unseren Verstand das Maß bilden, wie es im 10. Buch der Metaphysik49 heißt, sie aber ihrerseits durch das Maß des göttlichen Verstandes bestimmt sind, in dem alle Dinge so sind wie jedes Kunstgebilde im Verstand des Künstlers ist. So ist also der göttliche Verstand ein Maß, unterliegt selbst aber keinem Maß, die natürlichen Dinge hingegen sind durch ein Maß bestimmt und sind auch selbst ein Maß, doch unser Ver­ stand ist durch ein Maß bestimmt, ist selbst aber nicht das Maß der natürlichen Dinge, sondern lediglich der Kunstgebilde. Das Ding der Natur, das zwischen zwei Verstandesarten gestellt ist, wird also aufgrund der Übereinstimmung mit beiden Verstan­ desarten ›wahr‹ genannt. Aufgrund der Ähnlichkeit mit dem gött­ lichen Verstand wird es insofern ›wahr‹ genannt, als es das erfüllt, wozu es durch den göttlichen Verstand bestimmt ist, wie dies durch Anselm in seiner Schrift Über die Wahrheit50 und durch Augusti­ nus in seinem Buch Über die wahre Religion51 und durch Avicenna in der angeführten Definition deutlich wird, nämlich: »Die Wahr­ heit jedes Dinges ist die Eigentümlichkeit seines Seins, welches ihm unveränderlich zukommt.«52 Aufgrund der Ähnlichkeit im Verhält­ nis zum Verstand des Menschen wird ein Ding insofern ›wahr‹ ge­ nannt, als es darauf angelegt ist, von sich eine wahre Einschätzung hervorzubringen, wie umgekehrt diejenigen Dinge ›falsch‹ genannt werden, »die dazu da sind, als solche gesehen zu werden, die sie nicht sind oder es nicht in dieser Weise sind«, wie es im 5. Buch der Meta­ physik 53 heißt. Der erste Begriff der Wahrheit kommt nun grund­ legender dem Ding zu als der zweite, weil es grundlegender zum Verstand Gottes im Verhältnis steht als zum Verstand des Menschen. Darin liegt, daß auch dann, wenn es keinen menschlichen Verstand 49  Aristoteles, Met. X, 1; 1053 a 31–33: »Aber auch die Wissenschaft nennen wir Maß der Dinge und die Wahrnehmung aus demselben Grund, weil wir durch sie etwas erkennen, wo sie doch eher gemessen werden als messen« [Übers. Th. A. Szlezák]. 50  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.   7 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 186). 51  Augustinus, De vera rel. 36, 66 (CCSL 32, 209). 52  Avicenna, Philos. prima VIII, 6 (ed. S. Van Riet, 413). 53  Aristoteles, Met. V, 29; 1024 b 21–23.

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gäbe, die Dinge immer noch in Beziehung auf den göttlichen Ver­ stand ›wahr‹ genannt würden. Wenn hingegen beide Verstande als aufgehoben gedacht würden, die Dinge aber – was völlig unmöglich ist – bestehen blieben, dann bliebe in keinem Sinne der Begriff der Wahrheit bestehen. Zu 1.  Wie schon aus dem Dargelegten deutlich ist, wird ›wahr‹ grundlegender vom wahren Verstehen und in abgeleiteter Weise von dem Ding ausgesagt, das ihm entspricht. In beiderlei Sinne ist es mit ›seiend‹ austauschbar, freilich auf verschiedene Weise: Inso­ fern es von den Dingen ausgesagt wird, ist es mit dem Seienden in der Aussage austauschbar – jegliches Seiende entspricht dem gött­ lichen Verstand und hat in seiner Möglichkeit, daß der menschli­ che Verstand ihm entsprechen kann. Wenn ›wahr‹ hingegen in dem Sinne verstanden wird, daß es vom Verstehen ausgesagt wird, dann ist es mit ›seiend‹ austauschbar, das außerhalb der Seele liegt, es hat aber seinen Ort nicht im Ausgesagtwerden selbst, sondern in des­ sen Folge, und zwar dadurch, daß es für jedes Verstehen, das wahr ist, notwendig ist, daß es einem Seienden entspricht, aber auch um­ gekehrt. Zu 2.  Dadurch wird auch die Auflösung des zweiten Einwandes deutlich. Zu 3.  Dasjenige, was in etwas ist, ist durch dasjenige, in dem es ist, nur dann bestimmt, wenn es von dessen Prinzipien hervorge­ bracht wird. Daher ist das Licht, das in der Luft von etwas Äußerem, nämlich der Sonne, hervorgebracht wird, eher durch die Bewegung der Sonne als von der Luft bestimmt. Entsprechend hat auch die Wahrheit, die in der Seele mit Bezug auf die Dinge hervorgebracht worden ist, nicht in der Beurteilung der Seele ihren Grund, sondern im Sein der Dinge, »da ja dadurch, daß ein Ding ist oder nicht ist, die Aussage wahr oder falsch genannt wird«54; und ähnlich auch das Verstehen.

54  Aristoteles, Cat., c.  5; 4 b 8–10: »Denn wegen des Seins oder Nicht­ sein des Dinges wird gesagt, die Aussage sei wahr oder falsch« [Übers. K. Oehler]; c.  12; 14 b 21; Met. IX, 10; 1051 b 6–9: »Denn nicht weil wir dich

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Zu 4.  Augustinus spricht vom Sehen des menschlichen Verstan­ des, von dem die Wahrheit des Dinges nicht abhängt. Es gibt ja viele Dinge, die unser Verstand nicht erkennt. Doch gibt es kein Ding, das der göttliche Verstand nicht wirklich erkennt und der menschli­ che Verstand nicht möglicherweise erkennt, da als tätiger Verstand derjenige bezeichnet wird, »durch den alles hervorgebracht wird«55, und als aufnehmender Verstand derjenige, »durch den alles wird«56. Daher läßt sich in der Definition des wahren Dinges die Schau in die Tätigkeit des göttlichen Verstandes, nicht hingegen in die des menschlichen Verstandes setzen, es sei denn, wie das aus Obigem hervorgeht, der Möglichkeit nach.

3. Artik el Die dritte Frage lautet: Liegt Wahrheit nur im zusprechenden und absprechenden Verstand?57 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  ›Wahr‹ wird entsprechend dem Verhältnis des Seienden zum Verstand ausgesagt. Das erste Verhältnis, durch das der Verstand in Beziehung zu den Dingen steht, ist dasjenige, in dem er die Wesens­ bestimmung der Dinge erfaßt, indem er deren Definition bildet. Also liegt das Wahre in dieser Tätigkeit in erstrangiger und grundlegender Weise. 2.  »Das Wahre ist die Entsprechung der Dinge und des Ver­stan­ des.«58 Doch so, wie der Verstand, der bejahende und verneinende Urteile fällt, den Dingen entsprechen kann, so auch der Verstand, in­ sofern er die Wesenheiten der Dinge erkennt. Also ist die Wahrheit nicht nur im Verstand, sofern er verbindet und trennt. wahrheitsgemäß für weiß halten, bist du weiß, sondern weil du weiß bist, treffen wir, die wir dies behaupten, die Wahrheit« [Übers. Th. A. Szlezák]. 55  Aristoteles, De an. III, 5; 430 a 14–15. 56  Aristoteles, De an. III, 5; 430 a 15. 57  Paralleltexte: Sent. I, d. 19, q.  5, a.  1; In De an. III, c.  5 (ed. Leon. XLV/1, 224–228); Sum. theol. I, q.  16, a.  2; In Periherm. I, 3 (ed. Leon. I*/1, 14–18); In Met. VI, 4. 58  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S. 11).

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Dagegen spricht 1.  das, was im 6. Buch der Metaphysik gesagt wird: »Wahr und falsch sind nicht in den Dingen, sondern im Geist; beim Einfachen aber und bei der Wesensbestimmung auch nicht im Geist.«59 2.  Im 3. Buch der Schrift Über die Seele heißt es: »Die Erkennt­ nis der ungeteilten Bestimmungen liegt in jenen, in denen es kein ›wahr‹ und ›falsch‹ gibt.«60 Antwort: Wie sich das Wahre grundlegender im Verstand als in den Dingen findet, so findet es sich auch grundlegender in dem zusprechenden und absprechenden Akt des Verstandes als in dem Akt des Verstan­ des, in dem er die jeweilige Wesensbestimmung der Dinge bildet. Der Begriff des Wahren besteht in der Entsprechung des Dinges und des Verstandes. Dasselbe gleicht nun nicht sich selbst an, vielmehr gibt es Gleichheit nur bei Verschiedenem. Daher findet sich der Cha­ rakter des Wahrseins in erster Linie im Verstand dort, wo es beim Verstand zuerst damit beginnt, etwas ihm Eigentümliches zu ha­ ben, was das äußere Ding nicht besitzt, vielmehr etwas diesem Ver­ stand Entsprechendes, zwischen dem eine Angleichung angetroffen werden kann. Der Verstand nun, der die Wesensbestimmungen der Dinge bildet, hat eine Ähnlichkeit mit dem außerhalb der Seele sich befindenden Ding lediglich in der Weise, wie es auch der Sinn hat, sofern er ein sinnliches Erkenntnisbild empfängt. Doch wenn der Verstand damit anfängt, über die aufgefaßte Sache zu urteilen, dann ist eben das Urteil etwas dem Verstand Eigentümliches, was sich au­ ßerhalb im Ding nicht findet. Doch wenn das Urteil dem entspricht, was außerhalb im Ding ist, nennt man es ›wahr‹. Dann aber urteilt der Verstand über die aufgefaßte Sache, wenn er sagt, daß etwas ist 59  Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 25–28: »Denn ›wahr‹ und ›falsch‹ sind nicht in den Dingen – z. B. daß das Gute wahr wäre, das Schlechte ohne weiteres falsch – sondern im Denken, hinsichtlich der einfachen Dinge und der Wesensbegriffe auch nicht im Denken« [Übers. Th. A. Szlezák]. 60  Aristoteles, De an. III, 6; 430 a 26–27: »Die Leistung des Verstehens (noêsis) von Unteilbarem gehört nun unter die Dinge, in deren Gebiet es nichts Falsches gibt« [Übers. Th. Buchheim].

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oder nicht ist. Dies ist Sache des zusprechenden und absprechenden Verstandes. Daher sagt auch Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik, daß das »Zusprechen und das Absprechen im Verstand und nicht in den Dingen ist«61. Darin liegt der Grund, daß sich Wahrheit grund­ legender im Zusprechen und Absprechen des Verstandes findet. In zweiter Linie und im abgeleiteten Sinne wird ›wahr‹ vom Ver­ stand ausgesagt, sofern er die Wesensbestimmungen der Dinge, sprich die Definitionen bildet. Daher wird eine Definition aufgrund der wahren oder falschen Verbindung ›wahr‹ oder ›falsch‹ genannt, etwa dann, wenn eine Definition von dem ausgesagt wird, dem sie nicht zukommt – wenn man beispielsweise die Definition des Krei­ ses dem Dreieck zuordnet –, oder auch, wenn die Teile einer Defi­ nition nicht miteinander zur Einheit gebracht werden können – so wenn beispielsweise von einem Ding Folgendes als Definition gege­ ben wird: »ein der Sinneswahrnehmung nicht fähiges Lebewesen«. Diese Zusammensetzung schließt nämlich ein, daß irgendein Lebe­ wesen nicht der Sinneswahrnehmung fähig ist. Dies ist falsch. Da­ her wird eine Definition nur insofern ›wahr‹ oder ›falsch‹ genannt, als sie sich auf die Zusammensetzung bezieht, so wie ja auch ein Ding durch die Relation zum Verstand ›wahr‹ genannt wird. Aus dem Dargelegten wird also ersichtlich, daß ›wahr‹ grund­ legender vom Zu- oder Absprechen des Verstandes ausgesagt wird; im abgeleiteten Sinne wird es von den Definitionen der Dinge aus­ gesagt, sofern in ihnen eine wahre oder falsche Zusammensetzung eingeschlossen ist. Erst in einem dritten Sinne wird es von den Din­ 61  Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 29–30: »Da aber die Verknüpfung und die Trennung im Denken ist, und nicht in den Dingen […]« [Übers. Th. A. Szlezák]; IX, 10; 1051 b 2–6: »[…] im Sinne von wahr und falsch, dieses aber von den Dingen abhängt, je nach ihrem Zusammengesetztsein (Verbun­ densein) oder Getrenntsein, so daß derjenige die Wahrheit trifft, der das Getrennte für getrennt und das Verbundene für verbunden hält, hingegen derjenige im Irrtum ist, der im Gegensatz zu den Dingen steht«; Peri herm., c.  1; 16 a 12–13: »Denn Falschheit wie Wahrheit sind an Verbindung und Trennung geknüpft« [Übers. H. Weidemann]. Wenn der Begriff ›Verbin­ dung‹ nicht im Gegensatz zum Unverbundensein, sondern zur Trennung steht, meint er nicht bloß Zusammenfügung, sondern Zusprechen von ­einem dem anderen bzw. entsprechend bei Trennung Absprechen.

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gen ausgesagt, sofern sie dem göttlichen Verstand entsprechen oder die Eignung haben, dem menschlichen Verstand angeglichen zu werden. In einem vierten Sinne wird es vom Menschen ausgesagt, und zwar aus dem Grund, daß er das Wahre wählt oder von sich oder von anderen Dingen eine wahre oder falsche Beurteilung gewinnt, durch das, was er sagt oder tut. Die Laute liegen hingegen in dersel­ ben Weise dem Ausgesagtwerden des Wahrseins zugrunde, wie der Verstand, auf den diese Laute verweisen. Zu 1. Obgleich die Bildung der Wesensbestimmung die erste Tätigkeit des Verstandes ist, so hat der Verstand doch darin noch nicht sein ihm Eigentümliches, durch welches er einem Ding gleich werden könnte, und deshalb liegt darin nicht im eigentlichen Sinne Wahrheit. Zu 2.  Dadurch wird die Lösung zum zweiten Einwand ersichtlich.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Gibt es nur eine Wahrheit, durch die alles wahr ist?62 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Anselm sagt in seiner Schrift Über die Wahrheit,63 daß so, wie sich die Zeit zu den zeitlichen Dingen verhält, so die Wahrheit zum Wahren. Die Zeit verhält sich nun in der Weise zu den zeitlichen Dingen, daß es nur eine Zeit gibt. Also verhält sich die Wahrheit auch in der Weise zu allem Wahren, daß es nur eine Wahrheit gibt. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: ›Wahrheit‹ wird in zwei­ facher Weise ausgesagt: einmal in dem Sinne, in dem sie das Sein des Dinges selbst ist, wie sie Augustinus in seiner Schrift Selbstge­ spräche definiert: »Das Wahre ist das, was ist.«64 Daher ist es not­ wendig, daß es mehrere Wahrheiten gibt, so wie es entsprechend 62  Paralleltexte: Sent. I, d. 19, q.  5, a.  2; De ver., q.  1, a.  8 (ed. Leon. XXII, 26–29 ); Sum. theol. I, q.  16, a.  6. 63  Vgl. Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  13 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 199). 64  Augustinus, Solil. II, 5, 8 (CSEL 89, 56).

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mehrere Wesenheiten der Dinge gibt. Auf andere Weise drückt sie sich im Verstand aus, so wie sie Hilarius definiert: »wahr« bestimmt im Sinne der sich notwendig daraus ergebenden Folge; in diesem Sinne sagt Hilarius: »Das Wahre ist das, was das Sein aufzeigt und offenbar macht.«65 Da in diesem Sinne etwas ausschließlich in der Kraft der ersten Wahrheit deutlich werden kann, sind alle Wahrhei­ ten in gewisser Weise darin eins, daß sie den Verstand verändern, so wie alle Farben darin eins sind, daß sie den Gesichtssinn verändern, sofern sie ihn aufgrund des einen Lichtes verändern. – Doch dem steht wiederum entgegen: Die Zeit ist numerisch eine im Verhältnis zu allen zeitlichen Dingen. Wenn sich also die Wahrheit zum Wah­ ren wie die Zeit zu den zeitlichen Dingen verhält, ist es notwendig, das es für alles Wahre die im numerischen Sinne eine Wahrheit gibt; nicht zureichend ist es, wenn alle Wahrheiten im Verändern oder hinsichtlich des Seins in einem Ur­ bild eins sind. 3.  Anselm argumentiert in seiner Schrift Über die Wahrheit66 folgendermaßen: Wenn es von mehreren Dingen, die wahr sind, mehrere Wahrheiten gäbe, wäre es notwendig, daß sich die Wahr­ heiten mit den Veränderungen der Dinge verändern. Die Wahrhei­ ten verändern sich jedoch nicht mit den Veränderungen der Dinge, denn, wenn die wahren und rechten Dinge vergangen sind, bleibt dennoch die Wahrheit und die Rechtheit, denen gemäß die Dinge wahr und recht sind. Also gibt es nur eine einzige Wahrheit. Den Untersatz beweist er damit: Auch wenn das Zeichen zerstört ist, bleibt immer noch die Rechtheit der Bezeichnung, weil es recht ist, daß dies bezeichnet wird, was jenes Zeichen bezeichnet hat. Aus demselben Grund bleibt, auch wenn jegliches Wahre oder Rechte zerstört ist, dessen Rechtheit und Wahrheit. 4.  Bei den Geschöpfen gibt es nichts, was die Wahrheit wäre – so wie die Wahrheit des Menschen nicht der Mensch ist und die Wahr­ 65  Vgl. Hilarius v. Poitiers, De trin. V, 3 (CCSL 62 A, 153); diese in vie­ len Ausgaben mittelalterlicher Autoren herangezogene Passage enthält den angeführten Text nicht wörtlich; vgl. De ver., q.  1, Anm.  29. 66  Vgl. Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  13 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 197).

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heit des Fleisches nicht das Fleisch. Doch ist jedes geschaffene Sei­ ende wahr. Also ist kein geschaffenes Seiendes die Wahrheit. Also ist jede Wahrheit ein Ungeschaffenes, und daher gibt es nur eine Wahrheit. 5.  Nichts ist, wie Augustinus sagt, größer als der menschliche Geist – außer Gott.67 Die Wahrheit ist, wie Augustinus in seiner Schrift Selbstgespräche68 beweist, größer als der menschliche Geist. Der Grund liegt darin, daß man nicht sagen kann, daß sie geringer sei: In diesem Fall könnte der menschliche Geist über die Wahrheit urteilen; dies ist jedoch falsch. Er urteilt nicht über sie, sondern nach ihrem Maß, wie auch der Richter nicht über das Gesetz urteilt, son­ dern gemäß dem Gesetz, wie derselbe Augustinus in seinem Buch Über die wahre Religion69 sagt. Entsprechend kann man nicht ein­ mal sagen, daß die Wahrheit dem Geist gleichrangig ist, weil die Seele alles gemäß der Wahrheit beurteilt, nicht jedoch über alles am Maßstab ihrer selbst urteilt. Also ist die Wahrheit nichts anderes als Gott, und demzufolge gibt es nur eine Wahrheit. 6.  Augustinus erbringt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen70 den Beweis, daß Wahrheit nicht mit einem Sinn des Kör­ pers erfaßt wird. Ein Sinn erfaßt ausschließlich das Veränderliche, die Wahrheit ist jedoch unveränderlich, also wird sie nicht mit dem Sinn erfaßt. Entsprechend kann man folgendermaßen argumentie­ ren: Alles Geschaffene ist veränderlich, die Wahrheit hingegen ist nicht veränderlich, also ist sie kein Geschöpf, also ist sie eine unge­ schaffene Wirklichkeit. Also gibt es nur eine Wahrheit. 7. An derselben Stelle argumentiert Augustinus zum selben Thema folgendermaßen: »Es gibt nichts Sinnliches, was nicht etwas enthält, was dem Falschen ähnlich ist, so daß es davon nicht unter­ schieden werden kann; denn – um anderes zu übergehen – alles, was wir mit dem Körper wahrnehmen, auch wenn dieses für die Sinne nicht anwesend ist, so erfahren wir gleichwohl dessen Abbilder, als 67  Vgl. Augustinus, De lib. arb. I, 10, 20 (CCSL 29, 224); II, 6, 13 (CCSL 29, 246); De trin. XV, 1, 1 (CCSL 50 A, 460). 68  Tatsächlich Augustinus, De lib. arb. II, 12, 34 (CCSL 29, 269) 69  Augustinus, De vera rel. 31, 58 (CCSL 32, 225). 70  Augustinus, De div. qu. 83, q.  9 (CCSL 44 A, 16 f.).

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ob es anwesend wäre, wie etwa im Schlaf oder im Wahn.«71 Nun hat aber die Wahrheit nichts, was dem Falschen ähnlich wäre. Also wird die Wahrheit nicht durch einen Sinn erfaßt. Gleichermaßen läßt sich wie folgt argumentieren: Alles Geschaffene enthält, insofern es einen Mangel enthält, etwas, was dem Falschen gleicht. Also ist kein Geschaffenes die Wahrheit, und demzufolge gibt es nur eine Wahrheit. Dagegen spricht: 1.  Augustinus sagt im Buch Über die wahre Religion: »Wie die Ähnlichkeit die Form der ähnlichen Dinge ist, so ist die Wahrheit die Form des Wahren.«72 Von vielen ähnlichen Dingen gibt es viele Ähnlichkeiten; also gibt es vom mannigfachen Wahren auch viele Wahrheiten. 2.  So wie jede geschaffene Wahrheit sich von der ungeschaffe­ nen Wahrheit auf eine urbildliche Weise ableitet und von dieser ihr Wahrsein hat, so leitet sich alles geistige Licht auf eine urbildliche Weise vom ersten ungeschaffenen Licht ab und hat von diesem die Kraft des Offenbarmachens. Ungeachtet dessen sprechen wir von mehreren geistigen Lichtern, wie durch Dionysius73 ersichtlich wird. Also scheint man auf eine entsprechende Weise einräumen zu müs­ sen, daß es schlichtweg mehrere Wahrheiten gibt. 3.  Obwohl die Farben es von der Kraft des Lichtes haben, daß sie den Gesichtssinn verändern, so sagt man doch von ihnen, daß es schlichtweg viele und unterschiedliche Farben sind und man sie nur in einer bestimmten Hinsicht eins nennen kann. Also folgt: Wenn sich auch alle geschaffenen Wahrheiten dem Verstand gegenüber in der Kraft der ersten Wahrheit zum Ausdruck bringen, so läßt sich deswegen gleichwohl nicht sagen, daß die Wahrheit eine sei – außer in einer bestimmten Hinsicht. 4.  Wie eine geschaffene Wahrheit einem Verstand nur durch die Kraft der ungeschaffenen Wahrheit offenbar werden kann, so ver­ mag auch eine Kraft in der Kreatur nur durch die Kraft der unge­ 71  Augustinus, De div. qu. 83, q.  9 (CCSL 44 A, 16 f.). 72  Augustinus, De vera rel. 36, 66 (CCSL 32, 231). 73  Dionysius Areopagita, De cael. hier. 13, 3 (PG 3, 301 D; Dion. 956).

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schaffenen Macht zu wirken. Doch sagen wir nicht, daß es in gewis­ ser Hinsicht nur eine Macht in allen mächtigen Dingen gäbe. Also läßt sich auch nicht sagen, daß es für alles Wahre in irgendeiner Weise eine Wahrheit gäbe. 5.  Gott steht zu den Dingen in der Relation dreier Formen der Ur­ sächlichkeit, nämlich der Wirk-, der Urbild- und der Zweckursache. Durch eine besondere Zueignung bezieht sich das Sein der Dinge auf Gott als Wirkursache, die Wahrheit auf Gott als Urbildursache und die Gutheit auf Gott als Zweckursache, obgleich entsprechend der Eigentümlichkeit der Redeweise auch einzelne Dinge auf einzelne Dinge bezogen sein können. Doch reden wir nicht in irgendeinem Sinne von der einen Gutheit alles Guten oder von dem einen Sein alles Seienden. Also dürfen wir auch nicht sagen: eine Wahrheit von allem Wahren. 6. Obgleich es eine ungeschaffene Wahrheit gibt, von der als ­ihrem Urbild alle Wahrheiten ausgehen, so gehen sie doch nicht auf dieselbe Weise vom Urbild aus. Der Grund ist der: Obwohl jene un­ geschaffene Wahrheit sich in ähnlicher Weise zu allem Wahren ver­ hält, so hat doch nicht jedes Wahre ein und dasselbe Verhältnis zu jener, wie es im Buch von den Ursachen74 heißt. Daher haben das Notwendige und das Kontingente auf unterschiedliche Weise ihr Urbild im Wahren. Nun begründet aber ein verschiedener Modus der Nachahmung des göttlichen Urbilds eine Verschiedenheit in den geschaffenen Dingen. Also gibt es schlichtweg mehrere geschaffene Wahrheiten. 7.  »Wahrheit ist die Angleichung von Ding und Verstand.«75 Nun kann es von Dingen, die zu unterschiedlichen Arten gehören, nicht eine einzige Angleichung an den Verstand geben. Da also die wah­ ren Dinge der Art nach verschieden sind, kann es nicht eine Wahr­ heit für alles Wahre geben. 8.  Augustinus sagt im 12. Buch seines Werkes Über die Drei­einig­ keit, »Man muß glauben, daß die Natur des menschlichen Geistes den erkennbaren Dingen in der Weise verbunden ist, daß in ­einem

74  Liber de causis, prop. 24 (23) (ed. A. Schönfeld, 47–49). 75  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S. 11).

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Licht von eigener Art alles, was erkannt wird, geschaut wird.«76 Das Licht nun, durch das die Seele alles erkennt, ist die Wahrheit. Also gehört die Wahrheit zur Gattung der Seele, und daher ist es notwen­ dig, daß die Wahrheit etwas Geschaffenes ist. Also bestehen in den verschiedenen Geschöpfen verschiedene Wahrheiten. Antwort: Wie aus dem vorher Dargelegten77 ersichtlich ist, findet sich Wahrheit im eigentlichen Sinne im menschlichen bzw. im göttlichen Verstand – so wie auch die Gesundheit sich im eigentlichen Sinne im Lebewesen78 findet. In den anderen Dingen findet sich Wahrheit aufgrund der Relation auf einen Verstand, wie auch die Gesund­ heit von bestimmten anderen Dingen ausgesagt wird, insofern sie die Gesundheit des Lebewesens hervorbringen oder erhalten. Die Wahrheit ist also im göttlichen Verstand in erstrangiger und eigent­ licher Weise, im menschlichen Verstand demgegenüber in eigentli­ cher, aber in abgeleiteter Weise, in den Dingen aber in uneigent­ licher und abgeleiteter Weise, da nur in Relation auf einen der bei­ den Verstande. Die Wahrheit des göttlichen Verstandes ist daher nur eine, von der sich im menschlichen Verstand mehrere Wahrheiten herleiten, »so wie von einem menschlichen Gesicht mehrere Bilder im Spiegel sich ergeben«, wie die Glosse79 über den Psalm-Vers lau­ tet: »Dahingeschwunden sind die Wahrheiten von den Söhnen der Menschen.«80 Die Wahrheiten in den Dingen sind wiederum vielfäl­ tig, wie es auch das Sein der Dinge ist. Die Wahrheit, die von den Dingen im Verhältnis zum menschli­ chen Verstand ausgesagt wird, ist in diesen Dingen in irgend­einer Weise akzidentell. Der Grund ist folgender: Gesetzt, daß es den 76  Augustinus, De trin. XII, 15, 24 (CCSL 50, 378). 77  Vgl. De ver., q.  1, a.  2 (S. 18). 78  Aristoteles, Met. IV, 2; 1005 a 33 ff. 79  Petrus Lombardus, Glossa super Ps. 11, 2 (PL 191, col. 155 A). 80  Ps. 11, 1–2: »Hilf, o Herr, denn die Frommen schwinden dahin,

keine Treue ist mehr unter den Menschenkindern« [Übers. R. Guardini]. Der Wechsel von Wahrheit zu Treue ist nicht ganz zufällig; das englische Wort truth hängt ebenfalls mit dem deutschen Wort Treue (Verlässlich­ keit, Beständigkeit) zusammen.

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menschlichen Verstand nicht gäbe oder geben könnte, so blieben die Dinge doch in ihrem Wesen; die Wahrheit, die von ihnen in Re­ lation zum göttlichen Verstand ausgesagt wird, geht mit ihnen auf untrennbare Weise einher, weil sie nur durch den göttlichen Ver­ stand Bestand haben können, der sie ins Sein hervorbringt. Wahr­ heit ist daher dem Ding im grundlegenderen Sinne im Verhältnis zum göttlichen Verstand als zum menschlichen Verstand zugehö­ rig, weil es sich zum göttlichen Verstand als zu seiner Ursache, zum menschlichen hingegen als zu seiner Wirkung verhält, insofern der Verstand das Wissen von den Dingen aufnimmt. Daher also wird ein Ding im grundlegenderen Sinne ›wahr‹ genannt im Hinblick auf die Wahrheit des göttlichen Verstandes als im Hinblick auf die des menschlichen Verstandes. In diesem Sinne redet Anselm über die Wahrheit in seiner Schrift Über die Wahrheit; wenn freilich ›Wahrheit‹ im eigentlichen Sinne verstanden wird, sofern alles im grundlegenden Sinne ›wahr‹ genannt wird, so gibt es von mehrerem Wahren mehrere Wahrheiten und selbst von einem Wahren meh­ rere Wahrheiten in verschiedenen Seelen. Wenn hingegen Wahrheit im uneigentlichen Sinne verstanden wird, in dem man alles ›wahr‹ nennt, gibt es in diesem Sinne von mehrerem Wahren viele Wahr­ heiten, aber von einem Wahren nur eine Wahrheit. Die Dinge er­ halten die Bezeichnung ›wahr‹ von der Wahrheit, die im göttlichen oder im menschlichen Verstand ist, so wie beispielsweise eine Speise ›gesund‹ genannt wird aufgrund der Gesundheit, die im Lebewesen ist, und nicht im Sinne einer ihr selbst innewohnenden Form. Doch aufgrund der Wahrheit, die im Ding selbst ist, die nichts anderes ist als die dem Verstand angeglichene Seiendheit oder der ihr angegli­ chene Verstand, erhält es die Bezeichnung im Sinne einer ihr inne­ wohnenden Form. Beispielsweise erhält eine Speise die Bezeichnung ›gesund‹ durch eine ihr innewohnende Beschaffenheit, durch die sie ›gesund‹ genannt wird. Zu 1.  Die Zeit steht zu den zeitlichen Dingen im Verhältnis des Maßes zum Gemessenem. Daher ist ersichtlich, daß Anselm von je­ ner Wahrheit spricht, die das Maß aller wahren Dinge ist, und diese ist der Zahl nach eine, so wie auch die Zeit eine ist und im zweiten Einwand geschlossen wird. Die Wahrheit hingegen, die im mensch­

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lichen Verstand oder in den Dingen selbst ist, steht zu den Dingen nicht im Verhältnis eines äußeren und eines gemeinsamen Maßes zu den Gemessenen, sondern entweder im Sinne eines Gemessenen zum Maß, wie dies bei der Wahrheit des menschlichen Verstandes der Fall ist, und daher ist es notwendig, daß sie sich entsprechend der Veränderung der Dinge verändert; oder im Sinne eines inneren Maßes, wie es bei der Wahrheit der Fall ist, die in den Dingen selbst ist, und diese Maßbestimmungen gilt es ebenfalls als Pluralität an­ zusetzen in Orientierung an der Vielfältigkeit der Gemessenen, wie auch verschiedene Körper verschiedene Ausmaße haben. Zu 2.  Den zweiten Einwand räumen wir ein. Zu 3.  Die Wahrheit, die bleibt, auch wenn die Dinge zerstört sind, ist die Wahrheit des göttlichen Verstandes. Diese ist für sich genom­ men der Zahl nach eine. Diejenige Wahrheit hingegen, die in den Dingen oder in der Seele ist, verändert sich entsprechend der Ver­ änderung der Dinge. Zu 4.  Wenn man sagt: ›Kein Ding ist seine Wahrheit‹, wird dies mit Bezug auf die Dinge verstanden, die in der Natur ein vollstän­ diges Sein haben. In diesem Sinne sagt man auch: ›Kein Ding ist sein Sein‹, und gleichwohl ist das Sein eines Dinges eine gewisse ge­ schaffene Wirklichkeit. In demselben Sinne ist das Wahrsein e­ ines Dinges etwas Geschaffenes. Zu 5.  Die Wahrheit, auf deren Grundlage die Seele über alles ur­ teilt, ist die erste Wahrheit. So wie nämlich von der Wahrheit des göttlichen Verstandes in den Verstand eines Engels die Erkenntnis­ bilder fließen, aufgrund derer die Engel alles erkennen, so geht als Urbild von der Wahrheit des göttlichen Verstandes die Wahrheit der ersten Prinzipien aus, aufgrund derer wir über alles urteilen. Da wir nur deswegen urteilen können, weil sie in unserem Verstand ein Abbild der ersten Wahrheit ist, deshalb kann man sagen, daß wir gemäß der ersten Wahrheit über alles urteilen. Zu 6.  Jene unveränderliche Wahrheit ist die erste Wahrheit, und diese wird weder mit einem Sinn wahrgenommen, noch ist sie e­ twas Geschaffenes. Zu 7.  Auch die geschaffene Wahrheit hat für sich genommen nichts an sich, was dem Falschen ähnlich wäre, obgleich jedes Ge­ schöpf etwas dem Falschen Ähnliches hat. In dem Maße, in dem

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das Geschöpf etwas dem Falschen Ähnliches hat, in dem Maße ist es mangelhaft. Die Wahrheit folgt jedoch nicht insofern aus der ge­ schaffenen Sache, als das Geschaffene mangelhaft ist, vielmehr ist sie, sofern dieses von Mängeln frei ist, der ersten Wahrheit gleich­ förmig. Auf die Argumente, die im entgegengesetzten Sinne eingewandt worden sind, ist zu antworten: Zu 1.  Die Ähnlichkeit im eigentlichen Sinne findet sich in beiden ähnlichen Dingen. Da die Wahrheit nun aber eine Art Übereinstim­ mung von Verstehen und Ding ist, findet sie sich im eigentlichen Sinne nicht in beiden, sondern im Verstand. Daher gilt: Da es einen Verstand gibt, nämlich den göttlichen, ist gemäß der Übereinstim­ mung mit diesem alles wahr und wird so genannt, ist es notwendig, daß alles Wahre aufgrund der einen Wahrheit wahr ist, obgleich es angesichts der Vielzahl dessen, was ähnlich ist, verschiedene Ähn­ lichkeiten gibt. Zu 2.  Obwohl das Verstandeslicht vom Urbild des göttlichen Lich­ tes kommt, so wird gleichwohl Licht im eigentlichen Sinne von den geschaffenen Verstandeslichtern ausgesagt. Nicht aber wird Wahr­ heit im eigentlichen Sinn von den nach dem Urbild im göttlichen Verstand geformten Dingen ausgesagt. Deshalb reden wir nicht von einem Licht, wie wir von einer Wahrheit reden. Zu 3.  Zum dritten Einwand mit den Farben ist in ähnlicher Weise Stellung zu nehmen, weil man die Farben im eigentlichen Sinne sichtbar nennt, obgleich man sie nur dank des Lichtes sieht. Zu 4 und 5. Ähnlich muß man zum vierten Einwand mit der Möglichkeit und zum fünften Einwand reden, der mit dem Seiend­ sein argumentiert. Zu 6.  Obgleich die Dinge in unterschiedlichen Formen von der göttlichen Wahrheit als ihrem Urbild ausgehen, so wird doch da­ durch nicht ausgeschlossen, daß sie durch eine Wahrheit wahr sind, und nicht im eigentlichen Sinne von mehreren Wahrheiten. Der Grund ist: Das, was auf verschiedene Weise in nach dem Urbild ge­ formten Dingen aufgenommen wird, wird nicht im eigentlichen Sinne Wahrheit genannt, wie es im eigentlichen Sinne im Urbild Wahrheit genannt wird.

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Zu 7.  Obgleich diejenigen Dinge, die der Art nach verschieden sind, von seiten der Dinge durch eine Angleichung nicht dem göttli­ chen Verstand gleich werden, so ist doch der göttliche Verstand, dem alle gleich werden, einer, und von ihm her gesehen liegt nur eine Angleichung zu allen Dingen vor, obgleich ihm nicht alle Dinge auf dieselbe Weise ähnlich sind. Deshalb ist in der besagten Weise die Wahrheit aller Dinge eine. Zu 8.  Augustinus spricht von der Wahrheit, die vom göttlichen Geist in unseren Geist als Abbild gelangt, so wie das Bild eines Ge­ sichtes im Spiegel auftritt. Die Wahrheiten dieser Art, die in unse­ ren Seelen von der ersten Wahrheit auftreten, sind viele, wie gesagt worden ist. – Oder man muß sagen, daß die erste Wahrheit in gewis­ ser Weise zur Gattung der Seele gehört, wobei man den Begriff der Gattung dann in einem weiten Sinne versteht, demgemäß man sagt, alles Erkennbare oder Unkörperliche sei zu einer Gattung gehörig, so wie es auch in der Apostelgeschichte heißt: »Wir sind von seinem Geschlecht.«81 5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Ist über die erste Wahrheit hinaus irgend­ eine Wahrheit ewig?82 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Anselm sagt nämlich im Monologion, wo er über die Wahr­ heit von Aussagen spricht: »Ob man nun erkennt, daß die Wahrheit ­einen Anfang oder ein Ende hat, oder dies nicht erkennt, die Wahr­ heit kann durch keinen Anfang und kein Ende eingeschlossen wer­ den.«83 Nun erkennt man von der Wahrheit, daß sie entweder einen Anfang oder ein Ende oder daß sie keinen Anfang oder kein Ende hat. Also wird keine Wahrheit durch einen Anfang oder ein Ende 81  Apg. 17, 28. Paulus zitiert dies in seiner Rede auf dem Areopag in Athen aus Arat, Phaenomena, prol. ›Geschlecht‹ im Sinne einer durch Ab­ stammung begründeten Zugehörigkeit ist die weite Bedeutung von Gat­ tung (genus). 82  Paralleltexte: Sent. I, d. 19, q.  5, a.  3; Sum. theol. I, q.  16, a.  7. 83  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  18 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 33).

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eingeschlossen. Alles aber, was von dieser Art ist, ist ewig. Also ist jede Wahrheit ewig. 2.  Alles das, dessen Sein aus der Zerstörung seines Seins folgt, ist ewig, weil, gleichgültig ob das Sein oder das Nichtsein ge­ setzt wird, das Sein folgt. Es ist notwendig, daß man von allem mit Bezug auf jede Zeit setzt, daß es entweder ist oder nicht ist. Doch aus der Aufhebung der Wahrheit folgt das Sein der Wahrheit. Die Begründung lautet: Wenn die Wahrheit nicht ist, dann ist es wahr, daß die Wahrheit nicht ist. Also ist die Wahrheit ewig. 3.  Wenn die Wahrheit von Aussagen nicht ewig ist, muß man fol­ gerichtig angeben, wann die Wahrheit der Aussagen nicht bestanden hat. Doch dann wäre folgende Aussage eine Wahrheit: ›Es gibt keine Wahrheit der Aussagen.‹ Also gäbe es eine Wahrheit der Aussagen, was aber das Gegenteil dessen ist, was gesetzt worden ist. Also kann man nicht sagen, die Wahrheit von Aussagen wäre nicht ewig. 4.  Aristoteles beweist im 1. Buch der Physik84, daß die Materie ewig ist – obgleich dies falsch ist –, und zwar dadurch, daß sie nach ihrem Vergehen bleibt und vor ihrer Entstehung ist, und zwar mit folgendem Argument: Wenn sie vergehen würde, würde sie in et­ was vergehen, und wenn sie entstünde, würde sie aus etwas entste­ hen. Jenes nun, aus dem etwas entsteht und in das etwas vergeht, ist die Materie. Ähnlich gilt nun aber von der Wahrheit: Wenn man behauptet, daß sie entsteht oder vergeht, folgt, daß sie vor der Ent­ stehung und nach dem Vergehen ist, denn wenn sie entsteht, dann ist sie vom Nichtsein zum Sein verändert worden, und wenn sie vergeht, dann ist sie vom Sein zum Nichtsein verändert worden. Zu dem Zeitpunkt, zu dem nun aber keine Wahrheit ist, ist es wahr, daß keine Wahrheit ist. Dies kann nämlich nicht sein, ohne daß die Wahrheit ist. Also ist die Wahrheit ewig. 5.  Alles, von dem man nicht denken kann, daß es nicht ist, ist ewig. Denn von allem, was nicht sein kann, von dem kann man denken, daß es nicht ist. Von der Wahrheit auch der Aussagen kann nicht gedacht werden, daß sie nicht ist, da der Verstand keine Er­ kenntnis von etwas haben kann, wenn er nicht zugleich denkt, daß diese wahr ist. Also ist die Wahrheit auch der Aussagen ewig. 84  Aristoteles, Phys. I, 9; 192 a 25–34.

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6.  Dasjenige, das zukünftig ist, war immer zukünftig, und was vergangen ist, wird immer vergangen sein. Doch aus dem Grunde ist die Aussage über das Zukünftige wahr, weil etwas zukünftig ist, und aus dem Grunde ist die Aussage über das Vergangene wahr, weil etwas vergangen ist. Also war die Wahrheit der Aussage über das Zukünftige immer und die Wahrheit der Aussage über das Vergan­ gene war auch immer, und so ist nicht nur die erste Wahrheit ewig, sondern sind es auch viele andere. 7. Augustinus sagt in seinem Buch Über den freien Willen: »Nichts ist in höherem Maße ewig als der Begriff des Kreises und daß zwei und drei fünf ist.«85 Nun handelt es sich bei diesen Wahr­ heiten um eine geschaffene Wahrheit. Also gibt es eine Wahrheit neben der ersten, die ewig ist. 8.  Zur Wahrheit einer Aussage ist nicht erforderlich, daß etwas wirklich ausgesagt wird, sondern es ist hinreichend, daß jenes ist, worüber man eine Aussage formulieren kann. Nun war aber bereits, bevor die Welt war, etwas, worüber etwas gesagt werden konnte, auch neben Gott. Also existiert bereits, bevor die Welt geworden ist, die Wahrheit von Aussagen. Was nun aber vor der Welt war, ist ewig. Also ist die Wahrheit von Aussagen ewig. Beweis des Mittelsatzes: Die Welt ist aus nichts geschaffen worden, d. h. nach dem Nichts. Also war, bevor die Welt war, bereits deren Nichtsein. Eine wahre Aussage wird aber nicht nur über das gebildet, was ist, sondern auch über das, was nicht ist. So wie es geschieht, daß zutreffend geäußert wird, was der Fall ist, so kann es auch vorkommen, daß wahrheitsge­ mäß ausgesagt wird, was nicht der Fall ist, wie im 1. Buch der Schrift Über den Satz86 ersichtlich wird. Also gab es, bevor die Welt wurde, etwas, worüber eine wahre Aussage formuliert werden konnte. 85  Augustinus, De lib. arb. II, 8, 21 (CCSL 29, 251); das Adagium – darauf macht auch die Editio Leonina aufmerksam – steht an der Stelle gar nicht wörtlich; der erste Teil stammt aus: Augustinus, De immortali­ tate animae, 4, 6 (CSEL 89, 107); Thomas verwendet es ebenfalls in Sum. theol.  I, q.  16, a.  7 arg. 1, so auch schon die Summa fratris Alexandri, I n.  93 (ed. B. Klumpel  /  V. Doucet, I, 149). 86  Aristoteles, Peri herm., c.  6; 17 a 26–29: »Behaupten kann man aber sowohl von dem, was (einer Sache) zukommt, daß es (ihr) nicht zukommt, als auch von dem, was (einer Sache) nicht zukommt, daß es (ihr) zukommt,

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9.  Alles, was gewußt wird, ist wahr, sofern es gewußt wird.87 Nun weiß Gott von Ewigkeit alles, was sich aussagen läßt. Also ist die Wahrheit aller Aussagen von Ewigkeit, und demzufolge sind meh­ rere Wahrheiten ewig. 10.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Daraus folgt nicht, daß jenes in sich selbst wahr ist, sondern nur im göttlichen Verstand. – Doch dem steht wiederum entgegen: Nun wird von Ewigkeit her alles von Gott gewußt, und zwar nicht nur, sofern es in seinem Geist ist, sondern auch in dessen eigentümlicher Wesensnatur: im Buch Jesus Sirach, Kap. 23: »Unserem Herrgott ist alles, bevor es erschaffen wird, bekannt, so erkennt er auch nach der Voll­ endung alles.«88 Daher erkennt er die Dinge nicht anders, wenn sie vollendet sind, wie er sie von Ewigkeit her kennt. Also gab es von Ewigkeit her mehrere Wahrheiten nicht nur im göttlichen Verstand, sondern an sich. 11.  Man sagt von etwas, daß es ohne Einschränkung ist, aufgrund dessen, daß es in seiner Vollendung ist. Der Begriff der Wahrheit hat nun aber seine Vollendung im Verstand. Wenn also im göttli­ chen Verstand von Ewigkeit her mehrere Wahrheiten gewesen wä­ ren, wäre ohne Einschränkung einzuräumen, daß mehrere Wahr­ heiten von Ewigkeit her existieren. 12. Im Buch der Weisheit, Kap. 1, heißt es: »Die Gerechtigkeit ist ewig und unsterblich.«89 Nun ist die Wahrheit Teil der Gerechtigkeit, wie Cicero in der Rhetorik90 sagt. Also ist sie ewig und unsterblich. 13. Die Allgemeinbestimmungen sind ewig und unzerstörbar. Nun ist ›wahr‹ in höchstem Maße allgemein, weil es mit ›seiend‹ austauschbar ist. Also ist die Wahrheit ewig und unzerstörbar.

sowie von dem, was (einer Sache) zukommt, daß es (ihr) zukommt, und von dem, was (einer Sache) nicht zukommt, daß es (ihr) nicht zukommt« [Übers. H. Weidemann]. 87  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  244. 88  Jes. Sir. 23, 29 (Recensio Veteris Latinae, vgl. ed. Leon.). In neueren Bibelausgaben umfasst das Kap. 23 nur 27 Verse; auch die Vulgata hat aber 38. 89  Wsh. 1, 15. 90  Cicero, De inventione II, 53, 162.

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14.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Das Allgemeine ver­ geht nicht an sich, sondern nur akzidentell. – Doch dem steht wie­ derum entgegen: Etwas muß seine Bezeichnung eher im Blick dar­ auf erhalten, was ihm an sich, als nach dem, was ihm akzidentell zukommt. Wenn also die Wahrheit an sich gesprochen ewig und unvergänglich ist, lediglich im akzidentellen Sinne vergeht und ent­ steht, dann ist zuzugestehen, daß die Wahrheit im Allgemeinen ge­ sprochen ewig ist. 15.  Von Ewigkeit her war Gott früher als die Welt. Also war die Relation des Früherseins von Ewigkeit her in Gott. Gesetzt nun, daß ein Relationales ist, ist es notwendig, auch das Korrelat zu setzen.91 Also war von Ewigkeit her das Spätersein der Welt im Verhältnis zu Gott. Also war von Ewigkeit her etwas anderes neben Gott, dem in gewisser Weise Wahrheit zukommt. Daher folgt dasselbe wie vorher. 16.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Diese Relation des Frü­ her- und Späterseins besteht nicht in der Wirklichkeit der Natur, sondern nur in der Vernunft. – Doch dem steht wiederum das ent­ gegen, was Boethius am Ende des Buches Trost der Philosophie sagt: Gott ist seinem Wesen nach früher als die Welt, auch wenn die Welt immer gewesen wäre.92 Also ist die Relation des Früherseins eine wirkliche Relation und nicht nur eine gedachte Relation. 17.  Die Wahrheit der Bezeichnung ist die Rechtheit der Bezeich­ nung.93 Nun war es von Ewigkeit her recht, daß etwas bezeichnet wird. Also war die Wahrheit der Bezeichnung von Ewigkeit her. 18.  Von Ewigkeit ist es wahr gewesen, daß der Vater den Sohn gezeugt hat und der Heilige Geist aus beiden hervorgegangen ist. Nun handelt es sich dabei um mehrere Wahrheiten. Also sind meh­ rere Wahrheiten von Ewigkeit. 91  Vgl. Aristoteles Cat., c.  7; 7 b 15–19: »Das Relative scheint von Natur zugleich zu sein; und in den meisten Fällen trifft das zu. Denn zugleich ist das Doppelte und das Halbe, und wenn das Halbe ist, ist das Doppelte, und wenn der Sklave ist, ist der Herr; ebenso wie in diesen Fällen ist es auch sonst. Diese Relativa heben sich auch wechselseitig auf« [Übers. K. Oehler]. 92  Boethius, Cons. philos. V, pr. 6 (CCSL 94, 101). 93  Vgl. Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  2 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 179).

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19.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Diese Aussagen sind dank der einen Wahrheit wahr. Daher folgt nicht, daß es mehrere Wahrheiten von Ewigkeit her gibt. – Doch dem steht wiederum ent­ gegen: Durch etwas anderes ist der Vater der Vater und erzeugt er den Sohn, durch etwas anderes ist der Sohn der Sohn und haucht er den Heiligen Geist. Nun ist durch das, durch das der Vater Vater ist, dies wahr: »Der Vater zeugt den Sohn« oder »Der Va­ ter ist der Vater«, durch das wiederum, durch das der Sohn Sohn ist, ist dies wahr: »Der Sohn ist gezeugt vom Vater«. Also sind derartige Sätze nicht durch eine Wahrheit wahr. 20.  Obwohl die Bestimmungen ›Mensch‹ und ›des Lachens fähig‹ austauschbar sind, so ist dennoch die Wahrheit jener beiden Aus­ sagen: ›Der Mensch ist ein Mensch‹ und ›Der Mensch ist des La­ chens fähig‹, nicht dieselbe, und zwar deswegen, weil es nicht die­ selbe Eigenschaft ist, welche die Bezeichnung ›Mensch‹ und die Be­ zeichnung ›des Lachens fähig‹ aussagt. Nun ist es aber nicht dieselbe Eigenschaft, welche die Bezeichnung ›Vater‹ und die Bezeichnung ›Sohn‹ beinhaltet. Also ist die Wahrheit der genannten Sätze nicht dieselbe. 21. Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Jene Aussagen exi­ stierten nicht von Ewigkeit her. – Doch dem steht wiederum ent­ gegen: Wann immer es einen Verstand gibt, der sich äußern kann, kann es eine Aussage geben. Nun war aber von Ewigkeit der göttli­ che Verstand, der erkennt, daß der Vater der Vater und der Sohn der Sohn ist und also sich äußernd bzw. sagend, da nach Anselm für den höchsten Geist Sagen und Erkennen dasselbe ist.94 Also be­ standen die genannten Sätze von Ewigkeit her. Dagegen spricht: 1.  Kein Geschöpf existiert ewig; jede Wahrheit über die erste hin­ aus ist geschaffen, also ist einzig die erste Wahrheit ewig. 2.  ›Seiend‹ und ›wahr‹ sind austauschbar. Nun ist aber nur ein Seiendes ewig. Also ist einzig eine Wahrheit ewig.

94  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  32 u. 63 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 51 u. 73).

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Antwort: Wie schon früher gesagt,95 besagt ›Wahrheit‹ eine Art Anglei­ chung und Maßerfüllung, daher hat etwas aufgrund dessen die Be­ zeichnung ›wahr‹ erhalten, wodurch es auch die Bezeichnung ›Maß­ erfüllung‹ (commensuratio) erhalten hat. Nun wird der Körper so­ wohl von einem inneren Maß bestimmt, wie Linie oder Oberfläche oder Tiefe, wie auch von einem äußeren Maß, wie das an einem Ort Befindliche vom Ort und eine Bewegung von der Zeit und ein Stück Stoff von der Elle. Daher kann etwas auch in doppeltem Sinne als ›wahr‹ bezeichnet werden: einmal mit Bezug auf die ihm innewoh­ nende Wahrheit, zum anderen mit Bezug auf die äußere Wahrheit; und in diesem Sinne erhalten alle Wahrheiten von der ersten Wahr­ heit ihre Benennung. Da die Wahrheit, die im Verstand ist, in den Dingen ihr Maß hat, folgt, daß nicht nur die Wahrheit des Dinges, sondern auch die Wahrheit des Verstandes bzw. der Aussage, wel­ che das Verstandene bezeichnet,96 von der ersten Wahrheit ihre Be­ zeichnung erhält. Bei dieser Angleichung bzw. Maßerfüllung von Verstand und Ding ist nicht erforderlich, daß beides in Wirklich­ keit ist: Unser Verstand kann schon jetzt denjenigen Dingen gleich werden, die erst in Zukunft sein werden, jetzt aber noch nicht sind; andernfalls wäre der Satz: ›Der Antichrist wird geboren werden‹, nicht wahr. Dies wird ›wahr‹ genannt aufgrund der Wahrheit, die nur im Verstand ist, auch dann, wenn die Sache selbst nicht wirklich ist. Ähnlich kann auch der göttliche Verstand von Ewigkeit her dem gleich werden, das nicht von Ewigkeit her ist, sondern in der Zeit hervorgebracht worden ist, und daher kann das, was in der Zeit ist, von Ewigkeit her durch die ewige Wahrheit ›wahr‹ genannt werden. Wenn wir ›Wahrheit‹ im Sinne der geschaffenen wahren Dinge als ihnen innewohnend verstehen, welche in den Dingen und im ge­ schaffenen Verstand liegt, ist in diesem Sinne die Wahrheit nicht ewig, weder die der Dinge noch die der Aussagen, weil die Dinge 95  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S. 10). 96  Vgl. Aristoteles, Peri herm., c.  1; 16 a 3–4: »Nun sind die (sprachli­

chen) Äußerungen unserer Stimme ein Symbol für das, was (beim Spre­ chen) unserer Seele widerfährt« [Übers. H. Weidemann]; vgl. Nachwort, Anm.  66.

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oder auch der Verstand, welchen beiden diese Wahrheiten inne­ wohnen, nicht von Ewigkeit her sind. Wenn hingegen die Wahrheit des geschaffenen Wahren, durch die alles Wahre benannt wird, im Sinne des äußeren Maßes ihre Bezeichnung hat, welche die erste Wahrheit ist, dann ist alles, sowohl die Wahrheit der Dinge wie der Aussagen und der Verstehensweisen, ewig. Auf die Ewigkeit einer solchen Wahrheit zielt Augustinus in seiner Schrift Selbstgesprä­ che und Anselm in seinem Werk Monologion; daher sagt Anselm in seiner Schrift Über die Wahrheit: »Du kannst erkennen, wie ich in meinem Monologion durch die Wahrheit der Rede von der höchsten Wahrheit bewiesen habe, daß sie keinen Anfang oder Ende hat.«97 Diese erste Wahrheit kann im Verhältnis zu allen anderen nur eine sein. In unserem Verstand wird nämlich die Wahrheit aus­ schließlich in zweifacher Weise eine unterschiedliche: einmal we­ gen der Verschiedenheit des Gedachten, worüber er verschiedene Gedanken hat, aus denen sich verschiedene Wahrheiten ergeben; zum anderen durch die verschiedene Weise des Erkennens: Das Lau­ fen des Sokrates bildet eine Einheit, doch die Seele, die im Zuspre­ chen und Absprechen, wie es im 3. Buch der Schrift Über die Seele98 heißt, die Zeit miterkennt, erkennt auf verschiedene Weise das Lau­ fen des Sokrates als gegenwärtiges, vergangenes und zukünftiges. Dementsprechend bildet sie verschiedene Begriffe, in denen sich verschiedene Wahrheiten finden. Keine der genannten Weisen der Verschiedenheit liegt im göttlichen Erkennen: Gott hat nämlich von verschiedenen Dingen nicht verschiedene Erkenntnisse, sondern er­ kennt in einer Erkenntnis alles, weil er durch eines, nämlich durch sein Wesen, alles erkennt, »nicht seine Erkenntnis in die Einzel­ dinge sendend«99, wie Dionysius in seinem Buch Über die göttlichen Namen sagt. Entsprechend betrifft das Erkennen Gottes auch nicht irgendeine Zeit, da er sein Maß in der Ewigkeit hat, die von jeder 97  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  10 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 190). 98  Vgl. Aristoteles, De an. III, 6; 430 b 1. 99  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, 869 B; Dion. I, 398): »nicht jedes seiner eigenen Art aufgreifend« [Übes. E. Stein, ESGA XVII, 136].

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Zeitspanne losgelöst ist, indem sie alle Zeiten umfaßt. Daraus ergibt sich, daß es nicht mehrere Wahrheiten von Ewigkeit her gibt. Zu 1.  Wie Anselm in seiner Schrift Über die Wahrheit sich selbst erläutert, sagt er, daß die Wahrheit der Aussagen nicht durch ei­ nen Anfang und ein Ende eingeschlossen ist, »nicht weil die Rede ohne Anfang war, sondern weil sich nicht denken läßt, daß, wenn die Aussage gegeben ist, ihr die Wahrheit fehlen würde«100, jene Wahrheit nämlich, von der er handelt, durch die zutreffend ange­ zeigt wird, daß etwas in Zukunft sein wird. Darin zeigt sich also, daß er nicht die dem geschaffenen Ding innewohnende Wahrheit aufstellen wollte oder daß die Rede ohne Anfang und Ende sei, son­ dern die erste Wahrheit, durch die als ihrem äußeren Maß eine Aus­ sage wahr genannt wird. Zu 2.  Außerhalb der Seele findet sich ein Zweifaches, nämlich das Ding selbst und die Verneinungen und Privationen des Dinges; doch verhalten sich diese beiden Fälle nicht in derselben Weise zum Verstand: Das Ding selbst entspricht durch die Art, die es hat, dem göttlichen Verstand so wie ein Kunstgebilde der Kunst; und kraft derselben Art ist es darauf angelegt, daß sich unser Verstand ihm angleichen kann, insofern er durch das Erkenntnisbild, das er in der Seele aufgenommen hat, aus sich selbst einen Gedanken hervor­ bringt. Aber dasjenige, was außerhalb der Seele nicht ist, hat nichts, wodurch es dem göttlichen Verstand angeglichen werden könnte, und auch nichts, wodurch es ein Grund für einen Gedanken von sich in unserem Verstand ist. Daher stammt dies, daß es irgend­ einem Verstand gleich wird, nicht aus dem Nichtsein, sondern aus dem Verstand, der das Moment des Nichtseienden in sich selbst ent­ hält. Das Ding, das etwas außerhalb der Seele Gesetztes ist, hat also etwas in sich, wodurch es ›wahr‹ genannt werden kann, nicht jedoch das Nichtsein des Dinges, vielmehr stammt die Wahrheit, welche ihm auch immer zugeschrieben wird, vom Verstand. Wenn also ge­ sagt wird: ›Daß die Wahrheit nicht ist, ist wahr‹, dann gilt: Wenn die Wahrheit, die hier bezeichnet wird, sich auf ein Nichtseiendes 100  Vgl. Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  10 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 190).

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bezieht, hat sie ausschließlich im Verstand ein Sein. Daher folgt aus dem Vergehen der Wahrheit, die in den Dingen ist, nur das Sein derjenigen Wahrheit, die im Verstand ist, und daher wird ersicht­ lich, daß daraus nur geschlossen werden kann, daß diejenige Wahr­ heit, die im Verstand ist, ewig ist. Zudem ist es notwendig, daß sie im ewigen Verstand ist, und dies ist die erste Wahrheit. Daher wird mit dem zuvor genannten Argument nur von der ersten Wahrheit gezeigt, daß sie ewig ist. Zu 3 und 4. Dadurch wird auch die Auflösung des dritten und vierten Einwandes ersichtlich. Zu 5. Man kann nicht denken, daß es Wahrheit schlechthin nicht gibt. Es kann freilich gedacht werden, daß es keine geschaf­ fene Wahrheit gibt, so wie auch gedacht werden kann, daß kein Ge­ schöpf existiert. Der Verstand vermag nämlich zu denken, daß er nicht existiert und nicht erkennt, obgleich er niemals erkennt, ohne daß er existiert und erkennt. Es ist nämlich nicht notwendig, daß das, was immer der Verstand beim Erkennen aufweist, er in diesem Erkennen erkennt, weil er sich nicht immer auf sich selbst bezieht. Daher ist es nicht sinnwidrig, wenn er von der geschaffenen Wahr­ heit, ohne die er nicht erkennen kann, denkt, daß sie nicht existiert. Zu 6.  Das Zukünftige ist nicht, insofern es zukünftig ist, und ent­ sprechend das Vergangene als solches. Daher gilt dasselbe Argument von der Wahrheit des Vergangenen und des Zukünftigen wie von der Wahrheit des Nichtseienden, aus dem die Ewigkeit einer anderen als der ersten Wahrheit nicht geschlossen werden kann, wie oben101 dargelegt worden ist. Zu 7.  Der Satz des Augustinus ist so zu verstehen, daß jene insofern ewig sind, als sie im göttlichen Geist sind; oder er versteht unter ›ewig‹ ›immerwährend‹.102 Zu 8. Obgleich eine wahre Aussage vom Seienden und vom Nichtseienden getroffen wird, so verhalten sich, wie aus dem Ge­ 101  Vgl. corp. art. 102  Zu dieser Unterscheidung vgl. Boethius, Consol. philos. V, pr.  6

(CCSL 94, 102): »Wenn wir also den Dingen würdige Namen beilegen wol­ len, so wollen wir, Platon folgend, Gott zwar ewig, die Welt aber dauernd nennen« [Übers. O. Gigon].

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sagten deutlich wird, das Seiende und das Nichtseiende nicht auf dieselbe Weise zur Wahrheit. Dadurch wird auch die Auflösung des Einwandes ersichtlich. Zu 9.  Von Ewigkeit her hatte Gott das Wissen von vielen Aussa­ gen, doch hat er dieses Wissen von diesem Vielen in einer Erkennt­ nis. Daher existiert von Ewigkeit her nur eine Wahrheit, durch wel­ che die göttliche Erkenntnis mit Bezug auf viele der Zeit nach zu­ künftige Dinge wahr war. Zu 10.  Wie aus dem zuvor Dargelegten ersichtlich ist, wird der Verstand nicht nur dem gleich, was in Wirklichkeit ist, sondern auch dem, was nicht in Wirklichkeit ist. Dies gilt insbesondere für den göttlichen Verstand, im Verhältnis zu dem nichts vergangen oder zukünftig ist. Daher gilt: Obgleich die Dinge nicht von Ewigkeit her in ihrer eigenen Wesensnatur existiert haben, war der göttli­ che Verstand den Dingen, die in ihrer eigenen Wirklichkeit der Zeit nach zukünftig waren, gleichwohl angeglichen. Deshalb besitzt er von Ewigkeit eine wahre Erkenntnis auch von deren eigener Wirk­ lichkeit, obgleich die Wahrheiten der Dinge nicht von Ewigkeit her bestanden. Zu 11.  Obwohl der Begriff der Wahrheit im Verstand seine Voll­ endung hat, so hat doch nicht der Begriff des Dinges im Verstand seine Vollendung. Daher gilt: Auch wenn man ohne Einschränkung zugesteht, daß die Wahrheit aller Dinge dadurch von Ewigkeit her existiert, daß sie im göttlichen Geist ist, so kann man trotzdem nicht ohne Einschränkung zugestehen, daß die Dinge von Ewigkeit her deswegen wahr gewesen sind, weil sie im göttlichen Verstand exi­ stiert haben. Zu 12.  Dieser Satz wird mit Bezug auf die göttliche Gerechtigkeit verstanden, oder, wenn er doch im Zusammenhang der menschli­ chen Gerechtigkeit zu verstehen ist, dann besteht er immerwährend, so wie auch die natürlichen Dinge ›immerwährend‹ genannt werden, etwa wenn wir sagen, daß das Feuer – falls es nicht gehindert wird – sich wegen der Neigung seiner Natur immer nach oben bewegt: Da die Tugend, wie Cicero sagt, »eine Gewohnheit ist, die der Vernunft­ natur entspricht«103, insoweit sie durch das Wesen der Tugend be­ 103  Cicero, De inventione II, 53, 159.

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stimmt ist, hat sie eine nicht nachlassende Neigung zu der ihr spe­ zifischen Tätigkeit, auch wenn sie mitunter daran gehindert wird. Deshalb heißt es auch zu Beginn der Digesten, daß »die Gerechtig­ keit ein beständiger Wille ist, jeglichem sein Recht zuzubilligen«.104 Gleichwohl ist die Wahrheit, von der jetzt die Rede ist, nicht Teil der Gerechtigkeit, sondern die Wahrheit, die in Geständnissen liegt, die man vor Gericht abzulegen hat. Zu 13.  Den Satz, daß die Allgemeinbestimmungen immerwäh­ rend und unvergänglich sind, erläutert Avicenna105 auf zweierlei Weise: einmal, wie das Immerwährendsein und das Unvergänglich­ sein von den Einzeldingen ausgesagt wird, die, laut denen, die die Ewigkeit der Welt behaupten, niemals zu sein beginnen, noch zu sein aufhören; das Entstehen erfolgt nach den Philosophen zu dem Zweck, daß das Immerwährendsein der Art aufrechterhalten wird, was bei den Einzeldingen nicht aufrechterhalten werden kann; im anderen Sinn so, wie das Immerwährendsein insofern ausgesagt wird, als es nicht an sich vergeht, sondern nur in akzidenteller Weise beim Vergehen eines Einzeldinges. Zu 14.  Einem Ding wird etwas auf zweierlei Weise an sich zuge­ sprochen: einmal im Sinne eines Gegebenen (positive), so wie bei­ spielsweise dem Feuer zugesprochen wird, nach oben getragen zu werden; und in diesem Sinn von ›an sich‹ hat etwas in höherem Maße seine angemessene Bezeichnung als von dem, was bei ihm nur akzidentell ist. Im eigentlicheren Sinne sagen wir nämlich, daß das Feuer nach oben bewegt wird und es zu all dem gehört, was nach oben bewegt wird, als von dem, was nach unten bewegt wird, obgleich es manchmal auch nach unten bewegt wird, wie dies bei ­einem feurigen Eisen der Fall ist. Mitunter aber wird von einem Ding etwas ›an sich‹ in der Weise der Aufhebung (remotionis) aus­ gesagt, dadurch nämlich, daß all das bei demjenigen aufgehoben wird, was darauf angelegt ist, die gegenteilige Beschaffenheit her­ vorzurufen. Daher gilt: Wenn etwas von dem Zugesprochenen ak­ zidentell zukommt, wird jene gegenteilige Beschaffenheit ausgesagt; 104  Digesta I, tit. 1, lege 10 (ed. Th. Mommsen, 1). Thomas zitiert aus diesem Werk auch an einigen anderen Stellen. 105  Avicenna, Sufficientia I, 3 (fol. 15 v).

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so wird beispielsweise die Einheit der ersten Materie nicht an sich durch eine Form, die sie eint, zugesprochen, sondern im Sinne der Aufhebung aller Formen, die ja Verschiedenheiten entstehen las­ sen. Daher gilt: Wenn an der Materie Unterschiede bildende Formen auftreten, wird von ihr eher ohne Einschränkung ausgesagt, daß es mehrere Materien sind als eine. Daher verhält es sich folgenderma­ ßen mit der These: Das Allgemeine wird nicht in dem Sinne ›un­ vergänglich‹ genannt, als habe es eine Form der Unvergänglichkeit, sondern weil ihr keine materiellen Beschaffenheiten zukommen, die in den Einzeldingen der Grund ihres Vergehens sind. Aus diesem Grund sagt man von den Allgemeinbestimmungen, die in den Ein­ zeldingen sind, ohne Einschränkung aus, daß sie in diesem oder in jenem Einzelding vergehen. Zu 15. Wenn die anderen Kategorien als solche etwas in der Wirklichkeit setzen – die Quantität besagt nämlich als Quantität ein Etwas –, so gehört es einzig zur Relation als Relation nicht, daß sie etwas in der Wirklichkeit setzt, weil sie nicht etwas aussagt, son­ dern auf etwas hin106. Daher gibt es Relationen, die nichts in der Wirklichkeit der Natur setzen, sondern nur in der Vernunft. Dies geschieht, wie sich aus den Aussagen des Aristoteles107 und des Avi­ cenna108 entnehmen läßt, in vierfacher Weise: Einmal, wenn sich etwas auf sich selbst bezieht, so wenn gesagt wird: »dasselbe mit demselben dasselbe«; wenn nämlich diese Relation etwas in der Wirklichkeit setzen würde, was ihm hinzugefügt ist, was ›dasselbe‹ genannt wird, dann müßte man bei Relationen ins Unendliche ge­ hen, weil eben die Relation, durch die eine Sache als dieselbe ange­ sprochen wird, durch eine weitere Relation mit sich identisch wäre und so ins Unendliche. Im zweiten Fall, wenn sich die Relation selbst auf etwas bezieht. Man kann nämlich nicht sagen, daß sich die Va­ terschaft auf ihren Träger durch eine mittlere Rela­ tion bezieht, weil auch jene mittlere Relation wieder einer anderen 106  Ad aliquid ist die Übersetzung von πρὸς τί (prost ti). Aristoteles verwendet für die Kategorienbegriffe häufig keine abstrakten Begriffe, sondern substantivierte Propositionen. 107  Vgl. Aristoteles, Met. V, 11; 1018 a 7 ff.; V, 15; 1021 a 26 ff. 108  Vgl. Avicenna. Philos. prima III, 10 (ed. S. Van Riet, 175 f.).

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mittleren Relation bedürfte und so ins Unendliche. Daher gilt: Jene Relation, die im Verhältnis von Vaterschaft zum Träger bezeichnet wird, besteht nicht in der äußeren Wirklichkeit, sondern nur in der Vernunft. Im dritten Fall, wenn ein Relatum von seinem Korrelat abhängt, aber nicht umgekehrt; so wie das Wissen vom Wißbaren abhängt, aber nicht umgekehrt.109 Daher ist die Relation des Wissens zum Wißbaren etwas in der Wirklichkeit der Natur, nicht hingegen die Relation des Wißbaren zum Wissen, sondern ist nur in der Ver­ nunft. Im vierten Sinne, wenn das Seiende mit einem Nichtseien­ den in Beziehung gesetzt wird, so wenn wir sagen: Wir sind früher als die zukünftigen Dinge, die nach uns sein werden; andernfalls würde folgen, daß es unendlich viele Relationen im selben Ding ge­ ben könnte, wenn das Entstehen in die Zukunft hinein fortgesetzt würde. Aus den beiden letzten wird ersichtlich, daß jene Relation des Früherseins nichts in der Wirklichkeit der Natur setzt, sondern nur im Verstand, einmal weil Gott nicht von den Geschöpfen abhängt, sodann weil ein solches Frühersein ein Verhältnis des Seienden zum Nichtseienden einschließt. Daher folgt daraus nicht, daß es außer im göttlichen Verstand keine ewige Wahrheit gibt, weil einzig dieser ewig ist. Und dies ist die erste Wahrheit. 109  Vgl. Aristoteles, Met. X, 6; 1057 a 7–12: »Obwohl man die Wissen­ schaft in gleicher Weise als relativ zum Wißbaren bezeichnet, erweist sich die Relation nicht als gleich. Man könnte nämlich meinen, die Wissen­ schaft sei das Maß, das Wißbare das Gemessene, es ergibt sich aber, daß zwar alle Wissenschaft wißbar ist, nicht aber alles Wißbare Wissenschaft, weil in gewissem Sinne die Wissenschaft durch das Wißbare gemessen wird« [Übers. Th. A. Szlezák]; Met. V, 15; 1021 a 29–30: »Das Meßbare hingegen und das Wißbare und das Denkbare werden Relativa genannt dadurch, daß anderes mit Beziehung auf es selbst genannt wird, «; Cat., c.  7; 7 b 22–29: »Doch scheint es nicht bei allen Relativa anzutreffen, daß sie von Natur zugleich sind. Denn das Wißbare dürfte, wie es scheint, früher sein als das Wissen. Denn in aller Regel erlangen wir Wissen von Dingen, die schon vorher existieren. Nur in wenigen Fäl­ len, wenn überhaupt, könnte man finden, daß das Wissen zugleich mit dem Wißbaren entsteht. Außerdem hebt das Wißbare, wenn es aufgeho­ ben wird, das Wissen mit auf, aber das Wissen hebt nicht das Wißbare mit auf« [Übers. K. Oehler].

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Zu 16.  Obwohl Gott dem Wesen nach früher als die geschaffenen Dinge ist, folgt doch daraus nicht, daß jene Relation des Früherseins eine reale Relation ist, sondern weil aus der Betrachtung der We­ sensbestimmung dessen verstanden wird, was ›früher‹ heißt, und dessen, was später heißt, so wie auch das Wißbare ›früher der Natur nach‹ genannt wird als das Wissen, obwohl die Relation des Wißba­ ren zum Wissen nichts in der äußeren Wirklichkeit ist. Zu 17.  Wenn man ohne bestimmte Bedeutung sagt, daß es recht ist, etwas zu bezeichnen, wird dies im Sinne der Anordnung der Dinge im göttlichen Geist verstanden. Zum Beispiel ist es, auch wenn die Truhe nicht existiert, recht, daß eine Truhe entsprechend der Anordnung der Kunst im Künstler einen Deckel hat. Daher läßt sich daraus nicht folgern, daß irgendeine andere als die erste Wahr­ heit ewig ist. Zu 18.  Der Begriff des Wahren gründet im Seienden. Obgleich in Gott mehrere Personen und Eigentümlichkeiten gesetzt werden, so wird doch dort nur ein Sein gesetzt, weil das Sein bei Gott nur bezogen auf das Wesen ausgesagt wird. Deshalb kommt all diesen Aussagen: ›Der Vater ist‹ oder ›Der Vater zeugt‹ und ›Der Sohn ist‹ und ›Der Sohn wird gezeugt‹ und Ähnlichem, sofern es sich auf das Sein bezieht, eine einzige Wahrheit zu, welche die erste und ewige Wahrheit ist. Zu 19.  Obgleich durch etwas anderes der Vater Vater und der Sohn Sohn ist, jener es durch die Vaterschaft und dieser es durch die Sohnschaft ist, so ist es doch gleichwohl dasselbe, wodurch der Vater ist und der Sohn ist, weil beide durch das göttliche Wesen sind, das eines ist. Der Begriff der Wahrheit gründet nun aber nicht auf dem Begriff des Vaterseins und des Sohnseins als solchem, son­ dern auf dem Begriff des Seiendseins. Die Vaterschaft und die Sohn­ schaft sind dem Wesen nach eines, und deshalb handelt es sich in beiden Fällen um dieselbe Wahrheit. Zu 20.  Die Eigentümlichkeiten, welche der Ausdruck ›Mensch‹ und der Ausdruck ›des Lachens fähig‹ aussagen, sind weder dem We­ sen nach dasselbe, noch haben sie ein Sein, wie es bei der Vaterschaft und dem Sohnsein der Fall ist. Daher liegt nicht derselbe Fall vor. Zu 21.  Der göttliche Verstand erkennt das wie sehr auch immer Verschiedene und das, was in sich mehrere Wahrheiten enthält, aus­

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schließlich in einer Erkenntnis. Daher erkennt er um so mehr nur durch eine Erkenntnis all das, was von den Personen erkannt wird. Daher gibt es auch von all dem nur eine Wahrheit.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Ist die geschaffene Wahrheit unveränder­ lich?110 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Anselm sagt in seiner Schrift Über die Wahrheit: »Ich sehe, daß dadurch der Beweis erbracht ist, daß die Wahrheit unveränder­ lich bestehen bleibt.«111 Das vorangestellte Argument hat sich, wie aus dem Vorangegangenen hervorgeht, auf die Wahrheit der Be­ zeichnung bezogen. Also ist die Wahrheit der Aussagen unverän­ derlich und aus demselben Grund auch die Wahrheit der Sache, die jene Aussage bezeichnet. 2.  Wenn sich die Wahrheit einer Aussage verändert, verändert sie sich am meisten durch die Veränderung eines Dinges. Aber wenn sich ein Ding verändert hat, die Wahrheit der Aussage aber bleibt, ist demzufolge die Wahrheit der Aussage unveränderlich. Beweis des Mittelsatzes: Die Wahrheit ist nach Anselm eine Art Rechtheit, insofern etwas dies erfüllt, was es im göttlichen Geist erhält. Diese Aussage nun: »Sokrates sitzt«112, erhält im göttlichen Geist, daß sie das Sitzen des Sokrates bezeichnet, was sie ebenso bezeichnet, wenn Sokrates nicht sitzt. Also bleibt in ihr die Wahrheit, auch wenn Sokrates nicht sitzt, und also verändert sich die Wahrheit der genannten Aussage auch dann nicht, wenn sich das Ding verändert. 3. Wenn die Wahrheit sich verändert, so kann dies nur dann statthaben, wenn sich dasjenige verändert hat, dem die Wahrheit innewohnt. So sagt man ja auch von bestimmten Formen nur inso­ 110  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  16, a.  8. 111  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  13 (Opera omnia, ed. F. S.

Schmitt, I, 198). 112  Altes Beispiel: Aristoteles, Top. VIII, 10; 160 b 27; Met. IV, 4; 1004 b 2–3.

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fern, daß sie sich verändern, als sich ihre Träger verändern. Doch die Wahrheit verändert sich nicht mit der Veränderung des Wahren, weil auch nach dem Vernichtetsein der jeweils wahren Dinge immer noch die Wahrheit selbst bleibt, wie Augustinus und Anselm bewei­ sen. Also ist die Wahrheit schlechthin unveränderlich. 4.  Die Wahrheit der Sache ist Grund für die Wahrheit der Aus­ sage. »Aufgrund dessen, daß die Sache ist oder nicht ist, nennt man die Rede wahr oder falsch.«113 Nun ist aber die Wahrheit der Sa­ che unveränderlich, also auch die Wahrheit der Aussage. Beweis des Mittelsatzes: Anselm beweist in seiner Schrift Über die Wahrheit, daß die Wahrheit der Aussage unveränderlich bleibt, sofern sie das erfüllt, was sie im göttlichen Geist als seine Bestimmung aufgenom­ men hat. Doch entsprechend erfüllt auch jegliche Sache das, was sie im göttlichen Geist empfangen hat, damit sie es besitzt. Daher ist die Wahrheit jedes Dinges unveränderlich. 5.  Was in jeglicher Veränderung bestehen bleibt, verändert sich niemals. Bei der Änderung der Farben sagen wir nicht, daß sich auch die Oberfläche selbst geändert habe, weil sie trotz aller einge­ tretenen Veränderung der Farbe bestehen bleibt. Doch die Wahrheit bleibt ungeachtet der eingetretenen Änderung in der Sache beste­ hen, weil ›seiend‹ und ›wahr‹ austauschbar sind. Also ist die Wahr­ heit unveränderlich. 6.  Wo dieselbe Ursache vorliegt, tritt auch dieselbe Wirkung ein. Nun ist aber dieselbe Sache, nämlich das Sitzen des Sokrates, Ursa­ che der drei Aussagen: ›Sokrates sitzt‹, ›Sokrates wird sitzen‹ und ›Sokrates ist gesessen‹. Doch wenn eine der drei Aussagen wahr ist, ist es notwendig, daß entsprechend auch die beiden anderen wahr sind. Wenn es nämlich irgendwann wahr ist, daß Sokrates sitzt, war es immer und wird es immer wahr sein, daß Sokrates gesessen ist oder daß Sokrates sitzen wird. Also verhält sich die eine Wahrheit der drei Aussagen immer auf dieselbe Weise und ist daher unver­ änderlich. Also ist aus demselben Grund jegliche andere Wahrheit unveränderlich. 113  Aristoteles, Cat., c.  5; 4 b 8–10: »Denn wegen des Seins oder Nicht­ seins des Dinges wird gesagt, die Aussage sei wahr oder falsch« [Übers. K. Oehler].

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Dagegen spricht: Bei veränderten Ursachen verändern sich die Wirkungen. Nun verändern sich die Dinge, welche die Ursache für die Wahrheit einer Aussage sind. Also verändert sich auch die Wahrheit der Aussagen. Antwort: Man sagt von etwas in zweifachem Sinne, daß es sich verändert: einmal insofern es der Träger der Veränderung ist, so wie wir sagen ›Der Körper ist veränderlich‹: In diesem Sinne ist keine Form verän­ derlich und in diesem Sinne sagt man, daß »die Form in einer unver­ änderlichen Wesenheit besteht«114. Daher gilt: Wenn die Wahrheit im Sinne der Form bezeichnet wird, dann besteht die gegenwärtige Frage nicht darin, ob die Wahrheit in diesem Sinne unveränderlich ist. In einem anderen Sinne sagt man von etwas, daß es sich verän­ dert, weil an ihm selbst eine Veränderung stattfindet; so sagen wir beispielsweise, daß sich das Weiße verändert, weil sich ihm gemäß der Körper verändert; und in diesem Sinne wird mit Bezug auf die Wahrheit die Frage gestellt, ob sie veränderlich sei. Um hierin Einsicht zu gewinnen, muß man wissen, daß dasjenige, an dem eine Veränderung stattfindet, manchmal ›veränderlich‹ und manchmal nicht ›veränderlich‹ genannt wird. Wenn sie dem ange­ hört, was sich an sich verändert, dann sagt man auch von ihr, daß sie der Veränderung unterworfen ist. So sagt man beispielsweise vom Weißsein und von einer Quantität, daß sie sich veränderten, wenn sich etwas in diesen Hinsichten verändert, weil diese Bestimmungen aufgrund dieser Veränderung in ihrem Träger aufeinan­ der folgen. Wenn hingegen dasjenige, durch das eine Veränderung stattfindet, äußerlich ist, dann wird dieses bei einer solchen Verän­ derung nicht verändert, sondern hält sich durch; der Ort wird zum Beispiel nicht verändert, wenn sich etwas seinem Ort nach verän­ dert – daher heißt es im 3. Buch der Physik, »der Ort ist die unbe­ 114  Anonymus, Liber sex principiorum, 1 (ed. L. Minio-Paluello, 35). Diese aus dem 12. Jahrhundert stammende und zur Ars vetus gehörige und in der Scholastik viel zitierte und viel kommentierte Schrift ist seit Alber­ tus Magnus immer wieder fälschliche Gilbert von Poitiers zugeschrieben worden. Der tatsächliche Autor ist bislang noch nicht identifiziert.

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wegliche Grenze des in ihm Enthaltenen«115. Der Grund liegt darin, daß man durch die örtliche Veränderung nicht von einer Abfolge der Orte an einem Ort spricht, sondern vielmehr von einer Vielheit des an einem Ort Verorteten. Bei den innewohnenden Formen hingegen, von denen man im Blick auf die Veränderung des Trägers spricht, gibt es eine zweifa­ che Weise der Veränderung: die allgemeinen Formen nennt man in einem anderen Sinne ›veränderlich‹ als die spezifischen Formen. Die Artform verbleibt nach der Veränderung nicht dieselbe der Wirk­ lichkeit oder dem Begriff nach; beispielsweise verbleibt das Weißsein nach eingetretener Veränderung nicht. Demgegenüber bleibt die all­ gemeine Form auch nach der Veränderung des Begriffes, wenn auch nicht dem Sein nach. Wenn, als Beispiel, eine Veränderung von weiß in schwarz stattgefunden hat, verbleibt die Farbe in dem allgemei­ nen Sinn von Farbe, nicht jedoch dieselbe Art von Farbe. Es ist nun aber oben116 gesagt worden, daß etwas nach der ersten Wahrheit im Sinne eines äußeren Maßes ›wahr‹ genannt wird, nach der innewohnenden Wahrheit als einer inneren Maßgabe. Daher verändern sich die geschaffenen Dinge in der Teilhabe an der ersten Wahrheit; die erste Wahrheit selbst, der gemäß die Dinge ›wahr‹ genannt werden, verändert sich in keiner Weise. Genau dies ist es, was Augustinus in seinem Werk Über den freien Willen sagt: »Un­ sere Geister sehen einmal mehr und einmal weniger von der er­ sten Wahrheit, doch diese nimmt in sich selbst weder zu noch ab.«117 Wenn wir umgekehrt die innewohnende Wahrheit verstehen, so sagt man, daß sich die Wahrheit in dem Sinne verän­ dert, daß sich etwas in seinem Wahrsein verändert. Daher gilt, was weiter oben118 gesagt worden ist: Die Wahrheit findet sich in den Geschöpfen an zwei Orten, in den Dingen selbst und im Verstand – die Wahrheit der Handlung wird nämlich unter 115  Aristoteles, Phys. IV, 4; 212 a 20–21: »Der Ort ist die unmittelbare (d. h. nächstgelegene) nicht in Bewegung begriffene Abgrenzungsfläche des (den Gegenstand) umschließenden Körpers« [Übers. H. Wagner]. 116  Vgl. De ver., q.  1, a.  5 (S. 39). 117  Augustinus, De lib. arb. II, 12, 34 (CCSL 29, 260). 118  Vgl. De ver., q.  1, a.  2 (S. 19).

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die Wahrheit der Dinge gefaßt und die Wahrheit der Aussage un­ ter die Wahrheit des Verstandes, welche die Aussage bezeichnet –; ein Ding wird nun aber sowohl im Verhältnis zum göttlichen wie zum menschlichen Verstand ›wahr‹ genannt. Wenn man nun also die Wahrheit des Dinges im Verhältnis zum göttlichen Verstand ver­ steht, dann verändert sich die Wahrheit eines veränderlichen Dinges nicht in Falschheit, sondern in eine andere Wahrheit: Die Wahrheit ist die in höchstem Grade allgemeine Form, da ›seiend‹ und ›wahr‹ austauschbar sind.119 Daher gilt: So wie nach jeglicher geschehenen Veränderung ein Ding ein Seiendes bleibt, wenn auch durch eine jeweils andere Form bestimmt, durch die es das Sein hat, so bleibt es stets wahr, aber durch eine andere Wahrheit. Der Grund liegt in Folgendem: Welche Form oder welchen Formmangel es auch immer durch die Veränderung annimmt, demgemäß ist es dem göttlichen Verstand gleichförmig, der es so erkennt, wie es in jeder Beschaffen­ heit ist. Wenn hingegen die Wahrheit des Dinges im Verhältnis zum menschlichen Verstand verstanden wird oder umgekehrt, dann ge­ schieht mitunter eine Veränderung von Wahrheit in Falschheit, mit­ unter aber auch eine Veränderung von einer Wahrheit in eine andere. Da nun »die Wahrheit die Ähnlichkeit von Ding und Verstand«120 ist und, wenn man vom Gleichen Gleiches abzieht, Gleiches bleibt, ist es notwendig, daß, wenn in entsprechender Weise Verstand und Ding sich verändern, die Wahrheit bleibt, doch eben eine andere. Ein Beispiel dafür: Wenn man, während Sokrates sitzt, erkennt, daß Sokrates sitzt, und später, wenn Sokrates nicht sitzt, erkennt, daß Sokra­tes nicht sitzt. Doch wenn bei einander gleichen Größen nur von einem etwas abgezogen wird und vom anderen nichts oder wenn von beidem Ungleiches abgezogen wird, dann ist es notwendig, daß sich Ungleichheit ergibt, die sich zum Falschsein wie das Gleich­ sein zur Wahrheit verhält. Darin liegt Folgendes begründet: Wenn bei wahrem Verstehen das Ding sich ändert, der Verstand sich aber nicht ändert oder auch umgekehrt, oder sich beides verändert, aber nicht in gleicher Weise, tritt Falschheit auf und auf diese Weise fin­ det eine Veränderung von Wahrheit in Falschheit statt. Ein Beispiel: 119  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S.  10). 120  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S.  11).

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Wenn man vom wirklich weißen Sokrates erkennt, daß er weiß ist, dann liegt ein wahres Verstehen vor; wenn man aber später der Auf­ fassung ist, daß er schwarz ist, während er weiß geblieben ist, oder im umgekehrten Sinne Sokrates, der sich in schwarz verändert hat, nach wie vor als weiß aufgefaßt wird, oder er, der sich in Blässe ge­ ändert hat, aufgefaßt wird, daß er rot ist, dann liegt im Verstand Falschheit vor. Auf diese Weise wird ersichtlich, in welcher Weise die Wahrheit sich verändert und in welcher Weise die Wahrheit sich nicht verändert. Zu 1.  Anselm spricht an der zitierten Stelle von der ersten Wahr­ heit, sofern aufgrund von dieser alles im Sinne eines äußeren Maßes ›wahr‹ genannt wird. Zu 2.  Da sich der Verstand auf sich selbst bezieht und sich wie auch andere Dinge erkennt, wie es im 3. Buch der Schrift Über die Seele121 heißt, deshalb kann man das, was zum Verstand gehört, was den Begriff der Wahrheit angeht, auf zweierlei Weise betrachten: einmal, insofern es sich um bestimmte Dinge handelt, und in die­ sem Sinne wird von ihnen Wahrheit im selben Sinne ausgesagt wie von anderen Dingen: So wie beispielsweise ein Ding ›wahr‹ genannt wird, weil es das erfüllt, was es im göttlichen Geist empfängt, in­ dem es seine Wesensnatur erhält, so wird auch die Aussage ›wahr‹ genannt, indem sie ihre Natur erhält, die ihr im göttlichen Geist verliehen worden ist, und diese kann von ihr nicht entfernt wer­ den, sofern sie selbst Aussage bleibt. In anderer Weise wird jenes als ›wahr‹ bezeichnet, sofern es im Verhältnis zu den erkannten Dingen steht, und in diesem Sinne wird eine Aussage ›wahr‹ genannt, wenn sie dem Ding entspricht. Die Wahrheit in diesem Sinne verändert sich, wie gesagt. Zu 3.  Die Wahrheit, die trotz des Verschwindens einer bestimm­ ten Wirklichkeit Bestand hat, ist die erste Wahrheit, die sich auch dann, wenn sich die Dinge verändert haben, nicht verändert. Zu 4.  Wenn ein Ding bestehen bleibt, kann es mit Bezug auf sie keine Veränderung geben, was dasjenige, was ihr Wesen ausmacht, betrifft. So ist es für die Aussage wesentlich, daß sie das bezeich­ 121  Aristoteles, De an. III, 4; 430 a 2–3.

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net, zu dessen Bezeichnung sie eingerichtet worden ist. Daher folgt nicht, daß die Wahrheit in keiner Weise veränderlich ist, sondern daß die Wesensgehalte einer Sache, wenn das Ding bestehen bleibt, unveränderlich sind – bei diesen kommt dennoch eine Veränderung durch das Vergehen des Dinges vor. Was hingegen die akzidentel­ len Bestimmungen angeht, so kann eine Veränderung geschehen, auch wenn das Ding selbst Bestand hat. So kann es mit Bezug auf die akzidentellen Bestimmungen eine Veränderung der Wahrheit des Dinges geben. Zu 5.  Auch wenn jegliche Veränderung eingetreten ist, bleibt doch eine Wahrheit, doch sie bleibt nicht, wie aus dem vorher Ge­ sagten deutlich ist, dieselbe. Zu 6.  Die Identität der Wahrheit hängt nicht nur von der Identi­ tät der Sache ab, sondern auch von der Identität der Auffassung des Verstandes. So hängt entsprechend die Identität der Wirkung von der Identität des Tätigen wie auch des Leidenden ab. Obgleich es nun dieselbe Sache ist, die durch diese drei Aussagen bezeichnet wird, so ist es doch gleichwohl nicht dieselbe Auffassung des Verstandes da­ von, weil der Verstand in der Zusammenfügung die Zeit beifügt.122 Daher handelt es sich entsprechend der Veränderung der Zeit um verschiedene Auffassungen.

7. Artik el Die siebte Frage lautet: Wird ›Wahrheit‹ bei Gott bezogen auf das Wesen oder bezogen auf eine Person ausgesagt?123 Es scheint der Fall zu sein, daß sie bezogen auf die Person ausgesagt wird; denn: 1.  Was immer nämlich in Gott eine Relation des Ursprungs be­ inhaltet, wird auf eine Person bezogen ausgesagt. Nun ist Wahrheit von dieser Art, wie durch Augustinus im Buch Über die wahre Re­ ligion ersichtlich wird, wo er sagt, daß die göttliche Wahrheit »die höchste Ähnlichkeit des Ursprungs ist ohne jede Unähnlichkeit, aus

122  Vgl. Aristoteles, De an. III, 6; 430 b 1. 123  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  39 a.  8.

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der Falschheit entspringt«.124 Also wird ›Wahrheit‹ in Gott bezogen auf eine Person ausgesagt. 2.  So wie nichts sich selbst ähnlich ist, so ist auch nichts sich selbst gleich. Die Ähnlichkeit in Gott gründet nach Hilarius125 darin, daß nichts sich selbst ähnlich ist, also gilt dasselbe dort für die Gleichheit. Nun ist aber Wahrheit eine Art Gleichheit. Daher beinhaltet sie in Gott eine Unterscheidung der Personen. 3.  Alles, was in Gott einen Hervorgang beinhaltet, wird bezogen auf eine Person ausgesagt. Nun besagt aber Wahrheit eine Art Her­ vorgang, weil es wie ja auch das ›Wort‹ ein Begreifen126 des Verstan­ des bezeichnet. Daher gilt: So wie ›Wort‹ bezogen auf eine Person ausgesagt wird, so auch ›Wahrheit‹. Dagegen spricht: Auf drei Personen bezieht sich eine Wahrheit, wie Augustinus im 8. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit 127 sagt. Also bezieht sich diese auf das Wesen und nicht auf die Person. Antwort: ›Wahrheit‹ kann bei Gott in doppeltem Sinne verstanden werden, zum einen im eigentlichen Sinne und zum anderen im übertragenen Sinne.128 Wenn man nämlich ›Wahrheit‹ im eigentlichen Sinne ver­ steht, dann beinhaltet sie eine Gleichheit von göttlichem Verstand 124  Augustinus, De vera rel. 36, 66 (CCSL 32, 230): »die mit dem Ur­ sprung die höchste Ähnlichkeit besitzt […] in der es keinerlei Unähnlich­ keit gibt« [Übers. W. Thimme]. 125  Hilarius v. Poitiers, De trin. III, 23 (CCSL 62, 96). 126  Zum Begriff der conceptio, der hier die Bedeutung der Empfängnis anklingen lässt, wodurch sich erst der Zusammenhang mit einem Hervor­ gehen ergibt, vgl. De ver., q.  4, Anm.  55. 127  Augustinus, De trin. VIII, 1, 1 (CCSL 50, 269 f.). 128  Quasi: Das Wort kann die Bedeutung von ›gleichsam‹, ›im über­ tragenen Sinn verstanden‹ (in nicht wenigen deutschen Thomas-Über­ setzung fälschlich in diesem Sinne gebraucht) haben; es kann auch den buchstäblichen Sinn haben: so … wie, oder die Bedeutung ›im Sinne von‹, ›als‹. Die erste Bedeutung kommt hier nicht in Frage, weil dies dann im Anschluss nochmals zum Ausdruck gebracht würde.

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und einer Wirklichkeit (res). Da der göttliche Verstand zuerst die Wirklichkeit erkennt, welche seine Wesenheit ist, durch die er dann alles andere erkennt, deshalb besagt ›Wahrheit‹ in Gott grundlegend die Gleichheit von göttlichem Verstand und göttlichem Wesen und in der Folge dann auch die Gleichheit von göttlichem Verstand im Verhältnis zu den geschaffenen Dingen. Der göttliche Verstand wie­ derum und das göttliche Wesen, bei denen das eine nicht das Prinzip des anderen ist, werden einander nicht in der Weise gleich wie das Maß und das Gemessene, vielmehr sind sie ganz und gar identisch. Daher beinhaltet die Wahrheit, die aus einer derartigen Gleichheit hervorgeht, nicht den Charakter des Prinzips, sei es von seiten der Wesenheit, sei es von seiten des Verstandes, die dort ein und das­ selbe sind. So wie dort das Erkennende und die erkannte Sache das­ selbe sind, so sind dort die Wahrheit der Sache und die Wahrheit des Verstandes identisch – dies ohne die Nebenbedeutung von Prinzip. Wenn hingegen die Wahrheit des göttlichen Verstandes in dem Sinne verstanden wird, in dem er den geschaffenen Dingen gleich ist, so bleibt doch auch dann noch dieselbe Wahrheit, wie Gott durch dasselbe sich und das andere erkennt, doch gleichwohl tritt im Be­ griff der Wahrheit das Moment des Prinzips im Verhältnis zu den Geschöpfen hinzu, zu denen der göttliche Verstand in einem Ver­ hältnis des Maßes und der Ursache steht. Jeder Begriff, der in Gott das Moment des Prinzips oder desjenigen, was durch ein Prinzip ist, nicht beinhaltet oder der selbst den Begriff des Prinzipseins im Verhältnis zu den Geschöpfen beinhaltet, wird bezogen auf das We­ sen ausgesagt. Daher gilt: Wenn ›Wahrheit‹ im eigentlichen Sinne verstanden wird, wird sie bei Gott bezogen auf das Wesen ausgesagt. Dennoch wird sie der Person des Sohnes im Sinne der Kunst und dergleichen zugeeignet, was zum Verstand gehört. In einem übertragenen Sinne bzw. in einem mit ähnli­ cher Bedeutung wird ›Wahrheit‹ bei Gott verstanden, wenn wir sie dort in dem Sinne verstehen, in dem sie sich in den geschaffenen Dingen findet. Bei diesen wird ›Wahrheit‹ in dem Sinne ausgesagt, daß das geschaffene Ding seinen Ursprung, nämlich den göttlichen Verstand, nachahmt. Daher wird entsprechend ›Wahrheit‹ in der Weise von Gott ausgesagt, nämlich als höchste Nachahmung des Ursprungs – und dies kommt dem Sohn zu. Entsprechend diesem

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Verständnis von Wahrheit kommt ›Wahrheit‹ im eigentlichen Sinne dem Sohn zu und wird bezogen auf eine Person ausgesagt. In die­ sem Sinne redet Augustinus in dem Buch Über die wahre Religion. Zu 1.  Aus dem Ausgeführten wird die Antwort auf den ersten Einwand ersichtlich. Zu 2. ›Gleichheit‹ beinhaltet in Gott manchmal eine Relation, welche die personale Unterscheidung bezeichnet – so wenn wir sa­ gen, daß Vater und Sohn ›gleich‹ sind; in diesem Sinne wird im Begriff ›Gleichheit‹ eine reale Unterscheidung gedacht; manchmal wird im Begriff keine reale, sondern nur eine gedank­ liche Unterschiedenheit gedacht, so wenn wir sagen, daß die göttli­ che Weisheit und Gutheit ›gleich‹ sind. Daher ist es nicht notwendig, daß sie eine auf eine Person bezogene Unterscheidung beinhaltet. Von dieser Art ist die Gleichheit, die mit dem Begriff ›Wahrheit‹ ge­ meint ist, da sie eine Gleichheit von Verstand und Wesen ist. Zu 3.  Obwohl die Wahrheit vom Verstand begriffen129 wird, so wird doch in der Bezeichnung ›Wahrheit‹ nicht wie in der Bezeich­ nung ›Wort‹ der Begriff des Begreifens ausgedrückt. Daher liegt nicht derselbe Fall vor.

8. Artik el Die achte Frage lautet: Hat in der ersten Wahrheit jede andere Wahr­ heit ihren Grund?130 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Es ist beispielsweise wahr, daß dieser Mensch Unzucht treibt; doch dieses Wahrsein hat seinen Grund nicht in der ersten Wahr­ heit. Also hat nicht jede Wahrheit ihren Grund in der ersten Wahr­ heit. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Die Wahrheit des Zei­ chens oder des Verstandes hat, sofern diese Tatsache ›wahr‹ genannt wird, ihren Grund in Gott, nicht jedoch, sofern sie sich auf die Sa­ che bezieht. – Doch dem steht wiederum entgegen: Neben der e­ rsten 129  Concepta vgl. De ver., q.  4, Anm.  55. 130  Paralleltexte: Sent. I, d. 19, q.  5, a.  2; Sent. II, d. 37, q.  1, a.  2, ad 1.

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Wahrheit gibt es nicht nur die Wahrheit des Zeichens oder des Ver­ standes, sondern auch die Wahrheit der Wirklichkeit (res). Wenn also diese Einzelwahrheit, sofern sie sich auf die Wirklichkeit be­ zieht, ihren Grund nicht in Gott hätte, hätte dieses Wahr­ sein der Wirklichkeit seinen Grund nicht in Gott. Auf diese Weise wäre man schon bei der These, daß nicht jede andere Wahr­ heit ihren Grund in Gott hat. 3.  Es ist eine richtige Folgerung: »Jener Mensch treibt Unzucht, also ist es wahr, daß jener Unzucht treibt.« Auf diese Weise gelangt man von der Wahrheit der Aussage (propositionis) zur Wahrheit des Ausgesagten (dicti), das die Wahrheit der Sache zum Ausdruck bringt. Also besteht die eben angeführte Wahrheit darin, daß diese Handlung mit diesem Subjekt verbunden wird. Die Wahrheit des Ausgesagten bestünde aber nur dann aus der Verbindung einer sol­ chen Handlung mit einem Subjekt, wenn die Verbindung der Hand­ lung unter dem Aspekt der Verderbtheit verstanden würde. Also besteht die Wahrheit des Dinges nicht nur im Hinblick auf den We­ sensgehalt der Handlung, sondern auch im Hinblick auf deren Ent­ stellung. Die Handlung ist jedoch als entstellte auf keine Weise von Gott. Also hat nicht jede Wahrheit ihren Grund in Gott. 4.  Anselm sagt, daß eine Wirklichkeit ›wahr‹ genannt wird, so­ fern sie so ist, wie sie sein soll.131 Bei den Weisen, in denen man sagen kann, was eine Wirklichkeit sein soll, setzt er eine Weise in dem Sinne an, in der man sagt, was eine Wirklichkeit sein soll, weil es durch Gottes Zulassung geschieht. Nun erstreckt sich die Zulassung auch auf die Verunstaltung einer Handlung. Also erstreckt sich die Wahrheit einer Wirklichkeit auch bis zu jener Ver­ unstaltung. Nun hat allerdings jene Entstellung ihren Grund in kei­ ner Hinsicht in Gott. Also hat nicht jede Wahrheit ­ihren Grund in Gott. 5.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: So wie eine Verunstal­ tung bzw. Privation nicht ohne Einschränkung, sondern nur in ge­ wisser Hinsicht ›seiend‹ genannt wird, so sagt man davon auch, daß es nicht ohne Einschränkung, vielmehr nur in bestimmter Hinsicht 131  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  7 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 185).

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Wahrheit hat; und ein solch relatives Wahrsein hat seinen Grund dann eben nicht in Gott. – Doch dem steht wiederum entgegen: ›Wahr‹ fügt zu ›seiend‹ die Hinordnung auf den Verstand hinzu. Eine Verunstaltung bzw. Privation wird, obwohl sie in sich nicht ohne Einschränkung seiend ist, dennoch ohne Einschränkung vom Verstand aufgefaßt. Also folgt: Obwohl sie nicht ohne Einschrän­ kung Sein hat, hat sie doch ohne Einschränkung Wahrheit. – Au­ ßerdem: Alles, was in gewisser Hinsicht ist, wird auf das, was für sich genommen ist, zurückgeführt. So wird beispielsweise der Satz »Der Äthiopier ist im Hinblick auf seine Zähne weiß«132, zurück­ geführt auf: »Die Zähne des Äthiopiers sind für sich genommen weiß.« Wenn also irgendeine relative Wahrheit nicht von Gott ist, wäre nicht jede absolute Wahrheit von Gott, was völlig abwegig ist. 6.  Was nicht Ursache der Ursache ist, ist auch nicht Ursache der Wirkung. So ist auch Gott nicht die Ursache der Verunstaltung der Sünde, weil er nicht Ursache desjenigen Mangels im freien Willen ist, aus dem sich die Verunstaltung der Sünde ergibt. Nun gilt aber: So wie das Sein die Ursache für die Wahrheit der wahren bejahen­ den Sätze ist, so das Nichtsein die Ursache für die Wahrheit der ver­ neinenden Sätze. Da aber Gott nicht die Ursache dessen ist, was nicht ist, wie Augustinus in seinem Werk Über 83 verschiedene Fragen133 sagt, ergibt sich, daß Gott nicht die Ursache der verneinenden Sätze ist, und demzufolge hat nicht jede Wahrheit ihren Grund in Gott. 7.  Augustinus sagt in seiner Schrift Selbstgespräche, daß »das wahr ist, was sich so verhält, wie es scheint«134. Nun verhält sich irgendein beliebiges Schlechtes so, wie es scheint. Also ist irgend etwas Schlechtes wahr. Nun ist aber kein Übel von Gott. Also hat nicht jedes Wahre seinen Grund in Gott. 8.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Das Schlechte zeigt sich nicht durch das Erkenntnisbild des Schlechten, sondern durch das des Guten. – Doch dem steht wiederum entgegen: Das Erkenntnis­ bild des Guten läßt nichts anderes als das Gute erscheinen. Wenn also das Schlechte nur durch das Erkenntnisbild des Guten erschiene, 132  Vgl. Aristoteles, De soph. elench., c.  5; 167 a 8 u. 11. 133  Augustinus, De div. qu. 83, q.  21 (CCSL 44 A, 26). 134  Augustinus, Solil. II, 6, 9 (CSEL 89, 57).

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erschiene das Schlechte niemals anders denn als Gutes, was aber falsch ist. Dagegen spricht: 1.  Zu dem Vers im 12. Kapitel des ersten Korintherbriefes, der lau­ tet: »Niemand kann sagen  …«135, sagt Ambrosius: »Alles Wahre, von wem immer es ausgesprochen wird, kommt vom Heiligen Geist.«136 2.  Jedes geschaffene Gutsein hat seinen Grund in der ersten un­ geschaffenen Gutheit, die Gott ist. Also hat mit derselben Begrün­ dung jede andere Wahrheit ihren Grund in der ersten Wahrheit, die Gott ist. 3.  Der Begriff der Wahrheit hat seinen vollen Sinn im Verstand. Jeder Verstand aber ist von Gott; also ist jede Wahrheit von Gott. 4.  Augustinus sagt in seiner Schrift Selbstgespräche, daß »das Wahre das ist, was ist«137. Nun ist aber jedes Sein von Gott, also auch jede Wahrheit. 5.  So wie ›wahr‹ mit ›seiend‹, so ist auch ›eines‹ mit ›seiend‹ aus­ tauschbar und umgekehrt. Nun ist aber jede Einheit aufgrund der ersten Einheit, wie Augustinus in seinem Buch Über die wahre Re­ ligion138 sagt. Also hat auch jede Wahrheit ihren Grund in der er­ sten Wahrheit. Antwort: Bei den geschaffenen Dingen findet sich Wahrheit in den Din­ gen und im Verstand, wie aus dem bereits Dargelegten ersichtlich 135  1 Kor. 12, 3: »Niemand, der im Geiste Gottes redet, sagt: ›Verflucht sei Jesus!‹ Und keiner kann sagen: ›Jesus ist der Herr!‹ außer im Heiligen Geist.« 136  Der Satz stammt in Wahrheit aus dem zwischen 366 und 384 ent­ standenen Paulus-Kommentar des Ambrosiaster – so von Erasmus von Rotterdam genannt: Super I Cor. 12, 3 (CSEL 81/2, 132); unter dem Namen des Ambrosius ging er aber ein in die Glosse des Petrus Lombardus zur selben Stelle, PL 191, col. 1651 A; Sent. I, d. 46, c.  3, 4 (ed. Coll. S. Bon., I, 321); Thomas zitiert es u. a. auch In Ioh. 1, 3; 7, 2; 8, 6; 14, 4; Sum. theol. I-II, q.  109, a.  1, ad 1. 137  Augustinus, Solil. II, 5, 8 (CSEL 89, 56). 138  Augustinus, De vera. rel. 36, 66 (CCSL 32, 230).

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8. Artikel

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ist;139 im Verstand insofern, als er den Dingen, deren Erkenntnis er hat, gleich wird; in den Dingen aber insofern, als sie den göttlichen Verstand nachahmen, der für sie in dem Sinne das Maß ist, wie die Kunst das Maß für alle Kunstgebilde ist, und in anderem Sinne fin­ det sich Wahrheit in den Dingen insofern, als sie darauf angelegt sind, von sich eine wahre Auffassung im menschlichen Verstand hervorzubringen, der, wie es im 10. Buch der Metaphysik140 heißt, an den Dingen sein Maß hat. Das Ding außerhalb der Seele ahmt in seiner Form die Kunst des göttlichen Verstandes nach und ist da­ durch dazu geeignet, eine wahre Auffassung im menschlichen Ver­ stand hervorzubringen; durch diese Form aber hat jedes Ding auch das Sein. Daher schließt die Wahrheit der seienden Dinge in ihrem Begriff deren Sosein ein und fügt das Verhältnis der Entsprechung zum menschlichen oder göttlichen Verstand hinzu. Die Negationen und Privationen, die außerhalb des menschlichen Verstandes sind, weisen hingegen keine Form auf, durch die sie entweder das Urbild der göttlichen Kunst nachahmen oder von sich die Erkenntnis im menschlichen Verstand hervorbringen. Daß sie dem Verstand gleich sind, hat seinen Grund auf seiten des Verstandes, der ihre Sachge­ halte auffaßt. Auf diese Weise wird Folgendes ersichtlich: Wenn ein Stein ›wahr‹ oder eine Blindheit ›wahr‹ genannt wird, verhält sich das Wahrsein in beiden Fällen nicht auf dieselbe Weise. Die Wahr­ heit, die von einem Stein ausgesagt wird, schließt in sich das Sosein des Steines und fügt die Relation zum Verstand hinzu, die ebenfalls auf seiten des Dinges verursacht wird, da es etwas hat, was in einem Bezug stehen kann. Die Wahrheit hingegen, die vom Blindsein aus­ gesagt wird, schließt in sich nicht die Privation, welche die Blindheit ist, sondern nur die Relation der Blindheit zum Verstand, welche Relation ebenfalls nichts von seiten der Blindheit hat, in der sie ihre

139  Vgl. De ver., q.  1, a.  2 (S. 18). 140  Aristoteles, Met. X, 2; 1053 a 31–33: »Aber auch die Wissenschaft

nennen wir Maß der Dinge und die Wahrnehmung aus demselben Grund, weil wir durch sie etwas erkennen, wo sie doch (in Wirklichkeit) eher ge­ messen werden als messen« [Übers. Th. A. Szlezák]. Thomas in seinem Kommentar, In Met. X, 2 (ed. R. M. Spiazzi, nr. 1956–1957).

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Stütze hat, da die Blindheit nicht dem Verstand aufgrund von etwas entspricht, was sie in sich hat.141 Es ist also ersichtlich, daß die Wahrheit, die sich in den geschaf­ fenen Dingen findet, nichts anderes umfassen kann als das Sosein des Dinges und die Angleichung des Dinges an den Verstand bzw. die Angleichung des Verstandes an das Ding oder auch zu den Pri­ vationen des Dinges. Dieses Ganze ist von Gott, weil auch die Form selbst, durch die er sich angleicht, von Gott ist, und das Wahre als das Gute des Verstandes, wie es im 6. Buch der Nikomachischen Ethik142 heißt. Da das Gute eines jeden Dinges in seiner vollkom­ menen Tätigkeit liegt,143 die vollkommene Tätigkeit des Verstandes aber nur dann vorliegt, wenn er das Wahre erkennt, besteht daher sein Gutes als solches genau darin. Daher gilt: Da alles Gute seinen Grund in Gott hat und auch jede Form , muß man ohne Einschränkung sagen, daß jede Wahrheit i­hren Grund in Gott hat.

