Das Zeit-bild Im Osteuropaischen Film Nach 1945 (Osteuropa Medial, 1) (German Edition) [Aufl. ed.] 9783412166069, 3412166065

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Das Zeit-bild Im Osteuropaischen Film Nach 1945 (Osteuropa Medial, 1) (German Edition) [Aufl. ed.]
 9783412166069, 3412166065

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osteuropa medial  

Band 1

Herausgegeben von Natascha Drubek-Meyer, Jurij Murašov und Georg Witte

Natascha Drubek-Meyer Jurij Murašov (Hg.)

Das Zeit-Bild im osteuropäischen Film nach 1945

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Exzellenzclusters 16 Kulturelle Grundlagen der Integration der Universität Konstanz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Szene aus dem Film „Juliregen“ (UdSSR 1967, Marlen Chuciev) © Studio Mosfilm

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: MVR-Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-16606-9

Inhalt JURIJ MURAŠOV Sozialistische Politik, osteuropäisches Kino und Deleuzes Filmphilosophie

1

NATASCHA DRUBEK-MEYER Das Kino, die Uhr und der Regen. Zur filmpoetischen Vorgeschichte von Deleuzes Zeit-Bildern

21

Zu den Beiträgen

47

AUFBRUCH SABINE HÄNSGEN Doppelbilder. Kanonische und nicht-kanonische Darstellungsschichten im sowjetischen Film des Tauwetters

57

PETER DEUTSCHMANN Kristallbilder aus Böhmen. Die frühen Filme Miloš Formans

71

JURIJ MURAŠOV „Hier hat die Hand das Auge überholt.“ Zur Körperlichkeit des filmischen Zeit-Bildes in Dušan Makavejevs Der Mensch ist kein Vogel

99

AGONIE OLEG ARONSON Das Zeit-Bild und die Bilder des Sowjetischen

127

BERNHARD HARTMANN, HOLT MEYER Die Wissenschaft vom Kristall. Die Inszenierung der Evidenz bei Krzysztof Zanussi

141

EVA BINDER Zeit-Bilder. Persönliche Erinnerung und kulturelles Gedächtnis in Andrej Tarkovskijs Der Spiegel

175

TRANSFORMATION TANJA ZIMMERMANN Film als Ornament. Emir Kusturicas schwebende Zeit der Zigeuner

197

BIRGIT BEUMERS Die Blume im Staub. Das Zeit-Bild in Rustam Chamdamovs Anna Karamazoff

225

Die Autoren

245

J U R IJ M U R A Š O V

Sozialistische Politik, osteuropäisches Kino und Deleuzes Filmphilosophie Wenn man vom osteuropäischen Film zwischen 1945 und 1991 spricht, dann impliziert dies eine zweifache Bezugnahme: Einerseits geht es um mediale und filmische Ausdrucksformen, um poetische und stilistische Verfahren, andererseits wird damit ein geographisch-historischer und politischer Raum bezeichnet, der bei all seiner kulturellen Vielfalt gleichzeitig von einer signifikanten ideologischen Inanspruchnahme von Literatur, Kunst und gerade auch des Films geprägt war. Das Wechselverhältnis von Ästhetik und Politik ist es auch, das die Eigentümlichkeit und die Entwicklungsdynamik der Filmkunst im sozialistischen Osteuropa bis in die späten 80er und frühen 90er Jahre bestimmt und diese als einen Teil der künstlerischen Moderne des 20. Jahrhunderts ausweist, die ja ganz wesentlich von diversen avantgardistischen oder totalitären Varianten gegenseitiger Durchdringung von Kunst und Politik geprägt war. Wird der osteuropäische Film zwischen 1945 und 1991 in einen weiteren Horizont der künstlerischen Moderne des 20. Jahrhunderts und der darin formulierten Konzepte von Ästhetik und Politik situiert, dann scheint es geboten, jenes naheliegende und in vielen Untersuchungen immer wieder bemühte Modell zu differenzieren, dem zufolge Literatur, Kunst und Film in Osteuropa nach 1945 bis 1991 unter den politischen Bedingungen der sozialistischen Gesellschaften stets nur als Objekt von ideologischen Ansprüchen, von Zensur und Repression figurieren. In einem solchen Modell von (politischer) Machtkommunikation werden nämlich jene strukturellen Besonderheiten des Ästhetischen unterschlagen, die ihrerseits die Politik mit erheblichen Schwierigkeiten, ja sogar mit einer prinzipiellen Unmöglichkeit einer ideologischen Vereindeutigung und mit den „Schwächen“ der politisch-staatlichen Forderungen konfrontieren – mit Problemen, die bereits Platon in seiner Politeia dazu veranlasst haben, Dichter und Künstler aus seinem idealen Staat zu verbannen.1

1

Diese hier zugrunde gelegte Vorstellung geht davon aus, dass auch Macht ein besonderes, „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ darstellt, das sowohl die Machthabenden als auch Machtnehmenden mit jeweils spezifischen Anforderungen und Problemen konfrontiert, die zu bearbeiten und zu lösen sind, wenn Macht erfolgreich kommuniziert werden soll; vgl. dazu Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1988, bes. 4-19.