141  Der Mangel ist ein Mangel (privatio) an der Form, durch die ein Ding das ist, was es im wesentlichen ist. Schon in seinem Frühwerk De ente et essentia unterscheidet Thomas zwischen dem Sein, das ein Ding wirklich ausmacht, und dem, von dem man wahre Sätze bilden kann, wie eben solche negativen Gegebenheiten, De ente, c.  1 (ed. Leon XLIII, 369, 1–13; dt. Übers. W. Kluxen, Thomas von Aquin, Über das Seiende und das Wesen, 43 f. 142  Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 27–29: »Beim theoretischen Den­ ken, das weder auf Handeln noch auf Herstellen ausgerichtet ist, bestehen ›gut‹ und ›schlecht‹ im Wahren und Falschen, denn darin besteht die Funk­ tion jedes Denkvermögens« [Übers. D. Frede]; vgl. Met. XII, 9; 1174 b 21; das Adagium findet sich auch in den Auctoritates Aristotelis, ed. J. Ha­ messe, 240: Verum bonum est intellectus. 143  Vgl. Aristotles, De caelo II, 3; 286 a 8–9: »Alles, was seine eigene Tätigkeit hat, existiert um dieser Tätigkeit willen« [Übers. A. Jori]; vgl. Thomas v. Aquin, Sent., II, d. 1, q.  2, a.  2, ad 2 (ed. P. Mandonnet, II, 48): ipsa operatio est ultima perfectio in qua res existit; ScG III, 113 (ed. C. Pera, nr. 2869): operatio enim est ultima perfectio rei (»Die Tätigkeit ist ja die letzte Vollendung der Dinge« [Übers. K. Allgaier]).

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Zu 1.  Wenn man folgendermaßen argumentiert: »Alles Wahre ist von Gott, das Unzucht treiben144 ist ein Wahres, also  …«, tritt ein Fehlschluß in der akzidentellen Bestimmung auf. Wie nämlich aus dem bereits Dargelegten ersichtlich werden kann, wenn wir sagen: »Jenes Unzuchttreiben ist ein Wahres«, sagen wir das nicht, als ob gleichsam jener Mangel, der in der Handlung des Unzuchttreibens enthalten ist, im Begriff der Wahrheit eingeschlossen wäre; viel­ mehr sagt das Wahre lediglich die Entsprechung dieser Handlung zum Verstand aus. Daher darf man nicht folgern: »Jenes Unzucht­ treiben ist von Gott«, sondern vielmehr, daß dessen Wahrsein von Gott ist. Zu 2.  Die Verunstaltungen und andere Mängel wie auch andere Dinge haben keine Wahrheit, wie aus dem zuvor Dargelegten er­ sichtlich wird. Deshalb gilt: Obwohl die Wahrheit über Mängel von Gott ist, kann doch daraus nicht geschlossen werden, daß die Ver­ unstaltung selbst von Gott ist. Zu 3.  Nach Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik145 besteht die Wahrheit nicht in der Verbindung, die in den Dingen liegt, sondern in der Verbindung, welche die Seele herstellt. Deshalb besteht die Wahrheit nicht darin, daß jene Handlung samt ihrer Verunstaltung ihrem Träger innewohnt – dies gehört zum Charakter des Guten und Schlechten –, sondern darin, daß eine derartige dem Träger in­ newohnende Handlung dem entspricht, wie die Seele sie auffaßt. Zu 4.  Das Gute, das Gesollte und das Rechte und alles derartige, verhält sich auf unterschiedliche Weise zur göttlichen Zulassung und zu den anderen Äußerungen des Willens. In den anderen bezieht es sich auch auf das, was unter den Akt des Willens fällt, und auf den Akt des Willens selbst. Ein Beispiel: Wenn 144  Unzucht meint den sexuellen Umgang außerhalb der Ehe – Sum. theol. II-II, q, 154, a.  2: omnis concubitus praeter legitimam connubium –, der wegen des möglichen Schicksals der Kinder, außerhalb einer Familie aufwachsen zu müssen, als Sünde verworfen wird: Sent: IV, d. 41, q.  1, a.  4, arg. 2; ScG III, 122. 145  Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 29–31: »Da aber die Verknüpfung und die Trennung im Denken ist, und nicht in den Dingen […]« [Übers. Th. A. Szlezák].

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Gott gebietet, die Eltern zu ehren,146 dann ist sowohl das Ehren der Eltern ein Gut als auch das Gebieten ein Gut. Doch bei der Zulassung bezieht es sich nur auf den Akt des Zulassenden und nicht auf das, was unter die Zulassung fällt. Daher ist es recht, daß Gott es zuläßt, daß Verunstaltungen eintreten; es folgt aber daraus nicht, daß die Verunstaltung selbst irgendeine Rechtheit besitzt. Zu 5.  Das Wahrsein in einer bestimmter Hinsicht, das den Ne­ gationen und den Mängeln zukommt, wird auf die Wahrheit ohne Einschränkung zurückgeführt, die im Verstand ist, der von Gott ist. Deshalb ist die Wahrheit von Mängeln von Gott, ob­ gleich die Mängel selbst nicht von Gott sind. Zu 6.  Das Nichtsein ist nicht die Ursache für die Wahrheit negati­ ver Aussagen in dem Sinne, daß sie diese im Verstand hervorbringt, vielmehr macht dies die Seele selbst, daß sie sich an das Nichtseiende angleicht, das außerhalb der Seele ist. Daher ist das außerhalb der Seele befindliche Nichtseiende nicht die Wirkursache der Wahrheit in der Seele, sondern ist Ursache im Sinne der urbildlichen Ursache. Der Einwand hat jedoch mit der Wirkursache operiert. Zu 7.  Obwohl das Schlechte nicht von Gott ist, so ist dennoch die Tatsache, daß das Schlechte als das erscheint, was es ist, von Gott. Daher ist die Wahrheit, kraft derer wahr ist, daß das Schlechte exi­ stiert, von Gott. Zu 8.  Obwohl das Schlechte ausschließlich durch das Erkennt­ nisbild des Guten auf die Seele wirkt, erfaßt die Seele in sich selbst den Sachgehalt eines Mangels, und darin faßt sie den Sachgehalt des Schlechten auf, und auf diese Weise erscheint das Schlechte als Schlechtes.

146  Das 4. Gebot im Dekalog: Ex. 20, 12.

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9. Artikel

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9. Artik el Die neunte Frage lautet: Ist in der Sinneswahrnehmung Wahrheit?147 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Anselm sagt nämlich, daß »Wahrheit die Rechtheit ist, die einzig mit dem Geist erfaßbar ist«148. Der Sinn hat aber nicht die Wesensart des Geistes. Also ist die Wahrheit nicht in den Sinnen. 2.  Augustinus beweist in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen, daß die Wahrheit von körperlichen Sinnen nicht erkannt wird;149 seine Gründe sind oben150 genannt. Also ist keine Wahrheit in den Sinnen. Dagegen spricht: Augustinus sagt in seinem Buch Über die wahre Religion: »Wahr­ heit ist das, wodurch gezeigt wird, was ist«151. Nun wird das, was ist, nicht nur dem Verstand, sondern auch den Sinnen gezeigt. Also ist die Wahrheit nicht nur im Verstand, sondern auch in den Sinnen. Antwort: Die Wahrheit ist im Verstand wie auch in den Sinnen, jedoch nicht in derselben Weise. Im Verstand ist sie in der Weise, daß sie eine Folge des Erkenntnisaktes ist, und sie ist dort als etwas vom Verstand Erkanntes. Sie folgt nämlich aus dem Akt des Verstandes, sofern das Urteil des Verstandes sich auf das Ding als ein Seiendes bezieht. Dies wird vom Verstand insofern erkannt, als er sich auf seinen eigenen Akt zurückbeugt, und zwar nicht nur, sofern er seinen Akt erkennt, sondern sofern er dessen Verhältnis zum Ding erkennt, welche Rela­ tion wiederum nicht erkannt werden kann, wenn nicht die Natur die­ ses Aktes erkannt wird. Diese wiederum kann nicht erkannt werden, wenn nicht die Wesensnatur des hervorbringenden Prinzips erkannt 147  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  16 a.  2; q.  17 a.  2. 148  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  11 (Opera omnia, ed. F. S.

Schmitt, I, 191); vgl. De ver., q.  1, Anm.  27. 149  Augustinus, De 83 div. qu., q.  9 (CCSL 44 A, 16). 150  Vgl. De ver., q.  1, a.  4, arg. 6 und 7 (S. 28). 151  Augustinus, De vera rel. 36, 66 (CCSL 32, 230 f.); vgl. De ver., q.  1, Anm.  30.

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wird, das der Verstand selbst darstellt, in dessen Natur es ja liegt, in eine Entsprechung zu den Dingen zu kommen. Daher erkennt der Ver­ stand das Wahrsein insofern, als er sich auf sich selbst zurückbeugt. Demgegenüber ist die Wahrheit in den Sinnen als Folge von deren Tätigkeit, solange nämlich das Urteil eines Sinnes sich auf das Ding bezieht, sofern sie ist, doch gleichwohl ist die Wahrheit nicht in der Weise in einem Sinn, daß sie als von einem Sinn Erkanntes vorliegt. Auch wenn nämlich der Sinn zutreffend über die Dinge urteilt, so erkennt er doch nicht die Wahrheit, durch die er zutreffend urteilt. Auch wenn der Sinn nämlich erkennt, daß er wahrnimmt,152 so er­ kennt er doch nicht seine Wesensnatur und demzufolge auch nicht die Wesensnatur seiner Tätigkeit und auch nicht sein bestimmtes Verhältnis zum Ding und so auch nicht die Wahrheit von diesem. Der Grund hierfür liegt darin, daß jene Wesen, welche – wie die geistigen Substanzen – die vollkommensten im Sein sind, zu ihrem Wesen in einer vollständigen Rückwendung zurückkehren.153 Darin nämlich, daß sie etwas außerhalb ihrer Befindliches erkennen, gehen sie in gewissem Sinne über sich hinaus; sofern sie hingegen erken­ nen, daß sie erkennen, beginnen sie schon, zu sich selbst zurückzu­ kehren, weil der Akt der Erkenntnis in der Mitte zwischen dem Er­ kennenden und dem Erkannten steht. Jene Rückkehr hat darin ihre Vollendung, daß die geistigen Substanzen ihr eigenes Wesen erken­ nen, daher heißt es im Buch von den Ursachen: »Jeder Wissende, der sein Wesen weiß, kehrt zu seinem Wesen in ­einer vollständi­ gen Rückwendung zurück«154. Der Sinn hingegen, der von allem der geistigen Substanz am nächsten steht, beginnt gewissermaßen zurückzukehren zu seinem Wesen, weil er nicht nur das sinnlich Wahrnehmbare erkennt, sondern auch erkennt, daß er wahrnimmt. Gleichwohl kommt seine Rückwendung nicht zur Vollendung, weil 152  Vgl. Aristoteles, De an. III, 2; 425 b 12–13. 153  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  158. 154  Vgl. Liber de causis, prop. 14 [15]; n. 124 (ed. A. Schönfeld, 31); der

in mancher Thomas-Interpretation sehr beanspruchte Ausdruck kommt bei Thomas nur viermal vor: Sent. II, d. 19, q.  1, a.  1; Sum. theol. I, q.  14, a.  2, arg. 1; De ver., q.  1, a.  9; De ver., q.  2, a.  2 arg. 2; De ver., q.  8, a.  6, s. c. 5; De ver., q.  10, a.  9; und natürlich im einschlägigen Kommentar: In De causis, prop. 15 (ed. H. D. Saffrey, 88–92).

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der Sinn seine eigene Wesensnatur nicht erkennt. Den Grund dafür gibt Avicenna155 an: Da der Sinn ausschließlich mit einem körperli­ chen Organ erkennt, ist es nicht möglich, daß das körperliche Organ als Mittleres zwischen das sinnliche Vermögen und sich selbst fällt. Die Vermögen ohne Sinnlichkeit kehren hingegen in keiner Weise zu sich selbst zurück, weil sie nicht erkennen, daß sie tätig sind; das Feuer etwa weiß nicht, daß es wärmt. Aus dem Gesagten wird die Auflösung der Einwände deutlich.

10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Ist irgendein Ding falsch?156 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Augustinus sagt in seiner Schrift Selbstgespräche: »Das Wahre ist das, was ist«157. Also ist das Falsche das, was nicht ist. Was aber nicht ist, ist auch keinerlei Ding. Also ist kein Ding falsch. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Das Wahre ist ein Teil des Seienden, und daher gilt: So wie das Wahre das ist, was ist, so auch das Falsche. – Doch dem steht wiederum entgegen: Keine Dif­ ferenz, die eine Unterteilung einschließt, kommt mit dem überein, dessen Einteilung sie ist. Das Wahre ist nun aber, wie oben158 ge­ sagt, mit dem Seienden austauschbar. Daher ist das Wahre keine einteilende Differenz des Seienden, so daß irgendeine andere Sache ›falsch‹ genannt werden dürfte. 3.  »Wahrheit ist die Entsprechung von Ding und Verstehen.«159 Nun ist aber jede Sache dem göttlichen Verstand angeglichen, da nichts in sich anders sein kann, als es der göttliche Verstand erkennt. Also ist jede Sache wahr; also ist keine Sache falsch. 155  Vgl. Avicenna, De anima V, 2 (ed. S. Van Riet, 92). 156  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  17, a.  1; In Met. V, 2; VI, 4; In Peri­

herm. I, 3 (ed. Leon. I*/1, 14–18). 157  Augustinus, Solil. II, 5, 8 (CSEL 89, 56). 158  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S. 10). 159  Vgl. De ver., q.  1, a.  1 (S. 11).

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4.  Jedes Ding hat durch seine Form Wahrheit. Der Mensch wird aufgrund dessen ›wahr‹ genannt, daß er die wahre Form des Men­ schen an sich hat. Nun gibt es freilich kein Ding, das nicht irgend­ eine Form hätte, weil jegliches Sein durch eine Form ist.160 Daher ist jegliches Ding wahr; also ist kein Ding falsch. 5.  So wie sich das Gute zum Schlechten verhält, so verhält sich das Wahre zum Falschen. Nun gilt aber: Da sich das Schlechte in den Dingen findet, das Schlechte aber, wie Dionysius161 und Augusti­ nus162 sagen, ausschließlich im Guten Bestand hat, gilt demzufolge: Wenn sich in den Dingen Falschheit findet, dann hat Falschheit aus­ schließlich im Wahren Bestand. Dies aber scheint nicht möglich zu sein, weil dann dasselbe wahr und falsch wäre – das ist völlig un­ möglich –, so wie dasselbe ›ein Mensch‹ und ›weiß‹ deswegen ist, weil das Weißsein im Menschen Bestand hat. 6.  Augustinus macht in seiner Schrift Selbstgespräche folgen­ den Einwand: Wenn irgendein Ding ›falsch‹ genannt wird, dann ge­ schieht dies entweder deswegen, weil es ähnlich, oder deshalb, weil es unähnlich ist. »Wenn deshalb, weil es unähnlich ist, dann gibt es nichts, was nicht falsch genannt werden kann; es gibt nämlich nichts, was nicht irgend etwas gegenüber unähnlich ist. Wenn des­ halb, weil es ähnlich ist, dann haben alle Dinge Anspruch darauf, weil sie durch das wahr sind, wodurch sie ähnlich sind.«163 Also läßt sich keine Falschheit in den Dingen finden. Dagegen spricht: 1.  Augustinus definiert das Falsche folgendermaßen: »Falsch ist, was eine Ähnlichkeit mit etwas anderem aufweist.«164 Dies erstreckt sich nicht auf das, womit etwas eine Ähnlichkeit aufweist. Nun weist jedes Geschöpf eine Ähnlichkeit mit Gott auf. Also gilt: Wenn kein 160  Vgl. Aristoteles, Met. VIII, 2; 1043 a 2: »die Substanz Ursache des Seins« [Übers. Th. A. Szlezák]; durch Boethius in der Scholastik und noch bis Kant zum Adagium geworden: forma dat esse. 161  Dionysius Areopagita, De div. nom. 4, 20 (PG 3, 721 A; Dion. I, 259). 162  Augustinus, Enchiridion 4, 14 (CCSL 46, 55). 163  Augustinus, Solil. 8, 15 (CSEL 89, 64). 164  Augustinus, Solil. 2, 15 (CSEL 89, 63 f.).

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Geschöpf an Gott im Sinne von Identität heranreicht, dann scheint es, daß jedes Geschöpf falsch ist. 2.  Augustinus sagt in seinem Buch Über die wahre Religion: »Je­ der Körper ist ein wahrer Körper und eine falsche Einheit.«165 Doch dies wird insofern von ihm ausgesagt, als er die Einheit nachahmt und gleichwohl nicht Einheit ist. Wenn also jegliches Geschöpf mit Bezug auf jede seiner Vollkommenheiten die Vollkommenheit Got­ tes nachahmt, scheint es, daß jedes Geschöpf falsch ist. 3.  So wie ›wahr‹ mit ›seiend‹ austauschbar ist, so auch ›gut‹. Der Grund freilich, warum ›gut‹ mit ›seiend‹ austauschbar ist, schließt nicht aus, daß sich nicht auch ein schlechtes Ding findet. Also schließt dies auch deswegen, weil ›wahr‹ mit ›seiend‹ austauschbar ist, nicht aus, daß sich nicht ein Ding findet, das falsch ist. 4. Anselm sagt in seiner Schrift Über die Wahrheit, daß die Wahrheit einer Aussage eine zweifache ist; eine, »sofern sie das be­ zeichnet, was es als seine Funktion des Bezeichnens erhalten hat«166. So bezeichnet etwa der Satz: ›Sokrates sitzt‹ dies, daß Sokrates sitzt, unabhängig, ob er sitzt oder nicht sitzt.167 Die andere Wahrheit be­ steht darin, wenn die Aussage das bezeichnet, wozu sie gemacht ist; sie ist nämlich dazu gemacht, daß sie anzeigt, daß ist, was ist. In diesem Sinne nennt man eine Aussage im eigentlichen Sinne ›wahr‹. Daher nennt man aus demselben Grund jegliche Sache ›wahr‹, wenn sie das erfüllt, wozu sie gemacht ist, falsch hingegen, wenn sie es nicht erfüllt. Jedes Ding nun, das hinter seinem Ziel zurückbleibt, erfüllt dasjenige nicht, worumwillen es ist. Da nun also viele Dinge so beschaffen sind, scheint es, daß viele falsch sind. Antwort: Wie Wahrheit in der Angleichung von Ding und Verstand besteht, so besteht die Falschheit in deren Ungleichheit. Ein Ding steht nun im Verhältnis zum göttlichen und zum menschlichen Verstand, wie 165  Augustinus, De vera rel. 34, 63 (CCSL 29, 228). 166  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  2 (Opera omnia, ed. F. S.

Schmitt I, 179). 167   Beispiel von Aristoteles, Top. VIII, 10; 160 b 27; Met. IV, 4; 1004 b 2–3.

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oben168 gesagt worden ist. Dem göttlichen Verstand gegenüber steht es in einer Hinsicht im Verhältnis eines Gemessenen zu seinem Maß. Dies gilt im Hinblick auf das, was in den Dingen als Gegebenes aus­ gesagt und vorgefunden wird, weil all dies aus der Kunst des gött­ lichen Verstandes hervorgeht. In anderer Hinsicht verhält es sich dazu als das Erkannte zum Erkennenden, und in diesem Sinne sind auch die Negationen und die Mängel dem göttlichen Verstand gleich, weil Gott all dies erkennt, obgleich er es nicht verursacht. Es ist also deutlich, daß das Ding ungeachtet dessen, wie es beschaffen ist, un­ ter irgendeiner Form oder in Privation und Mangel , dem göttlichen Verstand angeglichen ist. Daraus wird ersichtlich, daß jedes Ding im Verhältnis zum göttlichen Verstand wahr ist. Daher sagt Anselm in seiner Schrift Über die Wahrheit: »Die Wahrheit ist in allen Dingen, die sind, das Wesen, weil sie das sind, was sie in der höchsten Wahrheit sind.«169 Daher gilt: Im Verhältnis zum gött­ lichen Verstand kann man kein Ding ›falsch‹ nennen. Im Verhältnis zum menschlichen Verstand hingegen findet sich mitunter eine Ungleichheit von Ding und Verstand, die in gewisser Weise vom Ding verursacht wird. Das Ding bringt seine Erkennt­ nis in der Seele durch das hervor, was von ihm äußerlich erscheint, weil unsere Erkenntnis ihren Anfang von einem Sinn nimmt,170 des­ sen spezifischer Gegenstand sinnliche Qualitäten sind. Daher heißt es im 1. Buch der Schrift Über die Seele, daß »die Akzidentien ­einen großen Teil zur Erkenntnis dessen, was das Wesen ausmacht, beitragen«.171 Deshalb gilt: Wenn sich in einem Ding sinnliche Qua­ litäten befinden, die ein Wesen anzeigen, das ihnen gar nicht zu­ grunde liegt, dann nennt man solche Dinge ›falsch‹. Daher sagt Ari­ stoteles im 6. Buch der Metaphysik, daß diejenigen ›falsch‹ genannt werden, die »darauf angelegt sind, zu erscheinen, wie sie nicht sind 168  De ver., q.  1, a.  2 (S. 18 f.). 169  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  7 (Opera omnia, ed. F. S.

Schmitt, I, 185). 170  Vgl. Aristoteles, Anal. post. II, 20; 100 a 10; Met. I, 1; 981 a 2. 171  Aristoteles, De an. I, 1; 402 b 21–22: »Auch umgekehrt steuern die Begleitumstände einen wichtigen Teil dazu bei, das Was-Sein wissen­ schaftlich zu fassen« [Übers. Th. Buchheim].

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oder die nicht sind«.172 Beispielsweise wird Gold ›falsch‹ genannt, bei dem die Farbe des Goldes und andere Akzidentien dieser Art zwar äußerlich erscheinen, die Natur des Goldes ihnen gleichwohl inner­ lich nicht zugrunde liegt. Das Ding ist dennoch nicht die Ursache der Falschheit, weil Wahrheit und Falschheit vornehmlich im Urteil der Seele bestehen, die Seele aber, sofern sie über die Dinge urteilt, von den Dingen nichts erleidet, sondern eher auf gewisse Weise tätig ist. Daher nennt man ein Ding nicht ›falsch‹, weil es immer von sich aus eine falsche Auffassung hervorbringt, sondern weil es darauf ange­ legt ist, dies durch das zu tun, was von ihm erscheint. Doch da das Verhältnis des Dinges zum göttlichen Verstand, wie schon gesagt,173 für es wesentlich ist und es aufgrund dessen ›wahr‹ genannt wird, das Verhältnis zum menschlichen Verstand ihm nur akzidentell zukommt, demzufolge es nicht im absoluten Sinne, son­ dern in bestimmter Hinsicht und der Möglichkeit nach wahr ist, des­ halb gilt: Für sich genommen ist jedes Ding wahr und kein Ding falsch, aber in gewisser Hinsicht, nämlich in der Beziehung auf den menschlichen Verstand, werden manche Dinge ›falsch‹ genannt. In diesem Sinne ist es notwendig, auf die Argumente der beiden Sei­ ten zu antworten. Zu 1.  Jene Definition: »Wahr ist das, was ist«, drückt den Begriff der Wahrheit nicht vollständig aus, sondern nur im Sinne des Be­ griffsumfangs (materialiter), es sei denn, das ›Sein‹ bezeichnet die Bejahung des Satzes, so daß nämlich gesagt wird, dasjenige sei wahr, von dem gesagt oder verstanden werde, daß es so sei, wie es in den Dingen ist. In diesem Sinne nennt man auch das ›falsch‹, was nicht ist, d. h., was nicht so ist, wie es ausgesagt oder verstanden wird. Auch dies läßt sich in den Dingen finden. Zu 2.  Das Wahre kann seinem eigentümlichen Sinn nach kei­ nen Unterschied des Seienden bilden. Das Seiende hat nämlich kei­ nen Unterschied, wie im 3. Buch der Metaphysik174 bewiesen wird. Freilich verhält sich das Wahre wie auch das Gute zum Seienden 172  Richtig: Aristoteles, Met. V, 29; 1024 b 21. 173  Vgl. De ver., q.  1, a.  4 (S. 30). 174  Aristoteles, Met. III, 8; 998 b 21–26.

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in gewisser Weise als Unterschied, insofern es nämlich etwas vom Seienden zum Ausdruck bringt, was durch das Wort ›seiend‹ nicht ausgedrückt wird. In diesem Sinne ist der Begriff des Seienden un­ bestimmt im Verhältnis zum Begriff des Wahren. Daher verhält sich der Begriff des Wahren zum Begriff des Seienden in gewisser Weise wie der spezifische Unterschied zur Gattung. Zu 3.  Dieses Argument muß man einräumen. Es verfährt näm­ lich in Beziehung auf das Ding in seiner Ausrichtung auf den gött­ lichen Verstand. Zu 4.  Obgleich jedes Ding irgendeine Form hat, so hat doch nicht jedes Ding diejenige Form, deren Kennzeichen die sinnlichen Qua­ litäten äußerlich anzeigen. In diesem Sinne wird ein Ding ›falsch‹ genannt, sofern es darauf angelegt ist, von sich eine falsche Ein­ schätzung hervorzurufen. Zu 5.  Etwas, das außerhalb der Seele existiert, bezeichnet man in dem Maße als ›falsch‹, als es, wie aus dem Dargelegten ersichtlich wird, darauf angelegt ist, von sich eine falsche Einschätzung her­ vorzubringen; was aber nichts ist, ist nicht darauf angelegt, von sich irgendeine Einschätzung hervorzubringen, weil es das Denkvermö­ gen gar nicht bewegt. Daher ist es notwendig, daß dasjenige, was man als ›falsch‹ bezeichnet, irgendein Seiendes ist. Daher gilt: Da jedes Seiende als solches ein Wahres ist, ist es notwendig, die in den Dingen befindliche Falschheit auf irgendeiner Wahrheit zu begrün­ den. Daher sagt Augustinus in seiner Schrift Selbstgespräche, daß »der Tragöde, der im Theater bestimmte Personen darstellt, kein fal­ scher wäre, wenn er nicht ein wahrer Tragöde wäre: Ähn­ lich wäre ein gemaltes Pferd nicht falsch, wenn es nicht ein wahres Bild wäre.« Es folgt gleichwohl nicht, daß dasjenige, was zueinander im Widerspruch steht, wahr ist, weil Bejahung und Verneinung, auf deren Grundlage etwas ›wahr‹ und ›falsch‹ genannt wird, sich nicht auf dasselbe beziehen. Zu 6.  Ein Ding nennt man insofern ›falsch‹, als es darauf angelegt ist zu täuschen. Wenn ich jedoch »täuschen« sage, bezeichne ich eine Tätigkeit, die einen Mangel herbeiführt. Nun ist aber nichts darauf angelegt, tätig zu sein, außer es ist ein Seiendes, jeder Mangel ist jedoch ein Nichtseiendes. Ein jegliches aber hat, sofern es seiend ist, eine Ähnlichkeit mit dem Wahren, sofern es aber nicht ist, bleibt

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es hinter seinem Urbild zurück. Deshalb hat das, was ich ›täuschen‹ nenne, im Hinblick darauf, was es an Tätigkeit beinhaltet, seinen Ursprung in der Ähnlichkeit, doch sofern es einen gewissen Mangel beinhaltet, worin der Wesenszug der Falschheit im formellen Sinne liegt, geht es aus der Unähnlichkeit hervor. Deshalb sagt Augustinus in seinem Buch Über die wahre Religion175, daß die Falschheit aus der Unähnlichkeit hervorgeht. Auf die Gegenargumente ist Folgendes zu antworten: Zu 1.  Nicht aus jeder Ähnlichkeit ergibt sich, daß die Seele ge­ täuscht wird, sondern aus einer großen Ähnlichkeit, bei der sich nicht ohne weiteres eine Unähnlichkeit finden läßt. Des­ halb wird die Seele durch eine größere oder kleinere Ähnlichkeit bei einer größeren oder kleineren Scharfsichtigkeit darin getäuscht, eine Unähnlichkeit zu finden. Gleichwohl darf man nicht einfach­ hin deswegen ein Ding ›falsch‹ nennen, weil es irgendwen in e­ inen Irrtum führt, sondern deshalb, weil es darauf angelegt ist, viele und weise Menschen zu täuschen. Auch wenn die Geschöpfe eine gewisse Ähnlichkeit mit Gott an sich tragen, liegt doch diese die größte Unähnlichkeit zugrunde, so daß es auch bei großer Torheit vorkommt, daß der Geist wegen einer solchen Ähnlichkeit getäuscht wird. Daher gilt: Aus der zuvor genannten Ähnlichkeit und Unähn­ lichkeit der Geschöpfe zu Gott folgt nicht, daß alle Geschöpfe ›falsch‹ genannt werden müßten. Zu 2.  Manche waren der Auffassung, daß Gott ein Körper sei, und, da Gott eine Einheit ist, sei alles eins. Sie haben demzufolge angenommen, daß der Körper eben wegen der Ähnlichkeit mit der Einheit die Einheit selbst sei. In diesem Sinne wird der Körper eine falsche Einheit genannt, sofern er manche zu dem Irrtum geführt hat oder doch führen konnte, daß er für die Einheit gehalten wurde. Zu 3.  Die Vollkommenheit ist eine zweifache, nämlich eine erste und eine zweite.176 Die erste Vollkommenheit ist die Form jeglichen Dinges, durch die es Sein hat, daher wird diese Vollkommenheit kei­ nem Ding genommen, solange es Bestand hat. Die zweite Vollkom­ 175  Augustinus, De vera rel. 36, 67 (CCSL 32, 231). 176  Vgl. Thomas v. Aquin, Sum. theol. I, q.  73, a.  1 u. ad 1; III, q.  29, a.  2.

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menheit ist die Tätigkeit, die das Ziel eines Dinges ist oder doch das, wodurch es zum Ziel kommt. Hinter dieser Vollkommenheit kann es mitunter zurückbleiben. In der ersten Vollkommenheit gründet der Begriff des Wahren in den Dingen: Darin nämlich, daß ein Ding eine Form hat, ahmt es die Kunst des göttlichen Verstandes nach und erzeugt die Kenntnis seiner selbst in der Seele. Aus der zweiten Vollkommenheit hingegen ergibt sich der Wesenszug des Gutseins, der aus dem Ziel hervorgeht. Deshalb findet sich für sich genommen das Übel in den Dingen, aber nicht das Falsche. Zu 4.  Nach Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischen Ethik177 ist das Wahre das Gute des Verstandes. Die Tätigkeit des Verstan­ des ist nämlich aufgrund dessen vollkommen, daß seine Begriffs­ bildung178 wahr ist, und da die Aussage das Zeichen des Verstandes ist,179 deshalb ist dessen Wahrheit sein Ziel. Dies trifft nun aber bei anderen Dingen nicht zu, und deshalb liegt nicht derselbe Fall vor.

11. Artik el Die elfte Frage lautet: Ist in den Sinnen Falschheit?180 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  »Der Verstand ist nämlich immer richtig«, wie es im 3. Buch Über die Seele181 heißt. Der Verstand ist nun aber der höhere Teil im Menschen; also folgen auch die anderen Teile seiner Rechtheit, so wie ja auch in der Welt im Großen die niederrangigen Wesen von der Bewegung der höheren Wesen ihre Anordnung erhalten. Also

177  Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 27; vgl. De ver., q.  1, Anm.  142. 178  Vgl. De ver., q.  4, Anm.  55. 179  Vgl. Aristoteles, Peri herm., c.  1; 16 a 3–4: »Nun sind die (sprachli­

chen) Äußerungen unserer Stimme ein Symbol für das, was (beim Spre­ chen) unserer Seele widerfährt« [Übers. H. Weidemann]; vgl. Nachwort, Anm.  66. 180  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  17, a 2; q.  85, a.  6; In De an. II, c.  30 (ed. Leon. XLV/1, 197–200); In Met. IV, 12. 181  Aristoteles, De an. III, 10; 433 a 26: »Der Verstand ist nun in jedem Fall richtig« [Übers. Th. Buchheim].

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wird auch der Sinn, welcher der niedrigere Teil der Seele ist, immer recht sein. Also ist in ihm keine Falschheit. 2.  Augustinus sagt in seinem Buch Über die wahre Religion: »Die Augen selbst täuschen uns nicht; sie vermögen dem Geist nur ihren Eindruck zu vermelden; wenn alle Sinne des Körpers ebenfalls in der Weise vermelden, wie sie eine Einwirkung erfahren, weiß ich nicht, was wir von ihnen darüber hinaus erwarten dürfen.«182 3.  Anselm sagt in seiner Schrift Über die Wahrheit: »Mir scheint Wahrheit und Falschheit nicht in einem Sinn, sondern in der Mei­ nung zu liegen.«183 Damit haben wir bereits die These. Dagegen spricht: 1.  das, was Anselm sagt: »In unseren Sinnen ist Wahrheit, jedoch nicht immer: denn manchmal täuschen sie uns.«184 2.  Nach Augustinus in seinem Buch Selbstgespräche gilt: »›Falsch‹ pflegt man das zu nennen, was von der Ähnlichkeit mit dem Wahren weit entfernt ist, aber gleichwohl keinerlei Nachahmung des Wah­ ren aufweist.«185 Der Sinn weist nun aber eine gewisse Ähnlichkeit mit gewissen Dingen auf, die in dieser Weise nicht in der äuße­ren Wirklichkeit sind. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eines zwei zu sein scheint, wenn man die Augen zusammenkneift. Also ist in einem Sinn Falschheit. 3.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Der Sinn wird nicht bei seinen eigentümlichen, sondern bei den allgemeinen Sinnesgegen­ ständen getäuscht. – Doch dem steht wiederum entgegen: Wann im­ mer etwas von etwas auf andere Weise aufgefaßt wird, als es ist, ist die Auffassung falsch. Allerdings: Wenn man einen weißen Körper durch ein grünes Glas sieht, faßt ihn der Sinn anders auf, als er ist, weil er ihn als grün auffaßt und so über ihn urteilt – außer es liegt ein höheres Urteil vor, durch das die Falschheit aufgedeckt wird. 182  Augustinus, De vera rel. 33, 62 (CCSL 32, 227 f.). 183  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  6 (Opera omnia, ed. F. S.

Schmitt, I, 183). 184  Anselm v. Canterbury, De veritate, c.  6 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 183). 185  Augustinus, Solil. II, 15, 29 (CSEL 89, 84).

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Also wird der Sinn auch bei den eigentümlichen Sinnesgegenstän­ den getäuscht. Antwort: Unsere Erkenntnis, die von den Dingen ihren Ausgang nimmt,186 verfährt nach der Ordnung, daß sie zuerst im Sinn ihren Anfang hat187 und dann im Verstand zur Vollendung kommt, so daß der Sinn in gewisser Weise in der Mitte zwischen Verstand und Ding liegt; er ist nämlich im Verhältnis zu den Dingen gleichsam ein Verstand und im Verhältnis zum Verstand gleichsam eine Art Ding. Deshalb sagt man, daß die Wahrheit bzw. Falschheit im Sinn in zweifacher Weise ist: Einmal im Sinne der Relation des Sinnes zum Verstand, und so verstanden nennt man den Sinn wie auch ein Ding ›wahr‹ bzw. ›falsch‹, insofern er nämlich eine wahre oder falsche Einschät­ zung im Verstand sein läßt; in anderer Weise in der Relation des Sinnes zum Ding, und so verstanden redet man von Wahrheit und Falschheit im Sinn, wie auch im Verstand, insofern er nämlich ur­ teilt, das ist, was ist oder was nicht ist. Wenn wir nun also in der ersten Bedeutung vom Sinn sprechen, so ist im Sinn in gewisser Weise Falschheit, und in gewisser Weise ist darin keine Falschheit. Der Sinn ist nämlich auch eine Art Ding in sich und ist etwas, das andere Dinge anzeigt. Wenn er also auf­ grund dessen, daß er ein Ding ist, mit dem Verstand ins Verhältnis gesetzt wird, so ist keinerlei Falschheit im Sinn – im Verhältnis zum Verstand; der Grund ist: Sofern der Sinn eine konkrete Ver­ faßtheit angenommen hat, demgemäß zeigt er seine konkrete Ver­ faßtheit dem Verstand. Daher sagt Augustinus in dem angeführten anerkannten Satz: daß die Sinne »dem Geist nichts als ihren Ein­ druck melden können«188. Wenn er hingegen mit dem Verstand ins Verhältnis gesetzt wird, sofern er etwas ist, was ein anderes Ding 186  Dies ist in Abhebung vom göttlichen Wissen, das Grund der Dinge ist: De ver., q.  1, a.  1; q.  2, a.  14. 187  Vgl. De ver., q., 1, Anm.  170; q.  2, Anm.  74. 188  Augustinus, De vera rel. 33, 62 (CCSL 32, 227 f.). Auctoritas meint hier wie oftmals in den Texten der Scholastik nicht das Ansehen einer Per­ son oder Institution, sondern die allgemeine schon bestehende – nicht bloß beanspruchte! – Anerkennung von Sätzen; daher kann das Wort selbst im

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zur Darstellung bringt, dann gilt: Wann immer er es dem Verstand anders darstellt, als es ist, wird der Sinn in dieser Hinsicht ›falsch‹ genannt, er ist ja jetzt darauf angelegt, im Verstand eine falsche Einschätzung aufkommen zu lassen, obgleich er dies nicht notwen­ digerweise tut, wie dies auch von den Dingen gesagt worden ist,189 weil der Verstand über die Dinge ebenso wie auch über das urteilt, was ihm von den Sinnen dargeboten wird. In dieser Weise erzeugt im Verhältnis zum Verstand der Sinn von seiner eigenen Verfaßt­ heit im Verstand immer eine wahre Einschätzung, aber nicht immer von der Verfaßtheit der Dinge. Wenn der Sinn hingegen mit den Dingen in Beziehung gesetzt wird, dann liegt im Sinn Falschheit und Wahrheit in der Weise, wie es auch im Verstand ist. Im Verstand findet sich zuerst und grund­ sätzlich Wahrheit und Falschheit im zusprechenden und abspre­ chenden Urteil, in der Bildung der Wesensbestimmungen jedoch nur durch Ausrichtung auf das Urteil, das sich aus der genannten Bil­ dung ergibt.190 Daher findet sich auch in den Sinnen im eigentlichen Sinne Wahrheit und Falschheit aufgrund dessen, daß der Sinn über sinnlich wahrnehmbare Dinge urteilt; insofern er das Sinnenfällige nur aufnimmt, findet sich dort nicht im eigentlichen Sinne Wahr­ heit und Falschheit, sondern nur in der Ausrichtung auf das Urteil, sofern nämlich es durch eine solche Auffassung darauf angelegt ist, ein solches oder ein andersartiges Urteil folgen zu lassen. Das Urteil eines Sinnes bezüglich bestimmter Gegenstände ist natürlich, etwa bezüglich der spezifischen Sinnesgegenstände, über anderes hinge­ gen im Sinne eines In-Verbindung-Bringens – dieses leistet im Men­ schen das Denkvermögen,191 welches ein Vermögen des sinnlichen Teiles ist, an dessen Stelle bei den anderen Lebewesen die natürliche Schätzungskraft steht –, und so urteilt das sinnliche Vermögen über die allgemeinen sinnlichen Eigenschaften und über das Sinnenfäl­ lige rein akzidentell. Die natürliche Tätigkeit eines Dinges geschieht Hinblick auf eine Person im Plural stehen, etwa: auctoritates Augustini; vgl. R. Schönberger, Relation als Vergleich, 253 ff. 189  Vgl. De ver., q.  1, a.  10 (S. 71). 190  Vgl. De ver., q.  1, a.  3 (S. 22 f.). 191  ScG II, 60, 1 (ed. C. Pera, nr. 1370); Sum. theol. I, q.  81, a. 3.

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immer auf ein und dieselbe Weise, außer sie wird entweder wegen eines inneren Mangels oder eines äußeren Hindernisses in akzi­ denteller Hinsicht gehindert. Daher ist auch das Urteil eines Sinnes über seine jeweils spezifischen Sinnesgegenstände immer wahr, es sei denn, es liegt ein Hindernis im Sinnesorgan oder im Medium, doch über die allgemeinen Sinneseigenschaften kann das Urteil mit­ unter einer Täuschung unterliegen. Von daher wird ersichtlich, in welcher Weise im Urteil der Sinne Falschheit liegen kann. Doch im Hinblick auf die Auffassung des Sinnes muß man wissen, daß es eine Art Auffassungsvermögen gibt, welches das sinnliche Bild auf­ faßt, wenn das Sinnesding anwesend ist, wie dies beim eigentüm­ lichen Sinn der Fall ist, eine andere aber, welche dies erfaßt, wenn das Ding abwesend ist, wie dies bei der Vorstellungskraft der Fall ist. Deshalb faßt der Sinn das Ding immer so, wie es ist, auf, es sei denn, es liegt im Sinnesorgan oder im Medium ein Hindernis, doch die Vorstellungskraft faßt meistens das Ding so, wie es nicht ist, auf, weil es das Ding als gegenwärtiges auffaßt, obgleich es doch abwe­ send ist. Deshalb sagt Aristoteles im 4. Buch der Metaphysik, daß nicht der Sinn das Falsche sagt, sondern die Vorstellungskraft.192 Zu 1.  In der Welt im Großen nehmen die höherrangigen Wesen nichts von den niedrigeren auf, dies geschieht vielmehr umgekehrt. Beim Menschen hingegen empfängt der Verstand, der höher steht, etwas aus den Sinnen. Daher liegt nicht derselbe Fall vor. Zu den anderen Einwänden wird die jeweilige Auflösung leicht aus den Ausführungen ersichtlich.

192  Aristoteles, Met. IV, 5; 1010 b 1–3: »Was aber die Wahrheit betrifft, nämlich daß nicht alles Erscheinende wahr ist, erstens, daß auch wenn die Wahrnehmung jedenfalls des eigentümlichen Wahr­ nehmungsobjektes nicht falsch ist, so doch die Vorstellung nicht dasselbe ist wie die Wahrnehmung« [Übers. Th. A. Szlezák].

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12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Ist im Verstand Falschheit?193 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Der Verstand vollzieht zweierlei Tätigkeiten, eine, in der er Wesensbestimmungen formt; in dieser Tätigkeit liegt keine Falsch­ heit, wie Aristoteles im 3. Buch seiner Schrift Über die Seele194 sagt; die andere Tätigkeit, durch die er etwas zuspricht und abspricht; in dieser liegt ebenfalls keine Falschheit, wie durch Augustinus in seinem Buch Über die wahre Religion ersichtlich ist; er sagt dort folgendermaßen: »Und niemand erkennt Falsches.«195 Also liegt im Verstand keine Falschheit. 2.  Augustinus sagt in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen bei der Frage 32: »Jeder, der sich täuscht, versteht die Sache nicht, in der er sich täuscht.«196 Es kann also im Verstand keine Falschheit sein. 3.  Algazali sagt: »Entweder erkennen wir etwas so, wie es ist, oder wir erkennen es gar nicht.«197 Nun gilt: Wer immer eine Sache so erkennt, wie sie ist, erkennt wahrhaft. Also ist der Verstand immer wahr. Also liegt in ihm keine Falschheit. Dagegen spricht das, was Aristoteles im 3. Buch seiner Schrift Über die Seele sagt: »Wo eine Zusammenfügung der Begriffe vorliegt, dort liegt sogleich das Wahre und Falsche vor.«198 Also findet sich im Verstand Falsch­ heit. 193  Paralleltexte: Sent. I, d. 19, q.  5, a.  1, ad 7; Sum. theol. I, q.  17, a.  3; In Periherm. I, 3 (ed. Leon. I*/1, 14–18); In De an. III, c.  5 (ed. Leon. XLV/1, 224–228); In Met. VI, 4. 194  Aristoteles, De an. III, 6; 430 a 26–27: »Die Leistung des Verstehens (noêsis) von Unteilbarem gehört nun unter die Dinge, in deren Gebiet es nichts Falsches gibt« [Übers. Th. Buchheim]. 195  Augustinus, De vera rel. 34, 64 (CCSL 32, 229). 196  Augustinus, De div. qu. 83, q.  32 (CCSL 44 A, 46). 197  Algazali, Met. I, 3, 11 (ed. J. T. Muckle, 83); vgl. De ver., q.  2, Anm.  5. 198  Aristoteles, De an. III, 6; 430 a 27–28: »[…] während bei denen, wo sowohl das Falsche als auch das Wahre vorkommt, schon eine gewisse

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Antwort: Die Bezeichnung ›Verstand‹ leitet sich von da her, daß er das In­ nerste eines Dinges erkennt;199 das Erkennen des Verstandes ist gleichsam ein innen lesen. Der Sinn und die Vorstellung erkennen bloß die äußeren Akzidentien; einzig der Verstand gelangt in das In­ nere und das Wesen einer Sache. Doch darüber hinaus betätigt sich der Verstand mit der jeweils aufgefaßten Wesenheit der Dinge im Nachdenken und in Untersuchungen auf verschiedene Weise. Die Bezeichnung ›Verstand‹ kann also auf verschiedene Weise verstan­ den werden: einmal, insofern er sich nur zu dem verhält, wovon ur­ sprünglich der Name ›Verstand‹ abgeleitet worden ist, und in diesem Sinne sprechen wir im eigentlichen Sinne von ›verstehen‹, wenn wir die Wesenheiten der Dinge auffassen oder wenn wir das erkennen, was einem Verstand dann bekannt ist, wenn er die Wesenheiten der Dinge aufgefaßt hat, wie dies die ersten Prinzipien sind, die wir er­ kennen, wenn wir die Begriffe verstehen; daher wird der Verstand auch ›Habitus der Prinzipien‹200 genannt. Die Wesenheit eines Dinges ist der spezifische Gegenstand des Ver­ standes. Daher gilt: So wie der Sinn mit Bezug auf die eigentümli­ chen Sinnesgegenstände immer wahr ist, so auch der Verstand im Erkennen des Wesens, wie es im 3. Buch der Schrift Über die Seele201 heißt. Gleichwohl kann dort in akzidenteller Weise Falschheit auf­ treten, wenn nämlich der Verstand einem Falschen etwas zuspricht und abspricht. Dies kann in doppelter Weise geschehen: Entweder, Synthesis von Gedanken (noêmata), als eines seiend, existiert« [Übers. Th. Buchheim]. 199  Vgl. Thomas v. Aquin, Sum. theol. II-II, q.  8, a.  1: nomen intellec­ tus quandam intimam cognitionem importat, dicitur enim intelligere quasi intus legere [»Die Bezeichnung ›Verstand‹ beinhaltet eine innerste Erkenntnis, ›verstehen‹ besagt gleichsam innen lesen«]. Diese (wie die meisten mittelalterlichen Etymologien) verunglückte Etymologie lässt sich im Deutschen nicht nachahmen; vgl. De ver., q.  4, Anm.  14. 200  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 6; 1141 a 7–8; es finden sich verschie­ dene Lösungen des Übersetzungsproblems: E. Rolfes  /  G. Bien: »Intellekt  / Vernunft«; F. Dirlmeier: »intuitiver Verstand«; O. Gigon: »Geist«: U. Wolf, D. Frede: »intuitive Vernunft«. 201  Aristoteles, De an. III, 6; 430 b 27–28.

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weil er die Definition des einen einem anderen zuschreibt – so wenn er als Definition des Esels den Ausdruck ›vernünftiges sterbliches Lebewesen‹ bildete; oder wenn er Teile einer Definition verknüpft, die sich nicht verknüpfen lassen, so wenn er als Definition des Esels ›nicht mit Vernunft begabtes unsterbliches‹ Lebewesen bildete. Auf diese Weise wird deutlich, daß die Definition nur dann falsch sein kann, wenn sie eine falsche Bejahung einschließt. Dieser zweifa­ che Sinn von Falschheit wird im 5. Buch der Metaphysik202 berührt. Ähnlich kann der Verstand auch bei den ersten Prinzipien in keiner Weise getäuscht werden. Daher wird Folgendes ersichtlich: Wenn ›Verstand‹ im Sinne jener Tätigkeit aufgefaßt wird, von welcher die Bezeichnung ›Verstand‹ abgeleitet ist, liegt im Verstand keine Falschheit. In anderer Weise kann ›Verstand‹ ganz allgemein ver­ standen werden, nämlich in dem Sinne, in dem er sich auf alle ver­ ständigen Tätigkeiten erstreckt; in diesem Sinne umfaßt er Mei­ nung und Überlegung; in diesem Sinne genommen ist im Verstand Falschheit, niemals jedoch dann, wenn die Zurückführung auf die ersten Prinzipien in der rechten Weise erfolgt. Aus dem Dargelegten wird ersichtlich, wie die Entkräftung der Ein­ wände lauten muß.

202  Aristoteles, Met. V, 22; 1024 b 26–28.

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II. ÜBER DAS WISSEN GOTTES

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Kommt Gott Wissen zu? 2. Hat Gott von sich selbst eine Erkenntnis bzw. ein Wissen? 3. Erkennt Gott anderes außer sich? 4. Hat Gott von den Dingen eine spezifische und bestimmte ­Erkenntnis? 5. Erkennt Gott das Einzelne? 6. Erkennt der menschliche Verstand das Einzelne? 7. Erkennt Gott, daß ein Einzelnes jetzt ist oder nicht ist? 8. Erkennt Gott das Nichtseiende und das, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist? 9. Hat Gott ein Wissen vom Unendlichen? 10. Kann Gott Unendliches hervorbringen? 11. Wird ›Wissen‹ im rein äquivoken Sinne von Gott und von uns ausgesagt? 12. Hat Gott eine Erkenntnis vom zukünftigen kontingenten Einzelnen? 13. Ist das Wissen Gottes veränderlich? 14. Ist das Wissen Gottes die Ursache der Dinge? 15. Hat Gott ein Wissen vom Schlechten?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Kommt Gott Wissen zu?1 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Alles, das zu etwas anderem im Verhältnis der Hinzufügung steht, kann man in einem Wesen von höchster Einfachheit nicht fin­ den. Gott ist nun aber von höchster Einfachheit. Wenn sich also das 1  Paralleltexte: Sent. I, d. 35, a.  1; Sum. theol. I, q.  14, a.  1; In Met. XII, 8; Comp. theol. I, 28 (ed. Leon. XLII, 91).

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Wissen als eine Hinzufügung zu einem Wesen verhält, weil Leben etwas zum Sein und Wissen etwas zum Leben hinzufügt, scheint es, daß in Gott kein Wissen ist. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Das Wissen fügt in Gott nichts zu seinem Wesen hinzu, vielmehr wird mit dem Terminus ›Wissen‹ in ihm eine andere Vollkommenheit bezeichnet als mit dem Terminus ›Wesen‹. – Doch dem steht wiederum entgegen: ›Vollkom­ menheit‹ ist ein Terminus für eine Wirklichkeit. Nun sind aber in Gott Wissen und Wesenheit schlechthin dieselbe Wirklichkeit. Also wird mit dem Begriff ›Wissen‹ und dem des Wesens dieselbe Voll­ kommenheit angezeigt. 3.  Man kann keinen Begriff von Gott aussagen, der nicht dessen ganze Vollkommenheit bezeichnet. Der Grund liegt darin: Wenn er nicht die ganze bezeichnet, bezeichnet er nichts davon, da sich in Gott keine Teile finden, und demzufolge kann er ihm nicht zu­ geschrieben werden. Nun vergegenwärtigt der Terminus ›Wissen‹ nicht die gesamte göttliche Vollkommenheit, weil, wie es im Buch von den Ursachen heißt, Gott »über allen Namen, durch die er be­ nannt werden kann, ist«2. Also läßt sich Wissen Gott nicht zuschrei­ ben. 4.  Das Wissen ist der Habitus der Schlußfolgerung, der Verstand hingegen der Habitus der Prinzipien, wie aus Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischen Ethik deutlich wird.3 Nun erkennt Gott etwas nicht in der Form einer Schlußfolgerung, weil sich sein Verstand ansonsten von den Prinzipien zu den Schlußfolgerungen gedanklich bewegen würde, was Dionysius im 7. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen4 auch schon den Engeln abspricht. Also gibt es kein Wissen in Gott. 5.  Alles, was gewußt wird, wird aufgrund von etwas in höherem Maße Verstandenem gewußt. Nun gibt es aber bei Gott kein Mehr oder Weniger an Verstandensein. Also kann in Gott kein Wissen sein.

2  Liber de causis, prop. 21 (22), n. 166 (ed. A. Schönfeld, 45). 3  Aristoteles, Eth. Nic. VI, 3; 1139 b 31–32; VI, 5; 1141 a 7–8. 4  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 868; Dion. I, 388).

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6. Algazali5 sagt, daß das Wissen die Siegelung der Wissensge­ genstände im Verstand ist. Nun ist aber eine Siegelung gänzlich von Gott ausgeschlossen, einmal weil sie ein Empfangen, zum anderen weil sie eine Zusammenfügung beinhaltet. Also kann Gott kein Wissen zugeschrieben werden. 7.  Nichts, was irgendwie auf eine Unvollkommenheit hindeutet, kann Gott zugeschrieben werden. Nun klingt aber Wissen nach Un­ vollkommenheit, weil es als Habitus bzw. erster Akt und als wirkli­ ches Betrachten als zweiter Akt bezeichnet wird, wie es im 2. Buch der Schrift Über die Seele6 heißt. Der erste Akt ist nun aber im Ver­ hältnis zum zweiten Akt unvollkommen. Also findet sich in Gott kein Wissen. 8.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: In Gott gibt es Wissen ausschließlich in der Form tätiger Wirklichkeit. – Doch dem steht wiederum entgegen: Das Wissen Gottes ist die Ursache der Dinge. Doch das Wissen, wenn es ihm denn zugeschrieben wird, war von Ewigkeit her in ihm. Wenn also das Wissen in Gott der Wirklich­ keit nach ist, dann hat er von Ewigkeit her auch die Dinge hervor­ gebracht – aber das ist eben falsch. 9.  Wo immer sich etwas findet, was dem entspricht, was wir mit unserem Begriff ›Wissen‹ im Verstand begreifen, davon wissen wir nicht nur, daß es ist, sondern auch, was es ist. Der Grund ist, weil das Wissen etwas ist. Nun können wir von Gott nicht wissen, was er ist, sondern nur, daß er ist, wie Johannes von Damaskus7 sagt. Also entspricht dem Begriff im Verstand, was der Begriff des Wissens zum Ausdruck bringt, nichts in Gott. Also ist in ihm kein Wissen. 5  Algazali, Met. I, tr. 3, sent. 1 (ed. J. T. Muckle, 63). Algazali (unter an­ derem in Bagdad lehrend, † 1111) war ein theologischer Kritiker der Phi­ losophie. Er hat als Voraussetzung seiner Kritik zuerst Avicenna (Le Livre de science) und Alfarabi referiert und sie im Anschluss daran kritisiert. Da aber nur der Referatsteil von Dominicus Gundissalinus in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt wurde, hatten die Scholastiker unvermeidlich den Eindruck einer Konvergenz von Avicenna, Alfarabi und Algazali. 6  Aristoteles, De an. II, 1; 412 a 10–22. 7  Johannes v. Damaskus, De fide orth. I, 4 (PG 94, col. 797 B; ed. E. M. Buytaert, 19); vgl. De ver., q.  4, Anm.  2.

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10.  Augustinus sagt, daß »Gott sich jeder Form entzieht und für den Verstand nicht zugänglich sein kann«.8 Nun ist das Wissen eine Form, die der Verstand begreift. Also übersteigt Gott diese Form, somit ist kein Wissen in Gott. 11. Erkennen ist einfacher und von größerer Würde als Wis­ sen. Doch wie es im Buch von den Ursachen9 heißt, wenn wir Gott als ›erkennendes Wesen‹ bzw. als ›Geist‹ (intelligentia) bezeichnen, dann bezeichnen wir ihn nicht mit seiner eigentümlichen Bezeich­ nung, sondern mit der Bezeichnung dessen, was er zuerst hervor­ bringt. Also kann Gott die Bezeichnung ›Wissen‹ erst recht nicht zukommen. 12. Die Qualität bringt einen höheren Grad von Zusammen­ fügung mit sich als die Quantität, weil die Qualität nur mittels e­ iner Quantität einer Substanz innewohnt. Nun schreiben wir Gott aber wegen seiner Einfachheit nichts zu, was in die Kategorie der Quan­ tität gehört, weil jedes Quantum ja Teile hat. Also kann Wissen, das zur Kategorie der Qualität gehört,10 Gott auf keine Weise zuge­ schrieben werden. Dagegen spricht 1.  das, was im Römerbrief, Kap. 11, steht: »O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und des Wissens Gottes  …«11. 2.  Nach Anselm in seinem Werk Monologion gilt: »Alles, bei dem es für sich genommen und gegenüber allem anderen besser ist, 8  Der Satz – im Text auffälligerweise ohne Werkangabe – findet sich nicht bei Augustinus, aber bei Alanus ab Insulis, De fide cath.  I, reg.  16 (PL 210, col. 601 B); in der Scholastik, etwa bei Wilhelm v. Auvergne, in der Summa Halensis und bei Bonaventura, begegnet jedoch immer wieder die Zuschreibung an Augustinus (Belege in der Editio Leonina). 9  Liber de causis, prop. 5 (6), n. 63 (ed. A. Schönfeld, 17). 10  Vgl. Aristoteles, Cat., c.  2; 1 b 1–2: »Wissen ist in einem Zugrunde­ liegendem, der Seele« [Übers. K. Oehler]; Cat., c.  8; 8 b 25–29: »Eine Art Qualität laßt uns Haltung und Zustand nennen. Die Haltung unterschei­ det sich vom Zustand dadurch, daß sie bleibender und dauerhafter ist. Solche sind sowohl die Wissensarten als auch die Tüchtigkeiten« [Übers. K. Oehler]. 11  Röm. 11, 33.

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zu sein, als nicht zu sein, muß man Gott zuschreiben«12. Nun ist aber das Wissen von dieser Art. Also muß man es Gott zuschreiben. 3.  Zum Wissen sind ausschließlich drei Dinge erforderlich, näm­ lich das hervorbringende Vermögen des Erkennenden, mit dem er über die Dinge urteilt, das erkannte Ding und die Einheit beider. Nun ist in Gott das höchste hervorbringende Vermögen, und sein Wesen ist im höchsten Maße erkennbar, und demzufolge liegt dort die Einheit beider vor. Also ist Gott im höchsten Grade ein Wissen­ der. Beweis des Mittelsatzes: Wie es im Buch der Geistwesen heißt: »das erste Wesen ist Licht«13; nun hat aber das Licht im höchsten Maße eine hervorbringende Kraft, was daraus deutlich wird, daß es sich selbst ausbreitet und vervielfältigt, und es ist zudem in höch­ stem Grade erkennbar, daher läßt es auch anderes deutlich werden. Also hat das erste Wesen, das Gott ist, ebenso die aktive Kraft zum Erkennen, wie es auch selbst erkennbar ist. Antwort: Gott wird Wissen von allen Autoren zugeschrieben, wenn auch in verschiedener Weise. Ein Teil dieser Autoren, die mit ihrem Ver­ stand die Form des geschöpflichen Wissens nicht zu überschreiten vermochten, hat geglaubt, das Wissen sei in Gott im Sinne einer zu seinem Wesen hinzukommenden Verfaßtheit, so wie es dies auch bei uns Menschen ist.14 Dies ist völlig irrig und widersinnig. Dies kann nämlich – gesetzt, daß Gott in höchstem Maße einfach ist – nicht sein; es wäre nämlich dann in ihm eine Zusammensetzung von Substanz und Akzidens. Ebenso wäre auch Gott nicht sein Sein, denn, wie Boethius im Buch Über die Hebdomaden sagt, »was ist, 12  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  15 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 29); vgl. De ver., q.  2, Anm.  128. 13  Adam de Pulchrae Mulieris (= Adam de Puteorum Villa [Puteorum­ villa]), Liber de intelligentiis [= Memoriale rerum difficilium], c.  6 (ed. C. Baeumker, 8). Dieser Autor war etwas vor der Mitte des 13. Jahrhunderts Magister der Theologie in Paris; auch ein Sentenzen-Kommentar ist von ihm überliefert. Den angeführten Satz zitiert Thomas nur hier. 14  Thomas verweist auf diese Lehre in ScG I, 23; diese Theorie ist ihm durch Averroes, In Met. XII, comm. 39 (VIII, 322 I) und Moses Maimoni­ des, Dux perplexorum I, 50 (ed. A. Weiß, I, 156 ff.) präsent.

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kann an etwas teilhaben; doch das Sein selbst hat in keiner Weise an etwas teil«15. Wenn also Gott am Wissen im Sinne einer zu seinem Sein hinzukommenden Bestimmung Anteil hätte, wäre er nicht sein Sein und hätte demzufolge von einem anderen sein Sein, welches andere dann für ihn die Ursache seines Seins wäre, und demzufolge wäre er nicht Gott. Deshalb haben andere Autoren gesagt, daß wir dadurch, daß wir Gott Wissen oder etwas dieser Art zuschreiben, nichts in ihm selbst setzen, sondern ihn als denjenigen bezeichnen, der Ursache des Wis­ sens in den geschaffenen Dingen ist, so daß man aus dem Grund von Gott sagt, er sei wissend, weil er Wissen in die Geschöpfe ein­ strömen läßt. Doch obgleich in diesem Satz ein gewisses Moment von Wahrheit sein kann, in dem, wie das Origenes16 und Augusti­ nus17 zu tun scheinen, behauptet wird, daß Gott Wissen habe, weil er Wissen verursachen kann, kann dies doch nicht der vollständige Begriff der Wahrheit sein. Dies aus zwei Gründen: Erstens, weil man mit derselben Begründung alles das von Gott aussagen könnte, was immer er in den Dingen verursacht, so wie wenn man sagte, daß er bewegt würde, weil er Bewegung in den Dingen verursacht. Dies sagt man aber eben doch nicht. Zweitens, weil das, was man vom Verursachten und den Ursachen aussagt, nicht deswegen sagt, daß es wegen der Wirkungen den Ursachen innewohnt, vielmehr kommt es umgekehrt den Wirkungen deswegen zu, weil es den Ursachen zukommt. Beispielsweise läßt das Feuer deswegen, weil es warm ist, die Wärme in die Luft einströmen und nicht umgekehrt. Dem­ entspre­chend gilt: Gott läßt deshalb, weil er eine Wissensnatur hat, das Wissen in uns einfließen und eben nicht umgekehrt. Deshalb haben wieder andere Autoren gesagt, daß Wissen und anderes dieser Art Gott in der Weise einer Art Ähnlichkeit des Ver­ hältnisses zugesprochen wird, so wie ihm Zorn oder Barmherzigkeit 15  De hebd., ed. R. Peiper 169, 29; ed. H. F. Stewart  /  E. K. Rand  /  S. J. Tes­ ter, 40; ed. M. Elsässer, 36. 16  Origenes, Comment. in Ep. ad Rom. 10 (PG 14, col 1292). 17  Augustinus, Enarr. in Ps. 43, 20 (CCSL 38, 490); diese Auffassung kritisiert Thomas auch an anderer Stelle: De pot., q.  7, a.  5 [Übers. S. Grotz, 33–45]; vgl. R. Schönberger, Nomina divina, 57–65.

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oder andere derartige Leidenschaften zugesprochen werden. Man nennt nämlich Gott insofern ›zornig‹, als er eine ähnliche Wirkung erzeugt wie ein Zorniger, weil er nämlich straft. Dies ist eine Wir­ kung des Zornigen bei uns, obwohl es die Leidenschaft des Zornes in Gott selbst nicht geben kann. Ähnlich sagen diese Autoren, daß Gott ›wissend‹ genannt wird, weil er eine Wirkung hat, welche der eines Wissenden ähnlich ist. So wie die Werke eines Wissenden aus bestimmten Prinzipien zu bestimmten Endpunkten hervorgehen, so auch die Werke der Natur, die von Gott eingerichtet geschehen, wie aus dem 2. Buch der Physik18 deutlich wird. Doch nach dieser Lehr­ meinung würde Gott ›Wissen‹ im übertragenen Sinne zugesprochen werden wie auch ›Zorn‹ und derartiges – was den Aussagen des Dio­ nysius und anderer heiliger Lehrer widerstreitet. Deswegen muß man es anders darlegen: Das Gott zugesprochene Wissen bezeichnet etwas, das in Gott ist – ähnlich wie auch Leben und Wesen und das übrige von dieser Art. Diese Attribute unter­ scheiden sich nicht hinsichtlich der bezeichneten Sache, sondern nur hinsichtlich der Weise des Verstehens: In Gott ist das Wesen, das Le­ ben und das Wissen und was immer von dieser Art von Gott ausge­ sagt wird, genau dieselbe Sache, doch unser menschlicher Verstand hat verschiedene Begriffe, wenn er sich bei ihm auf Leben, Wissen und derartiges bezieht. Gleichwohl sind diese Begriffe nicht falsch. Ein Begriff u ­ nseres Verstandes ist aufgrund dessen wahr, daß er in einer gewissen Ent­ sprechung die verstandene Sache darstellt; andernfalls wäre er näm­ lich falsch, wenn ihm in der Sache nichts zugrunde läge. U ­ nser Ver­ stand kann nicht auf diejenige Weise, wie er die Geschöpfe darstellt, durch eine Angleichung Gott darstellen. Wenn er nämlich irgendein Geschöpf erkennt, bildet er einen Formbegriff, der das Abbild ­eines Dinges in seiner vollendeten Vollkommenheit ist, und auf diese Weise definiert er die verstandenen Dinge. Doch weil Gott unse­ ren Verstand ins Unendliche übersteigt, vermag die Form, die durch unseren Verstand begriffen wird, nicht das Wesen Gottes vollstän­ 18  Aristoteles, Phys. II, 2; 194 a 21–22: »Wenn aber (feststeht, daß) in der Struktur des menschlichen Hervorbringens die Struktur des Natur­ geschehens wiederkehrt  …« [Übers. H. Wagner].

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dig darzustellen, sondern weist davon nur eine geringfügige Nach­ ahmung auf. So wie wir es bei den Dingen, die außerhalb der Seele sind, vor Augen haben, daß ein jedes Ding in irgendeiner Weise Gott zwar nachahmt, allerdings unvollkommen, daher ahmen auch verschiedene Dinge Gott auf verschiedene Weise nach und stellen in den verschiedenen Formen die einfache Form Gottes dar, weil das, was sich getrennt und vielfältig in den Geschöpfen findet, in jener Form in vollkommener Weise geeint ist, wie auch alle Eigen­ tümlichkeiten der Zahlen in der Einheit auf gewisse Weise vorweg existieren und alle Ämter der Dienstleute in einem Königreich in der Macht des Königs geeint sind. Doch wenn es eine Sache gäbe, die Gott in vollkommener Weise darzustellen vermöchte, so wäre diese nur eine einzige, weil sie ihn auf eine einzige Weise und aufgrund einer Form darstellte, und deshalb ist sie niemand anderes als der eine Sohn, der das vollkommene Bild des Vaters19 ist. In ähnlicher Weise vergegenwärtigt auch unser Verstand die göttliche Vollkom­ menheit mit verschiedenen Begriffen, weil jeder dieser Begriffe un­ vollkommen ist; wären sie nämlich vollkommen, wäre es nur einer, so wie es nur ein Wort des göttlichen Verstandes gibt. Es gibt da­ her mehrere Begriffe in unserem Verstand, daher hat die göttliche Wesenheit einem jedem von ihnen so wie das Ding seinem Bild auf unvollkommene Weise eine Entsprechung, und demzufolge sind alle jene Begriffe des Verstandes wahre Begriffe, obgleich es viele Be­ griffe von nur einer Wirklichkeit sind. Da die Worte nur vermittels des Verstandes die Dinge bezeichnen, wie es im 1. Buch der Schrift Über den Satz20 heißt, deshalb belegt der Verstand eine Sache mit mehreren Ausdrücken entsprechend den verschiedenen Weisen des Erkennens bzw. entsprechend den verschiedenen Begriffen – was dasselbe ist –, obwohl diesen allen etwas in der Sache entspricht.

19  Vgl. Kol. 1, 15: »Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstge­ borene vor aller Schöpfung« [Jerusalemer Bibel]; Augustinus, De trin. VI, 2, 3 (CCSL 50, 230); auf diese Augustinus-Stelle verweist Thomas häufig, etwa: Sent. I, d. 2, q.  1, a.  3. 20  Aristoteles, Peri herm., c.  2; 16 a 3; der Satz wird mehrfach zitiert: q.  1, Anm.  179; q.  4, Anm.  106.

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Zu 1.  Das Wissen steht zu einem Seienden nur dann im Ver­ hältnis der Hinzufügung, wenn der Verstand bei einer Sache ein bestimmtes Wissen und das Wesen der Sache getrennt voneinan­ der erfaßt. Eine Hinzufügung setzt ja eine Unterscheidung voraus. Daher gilt: Da in Gott Wissen und Wesenheit, wie es aus den Dar­ legungen ersichtlich ist, sich nur entsprechend der Weise, wie der Verstand sich darauf bezieht, unterscheiden, verhält sich auch das Wissen in Gott nur entsprechend der Weise des Begreifens als Hin­ zufügung zum Wesen. Zu 2.  Man kann nicht in zutreffender Weise sagen, daß ›Wissen‹ in Gott eine andere Vollkommenheit beinhaltet als ›Wesen‹, sondern vielmehr, daß dieses im Sinne einer anderen Vollkommenheit be­ zeichnet wird entsprechend dem, wie unser Verstand aus verschie­ denen Begriffen, die er von Gott hat, ihm die genannten Ausdrücke zuschreibt. Zu 3.  Da Ausdrücke Zeichen des Verstandenen sind,21 verhält sich ein Ausdruck zum Ganzen einer Sache entsprechend der Weise, wie sich der Verstand beim Erkennen dazu verhält. Unser Verstand ver­ mag nun den Gott als ganzen zu erkennen, aber nicht in vollständi­ ger Weise; den ganzen deswegen, weil es notwendig ist, daß er von ihm entweder das Ganze oder nichts erkennt, da es bei ihm Teil und Ganzes nicht gibt. Doch sage ich »nicht in vollständiger Weise«, weil er Gott nicht vollkommen, nämlich so, wie er in sich selbst erkenn­ bar ist, erkennt. Beispiel: Derjenige, der den Satz: »Die Diagonale ist mit der Seitenlänge inkommensurabel«, als eine Wahrscheinlichkeit erkennt, und zwar deswegen, weil alle Leute dies sagen, erkennt die­ sen Satz nicht vollständig, weil er nicht zum vollkommenen Maß der Erkenntnis gelangt, in der er erkennbar ist, obgleich er ihn doch als ganzen erkennt und keinen Teil davon nicht erkennt. In ähnli­ cher Weise bezeichnen auch die Ausdrücke, die von Gott ausgesagt werden, ihn als ganzen, aber nicht vollständig. Zu 4.  Dasjenige, das in Gott ohne jegliche Unvollkommenheit ist, findet sich in den Geschöpfen mit einem gewissen Mangel. Deswe­ gen ist Folgendes notwendig: Wenn wir etwas, das wir in Geschöp­ fen antreffen, Gott zuschreiben, lösen wir davon alles ab, was mit 21  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  20.

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einer Unvollkommenheit verbunden ist, damit einzig das bleibt, was vollkommen ist, weil das Geschöpf Gott nur in dieser Hinsicht eine Nachahmung ist. Ich behaupte also, daß das Wissen, das sich bei uns Menschen findet, etwas von Vollkommenheit und etwas von Unvollkommenheit hat. Zu seiner Vollkommenheit zählt nämlich seine Gewißheit, weil eben das, was gewußt wird, mit Gewißheit er­ kannt wird. Doch zu seiner Unvollkommenheit gehört die Denkbe­ wegung des Verstandes von den Prinzipien zu den Schlußfolgerun­ gen, die Gegenstand des Wissens sind. Diese diskursive Bewegung vollzieht sich nur, wenn der Verstand, der die Prinzipien erkennt,22 die Schlußfolgerungen erst der Möglichkeit nach erkennt. Wenn er sie nämlich schon wirklich erkennen würde, dann läge dort keine Denkbewegung vor, weil Bewegung nichts anderes ist als der Über­ gang von einer Möglichkeit in eine Wirklichkeit.23 Es wird also von Gott ›Wissen‹ ausgesagt aufgrund der Gewißheit von den gewußten Dingen, nicht aber aufgrund der eben genannten Denkbewegung, die sich, wie Dionysius sagt, auch schon bei den Engeln nicht findet. Zu 5.  Obwohl es in Gott, wenn man die Art der Erkenntnis ins Auge faßt, bei der Erkenntnis kein Mehr oder Weniger gibt, weil er in ein und demselben Blick alles sieht, erkennt Gott doch gleichwohl Dinge, die in sich selbst in höherem Maße erkennbar sind, und sol­ che, die dies in geringerem Maße sind. Ein Beispiel: Gott ist von al­ lem sein eigenes Wesen am meisten erkennbar, freilich nicht in ­einer Bewegung des Denkens, da er zugleich damit, daß er sein Wesen anschaut, alles sieht. Daher ist auch im Hinblick auf diese Ordnung, die im göttlichen Erkennen liegt, in Bezug auf das Erkannte auch in Gott der Begriff des Wissens erfüllt. Insbesondere erkennt er alles durch deren Ursache. Zu 6.  Jener Satz des Algazali ist im Hinblick auf unser mensch­ liches Wissen zu verstehen, das wir dadurch in uns erlangen, daß 22  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 6; 1141 a 7–8; vgl. q.  2, Anm.  3. 23  In seinem späteren Physik-Kommentar weist Thomas eine Bestim­

mung der Bewegung zurück, die diese als exitus de potentia in actum non subito (als kontinuierlichen Herausgang aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit) bestimmt, weil exitus, Herausgang, ja selbst bereits eine Art von Bewegung ist: In Phys. III, 2 (ed. M. Maggiòlo, nr.  284).

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die Dinge ihre Abbilder in unsere Seelen eindrücken. Doch bei der göttlichen Erkenntnis ist es umgekehrt, weil aus seinem Verstand die Formen in alle Geschöpfe fließen. Daher gilt: So wie das Wissen in uns die Siegelung der Dinge in unseren Seelen ist, so sind umge­ kehrt die Formen der Dinge nichts anderes als eine Art Siegelung des göttlichen Wissens in den Dingen. Zu 7.  Das Wissen, das in Gott gesetzt wird, hat nicht die Art eines Habitus, sondern die eines tätigen Vollzugs, weil Gott selbst alles immer in tätigem Vollzug weiß. Zu 8.  Von einer wirkenden Ursache geht nur nach Maßgabe ih­ rer Verfassung die Wirkung hervor, und deshalb folgt jede Wirkung, die durch ein Wissen erfolgt, der Bestimmung des Wissens, die de­ ren Verfassung begrenzt. Daher gehen die Dinge, deren Ursache das Wissen Gottes ist, nur dann hervor, wenn es von Gott bestimmt ist, daß sie hervorgehen. Deshalb ist es nicht notwendig, daß die Dinge von Ewigkeit her sind, obgleich das Wissen Gottes von Ewigkeit her in Wirklichkeit gewesen ist. Zu 9.  Man sagt unter der Bedingung vom Verstand, daß er von etwas weiß, was es ist, wenn er es definiert, d. h., wenn er die Form der Sache24 begreift,25 die in allen Teilen diesem Ding entspricht. Aus den Darlegungen wird bereits ersichtlich, daß, was immer un­ ser Verstand von Gott erkennt, in seiner Darstellung mangelhaft ist. Deshalb bleibt, was Gott selbst angehört, uns immer verborgen.26 Die höchste Erkenntnis, die wir im Stande der Pilgerschaft haben können, besteht darin, daß wir erkennen, daß Gott über allem ist, was wir von ihm erkennen, wie aus Dionysius im 1. Kapitel seiner Schrift Über die mystische Theologie27 ersichtlich wird. Zu 10.  Von Gott zu sagen, daß er »jede Form unseres Verstandes fliehe«, heißt nicht, daß ihn nicht irgendeine Form unseres Verstan­ 24  Formam de ipsa re concipit, nicht: formam rei concipit. 25  Vgl. De ver., q.  4, Anm.  55. 26  1 Kor. 2, 10: »Denn der Geist erforscht alles, sogar die Tiefen Got­

tes«; Thomas versteht diese Stelle genau im hier gemeinten Sinne: In 1 Cor. 2, 2 (ed. R. Cai, nr. 102). 27  Dionysius Areopagita, De myst. theol., c.  3 (PG 3, 1001 A; Dion. I, 577).

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des in gewisser Weise darstellt, sondern nur, daß ihn keine Form in vollkommener Weise darstellt. Zu 11.  »Der Begriff, den ein Ausdruck bezeichnet, ist die Defini­ tion«, wie es im 4. Buch der Metaphysik28 heißt. Deshalb ist dasje­ nige die eigentliche Bezeichnung einer Sache, deren Bedeutung die Definition ist. Da nun, wie schon gesagt, kein Begriff, der von einem Ausdruck bezeichnet wird, Gott selbst definiert, ist kein von uns mit einer Bedeutung versehener Ausdruck im eigentlichen Sinne ein Ausdruck für Gott, sondern im eigentlichen Sinne ein Ausdruck für ein Geschöpf, das durch den mit dem Ausdruck bezeichneten Begriff definiert wird. Gleichwohl werden jene Ausdrücke, die Ausdrücke für die Geschöpfe sind, Gott zugesprochen, sofern in den Geschöp­ fen dessen Urbild auf eine gewisse Weise zur Darstellung kommt. Zu 12.  Das Wissen, das Gott zugesprochen wird, ist keine Qua­ lität; und außerdem: Die Qualität, die zu einer Quantität hinzutritt, ist eine körperliche Qualität und keine geistige Qualität, wie sie das Wissen ausmacht. 2. Artik el Die zweite Frage lautet: Hat Gott von sich selbst eine Erkenntnis bzw. ein Wissen?29 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Der Wissende bezieht sich nämlich entsprechend seinem Wis­ sen auf das Gewußte. Doch wie Boethius in seinem Buch Über die Trinität30 sagt: »Die Wesenheit umfaßt in Gott die Einheit, die Re­ lation vervielfältigt sie zur Trinität«, nämlich der Personen. Also ist es notwendig, daß in Gott das Gewußte bezogen auf eine Person vom Wissenden unterschieden ist. Allerdings läßt die Unterschei­ dung der Personen in Gott keine wechselseitige Aussage zu; man 28  Aristoteles, Met. IV, 7; 1012 a 23–24: »denn die Formel (der Satz), der für das Wort ein Zeichen ist, wird die Definition sein« [Übers. Th. A. Szlezák]; »denn der Begriff, dessen Zeichen das Wort ist, wird zur festen Bestimmung« [Übers. H. Bonitz]. 29  Paralleltexte: Sum theol. I, q.  14, a.  2; In Met. XII, 11; In De causis, prop. 13; Comp. theol. I, 30 (ed. Leon. XLII, 91); ScG I, 48. 30  Boethius, De trin., c.  6 (PL 64, col. 1255 A; ed. H. F. Stewart / E. K. Rand / S. J. Tester, 28 f.; ed. M. Elsässer, 24).

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sagt nicht vom Vater, daß er sich selbst gezeugt hat, weil er den Sohn gezeugt hat; daher darf man bei Gott nicht einräumen, daß er sich selbst erkennt. 2. Im Buch von den Ursachen heißt es: »Jeder Wissende, der sein Wissen weiß, kehrt zu seinem Wesen in einer vollständigen Rück­ wendung zurück.«31 Gott freilich kehrt nicht zu seinem Wesen zu­ rück, weil er niemals von seinem Wesen ausgegangen ist und es eben dort keine Rückkehr geben kann, wo kein Weggang vorausge­ gangen ist. Also erkennt Gott nicht sein Wesen, und demzufolge hat er von sich selbst kein Wissen. 3.  Wissen ist die Angleichung des Wissenden an die gewußte Sa­ che.32 Nun ist freilich nichts sich selbst ähnlich, weil, wie Hilarius sagt, »eine Ähnlichkeit sich nicht auf sich selbst bezieht«33. Also er­ kennt Gott nicht sich selbst. 4.  Wissen kann es nur vom Allgemeinen geben.34 Nun ist aber Gott selbst kein Allgemeines, weil alles Allgemeine nur durch Ab­ straktion zustande kommt, es von Gott aber, da er von höchster Ein­ fachheit ist, keine Abstraktion geben kann. Also erkennt Gott nicht sich selbst. 5.  Wenn Gott von sich selbst ein Wissen hätte, würde er sich er­ kennen, da Erkennen einfacher als Wissen ist und es daher Gott mit höherem Recht zuzuschreiben wäre. Aber Gott erkennt sich nicht, also weiß er sich auch nicht. Augustinus sagt im Buch Über 83 ver­ schiedene Fragen, bei der Frage 16: »Alles, was sich erkennt, begreift sich.«35 Es kann allerdings nichts begriffen werden, was nicht end­ 31  Liber de causis, prop. 14 [15]; n. 124 (ed. A. Schönfeld, 30). 32  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 10–11: »[…] da ihr Erkennt­

nisvermögen auf einer Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit ihren Gegen­ ständen beruht« [Übers. D. Frede]; vgl. Thomas v. Aquin, In Eth. VI, 1 (ed. Leon. XLVII/1, 335, 124–135; die frühere Literatur zitiert nach: ed. R. M. Spiazzi, nr. 1117). 33  Hilarius v. Poitiers, De trin. III, 23 (CCSL 62, 96). 34  Vgl. Der ver., q.  2, Anm.  110. 35  Tatsächlich: Augustinus, De div. qu. 83, q.  15 (CCSL 44 A, 21). Das lateinische Wort comprehendere hat zumindest zwei Bedeutungen: um­ fassen und begreifen. Schon bei Augustinus und dann in der mittelalter­ lichen Tradition wird aber auch das Begreifen als ein Umfassen verstanden,

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lich ist, wie aus Augustinus an derselben Stelle hervorgeht. Also erkennt Gott sich nicht. 6. Augustinus argumentiert an dieser Stelle folgendermaßen: »Auch unser Verstand will nicht unendlich sein, obwohl er es sein könnte, weil er sich selbst bekannt sein will.«36 Daraus ist zu entneh­ men, daß jenes, das für sich selbst zugänglich sein will, nicht will, daß es unendlich ist. Gott will nun aber, daß er unendlich ist, da er unendlich ist. Wenn er nämlich etwas wäre, was er nicht sein will, wäre er nicht im höchsten Maße glückselig. Also will er sich selbst nicht bekannt sein, und also erkennt er sich nicht. 7.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Obwohl Gott schlecht­ hin unendlich ist und auch will, daß er schlechthin unendlich ist, so ist er dennoch nicht im Verhältnis zu sich selbst unendlich, sondern endlich, und demzufolge will er auch nicht unendlich sein. – Doch dem steht wiederum das entgegen, was im 3. Buch der Physik 37 ge­ weil im Begreifen im Unterschied zu anderen Weisen des Erfassens die Vollständigkeit der Erfassung mitgedacht wird. Quandocumque id videtur, quod praesens utcumque sentitur: totum autem comprehenditur videndo. Quod ita videtur ut nihil eius lateat videntem, aut cuius fines circums­ pici possunt: Augustinus, Ep. 147, 9, 21 (CSEL 44, 295); Thomas v. Aquin, Sum. theol. I, q.  12, a.  7: Illud comprehenditur quod perfecte cognoscitur: perfecte autem cognoscitur quod tantum cognoscitur quantums est co­ gnoscibile; In Ioh. ev. I, 11 (ed. R. Cai, nr. 211): Omne quod comprehen­ ditur a finito, est finitum; Sent. I, d. 3, q.  1, a.  1, ad 4 (ed. P. Mandonnet, I, 92): Infinitum negative dicitur […] et hoc est […] perfectissimum; non valens ab intellecto creato comprehendi, sed tantum attingi; Deus a bea­ tis mente attingitur totus, non tamen totaliter. De pot., q.  7, a.  1, ad 2; Augustinus, Sermo 117, 3, 4 (PL 38, col. 663): Attingere aliquantum mente Deum, magna beatitudo est: comprehendere autem, omnino impossibile. Platon, Symp. 212 a; Thomas v. Aquin, In De div. nom. I, 1 (ed. C. Pera, nr.  22): nam a beatis quidem mente attingitur divina essentia, non autem comprehenditur [»Denn von den Seligen wird das göttliche Wesen mit dem Geist berührt, aber nicht begriffen«]; Descartes schreibt in ähnlichem Zusammenhang, Brief an Mersenne (?), 27. Mai 1630 (?) (AT I, 152): »mais pour savoir une chose, il suffit de la toucher de la pensée«; vgl. Med., V. Resp. (AT IX, 210); ähnlich Goethe, Brief an Stolberg (Konzept), 26. 10. 1775 (Sämtl. Werke, II/1, hg. v. W. Groß, Frankfurt a. M. 1997, 486). 36  Tatsächlich: Augustinus, De div. qu. 83, q.  15 (CCSL 44 A, 21). 37  Aristoteles, Phys. III, 4; 204 a 3–4: »In einer ersten Bedeutung heißt

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sagt ist: ›Unendlich‹ heißt etwas, insofern es sich nicht durchschrei­ ten läßt, und ›endlich‹, sofern es sich durchschreiten läßt. Doch kann man, wie dies im 6. Buch der Physik 38 bewiesen worden ist, das Un­ endliche nicht durchschreiten, und zwar weder ein Endliches noch ein Unendliches. Also kann Gott, obwohl er unendlich ist, nicht für sich selbst endlich sein. 8.  Dasjenige, was für Gott gut ist, ist für sich genommen gut. Also ist auch das, was für Gott endlich ist, für sich genommen end­ lich. Nun ist aber für Gott nichts einfachhin endlich, also ist er auch nicht für sich selbst endlich. 9.  Gott erkennt sich nur in der Weise, wie er sich auf sich bezieht.39 Wenn er also im Verhältnis zu sich endlich wäre, dann würde er sich in endlicher Weise erkennen. Nun ist er aber nicht endlich. Also erkennt er sich anders, als er ist, und daher hat er von sich selbst eine falsche Erkenntnis. 10.  Bei denjenigen, die Gott erkennen, erkennt der eine insofern in höherem Maße als ein anderer, als der eine die Art der Erkenntnis des anderen überragt. Aber Gott erkennt sich in unendlich höherem Maße als irgendein anderer, der ihn erkennt. Also ist die Art, in der er sich erkennt, unendlich. Also erkennt er sich auf eine unendliche Weise, und demzufolge ist er im Verhältnis zu sich nicht endlich. 11.  Augustinus beweist in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen, daß nicht der eine eine Sache besser als ein anderer erken­ nen kann, auf folgende Weise: »Wer immer irgendeine Sache anders erkennt, als sie ist, täuscht sich; und jeder, der sich täuscht, hat von dem, worin er einer Täuschung unterliegt, keine Erkenntnis. Wer immer also eine Sache anders, als sie ist, ›erkennt‹, erkennt sie nicht. Es kann nämlich etwas nicht anders erkannt werden, als es ist.«40 Also gilt: Wenn eine Sache auf eine bestimmte Weise ist, wird sie unendlich dasjenige, das man deswegen nicht durchlaufen kann, weil es prinzipiell nicht durchlaufbar ist« [Übers. H. Wagner]; vgl. De ver., q.  2, Anm.  188. 38  Aristoteles, Phys. VI, 7; 237 b 23–34. 39  Comparari kann sowohl allgemein bedeuten: im Verhältnis stehen, aber auch den Akt des In-Beziehung-Setzens; es kann aber auch ein be­ sonderes Verhältnis, das der Gleichrangigkeit, der Gleichstellung meinen. 40  Augustinus, De div. qu. 83, q.  32 (CCSL 44 A, 46).

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von allen auf eine bestimmte Weise erkannt; und deshalb erkennt niemals der eine ein Ding besser als ein anderer. Wenn Gott sich also erkennen würde, würde er sich nicht mehr erkennen als die an­ deren, die ihn erkennen, und demzufolge käme das Geschöpf dem Schöpfer gleich – was widersinnig ist. Dagegen spricht das, was Dionysius im 7. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen sagt, daß nämlich »die göttliche Weisheit, indem sie sich selbst erkennt, alles andere erkennt«.41 Also erkennt Gott vor allem sich selbst. Antwort: Wenn man sagt, daß etwas sich selbst erkennt, dann sagt man von diesem, daß es erkennt und daß es erkannt wird. Daher ist es für die Untersuchung, in welcher Weise Gott sich selbst erkennt, notwendig zu sehen, aufgrund welcher Wesensbeschaffenheit etwas erkennend und erkannt ist. Man muß nun also wissen, daß sich eine Sache in zweifacher Weise als vollkommen zeigt: Einmal im Sinne der Vollkommenheit ihres Seins, das ihr gemäß ihrer Artbestimmung zukommt. Doch weil das spezifische Sein einer Sache vom spezifischen Sein einer anderen Sache verschieden ist, deshalb fehlt in jeder erschaffenen Sache von der gesamten Vollkommenheit so viel an Vollkommen­ heit, wieviel an Vollkommenheit sich in den anderen Arten findet, so daß die Vollkommenheit einer jeden Sache für sich selbst betrach­ tet unvollkommen im Sinne eines bloßen Teils der Vollkommenheit des gesamten Universums ist, die aus den Vollkommenheiten der einzelnen Dinge zusammengenommen gebildet ist. Daher gilt: Damit es für diese Art von Unvollkommenheit eine Abhilfe gibt, findet sich eine andere Weise von Vollkommenheit in den geschaffenen Dingen in dem Sinne, daß die Vollkommenheit, die einem jeden Ding eigentümlich ist, auch in einem anderen Ding 41  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869; Dion. I, 398). Übers. E. Stein: »Wenn also die göttliche Weisheit sich selbst kennt, wird sie alles kennen« (ESGA XVII, 136).

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angetroffen wird. Eben dies ist die Vollkommenheit des Erkennen­ den, sofern es erkennend ist, weil etwas in diesem Sinne erkannt wird, daß das Erkannte auf eine gewisse Weise beim Erkannten ist. Deshalb heißt es im 3. Buch der Schrift Über die Seele, daß »die Seele in gewisser Weise alles ist«42, weil sie darauf angelegt ist, al­ les zu erkennen. In diesem Sinne ist es möglich, daß in einem Ding die Vollkommenheit der gesamten Welt existiert. Daher liegt darin die höchste Vollkommenheit, zu der die Seele den Philosophen zu­ folge zu gelangen vermag, daß sich in ihr die gesamte Ordnung des Weltalls und seiner Ursachen abzeichne,43 worin sie auch das letzte Ziel des Menschen legten, welches freilich nach unserer Lehre in der Anschauung Gottes liegen wird, weil nach Gregor dem Großen gilt: »Was wäre denn das, was diejenigen nicht sehen, die den sehen, der alles sieht.«44 Die Vollkommenheit eines Dinges kann sich nun aber in einem anderen nicht entsprechend dem begrenzten Sein befinden, welches es in jenem Ding hat. Deshalb gilt: Dazu, daß es in einem anderen ist, ist es erforderlich, es ohne dasjenige zu denken, was darauf an­ gelegt ist, es zu begrenzen. Da die Formen und Vollkommenheiten der Dinge durch die Materie begrenzt werden, hat dies zur Folge, daß etwas aufgrund dessen erkennbar ist, daß es von der Materie ge­ trennt wird. Daher ist es notwendig, daß auch dasjenige, in dem die Vollkommenheit einer solchen Sache aufgenommen wird, immate­ riell sei. Wenn es nämlich materiell wäre, würde die aufgenommene Vollkommenheit in ihm in der Weise eines begrenzten Seins sein, und daher wäre es in ihm nicht so, wie es erkennbar ist, nämlich als eine Vollkommenheit, das in dem einen Ding darauf angelegt ist, in einem anderen zu sein. Darin liegt der Grund, warum die alten45 Philosophen geirrt ha­ ben, die nämlich behauptet haben, Ähnliches werde durch Ähnli­ 42  Aristoteles, De an. III, 8; 431 b 21. 43  Ähnlich auch in De ver., q.  2, a.  2 (ed. Leon. XXII, 44, 126–129); q.  20,

a.  3 (ed. Leon. XXII, 578, 79–83). Die Übersetzung von describat entnehme ich H. Deku, Einiges über Wahrheit, in: GS I, 149–159; hier S. 151. 44  Gregor der Große, Dialogi IV, 34, 5 (SC 265, 116). 45  Vgl. De ver., q.  1, Anm.  41.

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ches erkannt.46 Damit haben sie gemeint, daß die Seele, die alles er­ kennt, auch aus allem gebildet worden sei, so daß die Erde die Erde erkennt, das Wasser das Wasser und entsprechend auch das andere. Sie waren nämlich der Meinung, daß die Vollkommenheit der er­ kannten Sache im Erkennenden in der Weise sein muß, wie es ein begrenztes Sein in seiner eigenen Wesensnatur habe; die Form des erkannten Dinges wird jedoch nicht in dieser Weise im Erkennen­ den aufgenommen, daher sagt auch Averroes47 in seinem Kommen­ tar zum 3. Buch zur Schrift des Aristoteles Über die Seele, daß die Seinsweise derjenigen Aufnahme, in der die Formen im aufneh­ menden Verstand und in der ersten Materie aufgenommen wird, nicht dieselbe ist, weil es notwendig ist, daß im erkennenden Ver­ stand etwas auf eine immaterielle Weise aufgenommen wird. Daher ­sehen wir, daß die Natur der Erkenntnis entsprechend dem Maß der Rangstufe der Immaterialität in den Dingen vorliegt: Die Pflanzen nämlich und anderes, das sich in der niedrigen Wirklichkeit findet, vermögen nichts auf immaterielle Weise aufzunehmen, und deshalb fehlt es bei ihnen gänzlich an Erkenntnis, wie aus dem 2. Buch der Schrift Über die Seele48 ersichtlich wird. Der Sinn jedoch nimmt ein Erkenntnisbild ohne Materie auf, freilich zusammen mit den durch die Materie bedingten Beschaffenheiten. Der Verstand hin­ gegen empfängt die Erkenntnisbilder in der Weise, daß sie auch von den materiellen Bestimmungen bereinigt sind. In ähnlicher Weise besteht auch eine Rangordnung in den Er­ kenntnisgegenständen: Die materiellen Dinge sind, wie Averroes49 sagt, nur insofern erkennbar, als wir sie erkennbar machen; sie sind nämlich nur der Möglichkeit nach erkennbar, doch der Wirklichkeit nach werden sie erkennbar durch das Licht des tätigen Verstandes, so wie ja auch die Farben durch das Licht der Sonne wirklich sicht­ bar werden.50 Doch die immateriellen Dinge sind durch sich selbst 46  Vgl. Aristoteles, De an. I, 2; 405 b 14–17; 404 b 16–18. 47  Averroes, In De an. III, comm. 5 (ed. F. S. Crawford, 387 f.). 48  Aristoteles, De an. II, 12; 424 a 32–33. 49  Averroes, In De an. III, comm. 18 (ed. F. S. Crawford, 437); In Met.  II,

comm. 1 (VIII, 29 B). 50  Vgl. Aristoteles, De an. III, 5; 430 a 16–17: »Denn in gewisser Weise

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erkennbar, daher sind sie ihrer Wesensnatur nach in höherem Maß bekannt, obgleich sie uns weniger bekannt sind. Da nun also Gott, weil er von jeglichem Möglichsein vollständig frei ist, das Höchstmaß an Sonderung von der Materie zukommt, er­ gibt sich, daß er im höchsten Maße erkennend ist und im höchsten Maße erkennbar ist. Daher gilt: Gottes Wesensnatur kommt auf­ grund dessen, daß sie wirklich Sein hat, auch der Charakter der Er­ kennbarkeit zu. Da Gott in dem Maße ist, wie seine Natur die seine ist, erkennt er auch, daß seine Wesensnatur für ihn im höchsten Maße erkenntnisfähig ist. Daher sagt Avicenna im 8. Buch seiner Metaphy­ sik, daß »er derjenige ist, der sich selbst erkennt und erfaßt aufgrund dessen, daß sein Wesen beraubt ist« – nämlich der Materie – »es die Wirklichkeit ist, die er selbst ist«.51 Zu 1.  Die Dreieinigkeit der Personen erhält ihre Vielfalt in Gott durch die Relationen, die in Gott wirklich sind, nämlich die Relatio­ nen des Ursprungs; doch die Relation, die nur mitbezeichnet wird, wenn man sagt, daß Gott ein Wissen von sich selbst hat, ist keine reale Relation, sondern nur eine gedachte. Wann immer sich das­ selbe auf sich selbst bezieht, handelt es sich bei einer solchen Rela­ tion nicht um eine in der Sache, sondern nur im Denken – und zwar deshalb, weil eine reale Relation zwei Pole benötigt. Zu 2.  Diese Redeweise, in der man sagt, daß derjenige, der ein Wissen von sich selbst hat, »zu sich selbst zurückkehrt«, ist eine me­ taphorische. Im Erkennen liegt keine Bewegung, wie im 7. Buch der Physik 52 bewiesen wird. Daher gibt es darin auch eigentlich gespro­ chen keinen Rückzug bzw. keine Rückkehr, vielmehr sagt man inso­ fern, dort sei ›Hervorgang‹ bzw. ›Bewegung‹, als man von dem einen Erkannten zu einem anderen gelangt. Bei uns Menschen geschieht wirkt auch das Licht die Farben der Möglichkeit nach zu Farben in Wirk­ lichkeit« [Übers. Th. Buchheim]. 51  Vgl. Avicenna, Philos. prima VIII, 6 (ed. S. Van Riet, 414). 52  Aristoteles, Phys. VII, 6; 247 a 28–29: »Aber auch im Bereich der Denksphäre der Seele gibt es keine Qualitätsveränderung« [Übers. H. Wagner, Zweite Fassung]; 249 b 1–2: »Ebensowenig auch sind die Zustands­ arten der Denksphäre (der Seele) Veränderungen und es gibt kein Entste­ hen derselben« [Übers. H. Wagner, Erste Fassung].

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es durch eine Denkbewegung, insofern sich in unserer Seele, wenn sie sich selbst erkennt, ein Hervorgang und eine Rückkehr vollzieht: Zuerst bezieht sich der Akt, der von ihr ausgeht, auf den Gegenstand, sodann bezieht er sich auf den Akt und zuletzt auf das Vermögen und das Wesen, sofern die Akte aus den Gegen­ ständen und die Vermögen aus den Akten erkannt werden.53 Doch beim Erkennen Gottes liegt, wie schon zuvor gesagt,54 keine Denk­ bewegung in dem Sinne vor, daß er von etwas ihm bereits Bekann­ tem zu etwas ihm noch Unbekanntem gelangte. Nichtsdestoweni­ ger findet sich darin eine Kreisbewegung auf seiten der erkennba­ ren Dinge, wenn nämlich Gott, der seine eigene Wesenheit erkennt, darin andere Dinge erkennt, in denen er wieder die Ähnlichkeit mit seinem Wesen schaut. In diesem Sinne kehrt er in gewisser Weise zu seiner Wesenheit zurück, nicht in dem Sinne, daß er seine We­ senheit durch andere Dinge erkennt, wie dies im Falle unserer Seele geschieht. Doch muß man wissen, daß die Rückkehr zu seinem We­ sen im Buch von den Ursachen55 nichts anderes bedeutet als den Bestand eines Dinges in sich selbst. Die Formen nämlich, die in sich keinen Bestand haben, sondern in anderen Dingen ausgebreitet sind und sind durchaus nicht auf sich selbst bezogen,56 diejenigen Formen hingegen, die in sich selbst Bestand haben, werden in der Weise auf andere ausgebreitet, daß sie diese zur Vollkommenheit bringen oder bei diesen bewirken, daß sie in sich selbst Bestand haben. In diesem Sinne kommt Gott in höchstem Maße auf sein Wesen zurück, weil er alles vorhersieht und in diesem Sinne gleichsam auf anderes aus­ 53  Vgl. Aristoteles, De an. II, 4; 415 a 16–21; Thomas v. Aquin, In De an. II, 6 (ed. Leon. XLV/1, 94, 173–190; [die frühere Literatur zitiert nach: ed. A. M. Pirotta, nr. 308]). 54  Vgl. De ver., q.  2, a.  1, ad 4 (S. 91 f.). 55  Liber de causis, prop. 14 (15) (ed. A. Schönfeld, 30–32). In seinem viel später geschriebenen Kommentar zu diesem Werk geht Thomas bei diesem Lehrsatz nicht auf die Metaphorik ein, statt dessen zum einen auf die Beziehung zur herangezogenen Quelle – Proklos’ Elementatio theolo­ gica – und zum anderen auf die strukturelle Selbstbeziehung, die das Gei­ stige vom Materiellen grundsätzlich unterscheidet: In De causis, prop.  15 (ed. H.  D. Saffrey, 88–92). 56  E. Stein: »nicht auf sich selbst gesammelt«.

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geht und in sich selbst hervorgeht und dabei unbeweglich und mit anderem unvermischt verbleibt. Zu 3.  Die Ähnlichkeit, die eine reale Relation ist, erfordert eine Unterscheidung der Dinge, doch für das, was nur eine gedachte Re­ lation ist, genügt bei dem, was einander ähnlich ist, eine im Denken getroffene Unterscheidung. Zu 4.  Das Allgemeine ist insofern erkennbar, als es von der Ma­ terie getrennt ist. Daher sind diejenigen Dinge, die nicht durch die Tätigkeit unseres Verstandes von der Materie getrennt sind, sondern durch sich selbst von jeder Materie frei sind, in höchstem Maße er­ kennbar, und in diesem Sinne ist Gott in höchstem Maße erkennbar, obgleich er nichts Allgemeines ist. Zu 5.  Gott hat ein Wissen von sich, erkennt sich und begreift sich, obwohl er schlechthin gesprochen unendlich ist. Er ist nämlich nicht im privativen Sinne unendlich; in diesem Sinne kommt nämlich der Begriff des Unendlichen mit der Quantität überein. Diese hat einen Teil nach einem anderen Teil und so ins Un­ endliche, daher gilt: Wenn dieses im Hinblick auf den Charakter sei­ ner Unendlichkeit erkannt werden soll, so kann es auf keine Weise begriffen werden, weil damit nie ans Ende zu kommen wäre, da es eben gar kein Ende hat. Gott wird hingegen im negativen Sinne ›unendlich‹ genannt, weil nämlich sein Wesen nicht durch irgend etwas begrenzt wird. Jede Form, die in etwas aufgenommen wird, wird entsprechend der Seinsweise des Aufnehmenden begrenzt; da­ her gilt: Wenn das göttliche Sein nicht in etwas aufgenommen ist, weil Gott selbst sein Sein ist, ist aufgrund dessen sein Sein nicht begrenzt und insofern wird sein Wesen ›unendlich‹ genannt. Da in ­jedem geschaffenen Verstand die Erkenntniskraft endlich ist, weil sie in etwas aufgenommen ist, vermag unser Verstand nicht dahin zu gelangen, Gott so klar zu erkennen, wie er erkennbar ist, und demgemäß vermag er ihn nicht zu begreifen, weil er nicht an das Ende der Erkenntnis bei ihm gelangte – und eben darin besteht, wie oben gesagt,57 das Begreifen. Doch da in demselben Sinne, in dem das göttliche Wesen unendlich ist, auch die Erkenntniskraft unend­ lich ist, ist seine Erkenntnis in dem Maße wirksam, wie sie sein 57  Vgl. De ver., q.  2, a.  1, ad 3 (S. 91); vgl. De ver., 2, Anm.  35.

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Wesen ist, und deshalb gelangt Gott zur vollkommenen Erkenntnis seiner selbst, und in diesem Sinne sagt man von ihm, daß er sich begreift, nicht weil durch ein derartiges Begreifen dem Erkannten irgendein Ende festgesetzt würde, sondern wegen der Vollkommen­ heit der Erkenntnis, die in keiner Hinsicht einen Mangel aufweist. Zu 6.  Da unser Verstand seiner Wesensnatur nach endlich ist, vermag er etwas Unendliches nicht zu begreifen bzw. in vollkomme­ ner Weise zu erkennen. Deshalb verfährt das Argument des Augu­ stinus unter der Voraussetzung dieser Wesensnatur. Die Wesens­ natur des göttlichen Verstandes ist jedoch eine andere, und deshalb folgt aus der Begründung nicht die These. Zu 7.  Wenn man auf den buchstäblichen Sinn des Wortes abhebt, ist Gott eigentlich gesprochen weder im Verhältnis zu sich selbst noch im Verhältnis zu anderem endlich, sondern heißt nur insofern ›für sich endlich‹, als er auf diese Weise durch sich selbst erkannt wird, wie etwas Endliches von einem endlichen Verstand. Wie näm­ lich ein endlicher Verstand bei einer endlichen Sache an das Ende der Erkenntnis kommen kann, so gelangt Gottes Verstand an das Ende der Erkenntnis seiner selbst. Jener Begriff des Unendlichen, in dem man es ›undurchschreitbar‹ nennt, gilt vom Unendlichen im priva­ tiven Sinne, was hier nichts zur Sache tut. Zu 8.  Wenn man bei dem, was zu einer Vollkommenheit gehört, eine Quantität bezeichnet, ergibt sich die Folgerung: Wenn etwas im Verhältnis zu Gott von einer bestimmten Art ist, ist es auch für sich genommen von dieser Art; als Beispiel: Wenn etwas im Verhältnis zu Gott groß ist, daß es auch für sich genommen groß ist. Doch bei denjenigen Dingen, die zum Unvollkommenen gehören, folgt dies nicht. Es folgt nämlich nicht: Wenn etwas im Verhältnis zu Gott klein ist, ist es für sich genommen klein, weil alles im Ver­ hältnis zu Gott nichts ist und dennoch nicht überhaupt nichts ist. Daher gilt: Was im Verhältnis zu Gott gut ist, ist für sich genommen gut; doch bei dem, was im Verhältnis zu Gott endlich ist, folgt nicht, daß es für sich genommen endlich ist, da das Endliche zu einer gewissen Unvollkommenheit gehört, das Gute hingegen zum Vollkommenen. In beiden Fällen ist etwas dennoch überhaupt von einer bestimmten Art, was sich entsprechend dem göttlichen Urteil als ein solches erweist.

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Zu 9.  Wenn man sagt: »Gott erkennt in endlicher Weise sich selbst«, so läßt sich dies in zweifacher Weise verstehen: Einmal in dem Sinn, daß sich diese Weise auf die erkannte Sache bezieht, wenn er sich nämlich als endlich erkennt, und so verstanden ist es falsch, weil dann seine Erkenntnis falsch wäre. In einem anderen Sinne , daß sich dieses ›endlich‹ auf den Er­ kennenden bezieht; und in dieser Weise läßt es sich wiederum zwei­ fach verstehen: einmal so, daß das ›endlich‹ nichts anderes als ›voll­ kommen‹ meint,58 so wie wenn man ›auf endliche Weise‹ erkennen aussagt, weil man an das Ende der Erkenntnis gelangt, und in die­ sem Sinne erkennt Gott auf endliche Weise sich selbst; im anderen Sinne, daß das ›endlich‹ zur Wirkkraft der Erkenntnis gehört, und in diesem Sinne erkennt Gott sich selbst in unendlicher Weise, weil seine Erkenntnis unendlich stark ist. Daraus, daß er für sich selbst ›endlich‹ in dem zuvor genannten Sinne ist, läßt sich nun aber nicht schließen, daß er sich in endlicher Weise erkennt – außer eben in dem Sinne, von dem dargelegt worden ist, daß er zutreffend ist. Zu 10.  Dieses Argument verfährt in dem Sinne, in dem der Be­ griff ›endlich‹ sich auf die Leistungskraft der Erkenntnis bezieht. In diesem Sinne ist es offenkundig, daß er sich selbst nicht auf eine endliche Weise erkennt. Zu 11.  Wenn wir davon sprechen, daß der eine mehr als der an­ dere erkennt, so kann man dies in zweifachem Sinne verstehen: ein­ mal so, daß das ›mehr‹ zum Maß der erkannten Sache gehört, und in diesem Sinne erkennt kein Geistwesen mehr als ein anderes von einer erkannten Sache, sofern sie erkannt ist; wer immer nämlich einem Ding mehr oder weniger zuschreibt, als dieses seiner We­ sensnatur nach hat, irrt sich und erkennt eben nicht. Im anderen Sinne kann man es beziehen auf das Maß der Erkenntnis, und in diesem Sinne erkennt einer mehr als ein anderer, insofern er mit größerer Einsicht erfaßt, so wie der Engel im Verhältnis zum Menschen und Gott im Verhältnis zum Engel, und dies wegen der mächtigeren Kraft des Erkennens. In ähnlicher Weise muß man auch dasjenige unterscheiden, was zum Beweis angeführt worden ist, nämlich die Sache anders erkennen, als sie in Wahrheit ist. Wenn 58  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  189.

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nämlich der Ausdruck ›anders‹ die Seinsart der erkannten Sache ist, dann erkennt kein Erkennender die Sache anders, als sie ist, weil dies hieße, daß die Sache anders ist, als sie ist. Wenn es aber eine Seinsart des Erkennenden ist, dann erkennt in diesem Sinne jeglicher Erken­ nende ein materielles Ding anders, als es ist, das auf eine materielle Weise Sein hat, aber nur auf immaterielle Weise erkannt wird.

3. Artik el Die dritte Frage lautet: Erkennt Gott anderes außer sich?59 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Das Erkannte ist die Vollkommenheit des Erkennenden. Bei Gott kann jedoch nicht ein Anderes seine Vollkommenheit sein, weil dann etwas vorzüglicher als er selbst wäre. Also kann von ihm nichts als er selbst erkannt werden. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Was Gott erkennt, ist mit ihm eins. – Doch dem steht wiederum entgegen: Das Geschöpf ist nicht eins mit Gott, es sei denn insofern, als es in ihm ist. Wenn also Gott das Geschöpf nur insofern erkennt, als es eins mit ihm ist, erkennt er das Geschöpf nur insofern, als es in ihm ist. Also erkennt er dieses nicht in seiner eigentümlichen Natur. 3.  Wenn der göttliche Verstand das Geschöpf erkennt, erkennt er es entweder durch sein eigenes Wesen oder vermittels etwas ande­ rem. Wenn durch ein äußeres Mittel, dann gilt: Da jedes Medium, durch das etwas erkannt wird, die Vollkommenheit des Erkennen­ den ist, weil – wie aus dem Erkenntnisbild des Steines in der Pupille ersichtlich wird – es, sofern er erkennt, seine Form ist, würde dar­ aus folgen, daß etwas Äußerliches die Vollkommenheit Gottes wäre, was widersinnig ist. Wenn Gott aber das Geschöpf durch sein Wesen erkennt, dann gilt: Da sein Wesen etwas anderes als das Geschöpf ist, wäre die Folgerung, daß er durch das eine das andere erkennen würde. Nun ist aber jeder Verstand, der das eine durch ein anderes erkennt, ein Verstand in Denkbewegung und Überlegung. Also liegt 59  Paralleltexte: Sent. I, d. 35, a.  2; ScG I, 49; Sum. theol. I, q, 14, a.  5; In Met. XII, 11; In De causis, prop. 13; Comp. theol. I, 30 (ed. Leon. XLII, 91).

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im göttlichen Verstand eine Denktätigkeit, und demzufolge wäre er unvollkommen, was widersinnig ist. 4.  Das Medium, durch das man ein Ding erkennt, muß zu dem, was durch dieses Medium erkannt wird, in einem wohlbestimmten Verhältnis stehen. Nun steht aber das göttliche Wesen zum Geschöpf nicht in einem wohlbestimmten Verhältnis, da es dieses unendlich übersteigt, vom Unendlichen zum Endlichen besteht aber kein be­ stimmtes Verhältnis.60 Also kann Gott dadurch, daß er sein Wesen erkennt, nicht das Geschöpf erkennen. 5.  Aristoteles beweist im 11. Buch der Metaphysik61, daß Gott nur sich selbst erkennt. Nun hat ›nur‹ den Sinn ›nicht zusammen mit an­ derem‹. Also erkennt er nichts anderes als sich selbst. 6.  Wenn Gott anderes als sich selbst erkennt, wenn er sich selbst erkennt, dann erkennt er sich selbst und das andere entweder durch denselben Grund oder durch verschiedene Gründe. Wenn durch denselben Grund, dann gilt: Da er sich selbst durch sein Wesen er­ kennt, folgt, daß er auch die anderen Dinge durch deren Wesen er­ kennt, was nicht sein kann; wenn er beides jedoch durch einen je­ weils anderen Begriff erkennt, da die Erkenntnis des Erkennenden sich aus dem Begriff ergibt, durch den erkannt wird, würde der Fall eintreten, daß in der göttlichen Erkenntnis Vielheit und Verschie­ denheit vorlägen, was der göttlichen Einfachheit widerstreitet. Also erkennt Gott das Geschöpf in keiner Weise. 7.  Das Geschöpf ist von Gott weiter entfernt als die Person des Vaters vom Wesen der Gottheit. Nun erkennt Gott nicht in der­ selben Erkenntnis, daß er Gott ist und daß er Vater ist, weil in 60  Vgl. Aristoteles, De caelo I, 6; 274 a 7–8: »Doch das Unbegrenzte steht in keinem Verhältnis zum Begrenzten« [Übers. A. Jori]; vgl. De ver., q.  2, Anm.  224. 61  Aristoteles, Met. XII, 9; 1074 b 18–35. Da das 11. Buch der Metaphy­ sik (Buch Kappa) erst im Rahmen der ersten Gesamtübersetzung dieses Werkes (ca. 1271) von Wilhelm von Moerbeke OP übersetzt worden ist – eine Übersetzung einer arabischen Übersetzung der Metaphysik hatte zuvor Michael Scotus angefertigt –, rangiert das 12. Buch hier noch als 11.  Buch. In seinem Kommentar zur aristotelischen Metaphysik berück­ sichtigt Thomas bereits dieses erstmals in der lateinischen Welt zugäng­ liche Buch.

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der Aussage, daß er sich als Vater erkennt, der Begriff des Vaters eingeschlossen ist, welcher nicht eingeschlossen ist, wenn man sagt, daß er erkennt, daß er Gott ist. Also gilt um so mehr: Wenn Gott das Geschöpf erkennt, erkennt er durch einen je anderen Grund sich selbst und das Geschöpf. Dies ist aber erwiesenermaßen widersinnig. 8.  Die Prinzipien des Seins und des Erkennens sind dieselben. Doch der Vater ist nicht durch dasselbe Vater, wodurch er Gott ist, wie Augustinus sagt.62 Also erkennt der Vater nicht durch das­ selbe, daß er Vater ist und daß er Gott ist, und um so mehr erkennt er nicht durch dasselbe sich selbst und das Geschöpf, wenn er das Geschöpf erkennt. 9.  Wissen ist eine Angleichung des Wissenden an das Gewußte.63 Doch zwischen Gott und dem Geschöpf besteht die geringste An­ gleichung, da dort der größte Abstand vorliegt. Also hat Gott vom Geschöpf die geringfügigste oder gar keine Erkenntnis. 10.  Was immer Gott erkennt, schaut er an. Doch Gott schaut, wie Augustinus im Buch Über 83 verschiedene Fragen64 sagt, nichts außer­halb seiner selbst an. Also erkennt er nichts anderes außer­ halb seiner selbst. 11.  Das Verhältnis des Geschöpfes zu Gott ist dasselbe wie das des Punktes zur Linie. Daher hat Trismegistus gesagt: »Gott ist ein geisti­ ger Kreis, dessen Mittelpunkt überall, dessen Umfang aber nirgends ist.«65 Mit dem Mittelpunkt meint er das Geschöpf, wie Alanus66 er­ 62  Augustinus, Enarr. in Ps. 68, s. 1, 5 (CCSL 39, 905). 63  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 10–11; vgl. De ver., q.  2, Anm.  32. 64  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 72). 65  Pseudo-Trismegistus, Liber XXIV philosophorum, 2 (ed. C. Baeum­

ker, 208); vgl. Alanus ab Insulis, Regulae de sacra theologia, c.  7 (PL 210, col. 627 A). Das Buch, aus dem auch Meister Eckhart immer wieder zitiert, hat mit dem ominösen Hermes Trismegistus nichts zu tun, es ist erst im 12. Jahrhundert entstanden; eine deutsche Übersetzung hat K. Flasch vor­ gelegt: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen, München 2011. 66  Alanus ab Insulis (ca. 1120–1202), einer der vielseitigsten Autoren des 12. Jh.s, wird bei Thomas nur an dieser namentlich Stelle genannt; mit dessen These, wonach alle Namen nur in Bezug auf die Geschöpfe ausge­ sagt werden, hat er sich aber mehrfach auseinandergesetzt: De pot., q.  7, a.  5 (Übers. S. Grotz, 37 f.); Sum. theol. I, q.  13, a.  2.

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läutert. Doch von der Linie wird nichts weggenommen, wenn der Punkt von ihr getrennt würde. Also wird auch von der Vollkom­ menheit Gottes nichts weggenommen, wenn die Erkenntnis des Ge­ schöpfes abgezogen würde. Doch alles, was in ihm ist, gehört zu sei­ ner Vollkommenheit, weil nichts in akzidenteller Weise in ihm ist. Also hat er selbst keine Erkenntnis von den Geschöpfen. 12.  Alles, was Gott von Ewigkeit her erkennt, erkennt er dadurch, daß sich sein Wissen nicht verändert. Was immer er nun erkennt, ist ein Seiendes, weil Erkenntnis sich notwendig auf Seiendes bezieht. Also gilt: Was immer Gott erkennt, ist von Ewigkeit her gewesen. Nun existiert aber kein Geschöpf von Ewigkeit her; also erkennt er kein Geschöpf. 13.  Jegliches, das durch ein anderes vollkommen wird, hat in sich ein Vermögen zur Aufnahme im Verhältnis zu diesem, weil die Vollkommenheit die Form des Vollkommenen ist. Gott hat aber in sich gar kein Vermögen zur Aufnahme, dies ist nämlich das Prin­ zip der Veränderung, das mit Gott nichts zu tun hat. Daher wird er durch nichts anderes als durch sich selbst vervollkommnet. Nun hängt aber die Vollkommenheit des Erkennenden vom Erkannten ab, weil die Vollkommenheit des Erkennenden darin besteht, daß er wirklich erkennt – und dies ist nichts anderes als das Erkennbare. Also erkennt Gott nichts als sich selbst. 14.  Im 4. Buch der Metaphysik heißt es: »Der Beweger ist von Natur aus früher als das Bewegte.«67 Doch wie das Sinnenfällige den Sinn bewegt, wie an derselben Stelle steht, so bewegt das geistig Er­ faßbare den Verstand. Wenn also Gott etwas anderes als sich selbst erkennen würde, würde daraus folgen, daß etwas früher als er selbst wäre. Das ist widersinnig. 15.  Alles, was er verstanden hat, erzeugt im Verstehenden eine gewisse Freude. Daher heißt es am Anfang der Metaphysik: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen; Zeichen dafür ist die Freude an der Sinneswahrnehmung«68; Entsprechendes enthal­ ten bestimmte Bücher.69 Wenn also Gott etwas anderes als sich selbst 67  Aristoteles, Met. IV, 5; 1010 b 37–1011 a 1. 68  Aristoteles, Met. I, 1; 980 a 21–22. 69  Woran Thomas hier denkt, ist natürlich schwer zu sagen; man könnte

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erkennen würde, so wäre dieses andere der Grund der Freude in ihm. Dies ist widersinnig. 16.  Jedes Ding wird nur durch eine spezifische Beschaffenheit des Seienden erkannt. Ein Geschöpf hat nun aber mehr an Nichtsein als an Sein, wie durch Ambrosius und durch viele Aussagen der hei­ ligen Lehrer deutlich wird.70 Also ist das Geschöpf für Gott eher ­unbekannt als bekannt. 17.  Etwas wird nur dann aufgefaßt, wenn es den Charakter des Wahren besitzt,71 so wie ja auch nichts erstrebt wird, wenn es nicht den Charakter des Guten hat. Die sichtbaren Geschöpfe werden nun aber in der Schrift mit der Lüge verglichen, wie aus Jesus Si­ rach, Kap. 34, ersichtlich wird: »Wie einer, der den Wind faßt und den Gezeiten folgt, so ist der, der auf die Trugbilder des Sichtbaren aufmerkt.«72 Also sind die Geschöpfe für Gott eher unbekannt als bekannt. 18.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Das Geschöpf wird ja nur im Verhältnis zu Gott ›nichtseiend‹ genannt.73 – Doch dem steht wiederum entgegen: Das Geschöpf wird nur insofern von Gott er­ kannt, als es zu ihm in einem Verhältnis steht. Wenn also das Ge­ schöpf, sofern es in einem Verhältnis zu Gott steht, eine Lüge ist und auf folgende Stellen verweisen: Cicero, Acad., 127: cognitio veri huma­nis­ sima impletur animus voluptate. [»Die Erkenntnis des Wahren erfüllt den Geist mit der menschlichsten Freude«]. Seneca, De vita beata, 4, 5: ex cognitione veri gaudium grande et immotum [»aus der Erkenntnis der Wahrheit erhabene und unerschütterliche Freude«]. Augustinus, Conf. X, 23, 33 (CCSL 27, p.  173, 10: gaudium de veritate [»Freude über die Wahr­ heit«]); letzteres zitiert Thomas mehrfach: Sum. theol. I-II, q.  3, a.  4; De ver., q.  14, a.  2 (ed. Leon. XXIII, 443); In Ioh., 10, 1 (ed. R. Cai, nr.  1370); 15, 2 (2004); In I Tim., 3, 3 (ed. R. Cai, nr. 128); In II Tim., 4, 2 (ed. R. Cai, nr. 151). 70  Vgl. Augustinus, Conf. IV, 10, 15 (CCSL 27, 48); VII, 11, 17 (CCSL 27, 104). 71  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  244. 72  Jes. Sir. 34, 2: »Wie einer, der nach dem Schatten greift und den Wind zu haschen versucht, so ist einer, der sich auf Träume verlässt« [Jeru­ salemer Bibel]; Hos. 12, 1: »Mit Lüge hat mich Ephraim umgeben, mit Trug das Haus Israel.« 73  Der Gegeneinwand bezieht sich nicht wie sonst auf das unmittelbar vorausgehende Argument, sondern auf das davor.

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ein Nichtseiendes und demzufolge unerkennbar, kann es von Gott auf keine Weise erkannt werden. 19.  Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war.74 Doch in Gott kann man keine sinnliche Erkenntnis ansetzen, weil diese an die Materie gebunden ist. Also erkennt er die geschaffenen Dinge nicht, da diese nicht zuvor in einem Sinn sind. 20.  Die Dinge werden in erster Linie durch ihre Ursachen erkannt und in höchstem Maße durch diejenigen Ursachen, die die Ursachen des Seins eines Dinges sind. Doch von den vier Ursachen sind die Wirk- und Zweckursache Ursachen für das Werden eines Dinges, Form und Materie hingegen Ursachen des Seins für ein Ding, weil sie in seinen Aufbau eintreten. Gott ist jedoch nur im Sinne von Wirk- und Zweckursache Ursache der Dinge; also ist es nur etwas höchst Geringfügiges, was er von den Geschöpfen erkennt. Dagegen spricht: 1. Im Hebräerbrief, Kap. 4., heißt es: »Alles liegt bloß und offen vor seinen Augen.«75 2. Durch die Erkenntnis des einen Relatums wird das andere erkannt; nun wird aber ›Prinzip‹ und das ›durch das Prinzip Be­ stimmte‹ relativ ausgesagt.76 Also gilt: Wenn Gott durch sein Wesen das Prinzip der Dinge ist, so erkennt er durch die Erkenntnis seines Wesens die Geschöpfe. 3.  Gott ist allmächtig. Daher muß man ihn aus eben dem Grunde seiner Macht ›allwissend‹ nennen. Also erkennt er nicht nur die Dinge, die geliebt, sondern auch die, die gebraucht werden. 4.  Anaxagoras hat behauptet, der Verstand sei »unvermischt, da­ mit er alles erkennt«.77 Dafür hat ihn Aristoteles im 3. Buch seiner 74  Dieser Satz ist noch in der Neuzeit ein Kernsatz des Antiapriorismus; Aristoteles hat den Satz nicht geprägt, aber in Anal. post. I, 18; 81 a 38–40, auf ein konkretes Bedingungsverhältnis verwiesen: »Es ist auch einleuch­ tend, daß wenn eine bestimmte Wahrnehmung fehlt, auch ein bestimmtes Wissen ausbleibt« [Übers. W. Detel]; De an. III, 12; 434 b 6. 75  Hebr. 4, 13. 76  Vgl. Aristoteles, Phys. I, 2; 185 a 4–5. 77  Aristoteles, De an. III, 4; 429 a 18; vgl. De ver., q.  2, Anm.  291.

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Schrift Über die Seele78 gelobt. Nun ist der göttliche Verstand im höchsten Maße unvermischt und rein. Also erkennt er im höchsten Maße nicht nur sich, sondern auch anderes. 5.  Je höhergradig eine Substanz einfach ist, um so mehr Formen begreift79 sie. Nun ist Gott eine im höchsten Grade einfache Sub­ stanz. Also begreift er die Formen aller Dinge; also erkennt er alle Dinge, nicht nur sich selbst. 6. »Der Grund einer Eigenschaft hat diese selbst in höherem Maße«, laut Aristoteles80. Nun ist Gott aber die Ursache des Erken­ nens des Geschöpfes für alle, die erkennen. Er selbst ist »das Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt«, nach dem Johannesevangelium, Kap. 1.81 Also erkennt er im höchsten Maße die Geschöpfe. 7.  Wie Augustinus in seinem Werk Über die Dreieinigkeit82 be­ weist, wird nichts geliebt, was nicht gewußt wird. Nun steht im Buch der Weisheit, daß »Gott alles liebt, was ist«.83 Also erkennt er auch alles. 8.  In den Psalmen heißt es: »Wer das Auge gemacht hat, soll etwa nicht schauen?«84 und dies im Sinne von: so ist es. Gott also, der alles gemacht hat, betrachtet und erkennt alles.

78  Aristoteles spricht kein Lob aus, er führt allerdings diesen neur­ algischen Ausdruck kurz danach nochmals namentlich an: De an. III, 4; 429 b 23–24. Ein vielzitiertes, weil höchst bemerkenswert Lob, mit dem Aristoteles Anaxagoras von der gesamten vorherigen Tradition abhebt, wird unten De ver., q.  2, Anm.  291 angeführt. 79  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  35. 80  Aristoteles, Anal. post. I, 2; 72 a 29–31: »Stets nämlich trifft das­ jenige, aufgrund dessen ein jedes zutrifft, jenem gegenüber in höherem Grade zu, wie etwa: aufgrund dessen wir lieben, das ist liebenswert in höherem Grade« [Übers. W. Detel]. 81  Joh. 1, 9. 82  Augustinus, De trin. X, 1, 1 (CCSL 50, 311). 83  Weish. 11, 24: »Denn du liebst alles, was da ist, und du verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast« [Übers. Jerusalemer Bibel]. 84  Ps. 94 (93), 9: »Er, der das Ohr gepflanzt hat, sollte nicht hören? / Oder nicht sehn, der das Auge gebildet?« [Übers. R. Guardini].

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9.  In den Psalmen heißt es an anderer Stelle: »Wer die einzelnen Herzen gemacht hat, der erkennt alle ihre Werke.«85 Dies ist Gott, der Schöpfer der Herzen. Also erkennt er die Werke der Menschen und demzufolge anderes außer sich. 10.  Dasselbe läßt sich entnehmen aus dem, was an anderer Stelle in den Psalmen steht: »Wer die Himmel im Geiste erschuf«86; also erkennt er die Himmel, die er erschaffen hat. 11.  Erkennt man die Ursache, insbesondere die formbestimmende, so erkennt man auch die Wirkung. Nun ist Gott die formbestim­ mende urbildliche Ursache der Geschöpfe. Wenn Gott also sich selbst erkennt, erkennt er auch die Geschöpfe. Antwort: Ohne Zweifel ist zuzugeben, daß Gott nicht nur sich selbst, son­ dern auch alles andere erkennt. Dies läßt sich auf folgende Weise beweisen: Für alles nämlich, das von Natur zu anderem strebt, ist es notwendig, daß es dieses Streben von einem erhalten hat, der es auf das Ziel ausrichtet, denn andernfalls würde es zufällig danach stre­ ben. Bei den natürlichen Dingen finden wir nun aber ein natürliches Streben, durch das ein jegliches Ding zu seinem Ziel strebt. Daher ist es notwendig, über allen Dingen einen Verstand anzusetzen, der die natürlichen Dinge auf ihre Ziele ausgerichtet und ihnen eine natür­ liche Neigung bzw. natürliches Streben eingegeben hat. Nun kann man aber ein Ding nicht auf ein Ziel ausrichten, wenn man nicht zugleich mit dem Ziel, auf das es auszurichten ist, das Ding erkennt. Daher ist es notwendig, daß im Verstand Gottes, aus dem der Ursprung der Natur der Dinge hervorgeht, eine Erkenntnis der natürlichen Dinge ist. Diesen Beweis deutet der Psalmist an, wenn er sagt: »Wer das Auge gemacht hat, soll etwa nicht schauen?«87, wie Maimonides sagt, daß es dasselbe sei, als sage er, »wer das Auge dermaßen geeignet zu seinem Zweck, der sein 85  Ps. 33 (32), 15: »Er, der die Herzen aller formt, der auf all ihre Werke achtet.« [Übers. R. Guardini]. 86  Ps. 136 (135), 5: »Der die Himmel in Weisheit geschaffen« [Übers. R. Guardini]. 87  Ps. 94 (93), 9.

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Vollzug ist, nämlich das Schauen, erschaffen hat, soll der etwa nicht die Wesensverfassung des Auges erfassen?«88 Nun muss man aber darüber hinaus verstehen, in welcher Weise Gott die Geschöpfe erkennt. Man muß also wissen: Da es notwendig ist, daß alles insofern wirksam ist, als es in Verwirklichung ist,89 ist es notwendig, daß jenes, was durch das Wirkende bewirkt wird, in gewisser Weise im Wirkenden ist, und dies hat zur Folge, daß al­ les Wirkende ein ihm Ähnliches bewirkt.90 Alles nämlich, was in ­einem anderen ist, ist in ihm in der Weise des Aufnehmenden.91 Daher gilt: Wenn das hervorbringende Prinzip92 materiell ist, ist 88  Maimonides, Führer der Unschlüssigen, III, 19 (ed. A. Weiß, II, 115). Dieses Werk (entstanden in Kairo im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts) des Rabbiners, Astronomen und Arztes Maimonides wurde früh ins La­ teinische übersetzt und vor allem von Dominikanern herangezogen, ganz besonders von Meister Eckhart. Thomas zitiert ihn an nahezu 120 Text­ stellen. 89  Dieser von Thomas sehr häufig angeführte Grundsatz geht nach Gauthier (ed. Leon. XLV/2, 55) zurück auf die lateinische Version einer Stelle in Aristoteles, De gen. et corr. I, 5; 320 b 17–19: »Werden schlecht­ hin nun erbringt ein Verschiedenes aus Verschiedenem […] und erfolgt stets auf Verursachung von Seiendem in wirklicher Vollendung« [Übers. Th. Buchheim]. 90  Vgl. Aristoteles, De gen. et corr. I, 7; 324 a 9–11: »Deshalb hat es eben auch guten Grund, daß Feuer warm macht und das Kalte kühlt, und überhaupt das Wirkkräftige sich selbst das, was leidet, gleich macht« [Übers. Th, Buchheim]; Rhet. I, 4; 1360 a 5: »Aus ähnlichen Ursachen näm­ lich gehen von Natur aus ähnliche Ergebnisse hervor« [Übers. Ch. Rapp]. – Vgl. B. Mondin, Il principio ›omne agens agit simile sibi‹ e l’analogia dei nomi divini nel pensiero di S. Tommaso d’Aquino, Divus Thomas 63 (1960), 336–348. 91  Ein auch von Thomas häufig herangezogenes Adagium neuplatoni­ schen Ursprungs: Alles, was in einem anderen ist, ist in ihm in der Weise desjenigen, in dem es ist: Vgl. Boethius, Phil. consol. V, 4, 25 (CCSL 94, 96 f.) und ebd. V, 5, 1 (CCSL 94, 100 f.); aber auch der Liber de causis, prop. 23 (24), n. 179 (ed. A. Schönfeld, 46); vgl. Thomas v. Aquin, In De causis, prop. 24 (ed. C. Pera, nr. 397–399; ed. H. D. Saffrey, 122, 3–123, 4). 92  Der Begriff principium wird bei Thomas ebenso wie die verwand­ ten Begriffe ratio und causa in einem weiten Sinne verstanden; Prinzip kann ein Axiom oder eine allgemeine Regel meinen, aber auch wie an

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seine Wirkung in ihm, weil ja in einer materiellen Kraft, auf mate­ rielle Weise, wenn es hingegen ein immaterielles hervorbringendes Prinzip ist, dann wird auch seine Wirkung auf immaterielle Weise in ihm sein. Es ist nämlich oben93 gesagt worden, daß etwas von einem anderem aufgrund dessen erkannt wird, daß es in ihm auf immaterielle Weise aufgenommen wird. Darin liegt begründet, daß die materiellen hervorbringenden Prinzipien ihre Wirkungen nicht erkennen, weil diese nicht, sofern sie erkennbar sind, in ihnen sind. In den immateriellen hervorbringenden Prinzipien hingegen sind die Wirkungen insofern, als sie erkennbar sind, weil sie dort auf im­ materielle Weise . Daher erkennt jedes immaterielle hervor­ bringende Prinzip seine Wirkung. Darin hat das, was im Buch von den Ursachen gesagt wird, seinen Grund, daß nämlich »der Geist weiß, was unter ihm ist, weil er dessen Ursache ist«94. Daher gilt: Da Gott das immaterielle hervorbringende Prinzip der Dinge ist, folgt, daß in ihm eine Erkenntnis von diesen liegt. Zu 1.  Das, was der Verstand erkennt, ist nicht die Vollkommen­ heit des Erkennenden in Bezug auf die Sache, die erkannt wird – jene Sache ist nämlich außerhalb des Erkennenden –, sondern in Bezug auf das Abbild der Sache, durch das erkannt wird, weil die Voll­ kommenheit im Vollkommenen ist; nicht der Stein ist nämlich in der Seele, sondern das Abbild des Steines.95 Das Abbild des erkann­ ten Dinges ist nun aber auf zweifache Weise im Verstand: mitunter nämlich als das eines anderen von ihm erkannten Dinges, mitunter hingegen als das Wesen des Erkennenden selbst, wie beispielsweise unser Verstand, indem sich selbst erkennt, auch andere Verstande erkennt, sofern er das Abbild anderer Verstande ist. Doch das Ab­ bild des Steines, das sich in ihm befindet, ist nicht das Wesen des dieser Stelle eine Ursache. Aber auch Ursache (causa) steht nicht nur für einen natürlichen Wirkfaktor, sondern auch für das Verhältnis von Prä­ misse zum Schlußsatz oder das Verhältnis einer realen Gegebenheit zur Auffassung von ihr. 93  Vgl. De ver., q.  2, a.  2 (S. 100). 94  Liber de causis, prop. 7; n. 72 (ed. A. Schönfeld, 18). 95  Vgl. Aristoteles, De an. III, 8; 431 a 29–432 a 1: »Es ist kein Stein in der Seele, sondern die Form« [Übers. Th. Buchheim].

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Verstandes, vielmehr wird es von ihm als eine Form gleichsam in einer Materie aufgenommen. Diese Form nun, die etwas anderes im Verstand ist, verhält sich aber manchmal zu der Sache, deren Ab­ bild sie ist, als ihre Ursache (causa), wie sich dies beim praktischen Verstand zeigt, dessen Form die Ursache der bewirkten Sache ist, manchmal hingegen als deren Wirkung, wie dies bei unserem spe­ kulativen Verstand ersichtlich ist, der seine Erkenntnis von den Din­ gen aufnimmt. Wann immer also ein Verstand ein Ding durch ein Abbild erkennt, das nicht das Wesen des Verstandes selbst ist, wird er durch etwas anderes als sich selbst vervollkommnet. Doch wenn jenes Bild die Ursache eines Dinges ist, wird er einzig durch das Bild vervollkommnet und auf keine Weise durch das Ding, dessen Bild es ist. Beispielsweise ist ja nicht das Haus die Vollkommenheit der Kunst, vielmehr doch umgekehrt. Wenn hingegen das Abbild die Wirkung des Dinges ist, dann ist auch das Ding auf gewisse Weise die Vollkommenheit des Verstandes, im hervorbringenden Sinne nämlich, das Abbild hingegen im Sinne der Form. Wenn hingegen das Abbild des Dinges das Wesen des Erkennenden ist, dann wird dies nicht durch etwas anderes vervollkommnet, außer vielleicht im bewirkenden Sinne, wie nämlich das Wesen von einem anderen her­ vorgebracht worden ist. Da der göttliche Verstand kein Wissen hat, das von den Dingen verursacht wäre, noch ein Abbild, durch das er etwas anderes als seine Wesenheit erkennt, noch sein Wesen selbst von einem anderen hervorgebracht wird, folgt daraus, daß er andere Dinge erkennt, in keiner Weise, daß sein Verstand durch etwas anderes vollkommen ist. Zu 2.  Gott erkennt die Dinge nur aufgrund dessen, daß sie in ihm sind, wenn der Ausdruck ›aufgrund‹ von der Erkenntnis im Hinblick auf das Erkannte verstanden wird, weil er von den Din­ gen nicht nur das Sein erkennt, das sie in ihm haben, gemäß dem sie mit ihm eins sind, sondern auch das Sein, das sie außerhalb von ihm haben, sofern sie durch ihn zu von ihm verschiedenen Dingen gemacht werden. Wenn hingegen der Ausdruck ›aufgrund‹ die Er­ kenntnis im Hinblick auf den Erkennenden bestimmt, so ist es wahr, daß Gott die Dinge nur erkennt, sofern sie in ihm sind, weil er ja durch das Urbild des Dinges, das sich in ihm befindet und mit ihm identisch ist, erkennt.

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Zu 3.  Gott erkennt die Dinge dadurch, daß sie in ihm sind. Die Wirkung, die sich in irgendeiner Wirkursache befindet, ist keine andere, wenn man diese als eine Ursache versteht, die durch sich selbst Ursache ist. Beispielsweise ist das Haus in der Kunst nichts anderes als diese Kunst, weil die Wirkung in der Weise im hervorbringenden Prinzip liegt, daß das Prinzip sich die Wirkung an sich selbst angleicht. Dies jedoch geschieht durch das­ jenige, wodurch die Ursache wirksam ist. Daher gilt: Wenn ein her­ vorbringendes Prinzip nur durch seine Form wirksam ist, besteht dementsprechend seine Wirkung darin, daß sie jene Form hat, und ihre Wirkung ist dann auch nicht verschieden von ihrer Form. Bei Gott verhält es sich hingegen nicht in ähnlicher Weise: Da er durch sein Wesen wirksam ist, ist seine Wirkung nicht verschieden von seinem Wesen, sondern überhaupt eines, und deshalb ist dasjenige, wodurch er seine Wirkung erkennt, nicht verschieden von seinem Wesen. Gleichwohl folgt daraus, daß er dadurch, daß er sein Wesen erkennt, seine Wirkung erkennt, keineswegs, daß irgendeine Denkbewegung in seinem Verstand wäre. Man sagt von einem Ver­ stand nur dann, daß er sich von einem zum anderen bewegt, wenn er durch eine je verschiedene Auffassung beides erkennt, so wie der menschliche Verstand durch einen jeweils anderen Akt die Ursache und die Wirkung erkennt, und deshalb sagt man, wenn er die Wir­ kung durch die Ursache erkennt, von ihm, daß er sich von der Ursa­ che zur Wirkung bewege. Wenn hingegen das Erkenntnisvermögen nicht durch einen jeweils eigenen Akt zum Medium der Erkenntnis und zur erkannten Sache gebracht wird, dann vollzieht sich keine Denkbewegung; ein Beispiel: Erkennt der Gesichtssinn durch das in ihm sich befindende Abbild den Stein oder die Sache, die sich im Spiegel durch den Spiegel ergibt, nennt man das nicht eine Denkbe­ wegung vollziehen, weil es dasselbe ist, zum Abbild mit dem Dinge gebracht zu werden und zu dem Ding, das durch ein solches Abbild erkannt wird. Auf diese Weise erkennt nun aber Gott durch sein Wesen seine Wirkungen, so wie das Ding selbst durch das Abbild des Dinges erkannt wird. Deshalb erkennt Gott durch eine einzige Erkenntnis sich und anderes, wie auch Dionysius im 7. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen sagt: »Gott hat also keine eigene Erkenntnis seiner selbst und eine andere allgemeine, die ­alles Exi­

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stierende umfaßt.«96 Deshalb vollzieht sich in ihm keinerlei Denk­ bewegung. Zu 4.  ›Einem anderen entsprechend‹ nennt man etwas in zweifa­ chem Sinne: einmal, weil zwischen ihnen eine Proportion herrscht; beispielsweise sagen wir, daß vier zu zwei in einer Proportion steht, weil es im Verhältnis des Doppelten zu zwei steht. Zum anderen in der Weise der Proportionalität, so wenn wir sagen: Wie sechs das Doppelte von drei ist, so acht zu vier. Proportionalität ist die Entsprechung der Proportionen.97 Da sich in jeder Proportion ein Verhältnis derjenigen findet, die in Proportion sind nach einem be­ stimmten Überragen des einen über das andere, ist es unmöglich, daß ein Unendliches einem Endlichen in der Weise einer Proportion entspricht. Bei denjenigen hingegen, die man im Verhältnis stehend im Sinne der Proportionalität nennt, findet sich kein Verhältnis zu­ einander, sondern ein entsprechendes Verhältnis von zweien zu zwei anderen,98 und daher hindert nichts, daß das Unendliche zum Endli­ chen im Verhältnis steht, weil gilt: So wie ein Endliches einem End­ lichen gleichartig (aequale) ist, so ist ein Unendliches einem ande­ ren Unendlichen gleichartig. In diesem Sinne ist ein entsprechendes Medium notwendig, durch das jenes erkannt wird; nämlich so, wie sich ein Mittelbegriff zu dem zu beweisenden Satz verhält, so ver­ hält sich das, was durch ein Medium der Erkenntnis erkannt wird, zu der Sache, die bewiesen wird. Daher steht dem nichts entgegen, daß die Wesenheit Gottes das Medium ist, durch das das Geschöpf erkannt wird. Zu 5.  Etwas wird auf zweifache Weise erkannt: einmal in sich selbst, dann nämlich, wenn durch die erkannte und erfaßte Sache

96  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869 C; Dion.  I, 400); Übers. E. Stein: »Gott hat also nicht eine besondere Erkenntnis Sei­ ner selbst und eine andere, allgemeine, worin Er alles andere Seiende zu­ sammenfassen würde« (ESGA XVII, 136). 97  Similitudo ist hier nicht mit ›Ähnlichkeit‹, sondern mit ›Gleichheit‹ bzw. mit ›Entsprechung‹ zu übersetzen. Die genannte Proportionalität enthält nicht ähnliche, sondern genau gleiche Verhältnisse. 98  Zu diesem viergliedrigen Konzept der Analogie als Proportionalität (a : b = c : d) vgl. die kurzen Hinweise im Nachwort, S. 336.

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das Sehvermögen des Sehenden99 seine Form erhält. Auf andere Weise wird das eine in einem anderen gesehen, durch dessen Er­ kenntnis jenes erkannt wird. Gott erkennt sich also selbst nur in sich selbst, die anderen Dinge erkennt er nicht in diesen selbst, sondern dadurch, daß er sein Wesen erkennt. In diesem Sinn sagt Aristote­ les100, daß Gott nur sich selbst erkennt; damit stimmt überein, was Dionysius im 7. Kapitel Über die göttlichen Namen sagt, »Gott er­ kennt das Seiende nicht durch ein Wissen, das sich auf das Seiende, sondern das sich auf ihn selbst bezieht«.101 Zu 6.  Wenn der Begriff der Erkenntnis im Hinblick auf den Er­ kennenden verstanden wird, erkennt Gott durch denselben Grund sich und das andere, weil der Erkennende und die Tätigkeit des Er­ kennens dasselbe sind und das Medium der Erkenntnis dasselbe . Wenn hingegen der Begriff im Hinblick auf die er­ kannte Sache verstanden wird, erkennt Gott nicht durch denselben Grund sich und das andere, weil nicht dasselbe Verhältnis zu sich und den anderen in Bezug auf das Medium statthat, durch das er erkennt, da er selbst mit jenem Medium dem Wesen nach identisch ist, die anderen Dinge hingegen nur durch Angleichung . Deshalb erkennt Gott sich selbst durch sein Wesen, die anderen hingegen durch deren Urbild. Dennoch ist sein Wesen und das Urbild der anderen Dinge identisch. Zu 7.  Im Hinblick auf den Erkennenden gesprochen erkennt Gott durch gänzlich dieselbe Erkenntnis, daß er Gott und daß er Vater ist. Es ist jedoch nicht dasselbe im Hinblick auf das Erkannte. Er erkennt nämlich, daß er Gott ist, durch das Gottsein, und daß er ­Vater ist, durch die Vaterschaft, was in Bezug auf das Erkennen nicht dasselbe ist, was das Gottsein ist, obgleich es der Wirklichkeit nach eines ist. 99  Vgl. Augustinus, De trin. XIV, 3, 5 (CCSL 50 A, 427); Übers. J. Kreu­ zer: »Sehkraft«. 100  Aristoteles, Met. XII, 11; 1072 b 20–22. 101  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869 C; Dion. I, 401); Übers. E. Stein: »Dadurch also erkennt Gott das Seiende, nicht durch Erkenntnis des Seienden, sondern durch Erkenntnis Seiner selbst« [ESGA XVII, 136).

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Zu 8.  Dasjenige, was Prinzip des Seins ist, ist im Hinblick auf das erkannte Ding auch Prinzip der Erkenntnis, weil ein Ding durch seine Prinzipien erkennbar ist. Dasjenige aber, wodurch es im Hin­ blick auf den Erkennenden das Urbild bzw. die Prinzipien des Dinges ist, ist nur in der praktischen Erkenntnis Prinzip des Seins. Zu 9.  ›Die Ähnlichkeit zweier Dinge‹ kann man auf zweifache Weise verstehen: einmal im Sinne der Übereinstimmung in der We­ sensnatur; eine solche Ähnlichkeit ist zwischen Erkennendem und Erkanntem nicht erforderlich, vielmehr sehen wir mitunter, daß eine solche Ähnlichkeit geringer ist, je tiefgehender die Erkenntnis ist; beispielsweise ist zu einem wirklichen Stein die Ähnlichkeit des Abbildes, das im Verstand ist, geringer als jene Ähnlichkeit, die im Sinnesorgan liegt, denn sie ist weiter von der Materie entfernt, und dennoch erkennt der Verstand tiefgehender als der Sinn. In anderer Weise im Sinne der Darstellung; diese Ähnlichkeit des Erkennen­ den und des Erkannten ist erforderlich. Obwohl also eine minimale Ähnlichkeit des Geschöpfes zu Gott besteht, was die Übereinstim­ mung in der Wesensnatur angeht, besteht gleichwohl die höchst­ mögliche Ähnlichkeit in dem Sinne, daß die göttliche Wesenheit auf die ausdrücklichste Weise das Geschöpf darstellt, und deshalb erkennt der göttliche Verstand ein Ding auf unübertreffliche Weise. Zu 10.  Wenn man sagt, daß Gott nichts außerhalb seiner selbst anschaut, ist das im Sinn von ›wodurch‹ er etwas anschaut zu ver­ stehen, nicht im Sinne von ›was‹ er anschaut. Dasjenige nämlich, wodurch er alles anschaut, ist in ihm selbst. Zu 11.  Wenn von einer Linie irgendein wirklicher Punkt wegge­ nommen wird, verliert die Linie der Wirklichkeit nach nichts von ih­ rer Quantität. Wenn jedoch von einer Linie das weggenommen wird, daß sie nicht mehr durch einen Punkt begrenzt wird, ist das Wesen der Linie dahin.102 Ähnlich verhält es sich bei Gott: Gott verliert 102  Aristoteles hat gegen Zenons Paradoxien und gegen die Atomisten gezeigt, daß Linien und andere Kontinua nicht aus ausdehnungslosen Punkten bestehen können, sich diese vielmehr erst durch eine Verstandes­ tätigkeit (etwa durch die Verstandesleistung einer Halbierung) angeben lassen. Die Endpunkte der Strecke müssen demgegenüber als real gedacht werden, weil sie ja die Ausdehnung bestimmen.

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nichts, wenn seine Schöpfung als nicht seiend gesetzt würde, doch würde von seiner Vollkommenheit etwas weggenommen, wenn von ihm das Vermögen, Geschöpfe hervorzubringen, aufgehoben würde. Gott erkennt die Dinge nicht nur, sofern sie in bestimmter Verwirk­ lichung sind, sondern auch, sofern sie in seiner Macht liegen. Zu 12.  Obwohl sich das Erkennen nur auf Seiendes bezieht, ist es gleichwohl nicht notwendig, daß dasjenige, was erkannt wird, des­ wegen ein Seiendes in seiner Wesensnatur ist, wenn es erkannt wird. Ein Beispiel: So wie wir das räumlich Entfernte erkennen, so er­ kennen wir auch das zeitlich Entfernte, wie dies beim Vergangenen ersichtlich ist. Deshalb ist es nicht sinnwidrig, wenn man von der Erkenntnis Gottes behauptet, sie beziehe sich als ewige auf nicht-ewige Dinge. Zu 13.  Der Ausdruck ›Vollkommenheit‹ kann, wenn er im stren­ gen Sinne verstanden wird, auf Gott nicht angewendet werden, weil nichts vollkommen ist, was nicht gemacht ist.103 Das Wort ›Vollkom­ menheit‹ versteht man bei Gott eher im negativen als im positiven Sinne, so daß er ›vollkommen‹ genannt wird, weil ihm nichts von allem fehlt, nicht in dem Sinne, daß in ihm etwas sei, das in Mög­ lichkeit zur Vollkommenheit sei, was dann durch irgendetwas zur Vollkommenheit gebracht wird, was seine bestimmte Wirklichkeit ist. Deshalb gibt es in Gott kein Vermögen des Aufnehmens.104 Zu 14.  Das geistig Erkennbare und das sinnlich Erkennbare be­ wegen nur insofern einen Sinn bzw. den Verstand, als die sinnliche bzw. verstandesmäßige Erkenntnis von den Dingen her aufgenom­ men wird. Es gibt nun aber keine solche göttliche Erkenntnis, und deshalb ist das Argument nicht stichhaltig. Zu 15.  Laut Aristoteles im 7. und 10. Buch der Nikomachischen Ethik stammt die Freude aus der Tätigkeit, die dem Verstand ent­ spricht. Daher heißt es dort, daß »Gott sich durch eine und einzige 103  Vgl. Thomas v. Aquin, ScG I, 28 (ed. C. Pera, nr. 268); perfectum hängt zusammen mit facere (machen) und bezieht sich darauf, daß das Machen zum Abschluß gekommen ist. Da aber ein ›Abschluß‹ einen Pro­ zeß voraussetzt, ist diese Konnotation im Fall eines unveränderlichen Got­ tes fernzuhalten. 104  Vgl. Thomas v. Aquin, De pot., q.  1, a.  1 [Übers. S. Grotz, 3–12].

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Tätigkeit freut«.105 Etwas geistig Erkennbares ist aufgrund dessen Ursache der Freude für den Verstand, daß es Ursache für die Tätig­ keit des Verstandes ist. Dies geschieht dadurch, daß es sein Abbild in ihm hervorbringt, durch das die Tätigkeit des Verstandes ihre Form erhält. Daraus wird Folgendes ersichtlich: Das Ding, das erkannt wird, ist nur insofern Ursache der Freude im Verstand, als die Er­ kenntnis des Verstandes von den Dingen aufgenommen wird; dies ist beim göttlichen Verstand nicht der Fall. Zu 16.  ›Sein‹ wird wie auch ›gut‹ ohne Einschränkung und für sich genommen nur von Gott ausgesagt; aus diesem Grund heißt es im Matthäusevangelium, Kap. 19: »Niemand ist gut als Gott allein.«106 Daher gilt: In dem Maße, in dem ein Geschöpf Ähnlich­ keit mit Gott hat, in dem Maße hat es Sein, in dem Maße hingegen, in dem es von ihm entfernt ist, in dem Maße hat es Nichtsein. Da es sich Gott nur insofern annähert, als es endliches Sein hat, von ihm aber unendlich entfernt ist, deshalb sagt man, es habe mehr Nichtsein als Sein. Gleichwohl wird jenes Sein, das es hat, von Gott erkannt, da es von Gott ist. Zu 17.  Ähnlich ist auf den 17. Einwand zu antworten, weil das sichtbare Geschöpf nur insofern eine Wahrheit hat, als es sich der ersten Wahrheit annähert, sofern es aber dahinter zurückbleibt, hat es Falschheit, wie auch Avicenna107 sagt. Zu 18.  Etwas steht in doppelter Weise im Verhältnis zu Gott: ent­ weder im Sinne der Maßerfüllung, und in diesem Sinne erweist sich das Geschöpf im Verhältnis zu Gott als ein Nichts. Oder im Sinne der Hinwendung zu Gott, von dem es das Sein empfängt. Daher hat es einzig auf diese Weise ein Sein, durch das es im Verhältnis zu Gott steht. In diesem Sinne ist es auch für Gott erkennbar. Zu 19.  Jener Satz ist im Hinblick auf unseren Verstand zu ver­ stehen, der das Wissen von den Dingen aufnimmt. Das Ding wird nämlich schrittweise von seiner Materialität zur Immaterialität des Verstandes geführt, nämlich über die Immaterialität des Sinnes. Deshalb ist Folgendes notwendig: Was in unserem Verstand ist, ist 105  Aristoteles, Eth. Nic. VII, 15; 1154 b 26; X, 7; 1177 a 25. 106  Mt. 19, 17; Lk. 18, 19. 107  Avicenna, Philos. prima VIII, 6 (ed. S. Van Riet, 413).

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zuvor im Sinn gewesen. Das ist aber beim göttlichen Verstand fehl am Platze. Zu 20.  Obgleich das Wirksame in der Natur, wie Avicenna108 sagt, nur Ursache des Werdens ist – das Zeichen hierfür ist, daß, wenn jenes zerstört ist, zwar nicht das Sein, wohl aber das Werden des Dinges aufhört –, ist das göttliche Wirkende, welches das Sein in die Dinge einströmen läßt, für alle Dinge die Ursache des Seins, obwohl es nicht in den Aufbau des Dinges eintritt. Nichtsdestoweniger ist es das Urbild der Wesensprinzipien, die in den Aufbau des Dinges eintreten. Deshalb gilt: Gott erkennt nicht nur das Werden, sondern auch das Sein eines Dinges sowie dessen Wesensprinzipien.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Hat Gott von den Dingen eine spezifische und bestimmte Erkenntnis?109 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Boethius sagt: »Das Allgemeine ist das, wenn der Verstand er­ kennt, das Einzelne das, wenn man sinnlich wahrnimmt.«110 Nun gibt es aber in Gott keine sinnliche Erkenntnis, sondern ausschließ­ lich eine des Verstandes; also hat Gott nur eine allgemeine Erkennt­ nis von den Dingen. 2.  Wenn Gott die Geschöpfe erkennt, dann erkennt er sie entwe­ der durch Vieles oder durch Eines: Wenn durch Vieles, dann wird also seine Erkenntnis ebenfalls von seiten des Erkennenden zu einer vielfältigen, weil dasjenige, wodurch etwas erkannt wird, im Erken­ nenden liegt. Wenn hingegen durch Eines – und durch Eines läßt sich keine unterscheidende und spezifische Erkenntnis von vielem gewinnen –, dann scheint Gott keine spezifische Erkenntnis von den Dingen zu haben.

108  Avicenna, Philos. prima VI, 2 (ed. S. Van Riet, 303 f.). 109  Paralleltexte: Sent. I, d. 35, a.  3; ScG I, 50; Sum. theol. I, q.  14, a.  6. 110  Boethius, In Porphyrii Isagogen, ed. sec. I, 11 (CSEL 48, 167); vgl.

Aristoteles, Anal. post. I, 18; 81 b 6; I, 31; 87 b 37–39; De an. II, 5; 417 b 22–23.

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3.  Wie Gott die Ursache der Dinge dadurch ist, daß er in sie das Sein einströmen läßt, so ist das Feuer Ursache der warmen Dinge da­ durch, daß es in sie Wärme einfließen läßt.111 Doch wenn das Feuer sich selbst erkennen würde, würde es, indem es seine Wärme er­ kennt, anderes nur insofern erkennen, als es warm ist. Also erkennt Gott, wenn er sein Wesen erkennt, anderes nur insofern, als es Sei­ endes ist. Doch das heißt nicht eine spezifische Erkenntnis, sondern eine im höchsten Maße allgemeine Erkenntnis haben. Also hat Gott keine spezifische Erkenntnis von den Dingen. 4. Eine spezifische Erkenntnis von einem Ding läßt sich nur durch ein Erkenntnisbild gewinnen, das nicht mehr oder weniger enthält, als im Ding liegt. Wie nämlich eine grüne Farbe unvoll­ kommen durch ein unvollkommenes Erkenntnisbild, nämlich durch ein schwarzes, erkannt wird, so wird es auf unvollkommene Weise erkannt durch ein überragendes Erkenntnisbild, nämlich das Weiße, in dem sich auf vollkommene Weise die Wesensnatur der Farben findet, daher ist das Weißsein das Maß aller Farben, wie es im 10. Buch der Metaphysik112 heißt. Nun gilt aber: Wie sehr das göttli­ che Wesen das Geschöpf überragt, so mangelhaft ist das Geschöpf gegenüber Gott. Wenn also das göttliche Wesen auf keine Weise eigentümlich und vollständig durch ein Geschöpf er­ kannt werden kann, kann auch das Geschöpf nicht auf spezifische Weise durch das göttliche Wesen erkannt werden. Nun erkennt aber Gott die Geschöpfe nur durch sein Wesen. Also hat er keine eigen­ tümliche Erkenntnis von den Geschöpfen. 5.  Jedes Medium der Erkenntnis, das eine eigentümliche Erkennt­ nis von einem Ding hervorbringt, kann als Mittelbegriff eines Be­ weises für die Schlußfolgerung verwendet werden. Doch verhält sich das göttliche Wesen nicht auf diese Weise zum Geschöpf, andern­ falls wären die Geschöpfe mitunter das göttliche Wesen. Daher hat Gott, sofern er die Geschöpfe durch sein Wesen erkennt, keine spe­ zifische Erkenntnis von den Dingen. 111  Vgl. Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 25–26: »z. B. ist das Feuer das Wärmste, denn es ist auch für die anderen Dinge die Ursache ihres Warm­ seins« [Übers. Th. A. Szlezák]. 112  Aristoteles, Met. X, 3; 1053 b 28–34.

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6.  Wenn Gott ein Geschöpf erkennt, erkennt er es entweder in der eigenen Wesensnatur oder in einer Idee. Wenn in seiner eige­ nen Wesensnatur, dann gilt: Die eigentümliche Wesensnatur ist das Medium, durch das Gott das Geschöpf erkennt; das Medium der Erkenntnis ist die Vollkommenheit des Erkennenden. Also würde die Wesensnatur des Geschöpfes die Vollkommenheit des göttlichen Verstandes sein, was abwegig ist. Wenn Gott hingegen das Geschöpf in der Idee erkennt, gilt: Da die Idee weiter vom Ding entfernt ist, als es seine wesentlichen und akzidentellen Bestimmungen sind, wird er eine geringere Erkenntnis vom Ding haben, als es jene ist, die ihr Fundament in den wesentlichen und akzidentellen Bestimmungen des Dinges hat, weil auch »die Akzidentien einen großen Teil zur Erkenntnis des Wesens beitragen«, wie es im 1. Buch der Schrift Über die Seele113 heißt. Also hat Gott keine eigentümliche Erkennt­ nis von den Dingen. 7.  Durch ein allgemeines Medium läßt sich keine spezifische Er­ kenntnis von irgendeinem Einzelnen gewinnen, wie man ja etwa durch den Begriff ›Lebewesen‹ keine spezifische Erkenntnis vom Menschen hat. Nun ist aber das göttliche Wesen das im höchsten Maße allgemeine Medium, weil es sich allgemein auf alles, was er­ kennbar ist, bezieht. Also kann Gott durch sein Wesen keine eigen­ tümliche Erkenntnis von den Geschöpfen haben. 8.  Das Erkennen wird durch das Medium der Erkenntnis befä­ higt, also wird man eine eigentümliche Erkenntnis nur durch ein eigentümliches Medium haben. Nun kann aber das göttliche Wesen nicht das eigentümliche Mittel zur Erkenntnis dieses Geschöpfes sein, denn wenn es das eigentümliche Medium für dieses wäre, wäre es für ein anderes nicht das Medium der Erkenntnis. Was nämlich dem einem und dem anderem zugehört, ist beidem gemeinsam und nicht einem von beiden eigentümlich. Also hat Gott, der durch sein Wesen die Geschöpfe erkennt, keine eigentümliche Erkenntnis von diesen. 9.  Dionysius sagt im 7. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen114, daß Gott »die materiellen Dinge auf immaterielle Weise 113  Aristoteles, De an. I, 1; 402 b 21; vgl. De ver., q.  1, Anm.  171. 114  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869 B; Dion. I,

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und das Viele auf eine Weise« oder auch das Unterschiedene auf eine nicht unterschiedliche Weise erkennt. Von welcher Art nun aber die göttliche Erkenntnis ist, auf diese Art erkennt Gott die Dinge. Also hat Gott keine unterschiedliche Erkenntnis von den Dingen und erkennt also dieses und jenes nicht auf eine je spezifi­ sche Weise. Dagegen spricht: 1.  Niemand kann bei den Dingen Unterschiede erfassen, von de­ nen er nicht jeweils eine spezifische Erkenntnis hat. Nun erkennt aber Gott die Dinge in der Weise, daß er zwischen ihnen unter­ scheidet. Er erkennt nämlich, daß dieses nicht jenes ist, andernfalls gäbe er den einzelnen Wesen nicht ihrer Fassungskraft entspre­ chend noch würde er jeglichem seinem Werk entsprechend vergelten, indem er auf gerechte Weise über die Handlungen der Menschen ­urteilt. Also hat Gott eine spezifische Erkenntnis von den Dingen. 2.  Man darf Gott nichts Unvollkommenes zuschreiben. Nun ist aber die Erkenntnis, durch die man etwas im Allgemeinen und nicht im Einzelnen erkennt, unvollkommen, weil ihr etwas fehlt. Also be­ zieht sich die göttliche Erkenntnis von den Dingen nicht nur auf das Allgemeine, sondern auch auf das Spezifische. 3.  Dementsprechend verhielte es sich bei Gott, »der der glücklich­ ste ist, der unwissendste zu sein«, wenn er von den Dingen nicht das erkennen würde, was wir erkennen. Dies hält auch Aristoteles im 1. Buch seiner Schrift Über die Seele115 und im 3. Buch der Meta­ physik116 für etwas Sinnwidriges. Antwort: Aus dem Umstand, daß Gott die Dinge auf ihr Ziel ausrichtet, läßt sich der Beweis führen, daß Gott eine spezifische Erkenntnis 398): »Indem also die göttliche Weisheit sich selbst kennt, kennt sie alles, auf immaterielle Weise das Materielle, auf ungeteilte Weise das Geteilte, auf einfach Weise das viele, und so erkennt und erschafft sie alles in einem einzigen« [Übers. B. R. Suchla]; vgl. De ver., q.  2, Anm.  173. 115  Aristoteles, De an. I, 12; 410 b 2–7; vgl. ScG I, 65 (ed. C. Pera, nr.  538). 116  Aristoteles, Met. III, 11; 1000 b 3–6.

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von den Dingen hat, weil man ein Ding nicht auf sein spezifisches Ziel ausrichten kann, wenn man nicht das Spezifische seines Wesens erkennt, entsprechend dem es in einem bestimmten Verhältnis zu jenem Ziel steht. Auf welche Weise dies nun aber möglich ist, muß man auf folgende Weise betrachten. Durch die Erkenntnis der Ursache wird die Wirkung nur des­ wegen erkannt, weil die Wirkung aus ihr folgt. Daher gilt: Wenn irgendeine allgemeine Ursache, deren Tätigkeit nur von einer ein­ zelnen Ursache zu einer Wirkung bestimmt würde, vorliegt, wäre mit der Erkenntnis jener allgemeinen Ursache keine eigentümliche Erkenntnis von ihrer Wirkung verbunden, vielmehr hatte man von dieser nur das allgemeine Wesen erkannt. Beispielsweise wird die Wirksamkeit der Sonne zur Hervorbringung dieser Pflanze mittels der Keimkraft dieser Pflanze, die in der Erde oder im Samen liegt, bestimmt. Daher gilt: Wenn die Sonne sich selbst erkennen würde, hätte sie keine spezifische Erkenntnis von dieser Pflanze, sondern nur eine allgemeine, es sei denn, diese erkennt zugleich damit die spezifische Ursache davon. Deshalb gilt: Dazu, daß eine spezifische und vollkommene Erkenntnis von irgendeiner Wirkung vorliegt, ist es notwendig, daß im Erkennenden alle Erkenntnisse der allgemei­ nen und besonderen Ursachen versammelt werden. Dies ist es, was Aristoteles am Anfang der Physik sagt: »Erst dann kann man von uns sagen, daß wir erkennen, wenn wir die ersten Ursachen und die ersten Prinzipien bis zu den Elementen erkennen«117; d. h. bis zu den unmittelbaren Ursachen, wie Averroes118 dies auslegt. In die­ sem Sinne setzen wir etwas in der göttlichen Erkenntnis aufgrund davon, daß Gott dessen Ursache ist; dies ist nämlich in der Weise in Gott, daß es von ihm erkannt werden kann. Daher gilt: Da Gott die Ursache aller spezifischen und allgemeinen Ursachen ist, erkennt er durch sein Wesen alle spezifischen und allgemeinen Ursachen, weil in einem Ding nichts ist, was seine allgemeine Wesensnatur näher bestimmt, wovon Gott nicht die Ursache wäre. Deshalb gilt: Aus 117  Aristoteles, Phys. I, 1; 184 a 12–14; vgl. De ver., q.  2, Anm.  255. 118  Averroes, In Phys. I, comm. 1 (IV, 6 F); in seinem späteren Kom­

mentar zur aristotelischen Physik kritisiert Thomas Averroes’ Unterschei­ dung: In Phys. I, 1 (ed. M. Maggiòlo, nr. 5).

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eben dem Grund, durch den man behauptet, daß Gott die allgemeine Natur der Dinge weiß, behauptet man auch, daß er die spezifische Natur der Dinge und deren spezifischen Ursachen erkennt. Diesen Grund führt Dionysius im 7. Buch seiner Schrift Über die göttlichen Namen an, indem er sagt: »Wenn Gott als die eine Ursache allen existierenden Dingen das Sein mitteilt, weiß er aufgrund derselben Ursache alles«119; und weiter unten: »Er selbst als Ursache von allem erkennt sich selbst, es bleibt leer irgendwo, wenn er das, was durch ihn ist und dessen Ursache er ist, nicht kennt.«120 ›Leer bleiben‹ heißt hier, unvollständig sein beim Bewirken von etwas, was sich in einem Ding findet, was die Folge in dem Fall wäre, wenn er etwas von dem, was im Ding ist, nicht erkennen würde. Daher wird aus dem Dargelegten ersichtlich, daß alle Vergleiche, die zur Verdeutlichung angeführt werden, daß Gott durch sich alles erkennt, unzulänglich sind; etwa das Beispiel des Punktes: Wenn er sich selbst erkennen würde, heißt es, würde er die Linien erkennen, und vom Licht, wenn es sich erkennen würde, würde es die Farben erkennen. Es kann nämlich nicht alles, was zu einer Linie gehört, auf den Punkt zurückgeführt werden, daher würde der sich selbst erkennende Punkt nicht die Linie erkennen außer im Allgemeinen; ähnlich auch nicht das Licht die Farbe. Anders verhält es sich, wie aus dem Dargelegten ersichtlich wird, mit der göttlichen Erkenntnis. Zu 1.  Den Satz des Boethius muß man auf unseren Verstand und darf ihn nicht auf den göttlichen Verstand beziehen, der das Ein­ zelne sehr wohl zu erkennen vermag, wie unten121 behauptet werden wird. Gleichwohl hat auch unser Verstand, der die Einzeldinge nicht erkennt, eine spezifische Erkenntnis von den Dingen aufgrund der 119  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869 B; Dion. I, 399): »Wenn nämlich Gott gemäß einer einzigen Ursache allem Seienden am Sein Anteil gibt, so wird er auch gemäß der gleichen einzigen Ursache alles wissen« [Übers. B. R. Suchla]. 120  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869 C; Dion. I, 400); Übers. E. Stein: »Denn indem die Ursache aller Dinge sich selbst erkennt, kann sie unmöglich ohne Erkenntnis dessen sein, was von ihr ausgeht und dessen Ursache sie ist« (ESGA XVII, 136). 121  Vgl. De ver., q.  2, a.  5 (S. 138 ff.).

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spezifischen Bestimmungen der Art. Daher gilt: Wenn der göttliche Verstand auch die Einzeldinge nicht erkennen würde, könnte er doch eine eigentümliche Erkenntnis von den Dingen haben. Zu 2.  Gott erkennt alles in einem einzigen, das der Begriff von vielem ist, nämlich in seinem Wesen, welches das Urbild aller Dinge ist, und weil sein Wesen das Urbild eines jeden Dinges ist, deshalb hat er von einem jeden eine spezifische Erkenntnis. Auf welche Weise nun aber ein Eines der spezifische und allgemeine Begriff von vielem sein kann, läßt sich folgendermaßen vergegenwärtigen. Das göttliche Wesen ist nämlich aufgrund dessen der Begriff ir­ gendeines Dinges, daß dieses Ding das göttliche Wesen nachahmt. Kein Ding ist nun aber eine vollständige Nachahmung des göttlichen Wesens. In diesem Fall könnte es nämlich nur eine einzige Nachah­ mung geben, und sein Wesen wäre durch diese Art der spezifische Begriff nur von einem, wie ja nur eines das Bild des V ­ aters122 ist, das ihn vollständig nachahmt, nämlich der Sohn. Da ein geschaffe­ nes Ding das göttliche Wesen jedoch unvollkommen nachahmt, gibt es verschiedene, Gott auf verschiedene Weise nachahmende Dinge, bei denen gleichwohl in keinem etwas ist, das nicht vom Urbild des göttlichen Wesens herrührt. Deshalb hat dasjenige, was das Spezifi­ sche einer jeden Sache ist, in der göttlichen Wesenheit etwas, das es nachahmt, und in dieser Hinsicht ist das göttliche Wesen das Urbild des Dinges im Hinblick auf das Spezifische dieses Dinges, und da­ her ist es sein eigentümlicher Begriff. Aus demselben Grund ist es der spezifische Begriff eines anderen Dinges und überhaupt aller anderen. Er ist also der allgemeine Begriff von allem, sofern es eine Wirklichkeit ist, die alle nachahmen, es ist der spezifische Begriff von diesem und jenem, sofern die Dinge ihn auf verschiedene Weise nachahmen. Demzufolge begründet das göttli­ che Wesen die spezifische Erkenntnis von jedwedem Ding, sofern es der spezifische Begriff eines jeden ist. Zu 3.  Das Feuer ist Ursache der warmen Dinge nicht im Hinblick auf alles, was in ihnen liegt, wie dies von der göttlichen Wesenheit gesagt worden ist. Daher liegt nicht derselbe Fall vor. 122  Kol. 1, 15: »Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgebo­ rene vor aller Schöpfung« [Jerusalemer Bibel]; vgl. De ver., q.  2, Anm.  19.

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Zu 4.  Das Weißsein übertrifft die grüne Farbe im Hinblick auf das andere gegenüber dem, was zur Natur der Farbe gehört, nämlich im Hinblick auf das Licht, welches das Formbestim­ mende in der Zusammensetzung der Farbe ist und aufgrund dessen es das Maß der anderen Farben ist. Doch findet sich in den Farben noch etwas anderes, was den Sinngehalt des Stofflichen in ihnen hat, nämlich die Begrenzung des Durchscheinens, und in dieser Hinsicht ist das Weißsein nicht das Maß der anderen Farben. Daraus wird Folgendes ersichtlich: In der Farbe weiß ist nicht das Ganze von all dem, was sich in den anderen Farben findet, und deshalb kann durch diese Farbart ›weiß‹ keine spezifische Erkenntnis der anderen Far­ ben gewonnen werden. Anders steht es hingegen mit dem göttlichen Wesen. Deshalb sind die anderen Dinge im göttlichen Wesen als in ihrer Ursache, die anderen Farben sind jedoch nicht im Weißsein als in ihrer Ursache. Daher liegt keine Entsprechung vor. Zu 5.  Der Beweis ist die Art von Begründung, durch die die Be­ wegung des Verstandes zur Vollendung kommt. Daher erkennt der göttliche Verstand, in dem es keine gedankliche Bewegung gibt, durch sein Wesen nicht derart seine Wirkungen, daß er einen Be­ weis anstellte, auch wenn er durch sein Wesen eine gewissere Er­ kenntnis von den Dingen hat als sie jemand, der einen Beweis führt, durch seinen Beweis hat. Wenn jemand auch sein Wesen mit dem Verstand erfassen würde, würde er mit höherer Gewißheit die We­ sensnatur der einzelnen Dinge erkennen als durch den Mittelbegriff des Beweises die Schlußfolgerung. Es folgt daraus, daß sein Wesen ewig ist, dennoch nicht, daß die Wirkungen schon von Ewigkeit her Bestand haben, weil die Wirkungen nicht in der Weise in seinem Wesen sind, daß sie in sich selbst immer existieren, sondern daß sie dann existieren, wann es nämlich die göttliche Weisheit be­ stimmt. Zu 6. Gott erkennt die Dinge in deren eigener Wesensnatur, wenn sich jene Bestimmung der Erkenntnis auf das Erkannte be­ zieht. Wenn wir hingegen von der Erkenntnis im Hinblick auf den Erkennenden sprechen, so erkennt er die Dinge in der Idee, d. h. durch die Idee, die das Urbild aller Dinge ist, die es gibt, sowohl der akzidentellen wie der wesentlichen Bestimmungen, obgleich sie selbst weder das Akzidens eines Dinges noch sein Wesen ist. Dem­

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4. Artikel

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entsprechend ist auch das Abbild eines Dinges in unserem Verstand weder akzidentell noch essentiell für das Ding selber, sondern ist das Abbild entweder des Wesens oder des Akzidens. Zu 7.  Das göttliche Wesen ist ein allgemeines Medium der Er­ kenntnis im Sinne einer allgemeinen Ursache. Es verhält sich auf je andere Weise als allgemeine Ursache zur Hervorbringung der Er­ kenntnis und als allgemeine Form: In der allgemeinen Form be­ findet sich die Wirkung nämlich der Möglichkeit nach, so wie die Unterschiede in der Gattung entsprechend dem Verhältnis sind, wie die Formen in der Materie sind, wie Porphyrius123 sagt, doch die Wirkungen sind in der Ursache im Sinne eines hervorbringen­ den Vermögens; und weil jegliches insofern erkannt wird, als es zur bestimmten Wirklichkeit gekommen ist,124 und nicht, sofern es in Möglichkeit ist, deshalb reicht das, wie die artbildenden Unter­ schiede der Gattung der Möglichkeit nach in der Gattung sind, nicht dazu, durch die Form der Gattung eine eigentümliche Erkenntnis der Art zu gewinnen, vielmehr ist aus dem Umstand, daß die Eigen­ tümlichkeiten eines Dinges in irgendeiner wirkenden Ursache sind, hinreichend gewährleistet, daß durch jene Ursache eine Erkenntnis von einem Ding vorliegt. Daher gilt: Allein durch Hölzer und Steine erkennt man ein Haus nicht so, wie man es in der Weise der Form, die im Künstler liegt, erkennt. Da die eigentümlichen Bestimmun­ gen einer jeden Sache in Gott als der bewirkenden Ursache sind, deshalb gilt: Obwohl sie ein allgemeines Medium ist, kann sie die spezifische Erkenntnis eines jeden Dinges hervorbringen. Zu 8.  Das göttliche Wesen ist sowohl allgemeines als auch spezi­ fisches Medium, jedoch nicht, wie gesagt,125 in derselben Hinsicht. Zu 9.  Wenn man sagt, daß Gott das Unterschiedene ohne Unter­ schied erkennt, dann gilt: Wenn der Ausdruck ›ohne Unterschied‹ die Erkenntnis im Hinblick auf den Erkennenden bestimmt, ist dies wahr, und in diesem Sinne versteht es Dionysius, weil Gott in e­ iner 123  Porphyrius, Isagoge, c.  3 (ed. L. Minio Paluello, 18). 124  Vgl. Aristoteles, Met. IX, 9; 1051 a 29–31; Thomas von Aquin, In

Met. IX, 10 (ed. R. M. Spiazzi, nr. 1894); vgl. J. Hamesse, Auctoritates Aristotelis, 135. 125  In corp. art.

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einzigen Erkenntnis alles Unterschiedene erkennt. Wenn jener Ausdruck die Erkenntnis hingegen im Hinblick auf das Erkannte bestimmt, dann ist es falsch: Gott erkennt das Unterschiedensein des einen Dinges vom anderen, und er erkennt das, wodurch sich das eine vom anderen unterscheidet. Daher hat er von jedem Ding eine spezifische Erkenntnis.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Erkennt Gott das Einzelne?126 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Unser Verstand erkennt das Einzelne nicht, da er frei von Ma­ terie ist. Der göttliche Verstand ist aber in weitaus höherem Maße frei von Materie, also erkennt auch er das Einzelne nicht. 2. Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Unserem Verstand kommt dies, das Einzelne nicht zu erkennen, nicht nur deswegen zu, weil er immateriell ist, sondern weil er die Erkenntnis durch Ab­ straktion von den (Einzel-)Dingen gewinnt. – Doch dem steht wie­ derum entgegen: Der Verstand nimmt von den Dingen Erkenntnis ausschließlich vermittelt durch einen Sinn oder durch die Vorstel­ lungskraft auf; also nimmt in erster Linie der Sinn und die Vorstel­ lung etwas von den Dingen auf; gleichwohl wird das Einzelne durch Sinn und Vorstellungskraft erkannt. Es gibt also keinen Grund, daß der Verstand das Einzelne nicht erkennt, da er doch seine Erkenntnis von den Dingen aufnimmt. 3.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Der Verstand nimmt von den Dingen eine völlig bereinigte Form auf, nicht hingegen tun dies die Sinnlichkeit und die Vorstellung. – Doch dem steht wiederum entgegen: Die Reinigung der Form, die im Ver­ stand aufgenommen worden ist, ist nicht der Grund, warum der Verstand die Einzeldinge aufgrund des Ausgangspunktes nicht er­ kennt, vielmehr muß er sie gemäß dem erkennen, weil er in diesem 126  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  1, a.  1; ScG I, 65; Sum. theol. I, q.  14, a.  11; In Periherm. I, 14 (ed. Leon. I*/1, 70–79); Comp. theol. I, 132–133 (ed. Leon. XLII, 131–132).

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5. Artikel

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Sinne die ganze Angleichung aus dem zieht, was er vom Ding auf­ nimmt. Es ergibt sich also, daß die Reinheit der Form die Erkenntnis des Einzeldinges nur insofern behindern kann, als sie sich auf den Endpunkt bezieht, welcher in der Reinheit liegt, welche die Form im Verstand hat. Diese Reinheit der Form besteht nun aber ausschließ­ lich aufgrund der Reinheit des Verstandes von der Materie. Daher ist dies der einzige Grund, warum unser Verstand die Einzeldinge nicht erkennt, weil er von Materie frei ist. Deshalb gelangt man wieder zur vorgebrachten These: Gott erkennt die Einzeldinge nicht. 4.  Wenn Gott Einzeldinge erkennt, dann ist es notwendig, daß er alle Einzeldinge erkennt, weil der Grund für die Erkenntnis eines Einzeldinges derselbe ist wie für die Erkenntnis aller Einzeldinge. Er erkennt nun aber nicht alle, also erkennt er keines. Beweis für den Mittelsatz: Wie Augustinus in seiner Schrift Enchiridion sagt: »Bei vielem ist es besser, es nicht zu wissen, als es zu wissen«127, nämlich beim Wertlosen. Unter den Einzeldingen ist vieles wertlos. Wenn somit alles, bei dem es besser ist ,128 Gott zuzuschreiben ist, dann scheint es, daß er nicht alle Einzeldinge erkennt. 5.  Jede Erkenntnis geschieht durch Angleichung des Erkennen­ den an das Erkannte.129 Es gibt allerdings keine Angleichung der Einzeldinge an Gott, weil die Einzeldinge veränderlich und materie­ behaftet sind und vieles andere haben, von dem in Gott das genaue Gegenteil ist. Also erkennt Gott keine Einzeldinge. 6.  Was immer Gott erkennt, erkennt er in vollkommener Weise. Eine vollkommene Erkenntnis kann man von einem Ding nur dann haben, wenn es in der Weise erkannt wird, in der es ist. Da also Gott das Einzelne nicht auf die Weise erkennt, wie das Einzelding ist, weil das Einzelding materiebestimmt ist, Gott aber auf imma­ terielle Weise erkennt, scheint es, daß Gott die Einzeldinge nicht in 127  Augustinus, Enchiridion 5, 17 (CCSL 46, 57). 128  Zur später sogenannten regula Anselmi vgl. Anselm v. Canterbury,

Monologion, c.  15 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 28 f.); einige Belege für Inanspruchnahme, Kritik und Transformation im 13. und 14. Jahrhundert sind gesammelt bei R. Schönberger, Responsio Anselmi. Anselms Selbst­ interpretation in seiner Replik auf Gaunilo, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 36 (1989), 3–46, Anm.  101. 129  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  32.

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vollständiger Weise erkennen kann und sie daher in keiner Weise erkennt. 7.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Für eine vollkommene Erkenntnis ist es erforderlich, daß das Erkennende das Erkannte in der Weise erkennt, wie es ist, wobei die ›Weise‹ bezogen auf das Erkannte, nicht jedoch bezogen auf den Erkennenden verstanden wird.  – Doch dem steht wiederum entgegen: Die Erkenntnis ge­ schieht durch die Beziehung des Erkannten auf das Erkennende. Daher ist es notwendig, daß die Seinsweise des Erkannten und des Erkennenden dieselbe ist, und somit ist die genannte Unterschei­ dung nichtig. 8.  Nach Aristoteles130 gilt: Wenn jemand eine Sache finden will, ist es notwendig, daß er von ihr zuvor eine Kenntnis hat; und es ist auch nicht zureichend, daß er sie in einer allgemeinen Form hat, wenn diese Form nicht durch eine andere näher bestimmt wird. So kann beispielsweise niemand einen vermißten Sklaven sinnvoll su­ chen, wenn er nicht schon vorher eine Kenntnis von ihm hat, weil er ihn nicht wiedererkennen könnte, auch wenn er ihn fände; und es wäre auch nicht hinreichend, wenn er wüßte, daß er ein Mensch ist, da er auf diese Weise ihn nicht von anderen unterscheiden könnte. Demgegenüber ist es notwendig, daß er eine Kenntnis von ihm auf­ grund dessen hat, was ihm eigentümlich ist. Wenn also Gott irgend­ ein Einzelding erkennen soll, ist es unabdingbar, daß die allgemeine Form, durch die er es erkennt, nämlich seine eigene, durch etwas 130  Die Editio Leonina verweist zurecht darauf, daß dies in Wahrheit eine Lehre Platons ist; vermittelt wird sie durch Averroes, Anal. post. I, comm. 5 (I2 24 F); ein Verweis auch bei Thomas selbst, De ver., q.  22, a.  1, arg. 10. Aristoteles sagt immerhin – was freilich nicht dasselbe ist – ebenfalls, daß Lehren und Lernen bereits Vorwissen voraussetzen, so in dem Eingangssatz der Anal. post. I, 1; 71 a 1–2: »Jede Unterweisung und jedes verständige Erwerben von Wissen entsteht aus bereits vorhandener Kenntnis« [Übers. W. Detel]. Platons Dialog ›Menon‹ wurde wie auch der ›Phaidon‹ von Henricus Aristippus Mitte des 12. Jhs. übersetzt, Thomas hat die Übersetzung nicht gekannt, wie Gauthier einsichtig gemacht hat: In Post. Anal. I, 3, ad lin. 40–50 (ed. Leon. I*/2, 15); den Buchtitel kennt er über Aristoteles (Anal. post. I, 1; 71 a 29) durchaus: Sum. theol. I, q.  84, a.  3, arg. 3; In Anal. post I, 3 (ed. Leon. I*/2, 15, 38).

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5. Artikel

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anderes näher bestimmt wird. Da nun also in ihm selbst nichts ist, durch das es näher bestimmt werden könnte, scheint es, daß er Ein­ zeldinge nicht erkennt. 9.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Jenes Erkenntnisbild, durch das Gott erkennt, ist in der Weise allgemein, daß es gleich­ wohl das Spezifische eines jeden Dinges ist. – Doch dem steht wie­ derum entgegen: Das Spezifische und das Gemeinsame sind einan­ der entgegengesetzt. Daher ist es nicht möglich, daß dasselbe eine allgemeine und eine spezifische Form ist. 10.  Die Erkenntnis des Gesichtssinnes ist nicht durch das Licht auf etwas Farbiges ausgerichtet, welche das Medium im Sinn ist, sondern wird durch das Objekt bestimmt, die farbige Sache selbst. Bei der göttlichen Erkenntnis, durch die er ein Ding erkennt, ver­ hält sich sein Wesen als das Medium der Erkenntnis und wie ein Licht, durch das alles erkannt wird, wie auch Dionysius131 im 7. Ka­ pitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen sagt. Also wird seine Erkenntnis in keiner Weise auf etwas Einzelnes ausgerichtet, und ­somit erkennt er das Einzelding nicht. 11.  Da das Wissen eine Qualität ist,132 ist es eine Form von der Art, durch deren Veränderung ihr Träger verändert wird. Mit dem Wandel des Gewußten verändert sich das Wissen, weil gilt: Wenn ich weiß, daß du sitzt, ist mein Wissen hinfällig, wenn du dich er­ hebst. Also verändert sich das Wissen durch die Veränderung des Gewußten. Nun kann sich aber Gott auf keine Weise verändern; also können die Einzeldinge, die veränderlich sind, von ihm nicht gewußt werden. 12.  Jeder vermag ein Einzelding nur dann zu erkennen, wenn er dasjenige weiß, durch das ein Einzelding seine vollständige Bestim­ mung hat. Das, was das Einzelding zu seiner Einzelheit vervollstän­ digt, ist nun aber die Materie; Gott erkennt nun die Materie nicht, also auch nicht das Einzelne. Beweis des Mittelsatzes: Es gibt Dinge,

131  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869 B; Dion. I,

398). 132  Vgl. Aristoteles, Cat., c.  2; 1 b 1–2: »Wissen ist in einem Zugrunde­ liegenden, der Seele« [Übers. K. Oehler]; vgl. De ver., q.  2, Anm.  10.

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wie Boethius133 und wie Averroes134 in seinem Kommentar zum 2. Buch der Metaphysik des Aristoteles sagen, die wegen eines Man­ gels bei uns schwer zu erkennen sind, wie etwa dasjenige, was das von sich aus Offenkundigste ist, beispielsweise die immateriellen Substanzen; anderes hingegen, die wegen ihres eigenen Mangels nicht erkannt werden, wie etwa all das, was in geringem Maße Sein hat, wie Bewegung, Zeit, das Vakuum und dergleichen. Nun hat die erste Materie das geringste Maß an Sein. Also erkennt Gott die Ma­ terie nicht, die aufgrund ihrer selbst unerkennbar ist. 13.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Obwohl die Materie für unseren Verstand unerkennbar ist, ist sie doch für den göttlichen Verstand erkennbar. – Doch dem steht wiederum entgegen: Unser Verstand erkennt ein Ding durch das Abbild, das er vom Ding auf­ nimmt, der göttliche Verstand hingegen durch das Urbild, das die Ursache des Dinges ist. Nun wird freilich zwischen dem Urbild, wel­ ches die Ursache des Dinges ist, und dem Ding selbst eine größere Übereinstimmung verlangt als zum anderen Bild. Wenn also der Mangel der Materie in der Ursache liegt, so daß er keine so große Ähnlichkeit in unserem Verstand sein kann, die für eine Erkenntnis zureicht, dann ist das um so mehr bei der Ursache der Fall, so daß im göttlichen Verstand ein Urbild der Materie zu deren Erkenntnis hinreichend ist. 14.  Nach Algazali135 ist der Grund dafür, warum Gott sich selbst erkennt, darin, daß drei Dinge, die für die Erkenntnis erforderlich sind, nämlich das erkennende Wesen, das von Materie frei ist, und das von der Materie freie Erkennbare und die Einheit von beidem in Gott vorkommen. Daraus ergibt sich, daß alles nur insofern erkannt wird, als es von Materie frei ist. Das Einzelding als solches ist nun 133  Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, c.  1 (PL 64, col. 1341 B; ed. H. F. Stewart / K. Rand / S. J. Tester, 73; ed. M. Elsässer, 69: »Es ist je­ doch hinzuzufügen ›auf gewisse Weise‹, weil Gott und die Materie von einer unbeeinträchtigten und vollkommenen Vernunft nicht gedacht wer­ den können, sondern auf irgendeine Weise durch Wegnahme der übrigen Dinge erfaßt werden.«). 134  Averroes, In Met. II, comm. 1 (VIII, 28 B). 135  Algazel, Metaph., p.  1, tr.  3, sent.  6 (ed. J. T. Muckle, 71); vgl. De ver., q.  2, Anm.  5.

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aber von der Materie nicht zu trennen. Also ist es nicht möglich, das Einzelding zu erkennen. 15.  Die Erkenntnis steht in der Mitte zwischen dem Erkennenden und dem Gegenstand. Daher gilt: Je mehr die Erkenntnis hinter dem zu Erkennenden zurückbleibt, um so unvollkommener ist sie. Wann immer nun die Erkenntnis zu etwas geführt wird, was außerhalb des Erkennenden ist, fällt sie im Verhältnis zu einem anderen ab. Da also die göttliche Erkenntnis die vollkommenste ist, scheint es nicht, daß sich seine Erkenntnis auf die Einzeldinge, die außerhalb von ihm sind, bezieht. 16.  Die Tätigkeit des Erkennens hängt wesentlich in der Weise vom Erkenntnisvermögen ab, wie sie auch vom erkennbaren Ge­ genstand wesentlich abhängt. Nun ist es aber sinnwidrig, zu be­ haupten, daß die Tätigkeit des göttlichen Erkennens, da sie Gottes Wesen ist, von etwas außerhalb seiner abhängt. Also ist auch die Behauptung sinnwidrig, daß er die Einzeldinge erkennt, die außer­ halb seiner sind. 17.  Alles wird in der Weise erkannt, in der es im Erkennenden ist, wie Boethius136 im 5. Buch seiner Schrift Über den Trost der Phi­ losophie sagt. Die Dinge sind aber in Gott auf immaterielle Weise und daher ohne die individuierende Bestimmung der Materie und der durch sie bedingten Beschaffenheiten. Also erkennt Gott das nicht, was von der Materie abhängt, wie dies bei den Einzeldingen der Fall ist. Dagegen spricht: 1. Im 1. Korintherbrief, Kap. 13, heißt es: »Dann werde ich erken­ nen, wie ich erkannt bin.«137 Der Apostel, der hier selbst gesprochen hat, ist nun aber ein Einzelnes. Also erkennt Gott Einzeldinge. 2.  Gott erkennt die Dinge insofern, als er selbst deren Ursache ist, wie aus dem zuvor Dargelegten138 hervorgeht. Er selbst ist nun aber die Ursache der Einzeldinge, also erkennt er die Einzeldinge. 136  Boethius, Philos. consol. V, pr. 4 (CCSL 94, 96 f.); vgl. De ver., q.  2, Anm.  91. 137  1 Kor. 13, 12. 138  Vgl. De ver., q.  2, a.  3 (S. 115).

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3.  Es ist unmöglich, die Natur eines Werkzeuges zu erkennen, wenn man nicht auch das erkennt, worauf das Werkzeug ausgerich­ tet ist. Nun sind aber die Sinne solche Vermögen, die auf die Er­ kenntnis des Einzelnen ausgerichtet sind. Wenn also Gott die Ein­ zeldinge nicht erkennen würde, würde er auch die Natur des Sinnes und demzufolge auch die Natur des menschlichen Verstandes nicht erkennen, dessen Formen, die sich in der Vorstellung befinden, sein Gegenstand sind. Das ist widersinnig. 4.  Die Macht Gottes und seine Weisheit kommen einander gleich. Daher gilt: Was immer seiner Macht unterliegt, unterliegt auch sei­ nem Wissen. Seine Macht erstreckt sich nun aber auf die Hervor­ bringung der Einzeldinge. Also erstreckt sich auch sein Wissen auf die Erkenntnis derselben. 5.  Wie oben139 gesagt wurde, hat Gott von den Dingen eine spe­ zifische und bestimmte Erkenntnis. Dies wäre freilich nicht der Fall, wenn er nicht das wüßte, wodurch sich die Dinge voneinander un­ terscheiden. Also erkennt er die einzelnen Beschaffenheiten eines jeden Dinges, durch die sich ein Ding von einem anderen unter­ scheidet. Also erkennt Gott die Einzeldinge in ihrer Einzelheit. Antwort: Bei diesem Problem hat es vielfältige Irrtümer gegeben. Man­ che Philosophen, wie Averroes in seinem Kommentar zum 11. Buch der aristotelischen Metaphysik140, haben schlechthin geleugnet, daß Gott die Einzeldinge erkennt, außer etwa im Allgemeinen, dies in der Absicht, die Wesensnatur des göttlichen Verstandes auf das Maß unseres Verstandes einzuschränken. Doch dieser Irrtum läßt sich durch das Argument des Aristoteles aufheben, durch das er im er­ sten Buch seiner Schrift Über die Seele141 und im 3. Buch der Meta­ 139  Vgl. De ver., q.  2, a.  4 (S. 126 ff.). 140  Averroes, In Met. XII, comm. 51 (VIII, 337 A); vgl. De ver., q.  2,

Anm.  59. 141  Aristoteles, De an. I, 5; 410 b 4–7: »Dem Empedokles kommt her­ aus, dass selbst der Gott ziemlich dumm ist: Denn er allein wird von den Elementen eines nicht erkennen, den Streit, während die Sterblichen alles; denn ein jedes ist aus allen« [Übers. Th Buchheim].

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physik142 Empedokles angreift: Wenn Gott nämlich, wie dies aus den Aussagen des Empedokles hervorgeht, den Haß nicht kennt, den an­ dere erkennen, würde folgen, daß »Gott am unwissendsten wäre, wo er doch der glückseligste« und demzufolge der im höchsten Maße weise ist. Ähnliches gilt also, wenn man behauptet, Gott erkenne die Einzeldinge nicht, die wir alle erkennen. Deshalb sagten andere, wie beispielsweise Avicenna143 und die ihm folgten, daß Gott jedes Einzelding erkennt, doch gleichsam im Allgemeinen, da er alle allgemeinen Ursachen erkennt, durch die die Einzeldinge hervorgebracht werden; beispielsweise so: Wenn ein Sternkundiger alle Himmelsbewegungen und Entfernungen der Himmelskörper erkennt, weiß er jede Finsternis, die sich bis in 100 Jahren einstellen wird, er erkennt sie jedoch nicht, sofern sie ein Einzelnes ist, so daß er wissen würde, daß sie jetzt stattfindet oder nicht stattfindet, so wie sie auch ein Bauer weiß, wenn er sie sieht. In diesem Sinne haben sie behauptet, daß Gott die Einzeldinge erkennt, nicht in dem Sinne, daß er ihre jeweilige Bestimmung kennt, sondern durch die Erkenntnis der allgemeinen Ursachen. Doch auch diese Auffassung läßt sich nicht aufrechterhalten, weil aus allgemeinen Ursachen ausschließlich allgemeine Formen folgen, wenn es nicht etwas gibt, durch das die Formen zu einzelnen wer­ den. Durch die in einer Ordnung verknüpften allgemeinen Ursa­ chen, wie viele es auch sein mögen, wird kein Einzelnes gebildet, weil die Verknüpfung dieser Formen auch dann noch als in vielen seiend verstanden werden kann. Deshalb gilt: Wenn jemand im eben genannten Sinne eine Finsternis erkennen würde, würde er nichts Einzelnes, sondern nur etwas Allgemeines erkennen. Die allgemeine Wirkung entspricht der allgemeinen Ursache, die einzelne hingegen der einzelnen. Daher bliebe es bei der genannten Sinnwidrigkeit, daß Gott die Einzeldinge nicht erkennt. 142  Aristoteles, Met. III, 3; 1000 b 3–6: »Daher ergibt sich für ihn auch, daß der glückseligste Gott weniger Einsicht hat als die anderen Wesen, denn er kennt nicht alles; den Streit nämlich besitzt er nicht, die Kenntnis des Gleichen ergibt sich aber durch das Gleiche« [Übers. Th. A. Szlezák]. 143  Avicenna, Philos. prima VIII, 6 (ed. S. Van Riet, 417 f.).

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Deshalb muß man ohne Einschränkung zugeben, daß Gott alle Einzeldinge erkennt, nicht nur in ihren allgemeinen Ursachen, son­ dern ein jedes auch in seiner spezifischen und einzelnen Natur. Um dies einleuchtend zu machen, muß man wissen, daß das Wissen, das Gott von den Dingen hat, dem Wissen des Künstlers darin gleicht, daß Gott die Ursache aller Dinge ist wie eine Kunst die Ursache aller ihrer Kunstgebilde. Der Künstler erkennt nun aber das kunstgerecht Hervorgebrachte durch die Form der Kunst, die er in sich hat, sofern er etwas hervorbringt. Der Künstler bringt die Form nur insofern hervor, als die Materie die Natur vorbereitet. Deshalb erkennt der Künstler durch seine Kunst die kunstgerechten Dinge nur durch die Form; jede Form ist aber für sich genommen allgemein. Deshalb erkennt der Baumeister durch seine Kunst ein Haus im Allgemei­ nen, nicht aber dieses oder jenes Haus, es sei denn, daß er durch seine Sinneswahrnehmung deren Erkenntnis gewinnt. Wenn jedoch die Form einer Kunst ebenso wie die Form auch die Materie her­ vorbrächte, würde der Künstler durch die Kunst das kunstgerecht Hervorgebrachte, und zwar in seiner Form und in seiner Materie, erkennen und deshalb, da die Materie das Individuationsprinzip ist, nicht nur in seiner allgemeinen Natur, sondern auch als ein Einzel­ nes erkennen. Daher gilt: Da die göttliche Kunst nicht nur die Form, sondern auch die Materie hervorbringt, ist in ihr nicht nur das Ur­ bild der Form, sondern auch der Materie, und deshalb erkennt Gott das Ding sowohl im Hinblick auf die Form wie im Hinblick auf die Materie, daher erkennt er nicht nur das Allgemeine, sondern auch das Einzelne. Es bleibt dann freilich noch ein Problem: Da alles, das in etwas ist, in ihm in der Weise desjenigen ist, in dem es ist,144 und also das Ur­ bild des Dinges in Gott ausschließlich auf immaterielle Weise sein kann, woher kommt es dann, daß unser Verstand aufgrund dessen, daß er die Formen der Dinge auf immaterielle Weise aufnimmt, das Einzelne nicht erkennt, Gott es aber durchaus erkennt? Der Grund dafür tritt deutlich zutage, wenn man das unterschiedliche Verhält­ nis zu dem Ding, welches das Abbild des Dinges, das in unserem Verstand ist, und das Urbild von diesem Ding, das im göttlichen Ver­ 144  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  91.

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stand ist, ins Auge faßt. Jenes Abbild nämlich, das in unserem Ver­ stand ist, wird insofern vom Ding aufgenommen, als das Ding auf den Verstand wirkt, indem es freilich zuerst auf die Sinne einwirkt. Die Materie kann nämlich wegen der Schwäche des Seins, da sie ein nur in Möglichkeit Seiendes ist, kein Prinzip der Wirksamkeit sein,145 und deshalb wirkt das Ding, das auf unsere Seele wirkt, al­ lein durch die Form. Daher hat das Abbild des Dinges, das unserem Sinn eingeprägt wird und um einige Grade gerei­ nigt zum Verstand gelangt, nur ein Abbild mit der Form. Das Urbild des Dinges, das im göttlichen Verstand ist, bringt hingegen das Ding hervor. Das Ding hat jedoch – gleichgültig ob es stark oder schwach am Sein teilhat – dieses Sein ausschließlich von Gott. Dementspre­ chend ist das Urbild jedes Dinges in Gott, weil das Ding durch Gott am Sein teilhat. Daher ist das immaterielle Urbild, das Gott ist, nicht nur das Urbild der Form, sondern auch der Materie. Da es nun dazu, daß etwas erkannt wird, erforderlich ist, daß sein Abbild im Er­ kennenden ist, nicht hingegen, daß es in der Weise dort ist, wie es im Ding selbst ist, hat dies zur Folge, daß unser Verstand nicht das Einzelne erkennt, dessen Erkenntnis von der Materie abhängt, weil in ihm eben nicht das Abbild der Materie ist, nicht jedoch deswe­ gen, weil das Abbild auf immaterielle Weise in ihm ist. Der göttli­ che Verstand hingegen, der das Urbild der Materie, wenngleich auf immaterielle Weise, in sich hat, vermag das Einzelne zu erkennen. Zu 1.  Unser Verstand hat mit dem, was von der Materie getrennt ist, die Erkenntnis von den Dingen aufgenommen, und deshalb nimmt er weder in materieller Weise auf noch kann er ein Abbild 145  In potentia ens tantum, ein nur in Möglichkeit Seiendes, gehört zu den Übersetzungen, wo die Übersetzung das Gemeinte nicht hinreichend ausdrücken kann. Es ist weder unmittelbar das Können oder Vermögen ­einer Instanz gemeint, noch eine denkbare Möglichkeit einer Konstel­ lation des Wirklichen, sondern die Unbestimmtheit, die erst durch eine Form zu etwas Bestimmtem wird. Da die Wirkung nach Thomas aber im­ mer eine bestimmte ist, kann die Materie als unbestimmtes kein aktives Prinzip sein. Das Können ist inhaltlich bestimmt, etwa als eine der hier oft herangezogenen Kunst, aber hinsichtlich der tatsächlichen Ausführung und ihrer Art ist auch dieses unbestimmt.

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der Materie sein. Deshalb vermag er das Einzelne nicht zu erkennen. Anders verhält es sich, wie aus dem Dargelegten hervorgeht, beim göttlichen Verstand. Zu 2.  Das Sinnes- und das Vorstellungsvermögen sind Kräfte, die an körperliche Organe gebunden sind, und deshalb nehmen sie die Abbilder der Dinge auf materielle Weise auf, d. h. zwar ohne Mate­ rie, so doch mit den materiellen Beschaffenheiten; aufgrund dessen erkennen sie das Einzelne. Mit dem Verstand verhält es sich anders, und deshalb ist das Argument nicht stichhaltig. Zu 3.  Aus dem Abschluß der Reinigung ergibt sich, daß die Form auf immaterielle Weise aufgenommen wird. Nicht dies ist dafür hinreichend, daß das Einzelne nicht erkannt wird, vielmehr ist es vom Anfang dieser Tätigkeit an der Fall, daß das Abbild der Materie im Verstand nicht aufgenommen wird, sondern nur das der Form. Deshalb ist das Argument nicht stichhaltig. Zu 4.  Jegliche Erkenntnis gehört von sich aus zur Gattung des Guten,146 doch kann es faktisch der Fall sein, daß die Erkenntnis gewisser wertloser Dinge schlecht ist; dies entweder deswegen, weil sie Gelegenheit zu einer schändlichen Handlung gibt, und in die­ sem Sinne ist manches Wissen untersagt; oder auch dadurch, daß der Mensch durch manches Wissen vom Besseren weggezogen wird, und dann bewirkt das, was für sich genommen gut ist, etwas Schlech­tes. Dies kann aber bei Gott nicht der Fall sein. Zu 5.  Für die Erkenntnis ist nicht die Ähnlichkeit erforderlich, die sich aus der Formung durch die gleiche Wesensnatur ergibt, sondern nur die Ähnlichkeit in der Darstellung.147 Beispielsweise werden wir 146  Den Anfangssatz von De an. I, 1; 402 a 1: »[…] dass die Wissen­ schaft zu den schönen und wertvollen Dingen gehört«, kommentiert Tho­ mas folgendermaßen, In De an. I, 1 (ed. Leon. XLV/1, 4, 43–51 [ed. Pirotta nr. 3]): »Jedes Wissen ist gut, und nicht nur gut, sondern auch ehrwürdig. Nichtsdestoweniger übertrifft darin eine Wissenschaft die andere. Daß nun aber jede Wissenschaft gut ist, wird aus Folgendem ersichtlich: Das Gut eines Dinges ist das, durch welches das Ding sein vollkommenes Sein hat, darauf ist nämlich jedes Ding aus und erstrebt es. Da also das Wissen die Vollkommenheit des Menschen als Menschen ist, ist das Wissen das Gut des Menschen« [R. S.]. 147  Vgl. De ver., q.  2, a.  3, ad 9 (S. 105).

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5. Artikel

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durch eine goldene Statue zur Erinnerung an einen Menschen ge­ führt. Das Argument verfährt jedoch so, als wäre die Übereinstim­ mung in der Wesensnatur für die Erkenntnis erforderlich. Zu 6.  Die Vollkommenheit der Erkenntnis besteht darin, daß von einem Ding erkannt wird, daß es in der Weise ist, in der es ist, nicht darin, daß, wie oben148 mehrfach gesagt, die Seinsweise des erkann­ ten Dings im Erkennenden ist. Zu 7.  Die Beziehung des allgemein Erkannten auf den Erkennen­ den, der die Erkenntnis hervorbringt, ist nicht im Sinne der Identi­ tät zu verstehen, sondern im Sinne einer Darstellung. Daher besteht keine Notwendigkeit, daß derselbe Modus beim Erkennenden und beim Erkannten vorliegt. Zu 8.  Das Argument wäre stichhaltig, wenn das Urbild, durch das Gott erkennt, so allgemein wäre, daß es keinem einzelnen Ding eigentümlich wäre; das Gegenteil ist aber oben149 gezeigt worden. Zu 9.  Dasselbe kann nicht als dasselbe allgemein und zugleich spezifisch sein. Auf welche Weise das göttliche Wesen jedoch, durch das Gott alles erkennt, ein allgemeines Urbild und gleichwohl den Einzeldingen spezifisch ist, ist oben150 erläutert worden. Zu 10. Im körperlichen Gesichtssinn befindet sich ein doppel­ tes Medium: das Medium nämlich, worin er erkennt – dies ist das Licht –, und durch dieses Medium wird der Gesichtssinn nicht auf einen bestimmten Gegenstand ausgerichtet, und das Medium, durch das er erkennt, nämlich das Abbild der erkannten Sache, und durch dieses Medium wird der Gesichtssinn auf einen individuellen Ge­ genstand ausgerichtet. Das göttliche Wesen steht bei der göttlichen Erkenntnis, durch die es die Dinge erkennt, anstelle beider Medien, und deshalb kann es eine spezifische Erkenntnis der Einzeldinge hervorbringen. Zu 11.  Das Wissen Gottes verändert sich auf keine Weise entspre­ chend der Veränderung der Wissensgegenstände. Daraus ergibt sich, daß unser Wissen sich durch deren Veränderung verändert, weil es durch ein anderes Urteil die gegenwärtigen, die vergan­ 148  Vgl. De ver., q.  2, a.  2 (S. 99 f.) u. q.  2, a.  3, ad 1 (S. 115 f.). 149  De ver., q.  2, a.  4 (S. 126 ff.). 150  De ver., q.  2, a.  4, ad 2 (S. 129).

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genen oder die zukünftigen Dinge erkennt. Daher gilt: Wenn Sokra­ tes nicht sitzt, wäre jene ›Erkenntnis‹, die man von ihm hat, daß er sitzt, zu einer falschen geworden. Doch Gott sieht durch denselben Blick die Dinge als anwesende, vergangene oder zukünf­ tige. Daher verbleibt dieselbe Wahrheit in seinem Verstand, auf wel­ che Weise sich auch immer ein Ding verändert. Zu 12.  Dasjenige, das ein mangelhaftes Sein besitzt, ist in dieser Hinsicht auch in Bezug auf die Erkennbarkeit durch unseren Ver­ stand dadurch mangelhaft, daß es im Hinblick auf das Wirksamsein unzulänglich ist. Beim göttlichen Verstand, der sein Wissen, wie aus dem Dargelegten ersichtlich wird, nicht von den Dingen empfängt, verhält es sich jedoch nicht so. Zu 13.  Im göttlichen Verstand, der die Ursache der Materie ist, kann ein Urbild der Materie sein, das sie gleichsam prägt. Dem­ gegenüber kann in unserem Verstand kein Urbild sein, das für die Erkenntnis der Materie zureichend wäre, wie aus dem Dargelegten ersichtlich ist. Zu 14. Obgleich das Einzelne als solches nicht von der Mate­ rie getrennt werden kann, kann es doch durch ein von der Materie getrenntes Urbild erkannt werden, das das Urbild der Materie ist. Daher ergibt sich: Auch wenn das Urbild in seinem Sein von der ­Materie getrennt ist, ist es doch im Hinblick auf die Darstellung von dieser nicht getrennt. Zu 15.  Die Tätigkeit des göttlichen Erkennens ist nicht etwas Ver­ schiedenes von seinem Wesen, da in ihm Verstand und Erkennen dasselbe sind, weil seine Tätigkeit sein Wesen ist. Daher kann aus dem Grund, daß er etwas außerhalb seiner erkennt, seine Erkennt­ nis nicht nachlassend oder ›wegfließend‹ genannt werden. Außer­ dem kann keine Tätigkeit der erkennenden Kräfte ›wegfließend‹ ge­ nannt werden, wie es die Tätigkeiten der natürlichen Kräfte sind, die von einem tätigen Ding auf ein aufnehmendes Ding übergehen, weil das Erkennen keinen Ausfluß vom Erkennen­ den auf das Erkannte beinhaltet, wie dies bei natürlichen Vorgängen der Fall ist, vielmehr besagt sie das Sein des Erkannten im Erken­ nenden. Zu 16.  Die Tätigkeit der göttlichen Erkenntnis steht in keiner­ lei Abhängigkeit vom Erkannten: Die Beziehung, die sie beinhaltet,

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6. Artikel

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enthält keine Abhängigkeit der göttlichen Erkenntnis vom Erkann­ ten, vielmehr des Erkannten von der Erkenntnis, wie umgekehrt die Beziehung, die in der Bezeichnung ›Wissen‹ beinhaltet ist, die Ab­ hängigkeit unseres Wissens vom Wissensgegenstand. Die Tätigkeit der Erkenntnis verhält sich nicht auf diese Weise zum Gegenstand wie zum Erkenntnisvermögen. Sie nimmt ein substantielles Sein151 an, nämlich in seinem Sein durch das Erkenntnisvermögen, nicht jedoch durch den Gegenstand, weil die Tätigkeit im Vermögen, aber nicht im Gegenstand ist. Zu 17.  Etwas wird entsprechend der Weise erkannt, in der es im Erkennenden seine Darstellung findet, und nicht so, wie es im Er­ kennenden existiert. Das Abbild, das nämlich in der Erkenntnis­ kraft existiert, ist nicht das Prinzip der Erkenntnis eines Dinges im Hinblick auf das Sein, das es im Erkenntnisvermögen hat, sondern aufgrund der Relation, die es zur erkannten Sache hat. Darin liegt begründet, daß ein Ding nicht durch die Weise, in der das Abbild der Sache ein Sein im Erkennenden hat, erkannt wird, vielmehr durch die Weise, in der das Abbild, das im Verstand existiert, das Ding darstellt. Deshalb gilt: Obwohl das Urbild des göttlichen Verstandes ein immaterielles Sein hat, ist es, da es aber gleichwohl das Urbild der Materie ist, auch das Prinzip der Erkenntnis des Materiellen und daher auch des Einzelnen.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Erkennt der menschliche Verstand das Einzelne?152 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Der menschliche Verstand gewinnt dadurch eine Erkenntnis, daß er die Form von der Materie abstrahiert. Nun hebt aber die Ab­ straktion der Form von der Materie nicht deren Einzelheit auf, weil es auch bei den mathematischen Gegenständen, die von der Materie 151  Das Wort substantificare kommt vorwiegend in Werken der 1250er Jahre vor (u. a. Sent. III, d. 6, q.  1, pr.; De ver., q.  1, a.  10, arg. 5). 152  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  86, a.  1; Quodl. XII, q.  7, a.  un. [12] (ed. Leon. XXV/2, 407–408); De ver., q.  10, a.  5 (ed. Leon. XXII, 308–310).

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abstrahiert sind, ein Betrachten der einzelnen Linien gibt. Also hin­ dert den menschlichen Verstand der Umstand, daß er immateriell ist, nicht, das Einzelne zu erkennen. 2.  Die Einzeldinge werden nicht aufgrund dessen unterschieden, daß sie in einer gemeinsamen Natur übereinkommen, weil meh­ rere Menschen durch die Teilhabe an der Art ein Mensch sind.153 Wenn also unser Verstand ausschließlich das Allgemeine erkennen würde, dann würde er auch nicht die Unterscheidung des einen Ein­ zeldinges vom anderen erkennen, und demzufolge würde er nicht im Bereich der Handlungen leiten, bei denen wir durch eine Wahl bestimmt werden, welche wiederum eine Unterscheidung des einen vom anderen voraussetzt. 3.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Unser Verstand erkennt eben dadurch die Einzeldinge, daß er eine allgemeine Form auf et­ was Einzelnes bezieht. – Doch dem steht wiederum entgegen: Unser Verstand kann nicht das eine auf etwas anderes beziehen, wenn er nicht beides zuvor erkennt. Also geht die Erkenntnis des Einzelnen der Bezugnahme des Allgemeinen auf das Einzelne voraus. Also kann die zuvor genannte Bezugnahme nicht der Grund dafür sein, daß unser Verstand ein Einzelding erkennt. 4.  Nach Boethius im 5. Buch Vom Trost der Philosophie gilt: »Was die niedrigere Kraft kann, kann auch die höhere«154; wie er jedoch selbst an der Stelle sagt, steht der Verstand über der Vorstellungs­ kraft und die Vorstellungskraft über der Sinneserkenntnis. Also gilt: Wenn der Sinn das Einzelne erkennt, vermag auch unser Verstand das Einzelne zu erkennen. Dagegen spricht: Boethius sagt: »Das Allgemeine ist das, wenn der Verstand er­ kennt, das Einzelne das, wenn man sinnlich wahrnimmt.«155 153  Vgl. Porphyrius, Isagoge, c.  2 (ed. L. Minio-Paluello, 12). 154  Boethius, Philos. consol. V, pr. 4 (CCSL 94, 97); die Editio Leonina

verweist auf die Quelle bei Adamus Pulchrae Mulieris, Liber de intelli­ gentiis, 38, 3 (ed. C. Baeumker, 46); zu diesem Autor vgl. De ver., q.  2, Anm.  13. 155  Boethius, In Porphyrii Isagogen, ed. sec. I, 11 (CSEL 48, 167); vgl. De ver., q.  2, Anm.  110.

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6. Artikel

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Antwort: Jegliche Tätigkeit folgt aus der Bestimmung der tätigen Form, die das Prinzip der Tätigkeit ist; beispielsweise bemißt sich die Erwär­ mung nach dem Grad der Wärme. Das Abbild des Erkannten, durch das das Erkenntnisvermögen seine Form erhält, ist das Prinzip der wirklichen Erkenntnis, wie die Wärme das Prinzip der Erwärmung ist. Deshalb ist es notwendig, daß jegliche Erkenntnis aufgrund der Form geschieht, die im Erkennenden ist. Daher gilt: Da das Abbild des Dinges, das sich in unserem Verstand befindet, insofern aufge­ nommen wird, als es von der Materie und allen durch die Materie bedingten Beschaffenheiten, welche die Prinzipien der Individuation sind, abstrahiert ist, ergibt sich, daß unser Verstand für sich genom­ men nicht das Einzelne, sondern nur das Allgemeine erkennt. Jede Form ist nämlich als solche allgemein, es sei denn, es handelte sich um eine für sich bestehende Form, die aufgrund dessen, daß sie in sich Bestand hat, nicht mitteilbar156 ist. Allerdings ist es in einem akzidentellen Sinne möglich, daß un­ ser Verstand Einzelnes erkennt. Wie nämlich Aristoteles im 3. Buch seiner Schrift Über die Seele157 sagt, verhalten sich die Vorstellungs­ bilder zu unserem Verstand wie die sinnenfälligen Gegenstände zu den Sinnen, so wie sich etwa die Farben, die außerhalb der Seele sind, zum Gesichtssinn verhalten. Daher gilt: Wie das Erkenntnis­ bild, das sich in einem Sinn befindet, von den Dingen selbst abstra­ hiert wird und durch deren Erkenntnis der Sinn in Verbindung zu den sinnenfälligen Dingen selbst steht, so abstrahiert unser Ver­ stand das Erkenntnisbild von den Vorstellungsbildern, und durch deren Erkenntnis steht er in gewisser Weise in Verbindung zu den Vorstellungsbildern. Freilich besteht dabei auch ein großer Unterschied: Das Abbild, das sich in einem Sinn befindet, wird vom Ding als dem erkennba­ ren Objekt abstrahiert, und deshalb wird das Ding durch jenes Ab­ bild unmittelbar erkannt; das Abbild hingegen, das sich in unserem Verstand befindet, wird nicht vom Vorstellungsbild als dem erkenn­ 156  Incommunicabilis: nicht in mehreren Instanziierungen vorkom­ mend, so daß diese Instanzen die Form nicht miteinander teilen. 157  Aristoteles, De an. III, 7; 431 a 14–15.

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baren Objekt, sondern als dem Medium der Erkenntnis abstrahiert – dies in der Weise, wie unser Sinn das Abbild des Dinges aufnimmt, das sich in einem Spiegel befindet, wenn er sich darauf ausrichtet, nicht zu einer Art Ding, sondern als dem Abbild des Dinges. Da­ her gilt: Unser Verstand bezieht sich durch das Erkenntnisbild, das er empfängt, nicht direkt auf die Erkenntnis des Vorstellungsbildes, sondern auf die Erkenntnis des Dinges, auf das sich das Vorstel­ lungsbild bezieht. Gleichwohl wendet er sich durch eine Art Zurück­ beugung158 auf die Erkenntnis des Vorstellungsbildes selbst, wenn er das Wesen seiner Tätigkeit und des Abbildes, durch das er schaut, erkennt und das Wesen dessen, wovon er das Abbild abstrahiert, nämlich von den Vorstellungsbildern; vergleichbar dem Abbild, das sich, vom Spiegel aufgenommen, im Gesichtssinn befindet, bezieht sich der Gesichtssinn direkt auf die Erkenntnis des gespiegelten Din­ ges, doch durch eine Art Zurückbeugung wird er durch dieses auf das Abbild selbst bezogen, das sich im Spiegel befindet. Insofern also unser Verstand durch das Abbild, das er vom Vorstellungsbild emp­ fängt, zum Vorstellungsbild selbst gewendet wird, von dem er das Vorstellungsbild, welches seinerseits das Abbild des Einzeldinges ist, abstrahiert hat, hat er eine Erkenntnis vom Einzelding – aufgrund einer Art Verbindung zwischen Verstand zur Vorstellungskraft. Zu 1.  Es gibt, wie im 7. Buch der Metaphysik159 deutlich wird, eine zweifache Materie, von der aus eine Abstraktion vollzogen wird, nämlich die mit der Vernunft erfaßbare und die sinnenfällige Mate­ rie. Ich nenne ›mit der Vernunft erfaßbare‹ diejenige, die im Wesen eines Kontinuums vorliegt, die ›sinnenfällige‹ hingegen die Mate­ rie in der Natur. Beides wird im doppelten Sinne verstanden, näm­ lich als individuell bestimmt und als nicht individuell bestimmt; ich nenne sie ›individuell bestimmt‹160 dann, wenn sie unter der Be­ 158  Reflexio meint zuerst die Beugung eines Lichtstrahls, die durch einen Gegenstand bewirkt wird. Diese Ablenkung selbst schon durch das Wort ›Reflexion‹ zu übersetzen überspringt dieses Moment. 159  Aristoteles, Met. VII, 10; 1036 a 9–10; VII, 11. 160  Die Ausdrucksweise signata bzw. non signata läßt sich zwar wört­ lich übersetzen, der entsprechende deutsche Ausdruck bleibt aber unver­ ständlich. Zum Begriff eines materiellen Gegenstandes gehört zwar die

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6. Artikel

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stimmung von diesen oder jenen Dimensionen stehend betrachtet wird, ›nicht individuell bestimmt‹ hingegen, wenn sie ohne die Be­ stimmung von Dimensionen gedacht wird. Demgemäß muß man nun wissen, daß die individuell bestimmte Materie das Prinzip der Individuation ist, wovon jeder Verstand abstrahiert, sofern man von ihm sagt, daß er von dem hier und jetzt abstrahiert. Der naturphi­ losophisch verfahrende Verstand abstrahiert nun aber nicht von der sinnenfälligen, aber nicht individuell bestimmten Materie; er denkt nämlich den Menschen und das Fleisch und den Knochen, in deren Definition die sinnenfällige, nicht individuell bestimmte Materie fällt. Der mathematisch verfahrende Verstand abstrahiert von der sinnenfälligen Materie vollständig, nicht hingegen von der von der Vernunft erfaßbaren, nicht individuell bestimmten Materie. Daraus wird deutlich, daß diejenige Abstraktion, die allen Verstandesarten gemeinsam ist, die Form allgemein macht. Zu 2.  Laut Aristoteles im 3. Buch seiner Schrift Über die Seele161 ist nicht nur der Verstand in uns bewegend, vielmehr bewegt auch die Vorstellungskraft, durch die der allgemeine Begriff des Verstan­ des auf das einzelne, das man ausführen kann, bezogen wird. Daher hat der Verstand den Sinn des mittelbar Bewegenden, die einzelne Vernunft demgegenüber und die Vorstellungskraft sind das unmit­ telbar Bewegende. Zu 3.  Der Mensch faßt das Einzelne zuerst durch die Vorstel­ lungskraft und das Sinnesvermögen auf, und deshalb vermag er die allgemeine Erkenntnis, die im Verstand ist, auf das Einzelne zu be­ ziehen. Im eigentlichen Sinne erkennen nämlich nicht der Sinn oder der Verstand, vielmehr erkennt der Mensch mittels beider, wie aus dem 1. Buch der Schrift Über die Seele162 hervorgeht. Größe überhaupt, er ist also »nicht gezeichnet«, eine Instanziierung davon aber hat eine ganz bestimmte (»gezeichnete«) Größe. 161  Vgl. Aristoteles, De an. III, 11; 434 a 5 ff. 162  Aristoteles, De an. I, 4; 408 b 13–15: »Denn besser ist es vielleicht, nicht zu sagen, die Seele erbarme sich oder lerne oder denke nach, son­ dern der Mensch dank der Seele« [Übers. Th. Buchheim]. Übrigens steht selbst Eckhart ganz in der Tradition der Kritik an der Verselbständigung der Vermögen: Pred. 47 (DW II, 405 f.); Pred. 73 (DW III, 261); In Ioh. n.  385 (LW III, 328); Sermo XXX,1, n. 313 (LWIV, 275). Der aristotelische

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Zu 4.  Dasjenige, was die niedrigere Kraft vermag, vermag auch die höhere, freilich nicht auf dieselbe Weise, sondern auf eine vor­ züglichere Weise. Daher erkennt auch der Verstand dasselbe Ding, das der Sinn erkennt, allerdings auf eine vorzüglichere Weise. Daher folgt nicht: Wenn der Sinn das Einzelne erkennt, erkennt es auch der Verstand. 7. Artik el Die siebte Frage lautet: Erkennt Gott, daß ein Einzelnes jetzt ist oder nicht ist?163 Dies wegen der oben164 berührten Auffassung des Avi­ cenna, und dies heißt die Frage zu stellen: Erkennt Gott das Aussag­ bare und insbesondere das über Einzelnes Aussagbare? Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Der göttliche Verstand verhält sich immer entsprechend dersel­ ben Verfassung. Das Einzelne hingegen, sofern es jetzt ist und jetzt nicht ist, hat eine davon verschiedene Verfassung. Also erkennt der göttliche Verstand nicht, daß das Einzelne jetzt ist und jetzt nicht ist. 2.  Bei den Vermögen der Seele erkennen diejenigen, die sich wie die Vorstellungskraft in gleicher Weise zum anwesenden wie zum abwesenden Ding verhalten,165 nicht, ob ein Ding jetzt ist oder nicht ist, dies erkennen vielmehr diejenigen Vermögen, die sich auf abwe­ sende nicht in derselben Weise wie auf anwesende Dinge beziehen, wie dies bei den Sinnen der Fall ist. Nun verhält sich aber der gött­ Gedanke wird in der Folgezeit immer wieder hervorgehoben: Plotin, Enn. V, 6, 6: ἔπειτα οὐδ᾽ ἡ νόησις νοεῖ, ἀλλὰ τὸ ἔχον τὴν νόησιν [»Ferner denkt ja gar nicht das Denken, sondern das, was das Denken besitzt« [Übers. R. Beutler  /  W. Theiler]). Augustinus, De trin. XV, 12, 42 (PL, 42, 1089; CCSL 50 A, p.  519): Tria ista, memoria, intellectus et amor mea sunt, non sua; nec sibi sed mihi agunt quod agunt, immo ego per illa; Enarr. in Ps. 41, 7 (CCSL 38, 464); Adamus Scotus (ca. 1150–1212), De tripl. gen. contempl., I, 23 (PL 198, col. 808 B); Thomas v. Aquin, De ver., q.  21, a.  6, ad 3; Sum. theol. I, q.  75, a.  2, ad 2; 76, 1; II-II, q.  58, a.  2. 163  Paralleltexte: Sent. I, d. 38, a.  3; d. 41, a.  5; ScG I, 59; Sum. theol. I, q.  14, a.  14. 164  Vgl. De ver., q.  2, a.  5 (S. 139). 165  Vgl. Thomas v. Aquin, Sum. theol. I, q.  85, a.  2, ad 3; I-II, q.  15, a.  1

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liche Verstand auf dieselbe Weise zu anwesenden und abwesenden Dingen. Also erkennt er nicht, daß ein Ding jetzt ist oder nicht ist, sondern erkennt einfach dessen Wesensnatur. 3.  Nach Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik166 gilt: Die Zu­ sammenfügung, die bezeichnet wird, wenn man sagt, daß etwas ist oder nicht ist, liegt nicht in den Dingen, sondern nur in unserem Verstand. Nun kann es im göttlichen Verstand keine Zusammen­ fügung geben. Also erkennt er nicht, daß ein Ding ist oder nicht ist. 4. Im Johannesevangelium, Kap. 1, heißt es: »Was geworden ist, war in ihm Leben.«167 Bei seiner Auslegung sagt Augustinus, daß die geschaffenen Dinge in der Weise in Gott sind wie die Truhe im Geist des Künstlers;168 nun erkennt der Künstler aber durch das bloße Ur­ bild der Truhe, das er in seinem Geist hat, nicht, ob die Truhe exi­ stiert oder nicht. Also erkennt auch Gott nicht, daß ein Einzelnes ist oder nicht ist. 5.  Je vorzüglicher eine Erkenntnis ist, um so ähnlicher ist sie der göttlichen Erkenntnis. Nun ist aber die Erkenntnis des Verstandes, der die Wesensbestimmungen der Dinge erkennt, vorzüglicher als die sinnliche Erkenntnis, weil der die Wesensbestimmung erfas­ sende Verstand in das Innere des Dinges eindringt, der Sinn hinge­ gen auf das Äußere gerichtet ist. Wenn also der das Wesen bestim­ mende Verstand nicht erkennt, ob ein Ding ist oder nicht ist, sondern schlicht die Wesensnatur, der Sinn dies aber erkennt, scheint es, daß diejenige Art von Erkenntnis Gott im höchsten Maße zuzusprechen ist, wodurch er schlicht die Wesensnatur eines Dinges erkennt, ohne daß er erkennt, daß ein Ding existiert oder nicht existiert. 6.  Gott erkennt jedes Ding durch die Idee, die in ihm ist. Nun verhält sich aber jene Idee in gleicher Weise zu einem Ding, ob die­ 166  Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 29–31; 1027 b 25–27: »›wahr‹ und ›falsch‹ sind nicht in den Dingen – z. B. daß das Gute wahr wäre, das Schlechte ohne weiteres falsch –, sondern im Denken« [Übers. Th. A. Szle­ zák]. 167  Joh. 1, 3–4; vgl. De ver., q.  4, Anm.  131. 168  Augustinus, In Ioh. ev. tract. I, 17 (CCSL 36, 10). Das Wort arca, manchmal mit ›Kasten‹ übersetzt, kommt auch in der Wendung arca foe­ deris oder arca testamenti in der Bedeutung ›Bundeslade‹ vor; es gibt aber kein Indiz, daß Augustinus darauf anspielt.

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ses existiert oder nicht; andernfalls würde das Zukünftige nicht von Gott erkannt werden. Also erkennt Gott nicht, ob ein Ding existiert oder nicht existiert. Dagegen spricht: 1.  Eine Erkenntnis ist um so vollkommener, je mehr Bestimmun­ gen sie von einer erkannten Sache erfaßt. Nun ist aber die göttliche Erkenntnis von höchster Vollkommenheit. Also erkennt sie ein Ding in allen seinen Beschaffenheiten, und demzufolge erkennt sie, daß es ist oder nicht ist. 2.  Wie aus dem Dargelegten169 hervorgeht, hat Gott eine spezifi­ sche und wohlbestimmte Erkenntnis von jedem Ding. Nun erkennt er die Dinge aber nicht auf wohlbestimmte Weise, wenn er nicht ein Ding, das existiert, von dem unterscheidet, das nicht existiert. Also weiß Gott, daß ein Ding existiert oder nicht existiert. Antwort: In dem Verhältnis, in dem die allgemeine Wesenheit einer Art zu allen typischen Akzidentien steht, in dem steht auch die einzelne Wesenheit zu allen Akzidentien, die für das jeweilige Einzelding charakteristisch sind. Von dieser Art sind alle Akzidentien, die man an ihr vorfindet, weil dadurch, daß sie in ihr individuiert werden, diese für sie eigentümlich werden. Der Verstand nun, der das We­ sen einer Art erkennt, erkennt durch dieses alle ihre wesentlichen Akzidentien, weil nach Aristoteles170 jeder Beweis, mit dem die ty­ pischen Akzidentien eines Trägers erschlossen werden, zu seinem Prinzip die Wesensbestimmung hat. Daher gilt: Wenn die spezifi­ schen Bestimmungen des Wesens eines Einzeldinges erkannt sind, werden auch alle Akzidentien eines Einzeldinges erkannt, was unser Verstand nicht vermag, weil zum einzelnen Wesen die individuell bestimmte Materie gehört, von der unser Verstand abstrahiert, und sie würde in der Definition gesetzt, wenn es von einem Einzelding eine Definition gäbe.

169  Vgl. De ver., q.  2, a.  4 (S. 126 f.). 170  Aristoteles, Anal. post. I, 2; 71 a 11.

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Der göttliche Verstand hingegen, der die Materie erfaßt, erkennt nicht nur die allgemeine Wesenheit der Art, sondern auch die ein­ zelne Wesensbestimmung eines jeden Individuums, und deshalb er­ kennt er alle Akzidentien, sowohl die gemeinsamen der ganzen Art oder Gattung wie auch die einzelnen jedes Individuums, von denen eines die Zeit ist, in der jedes Individuum sich in der Wirklichkeit der Dinge findet. Aufgrund dieser Bestimmung wird von ihm aus­ gesagt, daß es jetzt existiert oder nicht existiert. Deshalb erkennt Gott von jedem Einzelding, daß es jetzt existiert oder nicht existiert, und erkennt alle anderen Aussagen, die sich von den allgemeinen Bestimmungen oder auch von den individuellen bilden lassen. Gleichwohl verhält sich der göttliche Verstand anders dazu als un­ ser Verstand, weil unser Verstand verschiedene Begriffe bildet zur Erkenntnis des zugrundeliegenden Trägers und des Akzidens und zur Erkenntnis der verschiedenen Akzidentien, und deshalb bewegt er sich von der Erkenntnis der Substanz zur Erkenntnis des Akzi­ dens.171 Dazu, daß er das Innewohnen des einen im Verhältnis zum anderen erkennt, fügt er eine Art mit einer anderen zusammen, und macht sie auf gewisse Weise zu einer Einheit, und auf diese Weise bildet er Aussagen in sich.172 Der göttliche Verstand hin­gegen er­ kennt durch Eines, nämlich durch sein Wesen, alle Substanzen und alle Akzidentien, und deshalb bewegt sich seine Erkenntnis weder von der Substanz zum Akzidens, noch fügt er eines mit einem an­ deren zusammen. Anstelle dessen, was in unserem Verstand die Zu­ sammenfügung bei den Bestimmungen der Arten ist, besteht im göttlichen Verstand eine Einheit in jeder Hinsicht. Dementspre­ chend erkennt er das Zusammengesetzte auf eine nicht zusammen­ gesetzte Weise ebenso wie »das Viele auf einfache und geeinte Weise und das Materielle auf immaterielle Weise.«173 171  Die akzidentellen Eigenschaften lassen zuerst erschließen, worum es sich handelt (vgl. De ver., q.  2, Anm.  113). Aber der Sache nach grund­ gelegt und verständlich werden die Akzidentien durch die wesentlichen Bestimmungen. 172  Enuntiabilia: wörtlich »Aussagbares«. 173  Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869 B; Dion. I, 398); Übers. E. Stein: »Wenn also die göttliche Weisheit sich selbst kennt, wird sie alles kennen; das stoffliche auf unstoffliche Weise, das Ge­

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Zu 1.  Der göttliche Verstand erkennt durch ein und dasselbe alle Beschaffenheiten, die sich in den Dingen verändern können. Daher erkennt er, der er selbst immer in ein und derselben Verfassung ver­ bleibt, alle Beschaffenheiten der Dinge, wie immer sich diese auch verändern. Zu 2.  Das Abbild, das sich in der Vorstellungskraft befindet, ist ein Abbild nur des Dinges selbst, und ist kein Abbild, um die Zeit zu erkennen, in der sich das Ding befindet. Anders verhält es sich beim göttlichen Verstand, daher liegt nicht derselbe Fall vor. Zu 3.  Anstelle der Zusammenfügung, die sich in unserem Ver­ stand befindet, besteht im göttlichen Verstand eine Einheit. Die Zu­ sammenfügung ist nun aber eine Art Nachahmung der Einheit, da­ her nennt man sie ebenfalls eine Einheit. Daraus wird ersichtlich, daß Gott auch ohne Zusammenfügen auf wahrhaftere Weise die Aussagen erkennt als der Verstand, der einer Sache etwas zuspricht und abspricht. Zu 4.  Die Truhe, die sich im Geist des Künstlers befindet, ist nicht das Urbild von allem, was einer Truhe zukom­ men kann. Daher ist die Erkenntnis des Künstlers und die göttliche Erkenntnis nicht von der gleichen Art. Zu 5.  Wer die Wesensbestimmung erkennt, erkennt das der Mög­ lichkeit nach Aussagbare, das durch die Wesensbestimmung erwie­ sen wird. Im göttlichen Verstand unterscheidet sich jedoch wirk­ liches und mögliches Sein nicht. Daher gilt: Woraus Gott die We­ senheiten der Dinge erkennt, erkennt er unmittelbar alle Akzidentien, die darin ihre Grundlage174 haben. Zu 6.  Jene Idee, die sich im göttlichen Geist befindet, steht inso­ fern in Ähnlichkeit zu einem Ding – in welcher Verfassung dieses auch sein mag –, weil es ein Urbild des Dinges im Hinblick auf alle seine Zustände ist. Daher wird durch die Idee ein Ding erkannt, in welcher Verfassung es auch immer sei. teilte ungeteilt, das Viele einheitlich« (ESGA XVII, 136); vgl. De ver., q.  2, Anm.  114. 174  Consequitur: Da keine kausale oder logische Folge gemeint sein kann, versucht die Übersetzung das sachliche Gemeinte im Bild der um­ gekehrten Blickrichtung auszudrücken.

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8. Artikel

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8. Artik el Die achte Frage lautet: Erkennt Gott das Nichtseiende und das, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist?175 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Dionysius sagt im 1. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen176, daß sich Erkenntnisse nur auf Seiendes beziehen. Nun ist aber dasjenige, was weder ist noch sein wird, noch gewesen ist, in keinem Sinne ein Seiendes. Also kann sich die Erkenntnis Gottes darauf nicht beziehen. 2.  Jede Erkenntnis geschieht durch Angleichung des Erkennenden an das Erkannte.177 Nun kann sich aber der göttliche Verstand nicht an das Nichtseiende angleichen. Also kann Gott das Nichtseiende nicht erkennen. 3.  Gottes Erkenntnis von den Dingen liegt in den Ideen begrün­ det. Vom Nichtseienden gibt es aber keine Idee. Also erkennt Gott das Nichtseiende auch nicht. 4.  Was immer Gott erkennt, ist in seinem Wort. Nun gibt es aber, wie Anselm in seinem Buch Monologion sagt, »von dem, was weder gewesen ist noch ist, noch sein wird, kein Wort«.178 Also er­ kennt Gott dergleichen nicht. 5.  Gott erkennt ausschließlich das Wahre. Nun sind aber ›wahr‹ und ›seiend‹ austauschbar. Also erkennt Gott dasjenige nicht, das nicht ist. Dagegen spricht: Im Römerbrief, Kap. 4, heißt es: »Er ruft das, was nicht ist, als das, was ist.«179 Nun würde Gott aber das Nichtseiende nicht rufen, wenn er es nicht erkennen würde. Also erkennt er das Nichtseiende. 175  Paralleltexte: Sent. I, d. 38, a.  4; ScG I, 66; Sum. theol. I, q.  14, a.  9. 176  Dionysius Areopagita, De div. nom. 1, 4 (PG 3, col. 593 A; Dion. I,

34); Übers. E. Stein: »Da nämlich alle Erkenntnisse dem Seienden gelten […]« (ESGA XVII, 89). 177  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 10–11; vgl. De ver., q.  2, Anm.  32. 178  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  32 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 50); vgl. De ver., q.  4, Anm.  123. 179  Röm. 4, 17: »der […] etwas ins Dasein ruft, das so vorher noch nicht

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Antwort: Gott hat von den geschaffenen Dingen auf die Weise eine Er­ kenntnis, wie der Künstler, der die Ursache der Kunstgebilde ist, die Kunstgebilde erkennt. Daher stehen die göttliche Erkenntnis und unsere Erkenntnis in einem gegenteiligen Verhältnis zu den erkann­ ten Dingen: Unsere Erkenntnis ist, weil sie von den Dingen aufge­ nommen ist, ihrer Natur nach den Dingen nachgeordnet, die Er­ kenntnis des Schöpfers und des Künstlers von den Kunstgebilden ist hingegen von Natur aus den erkannten Dingen vorgeordnet. Wenn das Grundlegende aufgehoben ist, wird auch das Nachfolgende auf­ gehoben, aber nicht umgekehrt.180 Daher kommt es, daß unsere Er­ kenntnis der Dingen nicht bestehen kann, wenn nicht zuvor die Dinge selbst existieren, doch beim göttlichen Verstand bzw. dem des Künstlers besteht die Erkenntnis von einem Ding ohne Unter­ schied davon, ob es existiert oder nicht. Man muß nun aber wissen, daß der Künstler vom Herstellba­ ren eine zweifache Erkenntnis hat, nämlich eine theoretische und eine praktische. Die spekulative bzw. theoretische besitzt er, wenn er die Bestimmungen eines Werkes ohne das denkt, daß er davon zu einem absichtsvollen Tätigsein Gebrauch macht; eine praktische Erkenntnis hat er jedoch dann, wenn er durch seine Absicht die Be­ stimmungen des Werkes zum Zweck der Tätigkeit erweitert, und deswegen wird die Medizin, wie Avicenna181 sagt, in eine theoreti­ sche und eine praktische Medizin unterteilt. Daraus wird ersichtlich, daß die praktische Erkenntnis des Künstlers seiner theoretischen Erkenntnis folgt, da die praktische durch die Erweiterung der spe­

das war« [Übers. Berger  /  Nord]; »[…] und das, was nicht ist, ins Dasein ruft« [Übers. Einheitsübersetzung, 2016]. 180  Vgl. Aristoteles, Met. V, 11; 1019 a 2–4: ›früher‹ und ›später‹ ge­ nannt wird »anderes der Natur und der Substanz (οὐσία, ousia) nach: das, was ohne anderes sein kann, das andere aber nicht ohne es« [Übers. Th. A. Szlezák]. 181  Avicenna, Canon medic. I, fen. 1, doctr. 1, c.  1. Die Übersetzung dieses Werkes wurde ehedem Gerhard von Cremona zugeschrieben, mitt­ lerweile aber einem Gelehrten mit ganz ähnlichem Namen, der allerdings ins 13. Jahrhundert gehört: Gerardo da Sabbioneta.

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8. Artikel

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kulativen auf das Werk zustande kommt.182 Wenn das Nachfolgende aufgehoben ist, bleibt aber doch das Vorangegangene bestehen: Es ist also ersichtlich, daß es beim Künstler eine Erkenntnis irgendeines Kunstgebildes geben kann, wobei er sich manchmal zum Herstellen entschließt, manchmal nicht zum Herstellen entschließt, wie zum Beispiel wenn er sich eine Form des Werkes vorstellt, die er gar nicht herzustellen beabsichtigt. Das Werk, das er gar nicht zu erstellen be­ absichtigt, wird nicht immer als in seiner Macht stehend aufgefaßt, weil er sich manchmal ein Werk ausdenkt, zu dessen Herstellung seine Kräfte gar nicht ausreichen, er es als seine Zielvorstellung be­ trachtet, sofern er sieht, daß er durch ein solches Werk zu einem sol­ chen Ziel gelangen könne. Der Grund ist: Laut Aristoteles im 6. und 7. Buch der Nikomachischen Ethik183 verhalten sich die Ziele beim Herstellbaren wie die Prinzipien bei der theoretischen Betrachtung, daher erkennt man die Schlußfolgerung so in den Prinzipien wie die Kunstgebilde in den Zielen. Es ist also ersichtlich: Gott kann eine Erkenntnis von Nichtsei­ endem haben und von dem, wovon er eine Art praktische Erkennt­ nis hat, von dem nämlich, was gewesen ist oder ist oder sein wird, was aus seinem Wissen entsprechend seiner Verfügung hervorgeht; von demjenigen hingegen, was nicht gewesen ist, nicht ist und nicht sein wird, was er hervorzubringen nicht verfügt hat, hat er eine Art theoretische Erkenntnis. Obgleich man sagen kann, daß er derlei in seiner Macht schaut, weil es nichts gibt, was er nicht vermag, so sagt man dennoch mit größerer Angemessenheit, daß er es in seiner Gutheit schaut, die das Ziel von allem ist, was von ihm hervorge­ bracht wird; demgemäß gibt es viele andere Weisen der Mitteilung des Seins seiner eigenen Gutheit als sie den tatsäch­ lichen, den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dingen mitgeteilt worden ist, weil keines der geschaffenen Dinge seinem Gutsein gleichkommen kann, welches Maß der Teilhabe an ihm es auch innehat. 182  Vgl. G. Queneau: Origine de la sentence ›Intellectus speculativus extensione fit practicus‹ et date du Commentaire du ›De anima‹ de S. Al­ bert le Grand, in RThAM 21 (1954), 307–311. 183  Aristoteles, Eth. Nic. VI, 13; 1144 a 31–33; VII, 9; 1151 a 16–17.

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Zu 1.  Dasjenige, was weder gewesen ist noch jetzt ist, noch sein wird, ist in gewisser Weise in der Macht Gottes als seinem hervor­ bringenden Prinzip bzw. in seiner Gutheit als seiner Zweckursache. Zu 2.  Die Erkenntnis, die von den erkannten Dingen aufgenom­ men wird, besteht in einer empfangenden Angleichung, durch die das Erkennende den erkannten, schon zuvor existierenden Dingen angeglichen wird. Aber die Erkenntnis, die die Ursache der erkann­ ten Dinge ist, besteht in einer tätigen Angleichung, durch die das Erkennende das Erkannte sich selbst angleicht. Und da Gott sich das­ jenige angleichen kann, was ihm noch nicht angeglichen ist, deshalb kann er auch vom Nichtseienden eine Erkenntnis haben. Zu 3.  Wenn die Idee eine Form innerhalb des praktischen Wissen wäre, wie dies im allgemeinen Sprachgebrauch eher der Fall ist, dann gibt es eine Idee nur von solchem, das gewesen ist, jetzt ist oder sein wird. Wenn sie jedoch auch eine Form in der theoretischen Erkennt­ nis ist, hindert nichts, daß es auch eine Idee von dem gibt, das nicht gewesen ist, nicht ist und nicht sein wird. Zu 4.  Das Wort bezeichnet »die tätige Macht des Vaters«184, durch die er nämlich alles bewirkt, und deshalb erstreckt sich das Wort nur auf das, worauf sich das göttliche Wirken erstreckt. Da­ her heißt es auch im Psalm: »Er sprach und es ist geworden«185: Ob­ wohl das Wort nämlich anderes erkennt, ist es doch nicht das Wort dieses anderen. Zu 5.  Dasjenige, was nicht gewesen ist noch ist, noch sein wird, hat insofern Wahrheit, als es ein Sein besitzt, sofern es nämlich in seinem hervorbringenden oder zielbestimmenden Prinzip ist, und daher wird dies auch von Gott erkannt.

184  Augustinus, De div. qu. 83, q.  63 (CCSL 44 A, 136). 185  Ps. 33 (32), 9: »Er hat gesprochen, und alles ward« [Übers. R. Guar­

dini].

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9. Artikel

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9. Artik el Die neunte Frage lautet: Hat Gott ein Wissen vom Unendlichen?186 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Augustinus sagt im 12. Buch seines Werkes Über den Gottes­ staat 187: »Was immer gewußt wird, wird durch das Begreifen des Wissenden begrenzt.« Was aber unendlich ist, kann nicht begrenzt werden. Also gilt: Von dem, was unendlich ist, hat Gott kein Wissen. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Gott weiß das Unend­ liche in einem Wissen im Sinne einfacher Erkenntnis, nicht aber im Wissen im Sinne einer Schau. – Doch dem steht wiederum entgegen: Jedes vollkommene Wissen umfaßt das, was es weiß, und macht es dadurch endlich. Aber so, wie das Wissen in der Form der Schau in Gott vollkommen ist, so auch das Wissen in der Form einer ein­ fachen Erkenntnis. Also gilt: So wie das Anschauungswissen sich nicht auf Unendliches beziehen kann, so auch nicht das Wissen im Sinne einer einfachen Erkenntnis. 3.  Was immer Gott erkennt, erkennt er mit dem Verstand. Nun wird aber die Erkenntnisart des Verstandes ›Schau‹ genannt. Also gilt: Was immer Gott erkennt, weiß er durch das Wissen im Sinne einer Schau. Wenn er also durch das Wissen in Form einer Schau das Unendliche nicht weiß, weiß er das Unendliche auf keine Weise. 4.  Von all dem, das Gott erkennt, gibt es Begriffe in Gott, und diese sind der Wirklichkeit nach in Gott. Wenn Gott also das Un­ endliche weiß, dann gibt es der Wirklichkeit nach unendlich viele Begriffe in Gott, was aber unmöglich scheint. 5.  Was immer Gott weiß, erkennt er auf vollkommene Weise. Nun wird etwas aber nur dann auf vollkommene Weise erkannt, wenn die Erkenntnis des Erkennenden bis ins Innerste eines Dinges eindringt. Also gilt: Was immer Gott erkennt, durchdringt er in ge­ wisser Weise. Das Unendliche kann nun aber auf keine Weise durch­

186  Paralleltexte: Sent. I, d. 39, q.  1, a.  3; ScG I, 69; Comp. theol. I, 133 (ed. Leon. XLII, 132); Sum. theol. I, q.  14, a.  12. 187  Augustinus, De civ. Dei XII, 19 (CCSL 48, 375); vgl. Thomas v. Aquin, In Ioh., prol. (ed. R. Cai, nr. 9).

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schritten werden,188 weder von einem Endlichen noch von einem Unendlichen. Also erkennt Gott auf keine Weise das Unendliche. 6. Wer immer etwas geistig schaut, begrenzt es durch sein Schauen. Was aber Gott erkennt, das schaut er. Also kann das, was unendlich ist, von Gott nicht erkannt werden. 7.  Wenn das Wissen Gottes sich auf Unendliches bezöge, wäre es selbst ebenfalls unendlich. Doch das kann nicht sein, weil alles Unendliche unvollkommen ist, wie im 3. Buch der Physik189 bewie­ sen wird. Also bezieht sich das Wissen Gottes in keiner Weise auf Unendliches. 8.  Was der Wesensbestimmung des Unendlichen widerstreitet, kann auf keine Weise dem Unendlichen zugeschrieben werden. Nun widerspricht aber das Erkanntwerden der Wesensbestimmung des Unendlichen, weil »unendlich das ist, bei dem gilt: Welche Quan­ tität auch immer erfaßt ist, es gibt immer noch etwas darüber hin­ aus, das erfasst werden kann«, wie es im 3. Buch der Physik190 heißt. Nun wird aber das, was erkannt wird, vom Erkennenden notwen­ digerweise aufgenommen, und es wird dasjenige nicht vollständig erkannt, bei dem noch etwas außerhalb des Erkennenden bleibt. Da­ her wird der Widerstreit zur Wesensbestimmung des Unendlichen ersichtlich, daß es von etwas vollständig erkannt wird. Da nun Gott, 188  Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 22; 83 b 38–39: »Wenn daher dies bis ins Unendliche gehen kann, dann könnte es zwischen zwei Begriffen unendlich viele Mittelbegriffe geben. Aber dies ist unmöglich, wenn die Prädikate nach oben und unten zum Stehen kommen« [Übers. W. Detel]; in den Auctoritates Aristotelis (ed. J. Hamesse, 317) auf eine kurze Sen­ tenz reduziert: impossibile est infinita pertransire (»Es ist unmöglich, das Unendliche zu durchschreiten« [Übers. R. S.]; vgl. Aristoteles, De caelo I, 4; 272 a 3: »Wenn man also einerseits das Unbegrenzte nicht durchque­ ren kann  …« [Übers. A. Jori]; Phys. III, 4; 204 a 3–4: »In einer ersten Be­ deutung heißt unendlich dasjenige, das man deswegen nicht durchlaufen kann, weil es prinzipiell nicht durchlaufbar ist« [Übers. H. Wagner]). 189  Aristoteles, Phys. III, 11; 207 a 14–15; das griech. Wort τέλειον (té­ leion) wird in der Übersetzung, die Thomas benutzt, mit perfectum wie­ dergegeben; vgl. Auctoritates Aristotelis, ed. J. Hamesse, S. 148. 190  Aristoteles, Phys. III, 6; 207 a 7–8: »Unendlich also ist das, das hin­ sichtlich seiner Quantität nie so erfasst werden kann, daß es nicht noch Weiteres außer sich hätte« [Übers. H. Wagner].

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9. Artikel

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was immer er erkennt, vollständig erkennt, erkennt er also das Un­ endliche nicht. 9.  Das Wissen Gottes ist das Maß der gewußten Sache. Nun kann es aber vom Unendlichen kein Maß geben. Also fällt das Unendliche nicht unter das Wissen Gottes. 10. Eine Messung ist nichts anderes als die Bestimmung der Quantität des Gemessenen. Wenn also Gott das Unendliche erken­ nen würde und so seine Quantität wüßte, würde er für dieses das Maß sein; das aber ist unmöglich, weil das Unendliche als Unend­ liches ohne Maß ist. Also erkennt Gott das Unendliche nicht. Dagegen spricht: 1.  Wie Augustinus im 12. Buch seines Werkes Über den Gottes­ staat sagt: »Obgleich sich von den unendlichen Zahlen keine Größe angeben läßt, sind sie doch für den nicht unbegreiflich, dessen Wis­ sen ebenfalls keinen bestimmten Umfang hat.«191 2.  Da Gott nichts ihm Unbekanntes bewirkt, kann er alles, was er hervorbringt, auch wissen. Nun kann aber Gott Unendliches hervor­ bringen; also kann er auch das Unendliche wissen. 3.  Um etwas zu verstehen, ist Immaterialität sowohl von seiten des Erkennenden wie auch von seiten des Erkannten, aber auch die Verbindung von beiden erforderlich. Nun ist aber unendlich freier von Materie als irgendein geschaffener Verstand. Also vermag er in unendlich höherem Maße zu erken­ nen. Nun kann der geschaffene Verstand das potentiell Unendliche erkennen. Also kann der göttliche Verstand das aktual Unendliche erkennen. 4.  Gott weiß alles, was auch immer ist, sein wird und gewesen ist. Wenn nun aber die Welt unendliche Dauer hätte, würde das Entste­ hen niemals aufhören, und so gäbe es unendlich viele Einzeldinge. Dies wäre nun aber für Gott möglich; also ist es nicht unmöglich, daß er das Unendliche erkennt. 191  Augustinus, De civ. Dei XII, 19 (CCSL 48, 375); Augustinus macht mit dem Begriff numerus (Zahl) ein Wortspiel, das sich im Deutschen nicht wiedergeben läßt. – Der Text, aus dem in arg. 1 ein gegenläufiges Argument gemacht worden ist, steht im selben Zusammenhang.

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5.  Wie Averroes in seinem Kommentar zum 11. Buch der Meta­ physik des Aristoteles sagt: »Alle Verhältnisse und Formen, die in der ersten Materie der Möglichkeit nach sind, sind im ersten Bewe­ ger der Wirklichkeit nach«192, womit auch zusammenstimmt, was Augustinus193 sagt, daß die samenartigen Anfangsgründe in der er­ sten Materie sind, doch die die Verursachung bestimmenden Be­ griffe in Gott. Nun sind aber in der ersten Materie der Möglichkeit nach unendlich viele Formen aufgrund dessen, daß ihr passives Ver­ mögen unendlich ist; also ist auch im ersten Beweger, nämlich in Gott, aktual Unendliches. Doch was immer der Wirklichkeit nach in ihm ist, erkennt er; also erkennt er das Unendliche. 6.  Augustinus zeigt im 15. Buch seines Werkes Über den Gottes­ staat 194, wo er gegen die Akademiker argumentiert, die geleugnet haben, daß etwas wahr ist, daß es nicht nur eine große Vielheit von Wahrheiten gibt, sondern es unendlich viele sind durch die Selbst­ beziehung des Verstandes oder auch der Rede auf sich selbst, zum Beispiel: Wenn ich etwas Wahres sage, ist es wahr, daß ich etwas Wahres sage, und es ist wahr, daß ich sage, ich sage etwas Wahres, und so ins Unendliche. Also erkennt Gott das Unendliche. 7.  Was immer in Gott ist, ist Gott. Also ist das Wissen Gottes Gott selbst. Nun ist aber Gott unendlich, weil er auf keine Weise begriffen195 wird. Also ist auch sein Wissen unendlich. Also hat er auch ein Wissen vom Unendlichen. Antwort: Wie Augustinus im 12. Buch seines Werkes Vom Gottesstaat 196 sagt, haben manche Autoren, die über den göttlichen Verstand nach der Art und Weise unseres Verstandes urteilen wollten, gesagt, daß Gott so wie auch wir das Unendliche nicht erkennen könne, und zwar deshalb, weil sie behauptet haben, daß er die Einzeldinge erkenne, 192  Averroes, In Metap. XI (= XII), comm. 18 (VIII, 305 I). 193  Augustinus, De Gen. ad litt. VI, 10 (CSEL 28/1, 182 f.); c.  14 (CSEL

28/1, 189); IX, 17 (CSEL 28/1, 291 f.). 194  Tatsächlich: Augustinus, De trin. XV, 12, 21 (CCSL 50 A, 491 f.). 195  Zu comprehenditur vgl. De ver., q.  2, Anm.  35. 196  Augustinus, De civ. Dei XII, 18 (CCSL 48, 373).

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9. Artikel

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und zusammen damit behauptet haben, daß die Welt ewig ist, und daraus haben sie gefolgert, daß es eine Wiederkehr von numerisch Identischem in verschiedenen Weltaltern gebe, was völlig widersin­ nig ist. Daher muß man sagen, daß Gott das Unendliche erkennt, wie dies durch das gezeigt werden kann, was oben197 bestimmt wor­ den ist. Wenn er nämlich nicht nur das weiß, was gewesen ist oder gegenwärtig ist oder sein wird, sondern auch all das, was geeignet ist, an seiner Gutheit teilzuhaben, und deswegen, weil seine Gutheit unendlich ist, ergibt sich, daß er das Unendliche erkennt. Wie dies geschieht, dem hat sich die Untersuchung jetzt ­zuzuwenden. Man muß nun also wissen, daß sich eine Erkenntnis nach Maß­ gabe der Kraft des Mediums entweder auf vieles oder auf weniges erstreckt; das Abbild etwa, das im Gesichtssinn aufgenommen wird, entspricht den besonderen Beschaffenheiten des Dinges, daher führt es zur Erkenntnis von nur einem Ding, doch das Abbild des Dinges, das im Verstand aufgenommen ist, ist von allen besonderen Beschaf­ fenheiten abgelöst, daher führt es, weil höherrangig, zur Erkenntnis von mehreren Dingen. Daß eine allgemeine Form darauf angelegt ist, von unendlich vielen Einzeldingen partizipiert zu werden, ist der Grund dafür, daß der Verstand in gewisser Weise das Unendliche erkennt. Doch da jenes Abbild, das sich im Verstand befindet, nicht zur Erkenntnis des Einzeldinges in Beziehung auf das, wodurch die Einzeldinge voneinander unterschieden sind, führt, sondern nur in Beziehung auf die allgemeine Wesensnatur, hat dies zur Folge, daß unser Verstand durch das Erkenntnisbild, das er in sich hat, das Un­ endliche nur der Möglichkeit nach erkennt. Jenes Medium hinge­ gen, durch das Gott erkennt, nämlich sein Wesen, ist das Urbild von unendlich vielem, das ihn nachahmen kann, und dies nicht nur be­ züglich dessen, was ihnen gemeinsam ist, sondern auch im Hinblick auf das, wodurch sie sich voneinander unterscheiden, wie aus dem Vorangegangenen198 ersichtlich wird. Daher hat das göttliche Wissen das Vermögen, das Unendliche zu erkennen. Auf welche Weise Gott das aktual Unendliche erkennt, ist auf folgende Weise zu betrachten.

197  De ver., q.  2, a.  2, ad 5 und a.  8 (S. 103 f.). 198  De ver., q.  2, a.  4 u. 5 (S. 126 ff., 138 ff.).

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Nichts schließt es aus, daß etwas in einer Hinsicht unendlich und in einer anderen Hinsicht endlich ist; beispielsweise dann, wenn ein Körper der Länge nach unendlich, der Breite nach aber end­ lich ist. Ähnlich kann es bei Formen sein: Wenn wir etwa bei ei­ nem unendlich großen Körper setzen, er sei weiß, wird die Quan­ tität des Weißen – sofern man sie in akzidenteller Weise ›groß‹ nennt – unendlich sein, seine Qualität199 für sich genommen, näm­ lich als intensive, wäre nichtsdestoweniger endlich. Ähnlich verhält es sich bei jeglicher anderen Form eines unendlichen Körpers, weil jede Form, die in einer Materie aufgenommen ist, entsprechend der Weise des Aufnehmenden endlich wird, und demzufolge hat diese keine unendliche Intensität. Wie nun aber das Unendliche der Er­ kenntnis widerstreitet, so widerstreitet es auch dem Wandel. Das Unendliche läßt sich nämlich weder erkennen200 noch durchschrei­ ten.201 Gleichwohl gilt: Wenn sich etwas über Unendliches hin be­ wegt – nicht unter dem Aspekt von dessen Unendlichkeit – kann es doch ein Durchschreiten vollziehen, so wie beispielsweise dasjenige, das der Länge nach unendlich ist und der Breite nach endlich, sich der Breite nach verändern kann, jedoch nicht der Länge nach. Da­ her gilt auch: Wenn etwas Unendliches in der Hinsicht, in der es unendlich ist, erkannt wird, kann es auf keine Weise vollkommen erkannt werden, wenn es hingegen nicht im Hinblick auf seine Un­ endlichkeit erkannt wird, kann es durchaus auf vollkommene Weise erkannt werden. Da nämlich der Begriff des Unendlichen der Quan­ tität entspricht – so nach Aristoteles im 1. Buch der Physik202 –, jede Quantität ihrem Begriff nach aber ein Verhältnis der Teile enthält, folgt, daß das Unendliche dann als Unendliches erkannt wird, wenn 199  Ed. Leon.: quantitas; das ergibt aber wegen der im Anschluss ge­ nannten Intensität keinen Sinn. 200  Vgl. Aristoteles, Phys. I, 4; 187 b 7; Met. II, 2; 994 b 21–23; Rhet. III, 8; 1408 b 27–28. In der Zitatensammlung der Auctoritates Aristotelis, ed. J. Hamesse, 148, heißt es in dem Sinne, wie ihn Thomas hier beansprucht: infinitum secundum quod hujusmodi est ignotum. 201  Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 22; 83 b 38–39; Phys. III, 6; 207 a 25– 26: »Ein Unendliches hat keineswegs die Stellung eines Umfassenden« [Übers. H. Wagner]. 202  Aristoteles, Phys. I, 2; 185 b 2.

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9. Artikel

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es Stück für Stück erkannt wird. Daher gilt: Wenn unser Verstand einen unendlichen weißen Körper erkennen soll, könnte er weder ihn noch sein Weißsein erkennen. Wenn er hingegen die Natur des Weißseins oder der Körperlichkeit erkennen würde, die sich im unendlichen Körper befindet, so würde er ihn auf vollkommene Weise im Hinblick auf alle seine Teile erkennen, freilich nicht als Unendliches. In diesem Sinne ist es möglich, daß unser Verstand auf gewisse Weise ein unendliches Kontinuum auf vollkommene Weise erkennt, das unendliche Diskrete allerdings auf keine Weise, und zwar deswegen nicht, weil er nicht durch ein Erkenntnisbild Vieles erkennen kann. Darin liegt Folgendes begründet: Wenn er Vieles zu betrachten hat, ist es notwendig, daß er eines nach dem anderen erkennt und so eine diskrete Quantität als Unendliches er­ kennt. Daher gilt: Wenn er eine aktual unendliche Menge erkennen würde, würde folgen, daß er das Unendliche als Unendliches erken­ nen würde, was unmöglich ist. Doch der göttliche Verstand erkennt durch ein Erkenntnisbild al­ les, daher bezieht sich seine Erkenntnis zugleich und in einer Schau auf alles, und daher erkennt er die Vielheit nicht auf der Basis der Ordnung der Teile der Vielheit, und daher kann er eine unendliche Vielheit nicht als Unendliches erkennen. Wenn er sie als Undendli­ ches in der Weise erkennen müßte, daß er Stück für Stück von der Vielheit erfaßte, käme er niemals ans Ende, daher würde er sie nicht vollkommen erkennen. Daher räume ich ohne Einschränkung ein, daß Gott wirklich das Unendliche für sich genommen erkennt. Diese unendlich vielen Dinge entsprechen seinem Verstand nicht so, wie er – durch sich selbst erkannt – seinem Erkannten entspricht, weil eine in unendlich vielen Dingen geschaffene Wesenheit endlich ist, nämlich der Intensität nach, so wie das Weißsein in einem unendlich großen Körper, das Wesen Gottes ist hingegen auf jede Weise un­ endlich, und dementsprechend ist alles Unendliche für Gott endlich und für ihn begreifbar. Zu 1.  Daß das, was gewußt wird, durch den Wissenden begrenzt wird, sagt man in dem Sinne, daß es den Verstand des Wissenden nicht überschreitet, daß so irgend etwas davon jenseits des Verstan­ des des Wissenden liegt. Daher verhält sich nämlich das Verstandene

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zum Wissen als ein Endliches. Dabei ist es nicht sinnwidrig, daß dies beim Unendlichen statthat, was nicht als Unendliches gewußt wird. Zu 2.  Das Wissen im Sinne des einfachen Erkennens und des Schauens beinhaltet keinen Unterschied auf seiten des Wissenden, sondern nur auf seiten des Gewußten. Das Wissen im Sinne des Schauens wird in Gott in Ähnlichkeit mit dem körperlichen Sinn ausgesagt, der die Dinge außerhalb seiner anschaut. Daher sagt man von Gott nicht, daß das Wissen im Sinne der Schau nur auf das be­ zogen ist, was außerhalb seiner ist. Dieses ist entweder das Gegen­ wärtige oder das Vergangene oder das Zukünftige. Doch das Wissen als einfaches Erkennen bezieht sich, wie oben203 bewiesen, auf das, was nicht entweder gegenwärtig oder zukünftig oder vergangen ist, und Gott weiß das eine und das andere nicht auf eine jeweils andere Weise. Daher trifft dies, daß Gott das Unendliche nicht sieht, nicht im Sinne des Wissens als Schau zu, sondern im Sinne des Sichtbaren, das nicht ist, so daß Gott, wenn ein aktual oder sukzessiv Unendli­ ches gesetzt würde, dies ohne Zweifel in einem Wissen im Sinne der Schau erkennen würde. Zu 3.  Das Sehen ist im eigentlichen Sinne ein körperlicher Sinn. Daher gilt: Wenn der Begriff des Sehens auf die immaterielle Er­ kenntnis angewendet wird, geschieht dies nur im metaphorischen Sinne. Bei einer solchen Redeweise liegt nun aber aufgrund ver­ schiedener Ähnlichkeiten, die sich in den Dingen finden, ein unter­ schiedlicher Begriff der Wahrheit vor. Daher hindert nichts, in man­ chen Fällen jegliches göttliche Wissen ›Sehen‹ zu nennen, in anderen Fällen aber nur dasjenige, das sich auf das Vergangene, das Gegen­ wärtige oder das Zukünftige bezieht. Zu 4.  Gott selbst ist in seinem Wesen das Urbild aller Dinge und das spezifische Urbild eines jeden Dinges, daher spricht man in Gott von mehreren Begriffen der Dinge nur durch seinen Hinblick auf die verschiedenen Geschöpfe, welche Hinblicke nur gedachte Rela­ tionen sind. Nun ist es aber keineswegs sinnwidrig, die gedachten Relationen ins Unendliche zu vervielfältigen, wie Avicenna in seiner Metaphysik204 sagt. 203  Vgl. De ver., q.  2, a.  8 (S. 156 ff.). 204  Avicenna, Philos. prima III, 10 (ed. S. Van Riet, 181).

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9. Artikel

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Zu 5.  Ein Durchschreiten beinhaltet eine Bewegung vom einen zum anderen, und weil Gott nicht in Form einer Denkbewegung, sondern durch einen einfachen Blick alle Teile des Unendlichen des Kontinuums oder des Diskreten erkennt, deshalb erkennt er das Un­ endliche auf vollkommene Weise und durchschreitet das Unendliche im Erkennen nicht. Zu 6.  Hierzu ist dasselbe zu sagen wie zum ersten Argument. Zu 7.  Jenes Argument geht vom Unendlichen im privativen Sinne aus, was sich ausschließlich im Quantitativen findet. Alles, was im privativen Sinne ausgesagt wird, ist nämlich unvollkommen. Das Argument geht eben nicht vom Unendlichen im negativen Sinne aus, in dem man Gott ›unendlich‹ nennt. Es gehört zur Vollkommenheit, daß etwas durch nichts begrenzt wird. Zu 8.  Jenes Argument beweist, daß man das Unendliche nicht hinsichtlich seiner Unendlichkeit weiß, und zwar mit folgender Be­ gründung: Auf welchen Teil der Quantität man sich auch immer be­ zieht – gleichgültig nach welchem Maß –, man könnte sich immer noch auf Weiteres davon beziehen. Doch erkennt Gott das Unend­ liche nicht auf die Weise, daß er von einem Teil zu einem anderen übergeht. Zu 9.  Dasjenige, das im quantitativen Sinne unendlich ist, hat ein endliches Sein, wie gesagt worden ist. Und in diesem Sinne kann das göttliche Wissen ein Maß des Unendlichen sein. Zu 10.  Der Grund des Messens besteht darin, über die bestimmte Quantität von etwas Gewißheit zu gewinnen. In diesem Sinne er­ kennt Gott das Unendliche nicht, um dessen bestimmte Quantität zu wissen, weil es ja diese Quantität gar nicht hat. Daher widerstrei­ tet es nicht dem Begriff des Unendlichen, daß Gott es weiß.

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10. Artik el Als zehntes wurde zufällig die Frage gestellt: Kann Gott Unend­ liches hervorbringen?205 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Die Begriffe, die im Geist Gottes existieren, bringen die Dinge hervor, wobei keiner den anderen an seiner Tätigkeit hindert. Wenn es also unendlich viele Begriffe im Geist Gottes gibt, können aus ihnen unendlich viele Wirkungen folgen, die aus dem göttlichen Vermögen hervorgehen. 2. Das Vermögen des Schöpfers übersteigt unendlich das Ver­ mögen des Geschöpfes. Nun gehört es aber zum Vermögen des Geschöpfes, Unendliches sukzessiv hervorzubringen. Also kann Unendliches zugleich hervorbringen. 3.  Ein Vermögen, das nicht in wirkliche Tätigkeit überführt wird, ist vergeblich, und dies gilt im höchsten Maße dann, wenn es gar nicht in wirkliche Tätigkeit überführt werden kann. Doch das Ver­ mögen Gottes umfaßt Unendliches. Also wäre ein solches Vermögen vergeblich, wenn es nicht aktual Unendliches hervorbringen könnte. Dagegen spricht: 1.  Seneca sagt: »Die Idee ist das Urbild derjenigen Dinge, die von Natur aus entstehen.«206 Nun kann aber Unendliches nicht von Na­ tur aus sein und demzufolge auch nicht entstehen, wie es scheint, weil dasjenige, was nicht sein kann, nicht entstehen kann. Also gibt es in Gott keine Idee vom Unendlichen. Also kann Gott Unendliches nicht hervorbringen. 2.  Wenn man sagt, daß Gott die Dinge erschafft, dann setzt man damit auf seiten des Schöpfers nichts Neues, sondern nur auf seiten des Geschöpfes. Daher scheint es dasselbe zu sein zu sagen, daß Gott die Dinge erschafft, wie zu sagen, daß die Dinge durch Gott ins Sein hervorgehen. Also ist es aus demselben Grund dasselbe, zu sagen, 205  Paralleltexte: In Phys. III, 12; Quodl. IX, q.  1, art. unic. (ed. Leon. XXV/1, 87–90); Quodl. XII, q.  2, a.  2 (ed. Leon. XXV/2, 400); Sum. theol. I, q.  7, a.  4. – Die Formulierung der Frage zeigt die Nähe des vorliegenden Werkes zur universitären Veranstaltung. 206  Seneca, Ep. 58, 19.

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10. Artikel

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Gott könne die Dinge erschaffen, wie zu sagen, die Dinge können durch Gott ins Sein hervorgehen. Nun können aber unendlich viele Dinge nicht entstehen, weil im Geschöpf nicht das Vermögen zu einem aktual Unendlichen liegt. Also kann Gott auch nicht aktual Unendliches hervorbringen. Antwort: Es gibt zweierlei Unterscheidungen des Unendlichen: Einmal wird es nach Akt und Potenz unterschieden, und ›potentiell unendlich‹ nennt man das, was in einer fortwährenden Aufeinanderfolge be­ steht, so daß im Entstehen und in der Zeit und in der Teilung des Kontinuums, in denen allen ein Vermögen zum Unendlichen liegt, immerzu eines nach dem anderen aufgefaßt wird; von ›aktual Un­ endlichem‹ sprechen wir, wenn wir eine Linie setzen, die keine End­ punkte hat. Auf eine andere Weise wird das Unendliche unterschie­ den in an sich und akzidentell. Diese Unterscheidung wird auf fol­ gende Weise ersichtlich: Der Begriff des Unendlichen entspricht, wie gesagt,207 der Quantität; die Quantität wird nun wiederum grund­ legender von der Quantität des Diskreten als von der Quantität des Kontinuums ausgesagt. Deshalb gilt: Um zu sehen, auf welche Weise das an sich und das akzidentelle Unendliche ist, muß man sich ver­ gegenwärtigen, daß eine Vielheit manchmal an sich, manchmal hingegen akzidentell erforderlich ist. Die an sich seiende Vielheit ist, wie ja ersichtlich, bei geordneten Ursachen und Wirkungen er­ forderlich, bei denen das eine in einer wesentlichen Abhängigkeit zum anderen steht. Beispielsweise verändert die Seele die natürli­ che Wärme, wodurch die Nerven und Muskeln verändert werden, wodurch wiederum die Hände bewegt werden, die ihrerseits einen Stab bewegen, der wiederum einen Stein in Bewegung versetzt. Bei all diesen Dingen hängt jede der nachgeordneten Veränderungen von jeder der vorhergehenden an sich ab. Eine akzidentelle Vielheit findet sich hingegen, wenn jegliches, was in einer Menge enthalten ist, gleichsam anstelle eines anderen gesetzt wird und sich unter­ schiedslos verhält, gleichgültig ob es eines ist oder ob es viele sind oder ob es mehr oder weniger sind. Ein Beispiel: Wenn ein Baumei­ 207  Vgl. De ver., q.  2, a.  2, ad 5 und a.  9 (S. 164).

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ster mehrere Sägen nacheinander verbraucht, wird nicht die Menge der Sägen zum Bau des Hauses gebraucht, allenfalls akzidentell da­ durch, daß eine einzelne Säge nicht von dauerhaftem Bestand sein kann. Dabei macht es für das Haus auch keinen Unterschied, wie viele verwendet werden, daher steht auch nicht eine dieser Sägen in einer Abhängigkeit zu einer anderen, wie dies der Fall wäre, wenn diese Menge an sich erforderlich wäre. Dementsprechend sind über das Unendliche verschiedene Lehrmeinungen aufgetreten. Einige der alten Philosophen208 haben das aktual Unendliche nicht nur im akzidentellen Sinne, sondern im wesentlichen Sinne behaup­ tet, weil sie Wert darauf gelegt haben, daß das Unendliche mit Not­ wendigkeit zu dem gehöre, was sie als Prinzip gesetzt haben. Daher haben sie auch einen unendlichen Hervorgang der Ursachen behaup­ tet. Aristoteles weist diese Lehre im 2. Buch der Metaphysik209 und im 3. Buch der Physik210 zurück. Andere wiederum, die Aristoteles gefolgt sind, haben eingeräumt, daß es ein an sich Unendliches nicht geben kann, weder ein aktual noch ein potentiell Unendliches, weil es nicht möglich ist, daß irgen­ detwas wesentlich von etwas Unendlichem abhängt. In diesem Falle würde nämlich sein Sein niemals vollständig. Doch das akziden­ tell Unendliche behaupteten sie nicht nur der Möglichkeit, sondern auch der Wirklichkeit nach. Daher hat Algazali in seiner Metaphy­ sik211 nicht nur behauptet, daß die menschlichen Seelen, die von den Körpern getrennt sind, unendlich viele sind, weil dies daraus folgt, daß die Welt selbst ewig ist.212 Er hat dies auch nicht für sinnwid­ rig gehalten, weil bei den Seelen keine wechselseitige Abhängigkeit besteht, daher liegt in der Menge jener Seelen Unendliches nur im akzidentellen Sinne vor. 208  Die Editio Leonina verweist auf: Pythagoras, Anaxagoras, Demo­ krit und Platon, und dies mit Bezug auf die entsprechenden doxographi­ schen Bemerkungen bei Aristoteles: Met. I, 4; 984 a 11–16; Phys. III, 4; 202 b 30 ff.; zum Ausdruck antiqui vgl. De ver., q.  2, Anm.  41. 209  Aristoteles, Met. II, 2; 994 a 1 ff. 210  Aristoteles, Phys. III, 4; 203 a 3–6. 211  Vgl. Algazali, Met. I, tr. 1 div. 6 (ed. J. T. Muckle, 40); vgl. De ver., q.  2, Anm.  5. 212  Vgl. Thomas v. Aquin, ScG II, 81 (ed. C. Pera, nr. 1622).

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Einige andere Autoren haben wiederum die Behauptung aufge­ stellt, daß das aktual Unendliche weder an sich noch akzidentell sein kann, sondern nur als potentiell Unendliches, was in einem Nacheinander besteht, wie im 3. Buch der Physik213 gelehrt wird – und dies ist die Meinung des Averroes in seinem Kommentar zum 2. Buch der Metaphysik des Aristoteles.214 Dies nun, daß das Unend­ liche kein aktual Unendliches sein kann, kann aus zwei Gründen der Fall sein, entweder weil das Wirklichsein dem Unendlichsein einfach insofern widerspricht, als es unendlich ist, oder aus einem zusätzlichen Grund; beispielsweise widerspricht das Nach-oben-be­ wegt-Werden einem bleiernen Dreieck, nicht weil es ein Dreieck, sondern weil es aus Blei ist. Wenn also ein aktual Unendliches ent­ sprechend der an zweiter Stelle angeführten Lehrmeinung seiner Wesensnatur nach sein kann, oder wenn es nur durch ein anderes als durch ein im Begriff selbst liegendes Hindernis nicht sein könnte, so behaupte ich, daß Gott ein aktual Unendliches hervorbringen kann; wenn hingegen das Wirklichsein dem Unendlichen seinem Begriffe nach widerstreitet, dann kann Gott dies nicht hervorbringen, wie er auch nicht machen kann, daß der Mensch ein Lebewesen ohne Ver­ nunftbegabung ist, weil darin Widersprechendes zugleich wäre. Ob aber das Wirklichsein dem Unendlichen seinem Begriff nach wider­ spricht oder nicht, weil dieses Problem unvorhergesehen aufgewor­ fen worden ist, ist dies an anderer Stelle215 zu erörtern, und damit soll es sein Bewenden haben. Zu den Argumenten der beiden Seiten ist nun aber eine Antwort zu geben. Zu 1.  Die Begriffe, die im göttlichen Geist sind, treten nicht in der Weise im Geschöpf hervor, in der sie in Gott sind, sondern ent­ sprechend der Weise, die der Charakter des Geschöpfes zuläßt. Da­ her gilt: Obgleich die Begriffe immateriell sind, werden durch sie Dinge gleichwohl in ein materielles Sein hervorgebracht. Wenn es also zum Begriff des Unendlichen gehört, daß es nicht zugleich, son­ 213  Aristoteles, Phys. III, 10; 206 a 18. 214  Averroes, In Met. II, comm. 6 (VIII, 31 D). 215  Vgl. Thomas v. Aquin, Quodl. IX, q.  1 a.  un. (ed. Leon. XXV/1, 87–

90); dieses Quodlibet hat Thomas in der Adventszeit 1257 abgehalten.

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dern im Nacheinander wirklich wäre, wie Aristoteles im 3. Buch der Physik216 sagt, dann können die unendlich vielen Begriffe, die sich im göttlichen Geist befinden, im Geschöpf nicht alles zugleich, sondern nur in der Form eines Nacheinander bewirken; und daher ergibt sich kein aktual Unendliches. Zu 2. Von der Kraft des Geschöpfes sagt man in zweifachem Sinne, daß sie etwas nicht vermag: einmal aufgrund des Mangels an Kraft; und dann kann man im Ausgang davon, daß das Geschöpf etwas nicht vermag, zu Recht argumentieren, daß Gott es kann; zum anderen aufgrund dessen, daß dasjenige, von dem man sagt, es sei dem Geschöpf unmöglich, in sich selbst ausgesagt wird, sofern es in sich selbst einen Widerstreit enthält; und in diesem Sinne ist es weder dem Geschöpf noch Gott möglich, daß Widersprüchliches zu­ gleich sei, und von dieser Art wäre ein aktual Unendliches nur dann, wenn das Wirklichsein dem Begriff des Unendlichen widerspräche. Zu 3.  ›Vergeblich‹ ist das, das nicht zu dem Ziel gelangt, auf das es ausgerichtet ist, wie es im 2. Buch der Physik217 heißt. Deswegen, weil ein Vermögen nicht in die tätige Wirklichkeit überführt wird, nennt man es nicht ›vergeblich‹, es sei denn, sofern seine Wirkung oder die davon unterschiedene tätige Wirklichkeit das Ziel des Ver­ mögens ist. Keine Wirkung des göttlichen Vermögens ist dessen Ziel, noch ist seine Tätigkeit von ihm verschieden, und deshalb ist das Argument nicht stichhaltig. Auf das, was zugunsten der Gegenthese eingewandt wurde, ist zu antworten: Zu 1.  Obgleich seiner Natur nach nichts Unendliches zugleich sein kann, so kann es doch werden, weil das Sein des Unendlichen nicht im Zugleichsein besteht, sondern sich wie das verhält, was sich im Werden befindet, wie der Tag und ein Kampfspiel, wie es im 3. Buch der Physik218 heißt. Gleichwohl folgt daraus nicht, daß Gott 216  Aristoteles, Phys. III, 6; 206 a 18–19. 217  Aristoteles, Phys. II, 6; 197 b 25–27. 218  Aristoteles, Phys. III, 6; 206 a 18–24. Das griech. Wort ἀγών (agon)

ist in der von Thomas benutzten Physik-Übersetzung unübersetzt über­ nommen worden.

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nur das hervorbringen kann, was natürlicherweise wird. Die Idee im Sinne der vorher genannten Kennzeichnung219 wird im Sinne der praktischen Erkenntnis verstanden, die darin besteht, daß sie vom göttlichen Willen zur Wirklichkeit bestimmt wird. Nun kann aber Gott durch seinen Willen vieles andere hervorbringen als das, was durch ihn dazu bestimmt ist, daß es ist oder gewesen ist oder sein wird. Zu 2.  Obwohl in der Schöpfung ausschließlich das neu ist, was von seiten des Geschöpfes ist, beinhaltet dennoch der Ausdruck ›Schöpfung‹ nicht nur das, sondern auch, was es von seiten Gottes ist. Es bezeichnet nämlich die göttliche Tätigkeit, die sein Wesen ist, und bezeichnet aber zugleich die Wirkung im Geschöpf mit, die darin besteht, das Sein von Gott zu empfangen. Daher folgt nicht, daß es dasselbe ist, daß Gott etwas erschaffen kann, wie daß etwas von ihm erschaffen werden kann. Andernfalls würde gelten: Bevor das Geschöpf ist, kann er nichts erschaffen, wenn nicht das Vermö­ gen des Geschöpfes im vorhinein bereits bestünde. Das heißt nichts anderes, als eine ewige Materie behaupten. Daher gilt: Obwohl das Vermögen des Geschöpfes nicht dazu geeignet ist, daß ein aktual Unendliches existiert, schließt dies doch nicht aus, daß Gott aktual Unendliches hervorbringen könnte.

11. Artik el Die elfte Frage lautet: Wird ›Wissen‹ im rein äquivoken Sinne von Gott und von uns ausgesagt?220 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Wo immer nämlich eine Gemeinsamkeit der Univokation oder der Analogie besteht, dort besteht eine gewisse Ähnlichkeit.221 Nun kann es aber zwischen dem Geschöpf und Gott keine Ähnlichkeit 219  Vgl. De ver., q.  2, a.  10, s. c. 1 (S. 168). 220  Paralleltexte: ScG I, 33; Sum. theol. I, q.  13, a.  5; Comp. theol. I, 27

(ed. Leon. XLII, 90–91); De pot., q.  7, a.  7. 221  Vgl. Aristoteles, Phys. VIII, 4; 248 b 6–7, 9, 249 a 4–5; Thomas v. Aquin, In Phys. VII, 7 (ed. M. Maggiolò, nr. 939); Auctoritates Aristotelis, ed. J. Hamesse, S. 155: Sola univoca et non aequivoca sunt comparabilia.

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geben. Also kann zwischen beidem nichts im Sinne der Univokation oder der Analogie gemeinsam sein. Wenn also der Begriff ›Wissen‹ von Gott und uns Menschen ausgesagt wird, dann nur im äquivo­ ken Sinne. Beweis des Mittelsatzes: Im Buch Isaias, Kap.  40, heißt es: »Wem hast du Gott ähnlich gemacht?«222 usw., was in dem Sinne gesagt wird: Gott kann nichts ähnlich sein. 2.  Wo immer eine Ähnlichkeit besteht, dort besteht auch eine Vergleichbarkeit223. Doch von Gott kann es zum Geschöpf keine Ver­ gleichbarkeit geben, da das Geschöpf endlich und Gott unendlich ist.224 Also kann zwischen ihnen keine Ähnlichkeit bestehen, und demnach folgt dasselbe wie zuvor. 3.  Wo immer eine Vergleichbarkeit besteht, dort muß es auch eine Form geben, die alle Dinge in höherem oder geringerem oder in gleichem Maße besitzen. Doch dies läßt sich von Gott und einem Geschöpf nicht behaupten, weil dann etwas einfacher als Gott wäre. Also gibt es zwischen ihm und dem Geschöpf keine Vergleichbarkeit und demzufolge keine Ähnlichkeit und auch keine Gemeinsamkeit, es sei denn lediglich im Sinne einer Äquivokation. 4. Der Abstand zwischen den Dingen, zwischen denen keine Ähnlichkeit herrscht, ist größer als zwischen denen, bei denen es eine gewisse Ähnlichkeit gibt. Nun besteht aber zwischen Gott und einem Geschöpf ein unendlicher Abstand, weil kein Abstand größer als dieser sein kann. Also besteht zwischen ihnen keine Ähnlichkeit, und demzufolge ergibt sich daraus dasselbe wie zuvor.

222  Is. 40, 18: »Mit wem wollt ihr Gott vergleichen?« [Jerusalemer Bi­ bel]; Jes. 40, 25: »Wem wollt ihr mich vergleichen?«. 223  Das Wort proportio läßt sich hier nicht einfach mit ganz allgemei­ nen Ausdrücken wie Verhältnis, Beziehung, Relation übersetzen, weil sich die daraus entnommene Erläuterung nicht ergäbe. 224  Vgl. Aristoteles, De caelo I, 6; 274 a 7–8: »Doch das Unbegrenzte steht in keinem Verhältnis zum Begrenzten« [Übers. A. Jori]; Phys. VIII, 1; 252 a 13; in den Auctoritates Aristotelis heißt es, ed. J. Hamesse, S. 156: Finiti et infiniti nulla est proportio; im griechischen Originaltext ist je­ doch von Unendlichkeiten die Rede und entsprechend übersetzt H. Wag­ ner: »Zwischen zwei Unendlichkeiten aber gibt es keinerlei bestimmbares Verhältnis.«

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5.  Der Abstand des Geschöpfes vom Schöpfer ist größer als die ei­ nes geschaffenen Seienden vom Nichtseienden, da ein geschaffenes Seiendes das Nichtseiende nur in dem Maß seines Seiendseins über­ steigt, das ja nicht unendlich ist. Nun kann aber dem Seienden und dem Nichtseienden nichts gemeinsam sein, »es sei denn im Sinne der Äquivokation«225, wie es im 4. Buch der Metaphysik heißt, also etwa so, wie wenn das, was wir als ›Mensch‹ bezeichnen, andere als ›Nicht-Mensch‹ bezeichnen. Also kann auch Gott und dem Geschöpf etwas nur im Sinne einer reinen Äquivokation gemeinsam sein. 6.  Bei allem, was in analogen Verhältnissen steht, ist es so, daß entweder das eine in der Definition des anderen gesetzt ist, so wie die Substanz in der Definition des Akzidens gesetzt wird und der Akt in der Definition der Potenz, oder etwas Identisches wird in der Definition von beiden gesetzt, so wie beispielsweise die Gesund­ heit eines Lebewesens in der Definition von ›gesund‹ gesetzt wird, das vom Urin und von einer Speise ausgesagt wird, von denen das eine die Gesundheit erhält und das andere die genannte Gesundheit anzeigt. Nun verhält sich aber das Geschöpf nicht auf diese Weise, weder so, daß das eine in der Definition des anderen gesetzt würde, noch so, daß etwas Identisches in der Definition von beiden gesetzt würde – einmal vorausgesetzt, daß es von Gott eine Definition gäbe. Also scheint es, daß nichts im Sinne der Analogie von Gott und den Geschöpfen ausgesagt werden kann, und daher ergibt sich, daß, was immer von beiden ausgesagt wird, im Sinne einer Äquivokation aus­ gesagt wird. 7.  Substanz und Akzidens unterscheiden sich in einem höheren Maße als zwei Arten einer Substanz. Doch derselbe Begriff, der zur Bezeichnung von zwei Arten von Substanz entsprechend der eigen­ tümlichen Begriffe von beiden geprägt ist, wird von diesen äquivok ausgesagt, wie beispielsweise die Bezeichnung ›Hund‹ vom Sternbild Hund, von einem bellenden Hund und von einem Seehund.226 Also gilt dies um so mehr, wenn eine Bezeichnung einer Substanz und einem Akzidens zugewiesen wird. Nun ist aber unser Wissen ein 225  Aristoteles, Met. IV, 4; 1006 b 18–20. 226  Die Mehrdeutigkeit des Wortes ›Hund‹ samt den Beispielen stammt

aus Boethius’ Kategorienkommentar: PL 64, col.  502 D – 503 A.

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Akzidens,227 das göttliche hingegen gehört zur Substanz. Also wird der Begriff ›Wissen‹ von beiden rein äquivok ausgesagt. 8.  Unser Wissen ist nichts anderes als eine Art Abbild des gött­ lichen Wissens. Nun kommt aber die Bezeichnung einer Sache dem Abbild von ihr lediglich im äquivoken Sinne zu. Daher wird nach Aristoteles in der Schrift über die Kategorien228 ›Lebewesen‹ von einem wirklichen Lebewesen und von einem gemalten im äquivo­ ken Sinne ausgesagt. Also wird auch der Ausdruck ›Wissen‹ im rein äquivoken Sinne vom göttlichen und unserem Wissen ausgesagt. Dagegen spricht: 1.  Aristoteles sagt im 5. Buch der Metaphysik229, daß dasjenige ohne Einschränkung vollkommen ist, in dem sich die Vollkommen­ heiten aller Gattungen finden – und dies ist Gott, wie Averroes230 zu dieser Stelle sagt. Man würde freilich nicht sagen, daß die Vollkom­ menheiten der anderen Gattungen in ihm seien, wenn es nicht eine Ähnlichkeit seiner Vollkommenheit mit den Vollkommenheiten der anderen Gattungen gäbe. Also besteht zwischen einem Geschöpf und Gott eine Ähnlichkeit, also wird ›Wissen‹ oder was immer sonst vom Geschöpf und Gott ausgesagt wird nicht im rein äquivoken Sinne ausgesagt. 227  Aristoteles, Cat., c.  2; 1 b 1–2: »Wissen ist in einem Zugrundelie­ gendem, der Seele« [Übers. K. Oehler]; vgl. De ver., q.  2, Anm.  10. 228  Aristoteles, Cat., c.  1; 1 a 1–4: »Homonym heißen Dinge, wenn sie nur einen Namen gemeinsam haben, aber die dem Namen entsprechende Definition des Seins verschieden ist. So wird zum Beispiel der Name ›Le­ bewesen‹ sowohl in bezug auf den Menschen als auch in bezug auf das Bild gebraucht« [Übers. K. Oehler]; vgl. Aristoteles, De an. II, 1; 412 b 20–22: »Das Auge aber ist die Materie der Sicht, von welcher verlassen es nicht mehr ein Auge ist, außer homonym, wie das aus Stein oder gezeichnete« [Übers. Th. Buchheim]; Met. VII, 10; 1035 b 23–25: »Nicht ein Finger in einem beliebigen Zustand ist Finger eines Lebewesens, vielmehr hat der abgestorbene Finger nur die gleiche Bezeichnung [Übers. Th. A. Szlezák]; Peri herm., c.  11; 21 a 23: »So ist es zum Beispiel falsch, wenn man von einem toten Menschen (einfach) sagt, er sei ein Mensch« [Übers. H. Wei­ demann]; De part. an. I; 640 b 33–35; Meteor. I, 12; 389 b 31–390 a 2. 229  Aristoteles, Met. V, 18; 1021 b 30–1022 a 1. 230  Averroes, In Met. V, comm. 21 (ed. R. Ponzalli, 182).

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2. Im Buch Genesis, Kap. 1, heißt es: »Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis.«231 Also gibt es eine Ähn­ lichkeit des Geschöpfes im Verhältnis zu Gott, und demzufolge er­ gibt sich derselbe Schluß wie zuvor. Antwort: Man kann nicht behaupten, daß etwas im univoken Sinne vom Geschöpf und Gott ausgesagt wird.232 Bei allem, das in univoker Weise ausgesagt wird, ist die Bedeutung des Wortes beiden Dingen, von denen ein Ausdruck univok ausgesagt wird, gemeinsam. Da­ her gilt: Was die Bedeutung jener Bezeichnung angeht, ist, was im univoken Sinne übereinkommt, gleich, obwohl im Hinblick auf das Sein das eine früher sein kann als das andere. Beispielsweise sind im Begriff der Zahl alle Zahlen gleich, obgleich der Natur der Sache nach eine grundlegender als eine andere ist. In welchem Maße auch immer ein Geschöpf Gott nachahmt, so kann es doch nicht dahin gelangen, daß ihm etwas im selben Sinne zukommt, wie es Gott zukommt. Dasjenige, was sich im selben Sinne in verschiedenen Dingen findet, ist diesen im Begriff der Substanz bzw. der Washeit gemeinsam, aber entsprechend deren Sein verschieden. Was immer nun aber in Gott ist, ist dessen eigentümliches Sein. Wie beispiels­ weise in ihm das Wesen dasselbe ist wie das Sein, so ist in ihm das Wissen dasselbe wie das Wissendsein. Daher gilt: Wenn das Sein, das dem einen eigentümlich ist, einem anderen nicht mitgeteilt wer­ den kann, ist es unmöglich, daß das Geschöpf zum selben Begriff des Habens von Sein gelangte, in dem Gott es hat, wie es ja auch un­ möglich ist, daß es zum selben Sein gelangte. Ähnlich wäre es auch bei uns Menschen: Wenn nämlich bei Sokrates nicht ›Mensch‹ und ›Menschsein‹ unterschieden wäre, wäre es unmöglich, daß ›Mensch‹

231  Gen. 1, 26: »[…] nach unserem Bilde, uns ähnlich« [Jerusalemer Bibel]. 232  Thomas weist dies wie an anderen Stellen (ScG I, 32) aus Gründen der systematischen Vollständigkeit zurück und nicht deswegen, weil ein ihm bekannter Autor dies vertreten hätte; vgl. R. Schönberger, Nomina divina, 112–116 mit Verweis auf H. A. Wolfson.

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von ihm und von Platon im univoken Sinne ausgesagt würde, bei denen das Sein ja jeweils verschieden ist. Gleichwohl kann man nicht behaupten, daß all das, was immer von Gott und dem Geschöpf gesagt wird, in einem völlig äquivoken Sinne ausgesagt wird. Dies aus folgendem Grund: Wenn es nicht ir­ gendein Übereinkommen in der Sache zwischen Geschöpf und Gott gäbe, dann wäre sein Wesen kein Urbild der Geschöpfe, und daher würde Gott in der Erkenntnis seines Wesens nicht die Geschöpfe er­ kennen. Entsprechend könnten auch wir nicht im Ausgang von den geschaffenen Dingen zur Erkenntnis Gottes gelangen und auch bei den Begriffen, die den Geschöpfen zukommen, wäre nicht der eine angemessener als ein anderer von ihm auszusagen, weil es bei äqui­ voken Aussagen keinen Unterschied gibt, welcher Begriff zugespro­ chen wird, weil mit ihnen ja keine Gemeinsamkeit in den Dingen angezeigt wird. Daher muß man behaupten, daß der Begriff ›Wissen‹ weder in völlig univokem noch in rein äquivokem Sinne vom göttlichen und unserem Wissen ausgesagt wird, sondern im Sinne der Analogie, womit nichts anderes gesagt ist als entsprechend einer Proportion. Das Übereinkommen in der Proportion kann nun aber in zweifacher Weise vorliegen, und entsprechend diesen beiden gibt es eine Ge­ meinsamkeit der Analogie nach. Es gibt ein Übereinkommen in den Dingen, bei denen eine Proportion besteht aufgrund dessen, daß sie einen bestimmten Abstand oder ein anderes bestimmtes Verhältnis zueinander haben, wie beispielsweise die Zahl zwei zu der Zahl eins, weil jene das Doppelte von dieser ist. Ein Übereinkommen findet sich auch zwischen zweien zueinander, nicht zwischen denen eine Proportion besteht, sondern vielmehr zwischen zwei Proportionen, wie sechs mit vier übereinkommt aufgrund dessen, daß sechs das Doppelte von drei ist so wie vier das Doppelte von zwei. Beim erster Übereinkommen handelt es sich um eine Proportion, beim zweiten um eine Proportionalität. Daher finden wir auch entsprechend der ersten Weise des Übereinkommens etwas von zweien im analogen Sinne Ausgesagtes, von denen das eine im Verhältnis zu anderen steht, wie ›seiend‹ von der Substanz und dem Akzidens ausgesagt wird aufgrund des Verhältnisses, das das Akzidens zur Substanz hat, und ›gesund‹ vom Urin und dem Lebewesen ausgesagt wird

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11. Artikel

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aufgrund dessen, daß der Urin in einem Verhältnis steht zum Lebe­ wesen. Manchmal wird hingegen etwas analog in der zweiten Weise des Übereinkommens ausgesagt, wie der Begriff ›Sehen‹ vom kör­ perlichen Sehen und dem geistigen Sehen ausgesagt wird aufgrund dessen, daß gilt: So wie das Sehen im Auge ist, so der Verstand im Geist.233 Da also bei demjenigen, das in der ersten Weise analog aus­ gesagt wird, ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem bestehen muß, bei dem etwas der Analogie nach gemeinsam ist, ist es unmöglich, etwas in diesem Sinne von Gott und dem Geschöpf analog auszu­ sagen, weil kein Geschöpf ein solches Verhältnis zu Gott hat, durch das die göttliche Vollkommenheit bestimmt werden könnte. Doch im anderen Sinn von Analogie liegt bei den Dingen kein bestimmtes Verhältnis vor, denen etwas auf analoge Weise gemeinsam ist, und deshalb besteht in diesem Sinne kein Hindernis, einen Ausdruck von Gott und dem Geschöpf analog auszusagen. Allerdings geschieht dies in zweifacher Weise: Manchmal be­ inhal­tet jener Name etwas vom ursprünglich Bezeichneten, bei dem es kein Übereinkommen zwischen Gott und dem Geschöpf geben kann, auch in dem zuvor genannten Sinne, wie es beispielsweise bei all dem der Fall ist, was metaphorisch von Gott ausgesagt wird, so wie beispielsweise, wenn Gott ›Löwe‹234 oder ›Sonne‹235 genannt wird oder anderes dieser Art, weil in deren Definition Materie enthalten ist, die Gott nicht zugeschrieben werden kann. Manchmal hingegen beinhaltet der Ausdruck, der von Gott und dem Geschöpf ausgesagt wird, nichts vom ursprünglich Bezeichneten, dementsprechend die genannte Form des Übereinkommens zwischen Geschöpf und Gott nicht vorliegen kann, wie dies bei all denen der Fall ist, in deren Definition kein Mangel eingeschlossen ist und die auch nicht in ih­ rem Sein von der Materie abhängen, wie ›seiend‹, ›gut‹ und anderes dieser Art. 233  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 4; 1096 b 28–29: »Denn so wie die Seh­ fähigkeit im Körper, so verhält sich in der Seele die Vernunft« [Übers. D.  Frede]; Top. I, 17; 108 a 11: »wie Gesicht im Auge, so Verstand in der Seele« [Übers. E. Rolfes]. 234  Hos. 13, 7: »So werde ich für sie wie ein Löwe sein.« 235  Mal. 4, 2; vgl. 3, 20: »Sonne der Gerechtigkeit«.

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Zu 1.  Wie Dionysius im 9. Kapitel seiner Schrift Über die göttli­ chen Namen236 sagt, kann man Gott in keiner Weise den Geschöp­ fen ›ähnlich‹ nennen, doch kann man umgekehrt die Geschöpfe in gewisser Weise Gott ›ähnlich‹ nennen. Dasjenige nämlich, was in Nachahmung von etwas geschieht, kann, wenn es jenes in vollkom­ mener Weise nachahmt, ihm ohne Einschränkung ›ähnlich‹ genannt werden, nicht jedoch umgekehrt, weil der Mensch nicht seinem Bild ›ähnlich‹ genannt wird, sondern umgekehrt. Wenn hingegen etwas etwas Anderes in unvollkommener Weise nachahmt, dann kann das, was es nachahmt, und das, was zu seiner Nachahmung gemacht ist, sowohl ›ähnlich‹ als auch ›unähnlich‹ genannt werden: ›ähnlich‹ in der Hinsicht, daß es jenes darstellt, ›unähnlich‹ hingegen in der, daß seine Nachahmung gegenüber einer vollkommenen Nachah­ mung unzulänglich ist. Deshalb verneint die Hl. Schrift, daß Gott den Geschöpfen ähnlich ist,237 wohingegen sie die Ähnlichkeit der Geschöpfe mit Gott manchmal einräumt, manchmal aber verneint. Sie räumt sie ein, wenn sie sagt, der Mensch sei »nach dem Bild Gottes«238 geschaffen, doch bestreitet sie dies, wenn es im Psalm heißt: »Gott, wer würde dir ähnlich sein?«239

236  Dionysius Areopagita, De div. nom. 9, 6 (PG 3, col. 913 C; Dion. I,

468). 237  Vgl. Ex. 9, 14: »… damit du erkennst, daß auf der Erde keiner ist wie ich«; 2 Chr. 6, 14: »Jahwe, du Gott Israels, kein Gott ist dir gleich weder droben im Himmel noch hier unten auf der Erde!« 238  Vgl. Gen. 1, 26; 5, 1: »Am Tage, da Gott Adam schuf, machte er ihn Gott ähnlich«; Wsh. 2, 23: »Gott hat ja den Menschen zur Unverweslich­ keit erschaffen und ihn zum Abbild seines eigenen Wesens gemacht«; Jak. 3, 9: »Mit ihr preisen wir den Herrn und Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die nach Gottes Ebenbild geschaffen sind.« 239  Ps. 83 (82), 3. Der Text kommt so in den üblichen deutschen Über­ setzungen nicht vor; er wird auch in der Vulgata-Ausgabe von Robert Weber nicht im Apparat vermerkt. Selbstverständlich wurde dieser Text aber jahrhundertelang so gelesen und interpretiert, z. B. Augustinus, En­ arr. in Ps. 82, 2 (CCSL 39, 1140 f.). Mögliche andere biblische Belege: Is. 40, 18: »Mit wem wollt ihr Gott vergleichen?« [Jerusalemer Bibel]; Jes. 40, 25: »Wem wollt ihr mich vergleichen?«.

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11. Artikel

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Zu 2.  Aristoteles behauptet im 1. Buch der Topik240 eine zweifa­ che Ähnlichkeit: eine, die sich in verschiedenen Gattungen findet, und diese liegt als Proportion bzw. als Proportionalität vor; wie bei­ spielsweise, wenn sich das eine zum anderen wie ein Drittes zu ei­ nem Vierten verhält, wie er selbst dort sagt; eine andere Weise der Ähnlichkeit liegt bei den Dingen vor, die zur selben Gattung gehö­ ren, wie etwa dann, wenn dasselbe verschiedenen Dingen zugehört. Ähnlichkeit erfordert nicht ein Verhältnis im Sinne einer bestimm­ ten Beziehung, welche in der ersten Form ausgesagt wird, sondern nur diejenige, die in der zweiten Form ausgesagt wird. Daher ist es nicht notwendig, daß die erste Form der Ähnlichkeit von Gott im Hinblick auf die Geschöpfe ausgeschlossen wird. Zu 3.  Jener Einwand geht von der Ähnlichkeit in der zweiten Form aus, von der wir eingeräumt haben, daß sie im Verhältnis der Geschöpfe zu Gott nicht besteht. Zu 4.  Die Ähnlichkeit, die darauf beruht, daß zwei Dinge an einer Sache teilhaben, oder darauf, daß eines ein bestimmtes Verhältnis zu einem anderen hat, wodurch aus dem einen durch den Verstand das andere begriffen werden kann, vermindert den Abstand, nicht hingegen die Ähnlichkeit, die im Übereinkommen der Proportio­ nen besteht. Eine solche Ähnlichkeit findet sich ebenso in weit wie in geringfügig voneinander entfernten Dingen. Es ist keine größere Ähnlichkeit der Proportionalität zwischen zwei und eins und sechs und drei als zwischen zwei und eins und 100 und 50. Deshalb hebt der unendliche Abstand zwischen Geschöpf und Gott die eben ge­ nannte Ähnlichkeit nicht auf. Zu 5.  Auch dem Seienden und dem Nichtseiendem kommt etwas im Sinne der Analogie zu, weil das Nichtseiende im analogen Sinne ›seiend‹ genannt wird, wie im 4. Buch der Metaphysik241 ersichtlich wird. Daher kann auch der Abstand, der zwischen dem Geschöpf und Gott herrscht, für die Gemeinsamkeit im Sinne der Analogie kein Hindernis sein.242 240  Aristoteles, Top. I, 17; 108 a 7–17. 241  Aristoteles, Met. IV, 1; 1003 b 10: »Daher sagen wir auch vom

Nichtseienden, daß es das Nichtseiende ›ist‹.« [Übers. Th. A. Szlezák]. 242  Thomas v. Aquin begründet später die Einzigkeit der göttlichen

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Zu 6.  Dieses Argument geht von der Gemeinsamkeit im Sinne derjenigen Analogie aus, die im Sinne eines bestimmten Verhältnis­ ses des einen zu einem anderen verstanden wird; dann ist es nämlich erforderlich, daß das eine in der Definition des anderen gesetzt wird, wie beispielsweise die Substanz in der Definition des Akzidens. Oder von etwas in der Definition von zweien aufgrund dessen, daß beide in Beziehung zu diesem einen ausgesagt werden, wie beispielsweise die Substanz in der Definition von Quantität und Qualität. Zu 7.  Obwohl zwischen zwei Arten von Substanz eine größere Gemeinsamkeit besteht als zwischen Akzidens und Substanz, ist es gleichwohl möglich, daß die Benennung jenen verschiedenen Arten im Hinblick auf irgendeine Übereinstimmung nicht beigelegt wird, die zwischen ihnen statthat, und in diesem Fall wäre die Bezeich­ nung rein äquivok. Diejenige Bezeichnung hingegen, die der Sub­ stanz und dem Akzidens zukommt, kann im Hinblick auf eine Ge­ meinsamkeit zwischen beiden beigelegt sein; in diesem Falle wäre es keine Bezeichnung im äquivoken, sondern im analogen Sinne. Zu 8. Diese Bezeichnung ›Lebewesen‹ wird nicht zur Bezeich­ nung der äußeren Gestalt geprägt, hinsichtlich derer das Bild das wirkliche Lebewesen nachahmt, sondern zur Bezeichnung der in­ neren Wesensnatur, die nicht nachgeahmt wird; deshalb wird die Bezeichnung ›Lebewesen‹ vom wirklichen und vom gemalten Lebe­ wesen in äquivokem Sinne ausgesagt. Hingegen kommt die Bezeich­ nung ›Wissen‹ dem Geschöpf und dem Schöpfer im Hinblick darauf zu, daß das Geschöpf den Schöpfer nachahmt, und deshalb wird sie von diesen beiden nicht im völlig äquivoken Sinne ausgesagt.

Schöpferkraft mit dem Abstand zwischen dem Nichtseienden und dem Seienden: Sum. theol. I, q.  45, a.  5, ad 3.

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12. Artikel

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12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Hat Gott eine Erkenntnis vom zukünftigen kontingenten Einzelnen?243 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Es kann nur das Wahre erkannt werden, wie es im 1. Buch der Zweiten Analytik244 heißt. Doch bei den kontingenten und zu­ künftigen Einzeldingen gibt es keine bestimmte Wahrheit, wie es im Buch Über den Satz245 heißt. Also hat Gott kein Wissen von zu­ künftigen und kontingenten Einzeldingen. 2.  Etwas, aus dem Unmögliches folgt, ist auch selbst unmöglich. Nun folgt daraus, daß Gott zukünftiges und kontingentes Einzel­ nes weiß, Unmögliches, nämlich, daß das Wissen Gottes der Täu­ schung unterliegt. Also ist es unmöglich, daß Gott zukünftiges und kontingentes Einzelnes weiß. Beweis des Mittelsatzes: Gesetzt, daß Gott ein zukünftiges und kontingentes Einzelnes weiß, wie etwa, daß Sokrates sitzt, dann ist es entweder möglich, daß Sokrates nicht sitzt, oder es ist nicht möglich. Wenn es nicht möglich ist, dann ist es also unmöglich, daß Sokrates nicht sitzt, also ist es notwendig, daß Sokrates sitzt, es war aber vorausgesetzt, daß es kontingent ist. Wenn es aber möglich ist, daß er nicht sitzt, dann darf unter dieser Voraussetzung nicht etwas Sinnwidriges folgen; es folgt allerdings, daß Gott der Täuschung unterliegt. Also ist es nicht unmöglich, daß das Wissen Gottes der Täuschung unterliegt. 3.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Das Kontingente, so­ fern es in Gott ist, ist notwendig. – Doch dem steht wiederum ent­ 243  Paralleltexte: Sent. I, d. 38, a.  5; ScG I, 67; Sum. theol. I, q.  14, a.  13; In Periherm. I, 14 (ed. Leon. I*/1, 70–79). 244  Aristoteles, Anal. post. I, 2; 71 b 25–26, wo von den Dingen die Rede ist, von denen das Wissen abhängt: »Wahr also müssen sie sein, weil es nicht möglich ist, das Nichtseiende zu wissen, wie etwa daß die Diago­ nale kommensurabel ist« [Übers. W. Detel]; vgl. Augustinus, De trin. XV, 10, 17 (CCSL 50 A, 483): »Niemand hat nämlich vom Falschen ein Wissen, es sei denn, daß er weiß, daß es sich um Falsches handelt« [Übers. J. Kreu­ zer]; Anselm v. Canterbury, De conc. I, 2 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 248): »[…] da es Wissen ja nur über die Wahrheit gibt« [Übers. H. Ver­ weyen]. 245  Aristoteles, Peri herm., c.  9; 18 a 28–19 b 4.

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gegen: Dasjenige, was in sich kontingent ist, ist nicht im Verhältnis zu Gott notwendig, es sei denn, dieses wäre in ihm. Doch im Hin­ blick auf das, was es in sich ist, ist es nicht von ihm unterschieden. Wenn Gott es also nur wissen kann, sofern es notwendig ist, dann weiß er es nicht, sofern es in sich selbst ist, d. h., sofern es von ihm unterschieden ist. 4.  Nach Aristoteles im 1. Buch der Ersten Analytik246 folgt aus einem Obersatz, der notwendig gilt, und einem Untersatz, der ein faktisches Zukommen behauptet, ein Schlußsatz, der mit Notwen­ digkeit gilt. Nun ist aber folgender Satz wahr: »Alles, was Gott weiß, ist notwendig.« Wenn nämlich dasjenige nicht wäre, von dem Gott weiß, daß es ist, wäre sein Wissen falsch. Wenn also Gott etwas weiß, dann besteht es mit Notwendigkeit. Nun ist aber nichts Kon­ tingentes notwendig, also weiß Gott nichts Kontingentes. 5.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Wenn man sagt: »Alles, was Gott weiß, ist notwendig«, dann enthält dies keine Notwendig­ keit von seiten des Geschöpfes, sondern nur von seiten des göttlichen Wissens. – Doch dem steht wiederum entgegen: Wenn man sagt: »Alles, was Gott weiß, ist notwendig«, dann wird dem Notwendig­ keit zugeschrieben, worauf das Gesagte sich bezieht. Doch das Zu­ grundeliegende ist das, was von Gott gewußt wird, und nicht Gott selbst, der weiß. Also liegt darin keine andere Notwendigkeit als die von seiten der gewußten Sache. 6.  Je gewisser eine Erkenntnis in uns ist, um so weniger ist es möglich, daß sie sich auf Kontingentes bezieht. Das Wissen bezieht sich nämlich nur auf Notwendiges,247 weil es gewisser als die Mei­ nung ist, die sich auf Kontingentes bezieht. Nun hat aber Gottes Wissen den höchsten Grad an Gewißheit. Also kann es sich nur auf Notwendiges beziehen. 7.  In jedem wahren Konditonalsatz gilt: Wenn der Vordersatz ab­ solut wahr ist, wird auch der Folgesatz absolut wahr sein. Nun ist aber folgendes Konditional wahr: Wenn Gott etwas weiß, wird es der Fall sein. Wenn also der Vordersatz: »Gottes weiß dieses«, abso­ 246  Aristoteles, Anal. priora I, 9; 30 a 15–16. 247  Vgl. Aristoteles, Anal. post.  I, 2; 71 b 28–29; I, 8; 75 b 24–25; Eth.

Nic. VI, 3; 1139 b 20–21, 23.

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12. Artikel

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lut wahr ist, wird auch der Folgesatz absolut notwendig sein: Also gilt: Alles, was Gott weiß, von dem gilt mit Notwendigkeit, daß es der Fall ist. Daß aber dies absolut notwendig ist: »Dies weiß Gott«, hat man folgendermaßen bewiesen: Dies ist in gewisser Weise eine Aussage über die Vergangenheit. Nun gilt aber: Jede Aussage über die Vergangenheit ist, wenn sie wahr ist, notwendig, weil das, was war, nicht nicht gewesen sein kann. Also ist es absolut notwendig. Außerdem: Alles Ewige ist notwendig. Nun wußte aber Gott alles, was er gewußt hat, von Ewigkeit her. Also ist das, was er gewußt hat, absolut notwendig. 8.  Jegliches verhält sich so zur Wahrheit, wie es sich zum Sein verhält.248 Nun haben aber die kontingenten zukünftigen Dinge kein Sein, also haben sie auch keine Wahrheit. Also kann es von ihnen kein Wissen geben. 9. Nach Aristoteles, im 4. Buch der Metaphysik249, gilt: Wer nichts Bestimmtes erkennt, erkennt nichts. Doch das kontingente Zukünftige, wenn es im höchsten Maße beide Möglich­ keiten enthält, ist in keiner Weise bestimmt – weder in sich noch im Hinblick auf seine Ursache. Also kann es davon auf keine Weise ein Wissen geben. 10.  Hugo von Sankt Viktor sagt in seinem Buch Über die Sakra­ mente: »Gott, der ja alles in sich hat, erkennt nichts außerhalb von sich.«250 Nun ist aber nichts kontingent, es sei denn, es ist außerhalb von Gott, denn in ihm gibt es kein Möglichsein. Also erkennt er selbst auf keine Weise kontingentes Zukünftiges. 11. Durch einen notwendig geltenden Mittelsatz kann nichts Kontingentes erkannt werden, denn wenn der Mittelsatz251 notwen­ 248  Vgl. Aristoteles, Met. II, 2; 993 b 30–31: »[…] so daß sich ein jegli­ ches Ding, wie hinsichtlich des Seins, so auch hinsichtlich der Wahrheit verhält« [Übers. Th. A. Szlezák]. 249  Aristoteles, Met. IV, 4; 1006 b 10. 250  Hugo von Sankt Viktor, De sacramentis I, pars 2, c.   15 (ed. R. Berndt, 67); dt. Übersetzung: P. Knauer, 2010. Thomas führt Hugo in sei­ nen Werken etwa 100-mal namentlich an. 251  Das Wort medium kommt hier sowohl im Sinne von Mittelsatz (in einem Beweis) wie auch als Medium vor; es kann aber auch das Mittlere oder das Vermittelnde heißen.

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dig ist, ist auch der Schlußsatz notwendig. Nun erkennt aber Gott alles durch das Medium, das seine Wesenheit selbst ist. Also gilt: Da dieses Medium notwendig ist, scheint es, daß er nichts Kontingentes zu erkennen vermag. Dagegen spricht: 1. Im Psalm 32 heißt es: »Er, der gebildet das Herz, er weiß um all ihre Werke.«252 Doch die Werke der Menschen sind kontingent, weil sie vom freien Willen abhängen; also erkennt Gott das zukünf­ tige Kontingente. 2.  Gott weiß alles das, dem Notwendigkeit zukommt. Nun ist aber alles Kontingente notwendig, sofern es im Bezug zur göttli­ chen Erkenntnis steht, wie Boethius im 5. Buch seines Werks Trost der Philosophie253 sagt. Also weiß Gott alles Kontingente. 3.  Augustinus sagt im 6. Buch seines Werkes Über die Dreieinig­ keit 254, daß Gott das Veränderliche auf unveränderliche Weise weiß. Nun ist aber etwas dadurch kontingent, daß es veränderlich ist, weil man ›kontingent‹ dasjenige nennt, was sein und nicht sein kann. Also weiß Gott die kontingenten Dinge auf unveränderliche Weise. 4.  Gott erkennt die Dinge insofern, als er ihre Ursache ist. Nun ist aber Gott nicht nur die Ursache des Notwendigen, sondern auch des Kontingenten. Also erkennt er sowohl das Notwendige wie auch das Kontingente. 5.  Gott erkennt die Dinge aufgrund dessen, daß in ihm ein Ur­ bild aller Dinge ist. Nun kann aber das göttliche Urbild, das sich auf kontingente und veränderliche Dinge bezieht, unveränderlich sein, wie es auch von materiellen Dingen ein immaterielles und von zu­ sammengesetzten Dingen ein einfaches Urbild gibt. Also scheint Folgendes zu gelten: Wie Gott Zusammengesetztes und Materielles erkennt, obwohl er immateriell und einfach ist, so erkennt er das Kontingente, obgleich in ihm das Kontingente keinen Ort hat.

252  Ps. 33 (32), 15: »Er, der die Herzen aller geformt, der auf all ihre Werke achtet« [Übers. R. Guardini]. 253  Boethius, Philos. consol. V, pr. 6 (CCSL 94, 103). 254  Augustinus, De trin. VI, 10, 11 (CCSL 50, 241).

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12. Artikel

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6.  Wissen ist das Erkennen der Ursache eines Dinges.255 Nun er­ kennt aber Gott die Ursache alles Kontingenten; er weiß nämlich sich selbst, der er die Ursache von allem ist. Also erkennt er das Kontingente. Antwort: Bei dieser Frage ist man auf verschiedene Weise einem Irrtum er­ legen. Manche Autoren, die über das göttliche Wissen nach der Art unseres Wissens urteilen wollten, haben nämlich behauptet, daß Gott das zukünftige Kontingente nicht erkennt. Doch dies kann nicht sein, weil er demzufolge keine Vorsehung über diejenigen menschlichen Dinge hätte, die auf kontingente Weise geschehen. Deshalb haben andere behauptet, daß er ein Wissen von allem Zukünftigen hat, jedoch alles mit Notwendigkeit geschieht, andern­ falls wäre das Wissen Gottes der Täuschung ausgesetzt. Doch auch dies kann nicht sein, weil dementsprechend der freie Wille dahin wäre und es auch nicht notwendig wäre, um Rat zu fragen; auch wäre es unter der Voraussetzung, daß alles mit Notwendigkeit ge­ schieht, ungerecht, Strafe und Lohn für Verdienste zu erteilen. Des­ halb muß man behaupten, daß Gott alles Zukünftige erkennt und es deswegen eben nicht ausgeschlossen ist, daß auch Kontingentes geschieht. Um dies einleuchtend zu machen, muß man wissen, daß es in uns gewisse zur Erkenntnis bestimmte Vermögen und Habitus gibt, in denen niemals Falschheit sein kann, wie den Sinn,256 das Wis­ 255  Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 2; 71 b 10–12: »Zu wissen nun glau­ ben wir eine jede Sache schlechthin und nicht auf die sophistische, die zufällige Weise, wann immer wir von der Ursache glauben Kenntnis zu besitzen, aufgrund derer die Sache besteht, daß sie ihre Ursache ist, und daß sie sich nicht anders verhalten kann« [Übers. W. Detel]; II, 11; 94 a 20: »Da wir nun zu wissen glauben, wann immer wir die Ursache wissen …« [Übers. W. Detel]; Met. I, 3; 983 a 25–26: »wir sagen jeweils dann, daß wir wissen, wenn wir die erste Ursache zu kennen glauben« [Übers. Th. A. Szlezák]; II, 3; 994 b 29–30: »Wir glauben dann zu wissen, wenn wir die Ursachen erkennen« [Übers. Th. A. Szlezák]; die wichtigste ›Ursache‹ ist das Wesen: Met. VII, 1; 1028 a 36–37; VII, 6; 1031 b 6–7. 256  Vgl. Aristoteles, De an. II, 6; 418 a 15: »Doch jede unterscheidet

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sen257 und den Verstand, der die Prinzipien weiß,258 andere hingegen, bei denen Falsches sein kann, wie die Vorstellung und die Meinung und die Einschätzung. Falschheit tritt in einem Auffassen dann auf, wenn es in der Sache nicht so vorliegt, wie sie aufgefaßt wird. Daher gilt: Wenn irgendeine zur Erkenntnis bestimmte Kraft von der Art ist, daß in ihr niemals Falschheit sein kann, dann ist es notwendig, daß ihr erkennbarer Gegenstand niemals hinter dem zurückbleibt, was der Erkennende von ihm auffaßt. Beim Notwendigen kann es nun aber kein Hindernis geben, daß es ist, auch nicht bevor es ge­ schieht, und zwar aufgrund dessen, daß seine Ursachen auf unver­ änderliche Weise auf seine Hervorbringung ausgerichtet sind. Daher gilt: Durch derartige Habitus, die sich immer auf Wahres beziehen, wird das Notwendige erkannt, auch dann, wenn es zukünftig ist, so wie wir beispielsweise eine zukünftige Finsternis oder einen künfti­ gen Aufgang der Sonne in wahrem Wissen erkennen. Kontingentes hingegen kann gehindert werden, bevor es ins Sein hervorgebracht wird, weil es dann nicht ist, wenn unter seinen Ursachen ein Hin­ dernis auftritt, so daß sie nicht zu ihrer Wirkung kommen. Doch nachdem ein Kontingentes bereits ins Sein hervorgebracht worden ist, kann es nicht verhindert werden, und deshalb kann es in der Ge­ genwart ein Urteil jenes Vermögens geben oder einen Habitus, bei dem sich niemals Falschheit findet, so wie beispielsweise der Sinn urteilt, daß Sokrates sitzt, wenn er sitzt. Daraus wird deutlich, daß Kontingentes als etwas Zukünftiges durch keine Erkenntnis erfaßt werden kann, der nicht eine Falschheit innewohnen könnte. Daher gilt: Da das göttliche Wissen nicht der Falschheit unterworfen ist und auch nicht unterworfen sein kann, wäre es unmöglich, daß Gott von den kontingenten zukünftigen Dingen ein Wissen hätte, wenn er sie als zukünftige erkennen würde. Etwas wird dann in der Weise, wie es zukünftig ist, erkannt, wenn sich zwischen der Erkenntnis des Erkennenden und dem Stattfinden der Sache eine Reihung vom Vergangenen zum Zukünftigen findet. (krinei) in Bezug auf die genannten und täuscht sich nicht, dass es Farbe oder dass es Schall ist« [Übers. Th. Buchheim]; Anal. post. I, 2; 72 b 1–2. 257  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  244. 258  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 6; 1141 a 7–8.

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Diese Ordnung läßt sich aber nicht zwischen dem göttlichen Erken­ nen und irgendeinem kontingenten Ding finden, vielmehr ist im­ mer die Ordnung der göttlichen Erkenntnis zur Sache, welche auch immer, die Ordnung von Gegenwärtigem zu Gegenwärtigem. Dies läßt sich folgendermaßen verstehen: Wenn jemand auf einem Wege nacheinander viele Vorbeigehende sieht, und während einer gewis­ sen Zeit, während einzelner Zeitabschnitte sähe er in gegenwärti­ ger Weise einige Vorbeigehende so, daß er während der ganzen Zeit seines Sehens alle Vorbeigehenden in der Gegenwart sähe, würde er gleichwohl nicht alle in der Gegenwart zugleich sehen, weil die Zeit seines Sehens nicht das Ganze zugleich259 ist. Wenn hingegen sein Sehen das Ganze zugleich vor sich hätte, sähe er in einer Gegenwart alles zugleich, obgleich nicht alle in der Gegenwart vorübergehen. Daher gilt: Da das Sehen des göttlichen Wissens sein Maß in der Ewigkeit hat, die das Ganze zugleich und dennoch die gesamte Zeit einschließt, und ihr kein Teil der Zeit fehlt, so folgt, daß er, was immer sich in der Zeit abspielt, nicht als Zukünftiges, sondern als Gegenwärtiges sieht. Dasjenige nämlich, was Gott sieht, ist im Ver­ hältnis zu einem anderen Ding zukünftig, dem es in der Zeit nach­ folgt, doch im Verhältnis zum göttlichen Sehen ist es nicht zukünf­ tig, sondern gegenwärtig. Daher sehen also wir das Zukünftige als Zukünftiges, weil es gegenüber unserem Sehen zukünftig ist, da der Zeitraum unseres Sehens einem Maß unterliegt, doch im Verhält­ nis zum göttlichen Sehen, das außerhalb der Zeit liegt, ist es nicht zukünftig, wie auch auf andere Weise derjenige, der nacheinander Vorbeigehende sähe, nur die sieht, die vor ihm sind, und auf andere Weise derjenige, der sich außerhalb der Ordnung der Vorbeigehen­ den befindet, alle Vorbeigehenden zugleich im Blick hätte. So wie unser Sehen niemals der Täuschung unterliegt, wenn es Kontingentes sieht, da dies gegenwärtig ist, und gleichwohl dadurch nicht aufgehoben ist, daß jenes auf kontingente Weise geschieht, so sieht Gott auf unfehlbare Weise alles Kontingente, ungeachtet des­ sen, daß es für uns gegenwärtig oder vergangen oder zukünftig ist, 259   Thomas spielt wiederum auf die boethianische Definition der Ewigkeit an, die er auch sonst häufig anführt: Philos. consol. V, pr. 6 (CCSL 94, 101). Das Beispiel stammt ebenfalls von Boethius.

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weil es für ihn nicht zukünftig ist, so daß er sie dann als seiend er­ faßt, wenn sie sind; daher wird dadurch nicht aufgehoben, daß es auf kontingente Weise geschieht. Eine Schwierigkeit ergibt sich freilich daraus, daß wir das göttli­ che Erkennen nur auf Grund der Weise unseres Erkennens bezeich­ nen können, indem wir die Unterschiede der Zeiten mitbezeichnen. Wenn nämlich bezeichnet wird, wie das Wissen Gottes ist, müßte eher gesagt werden, daß Gott weiß, daß dies ist, als daß er weiß, daß dies zukünftig sein wird, weil für ihn nichts zukünftig ist, sondern immer gegenwärtig. Daher gilt auch, wie Boethius im 5. Buch seines Werks Trost der Philosophie260 sagt, daß seine Erkenntnis von Zu­ künftigem »angemessener ›Vorsehung‹ als ›Vorhersehung‹ genannt würde, weil das gleichsam weit in den Spiegeln der Ewigkeit gese­ hen wird«, obgleich man auch ›Vorhersehung‹ sagen kann wegen der Ordnung dessen, von dem er ein Wissen hat, im Verhältnis zu anderem, mit Bezug worauf es zukünftig ist. Zu 1.  Auch wenn das Kontingente nicht bestimmt ist, sofern es zukünftig ist, so hat es doch dadurch, daß es in die Wirklichkeit her­ vorgebracht wird, eine bestimmte Wahrheit. In dieser Weise bezieht sich der Blick des göttlichen Erkennens darauf. Zu 2.  Das Kontingente bezieht sich, wie schon gesagt, insofern auf die göttliche Erkenntnis, als es in der Wirklichkeit gesetzt ist; aufgrund dessen, daß es ist, kann es dann nicht nicht sein, wenn es ist, denn »was ist, ist notwendig, wenn es ist,« wie es im 1. Buch seiner Schrift Über den Satz261 heißt. Gleichwohl folgt daraus nicht, daß es schlechthin notwendig ist, und auch nicht, daß das Wissen Gottes der Täuschung unterliegt, wie ja auch mein Sehen nicht der 260  Boethius, Philos. consol. V, pr. 6 (CCSL 94, 102): »Wenn du also seine Voraussicht, mit der er alles erkennt, richtig einschätzen willst, so wirst du sie nicht als Vorherwissen einer etwaigen Zukunft, sondern viel richtiger als Wissen von einer niemals entschwindenden Gegenwart auf­ fassen. Daher wird es nicht ›Vorhersehen‹, sondern lieber ›Vorsehung‹ ge­ nannt, weil sie sich fern von den niederen Dingen aufhält und gewisserma­ ßen vom erhabenen Gipfel herunter alles vor sich sieht« [Übers. O. Gigon]. 261  Aristoteles, Peri herm., c.  19; 19 a 23.

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Täuschung unterliegt, wenn ich sehe, daß Sokrates sitzt, obgleich dies kontingent ist. Zu 3.  Vom Kontingenten sagt man insofern, daß es notwendig ist, als es von Gott gewußt wird, weil Gott es aufgrund dessen weiß, daß es schon gegenwärtig ist. Es ergibt sich jedoch, sofern es zu­ künftig ist, keine Notwendigkeit, so daß man sagen könnte, daß es mit Notwendigkeit geschieht. Das Geschehen bezieht sich nur auf das, was zukünftig ist, weil das, was schon ist, nicht weiterhin ein­ treten kann; gleichwohl ist es wahr, daß jenes eingetreten ist, und dies ist notwendig. Zu 4.  Wenn man sagt: »Alles, was Gott weiß, ist notwendig«, so ist dies doppeldeutig, weil es sich auf die Aussage oder auf das wirk­ liche Ding beziehen kann. Wenn es von der Aussage gilt, dann ist es zusammengesetzt262 und wahr, und der Sinn ist folgender: Die Aussage: »Alles, was Gott weiß, ist«, ist notwendig, weil es nicht der Fall sein kann, daß Gott von etwas weiß, daß es ist, dies aber nicht ist. Wenn es hingegen vom wirklichen Ding gilt, dann ist es geteilt und falsch, und der Sinn ist dieser: »Das, was Gott weiß, ist notwen­ dig«; die Dinge nämlich, die Gott weiß, geschehen, wie es aus dem Dargelegten hervorgeht, nicht deswegen mit Notwendigkeit. Wenn man dagegen den Einwand erhebt,263 diese Unterscheidung habe nur dort ihren berechtigten Ort, wo Formen in einem Träger aufeinan­ derfolgen, wie beispielsweise Weißsein und Schwarzsein, es kann 262  Zur Unterscheidung von sensus compositus und sensus divisus: Thomas v. Aquin, Sum. theol. I, q.  23, a.  6, ad 3: Unde non oportet dicere quod Deus possit non praedestinare quem praedestinavit, in sensu com­ posito accipiendo; licet absolute considerando, Deus possit praedestinare vel non praedestinare (»Daher muß man nicht mit Notwendigkeit sagen, daß Gott den Menschen, den er zum ewigen Leben bestimmt hat, auch nicht dazu bestimmen könnte – im zusammengesetzten Sinne verstan­ den, obgleich für sich genommen Gott zum ewigen Leben bestimmen und nicht bestimmen könnte« [R. S.]); vgl. N. Kretzmann: Sensus compositus, sensus divisus, and propositional attitudes, in: Medioevo 7 (1981), 195–229; S. Ebbesen, Sophisma, Sophismata, in: HWPh IX, 1995, 1069–1075; hier col. 1072. 263  Die Editio Leonina verweist auf Wilhelm von Auvergne, De uni­ verso I, 3, 15 (Opera omnia, Paris 1674, 778).

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aber nicht sein, daß etwas von Gott gewußt wird und danach nicht gewußt wird, demzufolge sei die genannte Unterscheidung dort fehl am Platz, muß man sagen: Obwohl das Wissen Gottes unveränder­ lich ist und immer in derselben Weise besteht, verhält sich die Zeit­ bestimmung, aufgrund derer sich ein Ding auf Gott bezieht, nicht immer auf dieselbe Weise zu ihm. Es bezieht sich nämlich ein Ding auf die Erkenntnis Gottes, sofern es in seiner Gegenwärtigkeit ist; die Gegenwärtigkeit kommt dem Ding aber nicht immer zu. Daher kann das Ding mit dieser Bestimmung oder ohne diese Bestimmung verstanden werden, und demzufolge kann es in der Weise erfaßt werden, daß es sich auf die Erkenntnis Gottes bezieht, oder auf die andere Weise, und in diesem Sinne verfährt die genannte Unter­ scheidung. Zu 5.  Wenn sich die genannte Aussage auf die Sache bezieht, trifft es zu, daß man mit Bezug auf sie die Notwendigkeit behauptet, daß Gott davon ein Wissen hat; doch wenn sie sich auf die Aussage be­ zieht, wird keine Notwendigkeit für die Sache behauptet, vielmehr mit Bezug auf die Beziehung des Wissens zum Gewußten. Zu 6.  So wie sich unser Wissen nicht auf kontingentes Zukünfti­ ges beziehen kann, so auch nicht das Wissen Gottes, und daher um so weniger, wenn er dieses als Zukünftiges erkennen würde. Er er­ kennt dies aber nun als etwas ihm Gegenwärtiges, im Verhältnis zu anderem aber als Zukünftiges, und deshalb ist das Argument nicht stichhaltig. Zu 7.  Dazu gibt es verschiedene Auffassungen. Manche Auto­ ren264 sagen, daß dieser Vordersatz kontingent ist: »Dies ist etwas, was Gott weiß«, und zwar deswegen, weil es, obwohl es vergangen ist, doch einen Bezug auf das Zukünftige enthält, und deshalb ist es nicht notwendig; beispielsweise, wenn man sagt: »Dies war zukünf­ tig«. Dieses Vergangene ist nicht notwendig, weil dasjenige, was zu­ künftig gewesen ist, nicht zukünftig sein kann, wie es im 2. Buch der Schrift Über das Entstehen und Vergehen heißt: »Jemand, der sich anschickt zu gehen, könnte nicht gehen.«265 Doch dies 264  Die Editio Leonina verweist auf: Summa fratris Alexandri I, n. 187 (I, 275); Albertus Magnus, Sent. I, d. 38, a.  4, ad 3 (ed. Borgnet XXVI, 290 b). 265  Aristoteles, De gen. et corr. II, 11; 337 b 7 [Übers. Th. Buchheim].

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besagt nichts, denn wenn man sagt: »Dies ist zukünftig«, oder: »Das war zukünftig«, wird die Ordnung bezeichnet, die in den Ursachen jenes Dinges zum Zweck seiner Hervorbringung besteht. Obwohl freilich die Ursachen, die auf eine Wirkung ausgerichtet sind, gehin­ dert werden können, so daß die Wirkung aus ihnen sich nicht ergibt, so kann doch nicht verhindert werden, daß sie irgendwann darauf ausgerichtet waren. Daher gilt: Auch wenn das Zukünftige nicht zu­ künftig ist, so kann es doch niemals nicht zukünftig gewesen sein. Daher haben andere Autoren266 behauptet, daß dieser Vordersatz kontingent ist, und zwar aus dem Grund, daß es aus einem Notwen­ digen und einem Kontingenten zusammengesetzt ist: Das Wissen Gottes ist nämlich notwendig, doch das von ihm Gewußte ist kon­ tingent, wobei beides in dem genannten Vordersatz eingeschlossen ist; beispielsweise ist der Satz: »Sokrates ist ein weißer Mensch«, kontingent oder: »Sokrates ist ein Lebewesen und läuft«. Doch auch dies besagt wiederum nichts, weil die Wahrheit der Aussage sich nicht von notwendig zu kontingent dadurch verändert, daß es in­ haltlich in der Aussage gesetzt wird, sondern durch die grundle­ gende Zusammensetzung, in der die Wahrheit der Aussage ihren Grund hat. Daher liegt derselbe Charakter der Notwendigkeit und der Kontingenz in diesen beiden Sätzen: »Ich denke, der Mensch ist ein Lebewesen« und »Ich denke, daß Sokrates läuft«. Deshalb gilt: Wenn die grundlegende Wirklichkeit, die in diesem Vordersatz: »Gott weiß, daß Sokrates läuft«, bezeichnet wird, notwendig ist, wie kontingent auch immer dasjenige, was inhaltlich gesetzt wird, ist, verhindert dies deswegen nicht, daß der genannte Vordersatz not­ wendig ist. Deshalb haben wieder andere Autoren267 rundweg eingeräumt, daß es notwendig sei, doch haben sie behauptet, daß aus einem ab­ solut notwendigen Vordersatz nicht mit Notwendigkeit ein absolut Notwendiges folgt, es sei denn, der Vordersatz ist der unmittelbare 266  Die Editio Leonina verweist auf: Bonaventura, Sent. I, d. 38, a.  2, q.  2 (Opera omnia I, 671–673). 267  Die Editio Leonina vermag keine Quelle anzugeben, verweist aller­ dings darauf, daß Thomas diese Lehrmeinung in einem späteren Werk nochmals anführt: Sum. theol. I, q.  14, a.  13, ad 2.

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Grund des Folgesatzes. Wenn es nämlich ein mittelbarer Grund wäre, könnte die Notwendigkeit der Wirkung durch die Kontingenz einer unmittelbaren Ursache verhindert werden; ein Beispiel: Ob­ wohl die Sonne eine notwendige Ursache ist, ist dennoch das Blühen des Baumes, welches ihre Wirkung ist, kontingent, weil die unmit­ telbare Ursache veränderlich ist, nämlich die Kraft zum Austreiben der Pflanze. Doch scheint diese Erklärung ebenfalls nicht hinrei­ chend, weil dies nicht wegen der Wesensnatur der Ursache und des Verursachten der Fall ist, sondern vielmehr wegen der Relation des Folgesatzes zum Vordersatz, weil das Gegenteil der Folgewirkung in keiner Weise zusammen mit dem Vordersatz bestehen kann, was aber eintreten würde, wenn aus dem Vordersatz notwendig ein kon­ tingenter Folgesatz folgen würde. Daher ist dies, daß dies geschieht, notwendig in jeglichem Bedingungsverhältnis, wenn es wahr ist, ungeachtet dessen, ob der Vordersatz eine Wirkung, eine unmittel­ bare oder eine mittelbare Ursache ist, und wenn dies nicht in einem Bedingungsverhältnis gesetzt wäre, wäre es in keiner Hinsicht wahr, daher ist auch das folgende Bedingungsverhältnis falsch: »Wenn die Sonne sich bewegt, wird der Baum blühen.« Deshalb muß man eine andere Behauptung aufstellen: Dieser Vordersatz ist schlechthin wahr und der Folgesatz ist deswegen ab­ solut notwendig, weil er aus dem Vordersatz folgt. Anders verhält es sich nämlich bei dem, das einem Ding an ihm selbst zugeschrieben wird, und anders bei dem, was ihnen unter dem Aspekt zugeschrie­ ben wird, daß es erkannt ist. Dasjenige, was ihm an ihm selbst zuge­ schrieben wird, kommt ihm entsprechend seiner Weise zu, hingegen dasjenige, was ihm als erkanntem zugeschrieben wird, oder durch das, was sich aus ihm ergibt, hat ein Sein entsprechend der Weise des Erkennenden. Daher gilt: Wenn im Vordersatz etwas bezeichnet wird, was zur Erkenntnis gehört, ist es notwendig, daß der Folgesatz entsprechend der Weise des Erkennenden aufgefaßt wird und nicht entsprechend der Weise der erkannten Sache. Wenn ich beispiels­ weise sage: »Wenn ich etwas erkenne, ist es immateriell«, dann ist es nicht notwendig, daß das, was erkannt wird, immateriell sei, es sei denn, sofern es im Verstand ist. Ähnliches gilt, wenn ich sage: »Wenn Gott etwas weiß, wird dies sein«, dann ist der Folgesatz nicht entsprechend der Bestimmung des Dinges in sich selbst zu verstehen,

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sondern entsprechend der Weise des Erkennenden. Obwohl nun aber das Ding in sich selbst zukünftig ist, ist es dennoch entsprechend der Weise des Erkennenden gegenwärtig. Deshalb müßte man eher sagen: »Wenn Gott etwas weiß, dann ist dies«, als dies: »dann wird dies sein.« Daher ist die Aussage: »Wenn Gott etwas weiß, dann wird es sein«, dieselbe wie die: »Wenn ich sehe, daß Sokrates läuft, dann läuft Sokrates«; beides ist notwendig, wenn es ist. Zu 8.  Obwohl das Kontingente, solange es zukünftig ist, kein Sein hat, hat es gleichwohl dadurch, daß es gegenwärtig ist, Sein und Wahrheit, und demzufolge unterliegt es dem göttlichen Sehen, obwohl Gott auch die Ordnung des einen zum anderen erkennt und daher erkennt, daß das eine im Verhältnis zum anderen zukünftig ist. Doch in diesem Sinn ist es nicht sinnwidrig, daß gesetzt wird, daß Gott etwas als Zukünftiges weiß, was nicht der Fall sein wird, insofern er nämlich bestimmte Ursachen kennt, die zu einer Wir­ kung geneigt sind, die aber nicht hervorgebracht wird. In diesem Sinne sprechen wir jetzt nicht über die Erkenntnis des Zukünftigen, wie es von Gott in seinen Ursachen gesehen wird, sondern wie es in ihm selbst erkannt wird. In diesem Sinne erkennt er es als Gegen­ wärtiges. Zu 9.  Bezogen darauf, daß Gott es weiß, ist es gegenwärtig, und demzufolge ist es auf nur eine Möglichkeit hin bestimmt, wie sehr auch das Zukünftige zu beiden Möglichkeiten offensteht. Zu 10.  Gott erkennt nichts außerhalb seiner, wenn der Ausdruck ›außerhalb‹ sich auf das bezieht, wodurch er erkennt, er erkennt hin­ gegen etwas außerhalb seiner, wenn sich der Ausdruck auf das be­ zieht, was er erkennt; darüber ist oben268 gesprochen worden. Zu 11.  Das Medium der Erkenntnis ist ein doppeltes: das eine, welches der Mittelbegriff des Beweises ist und der Schlußfolgerung entsprechend sein muß, so daß gilt: Wenn jenes gesetzt wird, wird die Schlußfolgerung gesetzt; ein derartiges Medium der Erkenntnis ist Gott mit Bezug auf das Kontingente nicht. Das andere Medium der Erkenntnis ist dasjenige, was das Bild der erkannten Sache ist, und ein derartiges Medium ist das göttliche Wesen, nicht freilich

268  Vgl. De ver., q.  2, a.  3, ad 10 (S. 120).

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nur irgendeinem Ding angemessen, auch wenn es, wie oben269 ge­ sagt, das jeweils Eigentümliche der Einzeldinge ist.

13. Artik el Die dreizehnte Frage lautet: Ist das Wissen Gottes veränderlich?270 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Wissen ist die Angleichung des Wissenden an die gewußte Sa­ che.271 Nun ist aber das Wissen Gottes vollkommen. Also ist es voll­ kommen angeglichen an die gewußten Dinge. Allerdings ist das von Gott Gewußte veränderlich. Also ist sein Wissen veränderlich. 2.  Jedes Wissen, das der Täuschung unterliegen kann, ist verän­ derlich. Nun kann aber das Wissen Gottes einer Täuschung unterlie­ gen; es bezieht sich nämlich auf in kontingenter Weise Seiendes, was auch nicht sein kann, und demzufolge wird, wenn dieses tatsächlich nicht ist, das Wissen Gottes getäuscht. Also ist es veränderlich. 3.  Unser Wissen, das durch die Aufnahme von den Dingen zu­ stande kommt, ist durch die Art des Wissenden bestimmt. Also ist das Wissen Gottes, das ja umgekehrt darin besteht, daß es etwas den Dingen zuteilt, durch die Art des gewußten Dinges bestimmt. Nun ist das von Gott Gewußte veränderlich. Also ist sein Wissen veränderlich. 4.  Wenn das eine Relatum aufgehoben wird, dann auch sein Kor­ relat.272 Also gilt auch: Wenn das eine Relatum verändert wird, wird auch das andere verändert. Nun ist das von Gott Gewußte veränder­ lich, also ist sein Wissen ebenfalls veränderlich. 5.  Jedes Wissen, das wachsen oder abnehmen kann, kann sich ver­ ändern. Nun kann aber das Wissen Gottes wachsen und abnehmen. Beweis des Mittelsatzes: Das Wissen jedes Wissenden, der manch­ 269  Vgl. De ver., q.  2, a.  4, ad 2 (S. 122). 270  Paralleltexte: Sent. I, d. 39, q.  1, a.  1–2; d. 41, a.  5, ad 1; Sum. theol. I,

q.  14, a.  15; De ver., q.  2, a.  5 (ed. Leon. XXII, 59–65; S. 132 ff.). 271  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 10–11; vgl. De ver., q.  2, Anm.  32. 272  Vgl. Aristoteles, Cat., c.  7; 7 b 15. 19–20.

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13. Artikel

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mal mehr, manchmal weniger weiß, verändert sich. Nun kann aber Gott mehr wissen, als er weiß; er weiß nämlich von einigem, daß es ist oder gewesen ist oder sein wird, was erst noch hervorzubringen ist, er könnte aber mehr hervorbringen, was niemals zukünftig her­ vorgebracht sein wird, und demzufolge könnte er mehr wissen, als er weiß. Aus demselben Grund kann er weniger wissen, als er weiß, weil er das unterlassen kann, was er hervorbringen wird. Also kann sein Wissen wachsen oder abnehmen. 6.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Auch wenn dem gött­ lichen Wissen mehr oder auch weniger unterliegen könnte, so wird doch nicht sein Wissen selbst verändert. – Doch dem steht wiederum entgegen: So wie das Mögliche dem göttlichen Vermögen untersteht, so das Wißbare dem göttlichen Wissen. Nun gilt aber: Wenn Gott hätte mehr hervorbringen können, als er gekonnt hätte, würde sein Vermögen vergrößert, es würde vermindert, wenn es sich auf weni­ ger bezöge. Also gilt aus demselben Grund: Wenn er mehr wüßte, als er zuvor gewußt hat, würde sein Wissen erweitert worden sein. 7. Gott wußte, daß Christus geboren werden wird, jetzt aber weiß er nicht, daß Christus geboren werden wird, sondern daß er schon geboren worden ist. Also weiß Gott etwas, was er früher nicht wußte, und wußte etwas, was er jetzt nicht mehr weiß, und demzu­ folge verändert sich sein Wissen. 8.  Wie für das Wissen das Wißbare erforderlich ist, so ist dafür auch die Art des Wissens erforderlich. Doch wenn sich die Art der Erkenntnis veränderte, in der Gott etwas weiß, wäre sein Wissen veränderlich. Also gilt aus demselben Grund: Da das, was Gott weiß, sich verändert, ist sein Wissen veränderlich. 9.  Man sagt, in Gott gebe es ein Wissen der Billigung, demge­ mäß er nur die Guten erkennt.273 Nun kann aber Gott auch denen zustimmen, denen er nicht zugestimmt hat. Also kann er wissen, was er zuvor nicht gewußt hat. Demzufolge scheint es, daß sein Wissen veränderlich ist. 10.  Wie das Wissen Gottes Gott selbst ist, so ist auch das Vermö­ gen Gottes Gott selbst. Nun sagen wir aber vom Vermögen Gottes, daß es die Dinge in ein Sein, das der Veränderung unterliegt, her­ 273  Petrus Lombardus, Sent. I, d. 36, c.  2, 4 (ed. Coll. S. Bon. I, 261).

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vorbringt. Aus demselben Grund werden vom Wissen Gottes die Dinge auf veränderliche Weise gewußt ohne irgendeine Einschrän­ kung der göttlichen Vollkommenheit. 11.  Jedes Wissen, das von einem zu einem anderen übergeht, ist veränderlich. Nun ist das Wissen Gottes aber von die­ ser Art, weil er durch sein Wesen die Dinge erkennt. Also ist es veränderlich. Dagegen spricht: 1. Im Jakobusbrief, Kap. 1, heißt es : »Bei dem es keine Veränderung gibt«274 usw. 2. Alles Bewegte hat in einem ersten Unbewegbaren seinen Grund. Nun ist aber das göttliche Wissen die erste Ursache von al­ lem Veränderlichen, wie es die Kunst für die Kunstgebilde ist. Also ist das Wissen Gottes unveränderlich. 3.  ›Bewegung‹ ist die Tätigkeit eines unvollendet Seienden, wie es im 3. Buch der Schrift Über die Seele275 heißt. Nun liegt aber im göttlichen Wissen keinerlei Unvollkommenheit. Also ist es unver­ änderlich. Antwort: Da das Wissen in der Mitte zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten steht, kann bei ihm Veränderung in einem zweifachen Sinne auftreten: auf seiten des Erkennenden oder auf seiten des Er­ kannten. Auf seiten des Erkennenden müssen wir dreierlei im Wis­ sen ins Auge fassen, nämlich das Wissen selbst, seinen wirklichen Vollzug und seine Art, und entsprechend diesen drei Momenten kann auf seiten des Wissenden eine Veränderung auftreten. Es kann in ihm auf seiten des Wissens eine Veränderung auftre­ ten, wenn ein Wissen von etwas neu erworben wird, das zuvor nicht 274  Jak. 1, 17. 275  Aristoteles, De an. III, 7; 431 a 6: »Bewegung ist die tätige Wirk­

lichkeit des Unvollendeten« [Übers. Th. Buchheim]; von diesem sehr weit gefassten Begriff der Bewegung (motus) ist zu unterscheiden der Begriff der Tätigkeit (operatio), die auf kein erst hervorzubringendes Werk zielt, sondern ihre Vollendung schon in sich enthält: vgl. De ver., q.  4, Anm.  32.

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13. Artikel

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da war, oder wenn das Wissen von etwas verlorengeht, was man zu­ vor gewußt hat. In diesem Sinne findet sich Entstehung und Verlust oder Vermehrung und Verminderung des Wissens. Eine derartige Veränderung kann im göttlichen Wissen nicht auftreten, weil das göttliche Wissen, wie oben276 gezeigt, sich nicht nur auf das Seiende, sondern auch auf das Nichtseiende bezieht, es kann aber nichts ne­ ben dem Seienden und dem Nichtseienden geben, weil es zwischen Bejahung und Verneinung kein Mittleres gibt.277 Obwohl nun aber entsprechend einer bestimmten Weise das Wissen Gottes sich nur auf das in der Gegenwart, in der Vergangenheit oder in der Zu­ kunft Seiende bezieht, nämlich sofern das Wissen sich auf das Werk bezieht, das der Wille erschafft, Wenn er dennoch durch diese Art des Wissens etwas weiß, was er früher nicht gewußt hat, ergibt sich daraus in seinem Wissen keine Veränderung, weil sein Wissen, was ihn selbst angeht, sich auf das Seiende wie auf das Nichtseiende bezieht. Doch wenn es aus diesem Grunde eine Verän­ derung in Gott gäbe, dann wäre diese auf seiten des Willens, der das Wissen zu etwas bestimmt, zu dem er es früher nicht bestimmt hat. Doch kann in seinem Willen auch dadurch keine Veränderung eintreten, daß er seinen Willensakt frei hervorbringt. Es gehört zum Begriff des Willens, daß er sich gleichermaßen auf beide Seiten ei­ nes Gegensatzes wenden kann, so daß er nämlich will oder nicht will, etwas zu erschaffen oder nicht zu erschaffen, allerdings kann es nicht sein, daß er etwas zugleich will und nicht will. Auch im göttlichen Willen, der unveränderlich ist, kann es nicht geschehen, daß er früher etwas gewollt hat und später eben dies nicht will, be­ zogen auf denselben Zeitpunkt, weil dann sein Wille zeitlich wäre und nicht das Ganze zugleich.278 Daher gilt: Wenn wir von ›absoluter Notwendigkeit‹279 sprechen, ist es nicht notwendig, daß er dies will, 276  Vgl. De ver., q.  2, a.  8 (S. 156 ff.). 277  Aristoteles, Met. IV, 7; 1011 b 23–24; 1012 a 2–4. 278   Thomas spielt wiederum auf die boethianische Definition der

Ewigkeit an, die er auch sonst häufig anführt: Philos. consol. V, pr. 6 (CCSL 94, 101). 279  Zur Unterscheidung von absoluter und bedingter Notwendigkeit vgl. Aristoteles, Met. V, 6; 1015 b 11–14.

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was er will, also ist es absolut gesprochen möglich, daß er es nicht will. Doch wenn wir von ›bedingter Notwendigkeit‹ sprechen, so ist es notwendig, daß er will, wenn er will, oder daß er gewollt hat, und demzufolge ist es unter der angegebenen Voraussetzung möglich, daß er will, nämlich wenn er will oder wenn er gewollt hat. Eine Veränderung erfordert nun aber zwei Grenzpunkte, immer bezieht sich der letzte in der Ordnung auf den ersten, daher würde das nur folgen, daß sein Wille veränderlich wäre, wenn es möglich wäre, das, was er will, nicht zu wollen, wenn er es früher gewollt hat. Daraus wird ersichtlich, daß daraus, daß Gott in dieser Art des Wissens ein größeres oder geringeres Wissen haben kann, keine Veränderung in seinem Wissen oder seinem Willen gesetzt wird. Dies hieße näm­ lich, daß er mehr wissen kann, und sein Wissen durch den Willen, mehr Dinge zu erschaffen, zu bestimmen. Was nun aber den wirklichen Vollzug des Wissens angeht, tritt in dreifacher Weise eine Veränderung im Wissen auf: einmal da­ durch, daß jemand wirklich etwas betrachtet, was er zuvor nicht betrachtet hat, so wie wir beispielsweise sagen, derjenige verändere sich, der vom Habitus in die wirkliche Tätigkeit übergeht; diese Art von Veränderung kann im Wissen Gottes nicht sein, weil er Wissen nicht im Sinne eines Habitus hat, sondern nur in wirklicher Tätig­ keit, weil es in ihm keinerlei Möglich­ sein gibt, welches aber in einem Habitus liegt. Auf andere Weise tritt im Vollzug des Wissens dadurch eine Veränderung auf, daß jemand zeitweise das eine betrachtet und zeitweise etwas anderes. Doch dies kann ebenfalls nicht der göttlichen Erkenntnis zukom­ men, weil Gott durch das eine Erkenntnisbild seines Wesens alles sieht und deshalb alles zugleich in seiner Anschauung. In einer drit­ ten Weise dadurch, daß jemand in der Betrachtung sich gedanklich vom einen zum anderen bewegt, was ebenfalls in Gott nicht auftre­ ten kann, weil dort die Denkbewegung im Wissen deswegen, weil er zwei sieht, nicht auftritt, wenn er diese zwei in einem Blick sieht, was im göttlichen Wissen dadurch der Fall ist, daß er alles durch ein Erkenntnisbild sieht. Im Hinblick auf die Art des Erkennens tritt im Wissen Verän­ derung nun aber dadurch auf, daß zum jetzigen Zeitpunkt etwas klarer und vollkommener erkannt wird als zu einem früheren. Dies

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kann aus zwei Gründen passieren: einmal durch die Verschiedenheit des Erkenntnismediums, durch das die Erkenntnis erfolgt, wie dies etwa bei jemandem auftritt, der früher etwas durch ein Erkenntnis­ medium von Wahrscheinlichkeit gewußt hat, und danach dasselbe durch ein Erkenntnismedium von Notwendigkeit, was ebenfalls bei Gott nicht der Fall sein kann, weil sein Wesen, welches selbst sein Medium der Erkenntnis ist, unveränderlich ist. Auf andere Weise durch die Verstandeskraft, aufgrund derer ein Mensch von vorzüg­ licherem Geist selbst durch dasselbe Medium etwas genauer erkennt, was bei Gott ebenfalls nicht der Fall sein kann, weil die Kraft, durch die er erkennt, sein Wesen ist, das unveränderlich ist. Daher ergibt sich, daß das Wissen Gottes im Hinblick auf den Erkennenden gänz­ lich unveränderlich ist. Im Hinblick auf die erkannte Sache wird das Wissen nun aber entsprechend von Wahrheit und Falschheit verändert, weil durch dieselbe verbleibende Beurteilung, wenn sich die Sache verändert, die Beurteilung falsch wird, die zuvor wahr gewesen war. Dies kann ebenfalls bei Gott nicht der Fall sein, weil der Blick der göttlichen Erkenntnis sich auf etwas bezieht, sofern es in seiner Gegenwärtig­ keit präsent ist, wodurch es bereits zu Einem bestimmt ist. Darüber hinaus kann es mit Bezug darauf nicht verändert werden: Wenn nämlich das Ding selbst eine andere Bestimmung annimmt, würde jene auf dieselbe Weise dem göttlichen Sehen unterworfen sein. Demzufolge ist das Wissen Gottes in keiner Weise veränderlich. Zu 1.  Die Angleichung des Wissens an das Gewußte beruht nicht auf der Gleichartigkeit von beider Wesensnatur, sondern auf derje­ nigen der Darstellung.280 Daher ist es nicht notwendig, daß es von veränderlichen Dingen nur ein veränderliches Wissen gibt. Zu 2.  Obgleich das von Gott Gewußte für sich genommen an­ ders sein könnte, liegt es doch in der Weise der göttlichen Erkennt­

280  Der Begriff der Gleichartigkeit enthält ja keinen inneren Bezug der gleichartigen Dinge aufeinander. Die Abbildung jedoch verweist auf das, was sie abbildet, besser gesagt, was sie zur Darstellung bringt; vgl. De ver., q.  2, Anm.  147.

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nis, daß es sich nicht, wie aus dem Dargelegten hervorgeht, anders verhalten kann. Zu 3.  Jedes Wissen beruht unabhängig davon, ob es durch Auf­ nahme von den Dingen oder durch Einprägung in die Dinge zu­ stande kommt, auf dem Modus des Wissenden, weil beides darin begründet liegt, daß das Bild der erkannten Sache im Erkennenden ist. Was nun aber in etwas ist, ist darin in der Weise dessen, in dem es ist.281 Zu 4.  Dasjenige, worauf sich das göttliche Wissen bezieht, ist auf­ grund dessen, daß es dem göttlichen Wissen unterliegt, unveränder­ lich, daher ist auch das Wissen unveränderlich im Hinblick auf die Wahrheit, die sich durch die Veränderlichkeit der genannten Rela­ tion verändern kann. Zu 5.  Wenn man sagt, Gott könne das wissen, was er nicht weiß, wobei man auch von ›Wissen‹ im Sinne von Sehen spricht, dann kann man dies in doppeltem Sinne verstehen: einmal im zusam­ mengesetzten Sinne, nämlich mit der Voraussetzung, daß er das nicht wisse, von dem man sagt, daß er es wissen kann; und in die­ sem Sinne ist es falsch. Es kann nämlich nicht beides zugleich sein, nämlich daß Gott etwas nicht gewußt habe und es später dann doch weiß. in einem anderen, geteilten Sinne: In diesem Sinne schließt es keine Voraussetzung oder Bedingung für sein Wissenkönnen ein, daher ist es in diesem Sinne wahr, wie aus dem Gesagten hervorgeht. Obgleich dies aber in einem bestimmten Sinne eingeräumt wird, daß Gott etwas wissen kann, was er frü­ her nicht gewußt hat, wird man dennoch in keinem Sinne einräu­ men, Gott könne mehr wissen, als er weiß, und zwar aus folgendem Grund: Da durch das, was man mit dem Ausdruck ›mehr‹ meint, eine Beziehung zu dem vorher Bestehenden eingeschlossen ist, wird es immer im zusammengesetzten Sinne verstanden. Aus demselben Grund ist in keiner Weise zuzugestehen, daß das Wissen Gottes ver­ mehrt oder vermindert werden kann. Zu 6.  Den sechsten Einwand räumen wir ein.

281  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  91.

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13. Artikel

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Zu 7.  Gott weiß die Aussagen nicht durch Zusprechen oder Ab­ sprechen, wie früher282 gesagt worden ist. Deshalb erkennt er die verschiedenen Dinge, wann sie sind und wann sie nicht sind, auf dieselbe Weise, so erkennt er die verschiedenen Aussagen, unge­ achtet ob sie wahr oder ob sie falsch sind, auf dieselbe Weise, da er von jedem erkennt, daß es wahr ist zu der Zeit, wann es wahr ist. Er weiß nämlich, daß die Aussage: »Sokrates läuft«, wahr ist, wann sie wahr ist, und ähnlich bei der Aussage: »Sokrates wird laufen«, und entsprechend bei den anderen. Deshalb gilt: Obwohl es jetzt nicht wahr ist, daß Sokrates läuft, sondern daß er gelaufen ist, weiß Gott doch beides, weil er beides zugleich zu beiden Zeiten, in denen die Aussage wahr ist, sieht. Wenn er aber die Aussage dadurch wüßte, daß er darüber eine Aussage in sich bilden würde, dann würde er eine Aussage nur dann wissen, wenn sie wahr ist, wie dies auch bei uns der Fall ist, und demzufolge würde sich sein Wissen verändern. Zu 8.  Im Wissenden selbst ist der Modus des Wissens, im Wis­ senden ist jedoch nicht die gewußte Sache selbst in ihrer Wesens­ natur. Daher würde die Verschiedenheit des Modus des Wissens ein veränderliches Wissen bewirken, nicht aber die Veränderung der ge­ wußten Dinge. Zu 9.  Darauf wird die Antwort aus dem Dargelegten deutlich. Zu 10. Die wirkliche Tätigkeit des Vermögens hat ihren End­ punkt außerhalb des Wirkenden in einem Ding in seiner eigenen Wesensnatur, indem ein Ding ein veränderliches Sein hat. Deshalb wird im Hinblick auf die hervorgebrachte Sache eingeräumt, daß das Ding in ein veränderliches Sein hervorgebracht wird. Das Wissen bezieht sich hingegen auf die Dinge, sofern sie in irgendeiner Weise im Erkennenden sind. Daher gilt: Wenn der Erkennende unverän­ derlich ist, erkennt er die Dinge auf unveränderliche Weise. Zu 11.  Auch wenn Gott durch sein Wesen das von ihm Unter­ schiedene erkennt, gibt es dabei keinen Übergang, weil er durch den­ selben Blick sein Wesen und das andere sieht.

282  Vgl. De ver., q.  2, a.  7 (S. 153).

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14. Artik el Die vierzehnte Frage lautet: Ist das Wissen Gottes die Ursache der Dinge?283 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Origenes284 sagt nämlich in seinem Kommentar zum Römer­ brief: »Etwas wird nicht deswegen sein, weil Gott es als etwas Zu­ künftiges weiß, sondern weil es zukünftig sein wird, deshalb wird es von Gott, bevor es geschieht, gewußt.« Also scheint eher zu gelten, daß die Dinge die Ursache des Wissens Gottes sind, als umgekehrt. 2.  Ist die Ursache gesetzt, ist auch die Wirkung gesetzt.285 Nun besteht aber das Wissen Gottes von Ewigkeit her. Wenn also dieses die Ursache der Dinge ist, dann scheint es, daß die Dinge von Ewig­ keit her gewesen sind. Das aber ist häretisch.286 3.  Aus einer notwendigen Ursache folgt eine notwendige Wir­ kung. Daher haben auch Beweise, die ihren Beweisgrund in einer notwendigen Ursache haben, notwendige Schlußfolgerungen. Nun ist aber das Wissen Gottes notwendig, weil es ewig ist. Also wären auch alle Dinge, von denen Gott ein Wissen hat, notwendig, was widersinnig ist. 4.  Wenn das Wissen Gottes die Ursache der Dinge ist, dann ver­ hält sich das Wissen Gottes zu den Dingen, wie sich die Dinge zu unserem Wissen verhalten. Nun setzt ein Ding seine Modalität in unserem Wissen, weil wir ja von den notwendigen Dingen ein not­ wendiges Wissen haben. Wenn also das Wissen Gottes die Ursache

283  Paralleltexte: Sent. I, d. 38, a.  1; Sum. theol. I, q.  14, a.  8; De ver., q.  5, a.  2, ad 4 (ed. Leon. XXII, 144). 284  Origenes, In Ep. ad Rom. VII (PG 14, col. 1126 C); dies wird – die­ sen Hinweis gibt die Editio Leonina – schon bei Petrus Lombardus zitiert: Sent. I, d. 38, c.  1, 7 (ed. Coll. S. Bon. I, 277). Dieser Text wurde von Rufi­ nus ins Lateinische übersetzt. 285  Vgl. Avicenna, Philos. prima I, 6 (ed. S. Van Riet, 45). 286  Diese Qualifizierung begründet sich aus dem Widerspruch zu Gen. 1, 1: »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde«; daß Welt ei­ nen zeitlichen Beginn hat, lässt sich nach Thomas nicht erweisen, sondern ergibt sich einzig aus dem Glauben, gestützt auf den ersten Satz der Bibel: Sum. theol. I, q.  46, a.  2, s. c.; ScG II, 37 (ed. C. Pera, nr. 1134).

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der Dinge wäre, würde es die Modalität der Notwendigkeit allen Dingen auferlegen. Das ist falsch. 5.  »Die erste Ursache übt einen stärkeren Einfluß auf das Ver­ ursachte aus als die zweite Ursache.«287 Nun ist aber das Wissen Got­ tes, wenn es die Ursache der Dinge ist, die erste Ursache. Wenn also aus den notwendigen zweiten Ursachen eine Notwendigkeit in den Wirkungen folgt, folgt erst recht aus dem Wissen Gottes die Not­ wendigkeit in den Dingen. Somit ergibt sich dasselbe wie zuvor. 6.  Das Wissen Gottes hat ein wesentlicheres Verhältnis zu den Dingen, zu denen es im Verhältnis der Ursache steht, als zu denen, zu denen es im Verhältnis der Wirkung steht, da die Ursache die Wirkung prägt, aber nicht umgekehrt. Unser Wissen, das zu den Dingen im Verhältnis der Wirkung steht, erfordert nun aber dazu, daß es selbst notwendig ist, die Notwendigkeit in den gewußten Dingen. Also gilt: Wenn das Wissen Gottes die Ursache der Dinge wäre, würde es in den gewußten Dingen um so mehr die Notwen­ digkeit bedingen, und demzufolge würde es das Kontingente nicht erkennen. Dies steht gegen das zuvor Gesagte.288 Dagegen spricht: 1.  Augustinus sagt im 15. Buch seines Werkes Über die Drei­ einig­keit: »Die Gesamtheit der Dinge, die geistigen und die körper­ lichen, weiß Gott nicht deshalb, weil sie sind, sondern sie sind, weil er sie weiß.«289 Also ist das Wissen Gottes die Ursache der Dinge. 2.  Das Wissen Gottes ist in Bezug auf die zu erschaffenden Dinge eine Art Kunst. Daher sagt Augustinus im 6. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit, daß das Wort »eine Kunst, voll von leben­ digen Begriffen ist«.290 Nun ist aber die Kunst die Ursache der Kunst­ gebilde. Also ist das Wissen Gottes die Ursache der erschaffenen Dinge.

287  Vgl. Liber de causis, prop. 1; n. 1 (ed. A. Schönfeld, 2). 288  Vgl. De ver., q.  2, a.  12 (S. 187 ff.). 289  Augustinus, De trin. XV, 13, 22 (CCSL 50 A, 495). 290  Augustinus, De trin. VI, 10, 11 (CCSL 50, 241); vgl. De ver., q.  4,

Anm.  121.

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3.  Die Lehrmeinung des Anaxagoras, die Aristoteles befürwortet,291 scheint auch in diese Richtung zu gehen. Er hat nämlich behauptet, das erste Prinzip der Dinge sei der Verstand, der alles bewegt und unterscheidet. Antwort: Eine Wirkung kann nicht einfacher sein als ihre Ursache, daher ist es notwendig, daß, wo auch immer sich eine We­ sensnatur findet, sich diese zurückführen läßt auf das eine Prin­ zip jener Wesensnatur; beispielsweise läßt sich alles Warme auf ein erstes Warmes zurückführen, nämlich das Feuer, das die Ursache der Wärme in den anderen Dingen ist, wie es im 2. Buch der Meta­ physik292 heißt. Daher gilt: Wenn jede Ähnlichkeit aufgrund einer Übereinstimmung in einer Form besteht, ist es notwendig, daß, was immer ähnlich ist, sich so verhält, daß entweder das eine die Ursache des anderen ist oder beide von einer Ursache verursacht werden. In jedem Wissen liegt eine Angleichung des Wissenden an das Gewuß­ te.293 Daher ist es notwendig, daß entweder das Wissen die Ursache des Gewußten oder das Gewußte die Ursache des Wissens oder beide von einer Ursache hervorgebracht werden. Nun kann man aber nicht behaupten, daß die von Gott gewußten Dinge die Ursachen 291  Vgl. zur Hervorhebung: Aristoteles, Met. I, 3; 984 b 17–18: Ana­ xagoras erschien durch seine Lehre, daß die Vernunft auch in der Natur Ursache der Ordnung sei, »wie ein Nüchterner neben den aufs Geratewohl daherredenden Früheren« [Übers. Th. A. Szlezák]; zur angeführten Lehre: Aristoteles, De an. III, 4; 429 a 18–20: »Also ist notwendig, dass er, wenn er alles versteht, unvermischt sei, wie Anxagoras sagt, damit er Herrschaft habe, das aber ist, damit er erkenne« [Übers. Th. Buchheim]; vgl. Thomas, De ver., q.  2, a. 3, s. c.  3 (S. 206); I, 5; 405 a 18; Phys. VIII, 9; 256 b 24; Tho­ mas v. Aquin dazu: In De an. III, 1; I, 5; In Phys. VIII, 20 (ed. M. Maggiòlo, nr. 1139); Met. XII, 6; 1072 a 4–5: »Daß aber die Wirklichkeit (Aktualität) das Frühere ist, bezeugt Anaxagoras (der Geist nämlich ist Wirksamkeit)« [Übers. Th. A. Szlezák]; c.  10; 1075 b 8–9: »Anaxagoras hingegen macht das Gute zum Prinzip im Sinne des Bewegenden, denn der Nus (der Geist) bewegt.« 292  Aristoteles, Met. II, 2; 993 b 25–26; vgl. De ver., q.  2, Anm.  111. 293  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 10–11; vgl. De ver., q.  2, Anm.  32.

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seines Wissens sind, weil die Dinge zeitlich sind und das Wissen Gottes ewig, das Zeitliche aber nicht die Ursache des Ewigen sein kann. Ähnlich kann man auch nicht behaupten, daß beides von e­ iner Ursache hervorgebracht wird, weil in Gott nichts Verursachtes sein kann, da er das, was er hat, ist. Daher ergibt sich, daß sein Wissen die Ursache der Dinge ist. Unser Wissen hingegen ist von den Din­ gen verursacht, insofern wir es von den Dingen aufnehmen. Das Wissen der Engel ist demgegenüber weder Ursache der Dinge, noch wird es von diesen hervorgebracht, vielmehr entstammt beides einer Ursache. So wie nämlich Gott die natürlichen Formen in die Dinge einströmen läßt, damit sie darin Bestand haben, so läßt er die Ur­ bilder der Dinge in die Geister der Engel einfließen, damit sie die Dinge erkennen. Gleichwohl muß man wissen, daß ›Wissen‹ als Wissen keine her­ vorbringende Ursache besagt, wie ja auch nicht die Form als Form. Das Wirken besteht nämlich in einem Herausgehen aus dem Wir­ kenden, die Form als solche hat hingegen ihr Sein im Vollenden des­ jenigen, in dem sie ist, und im Zur-Ruhe-Kommen darin; deshalb ist die Form nur dank einer Kraft ein Prinzip des Wirkens. In manchen Dingen ist die Form selbst die Kraft, jedoch nicht aufgrund ihres Charakters als Form; in anderen Dingen ist hingegen die Kraft et­ was anderes als die substantielle Form des Dinges, so sehen wir es beispielsweise bei den jeweiligen Körpern, von denen Wirkungen nur vermittels einiger ihrer Qualitäten hervorgehen. Ähnlich liegt auch die Bedeutung von ›Wissen‹ darin, daß es etwas im Wissen­ den ist,294 nicht darin, daß es etwas durch den Wissenden Hervorge­ brachtes ist. Deshalb geht vom Wissen nur vermittels des Wollens eine Wirkung hervor, das in seinem Begriff einen Einfluß auf das Gewollte beinhaltet. Ähnlich geht auch von der Substanz nur dank einer Kraft eine Wirkung hervor, obgleich bei einigen Dingen Wille und Wissen dasselbe sind, wie bei Gott, in anderen hingegen nicht. Ähnlich gehen auch bei Gott, da er die erste Ursache von allem ist, die Wirkungen vermittels von Zweitursachen hervor. Daher findet sich zwischen dem Wissen Gottes, das die Ursache der Dinge ist, 294  Vgl. Aristoteles, Cat., c.  2; 1 b 1–2: »Wissen ist in einem Zugrunde­ liegendem, der Seele« [Übers. K. Oehler] ; vgl. De ver., q.  2, Anm.  10.

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und dem verursachten Ding eine doppelte Vermittlung: die eine auf seiten Gottes, nämlich der göttliche Wille, die andere auf seiten der Dinge im Hinblick auf bestimmte Wirkungen, nämlich die Zweitur­ sachen, durch deren Vermittlung die Dinge aus dem Wissen Gottes hervorgehen. Jede Wirkung folgt nun aber nicht nur der Beschaf­ fenheit der ersten Ursache, sondern auch der vermittelnden. Des­ halb gehen die von Gott gewußten Dinge aus seinem Wissen in der Weise des Willens und in der Weise der Zweitursachen hervor. Es besteht zudem keinerlei Notwendigkeit, daß sie in allem dem Modus des Wissens entsprechen. Zu 1.  Die Absicht des Origenes besteht darin zu sagen, daß das Wissen Gottes nicht die Ursache ist, welche die Notwendigkeit in das Gewußte bringt, so daß etwas deswegen zwangsläufig geschieht, weil Gott es weiß. Wenn er aber sagt, »weil es zukünftig ist, deshalb wird es von Gott gewußt«, so beinhaltet dies keinen Grund für ihr Sein, sondern nur einen Grund des Folgerns. Zu 2.  Da die Dinge aus dem Wissen vermittels des Willens her­ vorgehen, ist es nicht notwendig, daß sie ins Sein hervorgebracht werden, sobald das Wissen besteht, sondern zu der Zeit, zu der es der Wille bestimmt. Zu 3.  Die Wirkung folgt aus der Notwendigkeit der unmittelba­ ren Ursache, die auch das Mittel zum Beweis der Wirkung sein kann. Hingegen besteht keine Notwendigkeit, daß die Notwendigkeit aus der ersten Ursache folgt, weil die Wirkung durch eine Zweitursa­ che, wenn sie kontingent ist, gehindert werden kann, wie dies bei Wirkungen ersichtlich ist, die bei Dingen, die entstehen und verge­ hen, durch die Bewegung der Himmelskörper vermittelt durch die Kräfte der niederen Wesen hervorgebracht werden. Es gibt nämlich kontingente Wirkungen wegen des möglichen Versagens der natür­ lichen Kräfte, obwohl sich die Bewegung des Himmels immer auf dieselbe Weise verhält. Zu 4.  Das Ding ist die unmittelbare Ursache unseres Wissens, und deshalb setzt es seine Modalität in dieses, Gott hingegen ist die erste Ursache, daher liegt nicht derselbe Fall vor. Oder man kann auch sagen: Unser Wissen ist nicht deswegen durch die notwendigen Dinge auch selbst notwendig, weil die gewußten Dinge das Wissen

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verursachen, sondern vielmehr wegen der Angleichung der Wahr­ heit an die gewußten Dinge, die für das Wissen erforderlich ist. Zu 5.  Obwohl die erste Ursache kräftigeren Einfluß ausübt als die Zweitursache, ist die Wirkung gleichwohl nur dann vollstän­ dig, wenn die Tätigkeit der Zweitursache dazukommt. Deshalb gilt: Wenn eine Möglichkeit eines Versagens in der Zweitursache liegt, dann liegt dieselbe Möglichkeit des Versagens auch in deren Wir­ kung, obgleich die erste Ursache keinen Mangel aufweisen kann. Doch gilt dies um so mehr, wenn sowohl eine erste Ursache wie auch die Wirkungen einen Mangel aufweisen könnten. Da also für die Existenz der Wirkung beide Ursachen nötig sind, führt der Mangel in beiden zu einem Mangel in der Wirkung. Deshalb gilt: Welche Ursache auch immer als kontingent gesetzt wird, es folgt daraus, daß die Wirkung kontingent ist, die Wirkung ist hingegen nicht notwendig, wenn nur eine Ursache als notwendig gesetzt wird, und zwar deswegen, weil zum Eintreten der Wirkung beide Ursachen erforderlich sind. Doch weil die Zweitursache nicht notwendig sein kann, wenn die erste kontingent ist, daher kommt es, daß aus der Notwendigkeit der Zweitursache die Notwendigkeit der Wirkung folgt. Zu 6.  Hierzu ist das zu sagen, was schon zum vierten Einwand gesagt worden ist.

15. Artik el Die fünfzehnte Frage lautet: Hat Gott ein Wissen vom Schlechten?295 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Jedes Wissen ist nämlich entweder Ursache des Gewußten oder wird von ihm verursacht oder geht doch zumindest aus einer Ursache hervor. Nun ist aber das Wissen Gottes nicht Ursache des Schlechten, noch ist das Schlechte seine Ursache, noch ist etwas

295  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  1, a.  2; ScG I, 71; Quodl. XI, q.  2 [2] (ed. Leon. XXV/1, 153–154); De ver., q.  3, a.  4 (ed. Leon. XXII, 109–111; vgl. unten S. 248 ff.); Sum. theol. I, q.  14, a.  10.

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anderes die Ursache von beidem. Also bezieht sich das Wissen Got­ tes nicht auf das Schlechte. 2.  Wie es im 2. Buch der Metaphysik296 heißt: Jegliches verhält sich so zum Wahren, wie es sich zum Sein verhält. Nun ist aber das Schlechte kein Seiendes, wie Augustinus297 und Dionysius298 sa­ gen. Also ist auch das Schlechte kein Wahres. Das Wissen bezieht sich aber auf nichts anderes als das Wahre.299 Also kann Gott das Schlechte nicht wissen. 3.  Averroes sagt in seinem Kommentar zum 3. Buch der aristote­ lischen Schrift Über die Seele: »Der Verstand, der immer in Wirk­ lichkeit ist, erkennt keinerlei Privation.«300 Nun ist der Verstand Gottes immer in Wirklichkeit, also erkennt er keine Privation. Nun ist aber »das Schlechte die Privation des Guten«, wie Augustinus301 sagt. Also erkennt Gott nicht das Schlechte. 4.  Was immer man erkennt, man erkennt es entweder durch et­ was ihm Ähnliches oder durch sein Gegenteil. Nun ist aber dem Wesen Gottes, durch das Gott alles erkennt, das Schlechte nicht ähn­ lich, noch auch ist es sein Gegenteil, weil es ihm nicht schaden kann. ›Schlecht‹ aber nennt man etwas deswegen, weil es schadet.302 Also erkennt Gott nicht das Schlechte. 5.  Dasjenige, was man nicht lernen kann, kann man auch nicht wissen. Allerdings kann man, wie Augustinus in seinem Werk Über den freien Willen sagt, das Schlechte nicht lernen, denn »durch eine

296  Aristoteles, Met. II, 2; 993 b 30–31; vgl. De ver., q.  2, Anm.  248. 297  Augustinus, De civ. Dei XI, 9 (CCSL 47, 330). 298  Dionysius Areopagita, De div. nom. 5, 19 (PG 3, col. 716 C; Dion.

I, 237). 299  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  244. 300  Averroes, In De an. III, comm. 25 (ed. F. S. Crawford, 463). 301  Augustinus, Ench. 3, 11 (CCSL 46, 53). 302  Vgl. Augustinus, De civ. Dei XII, 1 (CCSL 48, 356): omne autem vitium naturae nocet ac per hoc contra naturam est; XII, 3 (CCSL 48, 357); so auch Dionysius Areopagita, De div. nom. 4, 20 (PG 3, col. 717 B; CD I, 165); Thomas, In De div. nom. 4, 19 (ed. Pera, nr. 529): de ratione mali sit quod noceat et corrumpat [»zum Begriff des Übels gehört es, daß es schä­ digt und verdirbt«, R. S.].

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Lehre wird nur Gutes gelernt«.303 Also kann man das Schlechte nicht wissen; also ist es von Gott nicht erkannt. 6.  Wer Grammatik-Wissen hat, ist ein Grammatiker. Also gilt: Wer das Schlechte weiß, ist ein schlechter Mensch. Nun ist aber Gott nicht schlecht. Also weiß er das Schlechte nicht. Dagegen spricht: 1.  Niemand kann das bestrafen, wovon er keine Kenntnis hat. Nun ist aber Gott derjenige, der die Schlechten bestraft. Also hat Gott ein Wissen vom Schlechten. 2.  Gott fehlt nichts Gutes. Nun ist aber das Wissen des Schlechten gut, weil dadurch das Schlechte vermieden wird. Also hat Gott ein Wissen des Schlechten. Antwort: Nach Aristoteles im 4. Buch der Metaphysik 304 gilt: Wer nicht ein Eines erkennt, erkennt nichts. Nun ist aber etwas dadurch eines, daß es in sich ungeteilt und von anderem unterschieden ist. Daher gilt notwendig: Wer immer etwas erkennt, der weiß seinen Unterschied zu anderem. Das erste Prinzip der Unterscheidung liegt in Affirma­ tion und Negation. Deshalb gilt notwendig: Wer immer die Affirma­ tion erkennt, erkennt die Negation. Daß die Privation nichts anderes ist als diejenige Negation, die einen Träger hat, wie es im 4. Buch der Metaphysik 305 heißt, und bei einem Gegensatz das jeweils an­ dere immer eine Privation ist, wie es an derselben Stelle heißt und im 1. Buch der Physik 306, ist der Grund dafür, daß man dadurch, daß man etwas erkennt, seine Privation und sein Gegenteil erkennt. Da­ her gilt: Da Gott eine spezifische Erkenntnis von allen seinen Wir­ kungen hat, gilt notwendig: Wie er etwas in seiner Natur Bestimm­ tes erkennt, erkennt er alle Negationen und entgegengesetzten Pri­ 303  Augustinus, De lib. arb. I, 1, 2 (CCSL 29, 212). 304  Aristoteles, Met. IV, 4; 1006 b 10. 305  Aristoteles, Met. IV, 3; 1004 a 15–16; IV, 6; 1011 b 19–20. 306  Aristoteles, Phys. I, 7; 191 a 13–14: »Ein Prinzip ist auch dasje­

nige, welches Gegenstand des Begriffs ist (d. h. die Gestalt), ein Prinzip ist schließlich auch noch das Gegenteil dieses letzteren, die Negativbe­ stimmtheit« [Übers. H. Wagner].

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vationen und alle Gegenteile, die sich in den Dingen finden. Daraus folgt: Da das Schlechte die Privation des Guten ist, ist es notwendig, daß er dadurch, daß er jegliches Gute und das Maß für jegliches er­ kennt, auch jegliches Schlechte erkennt. Zu 1.  Jene Aussage trifft bei dem Wissen zu, das man von einem Ding durch sein Bild hat. Das Schlechte wird von Gott aber nicht durch sein Urbild erkannt, sondern durch das Urbild seines Gegen­ teils. Daher folgt nicht, daß Gott die Ursache des Schlechten ist, weil er das Schlechte erkennt, vielmehr folgt, daß er die Ursache des Gu­ ten ist, zu dem das Schlechte im Gegensatz steht. Zu 2.  Das Nichtseiende nennt man aufgrund dessen, daß es dem Seienden entgegengesetzt ist, in gewisser Weise doch ein Seiendes, wie im 4. Buch der Metaphysik 307 ersichtlich wird. Daher hat auch das Schlechte deswegen, weil es dem Guten entgegengesetzt ist, den Charakter des Erkennbaren und des Wahren. Zu 3.  Die Auffassung des Averroes war die, daß Gott, sofern er sein Wesen erkennt, nicht in bestimmter Weise die einzelnen Wir­ kungen, so wie sie in ihrer eigenen Natur unterschieden sind, son­ dern nur das Wesen des Seins erkennt, das sich in allem findet. Das Schlechte steht nun aber nicht zum allgemeinen Seienden, sondern zum besonderen Sein im Gegensatz. Daher folgt daraus, daß er das Schlechte nicht erkennt. Doch diese Auffassung ist falsch, wie aus dem zuvor Dargelegten308 hervorgeht, daher auch das, was daraus ge­ schlossen wird, nämlich daß Gott eine Privation und das Schlechte nicht erkennt. Entsprechend der Absicht des Averroes wird die Pri­ vation vom Verstand nur durch die Abwesenheit der Form im Ver­ stand erkannt, was beim Verstand selbst nicht der Fall sein kann, der immer in Tätigkeit ist. Doch dies ist nicht notwendig, weil auf Grund dessen, daß ein Ding erkannt wird, auch die Privation dieses Dinges erkannt wird, daher wird beides durch die Anwesenheit der Form im Verstand erkannt.

307  Aristoteles, Met. IV, 1; 1003 b 10: »Daher sagen wir auch vom Nicht­ seienden, daß es das Nichtseiende ›ist‹« [Übers. Th. A. Szlezák]. 308  De ver., q.  2, a.  5 (S. 138 ff.).

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Zu 4.  Der Gegensatz von einem zu einem anderen kann auf zwei­ fache Weise verstanden werden: einmal im Allgemeinen, so wenn wir beispielsweise sagen: »Das Schlechte ist dem Guten entgegen­ gesetzt«, und: »das Schlechte ist auf diese Weise Gott entgegenge­ setzt«; zum anderen im Besonderen, so wenn wir sagen: »Dieses Weiße ist diesem Schwarzen entgegengesetzt«, und in diesem Sinne gibt es nur einen Gegensatz dieses Schlechten zu einem solchen Gu­ ten, das durch ein Schlechtes vermindert werden kann und für wel­ ches jenes schädlich sein kann. In diesem Sinne ist das Schlechte Gott nicht entgegengesetzt. Daher sagt Augustinus im 12. Buch sei­ nes Werks Über den Gottesstaat, daß »der Fehler Gott entgegenge­ setzt ist wie das Schlechte dem Guten«309. Doch der Wesensnatur, der ein Mangel zugefügt wird, ist es nicht nur als ein Schlechtes, sondern auch als etwas Schädliches entgegengesetzt. Zu 5.  Das Schlechte ist im Hinblick darauf, daß es gewußt wird, gut, weil das Schlechte zu wissen gut ist. Demzufolge ist es wahr, daß jegliches Erlernbare gut ist, nicht in dem Sinne, daß es in sich gut ist, sondern nur, insofern es gewußt wird.310 Zu 6.  Die Grammatik zu wissen heißt, die Regeln der Grammatik zur Verfügung zu haben, hingegen heißt das Schlechte zu wissen nichts Derartiges, und daher liegt nicht derselbe Fall vor.

309  Augustinus, De civ. Dei XII, 3 (CCSL 48, 357). 310  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  146.

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III. ÜBER DIE IDEEN

Die hier behandelten Fragen lauten: 1.  Besteht die Behauptung, daß es Ideen gibt, mit Notwendigkeit? 2.  Besteht die Behauptung, daß es viele Ideen gibt, mit Notwen­ digkeit? 3. Gehört die Idee zur theoretischen oder zur praktischen Er­ kenntnis? 4.  Gibt es in Gott eine Idee vom Schlechten? 5.  Gibt es in Gott eine Idee von der ersten Materie? 6.  Gibt es in Gott Ideen von dem, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist? 7.  Gibt es in Gott eine Idee von Akzidentien? 8.  Gibt es in Gott eine Idee von den Einzeldingen?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Besteht die Behauptung, daß es Ideen gibt, mit Notwendigkeit?1 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Das Wissen Gottes ist im höchsten Maße vollkommen. Nun ist aber ein Wissen, über das man von einem Ding aufgrund seines Wesens verfügt, vollkommener als dasjenige, das man durch ein Bild von ihm hat. Also erkennt Gott die Dinge nicht durch Bilder, sondern vielmehr durch deren Wesenheiten. Somit gibt es in Gott keine Urbilder der Dinge, die ›Ideen‹ genannt werden. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Gott weiß die Dinge vollkommener, indem er sie durch sein Wesen erkennt, welches das Urbild der Dinge ist, als wenn er die Dinge durch deren Wesenheit erkennen würde. – Doch dem steht wiederum entgegen: Das Wis­

1  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  2, a.  1; Sum. theol. I, q.  15, a.  1; q.  4 4, a.  3; In De div. nom. 5, 3.

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sen ist die Angleichung an das Gewußte.2 Also gilt: In je höherem Maße das Medium der Erkenntnis der erkannten Sache ähnlich ist und mit ihr eine Einheit bildet, um so vollkommener wird ein Ding dadurch erkannt. Nun ist aber das Wesen der geschaffenen Dinge mit ihnen selbst in höherem Maße eins als das Wesen Gottes. Also würde er die Dinge mit noch größerer Vollkommenheit erkennen, wenn er sie durch die Wesenheiten der Dinge, als wenn er sie durch sein eigenes Wesen erkennen würde. 3.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Die Vollkommenheit des Wissens besteht in der Einheit des Erkenntnismediums nicht mit der erkannten Sache, sondern eher mit dem Erkennenden. – Doch dem steht wiederum entgegen: Das Erkenntnisbild des Dinges, das in einem Verstand ist, ist aufgrund dessen, daß es in ihm Sein hat, ein Einzelnes, sofern es aber in Beziehung zum Gewußten steht, hat es den Charakter des Allgemeinen, weil es ein Abbild des Dinges entsprechend der allgemeinen Natur und nicht entsprechend den einzelnen Bestimmungen ist. Gleichwohl ist die Erkenntnis, die auf diesem Abbild beruht, keine einzelne, sondern eine allgemeine. Also hat die Erkenntnis ihren Grund eher in den Relationen des Abbildes zum gewußten Ding als zum Wissenden. 4. Aristoteles3 weist die Lehrmeinung Platons, die dieser zu den Ideen vertreten hat, deswegen zurück, weil dieser behauptet hat, die Formen der materiellen Dinge würden ohne Materie existieren. Nun sind sie aber erst recht ohne Materie, wenn sie im göttlichen Ver­ stand sind, als wenn sie außerhalb davon wären, weil der göttli­ che Verstand von höchster Materiefreiheit ist. Also ist es auch in noch höherem Maße sinnwidrig, Ideen im göttlichen Verstand zu behaupten. 5. Aristoteles4 weist die Lehrmeinung Platons über die Ideen damit zurück, daß die von Platon behaupteten Ideen weder etwas 2  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 10–11; vgl. De ver., q.   2, Anm.  32. 3  Aristoteles, Met. I, 9; 990 b 4–8; vgl. Thomas v. Aquin, In Met. I, 14 (ed. R. M. Spiazzi, nr. 209). 4  Aristoteles, Met. I, 9; 991 a 11–12: »Sie sind von keinerlei Bewegung oder Veränderung die Ursache«; 991 b 4–6: »Auch wenn es Ideen gibt, ent­ steht dennoch das an ihnen Teilhabende nicht, wenn es kein Bewegendes

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1. Artikel

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hervorbringen noch selbst hervorgebracht werden können und sie demzufolge von keinerlei Nutzen sind. Doch auch wenn man Ideen im göttlichen Geist ansetzt, werden sie nicht hervorgebracht, weil alles Hervorgebrachte zusammengesetzt ist, und sie bringen glei­ chermaßen auch selbst nichts hervor, weil gilt: Wenn dieses Her­ vorgebrachte zusammengesetzt ist und das Hervorbringende dem Hervorgebrachten ähnlich ist, ist es notwendig, daß auch das Her­ vorbringende zusammengesetzt sind. Also ist es sinnwidrig, auch im göttlichen Geist Ideen anzusetzen. 6.  Dionysius sagt im 7. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen5, daß Gott die seienden Wesen durch die nichtseienden We­ sen kennt und die Dinge nicht durch Ideen erkennt. Nun werden aber die Ideen zu keinem anderen Zweck in Gott angesetzt als eben dem, daß die Dinge durch sie erkannt werden. Also gibt es im göttlichen Geist keine Ideen. 7.  Jedes Abbild steht in einem bestimmten Verhältnis zu seinem Urbild. Es gibt jedoch kein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Ge­ schöpf und Gott, wie auch nicht vom Endlichen zum Unendlichen.6 Also kann es in Gott keinen urbildlichen Begriff der Geschöpfe ge­ ben. Somit gilt: Wenn die Ideen ideehafte Formen sind, dann scheint es, daß es von den Dingen keine Ideen in Gott gibt. 8.  Die Idee ist das Maß des Erkennens und Handelns. Nun ist aber dasjenige, was in seinem Erkennen und Handeln gar nicht mangel­ gibt«; XII, 6; 1071 b 14–16: »Es nützt also auch nichts, wenn wir ewige Sub­ stanzen ansetzen, wie die Vertreter der Ideen, sofern nicht ein Prinzip in ihnen enthalten ist, das eine Veränderung auszulösen vermag« [Übers. Th. A. Szlezák]; De gen. et corr. I, 7; 324 b 13–16: »Doch ist der Wirkfaktor ur­ sächlich wie ein ›Woher das Prinzip der Bewegung‹, während das Umwil­ len nicht wirkungskräftig ist. Deshalb ist die Gesundheit nicht wirkungs­ kräftig, es sei denn im metaphorischen Sinn« [Übers. Th. Buchheim]. 5  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 2 (PG 3, col. 869 A; Dion. I, 397). Die gemeinte Passage findet sich bei Thomas nur an dieser Stelle in diesem Wortlaut, in dem sich im ersten Teil die Übersetzungen von Johan­ nes Eriugena und Johannes Sarracenus nicht unterscheiden: Non enim ex existentibus existentia discens, novit divina mens; vgl. J. Durantel, Saint Thomas et Pseudo-Denis, 186 f. 6  Vgl. Aristoteles, De caelo, I, 6; 274 a 7–8; vgl. De ver., q.  2, Anm.  60 u. 224.

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haft sein kann, keines der beiden Maßstäbe bedürftig. Da also Gott von dieser Art ist, scheint es nicht notwendig zu sein, in ihm Ideen zu behaupten. 9.  So wie die Einheit in der Quantität die Gleichheit ausmacht, so die Einheit in der Qualität die Ähnlichkeit, wie es im 5. Buch der Metaphysik 7 heißt. Doch wegen der Verschiedenheit von Gott und Schöpfung kann ein Geschöpf in keiner Weise Gott gleich sein oder umgekehrt. Also gibt es auch in Gott nicht irgendeine Ähnlichkeit8 mit dem Geschöpf. Wenn also ›Idee‹ das Urbild eines Dinges be­ zeichnet, dann scheint es, daß keine Ideen der Dinge in Gott sind. 10.  Wenn es in Gott Ideen gibt, dann nur, um die Geschöpfe her­ vorzubringen. Doch sagt Anselm in seinem Monologion: »Es ist hinreichend offenkundig, daß es im Wort, durch das alles erschaf­ fen worden ist, nicht Urbilder der Dinge gibt, sondern die wahre und einfache Wesenheit.«9 Also scheint es, daß es Ideen, die als Urbilder der Dinge bezeichnet werden, nicht in Gott gibt. 11.  Gott erkennt sich selbst und das andere auf dieselbe Weise, andernfalls wäre sein Wissen vielfältig und unterteilbar. Nun er­ kennt aber Gott sich selbst nicht durch eine Idee. Also auch nicht das andere. Dagegen spricht: 1.  Augustinus sagt in seinem Buch Über den Gottesstaat 10: »Wer leugnet, daß es Ideen gibt, ist ein Ungläubiger, weil er leugnet, daß es den Sohn gibt«; also usw. 7  Aristoteles, Met. V, 17; 1021 a 11–12: »Denn all das wird auf Grund des Einen so genannt: ›dasselbe‹ sind Dinge, deren Wesen (οὐσία, ousia) eines ist, ›ähnlich‹ die, deren Qualität, ›gleich‹ die, deren Quantität eine ist« [Übers. Th. A. Szlezák]. 8  Similitudo: Damit ist wörtlich Ähnlichkeit gemeint, aber eben auch solches, bei dem Ähnlichkeiten auftreten, Urbild und Abbild – so wurde es wiedergegeben in arg. 1 u. 2; in s. c. 8 steht das Wort im selben Kontext sowohl für das Urbild wie für das Abbild. 9  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  31 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 50). 10  In diesem Werk ist das Zitat nicht zu finden; die Editio Leonina ver­ weist auf Wilhelm v. Auxerre, Summa aurea I, appendix, wo es aber auch

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1. Artikel

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2.  Alles, das durch einen Verstand tätig ist, enthält den Grund seines Tätigseins in sich, es sei denn, es weiß nicht, was es tut. Nun ist Gott aber ein durch den Verstand Tätiges und eines, das sehr wohl weiß, was es tut. Also gibt es bei ihm Begriffe der Dinge, die ›Ideen‹ genannt werden. 3.  Drei Ursachen fallen, wie es im 2. Buch der Physik11 heißt, in einer zusammen, nämlich die Wirk-, Zweck- und Formursache. Nun ist aber Gott die Wirk- und die Zweckursache der Dinge. Also ist er auch die urbildliche Formursache. Er kann nämlich nicht diejenige Form sein, die ein Teil des Dinges ist, und daher folgt dasselbe wie zuvor. 4.  Eine einzelne Wirkung wird von einer allgemeinen Ursache nur dann hervorgebracht, wenn die allgemeine Ursache spezifisch ist oder doch zu einer spezifischen gemacht worden ist. Nun sind aber alle einzelnen Wirkungen von Gott, der die allgemeine Ursache von allem ist. Also ist es notwendig, daß sie von ihm sind, entsprechend dem, daß er für jedes beliebige Ding die spezifische oder spezifisch gemachte Ursache ist. Doch dies kann nur durch die spezifischen Begriffe der Dinge der Fall sein, die in ihm existieren. Also ist es notwendig, daß in ihm Begriffe der Dinge, d. h. die Ideen, existieren. 5.  Augustinus sagt, »es verdrießt mich, in meinem Buch Über die Ordnung gesagt zu haben, es gebe zwei Welten, nämlich die sinnliche und die geistige Welt; nicht daß dies nicht wahr wäre, sondern weil ich das gesagt habe, als wäre es von mir, wo es doch von Philosophen gesagt worden ist, und weil diese Art zu reden in der Hl. Schrift nicht geläufig ist«.12 Nun ist aber die geistige Welt13 nichts anderes als die Idee der Welt. Also entspricht es der Wahrheit, Ideen zu behaupten. nicht zu finden ist, sowie auf Bonaventura, Sent. I, d. 6, q.  3 (Opera omnia I, 129 b – 130 a); als deren Quelle wird verwiesen auf: Augustinus, De div. qu.  83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 72) und Retract. I, 3 (CCSL 57, 12 f.); weitere Belege: Meister Eckhart, In Gen. I, n. 5 (LW I, 188, Anm.  5). 11  Aristoteles, Physik II, 7; 198 a 24–27. 12  Augustinus, Retract. I, 3 (CCSL 57, 12); De ordine I, 11, 32 (CCSL 29, 106). 13  Mundus intelligibilis: Die Welt des mit dem Verstand Verstehbaren, vor allem aber die Gesamtheit der geistigen Wesen.

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6.  Boethius sagt im 3. Buch seiner Schrift Trost der Philosophie, indem er zu Gott spricht: »Das All vom Urbild leitest du her; die herrliche, Herrlichster selber, trägst du im Geiste, die Welt.«14 Also gibt es von der Welt und allem, was in ihr ist, ein Urbild in Gott und daher folgt dasselbe wie zuvor. 7. Im Johannesevangelium, Kap. 1, heißt es: »Was geworden ist, war in ihm Leben«15, und dies deshalb, weil, wie Augustinus16 sagt, alle Geschöpfe im göttlichen Geist sind, so wie eine Truhe im Geist des Künstlers ist. Nun ist aber die Truhe im Geist des Künstlers als Urbild und Idee. Also sind die Ideen aller Dinge in Gott. 8.  Ein Spiegel führt nur dann zur Erkenntnis von etwas, wenn dessen Abbilder in ihm widerscheinen. Nun ist das ungeschaffene Wort ein Spiegel, der zur Erkenntnis aller Geschöpfe führt, weil durch ihn der Vater sich und anderes ausspricht.17 Also sind in ihm die Urbilder aller Dinge. 9.  Augustinus sagt im 6. Buch seines Werkes Über die Dreieinig­ keit, daß »der Sohn die Kunst des Vaters ist, die voll von lebendi­ gen Begriffen ist«.18 Also gibt es Ideen in Gott. 10.  Nach Augustinus19 gibt es zwei Arten, die Dinge zu erkennen, nämlich durch deren Wesen und durch deren Bild. Nun erkennt Gott die Dinge aber nicht durch ihr Wesen, weil auf diese Weise nur das erkannt würde, was sich durch seine Gegenwart im Erkennenden befindet. Also gilt: Da Gott ein Wissen von den Dingen hat, wie aus dem vorher Gesagten20 hervorgeht, ergibt sich, 14  Boethius, Philos. consol. III, m. 9 (CCSL 94, 52); Übers. O. Gigon; das Zitat entstammt einem im Mittelalter besonders häufig kommentier­ ten Metrum in einem ohnehin viel kommentierten und gelesenen Werk. 15  Joh. 1, 3. 16  Augustinus, In Ioh. ev. tract. I, 17 (CCSL 36, 10). 17  Diese unmittelbare Verbindung von Selbst-Aussprache und Aus­ sprache der Schöpfung ist eine Anspielung auf Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  33 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 51 f.; 53); wie dies zu verstehen ist, wird weiter unten geklärt: De ver., q.  4, a.  4 (S. 291 ff.). 18  Augustinus, De trin. VI, 10, 11 (CCSL 50, 241); auch zitiert in De ver., q.  2, Anm.  290. 19  Augustinus, Conf. X, 17, 26 (CCSL 27, 168). 20  Vgl. De ver., q.  2, a.  3 (S. 113 ff.).

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1. Artikel

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daß er die Dinge durch deren Urbilder erkennt; daher folgt dasselbe wie zuvor. Antwort: Wie Augustinus in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen21 sagt: »Ideen können wir auf Lateinisch entweder Formen oder Ar­ ten22 nennen, damit wir uns als solche erweisen, die wörtlich über­ setzen.« Den Ausdruck ›Form eines Dinges‹ kann man nun aber auf dreifache Weise verstehen: einmal in dem Sinne desjenigen, durch das ein Ding geformt wird, wie etwa aus der Form des Tätigen die Formung der Wirkung hervorgeht. Daß es aber nicht mit Notwen­ digkeit zur Tätigkeit gehört, daß die Wirkungen den vollständigen Begriff der Form des Tätigen erreichen, da sie häufig mangelhaft sind – am meisten im Falle der äquivoken Ursachen23 –, deshalb wird die Form, durch die etwas geformt wird, nicht dessen ›Idee‹ oder ›Form‹ genannt. In einem anderen Sinne wird dasjenige ›Form von etwas‹ genannt, in Entsprechung zu dem etwas geformt wird, wie etwa die Seele die Form des Menschen und die Form der Statue die Form des Kupfers ist, und obwohl die Form, die ein Teil des Zusammengesetzten ist, in einem wahrhaften Sinne dessen ›Form‹ genannt wird, ist es nicht üblich gewesen, sie dessen ›Idee‹ zu nennen, weil es scheint, daß der Terminus ›Idee‹ eine getrennte Form bezeichnet, nämlich getrennt von dem, dessen Form sie ist. Im dritten Sinne wird ›Form von etwas‹ dasjenige genannt, nach dessen Maß etwas geformt wird, und dies ist die urbildliche Form, 21  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71). 22  Species: Art und Gestalt; speciosus heißt nicht nur geformt, sondern

auch wohlgeformt, also einen Anspruch erfüllend und nicht bloß faktisch so oder so gestaltet. 23  Eine Ursache wird als ›äquivok‹ bezeichnet, wenn sie anders als die Lebewesen keine gleichartige oder gleichrangige Wirkung hervorbringt. So gilt etwa im Mittelalter die Sonne, die doch offenkundig Wärme her­ vorbringt, selbst nicht als warm. Auch bestimmte Lebewesen werden schon nach Aristoteles nicht von ihresgleichen erzeugt, sondern durch ganz an­ dere Faktoren hervorgebracht (›Urzeugung‹); vgl. R. Specht, Art. ›Genera­ tio‹, in: HWPh III, 1974, 273.

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durch deren Nachahmung etwas gebildet wird, und in dieser Bedeu­ tung ist es gebräuchlich, die Bezeichnung ›Idee‹ zu verwenden, so daß Idee dasselbe ist wie diejenige Form, durch deren Nachahmung etwas existiert. Doch muß man wissen, daß etwas eine Form auf zweifache Weise nachahmen kann: einmal durch die Absicht des Wirkenden, wie beispielsweise ein Bildnis vom Maler dazu gemacht wird, daß je­ mand nachgeahmt wird, dessen Gestalt dargestellt wird. Manchmal hingegen geschieht die genannte Nachahmung akzidentell, ohne Absicht und durch Zufall, wie Maler oftmals zufällig das Bild von etwas anfertigen, von dem sie es nicht beabsichtigen. Wenn aber eine Form zufällig nachgeahmt wird, heißt das nicht, daß etwas ihr entsprechend geformt worden ist, weil der Ausdruck ›entsprechend‹ den Bezug auf ein Ziel einzuschließen scheint. Daher gilt: Da die urbildliche Form bzw. die Idee dasjenige ist, in Entsprechung zu dem etwas geformt wird, ist es notwendig, daß etwas die urbild­ liche Form von sich aus und nicht zufällig nachahmt. Wir sehen zudem, daß etwas auf zweifache Weise um eines Zie­ les willen tätig ist: einmal so, daß das Tätige sich selbst zu einem Ziel bestimmt, wie dies bei allem durch den Verstand Tätigen der Fall ist; manchmal wird das Ziel durch ein anderes grundlegend Tä­ tiges bestimmt, wie dies bei der Bewegung des Pfeiles24 deutlich ist, der auf ein bestimmtes Ziel hin bewegt wird, allerdings wird dieses Ziel von einem Schützen bestimmt. Ähnlich setzt die Tätigkeit der Natur, die auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist, einen Verstand vor­ aus, der das Ziel der Natur vorweg festlegt und die Natur auf jenes

24  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 23–24. Bei Thomas wird dies vielfach als Beispiel für Finalität in der außermenschlichen Natur ver­ wendet, weil die Ausrichtung des Pfeils auf ein bestimmtes Ziel vom Bo­ genschützen kommt wie in der Natur von Gott: ScG III, 16 (ed. C. Pera, nr.  1688); Sum theol. I, q.  2, a.  3; q.  103, a.  1, ad 1; De ver., q.  22, a.  1 etc. Anders aber als bei einer technischen Funktion ist das Ziel eines natürli­ chen Wesens sein eigenes, was sich aus dem Schöpfungsbegriff ergibt. Das Ziel eines Geschosses ist demgegenüber eines, das der Schütze verfolgt und nicht das Geschoss.

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1. Artikel

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Ziel ausrichtet, aufgrund dessen jedes Werk der Natur ein Werk des Geistes25 genannt wird. Wenn also etwas als Nachahmung eines anderen durch ein Tä­ tiges geschieht, das sich nicht selbst das Ziel bestimmt, dann hat aus diesem Grund die nachgeahmte Form nicht den Charakter des Urbildlichen bzw. der Idee. Wir sagen ja nicht, daß die Form des zeugenden Menschen die Idee oder auch das Urbild des gezeugten Menschen ist,26 vielmehr sagen wir dies nur, wenn ein zielbestimm­ tes Tätiges sich selbst das Ziel setzt, wobei die Form entweder im Tä­ tigen oder außerhalb des Tätigen liegt. Wir sagen nämlich, daß die Form der Kunst im Künstler das Urbild bzw. die Idee des Kunstgebil­ des sei und ähnlich auch die Form, die außerhalb des Künstlers liegt, in deren Nachahmung der Künstler etwas macht. Dies also scheint der Begriff der Idee zu sein, daß die Idee eine Form ist, die durch die Absicht des Tätigen, der sich das Ziel zuvor bestimmt, von etwas nachgeahmt wird. Dementsprechend ist ersichtlich, daß diejenigen, die behauptet haben, alles geschehe durch Zufall, nicht dazu gelangen konnten, die Existenz einer Idee zu behaupten. Doch diese Lehrmeinung wird von den Philosophen27 zurückgewiesen, weil dasjenige, was durch Zufall existiert, sich nicht auf dieselbe Weise verhält – es sei denn in wenigen Fällen28 –, den Lauf der Natur sehen wir hingegen immer oder doch in den meisten Fällen auf dieselbe Weise vonstatten gehen. 25  Ein Adagium, das schon bei Albertus häufig angeführt wird: J. A. Weisheipl, The Axiom Opus naturae est opus intelligentiae, in: Albertus Magnus. Doctor unversalis 1280/1980, ed. G. Meyer u. a., Mainz 1980, 441–463; auch Thomas zitiert es öfters und schreibt es Aristoteles bzw. allgemein den Philosophen zu: Sent. I, d. 35, q.  1, a.  1 (ed. P. Mandonnet, I, 809); Sent. II, d. 25, q.  1, a.  1 (ed. P. Mandonnet, II, 645); ScG III, 24 (ed. C. Pera, nr, 2050); De pot., q.  1, a.  5 [Übers. S. Grotz, 40]; In Phys. II, 4 (ed. M. Maggiòlo, nr. 171). 26  »Ein Mensch zeugt einen Menschen« ist bei Aristoteles das Beispiel für die Reproduktion der Art: Phys. II, 2; 194 b 13. 27  Aristoteles, Phys. II, 8; 198 b 33 ff. (Kritik an Demokrit). 28  Daher ist für Aristoteles das Zufällige immer auch das Unregelmä­ ßige und Seltene; das Natürliche hingegen dasjenige, was regulär und mei­ stens – nicht ausnahmslos – geschieht: Phys. II, 5; 196 b 10 ff.

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Ähnlich können auch diejenigen, die behauptet haben, daß aus Gott alles mit der Naturnotwendigkeit hervorgeht und nicht durch die Wahl eines Willens, keine Ideen behaupten, weil dasjenige, was mit der Naturnotwendigkeit tätig ist, sich kein Ziel vorweg be­ stimmt. Doch dies kann nicht sein, denn: Bei allem, was um eines Zieles willen tätig ist, wird, wenn es sich nicht selbst das Ziel be­ stimmt, das Ziel von einem anderen und Höheren bestimmt, und so gäbe es eine höhere Ursache als ihn, was nicht sein kann, weil alle, die von Gott reden, ihn als die erste Ursache des Seienden ver­ stehen. Deshalb hat Platon29 behauptet, es gebe Ideen, um nämlich der Lehrmeinung Epikurs zu entgehen, der behauptet hat,30 alles geschehe durch Zufall, und der des Empedokles und anderer, de­ ren Behauptung es war,31 alles geschehe mit Naturnotwendigkeit. Auf diesen Grund, Ideen zu behaupten, nämlich wegen der Vorbe­ stimmung der Werke der tätigen Wesen, verweist auch Dionysius im 5. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen, wo er sagt: »›Urbilder‹ nennen wir die in Gott existierenden Gründe und die we­ senhaften und einzeln vorweg existierenden, welche die Theologie Vorbestimmungen nennt, und die göttlichen und guten Willensbe­ stimmungen der existierenden Wesen, vorwegbestimmenden und wirksamen, denen gemäß das überwesentliche Wesen alles vorweg bestimmt und hervorbringt.«32 Doch weil die urbildliche Form bzw. Idee in gewisser Weise den Charakter eines Zieles enthält und der Künstler von ihr die Form empfängt, durch die er tätig ist, wenn sie außerhalb seiner liegt, ist es aber sinnwidrig, zu behaupten, Gott sei wegen eines anderen Zieles als um seiner selbst willen tätig und er 29  Vgl. Aristoteles, Met. I, 6; 987 a 29 ff. 30  Neben anderen überliefert Augustinus diese Lehrmeinung dem

Mittelalter: De civ. Dei XVIII, 41 (CCSL 38, 636). 31  Vgl. Aristoteles, Phys. II, 3; 196 a 19–21: »So ist denn ihr Schweigen tatsächlich in gleicher Weise unbegreiflich, ob sie nun bloße Fügung [τύχη; týche] ausgeschlossen oder ob sie sie zwar angenommen, aber tatsächlich unerörtert gelassen haben mögen; unbegreiflich um so mehr, als sie sie bisweilen ausdrücklich eingesetzt haben, wie etwa Empedokles mit sei­ nem Satz, daß die Luft nicht immer ganz nach oben austrete, sondern daß dies davon abhänge, wie es sich gerade füge« [Übers. H. Wagner]. 32  Dionysius Areopagita, De div. nom. 5, 8 (PG 3, col. 824 C; Dion. I, 360).

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1. Artikel

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empfange es von woanders, wodurch er zum Tätigsein hin­ reichend sei, deshalb können wir nicht behaupten, die Ideen seien außerhalb von Gott, sondern ausschließlich im göttli­ chen Geist. Zu 1.  Der Ausdruck ›Vollkommenheit der Erkenntnis‹ kann ent­ weder im Hinblick auf den Erkennenden oder im Hinblick auf das Erkannte verstanden werden. Wenn man also sagt, daß die Erkennt­ nis vollkommener ist, die durch das Wesen ge­ schieht, als die, die durch ein Bild geschieht, ist dies im Hinblick auf das Erkannte zu verstehen. Dasjenige nämlich, das durch sich selbst erkennbar ist, wird an sich in höherem Maße er­ faßt als dasjenige, das nicht aus sich heraus erkennbar ist, sondern nur aufgrund dessen, daß es als Abbild im Erkennenden ist. Es ist nicht sinnwidrig zu behaupten, die geschaffenen Dinge seien in ge­ ringerem Maße erkennbar als das göttliche Wesen, das durch sich selbst erkennbar ist. Zu 2.  Das Erkenntnisbild, welches das Medium der Erkenntnis ist, erfordert zweierlei, nämlich die Darstellung des erkannten Din­ ges, welche ihm entsprechend der Nähe zum Erkennbaren zukommt, und ein geistiges bzw. materiefreies Sein, was ihm entsprechend dem zukommt, daß es ein Sein im Erkennenden hat. Daher gilt: Et­ was wird durch das Erkenntnisbild, das im Verstand ist, besser er­ kannt, weil es in höherem Maße von der Materie frei ist, als durch das Erkenntnisbild, das im Sinn ist und ähnlich wird etwas bes­ ser durch das Erkenntnisbild des Dinges erkannt, das im göttlichen Geist ist, als durch sein Wesen – selbst unter der Voraussetzung, daß das Wesen des Dinges ungeachtet seiner Materialität Medium der Erkenntnis sein kann. Zu 3.  Bei der Erkenntnis ist zweierlei ins Auge zu fassen, nämlich das Wesen der Erkenntnis, und dieses beruht auf dem Erkenntnis­ bild entsprechend der Relation, die es zum Verstand hat, in dem es sich befindet, und die Ausrichtung der Erkenntnis auf das Erkannte, und dies beruht auf der Relation des Erkenntnisbildes zum Ding selbst. Daher gilt: Je ähnlicher das Erkenntnisbild in seiner Darstel­ lung dem erkannten Ding ist, um so bestimmter ist die Erkenntnis, und je mehr es zur Materiefreiheit gelangt, welche das Wesen des

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Erkennenden als solchen ist, um so wirksamer bringt es das Erken­ nen zustande. Zu 4.  Es steht gegen den Begriff der Form eines natürlichen Din­ ges, daß sie von sich her materiefrei ist, es ist jedoch nicht sinnwid­ rig, daß durch etwas anderes Materiefreiheit er­ halten, , in dem sie sind, daher sind die Formen der natürlichen Dinge in unserem Verstand frei von Mate­ rie. Daher ist es sinnwidrig, von den Ideen der natürlichen Dinge zu behaupten, daß sie durch sich Bestand haben, es ist aber nicht sinn­ widrig, sie im göttlichen Geist zu setzen. Zu 5.  Die Ideen, die sich im göttlichen Geist befinden, sind weder entstanden noch lassen sie etwas entstehen, wenn man sich an die wörtliche Bedeutung hält; sie sind jedoch schöpferisch und bringen die Dinge hervor. Daher sagt Augustinus in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen: »Auch wenn sie selbst weder entstehen noch vergehen, kann man doch sagen, daß entsprechend ihnen alles ge­ formt wird, was entstehen und vergehen kann.«33 Es ist auch nicht notwendig, daß das erste Tätige im Hinblick auf die Zusammen­ setzung dem Hervorgebrachten ähnlich sei; dies ist allerdings beim unmittelbar Tätigen notwendig, und in diesem Sinne hat Platon34 behauptet, daß die Ideen Prinzip der Entstehung sind – gemeint ist das unmittelbare Prinzip. Dagegen wendet sich das zuvor genannte Argument. Zu 6.  Die Absicht des Dionysius liegt darin zu sagen, daß Gott nicht durch eine von den Dingen empfangene Idee erkennt oder auf die Weise, daß er die Dinge einzeln durch eine Idee erkennt; daher lautet an der Stelle eine andere Übersetzung: »noch senkt er sich durch die Schau in die einzelnen Dinge ein«35. Daher wird durch diese Aussage in keiner Weise ausgeschlossen, daß es Ideen gibt. 33  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71). 34  Vielleicht ist die These von der Gleichnamigkeit von Ding und Idee

gemeint: Aristoteles, Met. I, 9; 990 b 6–9. 35  Thomas bezieht sich auf die Übersetzung des Johannes Sarracenus, die er später – wie dies viele andere Kommentatoren auch getan haben – seinem Kommentar zugrunde gelegt hat: Dion. I, 398. Laut der Editio Leonina hat der Einwand die neue Übersetzung des Robert Grosseteste benutzt.

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1. Artikel

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Zu 7.  Obwohl es kein bestimmtes Verhältnis des Geschöpfes zum Schöpfer geben kann, so kann es doch Proportionalität geben, was in der vorgehenden Frage36 häufig erläutert worden ist. Zu 8.  Da Gott, weil er nicht nicht sein kann, keines Wesens be­ darf, das von seinem Sein verschieden ist, so gilt: Da er in seinem Erkennen und Tätigsein nicht mangelhaft sein kann, benötigt er kein anderes Maß als sich selbst. Nun kann er aber deswegen nicht mangelhaft sein, weil er selbst sein Maß ist, so wie er deswegen nicht nicht sein kann, weil sein Wesen sein Sein ist. Zu 9.  In Gott gibt es keine meßbare Quantität, so daß ihr ent­ sprechend Gleichheit angetroffen werden könnte, doch liegt in ihm eine Quantität in der Weise der intensiven Größe, wie man etwa Weißsein ›groß‹ nennt, weil es in vollkommener Weise seine Natur erreicht. Die Intension einer Form bezieht sich auf die Weise, diese Form zu haben. Obgleich aber auf gewisse Weise dasjenige, was zu Gott gehört, in die Geschöpfe fließt, so kann man doch in keiner Weise zugestehen, daß das Geschöpf irgend etwas in der Weise hätte, wie Gott es hat. Deshalb gilt: Obgleich wir in gewisser Hinsicht ein­ räumen, daß es eine Ähnlichkeit zwischen Geschöpf und Gott gibt, so gestehen wir in keinem Sinne zu, daß es hier Gleichheit gebe. Zu 10.  Wie demjenigen, der auf Anselms Worte achtet, ersicht­ lich ist, ist es seine Absicht37 zu sagen, daß im Wort kein Abbild ist, das von den Dingen herstammt, vielmehr stammen alle Formen der Dinge aus dem Wort, und deshalb sagt er, daß das Wort nicht das Abbild der Dinge ist, sondern die Dinge die Nach­ ahmungen des Wortes. Daher wird durch diese Aussage nicht die Idee bestritten, da die Idee diejenige Form ist, die von etwas nach­ geahmt wird. Zu 11.  Gott erkennt auf dieselbe Weise sich selbst und das andere, wenn die Art der Erkenntnis im Sinne des Erkennenden verstanden wird, nicht aber, wenn sie im Sinne der erkannten Sache verstanden wird, Das Geschöpf, das Gott erkennt, ist der Sache nach nicht dasselbe wie das Medium, durch das Gott erkennt, 36  De ver., q.  2, a.  3, ad 4 (S. 118) u. q.  2, a.  11 (S. 177). 37  Im Text der Leonina steht intensio (l. 357), es muß aber heißen: in­

tentio.

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vielmehr ist Gott selbst der Sache nach identisch mit dem Medium. Daher folgt daraus keinerlei Mannigfaltigkeit in seinem Wissen.

2. Artik el Die zweite Frage lautet: Besteht die Behauptung, daß es viele Ideen gibt, mit Notwendigkeit?38 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Dasjenige, was wesentlich von Gott ausgesagt wird, ist nicht weniger im wahrhaften Sinne in ihm als dasjenige, was von ihm bezogen auf eine Person ausgesagt wird. Nun schließt aber die Man­ nigfaltigkeit der personalen Eigentümlichkeiten die Mannigfaltig­ keit der Personen ein, aufgrund derer Gott dreieinig genannt wird. Wenn also die Ideen sich auf das Wesen beziehen, weil sie den drei Personen gemeinsam sind, dann gilt: Wenn es in Gott mehrere Ideen entsprechend der Mannigfaltigkeit der Dinge gibt, dann folgt, daß es nicht nur drei Personen in Gott gibt, sondern unendlich viele. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Die Ideen sind keine Wesensbestimmungen, weil sie das Wesen selbst sind. – Doch dem steht wiederum entgegen: Gutheit, Weisheit und Macht Gottes sind sein Wesen, und gleichwohl werden sie als Wesensattribute bezeich­ net. Also gilt: Auch wenn die Ideen das Wesen selbst sind, kann man sie doch ›wesensbezogen‹ nennen. 3. Was Gott zugeschrieben wird, muß ihm in der vorzüglich­ sten Weise zugeschrieben werden. Nun ist aber Gott das Prinzip der Dinge. Also muß in ihm alles gesetzt werden, was zur Voll­ kommenheit eines Prinzips in seiner höchsten Form gehört; nun ist freilich die Einheit von dieser Art, weil »jede geeinte Kraft in hö­ herem Maße unendlich als eine vervielfältigte Kraft ist«, wie es im Buch von den Ursachen 39 heißt. Daher ist in Gott die höchste Ein­ heit. Also ist er nicht nur einer in der Wirklichkeit, sondern auch im Denken, weil dasjenige in höherem Maße eines ist, was auf beide 38  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  2, a.  2; ScG I, 54; Quodl. IV, q.  1, a.  1 (ed. Leon. XXV/2, 326); Sum. theol. I, q.  15, a.  2; q.  44, a.  3; De pot., q.  3, a.  16, ad 12–14 [Übers. S. Grotz, S. 271 f.]. 39  Liber de causis, prop. 16; n. 138 (ed. A. Schönfeld, 34).

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2. Artikel

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Weisen eines ist, als was nur auf eine dieser beiden Weisen eines ist. Demzufolge sind in ihm nicht mehrere Begriffe bzw. Ideen. 4.  Aristoteles sagt im 5. Buch der Metaphysik, daß »dasjenige schlechthin eines ist, was weder durch den Verstand, noch durch die Zeit, noch durch den Ort, noch durch einen Gesichtspunkt ge­ schieden werden kann«40. Wenn also Gott in höchstem Maße eines ist, weil er im höchsten Maße seiend ist, können bei ihm nicht durch das Denken Unterschiede gemacht werden, und daher folgt dasselbe wie zuvor. 5.  Wenn es mehrere Ideen in Gott gibt, dann folgt daraus, daß sie ungleich sind, weil die eine Idee nur das Sein enthält, eine andere Sein und Leben, eine andere darüber hinaus das Erkennen. Dem­ entsprechend ist ein Ding, von dem es eine Idee gibt, in mehreren Hinsichten Gott ähnlich. Wenn es also sinnwidrig ist, in Gott eine Ungleichheit zu behaupten, scheint es, daß es in ihm nicht mehrere Ideen geben kann. 6.  Bei den Materieursachen kommt das Warum-Fragen bei der ersten Materie zum Stehen, und ähnlich bei den Wirk- und Zweck­ ursachen.41 Also kommt es auch innerhalb der Formursachen bei einer ersten Form zum Stehen. Nun kommt es aber zum Stehen bei einer Idee, denn, wie Augustinus in seinem Buch Über 83 verschie­ dene Fragen sagt, »die Ideen sind die ursprünglichen Formen bzw. Begriffe der Dinge.«42 Also gibt es in Gott nur eine Idee. 7.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Obwohl es eine erste Form gibt, so sagt man doch von den Ideen entsprechend den ver­ schiedenen Beziehungen dieser Form, daß sie viele sind. – Doch dem steht wiederum entgegen: Man kann nicht sagen, daß die Ideen ver­ vielfältigt werden entsprechend der jeweiligen Beziehung zu Gott, in dem sie sind und der einer ist, noch entsprechend der Beziehung auf das, was durch die Ideen bestimmt ist, und zwar sofern dies in 40  Aristoteles, Met. V, 6; 1016 b 1–3 [Übers. Th. A. Szlezák: »Über­ haupt sind die Dinge, bei denen der Denkvorgang, der das ›Was es war zu sein‹ erfaßt, unteilbar (ἀδιαίρετος, adihairetos) ist und (sie) nicht der Zeit oder dem Ort oder der Definition (Formel) nach trennen kann, in höch­ stem Maße Eines, und von diesen wiederum die Substanzen.«]. 41  Vgl. Aristoteles, Met. II, 2; 994 a 1–b 31. 42  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71).

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der ersten Ursache ist, weil sie in ihr eines sind, wie Dionysius43 sagt, und auch nicht aufgrund der Beziehung auf das, was durch die Ideen bestimmt ist, sofern sie in ihrer eigenen Natur Bestand haben, weil demzufolge die von Ideen bestimmten Dinge zeitlich sind, die Ideen hingegen ewig. Also kann man auf keine Weise durch die Beziehung der ersten Form von mehreren Ideen sprechen. 8.  Die Relation, die zwischen Gott und dem Geschöpf besteht, hat ihr Sein nicht in Gott, sondern im Geschöpf. Nun schließt aber eine Idee bzw. ein Urbild eine Relation Gottes zum Geschöpf ein. Also ist diese Relation nicht in Gott, sondern im Geschöpf. Wenn also die Idee in Gott ist, dann können die Ideen durch solche Beziehungen nicht vervielfältigt werden. 9.  Der Verstand, der auf vielfältige Weise erkennt, ist zusammen­ gesetzt und geht vom einen zu einem anderen über. Das liegt jedoch bei Gottes Verstand fern. Wenn also die Ideen die Begriffe der Dinge sind, durch die Gott erkennt, dann scheint es, daß es nicht mehrere Ideen in Gott gibt. Dagegen spricht: 1.  Dasselbe als dasselbe ist zu nichts anderem bestimmt, als das­ selbe zu bewirken. Nun macht aber Gott Vieles und Verschiedenes. Also verursacht er nicht aufgrund desselben Begriffs, sondern ent­ sprechend vieler Begriffe die Dinge. Doch die Begriffe, durch die die Dinge von Gott hervorgebracht werden, sind die Ideen. Also gibt es mehrere Ideen in Gott. 2.  Augustinus sagt in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen: »Es ergibt sich, daß alles durch einen Begriff geschaffen ist, aber nicht durch denselben Begriff der Mensch und das Pferd: Dies zu meinen, ist widersinnig; das Einzelne ist also durch spezifische Be­ griffe erschaffen.«44 Also gibt es mehrere Ideen. 3.  Augustinus sagt im Brief an Nebridius 45: So wie es sinnwid­ rig ist zu sagen, daß der Begriff des Winkels und des Quadrats der­ 43  Dionysius Areopagita, De div. nom. 5, 8 (PG 3, col. 824 C; Dion. I,

359). 44  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 72). 45  Augustinus, Ep. 14 (CCSL 31, 35).

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2. Artikel

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selbe ist, so ist es sinnwidrig zu sagen, daß in Gott sich derselbe Be­ griff auf den Menschen überhaupt und auf diesen Menschen bezieht. Also scheint es, daß es mehrere ideehafte Begriffe in Gott gibt. 4. Im Hebräerbrief, Kap. 11, heißt es: »Durch den Glauben erken­ nen wir, daß die Welten durch Gottes Wort gebildet wurden, so daß aus Unsichtbarem Sichtbares hervorgegangen ist.«46 ›Unsichtbares‹ nennt er im Plural die ideehaften Arten. Also sind es mehrere. 5.  Für die Ideen werden von den Kirchenvätern die Bezeichnun­ gen ›Kunst‹ und ›Welt‹ gebraucht, wie aus den angeführten Stel­ len hervorgeht. Nun beinhaltet aber ›Kunst‹ eine Mannigfaltigkeit, sie ist nämlich eine Sammlung von Anweisungen, die auf ein Ziel hin ausgerichtet sind. Ähnlich beinhaltet auch der Begriff ›Welt‹ , weil er die Gesamtheit aller Geschöpfe ein­ schließt. Also ist es notwendig, mehrere Ideen in Gott zu behaupten. Antwort: Manche Autoren47, die behauptet haben, daß Gott durch den Ver­ stand und nicht mit Naturnotwendigkeit wirkt, haben die Auffas­ sung vertreten, daß er nur eine Absicht hat, nämlich eine, die sich auf die Schöpfung insgesamt bezieht, die Unterscheidung der Ge­ schöpfe jedoch die Zweitursachen bewirkt haben. Sie behaupten nämlich, daß Gott zuerst ein Geistwesen geschaffen habe, welches dann drei hervorgebracht habe, nämlich die Seele, den Erdkreis und ein anderes Geistwesen, und in diesem Sinne fortfahrend sei die Mannigfaltigkeit der Geschöpfe aus einem ersten Prinzip hervorgegangen. Dieser Auffassung ent­ sprechend wäre in Gott zwar eine Idee, jedoch nur eine für die ganze Schöpfung insgesamt, die eigentümlichen Ideen der einzelnen We­ sen lägen in den Zweitursachen, wie auch Dionysius im 5. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen48 berichtet, daß ein gewis­ 46  Hebr. 11, 3. 47  Avicenna, Philos. prima IX, 4 (ed. S. Van Riet, 477); Thomas bezieht

sich mehrfach auf diese Theorie: Sent. IV, d. 5, q.  1, a.  3, qc. 3 arg. 1; ScG II, 42; Sum. theol. I, q.  45, a.  5. 48  Dionysius Areopagita, De div. nom. 5, 9 (PG 3, col. 824 D; Dion. I, 361); die Versuche, diesen Philosophen mit Clemens von Rom oder Cle­ mens von Alexandrien zu identifizieren, haben außer der Namensgleich­

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ser Philosoph namens Clemens behauptet hat, daß die grundlegen­ deren Dinge auch ihrerseits Urbilder der rangniederen Wesen sind. Dies läßt sich jedoch nicht aufrechterhalten, und zwar aus folgen­ dem Grund: Wenn sich die Absicht irgendeines Wirkenden nur auf Eines bezieht, wäre all das, was immer diesem in der Folge faktisch zukommt, außerhalb seiner Absicht und in dem Sinne wäre das zu­ fällig, was im Verhältnis zu dem hinzukommt, was wesentlich von ihm beabsichtigt gewesen ist. Wenn beispielsweise jemand die Ab­ sicht hätte, irgend etwas Dreieckiges zu bauen, läge es außerhalb sei­ ner Absicht, ob es groß oder klein ist; zu jedem Allgemeinen kommt nun aber etwas Spezifisches hinzu, das in ihm enthalten ist. Daher gilt: Wenn die Absicht des Wirkenden nur auf etwas Allgemeines geht, läge alles außerhalb seiner Absicht, durch welches Spezifische dieses Allgemeine bestimmt würde. Wenn es beispielsweise die Ab­ sicht der Natur wäre, nur ein Lebewesen zu erzeu­ gen, läge es außerhalb der Absicht der Natur, daß das Erzeugte ein Mensch oder ein Pferd ist. Daher gilt: Wenn die Absicht des tätigen Gottes sich nur auf das Geschöpf im Allgemeinen bezöge, geschähe alle Unterscheidung in der Schöpfung durch Zufall. Es ist freilich sinnwidrig zu sagen, daß etwas im Verhältnis zur ersten Ursache zufällig, im Verhältnis zu den Zweitursachen aber wesentlich ist, denn das, was wesentlich ist, ist grundlegender als das, was durch Zufall ist. Nun ist aber das Verhältnis von etwas zur ersten Ursache grundlegender als das zur Zweitursache, wie im Buch von den Ur­ sachen49 ersichtlich wird. Daher ist es unmöglich, daß etwas zufällig im Verhältnis zur ersten Ursache und wesentlich im Verhältnis zur Zweitursache ist. Das Umgekehrte kann hingegen sehr wohl der Fall sein, so wie wir sehen, daß das, was für uns zufällig ist, Gott vorher gewußt hat und von ihm seine Ordnung erhalten50 hat. Daher muß man notwendig in ihm spezifische Begriffe der Einzeldinge anset­ heit kaum etwas für sich. Der Vorschlag von B. R. Suchla (Pseudo-Diony­ sius Areopagita, Die Namen Gottes, S. 119), darin eine Anspielung auf den Clemens in Phil. 4, 3 zu sehen, scheint angesichts analoger Anspielungen bei Dionysius am überzeugendsten. 49  Liber de causis, prop. 1; n. 1 ff. (ed. A. Schönfeld, 2). 50  E. Stein übersetzt angeordnet, was sprachlich und sachlich durchaus möglich ist.

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2. Artikel

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zen, und deswegen ist es notwendig, in ihm eine Vielheit von Ideen anzusetzen. Die Art der Mannigfaltigkeit kann auf dieser Grundlage folgen­ dermaßen verstanden werden: Eine Form kann im Verstand in zwei­ facher Weise sein: Einmal in dem Sinne, daß sie das Prinzip des Er­ kenntnisaktes ist, also im Sinne der Form, die dem Erkennenden als Erkennendem angehört. Dies ist das Abbild des Verstandenen in ihm. Zum anderen in dem Sinne, daß sie der Endpunkt des Erkenntnis­ aktes ist, wie der Baumeister sich durch seine Verstandestätigkeit die Form eines Hauses ausdenkt; und da jene Form durch die Verstandes­ tätigkeit ausgedacht ist und gleichsam durch den Akt bewirkt wird, kann sie nicht das Prinzip des Erkenntnisaktes sein, so daß sie das erste ist, wodurch etwas erkannt wird, sondern verhält sich eher im Sinne eines Erkannten, wodurch das Erkennende etwas tut. Nichtsdestoweniger ist sie die zuvor ge­ nannte Form, entsprechend der erkannt wird, weil der Baumeister durch die ausgedachte Form erkennt, was zu tun ist. Wie wir auch beim theoretischen Verstand sehen, daß das Erkenntnisbild, durch das der Verstand seine Form empfängt, damit er wirklich erkennt, das erste ist, wodurch er erkennt, daraus freilich, daß er durch eine derartige Form zur Wirklichkeit gebracht worden ist, kann er schon tätig sein, und zwar durch das Formen der Wesensbestimmungen der Dinge und durch Zusprechen und Absprechen. Daher ist jene im Verstand gebildete Wesensbestimmung, sogar auch Zusprechen und Absprechen, irgendein durch ihn Erbrachtes, durch das der Verstand dennoch zur Erkenntnis des äußeren Dinges kommt, und daher hat ›Form‹ die Bedeutung: dasjenige, wodurch er erkennt. Wenn hingegen der Verstand des Künstlers irgendein Kunstge­ bilde nach dem Urbild seiner selbst hervorbrächte, dann wäre der Verstand eines Künstlers selbst die Idee, nicht sofern er Verstand, sondern sofern er Verstandenes ist. Bei dem jedoch, was durch Nach­ ahmung von etwas hervorgebracht wird, ist es so, daß manchmal das, was anderes nachahmt, dies vollkommen nachahmt, und dann hat der tätige und die Form des Werkes vorweg erfassende Verstand als Idee insofern die Form des nachgeahmten Dinges, als sie zum nach­ geahmten Ding gehört. Manchmal dagegen ahmt das, was als Nach­ ahmung von etwas anderem ist, jenes nicht vollkommen nach, und

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dann erfaßt der tätige Verstand die Form des nachgeahmten Dinges nicht für sich genommen als Idee oder Urbild der bewirkten Sache, sondern in einem bestimmten Verhältnis, entsprechend dem, wie das Abgebildete hinter dem ursprünglichen Urbild zurückgeblieben ist oder es nachgeahmt hat. Meine Behauptung ist also, daß Gott, der durch den Verstand al­ les hervorbringt, alles entsprechend einer Ähnlichkeit mit seinem Wesen hervorbringt; daher ist sein Wesen die Idee der Dinge, frei­ lich nicht als Wesen, sondern als erkanntes Wesen. Die geschaffenen Dinge ahmen das göttliche Wesen nicht vollkommen nach, daher wird das Wesen vom göttlichen Verstand nicht für sich genommen als Idee der Dinge aufgefaßt, sondern zusammen mit dem Verhältnis der zu bewirkenden Geschöpfe zum göttlichen Wesen selbst, sofern die Idee hinter diesem Wesen zurückbleibt oder es nachahmt. Die verschiedenen Dinge ahmen es in verschiedener Weise nach und ein jegliches entsprechend seiner eigentümlichen Seinsweise, weil jedem ein von anderem verschiedenes Sein zukommt. Deshalb ist das göttliche Wesen – zusammengedacht mit den je verschiedenen Verhältnissen der Dinge zu ihm – die Idee eines jeden Dinges. Daher gilt: Da es verschiedene Verhältnisse der Dinge zu ihm gibt, ist es notwendig, daß es mehrere Ideen gibt. Es gibt nämlich eine für alle im Hinblick auf das Wesen, doch die Vielheit findet sich im Hinblick auf die Verhältnisse der Geschöpfe zu ihm. Zu 1.  Die auf eine Person bezogenen Eigentümlichkeiten brin­ gen deshalb eine Unterscheidung der Personen in Gott mit sich, weil sie einander durch einen relativen Gegensatz entgegengesetzt sind, d­ aher erbringen die nicht entgegengesetzten Eigentümlichkei­ ten keinen Unterschied in den Personen, wie etwa die gemeinsame Hauchung und die Vaterschaft. Die Ideen und auch die anderen We­ sensattribute stehen hingegen nicht in einem Gegensatz zueinander, und daher liegt nicht derselbe Fall vor. Zu 2.  Es besteht keine Ähnlichkeit zwischen den Ideen und den Wesensattributen. Die Wesensattribute enthalten nämlich nichts in ihrem grundlegenden Begriff neben dem Wesen des Schöpfers, des­ halb werden sie auch nicht vervielfältigt, obgleich ihnen entspre­ chend Gott zu den Geschöpfen im Verhältnis steht; beispielsweise

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bewirkt er durch die Gutheit gute, durch die Weisheit weise . Doch die ›Idee‹ in ihrem grundlegenden Verständnis enthält etwas anderes neben der Wesenheit, nämlich das Verhältnis des Ge­ schöpfes zum Schöpfer, worin auch formell der Begriff der Idee sein abschließendes Moment hat. Aus diesem Grund spricht man von mehreren Ideen. Dessenungeachtet schließt der Umstand, daß sie zum Wesen gehören, nicht aus, daß sie ›wesensbestimmende Ideen‹ genannt werden. Zu 3.  Die Mannigfaltigkeit der Begriffe läßt sich manchmal auf eine Verschiedenheit der Dinge zurückführen, zum Beispiel unter­ scheiden sich Sokrates und der sitzende Sokrates dem Begriff nach, und dies hat seine Grundlage in der Verschiedenheit von Substanz und Akzidens: Ähnlich unterscheiden sich Mensch und Lebewesen und dieser Unterschied wird auf die Verschiedenheit von Form und Materie zurückgeführt, weil die Gattung von der Materie, die spe­ zifische Differenz hingegen von der Form genommen wird.51 Daher widerstreitet eine solche Unterscheidung im höchsten Maße der Ein­ heit bzw. der Einfachheit. Hingegen wird der Unterschied im Begriff mitunter nicht auf eine Verschiedenheit der Sache zurückgeführt, sondern auf die Wahrheit der Sache, die auf verschiedene Weise er­ faßbar ist; und in diesem Sinne behaupten wir eine Mannigfaltigkeit der Begriffe in Gott. Daher widerstreitet dies nicht der Einheit in ihrem höchsten Grad bzw. der Einfachheit. Zu 4.  Aristoteles nennt an dieser Stelle den Begriff ›Definition‹. In Gott kann man die vielen Begriffe nicht als Definitionen verste­ hen, weil keiner jener Begriffe das göttliche Wesen umfassend be­ greift.52 Daher geht das an der Frage vorbei. Zu 5.  Die Form, die im Verstand ist, hat einen doppelten Bezug, einen zu der Sache, deren Form sie ist, einen anderen zu dem, worin die Form ist. Aufgrund des ersten Bezuges nennt man sie nicht ›qua­ litativ bestimmt‹, sondern nur auf qualitativ Bestimmtes bezogen. Von Materiellem ist nämlich die Form nicht materiell und auch von Sinnlichem nicht sinnlich. Aber aufgrund des ande­ 51  Vgl. Aristoteles, Met. VIII, 2; 1043 a 5; VIII, 3; 1043 b 30; Avicenna, Philos. prima V, 5 (ed. S. Van Riet, 270). 52  Zu comprehendere vgl. De ver., q.  2, Anm.  35.

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ren Bezuges nennt man die Form ›qualitativ bestimmt‹, weil sie der Seinsweise desjenigen entspricht, in dem sie ist. Daher folgt daraus, daß gewisse von den Ideen bestimmte Dinge vollkommener als an­ dere das göttliche Wesen nachahmen, nicht, daß die Ideen ungleich sind, sondern , daß sie Ideen von ungleichen Dingen sind. Zu 6.  Die erste Form, auf die alle anderen zurückgeführt werden, ist das göttliche Wesen selbst, und zwar in sich betrachtet; aus des­ sen Betrachtung gewinnt der göttliche Verstand, um mich so auszu­ drücken, die verschiedenen Weisen der Nachahmung, in denen die Mannigfaltigkeit der Ideen besteht. Zu 7.  Die Ideen erhalten entsprechend den verschiedenen Bezie­ hungen zu den Dingen, die in ihrer eigenen Wesensnatur existieren, ihre Vielheit. Dennoch besteht keine Notwendigkeit, daß auch jene Beziehungen zeitlich sind, wenn die Dinge zeitlich sind, weil die Tä­ tigkeit des Verstandes, übrigens auch die des menschlichen, sich auf etwas auch dann erstreckt, wenn jenes nicht ist, wie dann, wenn wir Vergangenes erfassen. Die Relation folgt aus der Tätigkeit, wie es im 5. Buch der Metaphysik 53 heißt. Daher sind auch die Beziehungen zu den zeitlichen Dingen im göttlichen Verstand ewig. Zu 8.  Die Relation, die zwischen Gott und der Schöpfung besteht, ist in Gott nicht wirklich; vom unserem Verstand aus betrachtet ist sie gleichwohl in Gott. Ähnlich kann sie in ihm von seinem Ver­ stand aus betrachtet sein, in dem Sinne, wie er die Beziehungen der Dinge zu seinem Wesen erkennt, und in diesem Sinne sind jene Be­ ziehungen in Gott als von ihm verstandene. Zu 9.  Die Idee hat nicht den Charakter dessen, wodurch etwas zuerst erkannt wird, sondern hat den Charakter des Erkannten, das im Verstand existiert. Die Einförmigkeit des Verstandes folgt aus der Einheit dessen, durch das er zuerst etwas erkennt. In ähnlicher Weise hat etwa die Einheit der Tätigkeit ihren Grund in der Einheit der wirksamen Form, die ihr Prinzip ist. Daher gilt: Obwohl die Be­ ziehungen zu alldem, was von Gott erkannt wird, viele sind – worin die Mannigfaltigkeit der Ideen besteht –, ist sein Verstand, weil er alle jene dennoch durch sein Wesen erkennt, nicht vielfältig, son­ dern einer. 53  Aristoteles, Met. V, 17; 1020 b 28–30.

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3. Artikel

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3. Artik el Die dritte Frage lautet: Gehört die Idee zur theoretischen oder zur praktischen Erkenntnis?54 Es scheint, daß sie ausschließlich zur praktischen Erkenntnis gehört; denn: 1.  Augustinus sagt in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen: »Ideen sind die ursprünglichen Formen der Dinge, nach denen alles, was entsteht oder vergeht, geformt wird.«55 Nun wird aber aufgrund einer theoretischen Erkenntnis nichts geformt. Also hat eine theo­ retische Erkenntnis keine Idee. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Ideen haben nicht nur einen Bezug zu dem, was entsteht und vergeht, sondern auch zu dem, was entstehen und vergehen kann, wie Augustinus an derselben Stelle sagt. Demzufolge beziehen sich die Ideen auf das, was weder ist noch sein wird, noch gewesen ist, aber doch sein kann, und davon besitzt Gott eine theoretische Erkenntnis. – Doch dem steht wie­ derum entgegen: Ein praktisches Wissen heißt etwas, aufgrund des­ sen jemand um die Art eines Werkes weiß, auch wenn er gar nicht die Absicht hat, es zu verwirklichen. In diesem Sinne nennt man die praktische einen Teil der Medizin.56 Nun hat aber Gott ein Wissen von der Art des Wirkens bei dem, was er hervorbringen kann, obgleich er nicht die Absicht hat, es hervorzubringen. Also hat Gott auch von diesem ein praktisches Wissen, und demzufolge gehört in beiderlei Sinne die Idee zur praktischen Erkenntnis. 3.  Die Idee ist nichts anderes als eine urbildliche Form; nun kann aber etwas ›urbildliche Form‹ nur bei einer praktischen Erkenntnis genannt werden, weil das Urbild etwas ist, durch dessen Nachah­ mung etwas anderes wirklich wird. Also beziehen sich Ideen einzig auf die praktische Erkenntnis. 4.  Nach Aristoteles57 bezieht sich der praktische Verstand auf das­ jenige, dessen Ursprünge in uns sind. Nun sind aber die im Verstand 54  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  2, a.  3; Sum. theol. I, q.  15, a.  3. 55  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71); vgl. De ver., q.  3,

Anm.  42. 56  Vgl. Avicenna, Canon medicinae, I, fen. 1, doctr. 1, c.  1. 57  Aristoteles, Met. VI, 1; 1025 b 22–25.

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Gottes existierenden Ideen Prinzipien dessen, was durch diese Ideen bestimmt ist. Also gehören sie zum praktischen Verstand. 5.  Alle Formen des Verstandes sind entweder von den Dingen oder auf die Dinge . Diejenigen, die auf die Dinge sind, gehören zum praktischen Verstand, die von den Dingen sind, zum theore­ tischen. Nun sind aber keinerlei Formen des göttlichen Verstandes von den Dingen , weil er von den Dingen nichts aufnimmt. Also sind sie auf die Dinge , und demzu­ folge gehören sie zum praktischen Verstand. 6.  Wenn es eine Idee des praktischen Verstandes und eine andere des theoretischen Verstandes in Gott gäbe, könnte diese Verschie­ denheit nicht durch etwas Absolutes begründet sein, weil alles Der­ artige in Gott nur eines ist; und auch nicht im Hinblick auf die Iden­ tität, etwa wenn wir sagen: »dasselbe ist mit demselben dasselbe«,58 weil eine solche Relation keine Vielheit begründet, und auch nicht im Hinblick auf die Verschiedenheit, weil eine Ursache nicht schon deswegen mannigfaltig ist, weil ihre Wirkungen mannigfaltig sind. Also läßt sich die Idee der theoretischen Erkenntnis auf keine Weise von der Idee der praktischen Erkenntnis unterscheiden. 7.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Beide Ideen unterschei­ den sich darin, daß die praktische Idee Prinzip eines Seins, die theo­ retische Idee das Prinzip eines Erkennens ist. – Doch dem steht wie­ derum entgegen: Die Prinzipien des Seins und Erkennens sind die­ selben. Also läßt sich dadurch eine theoretische und eine praktische Idee nicht unterscheiden. 8.  Die theoretische Erkenntnis scheint in Gott nichts anderes zu sein als die einfache Erkenntnis59 seiner selbst. Nun kann aber eine einfache Erkenntnis nichts anderes neben dieser Erkenntnis be­ inhalten. Also gilt: Wenn die Idee eine Relation zu einem Ding hin­

58  Vgl. Aristoteles, Met. V, 9; 1018 a 9: »Wenn man sagt, ein Ding sei mit sich selbst identisch« [Übers. Th. A. Szlezák]. 59  Thomas verwendet in diesem referierten Argument den bei Augu­ stinus zentralen Begriff notitia; für eine andere Art der Erfassung als etwa cognitio scheint aber kein Indiz vorzuliegen.

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zufügt, scheint es, daß sie nicht zur theoretischen Erkenntnis, son­ dern lediglich zur praktischen gehört. 9.  Das Ziel des praktischen Wissens ist das Gute. Nun kann aber die Relation der Idee nur im Guten ihre Bestimmung haben, weil Schlechtes außerhalb der Absicht60 geschieht. Also bezieht sich die Idee ausschließlich auf den praktischen Verstand. Dagegen spricht: 1.  Die praktische Erkenntnis erstreckt sich nur auf das, was erst noch hervorzubringen ist. Nun weiß aber Gott durch die Ideen nicht nur das, was noch hervorzubringen ist, sondern das Gegen­ wärtige und das Hervorgebrachte. Also erstrecken sich die Ideen nicht nur auf die praktische Erkenntnis. 2.  Gott erkennt die Geschöpfe auf vollkommenere Weise als der Künstler die Kunstgebilde. Nun hat aber der geschöpfliche Handwer­ ker durch die Ideen, durch die er etwas ins Werk setzt, eine theore­ tische Erkenntnis vom Hervorgebrachten. Also gilt dies weit mehr auch für Gott. 3.  Eine theoretische Erkenntnis ist eine solche, welche die Prinzi­ pien und Ursachen61 der Dinge und deren Bestimmungen betrach­ tet. Nun erkennt aber Gott durch die Ideen alles, was in den Din­ gen überhaupt erkannt werden kann. Also gehören die Ideen in Gott nicht nur zur praktischen, sondern auch zur theoretischen Er­ kenntnis. Antwort: Wie es im 3. Buch der Schrift Über die Seele heißt, »unterscheidet sich der praktische Verstand vom theoretischen durch sein Ziel«62; das Ziel des theoretischen Verstandes ist die Wahrheit als solche, das 60  Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. 4, 2 (PG 3, col. 732 B; Dion. I, 304); dies ist auch Thomas’ eigene Auffassung: ScG III, 4. Wenn das Ge­ wollte in irgendeiner Weise erstrebenswert sein muss, weil es andernfalls keinen Grund, es zu wollen, gäbe, das Schlechte also nicht als solches ge­ wollt werden kann, dann geschieht dies »außerhalb der Absicht« und wird nicht für sich genommen gewollt. 61  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  255. 62  Aristoteles, De an. III, 10; 433 a 14–15.

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des praktischen Verstandes hingegen die Tätigkeit, wie es im 2. Buch der Metaphysik63 heißt. Eine Erkenntnis wird also ›praktisch‹ ge­ nannt mit Bezug auf ein Werk. Dies kann in zweifacher Weise der Fall sein: Mitunter wird sie nämlich wirklich auf ein Werk bezogen; beispielsweise faßt der Künstler die Absicht, eine schon vorher er­ faßte Form in die Materie einzuführen, und dann handelt es sich um eine wirkliche praktische Erkenntnis und um die Form einer Er­ kenntnis. Mitunter ist es hingegen eine Erkenntnis, die sich zwar auf eine Wirklichkeit ausrichten läßt, auf diese aber nicht wirklich aus­ gerichtet ist; beispielsweise, wenn der Künstler sich die Form ­eines Kunstgebildes ausdenkt und er auch ein Wissen von der Art der Ausführung hat und dennoch die Ausführung nicht beabsichtigt. In diesem Fall handelt es sich um ein praktisches Wissen im habituel­ len Sinne oder um ein Wissen als Fähigkeit, aber um kein wirklich vollzogenes Wissen. Wenn sich demgegenüber eine Erkenntnis in keiner Weise auf eine Tätigkeit ausrichten läßt, dann handelt es sich um eine rein theoretische Erkenntnis; was wiederum in zweifacher Weise vor­ kommt: einmal, wenn sich die Erkenntnis auf Dinge richtet, die ih­ rem Wesen nach nicht durch theoretisches Wissen hervorgebracht werden können; etwa: wenn wir natürliche Dinge erkennen. Mit­ unter ist hingegen das erkannte Ding zwar durch ein Wissen herzu­ stellen, doch es wird nicht unter dem Aspekt seiner Hervorbringung betrachtet: Ein Ding wird nämlich durch eine Tätigkeit ins Sein her­ vorgebracht. Es gibt nämlich solches, das im Verstand getrennt wer­ den kann, das in seinem Sein nicht trennbar ist.64 Wenn 63  Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 20–21: »Denn das Ziel der betrachten­ den (theoretischen) Wissenschaft ist die Wahrheit, der aufs Handeln ge­ richteten (der praktischen) das Werk« [Übers. Th. A. Szlezák]. 64  Vgl. Boethius, De hebd., 87–91, ed. H. F. Stewart  /  E. K. Rand  /  S. J. Tester, 44: Multa sunt quae cum separari actu non possunt, animo ta­ men et cognitione separantur; ut cum triangulum vel cetera a subiecta materia nullus actu separat, mente tamen segregans ipsum triangulum proprietatemque eius praeter materiam speculatur; ed. M. Elsässer, 38: »Vieles ist, das – obgleich es nicht in Wirklichkeit getrennt werden kann – dennoch im Bewußtsein und im Denken getrennt wird; obgleich z. B. niemand ein Dreieck oder das übrige (von der Art) in Wirklichkeit von

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also ein Ding durch den Verstand als herstellbar betrachtet wird, in dem er daran solches voneinander unterscheidet, was in seinem Sein nicht unterschieden werden kann, dann handelt es sich nicht um eine praktische Erkenntnis – weder als Verwirklichung noch als Habitus –, sondern ausschließlich um eine theoretische Erkenntnis. Ein Beispiel dafür ist, wenn der Baumeister ein Haus betrachtet und dabei seine Bestimmungen untersucht, seine Gattung und seine spe­ zifischen Unterschiede und anderes dieser Art, was alles in seinem Sein ungetrennt voneinander im Ding vorgefunden wird. Hingegen wird ein Ding dann unter dem Aspekt betrachtet, daß es sich her­ stellen läßt, wenn bei ihm alles betrachtet wird, was insgesamt für sein Dasein erforderlich ist. Das göttliche Erkennen verhält sich im Sinne dieser vier Weisen zu den Dingen. Das Wissen Gottes ist nämlich eines, das die Dinge hervorbringt. Manche Dinge erkennt Gott also, indem er die Ab­ sicht seines Willens darauf richtet, daß sie während einer gewissen Zeitspanne existieren, und davon hat er eine wirkliche praktische Erkenntnis; manche andere Dinge erkennt er hingegen, die er nie­ mals hervorzubringen beabsichtigt. Er weiß nämlich solches, was weder gewesen ist noch ist, noch sein wird, wie in der vorangegan­ gen Frage65 dargelegt worden ist. Davon besitzt Gott ein Wissen im wirklichen Vollzug, nicht jedoch wirklich vollzogen im praktischen Sinne, sondern nur in seiner Schöpferkraft liegend. Da er die Dinge, die er hervorbringt oder hervorbringen kann, nicht lediglich un­ ter dem Aspekt betrachtet, was sie in ihrem spezifischen Sein sind, sondern nach allen Gesichtspunkten, die der menschliche Verstand durch seine Zergliederung an ihnen erfassen kann, deshalb hat er von ihnen ein Wissen der Hervorbringung durch sich, auch in der Weise, in der er sie nicht hervorzubringen vermag. Er weiß näm­ lich auch manches, dessen Ursache nicht sein Wissen sein kann, wie der zugrundeliegenden Materie trennt, betrachtet er dennoch ein Dreieck und dessen Eigentümlichkeit außerhalb der Materie, indem er es im Geist absondert.« Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Ges. Werke IX, hg. v. W. Bonsiepen  /  R. Heede, Hamburg 1980, 27, 18–20: »Die Thätigkeit des Scheidens ist die Krafft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten, oder vielmehr der absoluten Macht.« 65  De ver. q.  2, a.  8 (S.  155–158).

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etwa das Schlechte. Daher behaupten wir, es gibt in Gott im wahr­ sten Sinne sowohl eine praktische wie auch eine theoretische Er­ kenntnis. Nun ist also ins Auge zu fassen, in welcher der angeführten Wei­ sen eine Idee in der göttlichen Erkenntnis behauptet werden kann. Eine ›Idee‹ wird also, wie Augustinus66 sagt, nach der eigentümli­ chen Wortbedeutung eine Form genannt, doch wenn wir auf die Sache blicken, so ist die Idee der Begriff bzw. das Urbild eines Din­ ges. Wir finden nämlich bei gewissen Formen eine zweifache Bezie­ hung67 vor, die eine zu dem, was durch sie geformt wird; in diesem Sinne bezieht sich das Wissen auf den Wissenden; eine andere Be­ ziehung auf das, was außerhalb liegt; in dem Sinne bezieht sich das Wissen auf das Wißbare. Diese zweite Beziehung ist nicht wie die erste allen Formen gemeinsam, diese Bezeichnung ›Form‹ beinhaltet nur den ersten Bezug; darin liegt auch begründet, daß ›Form‹ immer das Verhältnis von Ursächlichkeit bezeichnet. Die Form ist nämlich in gewisser Weise die Ursache dessen, was in Entsprechung zu ihr geformt wird, gleichgültig ob nun eine solche Formung im Sinne der Inhärenz wie bei den inneren Formen oder im Sinne der Nach­ ahmung wie bei den urbildlichen Formen geschieht. Nun enthalten aber ›Urbild‹ und ›Begriff‹ auch noch eine zweite Beziehung, aufgrund deren es ihnen nicht zukommt, das Verhältnis einer Ursache zu sein. Wenn wir also von der ›Form‹ im Sinne der eigentlichen Bedeutung der Bezeichnung reden, dann bezieht sie sich nur auf jenes Wissen, demgemäß etwas geformt werden kann. Dies ist eine verwirklichte praktische Erkenntnis oder nur eine dem Vermögen nach, was ebenfalls auf gewisse Weise eine theoretische Erkenntnis ist. Doch wenn wir ›Idee‹ im allgemeinen Sinne ein Ur­ bild bzw. einen Begriff nennen, so kann die Idee auch zur rein theo­ retischen Erkenntnis gehören. Oder noch eigentümlicher verstan­ 66  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71). 67  Respectus, habitudo, relatio sind verschiedene Ausdrücke für Re­

lationen. M. W. unterscheidet Thomas sie nirgends ausdrücklich. Es scheint aber, daß er den Terminus respectus vorwiegend für Verhältnisse gebraucht, die interne Relationen sind oder auch in einem Sich-Beziehen bestehen.

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den, sollten wir sagen, daß sich ›Idee‹ auf das praktische Wissen be­ zieht, entweder wirklich vollzogen oder im Sinne der Schöpferkraft, ›Urbild‹ und ›Begriff‹ sich aber sowohl auf die praktische wie auf die theoretische Erkenntnis beziehen. Zu 1.  Augustinus bezieht die Formung der Idee nicht nur auf das, was entsteht, sondern auch auf das, was entstehen kann. Von diesem gibt es, wie aus dem Dargelegten ersichtlich wird, wenn es niemals geschieht, eine in gewisser Weise theoretische Erkenntnis. Zu 2.  Dieses Argument geht von jener Erkenntnis aus, die, nur mit Bezug auf seine Schöpferkraft, nicht eine wirklich praktische ist. Bei einer solchen hindert nichts, in gewisser Weise ›theoretisch‹ genannt zu werden, sofern sie nämlich von einer wirklichen Her­ vorbringung zurücksteht. Zu 3.  Obgleich ›Urbild‹ eine Beziehung auf das, was außerhalb liegt, beinhaltet, enthält es dennoch zu diesem Äußeren das Verhältnis einer Ursache. Deshalb gehört es im eigent­ lichen Sinne zu der Erkenntnis, die praktisch im Sinne eines Habi­ tus oder der Schöpferkraft ist, weil etwas aufgrund dessen ›Urbild‹ genannt werden kann, daß etwas als dessen Nachahmung hervorge­ bracht sein kann, auch wenn es niemals wirklich geschieht. Ähnlich verhält es sich mit den Ideen. Zu 4.  Der praktische Verstand bezieht sich auf das, dessen Prinzi­ pien in uns liegen, nicht in beliebiger Weise, sondern sofern es durch uns herstellbar ist. Daher können wir auch von dem, dessen Ursa­ chen in uns sind, wie aus dem Dargelegten ersichtlich wird, eine theoretische Erkenntnis haben. Zu 5.  Der praktische und der theoretische Verstand unterschei­ den sich nicht dadurch, daß das Haben von Formen entweder den Dingen entnommen oder auf sie gerichtet ist. Dies deshalb, weil auch in uns der praktische Verstand Formen hat, die von den Dingen auf­ genommen worden sind, wie beispielsweise ein Künstler aus einem Kunstgebilde, das er einmal gesehen hat, eine Form bildet, nach der er zu wirken beabsichtigt. Daher ist es auch keineswegs unumgäng­ lich, daß alle Formen, die zum theoretischen Verstand gehören, von den Dingen aufgenommen worden sind.

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Zu 6.  Die praktische und die theoretische Idee in Gott unterschei­ den sich nicht im Sinne von zweierlei Ideen, sondern weil beim Be­ griff des Erkennens die praktische Idee zur theoretischen die Aus­ richtung auf die Tätigkeit hinzufügt; so wie ›Mensch‹ zu ›Lebewe­ sen‹ noch das ›vernünftig‹ hinzufügt und dennoch der Mensch und das Lebewesen nicht zwei Dinge sind. Zu 7.  Daß die Prinzipien des Seins und Erkennens dieselben sind, sagt man insofern, als das, welche auch immer die Prinzipien des Seins sind, auch Prinzipien des Erkennens sind, nicht jedoch umge­ kehrt, da die Wirkungen manchmal Prinzipien für die Erkenntnis der Ursachen sind. Daher hindert nichts, daß die Formen des theo­ retischen Verstandes ausschließlich Prinzipien des Erkennens sind, die Formen des praktischen Verstandes Prinzipien des Seins und des Erkennens sind. Zu 8.  Eine ›einfache Erkenntnis‹ nennt man etwas nicht deswe­ gen, um die Beziehung des Wissens auf das Gewußte auszuschlie­ ßen, die ja untrennbar mit jedem Wissen einhergeht, sondern um die Beimischung dessen, was außerhalb der Gattung des Wissens liegt – wie etwa die Existenz der Dinge – auszuschließen. Diese Beziehung fügt das Wissen im Sinne von Schau oder die Ausrich­ tung des Willens auf die gewußten und hervorzubringenden Dinge hinzu; so nennt man ja auch das Feuer einen ›einfachen Körper‹, nicht um wesentliche Teile, sondern um die Beimischung von nicht Dazugehörigem auszuschließen. Zu 9.  ›Wahr‹ und ›gut‹ umschließen sich gegenseitig, weil auch das Wahre etwas Gutes und alles Gute etwas Wahres ist. Daher kann auch das Gute in einer theoretischen Erkenntnis betrachtet werden, sofern ausschließlich dessen Wahrheit betrachtet wird – beispielsweise dann, wenn wir das Gute definieren und seine We­ sensnatur erklären. Man kann es aber auch praktisch betrachten, wenn es als Gutes betrachtet wird; dies ist nun aber dann der Fall, wenn es als Ziel der Bewegung bzw. der Tätigkeit betrachtet wird. Daraus wird ersichtlich, daß es nicht folgt, daß die Ideen oder auch Urbilder oder auch Begriffe des göttlichen Verstandes nur dadurch zur praktischen Erkenntnis gehören, daß ihr Bezug auf das Gute gerichtet ist.

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3. Artikel

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Auf das, was zugunsten der Gegenthese dagegen eingewandt wurde, ist zu antworten: Zu 1.  Bei Gott verlaufen die Zeiten nicht und laufen auch nicht ab, weil seine Ewigkeit, die das Ganze zugleich ist,68 die gesamte Zeit einschließt. Daher erkennt er auf dieselbe Weise das Gegenwärtige, das Vergangene und das Zukünftige; und dies ist es, was im Buch Jesus Sirach, Kap. 23, steht: »Dem Herrn, unserem Gott, ist alles be­ kannt, bevor es geschaffen wird, und so erkennt er auch nach Voll­ endung alles.«69 Demzufolge ist es keineswegs zwingend, daß die im eigentlichen Sinne verstandene Idee die Grenzen der praktischen Erkenntnis dadurch überschreitet, daß durch sie auch das Vergan­ gene erkannt wird. Zu 2.  Von der Erkenntnis, die der Künstler als Geschöpf durch die realisierbaren Formen von seinem Kunstgebilde hat, gilt: Wenn er es unter dem Aspekt erfaßt, daß es ins Sein hervorgebracht werden kann, obgleich er die Herstellung gar nicht beabsichtigt, handelt es sich nicht um eine vollständig theoretische Erkenntnis, sondern um eine praktische im habituellen Sinne. Die Erkenntnis des Künstlers, in der er die Kunstgebilde nicht insofern erkennt, als sie sich von ihm hervorbringen lassen, ist eine rein theoretische Erkenntnis, sie verfügt über keine ihr entsprechende Idee, sondern allenfalls über Begriffe bzw. Urbilder. Zu 3.  Dem praktischen und dem theoretischen Wissen ist dies, daß es aufgrund von Prinzipien und Ursachen besteht, gemeinsam. Daher kann man mit diesem Argument bei einem Wissen weder beweisen, daß es theoretisch, noch, daß es praktisch ist.

68  Anspielung auf die Definition der Ewigkeit bei Boethius, Philos. consol. V, pr. 6 (CCSL 94, 101): »Ewigkeit also ist der vollständige und vollendete Besitz unbegrenzbaren Lebens« [Übers. O. Gigon]. 69  Jes. Sir. 23, 29. Das Kapitel 23 endet in den gängigen Ausgaben mit dem Vers 28; die Vulgata hat einen Text bis v. 38, was wohl mit den unter­ schiedlichen Fassungen des hebräischen Textes, seiner griechischen Über­ setzung durch den Enkel Jesus ben Sirachs und den späteren Hinzufügun­ gen zusammenhängt.

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4. Artik el Die vierte Frage lautet: Gibt es in Gott eine Idee vom Schlechten?70 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Gott hat ein Wissen im Sinne einer einfachen Erkenntnis des Schlechten. Die Idee entspricht in gewisser Weise dem Wissen als einfacher Erkenntnis, sofern sie im weiten Sinne als Urbild bzw. Be­ griff verstanden wird. Also gibt es vom Schlechten eine Idee in Gott. 2.  Nichts hindert, daß sich etwas Schlechtes in einem Guten be­ findet, das nicht im Gegensatz zu ihm steht. Das Urbild des Schlech­ ten steht nicht im Gegensatz zum Guten, wie auch nicht das Er­ kenntnisbild des Schwarzen zu dem des Weißen, weil die Arten der Gegenteile in der Seele nicht entgegengesetzt sind.71 Daher hindert nichts, daß in Gott, obgleich er das höchste Gute ist, eine Idee bzw. ein Urbild des Schlechten zu behaupten. 3.  Wo immer es etwas Gemeinsames gibt, da gibt es auch Ähn­ lichkeit. Doch angesichts des Umstandes, daß etwas auch nur in einem Mangel an Sein besteht, ist es für die Aussage des Seins zugänglich; daher heißt es im 4. Buch der Metaphysik 72, daß die Negationen und Privationen ›Seiendes‹ genannt werden. Also gibt es vom Schlechten deswegen, weil es ein Mangel des Guten73 ist, eine Art Urbild in Gott, der das höchste Gute ist. 4.  Von allem, was durch sich selbst erkannt wird, gibt es eine Idee in Gott. Nun wird aber das Falsche durch sich erkannt wie ja auch das Wahre. So wie die ersten Prinzipien durch sich selbst in ihrer Wahrheit erkannt sind,74 so sind die ihnen entgegengesetzten 70  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  2, a.  3, ad 1; Sum. theol. I, q.  15, a.  3, ad 1. 71  Vgl. Aristoteles, Met. VII, 6; 1032 b 2; Thomas von Aquin, De ver.,

q.  26, a.  3, ad 6 etc. 72  Aristoteles, Met. IV, 1; 1003 b 7–8; 9–10: »Daher sagen wir auch vom Nichtseienden, daß es das Nichtseiende ›ist‹.« [Übers. Th. A. Szlezák]. 73  Vgl. Augustinus, Enchiridion 3, 11 (CCSL 46, 53). 74  Anal. post. I, 3; 72 b 23–25: In den Auctoritates Aristotelis wird das in der lateinischen Übersetzung aufgenommen: Principia cognoscimus in quantum terminos cognoscimus; die Editorin gibt die Stelle unter Hin­ zufügung von »vgl.« an, in der deutschen Übersetzung von W. Detel wird das Zitat auch nicht wiedererkennbar; vgl. De ver., q.  1, Anm.  13.

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4. Artikel

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Prinzipien durch sich in ihrer Falschheit erkannt. Also gibt es vom Falschen eine Idee in Gott; das Falsche ist nun aber eine Art des Schlechten, so wie ja auch das Wahre das Gute des Verstandes ist, wie es im 6. Buch der Nikomachischen Ethik 75 heißt. Also gibt es vom Schlechten eine Idee in Gott. 5.  Von all dem, was irgendeine Wesensnatur hat, gibt es eine Idee in Gott. Nun setzt auch das Laster, da es das Gegenteil der Tugend ist, in der Gattung der Qualität eine Art Natur. Also gibt es davon eine Idee in Gott. Nun ist es aber etwas dadurch, daß es ein Laster ist, etwas Schlechtes. Also gibt es vom Schlechten eine Idee in Gott. 6.  Wenn es vom Schlechten keine Idee gibt, dann ausschließlich deswegen, weil das Schlechte kein Seiendes ist. Nun können sich aber Erkenntnisbilder auf Nichtseiendes beziehen. Nichts hindert nämlich, sich goldene Berge oder eine Chimäre vorzustellen. Also hindert auch nichts, daß es in Gott eine Idee des Schlechten gibt. 7.  Bei den bezeichneten Dingen heißt kein Zeichen zu haben, et­ was Bezeichnetes zu sein, wie dies bei den Schafen ersichtlich ist, die ein Brandzeichen erhalten. Nun ist aber die Idee eine Art Zeichen dessen, was durch die Idee bestimmt ist. Also gibt es aus dem Grund, daß es von den guten Dingen eine Idee in Gott gibt, vom Schlechten keine Idee. Deshalb muß man von ihm sagen, daß es etwas von einer Idee oder von einer Form Bestimmtes ist. 8.  Was immer von Gott ist, von dem gibt es auch eine Idee in Gott. Ein Schlechtes wird nun aber von Gott hervorgebracht – nämlich das Schlechte einer Strafe.76 Also gibt es vom Schlechten eine Idee in Gott. 75  Aristoteles, Eth. Nic. VI, 1; 1139 a 27: »Beim theoretischen Denken, das weder auf Handeln noch auf Herstellen ausgerichtet ist, bestehen ›gut‹ und ›schlecht‹ im Wahren und Falschen, denn darin besteht die Funktion jedes Denkvermögens« [Übers. D. Frede]. Das Wahre als das Gute des Ver­ standes zu bezeichnen hat nicht nur bei Thomas die Form eines Adagiums angenommen. 76  Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, d. 3,7 c.  2 (ed. Coll. S. Bon. I, 546 f.); in den Kommentaren wird die Triftigkeit dieser Unterteilung des Schlech­ ten in das Schlechte der Sünde und das Schlechte der Strafe immer wieder diskutiert; bei Thomas v. Aquin: Sent. II, d. 35, a.  1; De malo, q.  1, a.  4; Sum. theol. I, q.  48, a.  5.

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Dagegen spricht: 1. Alles von einer Idee Bestimmte hat ein durch die Idee be­ stimmtes Sein. Nun hat aber das Schlechte kein bestimmtes Sein, weil es kein Sein hat, sondern ein Mangel an Sein ist. Also gibt es vom Schlechten keine Idee in Gott. 2.  Nach Dionysius77 ist die Idee bzw. das Urbild eine dem gött­ lichen Willen vorgängige Bestimmung. Nun bezieht sich aber der Wille Gottes auf nichts anderes als auf das Gute. Also gibt es vom Schlechten keine Idee in Gott. 3.  Nach Augustinus78 ist das Schlechte ein Mangel an Form, Maß und Ordnung. Nun hat aber Platon79 die Ideen ›Artformen‹ genannt. Also kann es vom Schlechten keine Idee geben. Antwort: ›Idee‹ beinhaltet, wie aus dem schon Dargelegten80 ersichtlich ist, entsprechend ihrem eigentümlichen Begriff eine Form, die das Prin­ zip der Formung eines Dinges ist. Daher gilt: Nichts, was in Gott ist, kann ein Prinzip des Schlechten sein, daher kann es keine Idee des Schlechten in Gott geben – wenn man ›Idee‹ im eigentlichen Sinne versteht. Dies kann man aber auch dann nicht behaupten, wenn ›Idee‹ im allgemeinen Sinne als Begriff bzw. Urbild verstanden wird, weil nach Augustinus81 etwas insofern ›schlecht‹ genannt wird, als es keine Form hat. Daher gilt: Da ›Urbild‹ im Sinne der Form, an der auf irgendeine Weise eine Teilhabe statthat, verstanden wird, kann es nicht sein, daß es vom Schlechten irgendein Urbild in Gott gibt. Denn etwas wird insofern ›schlecht‹ genannt, als seine Teilhabe am Göttlichen vermindert ist. Zu 1.  Das Wissen im Sinne einer einfachen Erkenntnis bezieht sich nicht nur auf Schlechtes, sondern auch auf bestimmtes Gutes, 77  Dionysius Areopagita, De div. nom. 5, 8 (PG 3, 824 C; Dion. I, 360). 78  Augustinus, De natura boni, c.  4 (CSEL 25/2, 857). 79  Aristoteles, Met. I, 6; 987 b 8; species entspricht doch wohl eidos

(ἰδέα, idéa); Augustinus, De div. qu. 83; q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71); vgl. De ver., q.  3, Anm.  22. 80  Vgl. De ver., q.  3, a.  3 (S. 242). 81  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  301.

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das weder ist noch gewesen ist, noch sein wird. Mit Bezug auf all dieses wird eine Idee im Wissen im Sinne einer einfachen Erkennt­ nis behauptet, nicht hingegen mit Bezug auf das Schlechte. Zu 2.  Es wird dies, daß es eine Idee vom Schlechten in Gott gibt, nicht nur aufgrund eines Gegenteils geleug­ net, sondern weil es selbst keine Wesensnatur besitzt, durch die es auf irgendeine Weise an etwas Anteil hätte, was in Gott ist, weswe­ gen dann ein Urbild von ihm angenommen werden könnte. Zu 3. Jene Gemeinsamkeit, durch die etwas gemeinsam vom Seienden und vom Nichtseienden ausgesagt würde, besteht nur im Denken, weil Negationen und Privationen lediglich Gedankendinge sind; eine solche Gemeinsamkeit ist nun aber nicht hinreichend für ein Urbild, von dem jetzt die Rede ist. Zu 4.  Daß das Prinzip: »Kein Ganzes ist größer als ein Teil da­ von«, falsch ist, ist etwas Wahres. Daher heißt erkennen, daß dies falsch ist, etwas Wahres zu erkennen. Die Falschheit jenes Prinzips nämlich wird nur durch den Mangel an Wahrheit erkannt, so wie beispielsweise die Blindheit durch den Mangel an Sehkraft. Zu 5.  Wie die schlechten Handlungen im Hinblick darauf, was sie an Sein haben, gut und von Gott sind, so verhält es sich auch bei den Habitus, die sich auf deren Prinzipien oder auf deren Wirkungen be­ ziehen. Daher gilt: Auf Grund dessen, daß sie schlecht sind, setzen sie keine Wesensnatur, sondern nur einen Mangel. Zu 6.  ›Nichtseiend‹ nennt man etwas in zweifachem Sinne: in ei­ nem Sinne, sofern das Nichtsein in seine Definition fällt; beispiels­ weise wird die Blindheit ›nichtseiend‹ genannt, und ein solches Nichtseiendes kann weder im Verstand noch in der Vorstellungs­ kraft durch eine Form erfaßt werden. Von dieser Art des Nichtseins ist das Schlechte. In einem anderen Sinne, , sofern der Mangel an Sein nicht in seiner Definition ent­ halten ist; in diesem Sinne hindert nichts, solches, das Nichtseiendes ist, vorzustellen und dessen Form zu erfassen. Zu 7.  Da es vom Schlechten keine Idee in Gott gibt, erkennt es Gott durch die Idee des diesem entgegengesetzten Guten. In diesem Sinne verhält es sich zur Erkenntnis, als gäbe es davon eine Idee, freilich nicht so, daß der Mangel der Idee ihm anstelle einer Idee entspricht, weil es in Gott keine Privation geben kann.

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Zu 8.  Das Schlechte im Sinne von Strafe geht aus Gott unter dem Gesichtspunkt der Ordnung der Gerechtigkeit hervor, und in diesem Sinne ist es gut und gibt es auch eine Idee davon in Gott.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Gibt es in Gott eine Idee von der ersten Materie?82 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Die Idee ist nach Augustinus83 eine Form. Die erste Materie weist nun aber keinerlei Form auf.84 Also entspricht ihr in Gott keine Idee. 2.  Die Materie ist nur im Sinne des Möglichseins seiend.85 Wenn also die Idee dem durch sie Bestimmten entsprechen muß, : Wenn es eine Idee von ihr gibt, ist es notwendig, daß ihre Idee auch nur der Möglichkeit nach ist. Nun gibt es aber in Gott keine Möglichkeit. Also gibt es von der ersten Materie keine Idee in Gott. 3.  Ideen gibt es in Gott von dem, was entweder ist oder sein kann. Die erste Materie existiert nun aber nicht für sich getrennt, noch wäre dies bei ihr möglich. Also gibt es von ihr keine Idee in Gott. 4.  Eine Idee ist , damit etwas ihr entsprechend geformt werden kann. Die erste Materie kann nun aber niemals so geformt werden, daß eine Form zu ihrem Wesen gehört. Wenn es also eine Idee von ihr gäbe, wäre jene Idee in Gott sinnlos. Das ist widersinnig. Dagegen spricht: 1.  Von allem, das durch Gott ins Sein hervorgeht, gibt es in ihm eine Idee; für die Materie trifft dies zu. Also gibt es von ihr eine Idee in Gott. 82  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  2, a.  3, ad 2; Sum. theol. I, q.  15, a.  3, ad 3; De pot. q.  3, a.  1, ad 13 [Übers. S. Grotz, 109]. 83  Augustinus, De div. quaest. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71). 84  Vgl. Aristoteles, Met. VII, 3; 1029 a 20–21: »Mit ›Materie‹ meine ich das, was an sich weder als Etwas noch als So-und-so-Großes noch als sonst etwas von dem, wodurch das Seiende bestimmt ist, bezeichnet wird« [Übers. Th. A. Szlezák]. 85  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  145.

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5. Artikel

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2.  Jedes Wesen hat im göttlichen Wesen seinen Ursprung. Also gilt: Was immer irgendein Wesen hat, von dem gibt es eine Idee in Gott. Nun ist aber die Materie von dieser Art; also usw. Antwort: Platon, der allem Anschein nach als erster86 von Ideen gesprochen hat, hat von der ersten Materie keine Idee angenommen, weil er die Ideen als Ursachen des von der Idee Bestimmten angesetzt hat. Die erste Materie war nun aber nach seiner Auffassung nichts, was die Idee bewirkt hat, sondern deren Mitursache.87 Er hat nämlich bezüg­ lich der Materie zwei Prinzipien behauptet, nämlich das Große und das Kleine, bezüglich der Form hingegen ein Prinzip, nämlich die Idee.88 Wir89 hingegen behaupten, daß die Materie von Gott hervor­ gebracht worden ist. Daher ist es notwendig zu behaupten, daß es 86  Vgl. Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 1 (CCSL 44 A, 70). 87  Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, d. 1, c.  1 (ed. Coll. S. Bon., I, 330);

hier wird Strabon namentlich genannt, der aber seinerseits auf dem Tima­ ios-Kommentar von Calcidius fußt. Es ist in beiden Fällen von drei initia, Anfängen, die Rede: Gott, Urbild und Materie bzw. Wald. Platon selbst unterscheidet im Phaidon erstmals zwischen Ursachen und Bedingungen: Phaid.  99 a–b; und nennt jene die »wahren Ursachen«, Phaid. 98 d. Die la­ teinische Übersetzung des Dialoges, die Henricus Aristippus vor 1156 an­ gefertigt hat, kennt Thomas nicht. 88  Vgl. Aristoteles, Phys. I, 4; 187 a 16–19: »[…] deren Klassen bilden das Zuviel und das Zuwenig, ganz ähnlich wie Platon vom Großen und vom Kleinen spricht, nur daß Platon dieses Gegensatzpaar als Stoff und das Eine als die (formgebende) Idee nimmt«; Met. I, 6; 987 b 5–9: Platon sei durch Sokrates’ Ausrichtung auf das Allgemeine zu der Annahme ge­ kommen, »daß das Definieren sich auf andere Dinge richte und nicht auf die wahrnehmbaren, auf Grund folgender Überlegung: es sei unmöglich, daß die allgemeine Definition eines der wahrnehmbaren Dinge betreffe, da diese sich ja stets veränderten. Diese anderen Dinge bezeichnete er als ›Ideen‹, die wahrnehmbaren Dinge ›existierten‹ neben (d. h. getrennt von) diesen und würden alle nach ihnen benannt.« 89  Gemeint ist die Lehre des Christentums: Augustinus, Conf. XII, 7, 7 (CCSL 27, 220): »Du allein ›warst‹ und sonst war Nichts. Und hieraus hast Du ›Himmel und Erde‹ erschaffen, ein Zweifaches, nahe Dir das eine, das andere nah dem Nichts, das eine, das über sich nur Dich, das andere, das unter sich nur das Nichts haben sollte« [Übers. J. Bernhart]; Dionysius

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von ihr in gewisser Weise eine Idee in Gott gibt, da all das, was auch immer von ihm hervorgebracht wird, eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm enthält. Allerdings: Wenn wir im eigentlichen Sinne von ›Idee‹ sprechen, kann man nicht behaupten, daß es von der ersten Mate­ rie für sich genommen eine Idee in Gott gebe, die von der Form des Ganzen verschieden wäre, weil eine Idee im eigentlichen Sinne sich insofern auf ein Ding bezieht, als es ins Sein hervorgebracht werden kann; die Materie kann nun aber nicht ohne Form ins Sein hervor­ gehen und umgekehrt.90 Daher gilt: Im eigentlichen Sinne entspricht die Idee weder der Materie allein noch der Form allein, vielmehr entspricht die Idee, die das Ganze sowohl hinsichtlich der Form wie auch hinsichtlich der Materie hervorbringt, dem zusammen­ gefügten Ganzen. Wenn wir hingegen ›Idee‹ im weiten Sinne als Urbild bzw. Begriff verstehen, dann können jene für sich eine ge­ sonderte Idee haben, die gesondert gedacht werden, auch wenn sie nicht ­eigenständig existieren können. Daher hindert nichts, daß es von der ersten Materie auch für sich eine Idee gibt. Zu 1.  Ungeachtet dessen, daß die erste Materie ohne Form ist, liegt in ihr gleichwohl eine Nachahmung der ersten Form. Ein wie schwaches Sein sie auch immer haben mag, dieses ist trotzdem eine Nachahmung des ersten Seins, und aufgrund dessen kann es davon ein Urbild in Gott geben. Zu 2.  Die Idee und das durch sie Bestimmte müssen einander nicht ähnlich sein im Sinne der gemeinsamen Form der Wesens­ natur, sondern nur im Sinne von Darstellung . Daher gibt es auch von den zusammengefügten Dingen eine ein­ fache Idee und ähnlich von dem in Möglichkeit Seienden ein idee­ haftes Urbild in der Wirklichkeit. Areopagita, De div. nom. 4, 28; Thomas von Aquin, Sum. theol. I, q.  44, a.  2, s. c. 90  An der Korrelation hat Thomas durchweg festgehalten: Anders als für die franziskanischen Autoren, für die der Materie ein eigenständiges Sein zukommen muß, damit sie als möglicher Inhalt eines Schöpfungs­ aktes gedacht werden kann, ist für Thomas Materie nur als Ko-Prinzip zu denken. Als Individuationsprinzip wäre sie ohne Form als Prinzip der gemeinsamen Art gegenstandslos.

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6. Artikel

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Zu 3.  Obwohl die erste Materie nicht für sich existieren kann, kann sie doch für sich betrachtet werden, und in diesem Sinne kann es von ihr als solcher ein Urbild geben. Zu 4.  Das Argument geht von der wirklich gedachten oder der Kraft nach91 praktischen Idee aus, die sich in der Weise auf das Ding bezieht, daß es ins Sein hervorgebracht werden kann. Eine Idee die­ ser Art kommt der ersten Materie nicht zu. Auf das, was zugunsten der Gegenthese eingewandt wurde, ist zu antworten: Zu 1.  Die Materie geht von Gott nur innerhalb eines Zusammengefügten hervor, und in diesem Sinne ent­ spricht ihr eine Idee im eigentlichen Sinne. Zu 2.  Die Materie im eigentlichen Sinne hat kein Wesen, sondern ist Teil des Wesens eines Ganzen.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Gibt es in Gott Ideen von dem, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist?92 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Es gibt von dem keine Idee, das nicht ein bestimmtes Sein hat. Jenes aber, das weder war noch ist, noch sein wird, hat in keiner Weise ein bestimmtes Sein, also gibt es davon auch keine Idee. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Obgleich es kein be­ stimmtes Sein in sich selbst hat, so hat es doch ein bestimmtes Sein in Gott. – Doch dem steht wiederum entgegen: Etwas ist aufgrund dessen als etwas bestimmt, daß das eine von einem anderen unter­ schieden ist. Alles aber, sofern es in Gott ist, ist eines und vonein­ ander nicht unterschieden. Also hat es auch in Gott kein bestimm­ tes Sein.

91  Vgl. die Unterscheidung im corp. art. 92  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  15, a.  3, ad 2; De ver., q.  2, a.  8, ad 3

(ed. Leon. XXII, 70); vgl. S. 158).

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3. Dionysius93 sagt, daß die urbildlichen Formen göttliche und ehrwürdige Willensinhalte sind, welche die Dinge vorherbestim­ men und bewirken. Doch dasjenige, was weder war noch ist noch sein wird, ist niemals durch den göttlichen Willen vorherbestimmt gewesen. Also gibt es davon keine Idee bzw. keine urbildliche Form in Gott. 4.  Die Idee ist auf die Hervorbringung eines Dinges ausgerichtet. Wenn sie also eine Idee dessen wäre, was niemals ins Sein hervor­ gebracht wird, dann scheint, daß sie vergeblich ist, was ganz wider­ sinnig ist; also usw. Dagegen spricht: 1.  Gott hat seine Erkenntnis von den Dingen durch die Ideen. Er erkennt jedoch das, was weder ist noch sein wird, noch ge­ wesen ist, wie oben in der Untersuchung Über das Wissen Gottes94 gesagt wurde. Also gibt es in ihm auch eine Idee von dem, was weder ist noch sein wird, noch gewesen ist. 2.  Eine Ursache ist nicht von ihrer Wirkung abhängig. Eine Idee ist nun aber die Ursache für das Sein eines Dinges. Also hängt sie nicht in irgendeiner Weise vom Sein des Dinges ab und kann sich also auch auf das beziehen, was weder ist noch sein wird, noch ge­ wesen ist. Antwort: Die Idee im eigentlichen Sinne bezieht sich auf die praktische Erkenntnis nicht nur im Sinne von wirklich vollzogener, sondern auch im Sinne von bloß habitueller Erkenntnis.95 Daher gilt: Gott hat von dem, was erschaffen werden könnte, obgleich dies doch nie­ mals stattgefunden hat, noch stattfinden wird, eine in seiner Schöp­ ferkraft liegende praktische Erkenntnis. Daher ergibt sich: Die Idee kann sich auch auf das beziehen, was weder ist noch gewesen ist, noch sein wird, jedoch nicht auf dieselbe Weise, wie sie sich auf das bezieht, was ist oder sein wird oder gewesen ist. Der Grund ist fol­ 93  Dionysius Areopagita, De div. nom. 5, 8 (PG 3, 824 C; Dion. I, 360). 94  De ver., q.  2, a.  8 (S. 156 f.). 95  Vgl. De ver., q.  3, a.  3 (S. 240).

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7. Artikel

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gender: Zu dem, was ist oder sein wird oder gewesen ist, sind die Wesen durch die Absicht des göttlichen Willens bestimmt, nicht je­ doch zu dem, was weder ist noch sein wird, noch gewesen ist. Dem­ zufolge gibt es von diesen gewissermaßen unbestimmte Ideen. Zu 1.  Obwohl dasjenige, was weder gewesen ist noch ist, noch sein wird, kein bestimmtes Sein in sich hat, ist es dennoch in wohl­ bestimmter Weise in der Erkenntnis Gottes enthalten. Zu 2.  Das eine ist es, in Gott zu sein, und etwas anderes ist es, in der Erkenntnis Gottes zu sein. Das Schlechte ist nicht in Gott, aber es ist doch im Wissen Gottes.96 Von etwas wird insofern gesagt, daß es im Wissen Gottes ist, als es von Gott erkannt wird. Da Gott alles jeweils in seiner Bestimmtheit erkennt, wie in der voraufgehenden Untersuchung97 gesagt worden ist, deshalb sind die Dinge in seinem Wissen auf eine je bestimmte Weise, obgleich sie in ihm eins sind. Zu 3.  Obgleich Gott niemals diejenigen Dinge in das Sein hervorbringen wollte, von denen er eine Idee hat, so will er dennoch diese hervorbringen können und ein Wissen von ihrer Hervorbrin­ gung haben. Daher sagt auch Dionysius nicht, daß zum Begriff des Urbildes ein vorwegbestimmender und bewirkender Wille, sondern ein Wille, der bestimmen und hervorbringen kann, erforderlich ist. Zu 4.  Jene Ideen werden von der göttlichen Erkenntnis nicht dar­ auf bezogen, daß ihnen gemäß etwas hervorgebracht wird, sondern darauf, daß ihnen gemäß etwas hervorgebracht werden kann.

7. Artik el Die siebte Frage lautet: Gibt es in Gott eine Idee von Akzidentien?98 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Eine Idee ist dazu da, ein Ding zu erkennen und zu verursa­ chen. Ein Akzidens wird nun aber durch die Substanz erkannt und 96  Vgl. De ver., q.  2, a.  15 (S. 211 ff.). 97  Vgl. De ver., q.  2, a.  4 (S. 126 ff.). 98  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  2, a.  3, ad 4; Sum. theol. I, q.  15, a.  3,

ad 4.

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liegt in deren Prinzipien begründet. Also besteht keine Notwendig­ keit, daß es von einem Akzidens eine Idee in Gott gibt. 2. Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Ein Akzidens wird durch die Substanz im Sinne der Erkenntnis, daß es ist, erkannt, nicht aber im Sinne der Erkenntnis, was es ist. – Doch dem steht wie­ derum entgegen: Die Definition eines Dinges bezeichnet das Wasetwas-ist und in höchstem Maße durch die Gattung. In den Definitionen von Akzidentien wird die Substanz ge­ setzt, wie es im 7. Buch der Metaphysik99 heißt, und das Zugrunde­ liegende, so daß das Zugrundeliegende anstelle der Gattung gesetzt wird, wie Averroes100 zu dieser Stelle sagt, so daß, wenn man sagt ›krummnasig‹, eine gekrümmte Nase gemeint ist. Also gilt auch im Hinblick auf die Erkenntnis: Welches Akzidens es ist, wird durch die Substanz erkannt. 3.  Alles, von dem es eine Idee gibt, hat an dieser teil. Die Akzi­ dentien haben jedoch an nichts teil, weil das Teilhaben nur Sache der Substanzen, die etwas aufnehmen können, ist. Also gibt es von jenen keine Idee. 4.  Bei all dem, was in grundlegender und abgeleiteter Bedeutung ausgesagt wird, kann man nach der Lehrmeinung Platons, wie sie aus dem 3. Buch der Metaphysik101 und dem 1. Buch der Nikomachi­ schen Ethik102 ersichtlich wird, keine gemeinsame Idee annehmen wie bei den Zahlen und den Figuren. Dies deshalb, weil das Erste gleichsam die Idee des zweiten ist; nun wird aber ›seiend‹ von der Substanz in grundlegender und vom Akzidens und in abgeleiteter Bedeutung ausgesagt. Also gibt es von einem Akzidens keine Idee, vielmehr hat die Substanz für das Akzidens die Stelle der Idee inne. Dagegen spricht: 1.  Von allem, was von Gott verursacht ist, gibt es in ihm eine Idee. Nun ist aber Gott nicht nur Ursache der Substanzen, sondern auch der Akzidentien. Also gibt es in Gott eine Idee von den Akzidentien. 99  Aristoteles, Met. VII, 5; 1030 b 16–20. 100  Averroes, In Met. VII, comm. 18 (VIII, 167 E). 101  Aristoteles, Met. III, 3; 999 a 6–13. 102  Aristoteles, Eth. Nic. I, 4; 1096 a 17–19.

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7. Artikel

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2.  Alles, das irgendeiner Gattung zugehört, muß auf das erste in dieser Gattung zurückgeführt werden; beispielsweise alles Warme auf die Wärme des Feuers.103 Nun sind aber »die Ideen ursprüngliche Formen«, wie Augustinus im Buch Über 83 verschiedene Fragen104 sagt. Wenn also Akzidentien eine Art Formen sind, gibt es von ih­ nen eine Idee in Gott. Antwort: Platon, der als erster105 Ideen eingeführt hat, hat keine Ideen von Akzidentien behauptet, sondern nur von Substanzen, wie aus Ari­ stoteles im 1. Buch der Metaphysik106 ersichtlich ist: Platons Argu­ ment lag darin, daß er von den Ideen behauptet hat, sie seien die unmittelbaren Ursachen der Dinge, daher hat er von dem, dem er  – neben den Ideen – zugeschrieben hat, eine unmittelbare Ursache zu sein, nicht behauptet, eine Idee zu haben. Darin liegt begründet, daß er von demjenigen, was im Sinne von grundlegender oder ab­ geleiteter Bedeutung ausgesagt wird, behauptet hat, es gebe keine gemeinsame Idee,107 sondern das erste sei die Idee des späteren. Diese Lehrmeinung streift Dionysius im 5. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen108, wo er sie einem gewissen Philosophen Cle­ mens zuschreibt, der behauptet hat, die höheren Wesen im Reich des Seienden seien die Urbilder der niederen. Aus diesem Grund, da das Akzidens nämlich unmittelbar von der Substanz verursacht wird, hat Platon von den Akzidentien keine Ideen behauptet. Doch da wir behaupten, Gott sei die unmittelbare Ursache für jedes Ding,109 wes­ wegen er in allen Zweitursachen wirksam ist, und daß alle Wirkun­ gen einer Zweitursache aus seiner vorgängigen Bestimmung hervor­ gehen, deshalb behaupten wir in ihm nicht nur Ideen der erstran­ 103  Vgl. Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 25–26; vgl. De ver., q.  2, Anm.  111. 104  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71). 105  Vgl. De ver., q.  3, Anm.  86. 106  Aristoteles, Met. I, 14 u. 15; 990 b 27 u. 991 b 6. 107  Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 4; 1096 a 17–19. 108  Dionysius Areopagita, De div. nom. 5, 9 (PG 3, 824 D; Dion. I, 361);

vgl. De ver., q.  3, Anm.  48. 109  Gott allein ist Schöpfer: Sent. II, d. 1, q.  1, a.  3; ScG II, 20–21; Sum. theol. I, q.  45, a.  5; zum »wir« vgl. De ver., q.  3, Anm.  89.

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gigen Dinge, sondern auch der nachrangigen, und in diesem Sinne der Substanzen und der Akzidentien, jedoch der verschiedenen Ak­ zidentien auf verschiedene Weise. Manche Akzidentien sind eigentümliche, nämlich durch die Prin­ zipien des Trägers verursachte, die niemals in ihrem Sein von ih­ ren Trägern getrennt werden, und solche Akzidentien werden durch eine wirksame Tätigkeit zusammen mit dem Träger ins Sein hervor­ gebracht. Daher gilt: Wenn die Idee im eigentlichen Sinne die Form eines Dinges als solchen, das sich hervorbringen läßt, ist, gibt es von solchen Akzidentien keine eigenen Ideen, vielmehr gibt es vom Träger zusammen mit allen seinen Akzidentien eine Idee, wie etwa der Baumeister von einem Haus eine Idee hat und von allem, was dem Haus als solchem zukommt, und durch diese Idee bringt er das Haus mit allen seinen Akzidentien zugleich ins Sein hervor; zu die­ sen Akzidentien gehört seine Viereckigkeit und anderes dieser Art. Gewisse Akzidentien sind hingegen solche, die nicht untrennbar im Träger ihre Grundlage haben und auch nicht von seinen Prinzi­ pien abhängen, und solche werden durch eine andere Wirksamkeit neben der bewirkenden Tätigkeit, durch die der Träger hervorge­ bracht wird, ins Sein hervorgebracht; beispielsweise folgt allein dar­ aus, daß der Mensch zum Menschen wird, nicht, daß er zum Sprach­ kundigen wird, sondern dies geschieht durch eine andere Tätigkeit. Von solchen Akzidentien gibt es in Gott eine Idee, die unterschieden ist von der Idee des Trägers, vergleichbar damit, wenn ein Maler sich das Format eines Bildes von einem Haus getrennt von der Gestalt des Hauses selbst ausdenkt. Doch wenn wir ›Idee‹ im weiten Sinne von Urbild bzw. Begriff verstehen, haben in diesem Sinne Akzidentien von beiderlei Art eine eigenständige Idee in Gott, weil sie für sich getrennt betrachtet wer­ den können. Daher sagt auch Aristoteles im 1. Buch der Metaphy­ sik110, daß es wie von den Substanzen auch von den Akzidentien im Hinblick auf den Begriff des Wissens eine Idee geben müsse, doch in Beziehung auf den anderen Grund, weswegen Platon behauptet hat, es gäbe Ideen, damit es nämlich Ursachen des Werdens und des

110  Aristoteles, Met. I, 14; 990 b 23 ff.

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8. Artikel

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Seins gebe, scheinen die Ideen sich nur auf die Substanzen zu be­ ziehen. Zu 1.  In Gott gibt es, wie schon gesagt, nicht nur eine Idee der erstrangigen Wirkungen, sondern auch der nachrangigen Wirkun­ gen. Daher gilt: Obgleich die Akzidentien durch ihre jeweilige Sub­ stanz ein Sein haben, schließt dies doch nicht aus, daß es von ihnen Ideen gibt. Zu 2.  ›Akzidens‹ kann in zweifacher Weise verstanden werden: einmal in einem abstrakten Sinne, und so wird es in seinem eigen­ tümlichen Begriff betrachtet, und in diesem Sinne geben wir bei Akzidentien Gattung und Art an. In diesem Sinne ist in der Defini­ tion des Akzidens der Träger nicht als Gattungsbestimmung gesetzt, sondern als Differenz, wie wenn man sagt, ›Krummnasigkeit‹ ist die Krümmung der Nase. In einem anderen Sinne können Akzidentien im konkreten Sinne gebraucht werden und werden so verstanden, daß sie im akzidentellen Sinne eins mit dem Träger sind. In diesem Sinne wird bei ihnen weder Gattung noch Art angegeben, und in diesem Sinne ist wahr, daß der Träger als Gattung in der Definition des Akzidens gesetzt wird. Zu 3.  Obgleich das Akzidens nicht das Teilhabende ist, ist es doch die Teilhabe selbst. Daraus wird ersichtlich, daß ihm in Gott eben­ falls eine Idee bzw. Urbild entspricht. Zu 4.  Die Antwort wird aus dem Gesagten ersichtlich.

8. Artik el Die achte Frage lautet: Gibt es in Gott eine Idee von den Einzel­ dingen?111 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Einzeldinge sind der Möglichkeit nach unendlich viele. Doch ist in Gott nicht nur eine Idee von dem, was wirklich ist, son­ dern auch von dem, was sein kann. Wenn es also von den Einzel­ dingen in Gott eine Idee gäbe, gäbe es in ihm unendlich 111  Paralleltexte: Sent. I, d. 36, q.  2, a.  3, ad 3; Sum. theol. I, q.  15, a.  3,

ad 4.

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viele Ideen, was aber widersinnig erscheint, da es kein aktual Un­ endliches geben kann. 2.  Wenn es von den Einzeldingen eine Idee in Gott gibt, dann ist diese Idee entweder mit der der Art identisch oder jeweils eine andere: Wenn eine von der Art unterschiedene, dann gibt es von einem Ding viele Ideen, weil es neben der Idee der Art auch noch eine individuelle Idee gibt; wenn es hingegen ein und dieselbe Idee ist, weil in einer Idee der Art alle Einzeldinge, die von dersel­ ben Art sind, übereinkommen, dann gibt es von allen Einzeldingen überhaupt nur eine Idee, und so gibt es von den Einzeldingen keine jeweilige Idee in Gott. 3.  Viele der Einzeldinge kommen durch Zufall zustande. Solches ist aber nicht vorweg bestimmt. Da zur Idee eine vorgängige Be­ stimmung gehört, wie aus dem zuvor Dargelegten112 ersichtlich wird, scheint es also, daß es nicht von allen Einzeldingen eine Idee in Gott gibt. 4.  Manche Einzeldinge sind eine Mischung aus zweierlei Arten, wie etwa das Maultier aus Esel und Pferd. Wenn es also von solchen Einzeldingen eine Idee gibt, dann scheint es, daß einem jeden von ihnen eine doppelte Idee entspricht. Dies erscheint absurd, weil es sinnwidrig ist, in der Ursache Mannigfaltigkeit und in der Wirkung Einheit zu setzen. Dagegen spricht: 1.  Ideen sind in Gott um der Erkenntnis und der Tätigkeit willen. Nun ist Gott ein Wesen, das die Einzeldinge erkennt und bewirkt. Also gibt es in ihm Ideen von diesen. 2.  Die Ideen beziehen sich auf das Sein der Dinge. Die Einzeldinge haben nun aber im wahreren Sinne ein Sein als das Allgemeine, da die allgemeinen Bestimmungen nur in den Einzeldingen Bestand haben. Also muß es von den Einzeldingen aus triftigeren Gründen Ideen geben als von den allgemeinen Bestimmungen.

112  De ver., q.  3, a.  1 (S. 221 f.).

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8. Artikel

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Antwort: Platon hat nicht von den Einzeldingen, sondern nur von den Arten Ideen behauptet.113 Hierfür gab es einen doppelten Grund: Der eine war der, daß nach ihm die Ideen nicht Erzeuger der Materie, sondern in diesen unteren Regionen nur der Formen waren, die Materie aber das Prinzip der Einzelheit ist; aufgrund der Form wird nun aber je­ des Einzelne einer Art zugeordnet. Deshalb entspricht die Idee nicht dem Einzelnen als Einzelnem, sondern entspricht ihm nur im Hin­ blick auf die Art. Der andere Grund konnte sein, daß es eine Idee nur von dem gibt, was an sich beabsichtigt ist, wie aus dem Dargeleg­ ten114 ersichtlich wird; die Absicht der Natur geht in erster Linie auf die Erhaltung der Art, daher gilt: Obgleich eine Zeugung bei diesem Menschen zum Abschluß kommt, ist es dennoch die Absicht der Na­ tur, daß ein Mensch gezeugt wird. Deshalb sagt auch Aristoteles im 19. Buch Über die Tierkunde115, daß bei den akzidentellen Bestim­ mungen der Arten Zweckursachen anzugeben sind, nicht aber in den akzidentellen Bestimmungen der Einzeldinge, vielmehr bei die­ sen nur Form- und Stoffursachen. Deshalb entspricht die Idee nicht dem Einzelding, sondern der Art. Aus demselben Grund hat Platon auch keine Idee der Gattung behauptet, weil die Absicht der Natur nicht auf die Hervorbringung der Gattungsform, sondern nur auf die der Artform zielt. Wir116 hingegen behaupten, Gott sei Ursache des Einzelnen sowohl im Hinblick auf die Form wie auch im Hin­ blick auf die Materie. Wir behaupten ebenfalls, daß durch die gött­ liche Vorsehung alle Einzeldinge bestimmt werden, und deshalb ist es notwendig, daß wir auch von den Einzeldingen Ideen behaupten.

113  Vgl. Aristoteles, Met. I, 10; 987 a 29; das Problem des späten Platon, wovon es denn Ideen gebe, betrifft noch nicht die Einzeldinge. 114  De ver., q.  3, a.  1 (S. 222). 115  Aristoteles, De gen. animal. V, 1; 778 a 30–34. In der arabisch-la­ teinischen Übersetzung des Michael Scotus werden drei der zoologischen Schriften des Aristoteles unter dem hier angeführten Titel zusammenge­ nommen und die Bücher von 1 bis 19 durchgezählt. 116  Gemeint ist wiederum die christliche Lehre: Einzelprovidenz; kein Sperling fällt zur Erde ohne den Willen Gottes, und jedes Haar ist gezählt (Mt. 10, 20–31).

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Zu 1.  Die Ideen werden ausschließlich dadurch zu vielen, daß ver­ schiedene Beziehungen zu den Dingen vorliegen. Nun ist es aber nicht sinnwidrig, daß gedachte Relationen ins Unendliche verviel­ fältigt werden, wie Avicenna117 sagt. Zu 2.  Wenn wir von der spezifischen Idee sprechen, wie sie sich auf ein Ding in der Weise bezieht, in der dieses Ding in das Sein her­ vorgebracht werden kann, dann entspricht auf diese Weise eine Idee einem Einzelding, einer Art und einer Gattung, individualisiert in einem Einzelding, und zwar deswegen, weil Sokrates, Mensch und Lebewesen nicht in ihrem Sein unterschieden sind. Wenn wir aber ›Idee‹ in allgemeiner Weise im Sinne von Urbild bzw. Begriff ver­ stehen, so gilt, daß die Betrachtung des Sokrates, sofern er Sokrates ist und sofern er Mensch ist und sofern er ein Lebewesen ist, eine unterschiedliche ist, und in diesem Sinne entsprechen ihm mehrere Ideen bzw. Urbilder. Zu 3.  Obgleich etwas durch Zufall im Hinblick auf das unmit­ telbar Wirkende ist, so ist doch nichts durch Zufall im Hinblick auf dasjenige Wirkende, das alles vorher erkennt. Zu 4.  Das Maultier weist eine mittlere Art zwischen Esel und Pferd auf. Daher kommt es nicht in zwei Arten vor, sondern nur in einer, die durch die Vermischung der Samen hervorgebracht wird, insofern die hervorbringende Kraft des Männchens die Materie des Weibchens wegen der Fremdheit der Materie nicht zum Endpunkt der eigentümlichen vollkommenen Art führen kann, sondern zu etwas führt, was seiner Art nahe ist. Deshalb wird aus demselben Grund eine Idee dem Maultier und dem Pferd zugesprochen.

117  Avicenna, Philos. prima III, 10 (ed. S. Van Riet, S. 182).

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IV. ÜBER DAS WORT

Die hier behandelten Fragen lauten: 1.  Wird ›Wort‹ von Gott im eigentlichen Sinne ausgesagt? 2.  Wird ›Wort‹ von Gott bezogen auf das Wesen oder ausschließ­ lich bezogen auf eine Person ausgesagt? 3.  Kommt ›Wort‹ dem Heiligen Geist zu? 4.  Spricht der Vater das Geschöpf durch das Wort aus, durch das er sich selbst ausspricht? 5.  Beinhaltet die Bezeichnung ›Wort‹ eine Beziehung zum Ge­ schöpf? 6.  Sind die Dinge in wahrhafterem Sinne im Wort als in sich selbst? 7.  Bezieht sich das Wort auf das, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist? 8.  Ist alles, was geschaffen ist, im Wort Leben?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Wird ›Wort‹ von Gott im eigentlichen Sinne ausgesagt?1 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Es gibt nämlich ein zweifaches Wort, ein inneres und ein ­äußeres: das äußere kann von Gott nicht im eigentlichen Sinne aus­ gesagt werden, weil es körperlich und vergänglich ist; gleicherma­ ßen auch das innere Wort nicht, von dem Johannes von Damaskus im Sinne einer Definition im 2. Buch sagt: »Eine innerlich bereit­ liegende Rede ist eine Bewegung der Seele, die beim Fassen eines Gedankens ohne jede Äußerung entsteht«2. In Gott läßt sich aber 1  Paralleltext: Sent. I, d. 27, q.  2, a.  1. 2  Johannes v. Damaskus, De fide orth. II, 21 (PG 94, col. 940 B; ed. E.

M. Buytaert, 131). Diesen Text, der etwa um die Mitte des 8. Jhs. in Jeru­ salem entstanden ist und den dritten Teil eines umfassenderen dreiteili­

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weder eine Bewegung noch eine Überlegung behaupten, die durch eine Denkbewegung zur Vollendung käme. Also scheint es, daß ›Wort‹ in keiner von beiden Bedeutungen im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt wird. 2.  Augustinus beweist im 15. Buch seines Werkes Über die Drei­ einigkeit3, daß das Wort etwas ist, das zum Geist selbst gehört, und zwar damit, daß ihm auch ein Mund zugesprochen wird, wie aus dem Matthäusevangelium, Kap. 15, hervorgeht: »Was aus dem Mund hervorgeht, das macht den Menschen unrein.«4 Daß dies be­ zogen auf den Mund des Herzens zu verstehen ist, zeigt sich an dem, was folgt: »Was aber aus dem Mund hervorgeht, geht aus dem Herzen hervor.«5 Von ›Mund‹ ist aber bei geistigen Dingen nur im übertragenen Sinne die Rede; also auch von ›Wort‹. 3. Vom Wort 6 wird dies, daß es ein Mittleres zwischen Schöp­ fer und Schöpfung ist, dadurch gezeigt, daß es im Johannesevan­ gelium, Kap. 1, heißt: »Alles ist durch es geschaffen«7; eben daraus beweist Augustinus8, daß das Wort kein Geschöpf ist. Also kann mit derselben Begründung bewiesen werden, daß das Wort nicht der Schöpfer ist. Also ist mit ›Wort‹ nichts gesetzt, was in Gott ist. 4.  Ein Mittleres9 ist von den Grenzpunkten im gleichen Maße entfernt. Wenn also das Wort ein Mittleres ist zwischen dem sich aussprechenden Vater und der Schöpfung, die ausgesprochen wird, gen Werkes bildet, hat Burgundio von Pisa, der auch Aristoteles-Werke, griechische Patristik (Johannes Chrysostomus, Nemesius v. Emesa) und Galen-Abhandlungen übersetzt hat, schon um die Mitte des 12. Jahrhun­ derts vollständig ins Lateinische übertragen; Petrus Lombardus hat diesen Text deshalb schon in seinen ›Sententiae‹ benutzen können. 3  Augustinus, De trin. XV, 10, 18 (CCSL 50 A, 48). 4  Mt. 15, 11. 5  Mt. 15, 18. 6  Wenn vom göttlichen Wort die Rede ist, ist der Ausdruck wie in der Leonina in Kapitälchen gesetzt; wenn aber vom Ausdruck dafür als sol­ chem die Rede ist, dann steht dieser in einfachen Anführungszeichen. 7  Joh. 1, 3. 8  Augustinus, In Ioh. ev. tract. I, 11 u. 12 (CCSL 36, 6 f.). 9  Von einem ›Mittleren‹ ist in diesem Argument in einem doppelten Sinne die Rede: als Vermittelndes, weil »durch es« alles geschaffen ist, und als Mitte zwischen zwei Endpunkten.

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1. Artikel

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ist es unvermeidlich, daß sich das Wort seinem Wesen nach vom Vater unterscheidet, da es sich von seinem Wesen her auch von den Geschöpfen unterscheidet. In Gott ist nun aber nichts, was seinem Wesen nach voneinander unterschieden wäre. Also wird ›Wort‹ nicht im eigentlichen Sinne in Gott gesetzt. 5.  Was immer dem Sohn nur insofern zukommt, als er Mensch geworden ist, dies wird, wie das Menschsein oder das Umhergehen10 oder etwas dieser Art, nicht im eigentlichen Sinne von Gott11 aus­ gesagt; der Begriff des ›Wortes‹ kommt nun aber dem Sohn nur insofern zu, als er Mensch geworden ist, weil diese Bedeutung von ›Wort‹ darin liegt, daß es den Sprechenden offenbart. Der Sohn zeigt nun aber den Vater nur insofern, als er Fleisch geworden ist, wie auch unser Wort unseren Verstand nur insofern offenkundig macht, als es mit einem Laut verbunden ist. Also wird ›Wort‹ nicht im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt. 6.  Wenn ›Wort‹ im eigentlichen Sinne in Gott wäre, wäre es das­ selbe Wort, das von Ewigkeit her beim Vater war und das der Zeit nach Fleisch geworden ist – so wie wir sagen, daß es derselbe Sohn ist. Doch läßt sich dies, wie es scheint, nicht sagen, weil das Fleisch gewordene Wort dem ausgesprochenen Wort entspricht, das Wort, das beim Vater ist, hingegen dem Wort des Geistes, wie aus Augu­ stinus12, im 15. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit, ersicht­ lich wird: Das mit einem Laut ausgesprochene Wort ist dasselbe wie das, was sich im Herzen befindet. Also scheint es nicht der Fall zu sein, daß das Wort, von dem gesagt wird, daß es von Ewigkeit her beim Vater gewesen ist, im eigentlichen Sinne zur göttlichen We­ sensnatur gehört. 7.  Je nachrangiger eine Wirkung auftritt, um so mehr hat sie den Charakter eines Zeichens – so wie der Wein die Zweckursache des 10  Im NT wird vom Gehen Jesu gesprochen etwa in Mt. 4, 18; 14, 25–26. 11  Wie schon im Titel des Artikel verwendet Thomas die ganz allge­

meine Ausdrucksweise divinis. Man kann vermuten, daß er einen allge­ meinen Ausdruck deshalb verwendet, weil die Zuordnung zum Wesen oder zu einer Person ja erst geklärt werden soll. Eine wörtliche Überset­ zung (»im Göttlichen«) hat aber im Deutschen nicht in Frage kommende Konnotationen und eine Umschreibung geriete unnötig umständlich. 12  Augustinus, De trin. XV, 11, 20 (CCSL 50 A, 486).

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Fasses und noch nachrangiger des Faßringes ist, der aufgehängt wird, um ein Weinfaß anzuzeigen. Daher hat der Ring in höchstem Maße den Charakter des Zeichens.13 Das Wort, das im Laut ist, ist nun aber die letzte Wirkung, die vom Verstand hervorgeht. Also kommt ihm in höherem Maße der Charakter des Zeichens zu als der Begriffs­ formung des Geistes und ähnlich auch dem Begriff des Wortes, des­ sen Bedeutung sich vom Offenbarmachen ableitet. Alles aber, was grundlegender in körperlichen Dingen als in geistigen Dingen ist, wird nicht im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt. Also wird von ihm ›Wort‹ nicht im eigentlichen Sinne ausgesagt. 8.  Jeder Ausdruck bezeichnet insbesondere das, wovon er sich ab­ leitet. Der Ausdruck ›Wort‹ wurde entweder von der Erschütterung der Luft oder von Rufen abgeleitet, demgemäß das Wort nichts an­ deres ist als das, was das Wahre ruft.14 Also ist dieses dasjenige, was in erster Linie mit dem Ausdruck ›Wort‹ bezeichnet wird. Doch dies kommt Gott allenfalls im übertragenen Sinne zu. Also wird ›Wort‹ nicht im eigentlichen Sinne in Gott ausgesagt. 9.  Das Wort eines Sprechers scheint im Sprecher das Urbild des Dinges, das ausgesprochen wird, zu sein. Doch der Vater, der sich selbst erkennt, erkennt sich nicht durch ein Bild, sondern durch sein 13  Ein Beispiel, das in den scholastischen Texten für die Unterschei­ dung verschiedener Arten von Zeichen verwendet wird: neben Belegen aus dem 12. Jh. sei mit der Editio Leonina verwiesen auf: Albertus Mag­ nus, De sacram., tr. 1, q, 2 (ed. Col. XXVI, 4); Bonaventura, Sent. IV, d.  1, p.  1, a.  un., q, 2, ad 3 (Opera omnia IV, 15 a); aber etwa auch: Martinus von Dacien, De modis significandi, pr. II, 8 (CPhDMA II, 6 f.); Meister Eckhart, Sermo n. 446 (LW IV, 372); Wilhelm von Ockham, Sum. log. I, 1 (OPh I, 9). 14  Die Herleitung des lat. Wortes für Wort (verbum) von der Lufter­ schütterung (verberatio aeris) stammt von Priscianus, Inst. gram. VIII, De verbo 1, 1 (ed. H. Keil, 369); die Herleitung von Schreien (boare) von Augustinus (?), Principia dialecticae, c.  6 (PL 32, col. 1412); Thomas führt auch aus einem Dionysius-Kommentaror einen völlig anderen Zusam­ menhang an, Sent. I, d. 8, q.  1, a.  3, arg. 2 (ed. P. Mandonnet, I, 199): dicitur enim bonum a boare, quod est vocare [»Das Wort bonum (gut) kommt von boare, was rufen heißt«, R. S.]. Überreiches Material zu den Etymolo­ gien bei Thomas: F. Manthey, Die Sprachphilosophie des hl. Thomas von Aquin und ihre Anwendung auf Probleme der Theologie, Paderborn 1937, 91 ff. [nicht alle Belegstellen aus authentischen Werken!].

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Wesen. Also scheint es, daß er dadurch, daß er etwas erfaßt, kein Wort hervorbringt. Doch »›Sprechen‹ bedeutet mit Bezug auf den höchsten Geist nichts anderes als im Denken zu schauen«, wie An­ selm15 sagt. Also wird ›Wort‹ nicht im eigentlichen Sinne von Gott16 ausgesagt. 10.  Alles, was von Gott im Hinblick auf eine Ähnlichkeit im Ge­ schöpf ausgesagt wird, wird von ihm nicht im eigentlichen, sondern im übertragenen Sinne ausgesagt. ›Wort‹ wird nun aber in Ähnlich­ keit zu dem Wort ausgesagt, das in uns vorkommt, wie Augustinus17 sagt. Also scheint es, daß der Ausdruck ›Wort‹ von Gott im übertra­ genen und nicht im eigentlichen Sinne ausgesagt wird. 11. Basilius18 sagt, daß Gott ›Wort‹ genannt wird, insofern von ihm alles hervorgeht, ›Weisheit‹, insofern alles erkannt wird, ›Licht‹, insofern alles offenbar wird. Das ›Hervor­ bringen‹ wird in Gott nicht im eigentlichen Sinne ausgesagt, weil das Sich-Äußern zur Stimme gehört. Also wird der Begriff ›Wort‹ nicht im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt. 12.  Wie sich das Wort des äußeren Lautes zum fleischgeworde­ nen Wort verhält, so verhält sich das Wort des Geistes zum ewi­ gen Wort, wie aus Augustinus19 ersichtlich wird. Nun wird aber das Wort als äußerer Laut vom fleischgewordenen Wort lediglich im übertragenen Sinne ausgesagt.20 Also wird auch das innere Wort vom ewigen Wort nur im übertragenen Sinne ausgesagt. 15  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  63 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 73). 16  Deitas: vgl. De ver., q.  4, Anm.  11. 17  Augustinus, De trin. XV, 11, 20 (CCSL 50 A, 486). 18  Nach der Editio Leonina findet sich dieser Satz bei Basilius v. Caesa­ rea (= Basilius der Große, †379) nicht, doch wird er ihm aber auch von an­ deren Scholastikern zugeschrieben (dort auch weitere Belegstellen). Sein Hexaemeron wurde von Robert Grosseteste ins Lateinische übersetzt. In den 1260er Jahren hat sich Thomas intensiv mit der griechischen Patristik auseinandergesetzt. 19  Augustinus, De trin. XV, 11, 20 (CCSL 50 A, 486). 20  Gemeint ist: So wie ein Gedanke durch die Rede zugänglich wird, so wird auch Gott durch den menschgewordenen Sohn zugänglich. Aber der Sohn wird Mensch und nicht Rede.

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Dagegen spricht: 1.  Augustinus sagt im 9. Buch seines Werkes Über die Drei­einig­ keit: »Das Wort, was wir zu erläutern bestrebt sind, ist eine mit der Liebe verbundene Erkenntnis«21. Nun werden Erkenntnis und Liebe in Gott im eigentlichen Sinne ausgesagt; also auch ›Wort‹. 2.  Augustinus sagt im 15. Buch seines Werkes Über die Drei­ einig­keit: »Das Wort, das außen tönt, ist ein Zeichen des Wortes, das innen leuchtet, dem die Bezeichnung ›Wort‹ in höherem Maße zukommt. Denn dasjenige, was durch den Mund des Fleisches her­ ausgetragen wird, ist die Stimme des Wortes, und ›Wort‹ wird auch das genannt, und zwar wegen desjenigen, von dem es stammt, damit es außen in Erscheinung tritt.«22 Daraus wird deutlich, daß der Aus­ druck ›Wort‹ in höherem Grade eigentümlich vom geistigen Wort als vom körperlichen Wort ausgesagt wird. Nun hat aber all das, was im eigentlicheren Sinne von geistigen als von körperlichen Dingen ausgesagt wird, am meisten bei Gott eine eigentliche Bedeutung. Also wird ›Wort‹ in Gott im höchsten Maße eigentlich ausgesagt. 3.  Richard von St. Viktor sagt, daß das Wort eine Offenlegung der Gesinnung eines Weisen ist.23 Der Sohn macht nun aber die Gesin­ nung des Vaters offenbar. Also wird der Name ›Wort‹ im höchsten Maße eigentlich in Gott ausgesagt. 4.  Das Wort ist nach Augustinus im 15. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit 24 nichts anderes als ein zu einer Form gebrachtes Denken. Die göttliche Betrachtung ist jedoch niemals für eine For­ 21  Augustinus, De trin. IX, 10, 15 (CCSL 50, 307). 22  Augustinus, De trin. XV, 11, 20 (CCSL 50 A, 486 f.). 23  Richard v. St. Viktor, De trin. VI, 12 (ed. J. Ribaillier, 241 f.). Richard,

der Nachfolger seines Lehrers Hugo v. St. Viktor und später Prior des höchst einflußreichen Augustinerchorherrnstifts St. Viktor (südöstlich des mittelalterlichen Paris) war, wird bei Thomas an 20 Stellen seines Werkes namentlich genannt. Dt. Übers.: Richard von Sankt-Viktor, Die Dreieinigkeit. Übertragung und Anmerkungen von Hans Urs von Baltha­ sar, Einsiedeln (Johannes) 1980 [Christliche Meister, 4]. 24  Augustinus, De trin. XV, 10, 19 (CCSL 50 A, 486): »Der von dem Gegenstand, den wir wissen, geformte Gedanke ist nämlich das Wort, das wir im Herzen sprechen, was weder griechisch ist, noch lateinisch, noch einer sonstigen Sprache zugehörig« [Übers. J. Kreuzer].

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mung empfänglich, sondern ist schon immer geformt, weil sie im­ mer in ihrer Verwirklichung ist.25 Also wird das Wort von Gott ohne jede Einschränkung im eigentlichen Sinne ausgesagt. 5.  Von den Bedeutungen von ›eines‹ wird das, was im höchsten Maße einfach ist, in erster Linie und in höchstem Maße ›eines‹ ge­ nannt. Also wird dementsprechend vom Wort, das im höchsten Maße einfach ist, im eigentlichen Sinn ›Wort‹ ausgesagt. Das Wort nun, das in Gott ist, ist ein in höchstem Sinne einfaches. Also wird es im allereigentlichsten Sinne ›Wort‹ genannt. 6.  Laut den Grammatikern26 wird der Teil der Rede, den man ›Wort‹ nennt, deshalb dem gemeinsamen Nomen zugeeignet, weil er als der gleichsam vorzügliche Teil der Rede die Vollkommenheit der gesamten Rede ausmacht und weil durch das Verbum die ande­ ren Teile der Rede offenbar gemacht werden, insofern das Nomen durch das Verbum erkannt wird. Nun ist das göttliche Wort von allen Dingen das vollkommenste und auch dasjenige, das die Dinge offenbar macht. Also wird es im eigentlichsten Sinn ›Wort‹ genannt. Antwort: Die Bezeichnungen erhalten von uns nach Maßgabe dessen ihre Bedeutung, in welcher Weise wir von den Dingen Erkenntnis gewin­ nen. Da diejenigen Bestimmungen, die von der Sache her nachran­ giger sind, von uns in aller Regel an erster Stelle erkannt werden,27 25  Das göttliche Denken entwickelt und gewinnt keinen geistigen In­ halt, vielmehr ist dieser immer schon präsent. Andernfalls müsste ein Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit angesetzt werden und damit auch eine Ursache für diesen Übergang; Gott ist aber reine Wirk­ lichkeit und damit selbst schon erste Ursache. 26  Die Editio Leonina verweist auf Robert Kilwardby, Rationes super Priscianum minor, wo es heißt: »Bemerke: Vom Verb sagt man, daß es der hervorragende Teil der Rede ist, sowohl deswegen, weil wir durch es im höchsten Maße unsere Affekte anzeigen, wie auch deswegen, weil dann die Ergänzung der Rede vollständig ist […] weil das Verb von solchem Range ist, daß es die Rede vollständig macht und wir in ihm die ande­ ren Redeteile erkennen.« Kilwardby war wie Thomas Dominikaner, später aber in Oxford einer der schärfsten Kritiker von Thomas’ Lehren. 27  Vgl. Aristoteles, Phys. I, 1; 184 a 16 ff.

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hat dies zur Folge, daß ein Ausdruck, was seine Verwendung angeht, sich häufig früher in dem einen von zweien findet, bei denen er sich in der von dem Namen bezeichneten Sache grundlegender in dem anderen findet, wie dies bei Ausdrücken deutlich ist, die von Gott und den Geschöpfen ausgesagt werden, wie etwa ›seiend‹, ›gut‹ und dergleichen, die zuerst den Geschöpfen beigelegt worden sind, von dort aber zu einer Aussage von Gott übertragen worden sind, ob­ gleich sich Sein und Gutsein grundlegender in Gott finden. Deshalb gilt: Da das äußere Wort wegen seines sinnenfälligen Charakters uns bekannter ist als das innere, wird im Hinblick auf die Verwen­ dung des Ausdrucks das verlautbarte Wort grundlegender ›Wort‹ genannt gegenüber dem inneren Wort, obgleich das innere Wort der Sache nach grundlegender ist, nämlich sofern es Wirk- und Zweck­ ursache des äußeren Wortes ist: als Zielursache, weil wir das verlautbarte Wort mit dem Ziel äußern, daß das innere Wort offenkundig wird. Daher ist es notwendig, daß das innere Wort dasjenige ist, das durch das äußere Wort bezeichnet wird. Das Wort nämlich, das äußerlich vorgebracht wird, bezeichnet das, was verstanden wird, und nicht das Verstehen als solches und auch nicht den Verstand, der ein Habi­ tus bzw. ein Vermögen ist, es sei denn, auch diese selbst sind Gegen­ stand der Erkenntnis; daher ist das innere Wort das innerlich Ver­ standene. als Wirkursache, weil das nach außen hin vorgebrachte Wort, da es seine Bedeutung durch Vereinbarung28 be­ sitzt, den Willen als sein Prinzip hat, wie dies ja auch bei den übri­ gen Kunstgebilden der Fall ist. Deshalb gilt: So wie bei den übrigen Kunstgebilden im Geist des Künstlers ein Urbild (imago) des äuße­ 28  Vgl. Aristoteles, Peri herm., c.  2; 16 a 19–20: »Ein Nennwort nun ist eine gemäß einer Übereinkunft etwas bedeutende stimmliche Äußerung ohne Bezug zur Zeit« [Übers. H. Weidemann]; Boethius, In libr. Arist. De interpr., ed. sec. I (ed. K. Meiser, 4, 5–6): ad placitum: nicht als individu­ elles Belieben zu verstehen, sondern im Gegensatz zu den in der Seele lie­ genden begrifflichen Bedeutungen, auf die sie verweisen. Diese sind allen Menschen gemeinsam, c.  1; 16 a 6–7: »Die seelischen Widerfahrnisse aber, für welche dieses (Gesprochene und Geschriebene) an erster Stelle ein Zei­ chen ist, sind bei allen (Menschen) dieselben« [Übers. H. Weidemann].

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ren Werkes vorweg existiert, so existiert auch im Geist desjenigen, der ein äußeres Wort äußert, vorweg ein Urbild des äußeren Wor­ tes. Deshalb gilt Folgendes: So wie wir beim Künstler dreierlei im Blick haben, nämlich das Ziel des Künstlers, sein Urbild und das Kunstgebilde, das schon hervorgebracht ist, so findet sich auch bei einem Menschen, der spricht, ein dreifaches Wort, nämlich dasje­ nige, was durch den Verstand begriffen wird, zu dessen Bezeichnung das ­äußere Wort geäußert wird, und dies ist das ›Wort des Herzens‹ ohne die verlautbarte Stimme, zudem das Vorbild (exemplar) des äußeren Wortes, und dies nennt man das ›innere Wort‹, welches ein Bild des Lautes aufweist, und schließlich das äußerlich zum Aus­ druck gebrachte Wort, welches man ›Wort im Sinne von Laut‹ nennt. Wie nun im Künstler die Ausrichtung auf ein Ziel vorhergeht und dann das Ausdenken der Form des Kunstgebildes folgt und schließ­ lich und endlich das Kunstgebilde ins Sein hervorgebracht wird, so ist auch das Wort des Herzens im Sprechenden grundlegender als das Wort, welches das Vorstellungsbild des Lautes ist und schließ­ lich das Wort als Laut. Das ›Wort als Laut‹ kann von Gott, da es in körperlicher Weise ausgeführt wird, nur in einem übertragenen Sinne ausgesagt wer­ den, in dem Sinne, wie die von Gott hervorgebrachten Geschöpfe oder auch deren Bewegungen sein ›Wort‹ genannt werden,29 inso­ fern sie wie die Wirkung auf die Ursache auf den göttlichen Ver­ stand verweisen. Daher kann aus demselben Grund auch nicht das Wort, welches das Bild des Lautes darstellt, von Gott im eigentlichen, sondern nur im übertragenen Sinne ausgesagt werden, so daß auf diese Weise die Ideen der zu erschaffenden Dinge ›Wort Gottes‹ ge­ nannt werden. Aber das ›Wort des Herzens‹, welches nichts anderes ist als dasjenige, was durch den Verstand wirklich betrachtet wird, wird im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt, weil es vollstän­ dig von Materialität, Körperlichkeit und jeglichem Mangel frei ist. Derartiges wird im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt, wie bei­ spielsweise auch ›Wissen‹ und ›das Gewußte‹, ›Erkennen‹ und ›das Erkannte‹.

29  Vgl. Ps. 148, 8.

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Zu 1.  Da das innere Wort dasjenige ist, was erkannt wird, und dies nur dann in uns ist, wenn wir wirklich30 erkennen, erfordert das innere Wort immer einen in Tätigkeit befindlichen Verstand, des­ sen Tätigkeit das Erkennen ist. Diese Tätigkeit des Verstandes nennt man nun aber eine Bewegung, zwar nicht die eines Unvollendeten, wie sie im 3. Buch der Physik 31 beschrieben wird, sondern die Bewe­ gung eines Vollendeten, welche eine Tätigkeit ist, wie es im 3. Buch seiner Schrift Über die Seele32 heißt. Deshalb hat Johannes von Da­ maskus33 gesagt, das innere Wort sei eine Bewegung des Geistes, wobei gleichwohl der Begriff der Bewegung im Sinne dessen ver­ standen wird, worin die Bewegung ihr Ende findet, d. h. die Tätigkeit im Sinne des Getanen wie auch das Erkennen im Sinne des Erkann­ ten. Es ist aber für den Begriff ›Wort‹ nicht erforderlich, daß die Tä­ tigkeit des Verstandes, die im inneren Wort ihren Abschluß findet, sich zusammen mit irgendeiner gedanklichen Bewegung vollzieht, die eben der Begriff des Nachdenkens einzuschließen scheint, viel­ mehr genügt etwas, das wirklich erkannt wird. Da wir jedoch in al­ ler Regel durch eine innere Gedankenbewegung bei uns selbst etwas sagen, deswegen gebrauchen Johannes von Damaskus und Anselm bei der Definition des Wortes den Begriff des Nachdenkens anstatt den der Betrachtung. Zu 2.  Das Argument des Augustinus geht nicht von etwas Gleich­ rangigem aus, sondern von etwas Geringerem. Es scheint nämlich das, was man beim Herzen ›Mund‹ nennen muß, gegenüber dem Wort etwas Geringeres zu sein, und daher ist das Argument nicht stichhaltig. Zu 3.  Der Begriff ›Mittleres‹ läßt sich auf zweifache Weise auffas­ sen: einmal bei der Veränderung als etwas zwischen zwei Extremen, wie das Blasse das Mittlere zwischen weiß und schwarz im Prozeß des Schwarzmachens oder des Weißmachens ist. Auf andere Weise 30  Das actu meint ›wirklich‹ nicht im Gegensatz zu ›bloß dem Anschein nach‹, sondern im Unterschied zur puren Unbestimmtheit des Mög­lich­seins. 31  Aristoteles, Phys. III, 3; 201 b 31–33. 32  Aristoteles, De an. III, 12; 431 a 7; vgl. De ver., q.  2, Anm.  275; in Met. IX, 8; 1050 a 23 ff. gibt Aristoteles Beispiele für Tätigkeiten, die kein Werk außerhalb ihrer selbst haben: Sehen, Denken, Leben, Glücklichsein. 33  Vgl. De ver., q.  4, Anm.  2.

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wird das Mittlere als etwas zwischen Tätigem und Leidendem auf­ gefaßt, wie etwa das Werkzeug des Künstlers ein Mittleres ist zwi­ schen ihm und dem Kunstgebilde, und ähnlich alles, wodurch etwas tätig ist. In diesem Sinne ist der Sohn ein Mittleres zwischen dem erschaffenden Vater und der durch das Wort hervorgebrachten Schöpfung, nicht aber zwischen dem erschaffenden Gott und der Schöpfung, weil eben das Wort ebenfalls der erschaffende Gott ist; daher gilt: Wie das Wort kein Geschöpf ist, so auch nicht der Vater. Dennoch würde auch abgesehen davon das Argument nicht ziehen: Wir sagen nämlich, daß Gott durch seine – bezogen auf das Wesen ausgesagte – Weisheit erschafft, so daß auf diese Weise seine Weisheit ein Mittleres zwischen Gott und Schöpfung genannt wer­ den kann, und dennoch ist eben diese Weisheit Gott. Augustinus führt seinen Beweis nicht damit, daß das Wort kein Geschöpf ist, weil es ein Mittleres ist, sondern damit, daß es die umfassende Ursa­ che der Schöpfung ist: Bei jeglicher Bewegung läßt sich eine Zurück­ führung auf ein Erstes vornehmen, was nicht im selben Sinne in Bewegung ist. Beispielsweise führt man alles Veränderliche auf ein erstes Veränderndes zurück, das nicht verändert wird. Dementspre­ chend ist es ebenfalls notwendig, daß jenes, worauf alles Geschaf­ fene zurückgeführt wird, nicht erschaffen ist. Zu 4.  Das Mittlere, das als Bewegung zwischen Endpunkten ver­ standen wird, wird zuweilen im Sinne des gleichen Abstandes zwi­ schen den Endpunkten verstanden, zuweilen aber auch nicht. Das Mittlere, welches sich zwischen Wirkendem und Leidenden befin­ det, ist nun aber manchmal dem ersten Wirkenden nahe, manchmal steht es in größerer Nähe zum letzten Leidenden und manchmal steht es zu beiden im Verhältnis des gleichen Abstandes. Dies wird beispielsweise ersichtlich bei Wirkendem, dessen Wirksamkeit mit Hilfe mehrerer Hilfsmittel zum Leidenden gelangt. Doch das Mitt­ lere, welches die Form ist, durch die das Wirkende selbst wirksam ist, ist immer dem Tätigen näher, weil es sich der Wirklichkeit nach in ihm befindet, nicht jedoch im Leidenden, es sei denn im Sinn ­eines Abbildes davon. Auf diese Weise wird das Wort ein Mittle­ res zwischen dem Vater und dem Geschöpf genannt, daher ist es nicht notwendig, daß es sich in gleichem Abstand zum Vater und zum Geschöpf befindet.

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Zu 5.  Obgleich bei uns Menschen das Offenbarmachen, das sich auf einen anderen Menschen richtet, nur durch das verlautbarte Wort geschieht, geschieht doch das Offenbarmachen im Verhält­ nis zu uns selbst auch durch das Wort des Herzens, und dieses Of­ fenbarmachen geht dem anderen vorher, und deshalb wird das in­ nere Wort in einem ursprünglicheren Sinne ›Wort‹ genannt. Ähn­ lich wird auch der Vater durch das fleischgewordene Wort allen offenbar, doch offenbart das von Ewigkeit her gezeugte Wort den Vater für ihn selbst, und deshalb kommt dem Wort der Ausdruck ›Wort‹ nicht nur insofern zu, als es fleischgeworden ist. Zu 6.  Das fleischgewordene Wort hat mit dem Wort als Laut eine gewisse Ähnlichkeit und eine gewisse Unähnlichkeit. Das Ähnliche in beidem, durch dessen Grund das eine mit dem anderen gleichge­ stellt wird, liegt in Folgendem: So wie die Stimme das innere Wort offenkundig macht, so ist das ewige Wort durch das Fleisch offen­ bar gemacht worden. Doch ist es in der Hinsicht unähnlich, daß das Fleisch selbst, welches vom ewigen Wort angenommen worden ist, nicht ›Wort‹ genannt wird, hingegen wird der Laut, der zum Offen­ barmachen des inneren Wortes angenommen wird, ›Wort‹ genannt. Deshalb ist das Wort als Laut ein anderes als das Wort des Herzens; doch das fleischgewordene Wort ist dasselbe wie das ewige Wort, wie auch das Wort, das durch den äußeren Laut bezeichnet wird, dasselbe wie das Wort des Herzens ist. Zu 7.  Der Begriff des Zeichens kommt dann der Wirkung grund­ legender als der Ursache zu, wenn die Ursache die Ursache des Seins der Wirkung, nicht aber des Bezeichnens ist, wie dies im vorge­ brachten Beispiel der Fall ist. Doch wenn die Wirkung von der Ursa­ che nicht nur dies hat, daß sie existiert, sondern auch, daß sie etwas bezeichnet, dann gilt: So wie die Ursache in ihrem Sein grundlegen­ der als die Wirkung ist, so ist sie es auch in der Bezeichnung. Des­ halb erfüllt das innere Wort grundlegender den Begriff des Bezeich­ nens und des Offenbarmachens als das äußere Wort, weil das äußere Wort nur durch das innere Wort zum Bezeichnen eingerichtet wird. Zu 8.  Eine Bezeichnung erhält gewöhnlich ihre Bedeutung auf zweifache Weise, entweder von seiten dessen, der ihr die Bedeutung verleiht, oder von seiten der Sache, welcher die Bezeichnung zuge­ legt wird. Von seiten der Sache wird die Bezeichnung im Ausgang

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1. Artikel

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davon geprägt, wodurch der Begriff des Dinges, den der Ausdruck bezeichnet, vollständig wird, und dies ist die spezifi­ sche Differenz jener Sache, und diese ist es, die in erster Linie durch den Ausdruck bezeichnet wird. Da uns aber die wesentlichen Diffe­ renzen unbekannt sind,34 ziehen wir an deren Stelle zuweilen die ak­ zidentellen Bestimmungen der Dinge oder die der Wirkungen heran, wie es im 8. Buch der Metaphysik 35 heißt, und dementsprechend benennen wir die Sache. Daher kommt dasjenige, von dem anstelle der Wesensdifferenz die Bezeichnung abgeleitet wird, von demjeni­ gen, von dem die Bezeichnung stammt;36 wie zum Beispiel der Name ›Stein‹ sich von der Wirkung ableitet, die darin besteht, den Fuß zu verletzen,37 und dies ist nicht notwendig der in erster Linie bezeich­ nete Begriff, sondern vielmehr jener, an dessen Stelle dieser gesetzt wird. Dementsprechend behaupte ich, daß der Ausdruck ›Wort‹ seine Bedeutung vom Schlagen oder vom Rufen von seiten dessen, der die Bedeutung verleiht, bekommen hat und nicht von seiten der Sache. Zu 9.  Was den Begriff des Wortes angeht, so macht es keinen Unterschied, ob etwas durch sein Abbild oder durch sein Wesen er­ kannt wird. Es steht nämlich fest, daß das äußere Wort alles das bezeichnet, was überhaupt erkannt werden kann, gleichgültig, ob es durch sein Wesen oder durch sein Abbild erkannt wird. Deshalb kann jedes Erkannte, gleichgültig, ob es durch eine Wesensbestim­ mung oder durch ein Abbild erkannt wird, durch das innere Wort ausgesprochen werden. Zu 10.  Unter dem, was von Gott und von den Geschöpfen ausge­ sagt wird, findet sich manche bezeichnete Sache grundlegender in Gott als in den Geschöpfen, obgleich die geprägten Bezeichnungen 34  Thomas sagt dies ausdrücklich auch an anderen Stellen: De ver., q.  10, a.  1 (ed. Leon. XXII, 296, 112–113); Sum. theol. I, q.  13, a.  8; q.  29, a.  1, ad 3. 35  Die Editio Leonina gibt an: Aristoteles, Met. VIII, 2; 1042 b 25; der Verweis ist allerdings unerfindlich. 36  Vgl. F. Manthey, Die Sprachphilosophie des hl. Thomas von Aquin, 94 (allerdings ist bei den Belegstellen Vorsicht geboten, da auch viele nichtauthentische Texte herangezogen werden). 37  Als Etymologie des Wortes ›Stein‹ (lapis) hat Isidor von Sevilla la­ edere pedem, den Fuß verletzen, angegeben: Etym. XVI, 3, 1 (ed. L. Wal­ lace, 198); vgl. De ver., q.  4, Anm.  14.

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an erster Stelle den Geschöpfen beigelegt worden sind, und solche Bezeichnungen werden im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt, etwa Gutsein, Weisheit und dergleichen. Andere sind Bezeichnun­ gen, bei denen die bezeichneten Dinge Gott nicht zukommen, son­ dern etwas jenen Dingen Ähnliches, und solche Namen werden im übertragenen Sinne von Gott ausgesagt, so wenn wir sagen, daß Gott ein ›Löwe‹38 ist oder daß er ›umhergeht‹.39 Ich behaupte also, daß ›Wort‹ von Gott entsprechend der Ähnlichkeit unseres Wortes aufgrund der Verwendung des Ausdrucks, nicht wegen der Ordnung in der Sache ausgesagt wird; daher ist es nicht notwendig, daß es im übertragenen Sinne ausgesagt wird. Zu 11.  Das Aussprechen gehört insofern zum Begriff des Wortes, als der Name von seiten desjenigen, der die Bedeutung verliehen hat, genommen ist, nicht aber von seiten der Sache. Deshalb folgt, obgleich das ›Aussprechen‹ in Gott im übertragenen Sinne ausge­ sagt wird, nicht, daß auch ›Wort‹ selbst metaphorisch ausgesagt wird. Dies sagt ja auch Johannes von Damaskus40, daß der Ausdruck ›Gott‹ von ›ethin‹ kommt, was soviel wie Brennen heißt, und dennoch wird zwar ›Brennen‹ im übertragenen Sinne von Gott ausgesagt, jedoch nicht der Ausdruck ›Gott‹. Zu 12.  Das fleischgewordene Wort wird, wie aus dem Dargeleg­ ten hervorgeht, mit dem Wort, das ausgesprochen wird, aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit in Beziehung gesetzt, und deshalb kann das fleischgewordene Wort lediglich im übertragenen Sinne ›Wort‹ genannt werden. Doch das ewige Wort wird mit dem Wort des Herzens aufgrund des wahrhaften Begriffes des inneren Wortes verglichen. Deshalb wird von beidem ›Wort‹ im eigentlichen Sinne ausgesagt. 38  Os. 13, 8. 39  Gen. 3, 8; vgl. De ver., q.  4, Anm.  10. 40  Johannes v. Damaskus, De fide orth. I, 9 (PG 94, col. 836 B; ed. E. M.

Buytaert, 49): »Ein zweiter Name ist Θεός (Gott). Er wird abgeleitet von ϑέειν, laufen, alles umkreisen, oder vom αἴϑειν, d. h. brennen; denn Gott ist ein Feuer, das jegliche Schlechtigkeit verzehrt, oder von ϑεᾶσϑαι, weil er alles sieht. Denn nichts entgeht ihm, von allem ist er Augenzeuge« [Übers. D. Stiefenhofer]; vgl. Sent. I, d. 2, q.  1, a.  5, expos. (ed. P. Mandonnet, I, 77); Sum. theol. I, q.  13, a.  8, arg. 1.

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2. Artikel

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2. Artik el Die zweite Frage lautet: Wird ›Wort‹ von Gott bezogen auf das Wesen oder ausschließlich bezogen auf eine Person ausgesagt?41 Es scheint, daß es auch bezogen auf das Wesen ausgesagt werden kann; denn: 1.  Die Bezeichnung ›Wort‹ hat, wie schon gesagt,42 ihre Bedeu­ tung vom Offenbarmachen. Das göttliche Wesen kann sich nun aber durch sich selbst offenbaren. Also kommt ihm Wort durch sich selbst zu, und daher wird Wort bezogen auf das Wesen ausgesagt. 2.  Das durch den Namen Bezeichnete ist die Definition, wie es im 4. Buch der Metaphysik43 heißt. Das Wort ist nun, gemäß Augusti­ nus im 9. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit44, »eine mit der Liebe verbundene Erkenntnis«; und nach Anselm im Monologion heißt »›Sprechen‹ im Falle des höchsten Geistes nichts anderes als im Denken betrachten«.45 In beiden Definitionen wird ausschließlich ein auf das Wesen Bezogenes gesetzt. Also wird das Wort bezogen auf das Wesen ausgesagt. 3.  Was immer ausgesagt wird, ist ein Wort. Der Vater spricht nicht nur sich selbst aus, sondern auch den Sohn und den Heili­ gen Geist, wie Anselm im eben genannten Buch sagt.46 Also ist das Wort den drei Personen gemeinsam; also wird das Wort bezogen auf das Wesen ausgesagt. 4.  Jeder Sprechende hat ein Wort, das er ausspricht, wie Augu­ stinus im 7. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit47 sagt. Aber, wie wiederum Anselm im Monologion sagt, »wie der Vater erken­ 41  Paralleltexte: Sent. I, d. 27, q.  2, a.  2, qc. 1; De pot., q.  9, a.  9, ad 7; Sum. theol. I, q.  34, a.  1. 42  Vgl. De ver., q.  4, a.  1 (S. 270). 43  Aristoteles, Met. IV, 16; 1012 a 23–24: »denn die Formel (der Satz), der für das Wort ein Zeichen ist, wird die Definition sein« [Übers. Th. A. Szlezák]. 44  Augustinus, De trin. IX, 10, 11 (CCSL 50, 307). 45  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  63 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 73). 46  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  62 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 72). 47  Augustinus, De trin. VII, 1, 1 (CCSL 50, 245).

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nend ist und der Sohn erkennend ist und der Heilige Geist er­ kennend ist, und es gleichwohl nicht drei Erkennende sind, sondern ein Erkennender, so ist der Vater sprechend, der Sohn sprechend und der Heilige Geist sprechend, und gleichwohl sind es nicht drei Sprechende, sondern es ist ein Sprechender.«48 Also entspricht jedem von ihnen ein Wort. Es ist aber den drei nichts als nur das Wesen gemeinsam. Also wird das Wort von Gott bezogen auf das Wesen ausgesagt. 5.  In unserem Verstand unterscheiden sich sprechen und erken­ nen nicht. ›Wort‹ wird nun aber bei Gott entsprechend der Ähnlich­ keit des Wortes, das im Verstand ist, gebraucht. Also ist in Gott spre­ chen und erkennen nichts anderes; also ist das Wort nichts anderes als das Erkannte. Das Erkannte wird freilich bei Gott bezogen auf das Wesen ausgesagt, also auch das Wort. 6.  Das göttliche Wort ist, wie Augustinus sagt, das tätige Ver­ mögen des Vaters.49 Das tätige Vermögen wird von Gott bezogen auf das Wesen ausgesagt. Also wird auch Wort bezogen auf das We­ sen ausgesagt. 7. Wie ›Liebe‹ das Hervortreten eines Affektes beinhaltet, so ›Wort‹ das Hervortreten eines Verstehens. ›Liebe‹ wird nun aber in Gott bezogen auf das Wesen ausgesagt, also auch ›Wort‹. 8.  Was in Gott gedacht werden kann, ohne zugleich die Unter­ schiedenheit der Personen mitzudenken, wird eben nicht bezogen auf eine Person ausgesagt. ›Wort‹ ist nun aber von dieser Art; weil selbst diejenigen, welche die Unterscheidung der Personen leugnen, behaupten, daß Gott sich selbst ausspricht. Also wird ›Wort‹ nicht bezogen auf eine Person ausgesagt. Dagegen spricht: 1.  Augustinus sagt im 6. Buch seines Werkes Über die Dreieinig­ keit 50, daß einzig der Sohn ›Wort‹ genannt wird, nicht aber Vater und Sohn gleichermaßen ›Wort‹ genannt werden. Alles jedoch, 48  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  63 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 73). 49  Augustinus, De div. qu. 83, q.  63 (CCSL 44 A, 136). 50  Augustinus, De trin. VI, 2, 3 (CCSL 50, 230).

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2. Artikel

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was bezogen auf das Wesen ausgesagt wird, kommt beiden gemein­ sam zu. Also wird ›Wort‹ nicht bezogen auf das Wesen ausgesagt. 2. Im Johannesevangelium, Kap. 1, heißt es: »Das Wort war bei Gott.«51 Das ›bei‹ beinhaltet nun, da es sich um eine transitive Prä­ position52 handelt, eine Unterscheidung. Es wird in Gott aber nichts durch dasjenige unterschieden, was bezogen auf das Wesen ausge­ sagt wird. Also wird ›Wort‹ nicht bezogen auf das Wesen ausgesagt. 3.  Alles, was in Gott eine Beziehung einer Person zu einer ande­ ren Person besagt, wird bezogen auf eine Person, nicht bezogen auf das Wesen ausgesagt. ›Wort‹ ist nun freilich von dieser Art. Also usw. 4.  Dies unterstützt auch der anerkannte Satz des Richard von St. Viktor, der in seinem Buch Über die Dreieinigkeit53 zeigt, daß einzig der Sohn ›Wort‹ genannt wird. Antwort: Sofern ›Wort‹ von Gott im übertragenen Sinne ausgesagt wird, so wie etwa die Schöpfung das Gott offenbarende Wort genannt wird,54 gehört es zweifellos zur Dreieinigkeit als ganzer. Jetzt aber fragen wir nach dem Ausdruck ›Wort‹, sofern er im eigentlichen Sinne von Gott ausgesagt wird. Diese Frage scheint freilich oberflächlich gese­ hen völlig klar zu sein, und zwar deswegen, weil ›Wort‹ einen ge­ wissen Ursprung beinhaltet, demgemäß die Personen in Gott unter­ schieden werden. Aber tiefergehend betrachtet scheint sie deswegen schwieriger, weil wir in Gott Bestimmtes antreffen, das einen Ursprung nicht in der Wirklichkeit, sondern nur im Den­ ken einschließt, wie der Ausdruck ›Tätigkeit‹, der ohne Zweifel etwas besagt, das durch einen Tätigen hervorgeht, und gleichwohl ist jenes Hervorgehen nur im Denken, daher bezieht sich die Tätigkeit in Gott nicht auf eine Person, sondern wird bezogen auf das Wesen ausge­ sagt, weil in Gott Wesen, Kraft und Tätigkeit nicht unterschieden sind. Daher wird es nicht sofort offensichtlich, ob die Bezeichnung ›Wort‹ wie die Bezeichnung ›Sohn‹ ein reales Hervorgehen be­ inhaltet oder doch wie der Ausdruck ›Tätigkeit‹ nur im Den­ ken, und demzufolge ist die Frage zu stellen, ob ›Wort‹ bezogen auf die Person oder bezogen auf das Wesen ausgesagt wird. Man muß also zur Einsicht in dieser Frage Folgendes wissen: Das Wort unseres Verstandes, aufgrund von dessen Ähnlichkeit wir von einem göttlichen Wort sprechen können, ist dasjenige, worin die Tätigkeit unseres Verstandes zum Abschluß kommt, was eben das Erkannte ist und was man die Begriffsbildung55 des Verstandes nennt. Dies gilt sowohl dann, wenn die Begriffsbildung durch ein einfaches Sprachgebilde bezeichnet wird, wie es dann der Fall ist, wenn der Verstand durch ein nicht zusammengesetztes Sprachge­ bilde56 die Wesensbestimmungen der Dinge formt, wie auch dann, wenn durch ein zusammengesetztes Lautgebilde, wie es der Fall ist, wenn der Verstand bejahende und verneinende Urteile bildet. Jede Erkenntnis in uns ist etwas, das in wirklicher Weise aus einem an­ deren hervorgeht, entweder so, wie die Schlußfolgerungen aus den 55  Das hier verwendete Wort conceptio hat auch die Bedeutung ›Emp­ fängnis‹. Wie schon die lateinische Tradition verwendet auch Thomas in der Trinitätslehre diese doppelte Bedeutung, die für alle Formen von Verstand von Belang ist: Das, was durch den tätigen Verstand und das Erkannte gebildet wird, wird im Verstand empfangen. Die Konnotation des oftmals verwendeten deutschen Wortes ›Begriff‹ ist die des Zugrei­ fens, während hier das Bilden, das Gestalt-gewinnen-Lassen im Blick steht. Das Gebilde enthält eine logische Struktur und weist die für die Erkennt­ nis unabdingbare Bestimmtheit auf. Es ist diese nicht zufällig mit einer sprachlichen Konnotation bezeichnete Ausdrücklichkeit, auf die sich das ­äußere Wort bezieht. 56  Vox kann hier offenkundig nicht Laut meinen; die Lösung »Sprach­ gebilde« übernehme ich aus der Übersetzung E. Steins.

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erkannten Prinzipien hervorgehen, oder so, wie die Begriffe der We­ senheiten abgeleiteter Dinge aus den Wesenheiten grundlegenderer Dinge oder wie eine wirklich vollzogene Erkenntnis aus dem Wis­ sensschatz hervorgeht. Dies ist generell bei allem wahr, was von uns erkannt wird, ungeachtet dessen, ob es durch sein eigenes Wesen oder durch etwas ihm Ähnliches erkannt wird. Jenes Begreifen ist die Wirkung des erkennenden Aktes, daher gilt selbst dann, wenn der Geist sich selbst erkennt: Jenes Begreifen ist nicht der Geist selbst, sondern vielmehr etwas, das durch die Erkenntnis des Geistes zum Ausdruck gebracht wird. Daher hat also das Wort des Verstandes in uns zweierlei Bedeutungsmomente in sich, nämlich das, was erkannt wird, und das, was von einem anderen zum Ausdruck gebracht wird. Wenn also im Sinne beider Entsprechungen ›Wort‹ von Gott aus­ gesagt wird, dann ist in der Bezeichnung ›Wort‹ nicht nur ein Her­ vorgang im Denken, sondern auch in der Wirklichkeit enthalten, wenn aber nur im Sinne der Entsprechung des einen, wie es sich ja auch bei der Bezeichnung ›Verstand‹ um ein Erkanntes handelt, dann wird die Bezeichnung ›Wort‹ in Gott keinen wirklichen Hervorgang , sondern einen im Denken, wie dies ja auch für die Be­ zeichnung ›Verstand‹ gilt. Doch dies wird nicht im Sinne des eigent­ lichen Verständnisses sein, und zwar aus folgendem Grund: Wenn etwas von dem, was zum Begriff einer Sache gehört, aufgehoben wird, liegt schon nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung vor. Wenn daher ›Wort‹ bei Gott im eigentlichen Sinne gebraucht wird, wird es ausschließlich bezogen auf die Person ausgesagt, wenn es hingegen im allgemeineren Sinne verstanden wird, kann es auch bezogen auf das Wesen ausgesagt werden. Doch nach Aristoteles gilt gleichwohl: Da »die Worte im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs zu verwen­ den sind«57, ist der Sprachgebrauch bei den Bedeutungen der Worte in höchstem Maße anzugleichen, und weil alle Kirchenväter58 ge­ 57  Vgl. Aristoteles, Top. II, 2; 110 a 16; bei Thomas auch sonst zitiert: De ver., q.  17, a.  1; ScG I, 1 (ed. C. Pera, nr. 2). 58  Sancti kann natürlich alle meinen, die in der katholischen Kirche als Heilige verehrt werden. Im Kontext akademischer Texte sind jedoch im engeren Sinn die heiligen Lehrer der frühen Kirche gemeint, die sog. Kirchenväter.

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meinhin die Bezeichnung ›Wort‹ in dem Sinne gebrauchen, daß es bezogen auf eine Person ausgesagt wird, deshalb ist mit größerem Recht zu behaupten, daß es bezogen auf eine Person ausgesagt wird. Zu 1.  Die Bezeichnung ›Wort‹ umfaßt in ihrer Bedeutung nicht nur den Sinn des Offenbarmachens, sondern auch des wirklichen Hervorgehens des einen aus einem anderen, und weil das Wesen, obgleich es sich offenbar macht, nicht in realer Weise aus sich selbst hervorgeht, kann das Wesen nicht ›Wort‹ genannt werden, es sei denn durch die Identität des Wesens mit einer Person, wie es auch Vater oder etwa Sohn genannt wird. Zu 2.  Die Erkenntnis, die in der Definition des Wortes zu den­ ken ist, ist als eine Erkenntnis zu verstehen, die von einem anderen zum Ausdruck gebracht wird, was in uns die wirkliche Erkennt­ nis ist. Obgleich nun aber ›Weisheit‹ oder ›Erkenntnis‹ bezogen auf das Wesen ausgesagt wird, so wird dennoch »gezeugte Weisheit«59 ausschließlich bezogen auf die Person ausgesagt. Ähnlich ist auch dasjenige zu verstehen, was Anselm sagt, »Sprechen ist im Denken betrachten«60, wenn ›Sprechen‹ im eigentlichen Sinne insofern vom Blick des Denkens gesagt wird, als daraus etwas hervorgeht, nämlich das Gedachte selbst. Zu 3.  Der Begriff des Verstandes ist ein Mittleres zwischen dem Verstand und der erkannten Sache, weil durch seine Vermittlung die Tätigkeit des Verstandes zur Sache gelangt. Deshalb ist der Begriff des Verstandes nicht nur das, was das Erkannte ist, sondern auch dasjenige, wodurch eine Ding erkannt wird, so daß dasjenige, was erkannt wird, sowohl als die Sache selbst wie auch als die begriff­ liche Erfassung des Verstandes bezeichnet werden kann. Entspre­ chend kann dasjenige, was ausgesagt wird, sowohl die Sache selbst, die durch das Wort ausgesprochen wird, als auch das Wort selbst ausgesagt werden, wie dies etwa auch beim äußeren Wort ersichtlich wird, weil sowohl der Ausdruck selbst und wie auch die durch den 59  Vgl. Augustinus, De trin. VII, 2, 3 (CCSL 50, 250); vgl. De ver., q.  4, Anm.  89 u. 109. 60  Vgl. Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  63 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 73).

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Ausdruck bezeichnete Sache durch den Ausdruck ausgesagt wird. Ich behaupte also, daß ›Vater‹ nicht im Sinne von Wort ausgespro­ chen wird, sondern im Sinne desjenigen, das durch das Wort ausge­ sprochen wird, und ähnlich der Heilige Geist, weil der Sohn die ganze Dreieinigkeit offenkundig macht, daher spricht der Vater in dem einen Wort alle drei Personen aus. Zu 4.  In diesem Punkt scheint sich Anselm selbst zu widerspre­ chen. Er sagt nämlich, daß ›Wort‹ ausschließlich bezogen auf eine Person ausgesagt wird und einzig dem Sohn zukommt, das Spre­ chen jedoch den drei Personen zukommt. ›Sprechen‹ ist nämlich nichts anderes als aus sich selbst heraus ein Wort äußern. Ähn­ lich widerspricht dem Satz Anselms der Satz des Augustinus im 7. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit61, wo er sagt, daß in der Dreieinigkeit nicht der einzelne spricht, sondern der Vater in seinem Wort. Daher gilt: So wie ›Wort‹ im eigentlichen Sinne ausschließlich bezogen auf eine Person ausgesagt wird und einzig dem Sohn zukommt, so kommt auch das Sprechen ebenfalls nur dem Vater zu. Doch Anselm versteht ›Sprechen‹ in einem all­ gemeinen Sinne als Erkennen, ›Wort‹ im eigentlichen Sinne; dies hätte er, wenn es ihm zugesagt hätte, auch umgekehrt machen ­können. Zu 5.  Bei uns bezeichnet ›Sprechen‹ nicht nur das Erkennen, son­ dern Erkennen zusammen damit, daß es von sich her ein Zum-Aus­ druck-Bringen eines Begriffes ist. Wir können aber auch auf keine andere Weise erkennen als so, daß wir ein Begreifen zum Ausdruck bringen, und deshalb ist bei uns jedes Erkennen im eigentlichen Sinne ein Sprechen. Gott hingegen vermag zu erkennen, ohne daß aus ihm etwas anderes der Wirklichkeit nach hervorgeht, weil in ihm das Erkennende, das Erkannte und das Erkennen identisch sind. Dies ist bei uns nicht der Fall, und deshalb nennt man in Gott nicht jegliches Erkennen ein Sprechen im eigentlichen Sinne. Zu 6.  So wie das Wort nur insofern Erkenntnis des Vaters ge­ nannt wird, als es die durch den Vater gezeugte Erkenntnis ist, so wird es auch die tätige Kraft des Vaters nur insofern genannt, als es eine Kraft ist, die von der Kraft des Vaters durch dessen Kraft 61  Augustinus, De trin. VII, 1, 1 (CCSL 50, 244 f.).

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hervorgeht, die hervorgehende Kraft wird jedoch bezogen auf eine Person ausgesagt und ähnlich das tätige Vermögen, das vom Vater hervorgeht. Zu 7.  Etwas kann auf zweifache Weise aus etwas hervorgehen: In einer Weise im Sinne der Handlung aus dem Handelnden bzw. der Tätigkeit aus dem Tätigen, auf andere Weise im Sinne des Werkes durch den Tätigen. Der Hervorgang der Tätigkeit aus dem Tätigen ergibt keinen realen Unter­schied zwischen einem für sich bestehenden Ding und einem anderen für sich bestehenden Ding, sondern ergibt die Unterschei­ dung von Vollkommenheit und Vollkommenem, weil die Tätigkeit die Vollkommenheit des Tätigen ist.62 Der Hervorgang eines Werkes hingegen ergibt einen Unterschied zwischen diesem Ding und dem anderen . In Gott kann es nun aber keine reale Unterscheidung zwischen der Vollkommenheit und dem der Vervollkommnung Fähigen geben, gleichwohl finden sich in Gott voneinander unterschiedene Wirklichkeiten, nämlich drei Perso­ nen. Deshalb ist der Hervorgang, der in Gott als Hervorgang der Tätigkeit aus einem Tätigen bezeichnet wird, nur ein Hervorgang im Denken; doch derjenige Hervorgang, der im Sinne des Hervor­ gangs eines Dinges aus seinem Ursprung bezeichnet wird, kann in Gott wirklich vorgefunden werden. Darin aber liegt der Unterschied zwischen Verstand und Willen, daß die Tätigkeit des Willens auf die Dinge zielt, bei denen es gut und schlecht gibt, die Tätigkeit des Ver­ standes hingegen ihr Ziel im Geist hat, in dem sich das Wahre und Falsche findet, wie es im 6. Buch der Metaphysik63 heißt. Deshalb hat der Wille nichts, was aus ihm hervorgeht, in ihm nur im Sinne der Tätigkeit wäre, doch der Verstand hat etwas, was aus ihm nicht nur im Sinne der Tätigkeit hervorgeht, sondern auch im Sinne eines Werkes. Deshalb wird das Wort im Sinne einer her­ vorgehenden Wirklichkeit bezeichnet, die Liebe hingegen im Sinne einer hervorgehenden Tätigkeit. Daher verhält sich die Liebe nicht 62  Vgl. De ver., q.  4, Anm.  32. 63  Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 25–27: »›wahr‹ und ›falsch‹ sind nicht

in den Dingen – z. B. daß das Gute wahr wäre, das Schlechte ohne weiteres falsch –, sondern im Denken« [Übers. Th. A. Szlezák].

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in der Weise dazu, daß sie wie das Wort bezogen auf eine Person ausgesagt wird. Zu 8.  Wenn man keine Unterscheidung der Personen denkt, dann kann man nicht im eigentlichen Sinne sagen, daß Gott sich aus­ spricht, und dieses Sich-Aussprechen wird auch von denjenigen nicht im eigentlichen Sinne erkannt, die keine Unterscheidung der Personen in Gott behaupten. Auf die Argumente, die im entgegengesetzten Sinne eingewandt worden sind, läßt sich unschwer antworten, wenn jemand das Ge­ genteil behaupten will. Zu 1.  Zu dem, was jemand mit den Worten des Augustinus ein­ gewandt hat, läßt sich sagen, daß Augustinus ›Wort‹ in dem Sinne versteht, daß es einen wirklich Ursprung beinhaltet. Zu 2.  Auch wenn diese Präposition ›bei‹ eine Unterscheidung ein­ schließt, so ist doch gleichwohl diese Unterscheidung nicht in der Bezeichnung ›Wort‹ enthalten. Daher kann daraus, daß vom Wort gesagt wird, es sei »beim« Vater, nicht geschlossen werden, daß ›Wort‹ bezogen auf eine Person ausgesagt wird, weil man auch »Gott von Gott« und »Gott bei Gott« sagt. Zu 3.  Hierzu kann gesagt werden, daß jene Relation bloß eine gedachte ist. Zu 4.  Hierzu dieselbe Entgegnung wie zum ersten Einwand.

3. Artik el Die dritte Frage lautet: Kommt ›Wort‹ dem Heiligen Geist zu?64 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Basilius sagt in der 3. Predigt Über den Heiligen Geist65: »Wie sich der Sohn zum Vater verhält, auf dieselbe Weise verhält sich 64  Paralleltexte: Sent. IV, d. 27, q.  2, a.  2, qc. 2; Sum. theol. I, q.  34, a.  2, ad 5; De pot., q.  9, a.  9, ad 8; Contra errores Graecorum, pars prior, c.  12 (ed. Leon. XL, A 79); In Hebr. 1, 2. 65  [Pseudo-]Basilius, Adversus Eunomium V (PG 29, col. 732 A); von dieser Schrift ist das 4. u. 5. Buch nicht authentisch; dieser Text (PG 29,

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der Heilige Geist zum Sohn; und deswegen wird der Sohn Wort des Vaters, der Heilige Geist hingegen Wort des Sohnes ge­ nannt.« Also wird der Heilige Geist ›Wort‹ genannt. 2. In Hebräerbrief, Kap. 1, heißt es vom Sohn: »Da er der Abglanz der Herrlichkeit und die Ausprägung seines Wesens ist und das All durch sein machtvolles Wort trägt.«66 Also hat der Sohn ein von ihm ausgehendes Wort, durch das alles getragen wird. Aber in Gott geht vom Sohn nichts außer der Heilige Geist hervor. Also wird der Heilige Geist ›Wort‹ genannt. 3.  Das Wort ist, wie Augustinus im 9. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit sagt, »eine mit der Liebe verbundene Erkenntnis«67. Doch wie die Erkenntnis dem Sohn als Eigentümlichkeit zugespro­ chen wird, so die Liebe dem Heiligen Geist. Also gilt: Wie das Wort dem Sohn zukommt, so auch dem Heiligen Geist. 4.  Über die Stelle im Hebräerbrief, Kap. 1: »Er trägt das All durch sein machtvolles Wort«68, sagt die Glosse69, daß ›Wort‹ dort im Sinne von Befehl verstanden wird. ›Befehl‹ verweist nun aber auf den Wil­ len. Wenn also der Heilige Geist in der Weise des Willens hervor­ geht, scheint es, daß er ›Wort‹ genannt werden kann. 5.  Der Ausdruck ›Wort‹ besagt Offenbarmachen. Doch nun gilt: So wie der Sohn den Vater offenbar macht, so der Heilige Geist den Sohn, daher heißt es im Johannesevangelium, daß der Heilige Geist »alle Wahrheit lehrt«.70 Also muß der Heilige Geist ›Wort‹ genannt werden. 671–768) stammt von Didymus Alexandrinus; im Clavis Patrum Grae­ corum wird dieser Forschungsstand mitgeteilt, aber nicht wie sonst die lat. Übersetzung. Diese Passage wird auch verwendet in der zwischen 1231 und 1256 entstandenen Schrift des Nicolaus v. Cotrone, De fide Sancti Tri­ nitatis, § 58 (ed. Leon. 40, A 136 f.), der durch seinen langjährigen Aufent­ halt in Konstantinopel fließend Griechisch gesprochen hat. Au diese Stelle bezieht sich – so die Editio Leonina zur Stelle – Thomas auch anderwärts: Contra errores Graecorum, pars pr., c.  12 (ed. Leon. XLII, A 79). 66  Hebr. 1, 3. 67  Augustinus, De trin. IX, 10, 15 (CCSL 50, 307). 68  Hebr. 1, 3. 69  Glossa interl., aus Petrus Lombardus, In Ep. ad Hebr. 1, 3 (PL 192, col. 406 B). 70  Joh. 16, 3: »Wenn jener aber kommt, der Geist der Wahrheit, wird

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3. Artikel

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Dagegen spricht: Augustinus sagt im 6. Buch seines Werkes Über die Dreieinigkeit, daß »der Sohn aus dem Grunde ›Wort‹ genannt wird, aus dem er auch ›Sohn‹ genannt wird.«71 Der Sohn wird aufgrund dessen ›Sohn‹ genannt, weil er gezeugt ist; der Heilige Geist hingegen wird nicht gezeugt. Also ist er kein Wort. Antwort: Der Gebrauch dieser Bezeichnungen, nämlich ›Wort‹ und ›Bild‹, ist bei uns und unseren heiligen Lehrern ein anderer als bei den al­ ten Lehrern der Griechen.72 Diese gebrauchten nämlich die Bezeich­ nungen ›Wort‹ und ›Bild‹ für alles, das in Gott hervorgeht. Daher nennen sie den Heiligen Geist und den Sohn ohne Unterschied ›Wort‹ ebenso wie ›Bild‹. Wir hingegen und unsere heiligen Lehrer sind beim Gebrauch der Namen bestrebt, uns dem Sprachgebrauch der kanonischen Schrift anzugleichen, die kaum je oder sogar nie­ mals ›Wort‹ bzw. ›Bild‹ anders als für den Sohn verwendet. Die Bezeichnung ›Bild‹ gehört nicht zur vorliegenden Untersu­ chung.73 Aber was den Ausdruck ›Wort‹ angeht, so erscheint unser Sprachgebrauch ziemlich gut begründet.

er euch zur vollen Wahrheit führen. Denn er wird nicht von sich aus re­ den, sondern er wird reden, was er hört, und das Zukünftige wird er euch verkünden.« 71  Augustinus, De trin. VII, 2, 3 (CCSL 50, 250). 72  Gemeint ist natürlich nicht die griechische Antike, sondern die grie­ chische Patristik; vgl. Thomas von Aquin, Contra errores Graecorum, pars prior, c.  10; pars altera, c.  5 (ed. Leon. XL, A 77 f.; A 91 f.). Die »heiligen Lehrer« sind die Kirchenväter des lateinischen Westens. Papst Bonifaz VIII. hat 1295 vier ausdrücklich bestätigt: Hieronymus, Ambrosius, Augu­ stinus und Gregor der Große. Im Jahr 1568 kamen auch vier griechische Theologen dazu: Athanasius, Basilius, Gregor v. Nazianz und Johannes Chrysostomos; zum besonders bemerkenswerten Interesse des Thomas an der griechischen Tradition vgl. J. Weisheipl, Thomas von Aquin, 155–166. 73  Im ersten Teil der Sum. theol. behandelt Thomas den Begriff ›Wort‹ in q.  34, ›Bild‹ in q.  35.

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Die Bezeichnung ›Wort‹ besagt eine Art Offenbarmachen.74 Of­ fenbarmachen findet sich an sich ausschließlich im Verstand. Wenn von etwas anderem als dem Verstand ausgesagt wird, es werde of­ fenbar, so geschieht dies, weil von ihm etwas im Verstand verbleibt. Das unmittelbar Offenbarmachende liegt im Verstand, aber das mit­ telbare kann auch außerhalb von ihm liegen; und deshalb wird die Bezeichnung ›Wort‹ im eigentlichen Sinne von dem gesagt, was aus dem Verstand hervorgeht. Was hingegen nicht aus dem Verstand hervorgeht, läßt sich nur im übertragenen Sinne ›Wort‹ nennen, in­ sofern es nämlich in irgendeiner Weise etwas offenbar macht. Ich behaupte also, daß in Gott einzig der Sohn auf die Weise des Verstandes hervorgeht, weil er aus einem einzigen hervorgeht; der Heilige Geist wiederum, der aus zwei Personen hervorgeht, geht auf die Weise des Willens hervor. Deshalb kann der Heilige Geist nur im übertragenen Sinne ›Wort‹ genannt werden, in dem Sinne nämlich, in dem man alles Offenbarmachende ›Wort‹ nennt. In die­ sem Sinne ist der anerkannte Satz des Basilius zu interpretieren. Zu 1.  Von daher wird die Antwort auf den ersten Einwand deut­ lich. Zu 2.  ›Wort‹ wird dort nach Basilius für den Heiligen Geist verwendet und daher ist hierzu wie auf den ersten Einwand zu ant­ worten. Oder man kann auch im Sinne der Glosse75 sagen, daß es für den Schöpfungsbefehl des Sohnes verwendet wird. Dieser wird im übertragenen Sinne als ›Wort‹ bezeichnet, weil wir durch ein Wort zu befehlen pflegen. Zu 3. Die Erkenntnis gehört zum Begriff des Wortes in dem Sinne, daß es sein Wesen besagt; die Liebe hingegen gehört zum Begriff des Wortes nicht in dem Sinne, daß es in seinem Wesen ent­ halten wäre, sondern in dem Sinne, daß es gleichsam mit dem Wort einhergeht, wie der angeführte anerkannte Satz zeigt. Deshalb kann man daraus nicht schließen, daß der Heilige Geist Wort sei, son­ dern , daß er aus dem Wort hervorgeht. 74  Thomas verwendet hier manifestatio und nicht revelatio, daher hier die Übersetzung ›Offenbarmachen‹ und nicht ›Offenbarung‹. 75  Vgl. De ver., q.  4, Anm.  69.

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4. Artikel

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Zu 4.  Das Wort macht nicht nur das offenbar, was im Verstand ist, sondern auch das, was im Willen ist, weil der Wille ja auch vom Ver­ stand erfaßt wird. Deshalb kann ein Befehl, obgleich er ein Zeichen des Willen ist, ›Wort‹ genannt werden und zum Verstand gehören. Zu 5.  Die Lösung wird aus dem Gesagten deutlich.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Spricht der Vater die Schöpfung durch das Wort aus, durch das er sich selbst ausspricht?76 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Wenn wir sagen: »Der Vater spricht sich selbst aus«, dann wird darin nichts anderes als der Sprechende und das Ausgespro­ chene bezeichnet. In beiden Hinsichten wird nur der Vater bezeich­ net. Wenn also der Vater aus sich nur das Wort hervorbringt, in­ sofern er sich ausspricht, scheint es, daß mit dem Wort, das aus dem Vater hervorgeht, nicht das Geschöpf ausgesprochen wird. 2. Das Wort, durch das jegliches Seiende ausgesprochen wird, ist dessen Urbild. Das Wort kann man nun aber nicht ›Bild‹ des Geschöpfes nennen, wie Anselm im Monologion77 beweist. Der Grund ist: Entweder kommt das Wort mit dem Geschöpf vollkom­ men überein, dann wäre es wie auch das Geschöpf veränderlich, und die höchste Unveränderlichkeit wäre in ihm dahin. Oder das Wort kommt nicht im höchsten Maße damit überein, doch dann wäre in ihm nicht die höchste Wahrheit, weil ein Bild um so wahrer ist, je mehr es mit dem übereinkommt, dessen Bild es ist. Also ist der Sohn nicht das Wort, durch welches das Geschöpf ausgesprochen wird. 3.  Das Wort der Geschöpfe in Gott wird in dem Sinne ausgesagt wie das Wort der Kunstgebilde im Künstler. Das Wort der Kunstge­ bilde ist nun aber nichts anderes als die Fähigkeit zu diesen Kunst­ 76  Paralleltexte: Sent. I, d. 27, q.  2, a.  3; Sum. theol. I, q.  34, a.  3; Quodl. IV, q, 4, a.  1 (ed. Leon. XXV/2, 326). 77  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  31 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 48).

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gebilden, also ist auch das Wort der Geschöpfe nichts anderes als der Schöpfungsbefehl. Der Schöpfungsbefehl in Gott wird wiederum bezogen auf das Wesen und nicht bezogen auf eine Person ausgesagt. Also ist das Wort, durch welches die Geschöpfe ausgesprochen wer­ den, nicht das Wort, das bezogen auf eine Person ausgesagt wird. 4.  Jedes Wort hat zu dem, was durch dieses Wort ausgesagt wird, ein Verhältnis eines Urbildes oder eines Abbildes: das eines Urbildes, wenn das Wort die Ursache des Dinges ist, das eines Abbildes hin­ gegen, wenn es vom Ding hervorgebracht wird, wie dies bei unse­ rem menschlichen theoretischen Verstand der Fall ist. In Gott kann nun aber kein Wort sein, das Abbild des Geschöpfes ist. Also ist es unumgänglich, daß das Wort des Geschöpfes in Gott das Urbild des Geschöpfes ist. Das Urbild des Geschöpfes in Gott ist die Idee. Also ist das Wort des Geschöpfes in Gott nichts anderes als die Idee. Die Idee wird in Gott nun aber nicht bezogen auf eine Person, sondern bezogen auf das Wesen ausgesagt. Also ist das Wort, das bezogen auf eine Person in Gott ausgesagt wird, durch welches der Vater sich selbst ausspricht, nicht das Wort, durch das die Geschöpfe aus­ gesprochen werden. 5.  Die Geschöpfe sind von Gott weiter entfernt als voneinander. Es gibt nun aber in Gott von verschiedenen Geschöpfen mehrere Ideen. Also ist es nicht dasselbe Wort, durch das der Vater sich und das Geschöpf ausspricht. 6.  Nach Augustinus78 wird ›Wort‹ aus demselben Grund ausge­ sagt wie ›Bild‹. Der Sohn ist nun aber nicht das Bild des Geschöp­ fes, sondern einzig des Vaters.79 Also ist der Sohn nicht das Wort des Geschöpfes. 7.  Jedes Wort geht aus dem hervor, dessen Wort es ist. Der Sohn geht jedoch nicht aus dem Geschöpf hervor. Also ist er nicht das Wort, durch welches das Geschöpf ausgesprochen wird.

78  Augustinus, De trin. VI, 2, 3 (CCSL 50, 230). 79  Vgl. Kol. 1, 15: »Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgebo­

rene vor aller Schöpfung« [Jerusalemer Bibel]; vgl. De ver., q.  2, Anm.  19.

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4. Artikel

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Dagegen spricht: 1. Anselm80 sagt, daß der Vater, indem er sich selbst ausspricht,81 jedes Geschöpf ausspricht. Das Wort aber, durch das er sich aus­ spricht, ist der Sohn. Also spricht er in dem Wort, das der Sohn ist, jedes Geschöpf aus. 2. Augustinus82 erläutert den Vers »Er sprach und es wurde«83 folgendermaßen: Das heißt, er zeugte das Wort, in dem das »Es werde« enthalten war. Also spricht der Vater durch das Wort, das der Sohn ist, jedes Geschöpf aus. 3.  Die Zuwendung des Künstlers zur Kunst ist dieselbe wie die zum Kunstgebilde. Doch ist Gott selbst die ewige Kunst, durch wel­ che die Geschöpfe wie eine Art Kunstgebilde hervorgebracht wer­ den. Also wendet sich der Vater mit derselben Zuwendung zu sich selbst und zum Geschöpf; infolgedessen gilt: Indem er sich selbst ausspricht, spricht er alle Geschöpfe aus. 4.  Alles Nachrangigere wird auf das, was das Erste in einer Gat­ tung ist, als auf seine Ursache zurückgeführt.84 Alle Geschöpfe wer­ den nun aber von Gott ausgesprochen. Also werden sie auf das erste zurückgeführt, was von Gott ausgesprochen wird. Er selbst spricht zuerst sich selbst aus. Also spricht er dadurch, daß er sich ausspricht, alle Geschöpfe aus. Antwort: Der Sohn geht aus dem Vater hervor – sowohl im Sinne ­eines Hervorgehens in der Natur, insofern er als Sohn hervorgeht, als 80  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  33 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 51 f.; 53). 81  Frz.: »en se disant« (Traduction par les moines de l’Abbaye Abbaye sainte Madeleine du Barroux, France. (Complet 24 août 2008 [Internet: Grand Portal Thomas d’Aquin]). 82  Augustinus, De Gen. ad litt. II, 6 (CSEL 28/1, 41). 83  Es geht um zu Gen. 1, 3: 6 und 7; 9; 14 und 15; 24; manchmal steht das »und so geschah es« noch im selben Vers, mal kurz darauf. 84  Dies ist eine von mehreren Varianten eines von Thomas oftmals an­ geführten Satzes der Aristoteles, Met. X, 2; 1052 b 18–19, 31–32: »ErstesMaß-der-jeweiligen-Gattung-Sein […] In allen diesen Bereichen ist Maß und Prinzip ein Eines und Unzerlegbares« [Übers. Th. A. Szlezák].

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auch im Sinne eines Hervorgehen im Verstand, insofern er als Wort hervorgeht. Beiderlei Weisen des Hervorgehens finden sich aber bei uns Menschen, wenn auch nicht mit Bezug auf dieselbe Wirklich­ keit. Es gibt bei uns nämlich nichts, was sowohl in der Weise des Verstandes wie der Natur aus etwas hervorginge, weil Erkennen und Sein bei uns nicht wie bei Gott dasselbe sind. Beide Weisen des Her­ vorgehens weisen freilich einen ähnlichen Unterschied bei dem auf, wie sie sich bei uns und in Gott finden. Der Sohn eines Menschen, der durch einen menschlichen Vater in der Weise der Natur hervorgeht, hat in sich nicht das gesamte We­ sen des Vaters, sondern empfängt einen Teil seines Wesens. Der Sohn Gottes hingegen empfängt, insofern er in der Weise der Natur vom Vater hervorgeht, in sich das ganze Wesen des Vaters, so daß Vater und Sohn der Zahl nach ein Wesen sind. Ein ähnlicher Unterschied findet sich bei demjenigen Hervorgang, der in der Weise des Verstandes geschieht. Das Wort nämlich, das in uns durch die wirkliche Betrachtung zum Ausdruck gelangt, als aus­ gegangen aus einer Betrachtung der Prinzipien oder doch zumin­ dest einer habituellen Erkenntnis, empfängt in sich nicht das Ganze dessen, was in dem liegt, dem es entstammt. Nicht alles, was wir in einer habituellen Erkenntnis zur Verfügung haben, bringt der Ver­ stand in der Erzeugung eines Wortes zum Ausdruck, sondern nur einen Teil davon. Ähnlich wird bei der Betrachtung einer Schluß­ folgerung nicht das Ganze zum Ausdruck gebracht, was in der Be­ weiskraft des Prinzips liegt. Aber in Gott ist dazu, daß das Wort ein vollkommenes ist, notwendig, daß das Wort all das zum Ausdruck bringt, was in demjenigen enthalten ist, aus dem es stammt – und dies insbesondere deswegen, weil Gott alles mit einem Blick sieht und nicht Unterschiedliches jeweils gesondert für sich. Somit ist es notwendig, daß das Ganze, was im Wissen des Va­ ters enthalten ist, durch ein Wort von ihm ausgedrückt wird, und dies auf eben die Weise, wie es im Wissen enthalten ist, damit es ein wahres Wort ist, das seinem Ursprung entspricht. Durch sein Wissen weiß der Vater sich, und indem er sich erkennt, erkennt er alles andere, und daher bringt sein Wort in erster Linie den Vater zum Ausdruck und in der Folge alles andere, das der Vater dadurch

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4. Artikel

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erkennt, daß er sich erkennt. Demzufolge drückt der Sohn dadurch, daß er das Wort ist, das den Vater in vollständiger Weise aus­ drückt, jedes Geschöpf aus. Diese Ordnung zeigt sich in den Worten Anselms, der sagt,85 daß der Vater, indem er sich ausspricht, jedes Geschöpf ausspricht. Zu 1.  Wenn man sagt: »Der Vater spricht sich selbst aus«, dann ist in diesem Sichaussprechen auch jedes Geschöpf eingeschlossen; insofern nämlich, als der Vater in seinem Wissen als Urbild der gan­ zen Schöpfung jedes Geschöpf enthält. Zu 2.  Anselm versteht das Wort ›Ähnlichkeit‹ im strengen Sinne, wie auch Dionysius an der Stelle, wo er sagt, daß bei demjenigen, das »in gleichartiger Weise zueinander steht, eine Umkehrung der Ähn­ lichkeit vorgenommen werden kann«86; wie man beispielsweise das eine einem anderen ähnlich nennt und umgekehrt. Bei den Dingen hingegen, die sich als Ursache und Verursachtes zueinander verhal­ ten, findet sich keine Umkehrung der Ähnlichkeit im eigentlichen Sinne. Wir sagen, daß das Bild des Herkules dem Herkules ähnelt, aber nicht umgekehrt. Daher gilt: Da das göttliche Wort nicht wie unser Wort zur Nachahmung des Geschöpfes hervorgebracht wird, sondern vielmehr umgekehrt, deshalb meint Anselm, daß das Wort nicht die Ähnlichkeit des Geschöpfes ist, sondern eben umgekehrt. Wenn wir hingegen ›Ähnlichkeit‹ im weiten Sinne verstehen, kön­ nen wir sagen, daß das Wort die Ähnlichkeit des Geschöpfes nicht im Sinne von dessen Abbild ist, sondern im Sinne von dessen Urbild, wie ja auch Augustinus87 sagt, daß die Ideen die Urbilder der Dinge sind. Gleichwohl folgt daraus nicht, daß im Wort nicht die höch­ ste Wahrheit ist, weil es unveränderlich gegenüber den veränderlich existierenden Geschöpfen ist, weil zur Wahrheit des Wortes seine Ähnlichkeit mit dem Ding, von dem man sagt, daß es durch das 85  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  33 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 51 f.; 53); vgl. De ver., q.  4, Anm.  80. 86  Dionysius Areopagita, De div. nom. 9, 6 (PG 3, col. 913 C; Dion. I, 469). 87  Augustinus, De div. qu. 83, q.  46, 2 (CCSL 44 A, 71 f.): principales quaedam formae vel rationes; zu verstehen also als Urbilder; denn Au­ gustinus hebt die Gegensätze hervor und nennt keinerlei Ähnlichkeiten.

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Wort besteht, nicht erforderlich ist im Sinne der Übereinstimmung in der Wesensnatur, sondern im Sinne der Darstellung, wie dies in der Frage über das Wissen Gottes88 gesagt worden ist. Zu 3.  Die Anordnung der Geschöpfe nennt man nicht im eigent­ lichen Sinne ›Wort‹, es sei denn insofern, als sie aus einem anderen hervorgeht – und dann ist sie eine gezeugte Beschaffenheit. Sie wird wie auch ›gezeugte Weisheit‹89 mit Bezug auf eine Person ausgesagt, obgleich die Anordnung für sich genommen bezogen auf das Wesen ausgesagt wird. Zu 4.  Der Ausdruck ›Wort‹ unterscheidet sich von dem der Idee. ›Idee‹ benennt nämlich die urbildliche Form ganz für sich, das Wort des Geschöpfes in Gott hingegen die urbildliche Form, sofern sie von einem anderen hervorgebracht wird. Deshalb gehört die Idee in Gott zum Wesen, das Wort dagegen zur Person. Zu 5.  Obgleich Gott in höchstem Maße vom Geschöpf entfernt90 ist – betrachtet im Hinblick auf die Eigentümlichkeit der Natur –, ist dennoch Gott das Urbild des Geschöpfes, ein Geschöpf ist je­ doch kein Urbild eines anderen. Deshalb wird mit dem Wort, das Gott zum Ausdruck bringt, jedes Geschöpf zum Ausdruck gebracht. Durch eine Idee, durch welche das eine Geschöpf ausgedrückt wird, wird aber nicht ein anderes Geschöpf zum Ausdruck gebracht. Von daher tritt noch ein anderer Unterschied zwischen ›Wort‹ und ›Idee‹ zutage, weil sich die Idee unmittelbar auf das Geschöpf bezieht, und 88  Vgl. De ver., q.  2, a.  13, ad 1 (S. 201). 89  Vgl. De ver., q.  4, Anm.  59. 90  Entfernung und Nähe sind in älteren Texten oftmals Metaphern für

Unähnlichkeit und Ähnlichkeit; aus den zahllosen Belegstellen: Augusti­ nus, De trin. VII, 6, 12 (CCSL 50, 266): non enim locorum intervallis sed similitudine acceditur ad deum, et dissimilitudine receditur ab ipso; Au­ gustinus, Enarr. in Ps. 34, 6; CCSL 38, 316: Propinquare illi, est similem illi fieri; recedere ab illo, dissimilem ei fieri; Thomas v. Aquin, Sum. theol. I, q.  9, a.  1, ad 3; ScG III, 64 (ed. C. Pera, nr. 2391). Das umgekehrte Verhält­ nis, nämlich Ähnlichkeit als Metapher für räumliche Nähe, begegnet als Selbstverständlichkeit bei W. V. Quine, The Roots of Reference, La Salle 1974, § 5; nicht als Selbstverständlichkeit wird der Begriff der Nähe als der elementarere reflektiert: R. Spaemann, Nähe und Ferne, in: ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, Stuttgart 2001, 58–59.

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5. Artikel

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deshalb gibt es von der Vielzahl der Dinge viele Ideen, das Wort hingegen bezieht sich unmittelbar auf Gott, der durch das Wort zu­ erst sich selbst zum Ausdruck bringt und in der Folge das Geschöpf. Da die Geschöpfe, sofern sie in Gott sind, eines sind, gibt es von allen Geschöpfen insgesamt nur ein Wort. Zu 6. Wenn Augustinus sagt, daß der Sohn aus demselben Grunde ›Wort‹ genannt wird, aus dem er auch ›Bild‹ genannt wird, versteht er es im Hinblick auf die personale Eigentümlichkeit des Sohnes, die der Sache nach dieselbe ist, sei es daß er aufgrund dieser Eigentümlichkeit ›Sohn‹ bzw. ›Wort‹ bzw. ›Bild‹ genannt wird. Im Hinblick auf die Bezeichnungsweise jedoch liegt nicht derselbe Gehalt der drei ausgesagten Worte vor: ›Wort‹ beinhaltet nicht nur den Charakter des Ursprunges und der Nachahmung, sondern auch des Offenbarmachens. In diesem Sinne bezieht es sich in gewisser Weise auf das Geschöpf, insofern nämlich durch das Wort das Ge­ schöpf offenbar wird. Zu 7.  Das Wort ist in mehrfachem Sinne Wort ›von etwas‹: einmal als Wort des Sprechers, und so geht es aus dem hervor, dessen Wort es ist; zum anderen als Wort dessen, was durch das Wort offenbar wird, und in diesem Sinne ist es nicht notwendig, daß es aus dem hervorgeht, dessen Wort es ist – es sei denn, daß das Wissen, aus dem es hervorgeht, in den Dingen seine Grundlage hat. Dies trifft bei Gott nicht zu, und deshalb ist das Argument nicht stichhaltig.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Beinhaltet die Bezeichnung ›Wort‹ eine Be­ ziehung zum Geschöpf?91 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Jeglicher Begriff, der eine Beziehung zum Geschöpf besagt, wird wie beispielsweise ›Schöpfer‹ und ›Herr‹ von Gott im zeitlichen Sinne ausgesagt. Wort hingegen wird von Gott ohne Bezug auf die Zeit ausgesagt. Also beinhaltet es keine Beziehung zum Geschöpf.

91  Paralleltexte: Sent. IV, d. 27, q.  2, a.  3; Quodl. IV, 4, 1, ad 1 (ed. Leon. XXV/2, 326, 56–65), Sum. theol. I, q.  34, a.  3.

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2.  Jegliches Relationale ist entweder in seinem Sein oder in sei­ nem Ausgesagtwerden relational. Das Wort bezieht sich jedoch nicht in seinem Sein auf das Geschöpf, weil es dann vom Geschöpf abhängig wäre, aber auch nicht in seinem Ausgesagtwerden, weil es notwendig wäre, daß sich in irgendeinem Kasus auf das Geschöpf bezöge, was nicht der Fall ist. Am meisten würde es sich im Genitivfall darauf beziehen, etwa wenn man sagt: »Das Wort ist das eines Geschöpfes«, was Anselm aber bestreitet.92 Also beinhaltet das Wort keine Beziehung zum Geschöpf. 3. Jede Bezeichnung, die eine Beziehung zum Geschöpf bein­ haltet, kann man nur denken, wenn man denkt, daß das Geschöpf entweder der Wirklichkeit oder dem Vermögen nach ist; denn wer das eine Relatum erkennt, erkennt notwendig auch sein Korrelat.93 Wenn aber nicht gedacht wird, daß ein Geschöpf ist oder sein wird, wird doch gleichwohl das Wort in Gott gedacht, insofern sich der Vater selbst ausspricht. Also beinhaltet das Wort keine Beziehung zu einem Geschöpf. 4.  Die Beziehung Gottes zum Geschöpf kann nur eine im Sinne einer Ursache zur Wirkung sein. Aber, wie aus den Ausführungen des Dionysius im 2. Kapitel seiner Schrift Von den göttlichen Na­ men94 hervorgeht, ist jede Bezeichnung, deren Nebenbedeutung eine Wirkung im Geschöpf umfaßt, der Dreieinigkeit insgesamt gemein­ sam. Das Wort ist jedoch nicht von dieser Art. Also beinhaltet es keinerlei Beziehung zum Geschöpf. 5.  In Gott wird nur durch ›Weisheit‹, ›Gutsein‹ und ›Macht‹ ein Bezug zum Geschöpf gedacht. All dies wird jedoch vom Wort nur in der Form einer personalen Zueignung95 zu dieser göttlichen Per­ son verstanden. Wenn also Wort nicht als personale Zueignung 92  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  32–33 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 50–53). 93  Vgl. Aristoteles, Cat. 7; 8 a 35–37. 94  Dionysius Areopagita, De div. nom. 2, 3 (PG 3, col. 640 B; Dion. I, 71). 95  Lat. appropriatio meint in der Trinitätslehre den Fall, daß ein gött­ liches Prädikat, das von Gott als solchem ausgesagt wird, auch noch von einer der drei Personen ausgesagt wird.

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zugeschrieben ist, sondern als einer Person eigentümlich, scheint es, daß es keinen Bezug auf das Geschöpf besagt. 6.  Obwohl der Mensch ein Ordner der Dinge ist, beinhaltet doch die Bezeichnung ›Mensch‹ keinen Bezug zu den geordneten Dingen. Obgleich also das Wort alles anordnet,96 beinhaltet die Bezeich­ nung Wort gleichwohl keinerlei Beziehung zu den angeordneten Dingen. 7.  ›Wort‹ wie auch ›Sohn‹ werden relativ ausgesagt. Die gesamte Beziehung des Sohnes hat im Vater ihren Endpunkt, er ist eben Sohn nur des Vaters. Also beinhaltet das Wort keine Beziehung zum Geschöpf. 8. Nach Aristoteles wird jedes Relative nur auf eines hin ausgesagt;97 andernfalls hätte das Relative zweierlei Sein, da das Sein des Relationalen darin besteht, sich zu anderem zu verhalten.98 Das Wort wird nun aber relativ zum Vater ausgesagt – somit nicht zum Geschöpf. 9.  Wenn Dingen, die der Art nach verschieden sind, eine einzige Bezeichnung beigelegt wird, kommt sie diesen in einem mehrdeuti­ gen Sinne zu, wie beispielsweise das Wort ›Hund‹ einem bellenden Wesen und einem Seehund. Überordnung und Unterordnung sind nun aber zwei verschiedene Arten von Relation. Wenn also eine Be­ zeichnung beide Relationen beinhaltet, ist es unvermeidlich, daß das Wort mehrdeutig ist. Die Beziehung des Wortes zum Geschöpf ist jedoch einzig die einer Überordnung, die Beziehung des Wortes zum Vater hingegen ist die einer Unterordnung, nicht wegen der Ungleichheit der Würde, sondern wegen der Urheberschaft seines Prinzips. Also beinhaltet das Wort, das eine Beziehung zum Va­ 96  Alles anordnet: Anspielung auf Wsh. 8, 1: disponit omnia suaviter, »durchwaltet vortrefflich das All«. 97  Aristoteles, Met. V, 17; 1021 a 27–28. 98  Vgl. Aristoteles, Cat., c.  7; 5 b 36–37: »Relativa werden solche Dinge genannt, von denen gesagt wird, daß sie das, was sie genau sind, bezüglich anderer Dinge oder in irgendeinem anderen Verhältnis zu anderem sind« [Übers. K. Oehler]; Avicenna, Philos. prima III, 10 (ed. S. Van Riet, 179): Dico igitur quod ad aliquid est cuius quiditas dicitur respectu alterius (»Ich sage also, daß das Relative das ist, dessen Wesen in Beziehung auf etwas anderes ausgesagt wird« [Übers. R. S.]).

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ter beinhaltet, keine Beziehung zum Geschöpf – es sei denn, es wird mehrdeutig verwendet. Dagegen spricht: 1.  das, was Augustinus in seinem Buch Über 83 verschiedenen Fragen sagt: »›Im Anfang war das Wort‹. Das griechische Wort ›logos‹ bezeichnet zugleich Begriff und Wort. Aber an dieser Stelle übersetzen wir es besser mit ›Wort‹, damit nicht nur die Beziehung zum Vater bezeichnet wird, sondern auch zur schöpferischen Macht, die alles durch das Wort erschaffen hat.«99 Daraus ergibt sich die Behauptung. 2.  Über jenen Vers aus den Psalmen: »Einmal hat Gott ge­spro­ chen«100, sagt die Glosse: »›Einmal‹, das heißt, das Wort hat er ein­ mal gezeugt, durch das er alles angeordnet hat.«101 ›Anordnung‹ be­ inhaltet nun aber eine Beziehung auf das Angeordnete. Also wird Wort relativ auf das Geschöpf ausgesagt. 3.  Jedes Wort schließt eine Beziehung zu dem ein, was durch das Wort ausgesprochen wird. Aber indem Gott, wie Anselm102 sagt, sich selbst ausspricht, spricht er jegliches Geschöpf aus. Also be­ inhaltet das Wort nicht nur eine Beziehung zum Vater, sondern auch zum Geschöpf. 4. Der Sohn stellt, insofern er Sohn ist, den Vater auf voll­ kommene Weise dar, und zwar gemäß dem, was ihm innerlich ist. 99  Augustinus, De 83 div. qu., q.  63 (CCSL 44 A, 136); bei Thomas auch in dieser Kombination: ScG IV, 42 (ed. C. Pera, nr.  3802); In Ioh. ev. I, 1 (ed. R. Cai, nr. 32); In I Cor., 2, 1 (ed. R. Cai, nr. 74 mit Verweis auf Hieronymus); In De div. nom. 1, 3 (ed. C. Pera, nr. 98); VII, 5 (735); die Kombination ratio et sermo: In I Cor., 2, 1 (ed. R. Cai, nr. 42); Super Meteor I, 1 (ed. R. M. Spiazzi, nr. 4); In De div. nom 7, 2 (ed. C. Pera, nr. 711); 7, 5 (ed. C. Pera, nr. 735). 100  Ps. 62 (61), 12: »Eines hat Gott gesprochen« [Übers. R. Guardini]. Da in der Vulgata nicht unum (eines), sondern semel (einmal) steht, haben Ausleger wie Augustinus angesichts des vielmaligen göttlichen Sprechens die Einmaligkeit auf den Sohn als Wort bezogen: Enarr. in Ps. 61, 18 (CCSL 39, 786 f.). 101  Glossa Petri Lombardi, Comm. in Ps. 61, 11 (PL 191, col. 568 C). 102  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  33 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 51 f.; 53); vgl. De ver., q.  4, Anm.  80.

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Wort fügt in seiner Bezeichnung das Offenbarmachen hinzu; es kann nun aber kein anderes Offenbarmachen geben als in dem Sinne, in dem der Vater durch die Geschöpfe offenbar wird, was den Sinn eines Offenbarmachens nach außen hat. Also beinhaltet das Wort eine Beziehung zum Geschöpf. 5.  Dionysius sagt im 7. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen, »Gott wird gerühmt als Vernunft bzw. Wort, weil er Weis­ heit und Vernunft verleiht.«103 Daraus wird deutlich, daß das Wort, das von Gott ausgesagt wird, die Bedeutung einer Ursache ein­ schließt. ›Ursache‹ wird nun aber in Beziehung zu Wirkung ausge­ sagt. Also beinhaltet das Wort eine Beziehung zu den Geschöpfen. 6.  Der praktische Verstand bezieht sich auf das, was durch ihn ausgeführt worden ist. Das göttliche Wort ist nun aber ein Wort des praktischen Verstandes, weil es ein tätiges Wort ist, wie Johan­ nes von Damaskus sagt.104 Also beinhaltet das Wort eine Bezie­ hung zum Geschöpf. Antwort: Wann immer sich zwei Dinge in der Weise zueinander verhal­ ten, daß das eine zwar vom anderen abhängt, aber nicht umgekehrt, besteht in dem, das vom anderen abhängt, eine reale Relation. In demjenigen jedoch, von dem es abhängt, besteht nur eine gedachte Relation. Daher läßt sich beispielsweise nicht verstehen, daß sich etwas auf etwas anderes bezieht, wenn nicht auch ein entgegenge­ setzter Bezug von seiten dieses anderen gedacht wird, wie dies im Falle des Wissens deutlich ist, welches vom Gegenstand des Wissens abhängt und nicht umgekehrt.105 Daher gilt: Da alle Geschöpfe von Gott abhängen, aber nicht umgekehrt, sind in den Geschöpfen reale Relationen, durch die sie sich auf Gott beziehen; in Gott aber sind die entgegengesetzten Relationen nur gedachte Relationen.

103  Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 4 (PG 3, col. 872 C; Dion. I, 408); Suchla gibt Logos mit Ratio wieder. 104  Johannes Damascenus, De fide orth. I, c.  7 (PG 94, col. 805 A; ed. E. M. Buytaert, 26). 105  Vgl. De ver., q.  1, Anm.  107.

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Da eine Bezeichnung Zeichen des Verstandenen ist,106 ergibt sich, daß bestimmte Namen von Gott ausgesagt werden, die einen Bezug auf das Geschöpf einschließen, auch wenn jener Bezug eine Sache der Vernunft ist. Reale Relationen sind in Gott lediglich jene, durch die sich die Personen voneinander unterscheiden. Unter den relationalen Begriffen finden sich solche, die zur Be­ zeichnung der Relationen selbst geprägt worden sind, wie der Begriff ›Ähnlichkeit‹; bestimmte andere hingegen zur Bezeichnung von et­ was, in dem eine Relation grundgelegt ist, wie beispielsweise der Ausdruck ›Wissen‹ zur Bezeichnung einer Qualität107 geprägt wird, die das Fundament108 einer Relation darstellt. Diesen Unterschied treffen wir auch bei den Bezeichnungen an, die von Gott im Sinne einer Beziehung ausgesagt werden, sowohl bei den zeitfreien wie bei den zeitlichen, die von Gott ausgesagt werden. Die Bezeichnung ›Vater‹, die von Ewigkeit her von Gott ausge­ sagt wird, und ähnlich die Bezeichnung ›Herr‹, die von Gott im zeitlichen Sinne ausgesagt wird, werden eingesetzt, um die Bezie­ hungen selbst zu bezeichnen. Die Bezeichnung ›Schöpfer‹ hinge­ gen, die von Gott im zeitlichen Sinne ausgesagt wird, wird geprägt, um eine Tätigkeit Gottes zu bezeichnen, die eine Art Beziehung zur Folge hat. Ähnlich wird auch die Bezeichnung ›Wort‹ geprägt, um etwas Absolutes mit einer hinzugefügten Beziehung zu bezeichnen. Es ist nämlich Wort dasselbe wie »gezeugte Weisheit«, wie Augu­ stinus109 sagt. Deshalb ist dadurch auch nicht ausgeschlossen, daß ›Wort‹ im Sinne einer Person ausgesagt wird, weil so, wie ›Vater‹

106  Vgl. Aristoteles, Peri herm., c.  1; 16 a 3–4: »Nun sind die (sprachli­ chen) Äußerungen unserer Stimme ein Symbol für das, was (beim Spre­ chen) unserer Seele widerfährt« [Übers. H. Weidemann]. 107  Vgl. De ver., q.  2, Anm.  10. 108  Nach allgemeiner scholastischer Lehre gründet eine Relation zu­ letzt in etwas Nicht-Relativem. Das, was in einer Relation steht und sie fundiert, wird als ›Fundament‹ der Relation bezeichnet, dasjenige, worauf es sich bezieht, als ›Terminus‹ der Relation. Hoch kontrovers war aber der ontologische Status der Relation. 109  Augustinus, De trin. VII, 2, 3 (CCSL 50, 250); vgl. De ver., q.  4, Anm.  59.

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bezogen auf eine Person ausgesagt wird, so auch ›zeugender Gott‹ oder ›gezeugter Gott‹. Es kann nun aber vorkommen, daß ein für sich bestehendes Ding zu mehreren Dingen in Beziehung steht. Daher kommt es, daß je­ ner Ausdruck, der zur Bezeichnung von etwas für sich Seiendem, zu dem eine Beziehung erst hinzutritt, geprägt worden ist, relativ zu mehreren ausgesagt werden kann. Dementsprechend wird etwa ›Wissen‹, insofern es Wissen ist, bezogen auf das Wißbare ausgesagt; sofern es jedoch eine Art Akzidens bzw. eine Form ist, bezieht es sich auf den Wissenden. So enthält auch die Bezeichnung ›Wort‹ eine Beziehung zum Sprechenden wie auch zu dem, was durch das Wort ausgesprochen wird. Im Verhältnis zu diesem kann es auf zweifache Weise ausgesagt werden: In der einen Hinsicht im Sinne der Wech­ selseitigkeit der Bezeichnung, und in diesem Sinn spricht man von ›Wort‹ im Verhältnis zum Ausgesagten, auf andere Weise mit Bezug auf das Ding, welchem der Begriff des Ausgesagten zukommt. Da der Vater ursprünglich sich selbst, indem er sein Wort zeugt, ausspricht und in der Folge die Geschöpfe ausspricht, deshalb bezieht sich das Wort ursprünglich und gleichsam von sich aus auf den ­Vater, aber in der Folge und gleichsam akzidentell bezieht es sich auf das Geschöpf. Es kommt nämlich dem Wort zu, daß durch es das Geschöpf ausgesprochen wird. Zu 1.  Jenes Argument ist bei all dem stichhaltig, das eine wirk­ liche Beziehung zum Geschöpf in sich enthält, nicht aber bei dem, das eine habituelle Beziehung zum Geschöpf beinhaltet; eine ›habi­ tuelle Beziehung‹ nennt man eine solche, die es nicht erfordert, daß ein Geschöpf gleichzeitig wirklich ist. Von dieser Art sind alle Be­ ziehungen, die sich aus den Tätigkeiten der Seele ergeben, weil Wille und Verstand sich auch auf das beziehen können, was nicht wirk­ lich seiend ist. Die Bezeichnung ›Wort‹ beinhaltet nun aber e­ inen Hervorgang des Erkennens, und deshalb ist die Begründung nicht stichhaltig. Zu 2.  Das Wort wird nicht der Wirklichkeit nach in Beziehung auf das Geschöpf ausgesagt in dem Sinne, daß die Relation zum Geschöpf in Gott wirklich wäre, sondern liegt nur in der Art der Aussage. Dies schließt nicht aus, daß es in einem bestimmten Ka­

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sus ausgesagt wird. Ich kann nämlich sagen, daß es das Wort des Geschöpfes ist, d. h. von einem Geschöpf, nicht durch das Geschöpf; in diesem Sinne bestreitet es Anselm. Außerdem: Wenn es nicht entsprechend dem Fall, in dem es steht, einen Bezug hätte, wäre es hinreichend, daß es irgendwie in Beziehung stünde; beispielsweise wenn es sich bezöge durch die mit dem Kasus verbundene Präposition, in dem Sinne, in dem man sagt, daß das Wort in Beziehung zum Geschöpf steht, nämlich in der des Her­ vorbringens. Zu 3.  Das Argument geht von solchen Bezeichnungen aus, die von sich aus eine Beziehung zum Geschöpf einschließen. Diese Be­ zeichnung ist nun aber nicht von dieser Art, wie aus dem Dargelegten deutlich wird. Deshalb ist das Argument nicht schlüssig. Zu 4.  Im Hinblick auf jenen Aspekt, in dem die Bezeichnung Wort etwas für sich bezeichnet, hat es die Beziehung der Ursäch­ lichkeit zum Geschöpf. Im Hinblick auf den realen Ursprung, den es einschließtt, wird es zu etwas, was zu einer Person gehört, worin es jedoch keine Beziehung zum Geschöpf hat. Dadurch ist auch die Erwiderung auf den 5. Einwand ersichtlich. Zu 6.  Das Wort ist nicht nur dasjenige, wodurch eine Anord­ nung geschieht, sondern ist eben die Anordnung selbst des Vaters für die zu erschaffenden Dinge; deshalb bezieht es sich in gewisser Weise auf das Geschöpf. Zu 7.  ›Sohn‹ beinhaltet eine Relation lediglich zu dem Ursprung, aus dem er hervorgeht; ›Wort‹ hingegen beinhaltet eine Relation so­ wohl zum Ursprung, von dem es ausgesprochen wird, wie auch zu dem, was den Sinn von Bezugspunkt hat, nämlich demjenigen, was durch das Wort offenbar wird. Dies ist ursprünglich der Vater und in abgeleiteter Weise das Geschöpf, das auf keine Weise Ur­ sprung einer göttlichen Person sein kann. Deshalb beinhaltet Sohn auf keine Weise eine Relation zum Geschöpf, so wie dies eben bei Wort der Fall ist. Zu 8.  Dieses Argument geht von jenen Bezeichnungen aus, die geprägt werden, um die Relationen selbst zu bezeichnen. Es ist näm­ lich unmöglich, daß eine Relation auf Vieles bezogen ist, es sei denn, daß jenes Viele in irgendeiner Weise eine Einheit bildet. Und ähnlich ist auf den 9. Einwand zu antworten.

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6. Artikel

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Die Argumente, die für das Gegenteil sprechen, folgern, daß das Wort sich auf irgendeine Weise auf das Geschöpf bezieht, nicht aber, daß es diese Beziehung von sich her und im grundsätzlichen Sinne beinhaltet. In diesem Sinne muß man sie einräumen. 6. Artik el Die sechste Frage lautet: Sind die Dinge in wahrhafterem Sinne im Wort als in sich selbst?110 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Etwas ist dort, wo es seinem Wesen nach ist, in wahrhafterem Sinne als dort, wo es nur als Bild ist. Nun sind die Dinge aber im Wort nur als in ihrem Urbild. Die Dinge sind aber in sich selbst ih­ rem Wesen nach. Also sind sie in wahrhafterem Sinne in sich selbst als im Wort. 2.  Dazu gab es folgenden Gegeneinwand: Die Dinge sind insofern im vorzüglicheren Sinne im Wort, als sie dort ein vorzüglicheres Sein haben. – Doch dem steht wiederum entgegen: Ein materielles Ding hat in unserer Seele ein vorzüglicheres Sein als in sich selbst, wie auch Augustinus in seinem Werk Über die Dreieinigkeit 111 sagt, und dennoch ist es in wahrhafterem Sinn in sich selbst als in unse­ rer Seele. Also ist aus demselben Grund ein Ding in wahrhafterem Sinn in sich als im Wort. 3.  Was in Wirklichkeit ist, exisitiert in wahrhafterem Sinn als das, was nur in Möglichkeit ist. Ein Ding ist aber in sich in Wirklichkeit, im Wort aber ist es lediglich in Möglichkeit – wie beispielsweise ein Kunstgebilde im Künstler. Also ist das Ding in wahrhafterem Sinn in sich selbst als im Wort. 4.  Die höchste Vollkommenheit eines Dinges ist seine Tätigkeit.112 Die Dinge haben, sofern sie in sich selbst existieren, für sich spe­ 110  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  18, a.  4, ad 3. 111  Augustinus, De trin. IX, 4, 4 (CCSL 50, 297). 112  Vgl. Aristoteles, De caelo II, 3; 286 a 8–9: »Alles, was eine eigene

Tätigkeit hat, existiert um dieser Tätigkeit willen« [Übers. A. Jori]; vgl. Thomas v. Aquin, Sent. II, d. 1, q.  2, a.  2, ad 2: ipsa operatio est ultima perfectio in qua res existit (»Die Tätigkeit ist die letzte Vollkommenheit, in der ein Ding existiert« [Übers. R. S.]); ScG III, 113 (ed. C. Pera, nr. 2869):

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zifische Tätigkeiten, die sich nicht haben, sofern sie im Wort sind. Also sind sie in wahrhafterem Sinne in sich als im Wort. 5.  Vergleichen läßt sich nur das, was unter einen Begriff fällt. Das Sein eines Dinges, das dieses in sich selbst hat, fällt nun aber nicht unter denselben Begriff wie das Sein, das es im Wort hat. Also kann man zumindest nicht behaupten, daß es im Wort in wahrhafterem Sinne als in sich selbst sei. Dagegen spricht: 1.  »Das Geschöpf ist im Schöpfer das schöpferische Wesen«113, wie Anselm sagt. Das ungeschaffene Sein ist nun aber in wahr­ hafterem Sinne ein Sein als das geschaffene. Also hat ein Ding ein wahrhafteres Sein im Wort als in sich selbst. 2.  So wie Platon114 behauptet hat, daß die Ideen außerhalb des göttlichen Geistes sind, so behaupten wir, daß sie im göttlichen Geist sind. Es war Platons115 Auffassung, daß der von der Materie getrennte Mensch in wahrhafterem Sinn Mensch ist als der mit der Materie verbundene Mensch. Deshalb nannte er den von der Ma­ terie getrennten Mensch ›Mensch an sich‹116. Also sind auch nach der Behauptung des Glaubens die Dinge in wahrhafterem Sinne im Wort als in sich selbst. 3.  Dasjenige, was das absolut wahrhaft Seiende in jeder Gattung ist, ist das Maß der gesamten Gattung.117 Die Urbilder der Dinge im Wort sind die Maßstäbe für alle Dinge, weil ein Ding aufgrund dessen ›wahrhaft‹ genannt wird, daß es sein Urbild nachahmt, das operatio enim est ultima perfectio rei (»Die Tätigkeit ist ja die letzte Voll­ endung der Dinge« [Übers. K. Allgaier]). 113  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  36 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 55). 114  Die Editio Leonina verweist auf: Petrus Lombardus, Sent. II, d. 1 c.  1 (ed. Coll. S. Bon., I, 130); Petrus sagt dort, daß Platon drei ungeschaf­ fene Prinzipien behauptet habe: Gott, die Welt und die Materie, wobei er Gott als Künstler, nicht als Schöpfer verstanden habe. 115  Vgl. Aristoteles, Met. III, 2; 997 b 8–9. 116  Vgl. Aristoteles, Et. Nic. I, 4; 1096 a 34 ff. 117  Vgl. Aristoteles, Met. X, 2; 1052 b 18–19, 31–32; vgl. De ver., q.  4, Anm.  84.

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6. Artikel

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im Wort ist. Also sind die Dinge in wahrhafterem Sinne im Wort als in sich selbst. Antwort: Die Wirkungen bleiben, wie Dionysius sagt,118 in ihrer Nachah­ mung hinter ihren Ursachen zurück, die diese überschreiten. Wegen dieses Abstands der Ursache von dem von ihr Verursachten wird et­ was von der Wirkung in wahrhaftem Sinne ausgesagt, was nicht von der Ursache ausgesagt wird. Dies wird beispielsweise auch daraus ersichtlich, daß die Vergnügungen sich nicht vergnügen, obgleich sie Ursachen unseres Vergnügens sind. Dies ist nur deshalb der Fall, weil die Seinsweise der Ursachen höher als diejenige ist, die von den Wirkungen ausgesagt wird. Dies finden wir bei allen Ursachen, die ungleichartige Wirkungen hervorbringen. So kann man beispiels­ weise die Sonne nicht ›warm‹ nennen, obgleich durch sie andere Dinge erwärmt werden – dies ist der Fall wegen des Überragens der Sonne im Verhältnis zu all dem, was man ›warm‹ nennt. Wenn nun also die Frage gestellt wird, ob die Dinge in wahrhafte­ rem Sinne in sich selbst als im Wort sind, ist eine Unterscheidung zu machen, da der Ausdruck ›in wahrhafterem Sinne‹ die Wahr­ heit des Dinges oder die Wahrheit der Aussage bezeichnen kann. Wenn er die Wahrheit des Dinges bezeichnet, dann ist zweifellos die Wahrheit der Dinge im Wort größer als in sich selbst. Wenn hingegen die Wahrheit der Aussage gemeint ist, dann ist es umge­ kehrt: ›Mensch‹ wird in wahrhafterem Sinn von dem Ding ausge­ sagt, sofern es sich in seiner eigentümlichen Wesensnatur befindet, als insofern es im Wort ist. Dies ist nicht wegen eines Mangels des Wortes der Fall, sondern, wie schon gesagt, wegen seines Über­ ragens.

118  Dionysius Areopagita, De div. nom. 2, 8 (PG 3, col. 654 C; Dion I, 99); der Ausdruck supercollocantur kommt in dieser Form bei Thomas nur an dieser Stelle vor; er ist wohl die Übersetzung des Johannes Sarracenus von ὑπερίδρυται. Thomas’ Kommentierung: In De div. nom. 2, 4 (ed. C. Pera, nr. 184). Die Übersetzung B. R. Suchla: »entrückt«; E. Stein: »uner­ reichbar hinausgehoben«.

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Zu 1.  Wenn man es im Sinne der Wahrheit der Aussage versteht, ist es ohne Einschränkung wahr, daß etwas dort wahrhafter ist, wo es seinem Wesen nach, als dort, wo es seinem Bild nach ist. Wenn man es hingegen im Sinne der Wahrheit des Dinges versteht, dann ist es in wahrhafterem Sinne dort, wo es dem Urbild nach ist, welche die Ursache des Dinges ist, und in geringerem Grade wahrhaft ist es dort, wo es als Abbild ist, das vom Ding verursacht wird. Zu 2.  Das Bild, das in unserer Seele ist, ist nicht wie das Bild der Dinge im Wort Ursache des Dinges. Es liegt also nicht derselbe Fall vor. Zu 3.  Ein aktives Vermögen ist vollkommener als die Tätigkeit, die seine Wirkung ist. In diesem Sinne sagt man von den Geschöp­ fen, im Wort dem Vermögen nach zu sein. Zu 4.  Auch wenn die Geschöpfe im Wort nicht die ihnen spezi­ fischen Tätigkeiten entfalten, so haben sie gleichwohl vorzüglichere Tätigkeiten, insofern sie eben die Dinge und deren Tätigkeiten her­ vorbringen. Zu 5.  Auch wenn das Sein der Geschöpfe im Wort und in sich selbst nicht im univoken Sinne unter denselben Begriff fallen, so gehören sie gleichwohl in Form der Analogie in gewisser Weise zu einem Begriff. Auf die Argumente, die im entgegengesetzten Sinne eingewandt worden sind, ist zu antworten: Zu 1.  Das Argument geht von der Wahrheit des Dinges aus, nicht von der der Aussage. Zu 2.  Platon wird in der Behauptung widersprochen, wonach die Formen der natürlichen Dinge ihrem eigentümlichen Begriff nach in dem Sinne außerhalb der Materie sind, als beziehe sich die Mate­ rie auf die natürlichen Arten als Akzidens. Dementsprechend kön­ nen die natürlichen Arten in wahrhaftem Sinne von dem ausgesagt werden, was frei von Materie ist. Wir aber behaupten dies nicht, und deshalb liegt nicht derselbe Fall vor. Zu 3.  Hierzu ist dasselbe wie zum ersten Einwand zu sagen.

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7. Artikel

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7. Artik el Die siebte Frage lautet: Bezieht sich das Wort auf das, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist?119 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  ›Wort‹ besagt etwas, was aus dem Verstand hervorgeht. Der göttliche Verstand bezieht sich nun aber auch auf das, was nicht ist, nicht sein wird und nicht gewesen ist, wie in der Untersuchung über das Wissen Gottes120 dargelegt worden ist. Also kann sich das Wort auch auf all das beziehen. 2. Nach Augustinus im 6. Buch seines Werks Über die Drei­ einig­keit ist »der Sohn die Kunst des Vaters, voll von lebendigen Begriffen«.121 Aber, wie Augustinus in der Schrift Über 83 verschie­ dene Fragen122 sagt, auch wenn durch jenen Begriff (ratio) nichts wirklich wird, nennt man ihn doch zu Recht ›Begriff‹. Also bezieht sich das Wort auch auf das, was nicht sein wird und nicht geschaf­ fen ist. 3.  Ein Wort wäre nicht vollkommen, wenn es nicht alles in sich enthielte, was im Wissen des Sprechenden liegt. Im Wissen des sich aussprechenden Vaters ist nun aber das, was niemals sein wird und was nicht geschaffen ist. Also ist auch dieses im Wort. Dagegen spricht: 1.  dasjenige, was Anselm im Monologion sagt: »Von dem, was nicht ist und nicht sein wird und gewesen ist, kann es kein Wort geben«123. 2.  Zur Wirkkraft eines Redenden gehört es, daß das, was immer er sagt, auch geschieht. Gott ist nun aber im höchsten Maße mäch­ tig. Also bezieht sich sein Wort nicht auf etwas, was nicht irgend­ wann geschieht. 119  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  34, a.  3, ad 5. 120  Vgl. De ver., q.  3, a. 6 (S. 254 ff.). 121  Augustinus, De trin. VI, 10, 11 (CCSL 50, 241) ; vgl. De ver., q.  2,

Anm.  290. 122  Augustinus, De div. q.  83, q.  63 (CCSL 44 A, 136). 123  Anselm v. Canterbury, Monologion, c.  32 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 50).

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Antwort: Etwas kann in zweifacher Weise ›im Wort sein‹: einmal als das, was das Wort erkennt bzw. was im Wort erkannt werden kann; und in diesem Sinne ist im Wort auch dasjenige, was nicht ist, nicht gewesen ist und nicht sein wird, weil all dies das Wort wie auch der Vater erkennt; im Wort kann es wie auch im Vater erkannt werden. Der Ausdruck ›im Wort sein‹ wird in einem anderen Sinne von dem ausgesagt, was durch das Wort ausgesprochen wird. Alles nämlich, was durch ein Wort ausgesprochen wird, ist in gewisser Weise auf die Ausführung ausgerichtet, weil wir durch ein Wort andere Menschen zum Handeln antreiben und Leuten anordnen, das auszuführen, was wir uns im Geist ausgedacht haben. Daher ist auch das Reden Gottes seine Anordnung, wie dies aus der Glosse124 über den Psalmvers »Einmal hat Gott gesprochen  …«125 hervorgeht. Daher gilt: Wie Gott nur das anordnet, was ist, sein wird und gewe­ sen ist, so spricht er auch nur das aus. Daher bezieht sich auch das Wort nur auf das, was durch es ausgesprochen worden ist. ›Wissen‹, ›Kunst‹, ›Idee‹ bzw. ›Begriff‹ hingegen beinhalten keine Ausrichtung auf irgendeine Ausführung, und deshalb liegt bei diesen Bezeich­ nungen und dem Wort nicht derselbe Fall vor. Aus dem Gesagten wird die jeweilige Antwort auf die Einwände deutlich. 8. Artik el Die achte Frage lautet: Ist alles, was geschaffen ist, im Wort Leben?126 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Das Wort ist dadurch Ursache der Dinge, daß die Dinge in ihm sind. Wenn also die Dinge im Wort Leben sind, dann verur­ 124  Petrus Lombardus, Comm. in Ps. 61, 11 (PL 191, col. 568 C); vgl. De ver., q.  4, Anm.  101. 125  Ps. 62 (61), 12; vgl. De ver., q.  4, Anm.  100. 126  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  18, a.  4; ScG IV, 13; In Ioh. 1, 2 (ed. R. Cai, nr. 89–94).

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8. Artikel

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sacht das Wort die Dinge in der Weise des Lebens. Nun folgt aber daraus, daß es die Dinge in der Weise der Gutheit verursacht, daß alles gut ist. Also folgt daraus, daß es die Dinge in der Weise des Lebens verursacht, daß alles lebendig ist. Dies ist jedoch falsch, also auch das erste. 2.  Die Dinge sind im Wort wie die Kunstgebilde im Künstler. Die Kunstgebilde sind jedoch im Künstler kein Leben: Sie sind näm­ lich weder das Leben des Künstlers, der ja schon lebendig war, bevor die Kunstgebilde in ihm waren, noch das Leben der Kunstwerke, da diese gar kein Leben haben. Also sind auch die Geschöpfe im Wort kein Leben. 3.  Dasjenige, welches das Leben bewirkt, wird in der Schrift eher dem Heiligen Geist als dem Wort zugeschrieben, wie aus dem Johannesevangelium, Kap. 6, ersichtlich wird: »Der Geist ist es, der lebendig macht«127, auch an mehreren anderen Stellen.128 ›Wort‹ wird jedoch nicht vom Heiligen Geist ausgesagt, sondern aus­ schließlich vom Sohn, wie aus dem Dargelegten129 ersichtlich wird. Also sagt man sinnvollerweise auch nicht, daß die Dinge im Wort Leben sind. 4.  Das Licht des Verstandes ist nicht das Prinzip des Lebens. Nun sind aber die Dinge im Wort Licht.130 Also scheint es, daß sie in ihm auch nicht Leben sind. Dagegen spricht: 1. Im Johannesevangelium, Kap. 1, heißt es: »Was geschaffen wurde, war in ihm Leben.«131 127  Joh. 6, 64; der Ausdruck wurde auch im christlichen Nicäno-Kon­ stantinopolitanum, dem ›Großen Glaubensbekenntnis‹ der katholischen Kirche aufgenommen. 128  Man kann etwa an folgende Stellen denken: Joh. 6, 63; 2 Kor. 3, 6; Gal. 5, 25; 1 Petr. 4, 6. 129  Vgl. De ver., q.  4, a.  3 (S. 287 ff.). 130  Vgl. Joh. 1, 4. 131  Joh. 1, 3. In der Neuen Einheitsübersetzung findet sich folgende Zuordnung: »3Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. 4In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.« Berger  /  Nord: »Alle Dinge sind durch das Wort entstan­

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2.  Laut Aristoteles im 8. Buch der Physik132 nennt man die Bewe­ gung des Himmels das Leben, das allen Dingen, die von Natur sind, gegeben wird. Das Wort hat jedoch auf die geschaffenen Dinge ­einen größeren Einfluß als die Bewegung des Himmels auf die Na­ tur. Also muß man die Dinge, sofern sie im Wort sind, ›Leben‹ nennen. Antwort: Die Dinge lassen sich, sofern sie im Wort sind, auf zweifache Weise betrachten: einmal im Hinblick auf das Wort, zum anderen im Hinblick auf die Dinge, so wie sie in ihrer eigenen Wesensna­ tur existieren. Auf beiderlei Weise ist das Urbild des Geschöpfes im Wort Leben. Wir nennen im eigentlichen Sinne dasjenige ›Leben‹, was in sich selbst den Grund einer Bewegung bzw. einer Tätigkeit irgendwel­ cher Art hat.133 Manche Dinge werden in erster Linie aus dem Grund ›lebendig‹ genannt, weil sie sich in der Anschauung als solche zeigen, die in sich selbst etwas haben, das sie bewegt – in jeglicher Art von Bewegung.134 Von daher geht der Begriff ›Leben‹ auf alles über, was den. Ohne das Wort konnte nichts werden. In ihm war das Leben, und für die Menschen ist Leben auch Licht«; W. Jens: »Durch das Wort / wurde al­ les. Nichts, was ist, / ist ohne IHN. / ER: das Leben./ ER: das Licht / für die Menschen.« Auch Thomas kannte, wie aus seinem Johannes-Kommentar hervorgeht, diese Variante – und zwar aus Johannes Chrysostomos (In Ioh. ev. I, 3 [ed. R. Cai, nr. 94). Daneben kannte er aus Augustinus, Origenes und Hilarius v. Poitiers noch weitere Lesarten (89–93). 132  Aristoteles, Phys. VIII, 1; 250 b 13–14; Aristoteles stellt zu Beginn dieses Buches die Frage, ob die Natur entstanden und auch vergänglich ist oder ob das Gegenteil gilt, und auf diese Variante nimmt die Stelle Bezug: »ist dies das unvergängliche und bleibende Geschehen der Dinge, gleich­ sam das Leben aller Naturprodukte« [Übers. H. Wagner]. 133  Vgl. Aristoteles, De an. II, 1; 412 b 15–17. 134  Zu den Arten der Bewegung vgl. Aristoteles, Phys. III, 1; 201 b 9–15.  – Thomas verweist Sum. theol I, q.  18, a.  1, ad 3 auf die Rede von ›leben­ digem Wasser‹, bezogen auf fließendes Wasser im Unterschied zu totem, weil stehendem Gewässer in einer Zisterne; vgl. ScG I, 97 (ed. C. Pera, nr.  813), wo er auch die Bezeichnung argentum vivum [lebendiges Silber] für Quecksilber, das in sich selbst Bewegung zu haben scheint, anführt.

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8. Artikel

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das Prinzip einer spezifischen Bewegung in sich hat. Daher wird auch dasjenige, das etwas erkennt oder wahrnimmt oder will, ›le­ bendig‹ genannt, also nicht nur deswegen, weil es sich im Raum oder durch Wachstum verändert. Jenes Sein also, welches ein Ding, sofern es sich selbst zu einer Tätigkeit bewegt, hat, wird im eigent­ lichen Sinne das Leben des Dinges genannt, weil »das Leben für das Lebendige das Sein ist«135, wie es im 2. Buch der Schrift Über die Seele heißt. Bei uns Menschen ist keine der Tätigkeiten, zu denen wir uns be­ wegen, unser Sein. Daher ist unser Erkennen nicht im eigentlichen Sinne unser Leben, es sei denn, daß man ›Leben‹ im Sinne eines Werkes versteht, welches ein Zeichen des Lebendigseins ist. Ent­ sprechend ist in uns auch das Erkenntnisbild im Verstand nicht un­ ser Leben. Doch das Erkennen des Wortes ist sein Sein und dem­ entspre­chend auch sein Bild. Daher ist das Urbild des Geschöpfes im Wort sein Leben. Ähnlich ist auch das Urbild des Geschöpfes in gewisser Weise das Geschöpf selbst, in dem Sinne nämlich, in dem es heißt, daß die Seele »gewissermaßen alles«136 ist. Dadurch, daß das Urbild des Ge­ schöpfes im Wort das Geschöpf in seiner ihm eigentümlichen We­ sensnatur hervorbringt und bewegt, kann es in gewisser Weise der Fall sein, daß das Geschöpf sich selbst bewegt und zum Sein führt, insofern es nämlich durch sein im Wort befindliches Urbild ins Sein hervorgebracht wird und bewegt wird.137 Daher ist in gewisser Weise das Urbild des Geschöpfes im Wort das Leben des ­Geschöpfes. Zu 1.  Daß man das Geschöpf im Wort ›Leben‹ nennt, gehört nicht zum eigentümlichen Begriff des Geschöpfes, sondern eben zu der Weise, in der es im Wort ist. Daher folgt daraus, daß es in sich selbst nicht in derselben Weise existiert, nicht, daß es lebt, obgleich 135  Aristoteles, De an. II, 4; 415 b 13. 136  Aristoteles, De an. III, 8; 431 b 21. 137  Bei Meister Eckhart besonders zugespitzt formuliert, Pred. 52 (DW

II, 728): »Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich kei­ nen Gott, und da war ich Ursache meiner selbst« [Übers. J. Quint]; »da war ich Ursprung meiner selbst« [Übers. K. Flasch, 1998].

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es doch im Wort Leben ist. Ebenso ist es in sich selbst nicht von Materie frei, obgleich es im Wort von Materie frei ist. Gutsein, Seiendsein und dergleichen gehören hingegen zum eigentümlichen Begriff des Geschöpfes; und deshalb gilt: So wie die Geschöpfe in Hinsicht auf ihr Sein im Wort gut sind, so sind sie auch in Hinsicht auf das gut, was sie in ihrer spezifischen Wesensnatur sind. Zu 2.  Die Urbilder der Dinge im Künstler können nicht im eigent­ lichen Sinne ›Leben‹ genannt werden, da sie nicht das Sein des le­ bendigen Künstlers und auch nicht dessen Tätigkeit sind, wie dies bei Gott der Fall ist. Dennoch sagt Augustinus, daß die Truhe im Geist des Künstlers lebt.138 Doch dies gilt, insofern sie im Geist des Künstlers ein Sein im Sinne des Verstandenseins hat, das zur Gat­ tung des Lebens gehört. Zu 3.  ›Leben‹ wird dem Heiligen Geist aufgrund dessen zu­ gesprochen, daß Gott das Leben der Dinge genannt wird, insofern er in allen Dingen das ist, was sie bewegt, so daß in gewisser Weise alle Dinge von einem inneren Prinzip bewegt scheinen. ›Leben‹ wird dem Wort hingegen spezifisch zu­ geeignet aufgrund dessen, daß die Dinge in Gott sind, wie aus dem Dargelegten hervorgeht. Zu 4.  Von den Urbildern der Dinge im Wort gilt: So wie sie für die Dinge Ursache des Seins sind, so sind sie für die Dinge auch Ur­ sache des Erkennens. Sie werden nämlich den nur den Geistwesen139 eingeprägt, damit sie die Dinge erkennen können. Daher gilt: So wie die Urbilder als Prinzipien des Seins ›Leben‹ genannt werden, so werden sie als Prinzipien des Erkennens ›Licht‹ genannt. 138  Augustinus, In Ioh. ev. tract. I, 17 (CCSL 36, 10): »Der Tischler macht einen Kasten. Zuerst hat er den Kasten in der künstlerischen Idee (in arte); denn wenn er den Kasten nicht in der Idee hätte, wie könnte er ihn bei der Anfertigung hervorbringen? Aber der Kasten ist so in der Idee, daß es nicht der Kasten selbst ist, den man mit den Augen sieht. In der Idee ist er auf unsichtbare Weise, im Werke wird er auf sichtbare Weise sein […] Der Kasten im Werke ist nicht Leben, der Kasten in der Idee ist Leben, weil die Seele des Künstlers lebt, wo all dieses ist, bevor es in die Erscheinung tritt« [Übers. Th. Specht]. 139  Der Ausdruck intellectualibus mentibus auch in De ver., q.  28, a.  3, ad 9 (Übers. P. Hellmaier, 244).

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Thomas von Aquin hat eine ganze Reihe von Quaestiones disputa­ tae während seiner akademischen Laufbahn gehalten und publiziert. Sie sind Gegenstand der vorliegenden Übersetzungsausgabe. Die ­erste und mit Abstand umfangreichste Serie solcher Quaestiones beruht auf Lehrveranstaltungen in Paris in den Jahren 1256–1259. Die erste Quaestio gibt wie meist bei diesen Sammlungen dem Werk den Titel: De veritate, Über die Wahrheit. Die folgenden Quaestio­ nes bauen aufeinander auf; es ist dabei zwar ein sinnvoll gegliederter Aufbau, aber sicher keine systematische Vollständigkeit angestrebt. I.  Wahrheit So grundlegend der Begriff ›Wahrheit‹ für die menschliche Selbst­ verständigung und demzufolge für die Philosophie ist, systemati­ sche Untersuchungen dazu sind in der älteren Philosophie eher sel­ ten verfaßt worden – hochbedeutsame Texte durchaus. Eine wich­ tige in Dialogform hat Anselm von Canterbury in der ersten Hälfte der 1080er Jahre verfaßt. Diejenige des Thomas ist die erste syste­ matische Untersuchung nach der erfolgten ›Aristoteles-Rezeption‹. Die Aneignung von verschiedenen Autoren und Traditionen stellt in dieser Phase die Aufgabe, die jeweiligen Konzeptionen in ein Ver­ hältnis zueinander zu bringen. Dies wiederum erfordert, sich mit dem Thema umfassend und grundlegend auseinanderzusetzen. Bei­ des versucht Thomas in dieser ersten Quaestio, die in zwölf Einzel­ artikel untergliedert ist, zu leisten. Es handelt sich dabei wohl nicht ganz zufällig um einen der weni­ gen Texte aus der Philosophie des Mittelalters, der in der Philosophie des 20. Jahrhunderts auch außerhalb der Milieus, in denen man ge­ meinhin Thomas von Aquin gelesen hat, Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Martin Heidegger hat sie mehrfach in Lehrveranstal­ tungen behandelt und über die erste quaestio geurteilt: »Grund­

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legend nicht nur für die folgenden 28 Quaestiones, sondern für die Philosophie und Theologie des Thomas überhaupt, ist die quaestio prima.«1 Die ebenfalls von der Phänomenologie Husserls herkom­ mende Edith Stein hat alle Quaestiones dieses Werkes, wenn auch um die Einwände und einen Teil der Erwiderungen gekürzt, über­ setzt und damit die erste deutsche Übersetzung eines Werkes dieser literarischen Gattung vorgelegt. Was die erste Quaestio angeht, so gilt sie als locus classicus der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Allerdings haben solche Etikettierungen den empfindlichen Nachteil, nichts darüber zu enthalten, was denn genau Korrespondenz heißt und worin sie gründet, also auch nichts darüber, welchen Status die Bestimmung der Adäquatheit wirklich hat und wie sie überhaupt möglich ist. Thomas’ Motiv für diese Thematisierung entspringt keinem sub­ jektiven Einfall und auch nicht einer institutionellen Verpflichtung. Er sieht sich mit einer allzu lapidaren These konfrontiert: Wahr­ heit und Sein ist dasselbe. Was nicht nur zu sein scheint, sondern ist – ist wirklich bzw. ›in Wahrheit‹ und nicht bloß vermeintlicher Weise. Aber das sagt nur so viel, wie eben Sein sagt. Was aber besagt ›Sein‹? Und wie kommt man zur Bestimmung dessen, was das ›Sein‹ besagt? Sein gehört ebenfalls zu den Grundbegriffen des menschli­ chen Denkens, aber eben nicht als einer von einer überschaubaren Anzahl ziemlich basaler Begriffe, sondern ist – so Thomas’ These auch in diesem Text – derjenige Begriff, der den gesamten Horizont des Denkens bestimmt. Was immer wir denken, wir denken es in irgendeinem Sinne als ein Seiendes. Auch ein Plan oder ein Bericht, auch eine Fiktion, beabsichtigt oder nicht, sind nicht nichts. Wenn man derlei von der Wirklichkeit im engeren Sinn zu unterscheiden sucht, bedarf es aber eben doch des Bezuges auf Erkenntnis und Wahrheit. Der Begriff ist freilich ein Ausnahmebegriff: Gerade weil er von solch unübersteigbarer Allgemeinheit ist, kann er nicht als Gattungsbegriff betrachtet werden, demzufolge auch nicht als Be­ griff einer obersten Gattung. Denn alles, was diese Gattung gliedert, wäre ja selbst wieder ein Seiendes, also im Falle des Seienden gerade 1  Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant [WS 1926/27], GA XXIII, 48.

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keine Differenzierung. Ist also mit ›Sein‹ nichts gesagt? Dies deswe­ gen nicht, weil es ja einer bestimmten Wortform angehört und da­ her mit anderem vergleichbar ist.2 Der Ausdruck ›Sein‹ (esse) leitet sich nach Thomas von actus essendi her, soll heißen vom wirklichen Vollzug und eben nicht – wie in der Tradition, die Étienne Gilson essentialisme genannt hat – von der Wesensstruktur als bloßer Un­ wandelbarkeit und damit Freiheit von Nichtsein (kein ›noch nicht‹, kein ›nicht mehr‹). Zudem gibt es eine Reihe weiterer Begriffe von gleicher Extension, die also mit dem Seienden in Verbindung stehen müssen. Dies versucht Thomas zu zeigen. Entsprechend den zwi­ schen diesen Begriffen anzusetzenden formalen Beziehungen ergibt sich bei Thomas folgende Gliederung: Seiendes für sich genommen: Ding (res) und Eines (unum); Seiendes im Verhältnis zu anderem gliedert sich zweifach: ein­ mal im Sinne der Unterscheidung: etwas (aliquid = aliud quid, ein je anderes Etwas), zum anderen im Sinne der Übereinkunft. Diese betrifft nun ein bestimmtes Seiendes,3 aber nicht als irgendein Ein­ 2  Vgl. R. Schönberger, Ipsum esse nondum est. Zu einer Neuinterpre­ tation einer neudatierten Thomasschrift, in: G. Leipold  /  W. Löffler (Hg.), Entwicklungslinien mittelalterlicher Philosophie, Wien 1999, 107–119. [Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Bd.  3: Vorträge des 5. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Philo­ sophie, Teil 2]. 3  Edith Stein sieht darin eine neuralgische Stelle in den Bestimmun­ gen des Wahren und Guten: »Das Seiende, zu dem sie eine Beziehung herstellen, ist aber nicht irgendein Seiendes, sondern ein ganz bestimm­ tes: die Seele. Damit scheinen die Grenzen einer formalen Untersuchung überschritten« (Unendliches und endliches Sein, ESGA XI/XII, hg. v. A. U. Mül­ler, Freiburg  /  Basel  /  Wien 2006, 252). Josef Pieper führt dies in seiner Vorlesung ›Wahrheit und Wirklichkeit‹ [1950/51] an und wendet dagegen ein: »Nun, Thomas hat nirgendwo gesagt, er habe im Sinn, eine ›formale Untersuchung‹ zu veranstalten oder sich innerhalb der Grenzen einer ›formalen‹ Untersuchung zu halten« (Werke II, 88). Allerdings kann man eine Untersuchung, die von allem Seienden handelt, schwerlich an­ ders als formal nennen. Die Eingrenzung auf die Schöpfung, die Pieper geltend macht, oder gar die auf eine konkrete Wirklichkeit kann an dieser Stelle noch gar nicht begründet werden, und der Zusammenhang mit den zuvor eingeführten Transzendentalien würde auch durchbrochen. Diese

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zelnes, sondern unweigerlich in seiner allgemeinen Bedeutung, an­ dernfalls hätte es gar keinen Bezug zur Allgemeinheit des Seienden. Diese Universalität des Seienden hat ein einziges Pendant: die menschliche Seele bzw. der menschliche Verstand. Dieser ist zwar etwas Bestimmtes, nämlich die bestimmende Form – nach Aristo­ teles aber in einer ihrer Funktionen »gewissermaßen alles«, quod­ ammodo omnia.4 Da nun die Geistseele des Menschen zwei Kräfte enthält, das Er­ fassen und das Streben, ergeben sich daraus nach Thomas zwei wei­ tere überkategoriale Bestimmungen. Thomas beginnt also mit einer formalen Ontologie, aber das Wahrsein ist keine formale Bestim­ mung des Seienden für sich genommen – es handelt sich unbestreit­ bar um eine Beziehung zu einem anderen Seienden, und zwar zu einem ganz bestimmten, eben der menschlichen Seele. Im Falle der Wahrheit muß der (menschliche) Verstand mitgedacht werden: Das Verständnis – nicht intellectus als Verstandesvermögen – entspricht dem, von dem Verständnis gewonnen zu haben beansprucht wird; Schöpfungsvoraussetzung hat übrigens auch Heidegger geltend gemacht, wenn auch als eine implizite. Auch er weist auf einen Bruch hin, wenn er davon spricht, »die Explikation« sei »ganz formalontologisch« (Einfüh­ rung in die phänomenologische Forschung [WS 1923/24], GA XVII, 164), dies aber nur bis zur Einführung der Seele in den Gedankengang. Aller­ dings sieht Heidegger darin keinen Bruch, sondern ein Indiz für eine un­ genannt bleibende Voraussetzung, diejenige nämlich, daß hier durchgän­ gig von einem ens creatum die Rede ist. Die Seele ist im selben Sinne und unter denselben Ansprüchen eine geschaffene Wirklichkeit wie die Dinge, auf die sich ihr Streben und ihre Erkenntnis richten. – Die im Begriff der Schöpfung liegende Relation und die im Geschaffenen verbundene Ein­ grenzung kann freilich einem »ersten Begriff« schwerlich vorhergehen. Und was wäre dann der Begriff für das, was nicht unter das ens als bloß Geschaffenem fallen müßte? 4  Aristoteles, De anima III, 8; 431 b 21: ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώς ἐστι πάντα. Der in diesem berühmten Ausdruck festgehaltene Universalismus einer spezifischen Wirklichkeit findet sich auch dort zitiert, wo weder ein Ari­ stotelismus noch gar eine Seelenlehre vorliegen: M. Heidegger, Sein und Zeit, § 4 (GA II, hg. v. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a.  M. 1972, 18 f.); K.  Jaspers, Über meine Philosophie [1941], in: ders., Rechenschaft und Ausblick, München 1951, 333–365; hier 357.

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Gleichheit in Anerkennung eines Maßes. Thomas kennt eine Reihe verschiedener Termini, hier verwendet er bei weitem am häufig­ sten adaequatio.5 Thomas’ Korrespondenzkonzeption hat also eine kritische Wendung. Dies sogar in zweifacher Hinsicht: Wahrsein ist ursprünglich (!) weder eine Eigenschaft des Seienden noch eine Eigenschaft des menschlichen Bewußtseins bzw. der Sprache, son­ dern eine Relation. Wahrheit kann zudem nicht ohne das normative Moment eines Anspruchs gedacht werden, es geht ja im Verstehen um etwas, eben um Wahrheit, sie ist kein indifferentes Geschehen und kein bloßes Ereignis und keine Übereinstimmung beliebiger Art, daher muß nach den Maßstäben gefragt werden, die eine Prü­ fung ermöglichen, ob der in einer Behauptung enthaltene oder mit ihr erhobene Anspruch erfüllt oder verfehlt ist. Was mit dem zu­ gegebenermaßen mittelalterfernen Terminus ›Anspruch‹ zum Aus­ druck gebracht werden soll, ist die über die maßgebende Bedingtheit wahrer Aussagen hinausgehende Ausrichtung auf solche Maßstäbe. Der Plural ist unvermeidlich, denn die Kriterien der Prüfung sind offenkundig ganz unterschiedlicher Art. Der konzeptionelle An­ spruch wiederum, den Thomas mit diesem Text erhebt, besteht mit­ hin weder darin, eine Definition zu geben,6 eine solche ist bei den grundlegenden Begriffen des Denkens gar nicht möglich, noch ein Kriterium des Wahrseins zu formulieren. Es gibt nicht ein einziges 5  In seinen Kommentaren zu den einschlägigen Texten des Aristoteles (Metaphysik; De anima) fehlt dieser Begriff übrigens völlig. 6  Thomas verwendet freilich mitunter das Wort: Sum. theol. I, q.  16, a.  2; mit Bezug auf die ihm vorliegenden Bestimmung sagt er, q.  16, a.  1: diversimode notificatur. J. Pieper, Wahrheit der Dinge, Werke, V, p.  114: »Es ist vielmehr, wie neuere Einzeluntersuchungen dargetan haben, die offenkundige Absicht etwa des Thomas von Aquin, eine schulgerechte Definition der Wahrheit (wie auch des Erkennens) gerade zu vermeiden«; H. Krings, Was ist Wahrheit?, in: Phil. Jb. 90 (1983), 20–31; hier p.  26: »Thomas bietet also nicht eine Definition der Wahrheit, sondern drei, und er zitiert – man hat den Eindruck, um kein Missverständnis über die rela­ tive Bedeutung dieser ›Definitionen‹ aufkommen zu lassen – für jede der drei Bedeutungen noch einmal drei verschiedene Formulierungen – also insgesamt neun sogenannte ›Definitionen‹, die übrigens keineswegs den formallogischen Ansprüchen an eine Definition genügen.«

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Kriterium der Wahrheit, sondern je nach Inhalt des Anspruchs ganz verschiedene. Aber auch der Sprachgebrauch zeigt ja zudem, daß Wahrheit, Wahrsein, verschiedenen Subjekten zugeschrieben wird. Das heißt: Wahrheit ist ein mehrdeutiger Begriff und wie dies aus einer rein formal bleibenden Ontologie zu begründen wäre oder auch nur ver­ ständlich zu machen wäre, ist gar nicht abzusehen. Diese Mehrdeu­ tigkeit ist aber wiederum keine beliebige, denn das hieße, daß dieses Wort verschiedene semantische Bezüge auf Verschiedenes enthielte. Es gibt aber eine primäre Bedeutung und verschiedene abgeleitete Bedeutungen. Auch das ist ein Phänomen der Sprache, auf das Ari­ stoteles erstmals aufmerksam gemacht hat und für das er ein unend­ lich oft zitiertes Beispiel gefunden hat: Ein Lebewesen nennt man ›gesund‹ und einen Spaziergang auch. Dieser ist aber offenkundig nicht im selben Sinne gesund wie der Spaziergänger und dieser nicht im selben Sinne wie seine Gesichtsfarbe. Es sind verschiedene Be­ züge, die aber sich eben nicht auf Verschiedenes beziehen, sondern auf dasselbe und diese Selbe gemeinsam voraussetzen: Der Spazier­ gang fördert die Gesundheit – des Menschen – und die Gesichtsfarbe ist Zeichen der Gesundheit – des Menschen. Ganz ähnlich ist nun ein Verständnis des Wortes ›wahr‹ zu ge­ winnen. Behauptungen können wahr sein, aber nicht im selben Sinne und Maße wie die Dinge, auf die sich das Behaupten bezieht. Mit diesen Begriffsgliederung hat Thomas aber noch etwas für sein Verständnis von philosophischem Nachdenken Wesentliches erreicht: Die Vielzahl der überkommenen Bestimmungen der Wahr­ heit – aus Aristoteles, Augustinus, Avicenna, Anselm etc. (und auch bei diesen Autoren ihrerseits wieder vielfältig) – können nun einer­ seits insgesamt aufgenommen werden, aber gleichzeitig in ihrem Status bestimmt werden. Den Kern der Sache treffen nach dem Urteil des Thomas Aristoteles und Anselm – diese rücken aus der Perspektive der hier entwickelten Konzeption überraschend zusam­ men –, die anderen angeführten Definitionen sind demgegenüber keine falschen Begriffe vom Wahren, aber eben doch abgeleitete. Aus dem ganzen Arsenal von überkommenen Bestimmungen der Wahrheit wird keine völlig verworfen. Die Konstellation der drei Dimensionen des Wahrheitsbegriffs – der Begriff selbst, sein

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Fundament und seine Folge – erlaubt es nun aber Thomas, jenen Bestimmungen allererst den systematisch legitimen Ort anzuwei­ sen. Er unterzieht sich der Mühe, die Entfaltung der verschiedenen Aspekte des Begriffes der Wahrheit so einzusetzen, daß keine der Wahrheitsdefinitionen sich als ganz falsch erweist, sondern jeweils ein relatives Recht beanspruchen kann. Daß sich hier überraschende Konvergenzen ergeben, ist für Thomas kein Grund für ein Beden­ ken – die Scholastik denkt nicht historisch –, sondern im Gegenteil Indiz eines besonders gelungenen Gedankens. Aber trotz der Systematisierung dürfen doch die Korrekturen nicht übersehen werden – so unauffällig sie im Text bleiben. Auch wenn Thomas versucht, Anselms Konzeption der Wahrheit als Recht­heit zu bestätigen und auf seine Weise dessen unersetzli­ ches Normierungsmoment zur Geltung zu bringen, so ist doch der Unter­schied nicht zu verkennen: Wahrheit ist für Thomas gerade keine Selbst­ entsprechung, sondern eine Relation zwischen Ver­ schiedenem: »Es gibt Gleichheit nur bei Verschiedenem.«7 Und sie ist eben kein durchgängiger Zug in allem, dem irgendwie Wahrsein zugesprochen wird, vielmehr stehen die verschiedenen Weisen des Wahrseins in einem Geflecht semantischer Beziehungen. Wenn man also vor dem Text zurücktritt und die Beziehungen be­ fragt, dann zeigen sich doch eher Gegensätze oder zumindest Abset­ zungen und nicht einfach, wie es die systematische Gliederung der Definitionen bzw. Bestimmungen vermuten läßt, eine umfassende »Synthese« (ein Lieblingswort der älteren Scholastikforschung und Thomasinterpretation). Thomas entfernt sich nicht nur von der Ein­ ordnung der Wahrheit in die Ideenmetaphysik bei Augustinus,8 son­ dern tritt auch von der formalen und nur dadurch durchgängig ein­ deutigen anselmischen Charakterisierung der Wahrheit als Selbst­ entsprechung (rectitudo) zurück. 7  De ver., q.  1, a.  3 (ed. Leon. XXII, 11, 30): aequalitas diversorum est. 8  Die typisch platonischen Formulierungen gebraucht Augustinus nun

auch beim Wahrheitsbegriff: De div. qu. 83, q.  1 (CCSL 44 A p.  11, 3): omne verum a veritate verum est; De vera rel. 39, 73 (CCSL 32, 235, 42): nec ullum verum nisi veritate verum est. Ganz ähnlich Anselm, De ver., 2 (I, 177, 16): nihil est verum nisi participando veritatem; 1 (I, 176, 11; 176, 15 f.).

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Die Strukturierung der Semantik ersetzt nicht die Thematisierung der Möglichkeitsbedingungen und Wirklichkeitsgründe. Diesen Fragen wendet sich Thomas ebenfalls zu, und dabei wird ein Ge­ danke unumgänglich: Die Gottesidee kann nicht als eine der vielen Instanziierungen der Wahrheit gedacht werden. Sätze wie »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«9 oder »(Das Wort) war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet«10 sprechen von etwas, das ebenfalls nicht im selben Sinne wie anderes ›wahr‹ ist. Tho­ mas argumentiert aber nicht als Theologe, der diese Bedeutungen irgendwie mit Konzeptionen anderer Art und Herkunft in eine ver­ trägliche oder gar erschließende Verbindung bringen muß, sondern versucht zu zeigen, daß der Wahrheitsbegriff selbst den Gottesge­ danken erforderlich macht – wenn auch wiederum nicht auf dem herkömmlichen Weg. Wenn Wahrheit eine zwar normative, aber keine formale Selbstbeziehung wie in Anselms Konzeption ist, dann läßt sich wohl schwerlich auf dieselbe Weise ein Inbegriff bilden. Wenn man wie Thomas die augustinische Illuminationstheorie ver­ wirft, dann ist die göttliche Wahrheit auch keine unmittelbar zu­ gängliche Instanz für wahre Einsichten und Urteile. Aber nun zu Thomas Bestimmung der Wahrheit. Intellectus: Der Begriff der Wahrheit kann wohl nicht vollständig gedacht werden, wenn er nicht auch im Zusammenhang mit Erkenntnis gedacht wird. Das Wahrsein selbst von etwas hat – darin hat Frege11 sicher recht – nichts mit seinem Erkanntsein zu tun; auch eine unerkannt blei­ bende Wahrheit bleibt doch eine Wahrheit. Aber das Prädikat ›wahr‹ ist ein korrelativer Begriff – wahr oder falsch –, und Korrelationen 9  Joh. 14, 6; vgl. auch andere auffällig inbegriffliche Formulierungen: Joh. 17, 17: »dein Wort ist Wahrheit«; 2 Kor. 6, 7: »das Wort der Wahrheit«; 1 Joh. 5, 6: »der Geist ist die Wahrheit«; Jak. 1, 18: »durch das Wort der Wahrheit«. 10  Joh. 1, 9. 11  Die Grundgesetze der Arithmetik [Jena 1893], Darmstadt 1962,  XV– XVI: »Wahrheit ist etwas anderes als Fürwahrgehaltenwerden, sei es von Einem, sei es von Vielen, sei es von Allen, und ist in keiner Weise darauf zurückzuführen. Es ist kein Widerspruch, daß etwas wahr ist, was von Allen für falsch gehalten wird […] Das Wahrsein unabhängig davon, daß es von irgendjemand anerkannt wird.«

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führen ebenso wie Bedeutungsunterschiede unweigerlich auf den Gedanken an diejenige Instanz, für die Gegebenheiten in solchen Beziehungen stehen und die solche Beziehungen herstellen. Auch der Umstand, daß Wahrheit sowohl, wie schon hervorgehoben, ein Anspruch wie auch ein Ziel ist, führt auf die hier gemeinte Verbin­ dung. Das wiederum ist der Ausgangspunkt für die Auszeichnung der Wahrheit, die auch Nietzsche eingeräumt hat.12 Diese Auszeichnung führt allerdings nach Nietzsche zu einer Dialektik der Aufklärung, denn das aufklärerische Ideal der göttlichen Wahrheit wird durch die Aufklärung gerade unterminiert, und daher untergräbt sie sich am Ende selbst, wenn die Wahrheit sich nicht erst in ihrer Erreich­ barkeit als aussichtslos, sondern schon in ihrem Sinn selbst als Illu­ sion erweist.13 12  F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, nr.  344 (KGW V/2, 259): »Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es im­ mer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft beruht, – dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gott­ losen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener ChristenGlaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist«; Nachgel. Frg., Herbst 1885 – Herbst 1886, 2 [127] (KGW VIII/1, 123 f.): »Der Untergang des Christenthums – an seiner Mo­ ral (die unablösbar ist –), welche sich gegen den christlichen Gott wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christentum hoch entwickelt, be­ kommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Weltund Geschichtsdeutung. Rückschlag von ›Gott ist die Wahrheit‹ in den fanatischen Glauben ›Alles ist falsch‹. Buddhismus der That  …«; Mensch­ liches, Allzumenschliches, Vorrede, nr. 1 (KGW IV/2, 8): »Leben […] will Täuschung, lebt von der Täuschung.« 13  Nietzsche führt es in einem grandios gelungenen Text vor: Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums, in: Göt­ zen-Dämmerung, KGW VI/2, 78–79; Nachgelassene Fragmente, Sept. 1870 –  Jan. 1871, 5 [35] (KGW III/3,  106). »Naiv zu glauben, daß wir je aus die­ sem Meer der Illusion herauskommen könnten«; Nachgel. Frg., April – Juni 1885 34 [253] (KGW VII/3, 226): »Wahrheit ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.« Nachgel. Frg., Herbst 1878, 36 [1] (KGW IV/3, 430): »Der Darwinist. – St. Augustin sagte: ego sum veritas et vita, dixit Dominus; non dixit: ego

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Res: Dieser Ausdruck meint nicht im engeren und konventionel­ len Sinn ein ›Ding‹, sondern ganz allgemein alles, was wirklich ist, und zwar nicht nur in der ›äußeren‹ Wirklichkeit, sondern alles, was Gegenstand einer Behauptung und also einer möglicherweise wah­ ren Aussage sein kann. Andere Übersetzungen verwenden Aus­ drücke wie réalité. Der Vorwurf der Verdinglichung geht an der Sa­ che ganz vorbei. Es kommt gar nicht auf die Dinglichkeit, sondern auf die Strukturiertheit dessen an, wovon díe Rede ist. Adaequatio: Wenn man wie Thomas von Aquin Wahrheit als An­ gleichung (adaequatio) denkt, dann muß die Wirklichkeit so gedacht werden, daß sie eine solche Angleichung erstens möglich und zwei­ tens erstrebenswert macht. Daher der Gedanke, daß Angleichung nicht als zufällige Übereinstimmung, sondern als gewollte Entspre­ chung zu denken ist, die nicht erst mit der menschlichen Bemühung und Orientierung auftritt, sondern schon mit der Statuierung der Wirklichkeit.14 Nur wenn die Welt als etwas gedacht wird, das selbst schon unter einem Entsprechungsanspruch steht, nur dann sind menschliche Wahrheitsansprüche kein absurder Fremdkörper in ­einer Welt von gleichgültigen Tatsachen oder einer Welt, in der auch die Tatsachen selbst schon Resultate menschlichen Konstruierens sind. Wenn man Wirklichkeit als etwas denkt, bei dem es nirgends auf etwas ankommt, hat weder die Wahrheit noch das Interesse an ihr einen Ort. Aber Wahrheit selbst – soll heißen im Unterschied zu Plausibilitäten, Mentalitäten oder Akzeptanzen – scheint sich gar sum consuetudo! – Schade darum: so ist er nicht die Wahrheit und weiß nicht, was das Leben ist«; vgl. Tertullian, De virg. 1, 1. 14  Zum Schöpfungsbegriff bei Thomas: R. S.: Die Wirklichkeit und das Gute. Philosophische Reflexionen im Blick auf Josef Pieper, in: Th. Möl­ lenbeck  /  B. Wald (Hg.), Gott – Mensch – Natur. Zum Ur-Grund der Mo­ ral mit Josef Pieper und C. S. Lewis, Paderborn 2014, 99–125; Abhängige Selbständigkeit. Metaphysische Reflexion über den Begriff der Schöpfung im Ausgang von Thomas von Aquin, in: K. Appel et al. (Hg.), Naturali­ sierung des Geistes? Beiträge zur gegenwärtigen Debatte um den Geist, Würzburg 2008, 171–201. In diesen beiden Beiträgen wird aber der Bezug zum Wahrheitsbegriff keiner eigenen Erörterung unterzogen, derer es aber bedürfte, wenn wahre Aussagen über die Wirklichkeit den Anspruch auf Wahrheit als begründet erweisen sollen.

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nicht als ein Konstrukt denken zu lassen wie ein Lied, ein Plan, ein Plot. Aus dem Begriff der Natur oder der Welt kann man den Begriff der Wahrheit schon gar nicht herleiten, aber wohl nicht einmal als damit verträglich deuten, wenn die Natur selbst mit Wahrheit über­ haupt nichts zu tun hat. Und allein aus dem menschlichen Streben nach Wissen und Orientierung bleibt, so scheint es, nur eine zu­ fällig mögliche Entsprechung, also eine, die der Unbedingtheit der Wahrheit nicht gerecht wird und sie nicht im Entferntesten erreicht. Diese Erläuterungen und stützenden Begründungen können kei­ nen Beweisanspruch erheben und haben auch keine Beweiskraft ge­ gen eine abgründige Wahrheitsskepsis, die sich nicht nur gegenüber dem möglichen Gelingen des Wahrheitsstrebens bzw. der Erfüllung des Wahrheitsinteresses, sondern auch noch gegenüber dem Ideal der Wahrheit selbst reserviert hält – sofern diese Reserve ohne theo­ retischen Anspruch bleibt. Aber diese zusätzlichen Gesichtspunkte zeigen, daß der thomasische Gedanke doch abgesehen von seiner sy­ stematisierenden Aufgliederung eine in der Diskussionsgeschichte selten gebliebene Vollständigkeit zu haben scheint. Zu den unzählig vielen gewonnenen Erkenntnissen belangloser und bedeutsamer Art tritt also nicht ein weiterer Satz – ›Es gibt Gott‹ –, von dem nun auch noch Wahrheit beansprucht wird. Die Sinnhaftigkeit des Anspru­ ches selbst scheint sich ohne den Gottesgedanken nicht vollständig denken zu lassen.15 Die Unveränderlichkeit der Wahrheit war in der augustinischanselmischen Tradition die anscheinend kürzeste Brücke zum Got­ tesgedanken. Aber schon im 13. Jahrhundert wurde dies in eine an­ dere Richtung gedacht: Die ewigen Wahrheiten werden zu dem, was man viele Jahrhunderte später ›Geltungen‹ genannt hat und also gerade gottunabhängige Entitäten. Ewige Wahrheiten, die sich auf Wesensgehalte beziehen, sind nach Thomas nur im Geiste Gottes zu denken,16 aber sie sind für ihn ein anderer Fall als die – ohne präzise zeitliche Bestimmung geäußerten – Tatsachensätze wie der, daß Sokrates sitzt.

15  De ver., q.  1, a.  2. 16  De ver., q.  1, a.  5.

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Aber auch die die Ideenkonzeption, welche die Wahrheit wie das Ähnliche als eine singuläre Instanz versteht, die den Grund für alles, was im Einzelnen wahr ist, abgibt, weist Thomas zurück.17 Es braucht nicht eigens hervorgehoben zu werden, daß damit nicht die Diskussion um die Korrespondenztheorie mit zusätzli­ chen Argumenten zu ihren Gunsten weitergebracht wird, aber die Erschließung der Konstellation des Wahrheitsbegriffes und desjeni­ gen, was in ihm auf dem Spiel steht, bringt Thomas doch erheblich weiter als alle vorangegangenen Wahrheitstheorien – wenn man sie so nennen kann. Einen sonst nicht so seltenen Kurzschluß hat Thomas übrigens vermieden. Die Bestimmung der Entsprechung ist eine Bestimmung, aber kein Kriterium. Die Gleichsetzung von Bestimmung und Kri­ terium ist ohnehin nicht zwingend, sie ist aber im Falle der Wahr­ heit auch gar nicht möglich. Ob Wahrheit vorliegt, wird offenbar auf ebenso unterschiedliche Weise geprüft, wie der Anspruch auf Wahrheit begründet. Was man im Falle eines erfüllten Anspruchs bei Prognosen und Erinnerungen, mathematischen Sätzen und Tat­ sachenbehauptungen feststellt, ist nicht die Adäquatheit, sondern das Zutreffen. Aber was das besagt, das zu erläutern, dazu bedarf es einer Theorie der Wahrheit. Daß es für zweifelsfreie Gewißheit ein einziges Kriterium geben müsse, hat Descartes behauptet. Daß dies bei der Wahrheit unmöglich ist, gehört zu den Gewißheiten der ­alten Philosophie wie der neuen Wissenschaft. II.  Das Wissen Gottes Das Thema des göttlichen Wissens provoziert vielleicht die Reak­ tion »typisch scholastisch«. Wie will denn der Mensch wissen, was und wie Gott weiß? Er kann also nur im schlechten Sinne speku­ lieren. Kann man auf die Frage verzichten? Daß Gott Wissen hat, welches die Geschichte des Komos und die geheimen Regungen der Menschen umfaßt, ist eine verbreitete Auffassung innerhalb der Re­ ligionen – bis hin zu dem unbedingten »Gott sieht alles«, symbo­ 17  De ver., q.  1, a.  4; Sum. theol. I, q.  16, a.  6.

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lisiert im allsehenden Auge Gottes. In der Philosophie der Antike war es allerdings umstritten. Während die Aussagen des Aristote­ les kontrovers blieben, haben die Epikureer sowohl Wissen als auch Vor­sehung abgelehnt, Platon hat hingegen eine göttliche Vorsehung und göttliches Wissen explizit behauptet.18 Nun kann man nicht einfach sagen, daß Gott schlichtweg un­ endlich mehr weiß, als Menschen normalerweise wissen, denn das göttliche Wissen ist auch seiner Form nach anders. Aber woher weiß man das nun wieder? Das göttliche Wissen muß dem angemessen sein, was man von Gott überhaupt wissen kann. Wenn man sich nicht der denkerischen Mühe unterzieht, diesen Fragen nachzu­ gehen, dann redet man entweder völlig doppeldeutig vom Wissen Gottes und weiß also nicht, was man sagt, oder man läßt es völlig im Unbestimmten und weiß somit ebenfalls nicht, was man sagt. Das einzig mögliche Verfahren scheint also tatsächlich ein deduk­ tives: Wie muß das Wissen Gottes gedacht werden, daß es mit dem, was man sonst mit Notwendigkeit Gott zuschreibt, in Einklang steht? Ausgangspunkt dabei ist natürlich der Begriff des menschli­ chen Wissens. Dieser Ausgang ist so unabdingbar wie seine Korrek­ tur. Der Deduktion muß also eine Reflexion vorausgehen, durch die unterschieden wird, was für jeden Begriff von Wissen unverzichtbar ist – etwa der Bezug auf Wahrheit – und was bei der eigenen Wis­ senserfahrung und den erhobenen Wissensansprüchen der conditio humana geschuldet ist. Die Sache ist aber freilich doch etwas aufwendiger, weil wir ja nicht über einen spontanen Begriff unseres Wissens verfügen, son­ dern uns in epochalen, aber auch traditionalen und also kontrover­ sen19 Prägungen des Wissensbegriffs bewegen. ›Der‹ (?) mittelalter­ liche Begriff des Wissens war in bestimmter Hinsicht anspruchsvol­ ler und daher auch restriktiver als der der Moderne. Wie noch Kant20 hat Aristoteles21 das Wissen an das Notwendige und Allgemeine 18  Platon, Nom. X; 899 b; XII; 966 c ff.; Parm. 134 c–e. 19  Man denke an die sich regenerierenden Denkformen von Rationa­

lismus und Empirismus. 20  Kant, Proleg. § 18–19. 21  Aristoteles, Anal. post. I, 2; 71 b 10–16; I, 8; 75 b 24–25.

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gebunden. Ein beliebiges Faktum – es beginnt gerade zu regnen – ist für den Aristotelismus kein Gegenstand des Wissens. Erst wenn man verstanden hat, warum es nicht anders sein kann, kann man von Wissen reden. Für zahllose Fälle dieser Art kann dann aber der Mensch kein Wissen haben, er kann eben nicht wissen, warum der Regen partout nicht zwei Sekunden später hätte einsetzen können. Das heißt freilich nicht, daß man hier nicht gleichwohl Zutreffen­ des oder Irrtümliches sagen kann. Nur hat die Wahrheit hier nicht die Form des Wissens. Diese Eingrenzung ist aber nicht als bedau­ erliche Beschränkung verstanden worden, weil das bloß Faktische eben auch nicht von Belang ist – jedenfalls in der Theorie nicht. Für das praktische Wissen ist es offenkundig durchaus von Belang, und daß dieses gerade nicht an der Elle theoretischen Wissens gemes­ sen werden dürfe, ist ein wichtiger Gedanke des Aristoteles,22 der die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie begründet hat. Umgekehrt hat es außerhalb des Skeptizismus keinen Zweifel ge­ geben, daß die Wissenschaft eben zu notwendigen Einsichten führt, also sich nicht mit vorläufigen und irgendwann als korrekturbedürf­ tig sich herausstellenden Hypothesen begnügen muß. Thomas von Aquin reflektiert nicht die Geschichte des Wissens­ begriffes, obgleich er sich ausführlich mit den verschiedenen Grund­ legungen des Wissens auseinandersetzt. Sein Begriff ist weitgehend der aristotelische Begriff, und ausgehend von diesem muß er nun der schon genannten umgreifenden Frage nachgehen, in welchem Sinne man Gott Wissen zuschreiben kann bzw. zuschreiben muß. Dabei zeigt sich eine weitere Schwierigkeit: Gerade weil der vor­ ausgesetzte Begriff des Wissens ein so anspruchsvoller ist, scheint die Konsequenz nahezuliegen, daß aus dem Wissen Gottes alles herausdividiert werden muß, was diesen Bedingungen nicht ge­ nügt. Dem steht allerdings ein nicht geringerer, aber gegenläufi­ ger Anspruch gegenüber: Wenn Gott der Schöpfer der Welt und der Herr der Geschichte ist, dann kann man keinen minimalistischen Wissensbegriff veranschlagen. Weder das Einzelne – »Bei euch aber 22  Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 b 11–14, 19–22; vgl. De. ver., q.  3, Anm.  63.

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sind sogar die Haare eures Hauptes gezählt«23 – noch das Künftige  – »Euer Vater weiß ja, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet«24 – liegt im Christentum außerhalb des göttlichen Wissens. Allerdings muß man wohl vor einer falschen und vorschnellen Assoziation warnen: Es geht nicht um einen theologischen Balanceakt, durch den zwei gegenläufige Ansprüche zum Ausgleich zu bringen sind. Vielmehr ist jetzt eine Frage unumgänglich, die bei Aristoteles nur in einer einzigen Hinsicht eine Rolle spielt: Was sind denn die Gründe dafür, daß manches nicht in den Rang eines Wissensgegenstandes geho­ ben werden kann? Liegen diese im Wissen selbst oder liegen sie in der Verfassung des Menschen? Wenn bei Thomas die grundsätzli­ che Frage, ob man bei Gott überhaupt von Wissen sprechen kann, bewältigt ist, dann geht es ausschließlich um solche ›Gegenstände‹, von denen man zwar reden, von denen es aber kein Wissen im stren­ gen Sinne des Wortes geben zu können scheint: das Einzelne (a.  5), das Nichtseiende (a.  8), das Unendliche (a. 9). Aber zu berücksichti­ gen ist bei der Klärung unbedingt, daß es erstens in Gott als einem zeitüberlegenen Wesen keine Denkbewegung geben kann, ihm als einer letzten Einheit aber zweitens auch keine Dualität von We­ sen einerseits und der Eigenschaft des Wissendseins andererseits – Wissen bestimmt im Kontext seiner Bedeutungsmomente, bevor es als Sphäre neben Kunst, Religion, Politik figuriert – zugesprochen werden darf und drittens auch keine Abstufung zwischen habitu­ ellem Wissen (vergleichbar, aber nicht ersetzbar durch den Begriff der Kompetenz) und der realen Inanspruchnahme in einer sich voll­ ziehenden Untersuchung oder Forschung zugeordnet werden darf. Es sei festgehalten, daß kein für ihn gewichtiger Gegenentwurf im Hintergrund steht, den Thomas erst mühsam und aufwendig abzu­ wehren hätte, also ein Ur- oder Ungrund, der von dem, was aus ihm oder durch ihn hervorgeht, kein Wissen hätte. Ein Plotin hat damit gerungen, ob man dem Einen Wissen zuschreiben kann, wenn doch Wissen immer eine Dualität von Wissendem und Gewußtem impli­ ziert, also die Einheit aufzubrechen scheint.25 Es geht Thomas viel­ 23  Mt. 10, 30. 24  Mt. 6, 8. 25  Enn. V, 6.

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mehr allgemein in einer Hinsicht darum, wie man überhaupt Gott einzelne Attribute zuschreiben kann – er diskutiert mehrere Kon­ zeptionen kritisch – und wie man in anderer Hinsicht die Einheit von Sein und Wissen rechtfertigen kann. Die Rede vom göttlichen Wis­ sen ist eine reflektierte, denn sie geschieht im Bewußtsein, daß damit keine Teilwirklichkeiten des göttlichen Wesens bezeichnet werden, aber doch die Vollkommenheit Gottes gemeint ist. Die Abfolge der Artikel folgt einer offensichtlichen Gliederung. Nach der legitimierten Etablierung der Rede von Wissen geht es um die Gegenstände: zuerst das Selbstwissen und dann das gegenständ­ liche Wissen. Und wenn auch das zweite aufrechterhalten werden kann, dann geht es um die schon genannten besonders neuralgi­ schen Gegenstände göttlichen Wissens, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem zu stehen scheinen, wie man göttliches Wissen und Wissen überhaupt zu denken habe. Alles Erfassen setzt seiner allgemeinen Bedeutung wegen immer einen gewissen Grad von Immaterialität voraus. Thomas denkt das Erfassen nicht dualistisch im Sinne von Geist versus Materie, son­ dern in einer Stufenfolge. Schon die in der Sinneswahrnehmung aufgenommene Form ist der konkreten Materialität entkleidet, erst recht das Erkenntnisbild im Verstand. Gottes totale Immaterialität ist daher der Grund für beides – dafür, erkennen zu können, und dafür, erkennbar zu sein – jedenfalls für sich selbst. Das Wissen von anderem kann nun aber nicht im Sinne des menschlichen Wissensverhältnisses statuiert werden. Denn das Wissen des Menschen setzt die Dinge voraus, um deren Wissen es zu tun ist. Das göttliche Wissen hingegen geht den Dingen voher, denn sie werden allererst geschaffen, ja das Wissen umfaßt sogar auch noch das, was geschaffen werden könnte, aber faktisch niemals ins Dasein gerufen wird. Gottes Macht ist eine Allmacht, weil sie nicht durch ein spezifisches Können, eine einzelne Kompetenz oder eine konkrete Fähigkeit definiert werden kann. Sie ist nur durch das begrenzt, was, weil innerlich widersprüchlich, gar nicht ins Sein treten kann.26 26  Den Ursprung des logisch Möglichen im Schöpfungsgedanken des Mittelalters hat entdeckt: H. Deku, Possibile logicum [1956], in: zus. mit

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Zweckgerichtetheit, Finalität, scheint Thomas so offenkundig wie nur etwas. Sie enthält einen der Gründe, im Ausgang von der Na­ tur zum Gottesgedanken zu gelangen, denn Finalität ist immer an Vernunft gebunden: Entweder die Vernunft setzt sich selbst einen konkreten Zweck, oder sie verleiht anderem eine Zweckausrichtung. Also muß Gott ein Wissen von den Dingen haben, denn da sein ratio­naler Begriff im Ausgang davon gebildet worden ist, kann man das Weltwissen nicht wieder aus dem Gottesgedanken herausdivi­ dieren. Allerdings klärt dies ja noch nicht das Erkennen selbst. Tho­ mas geht hierfür von der Kausalität aus: Jede Ursache muß ihre Wir­ kung in dem, was sie ausmacht (nicht in ihrem Eintreten), in sich enthalten: Die Wirkung ist nun entweder in einer materiellen Ur­ sache als ihre Kraft der Wirksamkeit enthalten oder ist in einer im­ materiellen Ursache als ihr Wissen von der Wirkung präsent. Gott kann sich nicht als Ursache wissen, wenn er nicht auch über ein Wissen von seiner Wirkung verfügt. Thomas von Aquin ist überzeugt, daß auch der Gott des Aristo­ teles nicht nur sich selbst weiß, sondern auch die Welt, genauer ge­ sagt, nicht auch, sondern indem er sich weiß, muß er auch die Welt wissen, sonst wüßte er sich selbst nicht als Ursache.27 W. Beierwaltes, Henry Deku, Gesammelte Schriften, Bd.  I: Wahrheit und Tradition. Kritische Reflexionen, Regensburg 2012, 35–63. 27  In der Aristoteles-Forschung ist das kontrovers: H.-G. Gadamer, Aristoteles, Metaphysik XII, Frankfurt a. M. 52004, 58 f. Gadamer wendet sich gegen die mittelalterliche Tradition, »diesem denkenden Geist […] den gesamten Weltinhalt zuzuschreiben. Das aber entspricht ganz und gar nicht der aristotelischen Gedankenführung aus dem Bewegungszusam­ menhang des All«; anders H. Seidl, Aristoteles, Metaphysik, VI–XIV, 582. Thomas’ Hauptargument für die Welterkenntnis ist, daß Gott andernfalls in seinem Selbstdenken nicht präsent hätte, daß er Bewegungsursache ist, wo doch gerade durch ein Prinzip das durch sie Bestimmte verständ­ lich wird [In Met. XII, 11; ed. R. M. Spiazzi, nr. 1614 f.]. Dagegen kann man einwenden, daß ja die Bewegung als Geliebtes im Geliebten selbst keine reale Relation setzt, sondern nur in den strebenden Dingen. Aller­ dings deutet Thomas auch die Ursächlichkeit des aristotelischen Gottes als Wirk­ursache (ScG I, 13; ed. C. Pera, nr. 113]. M. Bordt, Aristoteles’ ›Metaphysik XII‹, Darmstadt 2006, sagt, der Ausdruck »Denken des Den­ kens« sei »nicht im Sinne eines Selbstbezugs« (147) zu verstehen, vielmehr

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Nachdem die Welterkenntnis überhaupt eingeführt ist, sind im Folgenden die Fragen nach den jeweiligen Stufen dieses Wissens zu erörtern: zuerst nach den jeweiligen Arten der Wirklichkeit, dann nach dem Einzelnen. Es ist dabei die Frage, wie gehaltvoll dieses Wissen ist. Gott wird als erste Ursache (causa prima) gedacht; denn er muß erschlossen werden, und das Warum-Fragen verfolgt diese Erschlie­ ßung. Aber Thomas affirmiert – gegen Einwände aus bestimmten Richtungen islamischer Theologie28 – den antiken Natur- bzw. Art­ begriff. Für das, was regulär und typischerweise geschieht, hat die jeweilige Art, die Wesensnatur, eine Erklärungskraft. Gott ist aber keine Art, sondern die erste Ursache für alles, auch für die Ursäch­ lichkeit selbst. Mit dem Gottesgedanken scheint sich also alles und nichts erklären zu lassen. So unverzichtbar der Formbegriff ist, er ist doch kein Letztes, bei dem das Erklären am Ende ankommt. Denn Formen bestimmen eine je spezifische Weise zu sein. Ein Eichhörn­ chen ist anders als eine Hängebirke. Gott als Grund des Seins kann also ein Wissen von den verschiedenen Weisen des Seins haben. Dies muß deswegen sein, weil ein Wissen nur von der Welt als Gesamt­ gefüge alle Spezifikation in der Welt dem Zufall überlassen müßte. Was man nicht kennt, kann man nicht beabsichtigen, und was nicht aus Absicht geschieht, ist zufällig. Die Welt hat aber e­ inen besonders auffälligen Charakter: Kosmos, ordo. Da die Ordnung nicht zufällig sein kann – die Elemente, aus denen sie besteht, können als bloße Teile nicht für die Struktur des Ganzen aufkommen –, ist sie selbst und sind ihre Elemente ein notwendiger Gegenstand des göttlichen Wissens. Diese Konzeption liegt auch der Bewältigung der folgenden Frage zugrunde, die das Wissen Gottes nun auch auf das Einzelne ausdeh­ nen will, was für Aristoteles nur Gegenstand der sinnlichen Wahr­ denkt der Gott des Aristoteles »alle Formen« (148). H. J. Krämer sieht in Gottes »weltloser Selbstzuwendung« (Noesis noeseos, in: HWPh, VI, 871) aber einen Gedanken jenseits der Alternative von »reiner Intentionalität ihrer selbst und Providenz« (872). 28  Vgl. den ausführlichen Text ScG III, 69; vgl. R. Schönberger, Tho­ mas von Aquins Summa contra Gentiles, 152–158.

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nehmung sein kann. Zwar hat Aristoteles einen Begriff von einer Urheberschaft entwickelt, die nicht sozusagen Wißbares hervor­ bringt, sondern bereits ein am Wissen orientiertes Hervorbringen darstellt: die Kunst (téchne; ars). Diese steht unter der Vorausset­ zung materieller Wirklichkeit, denn sie ist deren kunstgerechte Be­ arbeitung. Hier zeigt sich ein markanter Unterschied zum modernen Begriff der Kunst: Die Einzelheit ist hier nicht Teil der Kunst, da sich diese aus den materiellen Bedingungen seiner Umsetzung ergibt (daher kein ›Kunstwerk‹, sondern ein ›Kunstgebilde‹). Die göttliche Kunst umfaßt hingegen auch das Einzelne, weil Gott auch die Ma­ terie hervorbringt, die als Prinzip individueller Differenzierungen gilt. Wie aber Gott auch Ursprung der Materie sein kann, das bleibt an dieser Stelle noch offen; die Frage, ob in Gott denn auch eine Idee der Materie ist, ist De ver., q.  3, a.  5 vorbehalten. Wenn man wie Thomas auch das Einzelne der göttlichen Er­ kenntnis zuordnet, dann wird hierfür zunächst nur die Notwendig­ keit geltend gemacht (a. 5), doch setzt das Argument bereits einen Bezug zum Einzelnen voraus (z. B. als Zielausrichtung); vor allem aber bleibt die Möglichkeit dafür, dieses Erfordernis zu erfüllen, zu­ nächst offen. Ein erster Schritt in der ausstehenden Klärung ist die Verhältnisbestimmung des menschlichen Verstandes zum Einzel­ nen. Thomas verweist auf die schematische Entgegensetzung, die von Aristoteles häufig formuliert wird: Die Sinnlichkeit bezieht sich auf das Einzelne, der Verstand auf das Allgemeine. Thomas versucht noch im Rahmen des Aristotelismus, zumindest eine indirekte und akzidentelle Beziehung zum Einzelnen dem Verstand zuzuschrei­ ben, sofern dieser sich auf Vorstellungsbilder bezieht, die ihrerseits aber noch konkrete Bezüge auf das Einzelne, von dem ja das Vor­ stellungsbild stammt, enthalten. Nachdem die ontologischen Stufen der Welt als ganzer, die Arten und das Einzelne durchgegangen sind, wird im a.  7 der erkennende Bezug auch auf das, was gar nicht ist, thematisch. Die strukturellen Züge der Wirklichkeit – die natürlichen Formen – sind nicht ent­ standen, aber doch erschaffen, da in ihrem Begriff Existenz nicht enthalten ist und diese Formen daher einer Ursache bedürfen. So haben auch diese strukturellen Komponenten der Welt noch ein Mo­ ment des Faktischen. Aber das Wirkliche umgrenzt noch gar nicht

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das göttliche Wissen, sondern erst das Mögliche. Die Ursache des Seins (causa essendi) kann alles erschaffen, was überhaupt sein kann. Thomas kennt ja anders als Leibniz kein qualitatives Krite­ rium für das, was zur Wirklichkeit gelangt. Es kann hier kein Be­ stes geben.29 Für diesen Überhang der Möglichkeiten gibt er aber eine Analogie, denn auch dies läßt sich noch mit dem künstlerischen Schaffen erläutern. Auch dabei werden mitunter Ideen konzipiert, deren Ausführung unterbleibt. Die Idee kann anspruchsvoller als die Fähigkeiten der Umsetzung sein, oder es soll auch ganz einfach bei der Idee bleiben. Das ändert allerdings nichts daran, daß doch ein Wissen davon vorliegt. Zwei der Themen aus den verbleibenden Artikeln der 2. Quaestio seien noch herausgegriffen. Sie zeigen, daß es nicht nur um das geht, was der Verstand überhaupt erfassen und in den Status eines ›Wis­ sens‹ erheben kann, es gibt auch solches, das für sich genommen gar nicht der Erfassung zugänglich ist. Es sind die beiden prominenten Problemfälle des Unendlichen und des Kontingenten in der Zukunft. Da Aristoteles das potentiell Unendliche30 einführt, um die zeno­ nischen Paradoxien zu lösen, hat er kein Erkenntnisproblem. Eine Strecke ist ein Kontinuum, d. h., sie besteht als etwas Ausgedehnte nicht aus unendlich vielen ausdehnungslosen Punkten, aber es las­ sen sich unendlich viele mögliche Punkte markieren. Die Strecke des Schildkrötenvorsprungs ist also überwindbar, und so kann man eben doch denken, was dem Augenschein ohnehin offenkundig gegeben ist, daß nämlich der pfeilschnelle Achilleus – dank der unfreiwilligen Knochenspende des Damysos, des schnellfüßigsten aller Giganten – die Schildkröte wirklich einholt. Es spricht auch nichts gegen die gei­ stige Erfassung solcher Gebilde, denn sie sind endlich, aber das Un­ endliche wäre durch sportliche ebensowenig wie durch gedankliche Schritte zu durchmessen. Das unabsehbar Viele ist innerhalb dieser Konzeption der griechischen Philosophie kein Problem, da es eine Pluralität im Unwesentlichen bedeutet. Daran haben sich zwar glo­ bale Kennzeichnungen der Antike orientiert, die pauschal und daher 29  Vgl. Sum. theol. I, q.  25, a.  6. 30  Vgl. H. Deku, Infinitum prius finito, in: Ges. Schriften [Anm.  26],

11–33.

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selbst einseitig sind, denn in der Praxis bzw. in der praktischen Phi­ losophie spielt das Individuum eben doch eine unersetzliche Rolle31 – das scheint auch in Adornos ›Negativer Dialektik‹ nicht angemessen berücksichtigt. Aber unter den Vorzeichen des Schöpfungsbegriffs wird das unabsehbar Viele nun doch eine Aufgabe des Denkens. Der eingeführte Begriff des Unendlichen faßt es in einem privativen Sinne. Das Unendliche kann nicht durchmessen werden, weil nach jeder Etappe immer noch etwas zu durchmessen übrigbleibt, denn sonst wäre es ja doch endlich. Ein solch privativer Begriff hat mit dem Vollkommenen ohnehin nichts zu tun. Das Unendliche im negativen Sinne – durch nichts begrenzt zu sein – ist demgegenüber nicht nur verträglich mit, sondern sogar erforderlich für das Vollkommene. Das zweite Beispiel ist ebenso eines aus Aristoteles. Er hatte Aus­ sagen von Bitten, Fragen und anderem dadurch unterschieden, daß sie wahr oder falsch sein können. Gilt das auch für Aussagen über Zukünftiges? Wenn ja, dann scheint die Zukunft ja schon festgelegt zu sein. Dann wäre allerdings alles Überlegen und Beratschlagen sinnlos – was ihm offenkundig falsch erscheint. Der Determinis­ mus würde allerdings die Folgerung zu ziehen bereit sein. Er macht also die Sinnhaftigkeit von Entscheidungsprozessen von der Natur abhängig. Aristoteles tut das nicht, aber es ist für ihn gleichwohl kein Argument in der Sache. Was genau sein Argument in der Sache und dessen Stärke ist, ist Gegenstand einer Jahrhunderte währen­ den Auslegungsdebatte.32 Auch Thomas greift weit aus in die Logik 31  Nicht weniger als zwei der zehn Bücher der ›Nikomachischen Ethik‹ handeln von der Freundschaft. Man kann an weitere nicht gerade belang­ lose Beispiele denken: Der Arzt heilt den Einzelnen, Met. I, 1; 981 a 7–9: »Der ärztlich Tätige heilt nicht den Menschen – außer im akzidentellen Sinn –, sondern den Kallias oder Sokrates« [Übers. Th. A. Szlezák]; der sittlich herausragende Einzelne kann sogar zu Regel und Maßstab werden, Eth. Nic. III, 6; 1113 a 32–33: »Vielleicht zeichnet sich der Gute aber beson­ ders dadurch aus, dass er in den einzelnen Fällen das Wahre sieht, so dass er dafür gleichsam Richtschnur und Maß ist« [Übers. D. Frede], κανὼν καὶ μέτρον (kanón kai métron). 32  I. Isaac O. P., Le ›Peri hermeneias‹ en occident de Boèce à saint Tho­ mas. Histoire littéraire d’un traité d’Aristote, Paris 1953; vgl. den ausführ­ lichen und detaillierten Kommentar von H. Weidemann, 223–324.

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der Modalitäten. Er teilt weder die Auffassung der Stoa, daß alles Geschehen festgelegt sei, noch die einer Schule der muslimischen Theologie, nach der alles schlechterdings kontingent, weil vom je­ weiligen und also in jeder Hinsicht unerforschlichen Willen Gottes abhängig ist. Dieser Schritt – es ist beileibe nicht der einzige – ist einer, den Thomas von Boethius übernimmt. Er besteht in der Re­ flexion, daß die Zeitstufe der Zukunft aus der Perspektive von zeit­ lichen Wesen gesprochen ist. Für ein zeittranszendentes Wesen ist alles zugleich präsent und eben nicht gegliedert in einerseits Gegen­ wart als das eigentlich Wirkliche und andererseits Vergangenheit und Zukunft als dasjenige, das nicht mehr bzw. noch nicht wirklich ist. Gleichwohl weiß natürlich Gott, welche Ursachen wann wel­ che Wirkungen zeitigen, so daß diese beiden also nicht notwendig gleichzeitig sein müssen. Um es noch etwas weiter zu verdeutlichen: Das Dilemma, das in der Auffassung von etwas in der Zukunft liegendem Kontingenten besteht, ist leicht erklärt: Entweder das künftige Ereignis ist noch unbestimmt, dann kann es von ihm kein Wissen geben, oder es gibt  – zumindest ein göttliches – Wissen davon, dann aber kann es umge­ kehrt nicht unbestimmt sein. Thomas muß das Problem so auf­lösen, daß die Alternative verschwindet. Er möchte weder auf Kosten der Vorsehung das Wissen vom Künftigen aufgeben, noch möchte er – unter anderem im Sinne der menschlichen Freiheit – die Kontingenz der Ereignisse eliminieren. Der entscheidende Ansatz ergibt sich aus der Unterscheidung von Gegenwart und Zukunft. Eine unbestreit­ bare wahre Aussage über eine offenkundige Gegebenheit – Thomas wählt das alte und in diesem Rahmen unverfängliche Beispiel des gerade sitzenden Sokrates – macht diese Gegebenheit nicht zu einer notwendigen, dies würde aber für künftige Gegebenheiten gelten, wenn es sich nicht um eine Erwartung oder Vermutung, sondern um ein veritables Wissen davon handelte. Das trifft aber auf das göttliche Wissen nicht zu. Mit einem altbekannten Beispiel, wie ge­ sagt aus Boethius, verweist Thomas auf einen Ablauf, der aus gehö­ riger Entfernung betrachtet wird. Durch den räumlichen Abstand des Beobachters scheinen die zeitlichen Differenzen in der Beobach­ tung zu verschwinden. Jemand sieht etwa eine Gruppe von Wande­ rern mit einem Blick, aber durch dieses unmittelbare Wissen wird

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keine Notwendigkeit im Ablauf selbst erzeugt. Gottes Erkenntnis selbst ist keine, in der zeitliche Differenzen unterschieden wären; er sieht »alles zugleich«. In der Sache selbst bleibt aber ungeachtet des­ sen die zeitliche Differenz bestehen: die einen Wanderer erreichen eine Stelle früher als die anderen. Der Kern des Gedankens ist also, daß wie im göttlichen Wesen selbst auch in seinem Wissen keine zeitlichen Unterschiede gedacht werden können und es sich deshalb nicht um ein gegenwärtiges Wissen über noch Künftiges handelt. Thomas behauptet aber, daß die gegenständlichen zeitlichen Diffe­ renzen – A zeitigt eine Wirkung B – gleichwohl Teil des Wissens sein können und müssen. Dies soll nur als eines von mehreren möglichen Beispielen dafür angeführt werden, daß Gegebenheiten, deren Unterwerfung unter einen Wissensanspruch mit großem Aufwand gezeigt werden muß – ›muß‹ deshalb, weil ansonsten der Begriff der Schöpfung reduziert und der der Vorsehung ganz aufgehoben werden müßte – in den Unter­suchungen ausführlich im Einzelnen durchgegangen werden. Das kann nur erreicht werden, wenn Wissen kein Beweiswissen ist. Dies scheint Thomas aber ohnehin nur die Form des menschlichen Wissens zu sein, da er dabei an die Bewegung des Denkens von den Prämissen zur Konklusion denkt. Da aber der Anspruch auf Wahr­ heit und Gewißheit aufrechterhalten werden kann, scheint die Rede von Wissen auch im Falle Gottes gerechtfertigt. Das lateinische Wort scientia heißt sowohl Wissen wie auch Wissenschaft. Man kann im Blick auf die vorliegenden Texte nunmehr absehen, daß diese beiden Bedeutungen sich voneinander wegbewegen, denn Gott hat Wissen, aber keine Wissenschaft. Damit eröffnet sich – dies ist, unnötig zu sagen, selbstverständ­ lich nicht Thomas’ Gesichtspunkt! – zugleich eine Verwandlung der Wissenskultur: Wenn zwar nicht wir Menschen, aber Gott all das wissen kann, dann ist es also nicht prinzipiell vom Radius des Wissens ausgeschlossen. Selbst wenn das nicht unmittelbar dem menschlichen Wissensverlangen neue Perspektiven oder Anreize schafft, es ändert sich doch wohl unvermeidlich der Blick auf eine Welt, von der man, nun ja, wenigstens Gott, mehr wissen kann, als der Mensch bisher unterstellt hat.

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Thomas greift gegen Ende (a.  11) der q. 2 nochmals das semantische Problem auf, wie sich denn die Bedeutungen der Begriffe verändern, wenn sie dem Menschen und wenn sie Gott zugeschrieben werden. Die Eindeutigkeit scheint hinreichend durch die Schöpfungsrelation ausgeschlossen zu sein. Gegen die pure Äquivokation hat er schon Argumente vorgebracht.33 Als dritte Möglichkeit bleibt dann nur die Analogie, nur ist die Frage, was damit gesagt und gewonnen ist. Tho­ mas orientiert sich an Quantitäten und deren Verhältnissen. Man kann zwei Zahlen in ein Verhältnis setzen: Proportion. Man kann aber auch zwei Verhältnisse in ein Verhältnis setzen: Proportiona­ lität (a : b = c : d). Darin läge, so Thomas, eine Art Übereinkommen. Aber das scheint ein Mißgriff zu sein: Hier liegt keine Ähnlichkeit der Proportionen vor, sondern offenkundig eine strikte Gleichheit. Erst recht liegt keine Ähnlichkeit zweier Terme vor. Thomas hat denn auch tatsächlich diese Konzeption später fallengelassen – wie immer stillschweigend. In seinem Ethik-Kommentar spricht er bei der Kommentierung der geometrischen Proportionalität der distri­ butiven Gerechtigkeit völlig zutreffend von einer Gleichheit der Ver­ hältnisse34 und hat sich schon in der Summa contra gentiles35 auf die pros-hen-Beziehung verlegt. Aber der Thomismus hat in Gestalt von Card. Cajetan diese verschiedenen Konzeptionen dem aussichtslosen Versuch der Vereinheit­lichung unterworfen.36 33  Es ist keine simple Apologie der religiösen Sprache, wie K. Flasch nahelegt: Das philosophische Denken im Mittelalter, 349. 34  In Eth. V, 5 (ed. Leon. XLVII, 280, 23–24): proportionalitas nihil aliud est quam aequalitas proportionis (»Eine Proportionalität ist nichts anderes als die Gleichheit der Proportion« [R. S.]); 281, 105–106: pro­ portionalitas est aequalitas proportionis (»Eine Proportionalität ist die Gleichheit der Proportion« [Übers. R. S.]). 35  ScG I, 34 (ed. C. Pera, nr. 298). 36  De nominum analogia, in: Scripta philosophica, ed. Paul N. Zam­ mit, Rom 1952, 3–93; engl. Übers.: Edward A. Bushinski  /  Henry J. Koren, The Analogy of Names and the Concept of Being, Pittsburgh 1957; ²1959.  – Noch die deutsche Thomas-Ausgabe übersetzt in den 1930er Jahren ana­ logia mit »Verhältnisgleichheit«. Das kann es selbstverständlich bedeuten (manche meinen, nur das kann es bedeuten), aber Thomas meint das mit diesem Begriff ab den 1260er Jahren nicht.

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III.  Die Ideen Zu den Grundgedanken Platons und überhaupt derjenigen Denk­ form, die man platonisch nennt, gehört die Lehre von Ideen, gene­ reller gesprochen der Eigenständigkeit von Strukturen gegenüber dem, was jeweils in solche Strukturen einrückt. Nun war im Mit­ telalter für diesen Kerngedanken Platons von dessen Dialogen nur der ›Phaidon‹ und unvollständig der ›Timaios‹ zugänglich. Aber ›zu­ gänglich‹ heißt im mittelalterlichen Kontext nicht notwendig, in den Bibliotheken greifbar. Weitaus umfassender war die Kritik des Ari­ stoteles an Platons Ideenlehre präsent, der diese Lehre nach allen Gesichtspunkten verwirft: unklar, die anstehenden Fragen in keiner Weise lösend, sogar zusätzliche Probleme erzeugend. Daneben wa­ ren aber sowohl die augustinische wie die dionysische transformie­ rende Rezeption der platonischen Ideenlehre von großem Belang. Dem erst in den 1270er Jahren zusätzlich durch Wilhelm von Moer­ bekes Teilübersetzung zugänglichen ›Parmenides‹ (im Zusammen­ hang mit der Übersetzung von Proklos’ Kommentar dazu) waren zwei entgegengesetzte Antworten zu entnehmen: eine sehr restrik­ tive und eine, die alles rationale Denken auf Ideen bezieht,37 aber auch dieser zugängliche Platon-Text hat an den Universitäten kaum Beachtung gefunden. Da Augustinus wie schon der Mittelplatonismus die Ideen in den göttlichen Geist transferiert hatte, war das Problem einer unredu­ zierten Pluralität – und das im Platonismus! – von solchen Ideen be­ seitigt. Aber das Erkenntnisproblem ist geblieben: Wenn Gott Ideen hat, so hat doch der Mensch kein Wissen von den Inhalten dieser Ideen in Gott. Es war auf der anderen Seite aber auch das Motiv, für Wissens- und Normansprüche adäquate Gegenstände in ihrer Unvermeidlichkeit zu etablieren, beseitigt. Aber es bleibt das spe­ kulative Problem, daß einerseits ein Gott, der die Welt erschaffen hat und den Gang der Dinge lenkt und voraussieht, ein Wissen von dem allen haben muß, daß aber andererseits der bloße Verweis auf die Identität von Sein und Denken das Moment der Pluralität selbst noch ganz unberücksichtigt läßt. Daher gibt es nicht nur einen sozu­ 37  Platon, Parm. 130 a–135 c.

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sagen geistesgeschichtlichen, sondern auch einen sachlichen Grund, die genaue Bedeutung der göttlichen Ideen zu bestimmen. Dies ge­ schieht in den zahllosen Kommentaren zu den Sentenzen des P ­ etrus Lombardus – dort in der distinctio 36 des 1. Buches –, aber auch in systematisierenden Summen oder auch, wie in diesem Werk des Thomas, innerhalb von Quaestiones disputatae. Dabei werden also neue Gründe für die Annahme von Ideen vorgebracht, aber auch alte Fragen wie die, wovon es eigentlich Ideen gibt, wieder aufgegriffen. Nachdem Thomas den Begriff des göttlichen Wissens in der um­ fangreichen zweiten quaestio bestimmt hat, kommt er in der dritten quaestio zur Lehre von den Ideen.38 Ein erster Klärungsbedarf ergibt sich aus dem Vokabular. Schon Augustinus gibt für das, was auch Platon selbst nicht mit einem einheitlichen Terminus bezeichnet hat, zwei Übersetzungen an: forma und species, die inhaltlich bestimmte Art.39 Forma ist nun aber auch die Übersetzung von ihrerseits zwei nahezu synonym scheinenden Begriffen der aristotelischen Philo­ sophie: μορφή (morphé) und εἶδος (eidos). Der gedankliche Schritt ist nun nicht etwa überflüssig, weil nach Aristoteles die Formen als Prinzipen von Sein, Werden und Tätigsein nicht ihrerseits wieder geworden sein können. Dem stimmt Thomas durchaus zu, sagt aber, Formen seien gleichwohl geschaffen. Ob sie zeitlich hervorgebracht oder von Ewigkeit her schon sind, ändert an ihrem Abgeleitetsein gar nichts. Keine Form, also sprich keine Art, enthält neben ihrer 38  So auch die Abfolge in der späten Summa theologiae (I, q.  14–15), die ScG enthält kein eigenes Kapitel zu den Ideen. 39  Thomas verwendet eine ganze Reihe verschiedener Termini: idea; forma exemplaris; exemplar; ratio idealis. Eine wirklich überzeugende Übersetzung scheint es dafür im Deutschen nicht zu geben. In dem Wort­ feld ›Bild‹ (Urbild, Vorbild) liegt das Zusammengehören, aber nicht dessen genaue Art. Der ›Begriff‹ hingegen unterstellt – jedenfalls im nicht-no­ minalistischen Begriff des Begriffes – logische Beziehungen seiner Ele­ mente, kann aber weder das Orientierende noch dessen Beziehung zu dem, was durch es Orientierung hat, zum Ausdruck bringen. ›Exempel‹ ist nur ein Fall, der aber nicht exemplarisch sein muß. In dieser Mangelsituation greift die vorliegende Übersetzung doch zum herkömmlichen ›Urbild‹, das Platon ja auch selbst heranzieht: Tim. 28 c (Paradigma). Das ›Vorbild‹ kenn­ zeichnet ebenfalls nicht das Bildliche, sondern das Orientierung Gebende.

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inhaltlichen Bestimmung auch noch die Existenz. Ob man Gott als nichtexistent denken kann, das ist eine philosophisch seit Jahrhun­ derten kontrovers gebliebene Frage. Daß Arten verschwinden (›Ar­ tensterben‹) oder umgelehrt, wie man sagt, sich ›entwickeln‹, stand der Scholastik wahrlich nicht vor Augen, aber die Kontingenz der Formen wurde schon in der arabischen Philosophie entdeckt und in ihrer Möglichkeit durch die Differenz von Wesen und Sein in den konkreten Dingen grundgelegt. Daher die damals vielfach verhan­ delte Frage: Ist der Mensch auch dann ein vernünftiges Lebewesen, wenn es gar keine Menschen gibt?40 Das Entstehen von Arten schien mit dem aristotelischen Argument, daß das Prinzip des Entstehens nicht auch seinerseits wieder entstanden sein kann, völlig ausge­ schlossen. Es ist die metaphysische These, daß Formen ungeachtet dessen, daß sie nicht entstehen können, doch eines Grundes ihres Seins bedürfen, weil sie ihr Sein nicht enthalten können. Die denkerische Bemühung des Mittelalters steht also vor ver­ schiedenen Herausforderungen: neben der schon genannten sprach­ lich-terminologischen auch der begrifflichen und begründungstheo­ retischen. Thomas geht vom allgemeinen Begriff der Form aus: Das Hervorbringen geschieht durch die Form, weil so einerseits die Re­ gularität, andererseits das Phänomen der unzulänglichen Realisie­ rung verständlich gemacht werden kann. Hier kann man von Form, aber nicht von Idee sprechen. Das eigentlich Strukturierende ist not­ wendig ein konstitutiver Teil des Konkreten selbst, weil dieses im­ mer hinsichtlich seiner Gemeinsamkeiten mit anderem, also Gleichartigem, und dem Unvertretbarem als eine Zusammenfügung aus Strukturierendem und Strukturiertem gedacht werden muß. Dieses Strukturprinzip ist zwar eine Form, aber keine Idee. Die von Aristoteles so scharf kritisierte Getrenntheit der Idee41 kommt in derjenigen Art von Hervorbringung zur Geltung, wo 40  Vgl. Boethius von Dacien, Sprache, Wahrheit und Logik. Übersetzt und eingeleitet von Stefan Schick, Freiburg 2018, 38–42; 206–263. 41  Nicht nur die spätantiken Platoniker haben diese Kritik kritisiert. Im Mittelalter hat Bonaventura in den späten Hexaemeron-Ansprachen gesagt: nihil valent rationes eius (Hex. VI, 2; V, 361 a [»Seine Gründe taugen nichts«]). Auch sonst begegnen im Mittelalter immer wieder Vorbehalte gegenüber der Angemessenheit der Aristoteles-Kritik: für

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eine Konzeption oder eine künstlerische oder eben handwerkli­ che Herstellung etwas schon Vorgestelltes realisiert. Das schlichte Wort arti­fex ist unübersetzbar, weil ›Künstler‹ zu viel, ›Handwer­ ker‹ zu wenig besagt. Das wesentliche Moment ist die Herstellung von etwas, das einer Idee entsprechen kann und entsprechen soll (die Idee muß also für sich verständlich sein), denn die Herstellung und das Hergestellte selber kann mehr oder weniger kunstgerecht sein. Diese Entsprechung ist daher eine Nachahmung der Idee, sie muß zusätzlich beabsichtigt sein und darf sich nicht zufällig einge­ stellt haben. Es wird also ein Wirklichkeitsbegriff gewonnen, der die Welt weder als puren Zufall noch als schiere Notwendigkeit versteht, sondern das Beabsichtigtsein und zugleich die Möglichkeit der nur unzulänglichen Nachahmung zusammendenkt. Thomas ist der Auf­ fassung, dies sei der motivierende Grund Platons gewesen, und man einige Belege nicht nur aus Heinrich v. Gent und Johannes Buridan vgl. R. Schönberger, Relation als Vergleich, 293 f.; Thomas v. Aquin, In De caelo III, 6 (ed. R. M. Spiazzi, nr. 584): Et secundum hoc Aristoteles non obiicit hic contra sensum Platonis, sed contra Platonicorum verba, ne ab eis aliquis in errorem inducatur (»Dementsprechend bringt Aristoteles keine Einwendungen gegen das von Platon Gemeinte vor, sondern gegen die Ausdrucksweise, damit durch sie niemand in einen Irrtum geführt wird« [R. S.]); Sum. theol. I, q.  15, ad 1: Et sic etiam Aristoteles improbat opinionem Platonis de ideis, secundum quod ponebat eas per se existen­ tes, non in intellectu (»Daher hat Aristoteles die Lehrmeinung Platons über die Ideen verworfen, sofern er sie als für sich bestehend und nicht in einem Verstand behauptet hat« [R. S.]); Duns Scotus, Rep. Par. I, d. 36, q.  2 n. 33: (ed. L. Vivès XXII, 444 b): Nunc autem Plato vere posuit ideam in mente divina, eo modo quo Aristoteles falso sibi imponit eas posuisse in re extra, ut per Commentatorem patet super I Ethicorum. Aristoteles autem imponit ei eas posuisse ideas quidditates per se existentes rerum sensibilium (»Nun hat Platon in Wahrheit die Idee im göttlichen Geist auf die Weise behauptet, wie Aristoteles es ihm fälschlich zugeschrieben hat, diese im äußeren Ding behauptet zu haben, wie dies durch den Kommen­ tator zum 1. Buch der Nikomachischen Ethik ersichtlich wird. Aristoteles hat ihm nun aber zugeschrieben, diese Ideen als durch sich selbst existie­ rende Wesenheiten der sinnenfälligen Dinge behauptet zu haben« [Übers. R. S.]); vgl. Ét. Gilson, Jean Duns Scot, Introduction à ses positions fonda­ mentales, Paris 1952, 283.

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kann diese Lehren tatsächlich bei Platon finden (insbesondere No­ moi X), allerdings hätte aus den genannten Gründen Thomas diese Belege nicht vorlegen können. Damit ist aber nur die Notwendigkeit von Ideen überhaupt be­ gründet, nicht deren genaue Bedeutung. Diese ergibt sich erst bei der zweiten Frage, nämlich daraus, worauf sich Ideen denn bezie­ hen. Wenn man nur die Unabdingbarkeit etabliert, dann läßt dies ja die Möglichkeit offen, daß es nur eine exemplarische Idee gibt, und diese Variante scheint sich ja auch als einzige zur Einheit Got­ tes zu fügen. Aber eine durch eine einzige Idee orientierte und da­ mit bloß global bleibende Absicht entläßt alles andere gerade doch wieder in die Sphäre des Zufälligen, Gott könnte somit nicht mehr als die Instanz gedacht werden, die sich auf das Ganze wissend und bejahend bezieht. Aber Gott ist eben nicht nur einer (und nicht in viele Göttern instanziiert), er ist auch in sich selbst eines, d. h. nicht aus mehreren Komponenten zusammengefügt. Wäre er das, dann bedürfte er seinerseits einer Ursache seiner Zusammenfügung und also wäre er nicht das Erste und völlig Unvordenkliche. Das räumt Thomas tatsächlich ein. Seine Lösung kehrt die alte Fragestellung dann auch um: Nicht das Wesen als solches, sondern das Wesen als erkanntes ist die Grundlegung der göttlichen Ideen. Das Wissen gründet nicht mehr wie bei Platon in Ideen, sondern das Wissen um sich selbst bringt Ideen hervor. Erst dadurch entsteht eine inhaltli­ che Differenz – als Ideen sind alle Ideen gleich, aber sie sind Ideen von Ungleichem,42 sowohl der Art wie der Vollkommenheit nach. Dieser Schritt macht nun seinerseits noch einen weiteren erfor­ derlich. Die Beziehung der Ideen zum göttlichen Wissen läßt die Frage aufkommen, von welcher Art dieses Wissen denn ist (a.  3). 42  So auch Meister Eckhart, In Sap. n. 99 (LW II, 434): in deo enim imparia sunt paria, inaequalia sunt aequalia. Propter quod doctores di­ cunt quod in deo rerum inaequalium aequales sunt ideae, et secundum Augustinum rationes quamvis corruptibilium, puta circuli aenei ratio est incorruptibilis et aeterna (»In Gott ist ja das Ungleiche gleich. Deshalb sagen die Theologen, in Gott seien die Ideen der ungleichen Dinge gleich. Nach Augustinus sind die Ideen auch der vergänglichen Dinge, zum Bei­ spiel die Idee eines Kreises, (der) in Erz (eingeprägt ist), unvergänglich und ewig« [Übers. J. Koch]).

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Aristoteles hat die Unterscheidung von theoretischem und prakti­ schem Wissen in die Philosophie eingeführt – und diejenigen, die eine solche Unterscheidung gleichwohl für vordergründig halten, bilden ihrerseits einen nicht in einer negativen These, sondern in einer bestimmten Denkform gründenden Zusammenhang: Platon, Plotin, Meister Eckhart, Fichte, Lavelle etc. Praktisches Wissen zielt nach Aristoteles auf das Handeln und kunstgerechte Hervorbrin­ gen, nicht wie das theoretische auf die Wahrheit. Zudem ist das praktische Wissen von eigener Dignität, das zudem durch den Be­ zug auf das Kontingente (notwendigerweise Kontingente!) und die partielle Ausrichtung auf die Struktur, d. h. Arten von Handlun­ gen, bestimmt ist. Es werden manche Umstände, aber nicht alle nur möglichen Handlungsfolgen relevant. Was die Ausrichtung angeht, könnte man das auf die Schöpfung bezogene Wissen als praktisches kategorisieren. Aber Thomas löst in seiner Antwort die in der Frage eröffnete Alternative auf – er votiert nicht advokatorisch für eine von zwei vorausgesetzten, ja vorgesetzten Alternativen (im übrigen ein typischer Zug philosophischen Denkens). Schon der Künstler kann sich ja auf eine Werkidee beziehen, die sich zwar realisieren ließe, die er aber nur erwägt, aber nicht ernsthaft zu realisieren be­ absichtigt. Wissen wird sogar in seinen ontologischen Formen mit­ berücksichtigt. Gerade das ist ein Moment der Weltüberlegenheit, das erst die mittelalterliche Scholastik, ja genauer Thomas selbst entdeckt hat! Gott kann etwas erschaffen, dessen Erschaffung aber immer unterbleibt. Es ist ihm möglich, aber es wird durch ihn nicht wirklich. Da dies an keinem Inhalt festgemacht werden kann, kann es sich auf ein Verhältnis von Inhalten beziehen, nämlich die Ko­ härenz.43 Die folgende Sequenz von Fragen richtet sich nun auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit, die allesamt dilemmatisch scheinen: Das Schlechte (a.  4), das Akzidentelle (a.  7), das Einzelne (a.  8) etc., all das scheint sozusagen nicht ideewürdig oder -fähig, aber dies ein­ zuräumen hätte unweigerlich zur Folge, daß das göttliche Wissen doch wieder restringiert würde. Und dies ist keine bloß konzeptio­ 43  Diese thomasische Entdeckung entdeckt hat Henry Deku: Possibile logicum, vgl. Anm.  26.

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nelle Möglichkeit geblieben, denn Thomas kennt Autoren, die derlei vertreten haben. Beim Einzelnen mag man noch von einer »Auf­ wertung« sprechen, aber abgesehen vom rein plakativen Charakter solcher »Interpretationen« paßt das wenig zu den anderen Ideeinhal­ ten. Thomas’ Weg führt wie schon bei der Untersuchung über das Wissen dahin, daß erstens Gott ein vollkommenes Wissen von sich selbst hat, daß zweitens dieses Wissen auch dies enthält, wie anderes als er selbst an ihm teilhaben kann, da doch drittens alles, was in unübersehbarer Variation die Welt ausmacht, eben dies durch Teil­ habe am göttlichen Sein ist. Das eigentlich Wirkliche (und eigentlich Wirkende) ist gut aristotelisch das Konkrete, jedenfalls das eigen­ ständig Wirkliche, aber auch der nur gedankliche Gehalt als not­ wendiger Gehalt ist doch eine Weise von Sein und daher eine Ent­ sprechung einer göttlichen Idee als ein Gehalt seines Wissens. Der Platon der klassischen Dialoge kennt Ideen als Inbegriffe formaler oder normativer Prädikate. Durch die Verknüpfung der Ideenlehre mit dem Schöpfungsbegriff erhebt Augustinus einen universellen Anspruch auf die Ideebestimmtheit der Wiklichkeit, doch scheint dieser Anspruch vom Ideebegriff selbst nicht gedeckt zu sein. Tho­ mas’ neuer Begriff von Sein eröffnet eine konzeptuelle Möglichkeit, diesen Anspruch einzulösen. Das vielleicht naheliegendste Bedenken gegen jede Ideenlehre scheint sich gerade aus der aristotelischen Transformation zu er­ geben. Wenn man – reichlich versimpelnd – gesagt hat, Aristoteles verlagere die platonische Idee in die Dinge, dann scheint nun die Kritik der Weltverdopplung erst recht zuzutreffen. Wieso braucht eine Form ihrerseits noch eine Form, und was fügt die zweite über­ haupt der ersten hinzu? Die Antwort ergibt sich auch daraus, daß die endliche Wirklichkeit zwar nicht ohne Strukturen zu denken ist, Strukturen aber ihrer­ seits noch nicht hinreichend sind, Wirkliches zu etablieren. Daher kann die immer schon strukturierte Natur nicht den letzten katego­ rialen Rahmen für die Weltdeutung darstellen. Diesen Rahmen gibt hingegen der Schöpfungsbegriff, der es nunmehr erlaubt, nicht nur das einzelne Neue, sondern auch die Neuheit der Welt insgesamt zu denken. Darin liegt, daß sowohl ein eigener Grund des Daseins über die spezifischen Gründe des Soseins zu denken ist, sondern auch,

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daß dieser Grund ein Wille ist, genauer gesagt, eine Instanz, deren Wille Gründe hat. Die Welt ist gewollt und beabsichtigt. Die Welt ist nicht wie ein Echo oder ein Schatten eine Begleiterscheinung des göttlichen Wesens, sondern in ihrem Sosein wie in ihrer Zeitlich­ keit Inhalt einer göttlichen Absicht. Das scheint ohnehin die einzige Möglichkeit zu sein, zu denken, wie aus einem ewigen Wesen ein zeitlicher Kosmos hervorgehen kann. Wie schon bei der vorangehenden quaestio über das göttliche Wissen gibt es auch hier einen sozusagen zweiten Teil, wo jeweils bestimmte Gehalte herangezogen und mit der Frage konfrontiert werden, ob es denn auch von ihnen Ideen gebe: das Übel bzw. das Schlechte (a.  4), die erste Materie (a.  5), das Nichtseiende (a.  6), das Akzidens (a.  7) und das Singuläre (a.  8). Es ist wohl kaum zu bestrei­ ten, daß ausgehend vom platonischen Ideenbegriff solche Fragen zu verneinen sind. Es ist aber ebenso unabweisbar, daß die Konzeption der Welt als Schöpfung es ihrerseits ausschließt, Gott nur ­einen sozusagen groben Überblick über die Welt zuzubilligen. Eine gött­ liche Weltformel würde das Einzelne, das Mißglückte usw. zu etwas entweder Belanglosem oder zu etwas einfachhin aus allem Wissen Ausgeschlossenem machen. Daraus ist absehbar, daß beide Ansprü­ che nur erfüllt werden können, wenn der Begriff der Idee sozusa­ gen nicht nur – eben in das Wissen Gottes – verlagert, sondern sei­ nerseits verändert wird. Er wird eben jetzt grundgelegt als Form des göttlichen Wissens und ist nicht mehr nur als Gegenstand des menschlichen Wissens gedacht. Schon bei der Frage, ob es denn von der Materie als solcher eine Idee geben könne, hat Thomas mit einer begrifflichen Unterscheidung geantwortet. In einem strikten Sinne nein, in einem weiten Sinne ja.44 Wenn also das Prinzip der Indivi­ duation als Teil des konkreten Wesens gewußt werden kann, dann auch das Individuelle selbst. Es sei abschließend zu Thomas’ Untersuchung über die Ideen noch darauf hingewiesen, daß es in einem skizzenhaften Nachwort einer­ seits sachlich um das neu entwickelte konzeptuelle Potential, ande­ rerseits philosophiegeschichtlich um die konzeptionelle Kontinen­ talverschiebung geht, die hier zutage tritt. Thomas selbst hat dabei 44  De ver., q.  3, a.  5.

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ohnehin nur die Beziehung zur griechischen Philosophie des Eidos und selbstverständlich nicht die zu den späteren Konzeptionen im Blick, die aber gleichwohl ohne die Theorien der mittelalterlichen Scholastik nicht möglich gewesen wären. Einer der wichtigsten ist hier Duns Scotus.45 Selbst Kant hat seinen Ideebegriff ungeachtet seiner Kritik an Platons Verständnis von Philosophie und Erkennt­ nis überhaupt mit Platons Prägung in Verbindung gebracht.46 Daß auch in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹ die Idee die abschließende Kategorie der Einheit von Objektivität und Subjektivität bildet, hat Heidegger einen im Grundsätzlichen einheitlichen Zug der euro­ päischen Philosophie sehen lassen47 – zugunsten des Versuchs, ein 45  Dies gilt ungeachtet dessen, daß er den Ideebegriff auch für ver­ zichtbar gehalten hat: De rerum principio IV, nr. 92 (ed. W. Kluxen, 127): »Von Deiner Wahrheit und den Ideen in Dir ist nicht weiter zu handeln nötig, um mein Vorhaben auszuführen. Vieles wird von den Ideen ge­ sagt; wäre es niemals gesagt, ja wären die Ideen nie genannt, man würde doch nicht weniger von Deiner Vollkommenheit wissen. Das steht fest, daß Dein Wesen vollkommener Erkenntnisgrund für jedes Erkennbare unter jeder Hinsicht von Erkennbarkeit ist; nenne das ›Idee‹, wer will; hier beabsichtige ich nicht, mich bei dieser griechischen platonischen Vokabel aufzuhalten.« 46  Kant, KrV B 370: »Plato bediente sich des Ausdrucks Idee so, daß man wohl sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht allein nie­ mals von den Sinnen entlehnt wird, sondern welches so gar die Begriffe des Verstandes, mit denen sich Aristoteles beschäftigte, weit übersteigt, indem in der Erfahrung niemals etwas damit Kongruierendes angetroffen wird. Die Ideen sind bei ihm Urbilder der Dinge selbst, und nicht bloß Schlüs­ sel zu möglichen Erfahrungen, wie die Kategorien. Nach seiner Meinung flossen sie aus der höchsten Vernunft aus, von da sie der menschlichen zu Teil geworden, die sich aber jetzt nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zu­ stand befindet, sondern mit Mühe die alten, jetzt sehr verdunkelten, Ideen durch Erinnerung (die Philosophie heißt) zurückrufen muß.« 47  M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA XL, 189: »Für das Sein (φύσις) drängt sich am Ende als maßgebender und vorwaltender Name das Wort ἰδέα, εἶδος, ›Idee‹ vor. Seitdem beherrscht die Auslegung des Seins als Idee alles abendländische Denken durch die Geschichte sei­ ner Wandlungen hindurch bis auf den heutigen Tag. In dieser Herkunft liegt es begründet, daß im großen und endgültigen Abschluß des ersten Ganges des abendländischen Denkens, im System Hegels, die Wirklich­

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alternatives Weltverhältnis zu eruieren. Schon mit Descartes war die Idee zu einer subjektiven Vorstellung geworden, nach Hegel zu einer kollektiven Vorstellung, die aber noch das Moment der Orien­ tierungskraft und Leitfunktion innehatte. Diese Kontinentalverschiebung ist, wie gesagt, selbstredend nicht die Perspektive des Autors Thomas selbst. Er hat es mit den schon erwähnten verschiedenen Vorlagen – Aristoteles, Augustinus, Dio­ nysius Areopagita, Anselm von Canterbury – zu tun, aber eben auch mit schon entwickelten Ideekonzeptionen seiner Zeit. Zu untersu­ chen, wie sich Thomas’ Theorie zu denen eines Albertus Magnus, Bonaventura und anderer Magistri verhält, würde seiner Konzep­ tion erst die erforderliche Prägnanz verleihen.48 Das kann aber nicht Gegenstand eines Nachworts, welches das Grundlegende hervorzu­ heben versucht, sondern nur Aufgabe einer detaillierten begriffsund argumentationsanalytischen Spezialuntersuchung sein.

keit des Wirklichen, das Sein im absoluten Sinne, als ›Idee‹ begriffen und ausdrücklich so genannt ist.« Über die göttlichen Ideen hat er in einer früheren Vorlesung geurteilt: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höh­ lengleichnis und Theätet, GA XXXIV, hg. v. H. Mörchen, Frankfurt a.  M. 2 1997, 72: »Angesichts dieser völlig verworrenen Lage innerhalb der zen­ tralsten Probleme der Philosophie überhaupt ist es immer noch bis heute der philosophisch wertvollste und echteste Schritt, wenn die Ideen als die schöpferischen Gedanken des absoluten Geistes, christlich gesprochen Gottes, angesetzt werden, etwa durch Augustinus. Das ist freilich keine philosophische Lösung, sondern die Beseitigung des Problems, aber eine Beseitigung, die einen echten philosophischen Antrieb hat, der in der gro­ ßen Philosophie immer wieder auftaucht, zuletzt in großem Stil bei ­Hegel.« 48  Erste Orientierung geben die großartigen Einführungen von Éti­ enne Gilson: Le thomisme, Introduction à la philosophie de saint Thomas d’Aquin, Paris 51944, 180–182; La philosophie de saint Bonaventure, Paris 3 1953, 119–134; Jean Duns Scot, 279–306.

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IV.  Das Wort Nachdem in der ersten der vier Untersuchungen zunächst der Be­ griff der Wahrheit, der dem ganzen Werk den Titel gegeben hat, dann das göttliche Wissen, das in seinem Begriff Wahrheit voraus­ setzt, und an dritter Stelle die Gründe und Inhalte des Wissens in Gott, die Ideen, erörtert worden sind, geht es in der vierten Unter­ suchung nunmehr um einen bestimmten und besonders unerwar­ teten Aspekt des göttlichen, aber auch jeglichen sonstigen Wissens: das Wort. Zu den religiösen Grunderfahrungen scheint es zu gehören, daß Gott oder die Götter erscheinen oder etwas erscheinen lassen oder gar sich dem Menschen mitteilen. Wie immer diese offenkundi­ gen Anthropomorphismen zu beurteilen sind – der Text, der die Menschwerdung, also die singuläre Annahme der Morphe des An­ thropos durch Gott selbst, verkündet, das Johannesevangelium, be­ ginnt mit dem Satz: »Im Anfang war das Wort.« Was immer ist, ihm geht das Wort voraus und dieses uranfängliche Wort ist zugleich der Grund für alles andere: »Alles ist durch es geworden, und ohne es ist nichts geworden.« Daher ist es mit Gott identisch: »Und Gott war das Wort.« Diese Aussagen gehören zu denjenigen, über die die Religionsphilosophie bzw. die philosophische Theologie der Antike ungeachtet der Prominenz des Logosbegriffes keine Überlegungen angestellt hat (allerdings: Philon v. Alexandria). Das tritt erst mit dem Christentum in die Welt. Was aber genau mit ›Logos‹ gemeint ist, läßt Goethe Faust in einer berühmten Passage erwägen, der dabei verschiedene Varianten durchspielt und am Ende erst mit der viel­ leicht überraschendsten, aber auch jeden expliziten Bezug zu Geist und Sprache tilgenden Übersetzung zufrieden ist: »Im Anfang war die Tat.«49 Nur eine Tat, nicht Wort oder Sinn könne, so Faust, als voraussetzungsloser Anfang gedacht werden. 49  Faust I, v. 1237. – Moderne Übersetzer wie Walter Jens und Klaus Berger  /  Christiane Nord behalten in der Wiedergabe den Terminus ›Wort‹ bei; Kommentatoren zum Johannesevangelium (R. Bultmann; R. Schnac­ kenburg; M. Theobald) lassen in ihren Kommentaren das griechische Wort Logos stehen.

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In der Anfangszeit der Interpretationsgeschichte hat es Augu­ stinus bereits mit einer etablierten Übersetzung zu tun: In princi­ pio erat verbum. Das ist eine mögliche, aber sicher nicht die einzig mögliche. Denn im griechischen Original steht λόγος (logos). Dieses überaus bedeutungsreiche griechische Wort kann im Lateinischen auch ratio (Begriff, Grund etc.) heißen. Im Ausgang von dieser Be­ deutung diagnostiziert Augustinus einen für ihn höchst bedeutsa­ men Grundkonsens von Platonismus und Christentum. Augustinus berichtet in seinen ›Confessiones‹ von seiner Lektüre einiger Werke griechischer Platoniker. Er sagt von diesen Schriften (in der Über­ setzung von Hans Urs von Balthasar): In diesen las ich zwar nicht geradezu wörtlich, aber doch im ge­ nau gleichen Sinn, der durch zahlreiche und vielfältige Beweise gestützt war: ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort‹ […] Ferner las ich, daß das Wort, Gott, ›nicht aus dem Fleisch, nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Mannes noch aus dem Willen des Fleisches, sondern aus Gott geboren wurde‹. Aber daß ›das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat‹, das las ich dort nicht.50 50  Augustinus, Conf. VII, 9, 13–14 (CCSL 27, ed. L. Verheijen, Turn­ hout [Brepols] 1981, 101, 6–9. 20–23: Et ibi legi non quidem his verbis, sed hoc idem omnino multis et multiplicibus suaderi rationibus, quod ›in principio erat verbum et verbum erat apud deum et deus erat verbum‹ […] Item legi ibi, quia verbum, deus, ›non ex carne, non ex sanguine, neque ex voluntate viri neque ex voluntate carnis, sed ex deo natus‹ est; sed quia ›verbum caro factum est et habitavit in nobis‹ non ibi legi; vgl. Augustinus, Die Bekenntnisse. Vollständige Ausgabe. Übertragung, An­ merkungen und Einleitung von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 42002, p.  169 sq. [Christliche Meister, 25]. An anderer, ebenfalls vielzitierter Stelle stellt Augustinus mit zusätzlichen Belegen die Sonderstellung des Plato­ nismus gegenüber den anderen antiken Philosophenschulen der Antike heraus, De civ. Dei VIII, 5 (CCSL 47, 221): nulli nobis quam isti propius accesserunt (»Keine anderen sind uns so nahe gekommen wie er und seine Schule« [Übers. W. Thimme].

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Daß sich eine ebenso eindeutige wie grundsätzliche Grenze ziehen läßt, mindert in den Augen Augustins keineswegs den Rang der griechischen Philosophie. Diese gibt dem ersten Satz des Johan­ nes-Prologs sogar den Ausweis rationaler Einsichtigkeit. In seinem Werk ›De civitate dei‹ (Der Gottesstaat) sagt Augustinus, daß ihm Simplicianus,51 der spätere Nachfolger des für ihn so bedeutsamen hl. Ambrosius im Amt des Bischofs von Mailand, von dem Aus­ spruch eines leider ungenannt bleibenden Platonikers – sogar des öfteren – berichtet habe, der erste Vers »müsse mit goldenen Buch­ staben aufgeschrieben und in allen Kirchen an der zumeist in die ­Augen fallenden Stelle angebracht werden«.52 Diese Konvergenz kann sich freilich nur ergeben, wenn man Logos als ratio versteht, denn dann ist es das Äquivalent zur Ideenlehre, die für die Tradition des Platonismus in der Tat wesentlich ist. In einer überaus bedeutsamen Passage53 eines Buches mit einem überaus belanglosen Titel ›Über 83 verschiedene Fragen‹ rechtfer­ tigt Augustinus die schon angeführte Übersetzung von logos mit verbum mit weiterer und zugleich größerer Bedeutung, daß sich nämlich ratio nur auf das göttliche Wissen selbst bezieht, verbum aber auch einen Bezug zu dem enthält, an das es ergeht. Daß damit ein ganz eigener Akzent gewonnen wurde, zeigt allein schon Tho­ mas’ Unterscheidung der beiden quaestiones 3 (Idee) und 4 (Wort) im vorliegenden Werk, mit der er sich dieser augustinische Deutung 51  In der an Simplician gerichteten Schrift Augustins hat K. Flasch eine grundlegende Wende in seiner Theorie der Freiheit gesehen: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. De diversis quaestionibus ad Sim­ plicianum I 2. Mainz 1990; 32012. 52  De civ. Dei X, 29 (CCSL 47, ed. B. Dombart  /  A. Kalb, Turnhout [Brepols] 1955, 306, 103–104): aureis litteris conscribendum et per omnes ecclesias in locis eminentissimis proponendum esse dicebat [dt. Übers.: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe. Eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme, Zürich 1955, I, 559]. 53  Vgl. M. Grabmann, Des heiligen Augustinus Quaestio de ideis (De diversis quaestionibus LXXXIII qu. 46) in ihrer inhaltlichen Bedeutung und mittelalterlichen Weiterwirkung, in: ders., Mittelalterliches Geistes­ leben. Abhandlungen zur mittelalterlichen Scholastik und Mystik, II, München 1956, 25–34.

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anschließt.54 Aber was bei Augustinus, wie eben kurz angedeutet, ambivalent bleibt – eine Verteilung auf unterschiedliche Werkpha­ sen ist ausgeschlossen –, wird in der neuplatonisch orientierten Tra­ dition eindeutig, aber auch einseitig festgelegt: Man kann zeigen, daß die neuplatonisch geprägte Auslegungstradition von Dionysius Areopagita über Johannes Eriugena bis zu Albertus Magnus und Meister Eckhart sich allein oder doch vorrangig am Logos als ­ratio orientiert hat.55 Diese Problemlage von augustinischem Zwiespalt auf der einen Seite und neuplatonischer Vereinseitigung56 auf der 54  Thomas hat im übrigen gar nicht in allen seinen einschlägigen Tex­ ten dem Begriff Verbum eine mehrgliedrige quaestio gewidmet. In der Summa contra gentiles wird es in einem umfassend durchsystematisier­ ten und vielfach herangezogenen Kapitel im Zusammenhang der Zeugung des Sohnes thematisiert (ScG IV, 11), in der Summa theologiae ebenfalls innerhalb der Trinitätslehre (I, q.  34). Aber er hat doch über diese Dinge weiterhin nachgedacht. In seinem relativ späten Kommentar zum Johan­ nesevangelium hat Thomas sogar eine modifizierte Lehre vorgetragen: Das verbum cordis, das Wort des Herzens, ist nicht mehr wie in De veri­ tate das Verstandene selbst zusammen mit den zwei herausgestellten Re­ lationen des Ursprungs und der Mitteilung, sondern dasjenige, »in dem er etwas versteht« (sicut in quo intelligit, ed. R. Cai, nr. 25). 55  Ein kursorisch bleibender Überblick: R. S.: Im Anfang war das Wort. Philosophische Reflexionen zum christlichen Begriff der Wirklich­ keit, in: S. Bonk (Hg.) Zwischen Rationalität und Religion. Interdiszipli­ näre Perspektiven, unter Mitarbeit von S. Biber, Regensburg 2019, 86–111. Für Eckhart gilt es allerdings nur im Hinblick auf seinen Johannes-Kom­ mentar; vgl. Pred. 9 (DW I, 154 f.); Pred. 22 (DW I, 382). Die Lehre vom Verbum kommt bei manchen dieser Autoren wiederum eher in den Sen­ tenzen-Kommentaren als in den Kommentaren zu Johannes zur Geltung; zu Bonaventura: J. Ratzinger, Offenbarungsverständnis und Geschichts­ theologie Bonaventuras, in: ders., Ges. Schriften, Bd.  II, hg. v. G. L. Müller, Freiburg  /  Basel  /  Wien 2009, 131–159. 56  Einer eigenen Untersuchung bedürfte in diesem Zusammenhang, wie sich die lateinischen Übersetzungen der griechischen Patristik hier positionieren. Ein erster Befund zeigt die zu erwartende Uneinheitlich­ keit; einige wenige Beispiele: Isidor, Etymologiae, II, 24, 7 (ed. W. M. Lind­ say, 125): Λόγος enim apud Graecos et sermonem significat et rationem (»Logos bezeichnet nämlich bei den Griechen sowohl die Rede wie die Vernunft«). Nicht im Original, sondern nur in der Übersetzung des Rufi­

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anderen Seite kann nur in einer Theorie bewältigt werden, die beide Aspekte, Begriff und Wort, gegenwärtig hält und miteinander in Verbindung bringt. Eine solche Theorie entwickelt Thomas in der q.  4. Die Frage ist, wie sich nach der Skizze der Problemlage deren Be­ wältigung erschließt. Der Begriff verbum, Wort, bringt Kern und Fundament der Sprachphilosophie in ihren Grundzügen (und Gren­ nus ist erhalten Origenes, De princ. I, 2, 3 (ed. H. Görgemanns  /  H. Karpp, 126/127): hoc modo etiam ›verbum dei‹ eam esse intellegendum est per hoc, quod ipsa ceteris omnibus, id est universae creaturae, mysteriorum et arcanorum rationem, quae utique intra dei sapientiam continentur, aperiat; et per hoc ›verbum‹ dicitur, quia sit tamquam arcanorum mentis interpres (»in der gleichen Weise muß man auch verstehen, daß sie das ›Wort Gottes‹ ist. Sie ist es nämlich, die allen übrigen, d. h. der ganzen Schöpfung, das Verständnis für die Mysterien und Ge­ heimnisse eröffnet, die in Gottes Weisheit enthalten sind; und sie heißt deshalb ›Wort‹, weil sie gleichsam der Dolmetscher für die Geheimnisse des Geistes ist«); De princ. II, 6, 1 (ed. H. Görgemanns  /  H. Karpp, 356/357): aut quis ad liquidum quae sit ›veritas‹ novit nisi veritatis pater? quis certes universam ›verbi‹ sui naturam atque ipsius ›dei‹ quae ex deo est investigare potuit nisi solus deus, ›apud quem erat verbum‹?: pro certo habere debemus quod hoc verbum (sive ratio dicenda est) […] (»Wer kann die ›Wahrheit‹ in voller Klarheit kennen als der Vater der Wahrheit? Wer schließlich konnte das ganze Wesen seines eigenen ›Wortes‹ durchdringen, welches selbst ›Gott‹ ist (vgl. Joh. 1, 1) und dessen Wesen aus Gott stammt, als allein der Gott, bei dem der Logos war«); Burgundio von Pisa übersetzt Mitte des 12. Jhs. Johannes v. Damaskus, De fide orth. I, 6: De logo (id est de Verbo) Dei (ed. E. M. Buytaert, 24); Dionysius Areopagita, De div. nom. 7, 4 (CD I, 198, 21): ›Λόγος‹ δὲ ὁ ϑεὸς ὑμνεῖται πρὸς τῶν ἱερῶν λογίων, was Johannes Sarracenus in seiner Übersetzung aus den 1160er Jahren so wie­ dergibt: Ratio autem laudatur a sanctis eloquiis; dt. Übers. B. R. Suchla: »Als Ratio wird Gott von der Heiligen Schrift gefeiert«; E. Stein, »Als Vernunft wird Gott in der Heiligen Schrift gepriesen« (ESGA XVII, 137); E. v. Ivanka: »Als Vernunft (Logos) wird Gott in den heiligen Sprüchen gepriesen«; während etwa bei Albertus Magnus der neuralgische Unter­ schied gar nicht erwähnt wird (Super Dion. De div. nom. VII, nr. 31–33; ed. Col. XXXVII/1, 360–362), weist Thomas ausdrücklich mit seinem Wissen aus Augustinus (vgl. De ver., q.  4, Anm.  99) darauf hin, bleibt aber dann doch bei der Auslegung von ratio: In De div. nom. 7, 5 (ed. C. Pera, nr. 735).

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zen) – zur Sprache. Spricht das dafür, nicht von den Quellen des Thomas, sondern von Grundannahmen der Gegenwart auszugehen? In der Moderne verbreitete Auffassungen bilden zu den mittelalter­ lichen Disputen und deren Voraussetzungen freilich eher einen Ge­ genpol, als daß sie einen Zugang bieten. Wenn man unterstellt, einer Welt purer Gegebenheiten stehe entweder eine Sphäre der bedeu­ tungstragenden Zeichen gegenüber, oder diese Sphäre konstituiere in Wahrheit überhaupt erst diese Welt der Fakten, die dem naiven Betrachter als völlig sprachfreie Gegebenheiten gegenüberzutreten scheinen, dann ist man, wie noch deutlich werden soll, Welten von Voraussetzungen und Auffassungen des Thomas von Aquin ent­ fernt. Eine Ausnahme in der Moderne bildet allerdings die philoso­ phische Hermeneutik. Aber ist das von Belang? Im letzten Teil sei­ nes Hauptwerks ›Wahrheit und Methode‹ konstatiert Hans-Georg Gadamer in der Antike eine in vieler Hinsicht prägend bleibende Auffassung der sprachlichen Bedeutung als einer reinen Idealität, herausgelöst aus den besonderen Sprachen und Redekontexten. In unverkennbarer Analogie zu einer berühmten Diagnose seines Leh­ rers Heidegger spricht er von der »Sprachvergessenheit des abend­ ländischen Denkens«57. In der christlichen Logosspekulation sieht er zwar, daß in den augustinischen und augustinisch inspirierten Erörterungen der Trinitätslehre im Wesentlichen doch »griechische Denkmittel« zum Zuge kommen, aber das Eigenrecht des Wortes scheint ihm – anders als Heidegger, der den Übergang vom Griechi­ schen ins Lateinische durchgängig als Verlust- und Verstellungsge­ schichte beschreibt – erst in diesem Kontext im vollen Sinne ent­ deckt. Es besteht nämlich nach Gadamer bei Augustinus, aber auch bei Thomas »keine vollständige Deckung von Logos und Verbum«.58 57  Wahrheit und Methode, GW I, 422. Die Abhandlung von Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 21975, zielt auf die Bedeutung der Volkssprache für die Sprach­ philosophie; dabei spielt der Logos nur ganz am Rande eine Rolle und dies ausschließlich im Blick auf die »Logosmystik« Meister Eckharts; in ihr aber sei, so Apel, »die tiefste und umfassendste metaphysisch-transzen­ dentale Würdigung der Sprache angelegt« (97). 58  Wahrheit und Methode, GW I, 426.

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In welcher Weise und mit welchem Recht Gadamer dieses Theo­ rem für sein Anliegen einer philosophischen Grundlegung der Her­ meneutik in Anspruch nimmt, ist hier weder zu verfolgen noch zu erörtern.59 Wenn man zugibt, daß Logos und verbum nicht schlecht­ hin identisch sind, dann bleibt aber das positive Verhältnis noch zu bestimmen. Die Klärungsbedürftigkeit dieser Zuordnung scheint damit immerhin in den Blick gekommen zu sein. Die folgende Hinführung zum thomasischen Gedanken versucht eine Rekonstruktion. Dies scheint es zu rechtfertigen, daß für diese quaestio die einzelnen Artikel nicht in Form einer tour d’horizon durchgegangen werden. Thomas selbst macht nämlich im Verhältnis zur aristotelischen Theorie gar keine konzeptionellen Defizite gel­ tend, zu deren Behebung er dann eine Theorie des Wortes einführen würde. Sie bleibt zudem in seinen Kommentaren zu Aristoteles völ­ 59  Augustinus etwa hat das Wort des Herzens von allen sog. natür­ lichen Sprachen abgehoben: Conf. XI, 3, 5 (CCSL 27, 196 f.): Intus utique mihi, intus in domicilio cogitationis nec hebraea nec graeca nec latina nec barbara veritas sine oris et linguae organis, sine strepitu syllabarum diceret: Verum dicit ego statim certus confidenter illi homini tuo dicerem: Verum dicis.(»Innen in mir, innen im Wohnraum des Denkens würde mir die Wahrheit – weder auf hebräisch noch auf griechisch, noch auf latei­ nisch oder barbarisch – ohne Mund und Zunge, ohne Silbengeräusch be­ stimmen: ›Ja, er spricht wahr‹« [Übers. H. U. v. Balthasar]); De trin. XV, 10, 19 (CCSL 50 A, 486): Necesse est enim cum verum loquimur, id est quod scimus loquimur, ex ipsa scientia quam memoria tenemus nascatur verbum quod eiusmodi sit omnino cuiusmodi est illa scientia de qua nas­ citur. Formata quippe cogitatio ab ea re quam scimus verbum est quod in corde dicimus, quod nec Graecum est nec Latinum nec linguae alicuius alterius, sed cum id opus est in eorum quibus loquimur perferre notitiam aliquod signum quo significetur assumitur. (»Es muß nämlich, wenn wir Wahres sagen, das heißt, wenn wir sagen, was wir wissen, aus eben dem Wissen, das wir in der Erinnerung festhalten, das Wort geboren werden, das durchaus von jener Art ist, von der das Wissen ist, von dem es geboren wird. Der von dem Gegenstand, den wir wissen, geformte Gedanke ist nämlich das Wort, das wir im Herzen sprechen, was weder griechisch ist, noch lateinisch, noch einer sonstigen Sprache zugehörig, sondern dann, wenn es nötig ist, daß es denen, mit denen wir sprechen, zur Kenntnis gebracht wird, irgendein Zeichen, mit dem es bezeichnet wird, annimmt« [Übers. J. Kreuzer]).

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lig beiseite. Bemerkenswert ist übrigens, daß in traditionellen und vielgelesenen Lehrbüchern über das Denken des Thomas von Aquin diese Zusammenhänge gar keine Rolle spielen.60 Auch wenn eine rationalistische Tradition die sprachliche Seite des Denkens tenden­ ziell unterschätzt hat, so ist das in diesem Fall sogar um so auffäl­ liger, als diese Autoren ja gerade Thomas nicht als eine theologisch motivierte Variante des Aristotelismus rubrizieren wollten, sondern die philosophische Eigenständigkeit seiner Grundgedanken zur Gel­ tung bringen wollten. Die Frage läßt sich mit dem Rekurs auf den Sprachgebrauch nicht beantworten. Es ist schon deswegen damit nicht getan, weil der Ausdruck ›Wort‹ dort gemeinhin gar nicht in diesem allgemei­ nen Sinne vorkommt. Die Redewendungen: ›Du hast mein Wort‹, ›auf ein Wort‹, ›alles nur Worte‹ und ähnliche ergeben offenkundig keinen Anhaltspunkt. Das Nachdenken kann also weder auf ­einen Sprachgebrauch zurückgreifen und dann hoffen, daß sich seine Er­ klärungskraft bei dem Johannes-Satz bewährt, noch einfach den Satz immanent erklären. Das funktioniert sowieso nie vollständig, weil man die unbemerkten Ingredienzien nur allzuleicht ausgeblen­ det läßt. Nun bewegt sich Thomas weitgehend in der aristotelischen Er­ kenntnislehre, in deren Texten ist jedoch vom Wort als Moment oder sogar als Medium des Gedankens gar nicht die Rede (natür­ lich vom Verbum als Wortform und Satzteil). Er kann den Sinn jenes Satzes also nicht erläutern, indem er ihn einfach in diese Er­ kenntniskonzeption zwängt, doch geht er offenkundig von dieser aus, wenn man sich vergegenwärtigt, wie er die traditionell im Blick stehenden Elemente der Erkenntnis zusammenstellt und jeweils die Frage aufwirft, mit welchem von diesen das Wort zu identifizieren sei. Sein erster Befund: weder mit dem bloßen Vermögen noch mit 60  Um nur zwei Beispiele zu nennen: A. D. Sertillanges, La philosophie de St. Thomas d’Aquin, Paris 31940; dt.: Der Heilige Thomas von Aquin, Köln  /  Olten 21954; Ét. Gilson, Le thomisme. Auch in Überblicksdarstellun­ gen wird dies völlig übergangen: E. Coseriu, Geschichte der Sprachphilo­ sophie. Von den Anfängen bis Rousseau. Neu bearbeitet von Jörn Albrecht. Mit einer Vor-Bemerkung von Jürgen Trabant, Tübingen  /  Basel 2003.

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dem Akt der Erkenntnis, noch gar mit dem äußeren Gegenstand der Erkenntnis.61 Es bleibt daher nur der Gedanke, der Gehalt des Gedachten. Den Zusammenhang mit Wort bzw. Sprache überhaupt herzustellen, kann nicht dadurch gelingen, daß Thomas Sinn und Status des Wortes dadurch bestimmt, daß er diese Rede vom Wort in eine sub­sumierende Beziehung zu dem setzt, was man allgemein unter ­einem Wort versteht. Außer den, wie man sie im Mittelalter nannte, synkategorematischen Wörtern (Synsemantikum) haben alle Wör­ ter Bedeutungen, vielfach sogar mehrere. Aber was bedeutet das Wort ›Wort‹? Es hat viele inhaltlich und ihrer Form nach verschie­ dene Bedeutungen und Verwendungsweisen. Wie sich diese zuein­ ander verhalten, ergibt sich daher niemals aus den Konventionen des Sprachgebrauchs unmittelbar selbst. Naheliegenderweise wird das Nachdenken seinen Ausgang da­ von nehmen, wo primär Worte begegnen: beim Sprechen des Men­ schen. Die stimmliche Verlautbarung wird aber natürlich nicht als akustisches Ereignis gefaßt, sondern als Zeichen, das nicht nur wie der Rauch auf das Feuer auf etwas verweist, sondern sogar – an­ ders als andere Zeichen – selbst etwas bezeichnet. Und was ist das Bezeichnete? Wenn es einfach ein Begriff oder ein Gedanke wäre, dann bliebe das Wort und die Sprache insgesamt nur ein Medium der Mitteilung. Das Denken wäre ein innerer Vorgang und Sprache die Weise, wie dieser innere Vorgang wenigstens grob oder viel­ leicht in seinen Resultaten zugänglich wird. Auch Thomas kennt die Differenz von zugänglich machender Mitteilung und dem für sich genommen unzugänglich bleibenden Gedanken.62 Denken und 61  De ver., q.  4, a.  1; De pot., q.  8, a.  1 [Übers. S. Grotz, 85]; ScG IV, 11 (ed. C. Pera, nr. 3466; In Ioh., 1, 1 (ed. R. Cai, nr. 25). 62  Sum. theol. I, q.  107, a.  1, ad 1: in nobis interior mentis conceptus quasi duplici obstaculo clauditur. Primo quidem, ipsa voluntate, quae conceptum intellectus potest retinere interius, vel ad extra ordinare. Et quantum ad hoc, mentem unius nullus alius potest videre nisi solus Deus; secundum illud I Cor. II, quae sunt hominis, nemo novit nisi spiritus hominis, qui in ipso est. Secundo autem clauditur mens hominis ab alio homine per grossitiem corporis. Unde cum etiam voluntas ordinat con­ ceptum mentis ad manifestandum alteri, non statim cognoscitur ab alio,

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Sprache verhielten sich – zugegeben ein schiefes Bild – wie Speiche­ rung und ›Ausdruck‹. Das Problem, was einen Gedanken oder das Denken ausmacht, führt zurück zum antiken Sprachrationalismus. Ausgerechnet ­Platon aber bestimmte das Denken mit einer berühmten Wendung als »ein Gespräch der Seele mit sich selbst«63. Die Frage ist: Ist Denken ein wirkliches Gespräch, oder ist es wie ein Gespräch, mit einem sol­ chen – in einer Hinsicht oder in mehreren? – vergleichbar? Man kann wohl sagen: Das, was im philosophischen Disput geschieht: Entwicklung, Entfaltung und Prüfung eines Gedankens, das kann auch im eigenen Überlegen (wenn auch im Allgemeinen mit tenden­ ziell höherer Zustimmungsquote) geschehen. Platons nicht leicht zu deutende Bestimmung könnte etwas mit dem Selbstbezug zu tun haben, der in der Form des Selbstgesprächs zugänglich wird. Es kann sich aber bei dem, worauf die äußeren Worte verweisen, nicht um sed oportet aliquod signum sensibile adhibere. Et hoc est quod Gregorius dicit, II Moral., alienis oculis intra secretum mentis, quasi post parietem corporis stamus, sed cum manifestare nosmetipsos cupimus, quasi per linguae ianuam egredimur, ut quales sumus intrinsecus, ostendamus. (»In uns ist der innere Begriff im Geist durch ein zweifaches Hindernis eingeschlossen: zuerst nämlich durch den Willen, der den Begriff des Verstandes innen zurückhalten oder nach außen hin zu einer Handlungs­ bestimmung anordnen kann. In dieser Hinsicht kann niemand den Geist sehen als einzig Gott – im Sinne von 1 Kor. 2 [11]: Was zum Menschen gehört, kennt niemand anderes als der Geist des Menschen, der in ihm ist. Zweitens ist der Geist des Menschen gegenüber einem anderen Menschen durch die grobe Körperlichkeit eingeschlossen. Daher wird auch dann, wenn auch der Wille es anordnet, daß der Begriff im Geist einem anderen kundgetan werden soll, nicht unmittelbar vom anderen erkannt, vielmehr bedarf es eines sinnenfälligen Zeichens. Daher sagt Gregor der Große im 2. Buch der Hiob-Ansprachen [II, 7, 8; PL 76, 84 B; CCSL 143, 64], ›daß wir mit fremden Augen innerhalb des Geheimnisses des Geistes, gleichsam hinter der Wand des Körpers stehen, doch wenn uns verlangt, uns zu of­ fenbaren, treten wir gleichsam durch die Tür der Sprache  /  Zunge hinaus, um zu zeigen, wer wir innerlich sind.‹« [Übers. R. S.]). 63  Platon, Soph. 263 e: »Also Denken und Rede sind dasselbe, nur daß das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht, Denken genannt worden ist« [Übers. F. Schleiermacher]; Theait. 189 e – 190 a.

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die Tätigkeit, sondern muß sich um ihren Inhalt handeln. Dasjenige aber, was man überhaupt denkerisch durchdringen kann, muß – hier besteht zwischen Platon und Aristoteles, Augustinus und Thomas Einig­keit – eine Struktur haben. Es dürfen die internen Beziehungen keine rein faktischen sein, denn diese könnte man nur zur Kenntnis nehmen, aber nicht eigentlich verstehen und von ihrer Zuordnung eine Einsicht gewinnen. Daher ist nach Aristoteles auch das, was im Verstand aufgenommen wird, ebenfalls eine Form. Diese ist eine von unübersehbar vielen, denn nur durch die weiter offenbleibende Auf­ nahme liegt eine Erkenntnis und keine reale Veränderung vor. Der Verstand ist »der Ort der Formen«64. Hier ist in der Scholastik von einem »Bild« die Rede, aber nicht im Sinne einer optischen Darstel­ lung, einer Vorstellung, sondern im Sinne einer Ähnlichkeit – daher auch häufig die Rede von similitudo (Ähnlichkeit; Bild)65 –, weil es die erfaßten Strukturen sind, aber nicht die konkrete Materie, auf die ein konkretes Ding in seiner Individualität angewiesen ist. Was aber besonders wichtig ist, ist das Verhältnis zu diesem, was da auf­ genommen wird. Aristoteles redet davon an zwei wichtigen Stel­ len: »Nun sind die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme ein Symbol für das, was (beim Sprechen) unserer Seele widerfährt.«66 64  Aristoteles, De an. III, 4; 429 a 27–28; III, 8; 431 b 28: »Denn es ist kein Stein ist in der Seele, sondern die Form« [Übers. Th. Buchheim]. 65  Diese Bestimmung geht zweifellos zurück auf Aristoteles, Peri herm., c.  1; 16 a 7: ὁμοιώματα (homoiómata), was Boethius in seiner maß­ gebenden lateinischen Übersetzung mit similitudines wiedergegeben hat, H. Weidemann mit »Abbildungen«. 66  Aristoteles, Peri herm., c.  1; 16 a 3–4 [Übers. H. Weidemann]; »wi­ derfährt« steht für παϑημάτων (pathemáton). M. Heidegger übersetzt, Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA XII, hg. v. F.-W. v. Herr­ mann, 227–257; hier 262: »Es ist nun das, was in der stimmlichen Verlaut­ barung (sich begibt) ein Zeigen von dem, was es in der Seele an Erleid­ nissen gibt.« Thomas versucht in seinem Kommentar zu dieser Stelle die unmittelbar rein passivische Bedeutung von παϑημάτων (Andronicus habe deswegen diese Schrift für unecht gehalten) im Blick auf De anima im Sinne von Rezeptivität verständlich zu machen: In Periherm. I, 1 (ed. Leon. I*/1, 116–133): Sed manifeste invenitur in I de anima quod passiones ani­ mae vocat omnes operationes. Unde et ipsa conceptio intellectus passio dici potest. Vel quia intelligere nostrum non est sine phantasmate: quod

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In der Schrift Über die Seele sagt er generell, daß das Erkennen des Verstandes ein Erleiden sei: »Wenn also das Verstehen so wie das Wahrnehmen ist, dann dürfte es wohl eine Art Leiden von dem Verstehbaren sein oder etwas anderes von dieser Art.«67 Dieses Erlei­ den ist aber selbstverständlich nicht mit einem bloß passiven Ausge­ setztsein zu verwechseln, denn solches hätte ja mit so etwas wie Er­ kenntnis im Ernst noch gar nichts zu tun. Das Erleiden bezieht sich zudem auf das inhaltliche Gegenteil, muss aber selbst ein Moment der Unbestimmtheit enthalten, um überhaupt eine Einwirkung er­ fahren zu können. Das Aufnehmen enthält ebenfalls dieses Unbe­ stimmtheitsmoment, bezieht sich aber nicht seinen Gegensatz, son­ dern auf die Verwirklichung. Aristoteles hat dieses Lehrstück vom leidenden bzw. aufnehmenden Verstand durch ein anderes, ebenso non est sine corporali passione; unde et imaginativam philosophus in III de anima vocat passivum intellectum. Vel quia extenso nomine passio­ nis ad omnem receptionem, etiam ipsum intelligere intellectus possibilis quoddam pati est, ut dicitur in III de anima. Utitur autem potius nomine passionum, quam intellectuum: tum quia ex aliqua animae passione pro­ venit, puta ex amore vel odio, ut homo interiorem conceptum per vocem alteri significare velit: tum etiam quia significatio vocum refertur ad conceptionem intellectus, secundum quod oritur a rebus per modum cui­ usdam impressionis vel passionis (»Es findet sich jedoch im ersten Buch der Schrift Über die Seele, daß er die Bestimmungen [passiones] der Seele Tätigkeiten nennt. Daher kann man auch die Begriffsbildung des Verstan­ des ›Bestimmung‹ [passio] nennen. Oder auch: Da unser Verstehen nicht ohne Vorstellungsbilder geschieht, daß es nicht ohne körperlichen Ein­ druck [passio] stattfindet. Oder auch: Mit der erweiterten Bedeutung von Erleiden [passio] im Sinne von Aufnahme ist auch das Erkennen selbst des aufnehmenden Verstandes ein Erleiden [pati], wie es im 3. Buch Über die Seele heißt. Aristoteles gebraucht eher den Terminus Erleidnisse [passio­ nes] als den der Verständnisweisen, einmal weil sie aus einem Erleiden der Seele herstammen, etwa aus Liebe oder Haß, so daß der eine Mensch ei­ nem anderen den inneren Begriff durch eine Verlautbarung anzeigen will, sodann auch deswegen, weil die Bezeichnung der stimmlichen Verlautba­ rungen sich auf einen Begriff im Verstand bezieht, der von den Dingen durch einen Eindruck oder ein Erleiden herrührt« [Übers. R. S.]). 67  De an. III, 4; 429 a 13–15 [Übers. Th. Buchheim]. Lateinisch: intelli­ gere est pati (Auctoritates Aristotelis, ed. J. Hamesse, 185. Thomas führt es meist in der Formulierung quoddam pati, ein Art Erleiden, an.

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berühmtes wie kryptisches Lehrstück ergänzt: die Lehre vom täti­ gen Verstand.68 Dessen Bedeutung liegt nicht nur, aber auch in der Aktivität, und diese, so Aristoteles, steht höher.69 Eine Aufnahme der Form kann nur dann als Akt der Erkenntnis verstanden werden, wenn sie sich von der Formaufnahme in und durch die Materie unterscheidet. Die Seele als Geist ist nun nichts anderes als Möglichkeit, während alles andere ja nur immer auch schon eine Bestimmtheit angenommen hat. Das kann aber noch nicht hinreichend sein, weil diese Immaterialität ja nur die Unein­ geschränktheit der Aufnahme, aber nicht deren Charakter als Er­ kenntnisakt verständlich macht. Wie schon gesagt, korrespondiert in der aristotelischen Theorie dieser völligen Potenzialität auch eine reine Tätigkeit. Der intellectus agens ist sogar seinem Wesen nach tätig.70 Wenn man diesen allerdings erst später nous poietikos, in­ tellectus agens genannten Verstand wegen dieser im Wesen liegen­ den und nicht bloß hinzutretenden Tätigkeit mit Gott identifiziert, bleibt die Zuordnung der Erkenntnis, das Subjekt der Erkenntnis fraglich. Das Moment der Passivität ist ohnehin, wie ebenfalls be­ reits gesagt, nicht hinreichend, die göttliche Tätigkeit ist aber nicht die meine und ich wäre ihr wiederum nur ausgesetzt. Also muß man eine Tätigkeit angeben und beschreiben können, die eine des jeweiligen Menschen ist. Die Ähnlichkeit, von der hier die Rede ist, besteht zweifellos in der Einheit der Form, aber – um die Fragen, ob eine solche Ähn­ lichkeit tatsächlich vorliegt und wie sie als möglich gedacht werden kann, beiseite zu lassen – es handelt sich um eine andere Ähnlichkeit wie die zwischen Eltern und Nachkommen. Daher muß eine Bezie­ 68  Aristoteles, De an. III, 5. Die spätantiken Bemühungen um das Ver­ stehen: H. Busche  /  M. Perkams (Hg.): Antike Interpretationen zur aristo­ telischen Lehre vom Geist. Texte von Theophrast, Alexander von Aphro­ disias, Themistios, Johannes Philoponos, Priskian (bzw. »Simplikios«) und Stephanos (»Philoponos«). Griechisch / lateinisch – deutsch, Hamburg 2018 [PhB 694]. 69  De an. III, 5; 430 a 18–19: »Denn stets ist ehrwürdiger das Wirkende vor dem Leidenden« [Übers. Th. Buchheim]. 70  De an. III, 5; 430 a 18: τῇ οὐσίᾳ ὢν ἐνέργεια (»[…] der der Substanz nach tätige Wirklichkeit ist« [Übers. Th. Buchheim]).

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hung innerer Art gedacht werden, obwohl man beides ja durchaus auch für sich betrachten kann: Es ist »eines […], die Sache zu ver­ stehen, und etwas anderes, den im Erkennen hervorgebrachten Be­ griff selbst zu verstehen«.71 Man kann einen Sachverhalt bestimmen, man kann aber auch die Bestimmung reflektieren. Eine solche in­ nere Relation scheint einzig diejenige der Bezeichnung zu sein, die zwischen dem geäußerten und dem gedachten Wort besteht, die aber beide von derselben Instanz hervorgebracht werden. Den naheliegenden, ja unumgänglichen Ausgang vom ausgespro­ chenen Wort verbindet Thomas mit dem zentralen Argument von Augustins72 Wortkonzeption: Das äußere Wort verweist auf ein in­ neres, und dieses innere Wort ist ebenfalls ein Wort, nicht etwa in einem ganz weiten und unbestimmt bleibenden, sondern gerade im eigentlichen Sinne, und zwar deshalb, weil das äußere auf das innere Wort verweist und es nur durch seinen Verweis ein Wort und nicht ein bloßer Laut ist. Der Gedanke bedarf aber gerade als Bezugspunkt einer Verweis­ funktion einer Bestimmtheit oder, wie man auch sagen könnte, einer Ausdrücklichkeit, und damit scheint schon das sprachliche Moment gewonnen. Aber von welchem Status ist die Rede von ›Bestimmtheit‹ und ›Ausdrücklichkeit‹? Die schon aufgeworfene Frage kehrt wieder: Ist das zum Ausdruck Gebrachte wie ein Wort oder ist es im buch­ stäblichen Sinne ein Wort? Dies hat wenig damit zu tun, daß man sich ein ausgesprochenes Wort in seiner Aussprache, mit seinem Akzent, seiner Dehnung, seiner Lautstärke etc. auch vorstellen kann. Dies nennt Thomas mit Augu­stinus das »innere Wort« (die Terminologie ist aber nicht streng durchgehalten). Dieses bezieht sich seinerseits auf das äußere Wort, aber es handelt sich eben um irgendeine Vorstellung von diesem.

71  Thomas v. Aquin, ScG IV, 11 (ed. C. Pera, nr. 3466 [Übers. M. H. Wörner]: inde apparet quod aliud est intelligere rem, et aliud est intelli­ gere ipsam intentionem intellectam. 72  Zum Gesamtzusammenhang vgl. W. Beierwaltes, Augustins Meta­ physik der Sprache [1971], in: ders., Catena aurea, Frankfurt a. M. 2017, 155–174

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Vielleicht kommt man der Besonderheit der thomasischen Kon­ zeption mit einem kurzen Seitenblick auf eine Station der Rezepti­ onsgeschichte nahe. Während Abaelard zwar die oben zitierte Pas­ sage aus Augustins ›Confessiones‹ in extenso anführt73 und das grie­ chische Wort logos ebenfalls en passant mit verbum wiedergibt,74 ist Anselm von Canterbury ein Denker des frühen Mittelalters, der die augustinische Verbum-Theorie aufgegriffen hat75 und von Thomas in diesem Kontext vielfach – wenn auch nicht frei von Korrektu­ ren – zitiert wird. Anselm interpretiert diese innere Rede folgen­ dermaßen: »Nichts anderes aber ist für den höchsten Geist ein der­ artiges Sprechen, als gleichsam denkend schauen, wie das Sprechen unseres Geistes nichts anderes ist als eine Schau des Denkenden.«76 Man kann wohl nichts anderes sagen, als daß hier nicht Wort, Spre­ chen und Sprache für eine Deutungsleistung beansprucht werden, sondern umgekehrt das Sprechen selbst als deutungsbedürftig an­ gesehen wird. Anselm versteht es als einen intuitiven Blick. Also doch nur ›Wort‹ im metaphorischen Sinne? Damit wäre die Leistung des Augustinus wieder aus der Hand gegeben und der innere Bezug des Ausgesagten zum Gedanken doch wieder aufgelöst. Der späte Thomas bekundet tatsächlich denselben Vorbehalt: »Anselm ver­ 73  Theologia Summi boni, Theologia Scholarium, ed. Eligius M. Buy­ taert  /  Constant J. Mews, Turnhout 1987, 83–201; hier  107 [CCCM 13]. 74  Dialogus inter philosophum, iudaeum et christianum, ed. R. Tho­ mas, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 92, 1370–1371: …  supprema sapien­ tia, quam grece logon, latine verbum Dei vocatis (»…  von der höchsten Weisheit, die ihr griechisch logos, lateinisch Wort Gottes nennt« [Übers. H-W. Krautz]). 75  Anselm sagt im Prolog seines ›Monologion‹ sogar, daß sich in die­ sem nichts finde, was nicht mit den Schriften des Augustins, zumal mit ›De trinitate‹, zusammenhängt: Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 8. 76  Monologion, c.  63 (Op. omn., I, 73): Nihil autem aliud est summo spiritui huiusmodi dicere quam quasi cogitando intueri, sicut nostrae mentis locutio non aliud est quam cogitantis inspectio; c.  29 (I, 47): De­ nique haec ipsa locutio nihil aliud potest intelligi quam eiusdem spiritus intelligentiae, qua cuncta intelligit (»Schließlich kann dieses Sprechen als nichts anderes verstanden werden als die Erkenntnis dieses Geistes, durch das er alles erkennt« [Übers. F. S. Schmitt]).

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steht ›sprechen‹ im uneigentlichen Sinne als ›erkennen‹.«77 Wenn dies aber nicht nur Augustinus gegenüber unzulänglich bleibt, dann fragt sich, an welcher Stelle das Verhältnis von Denken und Spre­ chen erneut zum Problem wird. Dafür scheint erst die AristotelesRezeption gesorgt zu haben. Es war dann wohl doch die erst im 13. Jahrhundert zugänglich gewordene, ausgearbeitete Konzeption des Verstandes in der Philo­ sophie des Aristoteles, die eine Präzisierung ermöglicht, aber auch herausgefordert hat. Thomas faßt den Unterschied von Verstan­ desform und Wort folgendermaßen: Der Verstand erhält durch die Form seine Erkenntnisform, die ihn zugleich in Tätigkeit versetzt und prägt. Beides sind Bestimmungen, die Aristoteles der im Ver­ stand aufgenommenen Form zuschreibt. Es ist kein weiteres Ele­ ment in diesem Prozeß vonnöten, das der Konzeption hinzugefügt und eingepaßt werden könnte oder müßte, allerdings müssen zu­ sätzliche Relationen gedacht werden, die im Begriff ›Begriff‹ nicht gedacht werden. Im Begriff ›Wort‹ wird etwas gedacht, was in der Verstandesform noch nicht gedacht ist: Das Sprechen als Ausspre­ chen beinhaltet einen Bezug zu dem, was ausgesprochen wird. Das Verstandene kann nur mitgeteilt werden, wenn es selbst schon den Charakter eines Wortes hat. Ist das so und warum? Wenn Thomas darauf verweist, daß das innere Wort hervorgebracht wird, dann verwendet er für die Hervorbringung den Begriff der ›Konzeption‹. Der unterstreicht offenkundig die eigene Tätigkeit neben der ja nicht bestrittenen Aufnahme der Form. Aber daß der Mensch einen Be­ griff bildet, wie er ein Wort vorbringt, kann ja den inneren Zusam­ menhang von Erkenntnisform und Wort nicht herstellen. Sosehr Thomas den Charakter des Ausdrucks und der Ausdrücklichkeit hervorhebt – worin das Wortartige des Begriffs liegt, wird dadurch selbst noch nicht ausdrücklich. Der fragliche Charakter scheint im Moment des Gemeintseins zu liegen. Denn das Argument lautet ja, daß eine Verlautbarung nur deshalb als ›Wort‹ bezeichnet wird, weil es im Unterschied zu anderen akustischen Ereignissen auf etwas Gemeintes verweist. Es ist also nicht bloß eine mentale Entität im Unterschied zu und neben einer materiellen. Der Grund für diese 77  Sum. theol. I, q.  34, a.  1, ad 3.

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Bezeichnungsform des Verlautbarten ist also nicht in einem wei­ ten oder gar nur metaphorischen, sondern gerade umgekehrt in ei­ nem erstrangigen Sinne ein Wort. Es ist, wie Thomas hier sagt, die »Zweckursache« des äußeren Wortes.78 Bedeutung scheint es nur zu geben, weil Menschen etwas meinen. Dies wiederum könnten sie nicht, wenn sie nicht die Welt – zu der ja nun auch die anderen Menschen mit ihren Äußerungen gehören – in irgendeiner Weise erfaßten und das Gemeinte seinerseits mitzu­ teilen beabsichtigten und vermöchten. Die Welt ist uns nach Tho­ mas nicht roh und blank gegeben, sondern immer und ausnahmslos als eine erfaßte – wenn auch vielleicht falsch oder auch nur unzu­ länglich. Zu dieser Erfassung gehört unweigerlich die Erfahrung, daß nicht alles so ist, wie zunächst gedacht. Das uns Bestimmende ist zunächst das Auffällige, aber nicht notwendig auch das sachlich Kennzeichnende. Diese Konstellation geht nun ihrerseits auch in die Konzeption der Sprache selbst mit ein. Auch die Sprache selbst wird mehr oder weniger reflektiert benutzt. Schon ganz kleine Kinder, die selbst noch kein einziges Wort aussprechen können, verstehen meist sofort, wenn etwas nur spaßeshalber gesagt wird. Das unmit­ telbar Gegebene ist die Lautsprache, unser Reden und Mitteilen, An­ ordnen, Bitten und Fragen, sie verweist auf das, was zugleich seine Bedingung ist und deshalb im eminenten Sinne sprachförmig. Dieses notwendig vorgängige innere Wort hat einerseits einen Inhalt – das ist die Form, das Erkenntnisbild (species), andererseits aber enthält es noch zwei Relationen.79 Die eine geht auf das poten­ tielle Aussprechen, also das Hörbar- und somit sinnlich Greifbar­ werden – daher die Attraktivität für die Explikation der Menschwer­ dung (Joh.  1, 14: »und das Wort ist Fleisch geworden«). Die andere Relation bezieht sich auf den Ursprung des Wortes: Es wird tätig hervorgebracht, es ist eine ganz bewußt im doppelten Sinne verstan­ dene ›Konzeption‹. Hierbei steht das Bilden im Vordergrund, also eine bestimmte Art eigener Tätigkeit und nicht etwa das Auftreten einer Art Spiegelbild, das ja nichts erkennt und auch nur dann etwas zeigt, wenn jemand dieses als Bild auffaßt. Mit diesen Bestimmun­ 78  Vgl. De ver., q.  4, a.  2. 79  Vgl. De ver., q.  4, a.  5, ad 7.

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gen soll nicht einfach auf irgendeinem Wege der Universalität des Sprachlichen genüge getan werden, sondern einerseits dem Tätig­ keitscharakter und andererseits der Mitteilbarkeit der Erkenntnis Rechnung getragen werden. Diese Tätigkeit scheint aber auch nicht bloß in einer Synthesis zu bestehen, denn dies wäre die Verbindung von nicht nur zunächst Unverbundenem, sondern auch von ganz anderer Art und Herkunft. Das Wesen scheint ebenso als Zusam­ menhang seiner Bestimmungen keine Unmittelbarkeit zu sein, son­ dern wird jetzt bei Thomas als Konzeption verstanden.80 Auch wenn darin ein Moment des Empfangens liegt, so ist es doch gerade der Hervorgang, das Hervorbringen, das damit akzentuiert werden soll. Wie man die Verschiebung gegenüber der Thomas vorliegenden und von ihm in Anspruch genommenen Konzeption von Denken, Er­ kennen und Wissen an dieser Stelle nur rekonstruierend und nicht den Text interpretierend artikulieren kann, so auch die Verschie­ bung im Gottesverständnis. Der springende Punkt dabei ist folgen­ der: Die Mitteilung des Göttlichen als Schöpfung und Offenbarung ist nun nicht mehr eine aus dem Begriff des Absoluten unbegründ­ bare und daher äußerlich bleibende Wirksamkeit, sondern eine trotz ­aller Nicht-Notwendigkeit der Schöpfung innere Bestimmung Got­ tes. Aristoteles sagte: Gott denkt sich selbst, oder wie Gadamer über­ setzt: »Folglich denkt er sich selbst, wenn anders er das Oberste ist, und im Grunde ist dann Denken Denken des Denkens.«81 Thomas sagt nun mit Anselm: Gott spricht sich aus, deus dicit se. Die Selbst­ erkenntnis wird als Selbstartikulation gedacht, aber das darin her­ vorgebrachte Wort hat eben auch das Moment der Mitteilung. Gott teilt sich nicht erst sprachlich mit, denn die Schöpfung ist schon 80  Vgl. De ver., q.  4, a.  2. 81  Aristoteles, Metaphysik XII, 9; 1074 b 33–35; Gadamer, p.  43; Bonitz  /

Seidl: »Sich selbst also erkennt die Vernunft, wenn anders sie das Beste ist, und die Vernunfterkenntnis (bzw. -tätigkeit) ist Erkenntnis ihrer Erkennt­ nis (-tätigkeit)«; Th. A. Szlezák: »Folglich denkt der Nus (der Geist), wenn er doch das Höchste ist, sich selbst, und seine Denktätigkeit ist Denken des Denkens«; F. F. Schwarz: »Füglich denkt sich die Vernunft selbst, wenn sie das Vorzüglichste ist, und ihr Denken ist Denken des Denkens.«

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selbst sein Wort,82 denn die Selbsterfassung dieses Wesens ist zu­ gleich die Erfassung seiner Schöpferkraft. Also hat Thomas Grund, Anselms Satz zu affirmieren, daß Gott sich selbst und darin zugleich und in eins damit die Welt ausspricht. Diese beiden Punkte scheinen mir von besonderer Bedeutung zu sein. Wenn man die Transformation des Gottesgedankens zwischen Antike und Mittelalter doch für eher unerheblich hält, weil sie sich ohnehin in einem Denkraum bewegt, in dem der Gottesgedanke als solcher so oder so einen Ort hat, so muß man immerhin zuge­ ben, daß ohne diese Analyse des Wortcharakters auch die Transfor­ mation der Verstandestätigkeit als ein unverzichtbares sprachliches Moment enthaltend ja gar nicht hätte erfolgen können. So un­erläß­ lich der Ausgang von der menschlichen Spracherfahrung ist, die Be­ stimmung des Verhältnisses von Gedanke und Wort, von Denken und Sprache, bekommt ihre Bedeutung nicht daher, daß Thomas ein Irrtum oder eine Lücke in der aristotelischen Konzeption zu liegen scheint, sondern durch eine aus dem Gottesbegriff des Christen­ tums zusätzlich erwachsene Fragestellung, die nicht zur Setzung eines weiteren Elements zwingt, aber zwei zusätzliche Relationen anzusetzen nötigt, die dem Begriff des Begriffes eine zusätzliche Bestimmtheit und Ausdrücklichkeit geben, die ihrerseits wiederum zum Wortcharakter des Begriffes führen.

82  Vgl. Ps. 19 (18). In den Psalmen sprechen die Geschöpfe, sie »loben« und »rühmen«. – Nicht nur eine verständige, schon die blanke Existenz wäre dem Menschen gar nicht möglich, wenn ihm die Dinge der Natur »nichts sagten«, also nicht – wie das Wort – etwas bedeuteten. Aber das Erfordernis erklärt nicht seine Erfüllung.

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung

Thomas von Aquin ist der Denker des Mittelalters, der die am längsten anhal­ tende Orientierung geboten, die intensivsten historischen Interessen auf sich gezogen und – neben seiner Bedeutung als Kirchenlehrer – für die vielfältig­ sten denkerischen Konzeptionen Pate gestanden hat und dessen Werk daher noch heute auf praktisch allen Feldern philosophischer Problemstellungen An­ regungen zu geben vermag. In den Quaestiones Disputatae, seinem in philosophischer Hinsicht bedeu­ tendsten und »gründlicheren« Werk (Kurt Flasch), geht es Thomas nicht um den Vortrag der eigenen Lehrmeinung, sondern um die möglichst umfassende Disputation (Erörterung) von Sachfragen unter Einbeziehung des Für und Wi­ der vor dem Hintergrund überlieferter Auffassungen nach der Maßgabe der intellektuellen Vernunft. Abgehandelt werden die großen Grundthemen der Metaphysik und Erkenntnislehre: Was ist Wahrheit, was Vermögen und (gött­ liche) Macht, was Tugend, und was ist die Seele? Die universalistische Weite der Gedanken, die Thomas im Zuge der in den einzelnen Quaestiones erörterten Fragestellungen entfaltet, erhebt das Werk zu einem der Grundwerke der philo­sophischen Tradition, das über die Zeiten hinweg seinen provokativen Charakter und seine Bedeutung behält. Daneben sind die Quaestiones Disputatae unter historischem Aspekt von geradezu un­ schätzbarem Wert, da sie Zeugnis ablegen von der mit größter Akribie vor­ genommenen Auseinandersetzung mit der Philosophie des Aristoteles, deren Wiederentdeckung und Transformation durch die Denker des Mittelalters – und darunter vor allem Thomas – den Weg bereitete für die Ausbildung der Kultur der auf die Ratio (Vernunft) gegründeten Argumentation in der Philo­ sophie (und in den Wissenschaften) der Neuzeit.

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Regensburger Ausgabe herausgegeben von Rolf Schönberger

band 1–6 Über die Wahrheit (De veritate) band 7–9 Über Gottes Vermögen (De potentia Dei) band 10 Über die Tugenden (De virtutibus) band 11–12 Vom Übel (De malo) band 13 Über die Seele (De anima)

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