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Jurij Murašov

An Platons Politeia setzen auch unsere nachfolgenden Überlegungen zu Ästhetik und Politik an. In einer medientheoretischen und -historischen Perspektive wird erstens die von Platon ermittelte Asymmetrie von ästhetischer und politischer Kommunikation analysieren und zweitens die politische (Wieder-)Inanspruchnahme von Kunst im 20. Jahrhundert betrachtet, die mit dem Konzept des Sozialistischen Realismus zunächst in der Sowjetunion der 30er Jahre und dann nach 1945 für die sozialistischen Systeme Osteuropas (aber auch Asiens und Südamerikas) auf verschiedene Weise Relevanz für Literatur, Kunst und Film erlangt hat. Vor dem Hintergrund sozialistischrealistischer Filmpolitik und -ästhetik wird dann in einem dritten und vierten Abschnitt Gilles Deleuzes filmphilosophischen Entwurf des Zeit-Bildes als produktive Möglichkeit vorgestellt, Entwicklungstendenzen des osteuropäischen Films zu reflektieren.

1. Die Asymmetrie von politischer und ästhetischer Kommunikation. Zu Platons Politeia Für das Verständnis der eigentümlichen Interrelation von Politik und Kunst im 20. Jahrhundert und speziell für Politik und Kunst in den osteuropäischen, sozialistischen Systemen ist es tatsächlich aufschlussreich, einen Blick auf Platons Politeia zu werfen.2 Was zunächst erstaunt, ist der immense Stellenwert, der der Kunst- und Dichtungsproblematik in Platons Entwurf vom idealen Staat zukommt. In verschiedenen Kontexten kommt Platon immer wieder auf Kunst und Dichtung zu sprechen. Dabei lassen sich zwei Argumentationszusammenhänge ausmachen.3 In einem ersten versucht Platon, Kriterien für eine dem idealen Staat dienliche Kunst und Dichtung zu entwickeln. Dabei identifiziert er zwei Maßgaben für staatstragende Kunst und Dichtung: Die erste betrifft die Ausrichtung künstlerischer Darstellungen auf positive Helden und das Verdikt über die Darstellung von Negativität, von Schrecken, Wahnsinn, Krankheit 2

3

In diesem Zusammenhang wäre auf Karl Poppers heftig diskutierte Analyse von Platons Politeia im Kontext der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts zu verweisen, Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, Tübingen 1945/1992, bes. 104-201. Vgl. dazu: Stefan Büttner, Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen, Basel 2000, 131-144, 181-196; Joachim Dalfen, Polis und Poesis. Die Auseinandersetzung mit der Dichtung bei Platon und seinen Zeitgenossen, München 1974, 197ff.; zu den medienkonzeptionellen Voraussetzungen dieser widersprüchlichen Doppelbewertung von Kunst und Dichtung durch Platon findet man in der einschlägigen Platonforschung nur wenige Hinweise.

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etc. Die zweite Maßgabe ist die pädagogische Funktion von Kunst im Hinblick auf die sittlich-moralische Idee des Staats; dies impliziert die Forderung nach allgemeiner Verständlichkeit und Eingängigkeit von Kunst und Dichtung, was Platon durch einfache, klare und auktoriale Erzählungen und Märchen gegeben sieht, vor allem aber durch Musik, weil hier „Zeitmaß und Wohlklang am meisten in das Innere der Seele eindringen.“4 Eben diese beiden Maßgaben, die der positiven Helden und die pädagogische Funktion von Kunst, sind es auch, um die alle Auseinandersetzungen mit künstlerischen, resp. filmischen Produktionen und ihrer Zensurierung durch staatliche Institutionen in der frühen Sowjetunion und in den sozialistischen Systemen Osteuropas kreisen werden. Gegenläufig zu diesem Begründungsversuch einer staatsdienlichen Kunst und Dichtung entwickelt Platon eine zweite Argumentation, wenn es im letzten, neunten Buch der Politeia um die metaphysische Begründung und um die Idee des Staates geht. In diesem Zusammenhang entdeckt Platon ein untilgbares Problem, das ihn ein entschiedenes Verdikt gegen alle Kunst aussprechen lässt. Dieses Problem wird allerdings erst in dem Augenblick virulent, als Platon die mediale Perspektive seiner Argumentation verschiebt. Eine positive, die Idee des Staates stützende Dichtung hatte Platon nämlich nur verfolgen können, solange er die Dichtung unter dem Aspekt der verbalen Kommunikation betrachtet hatte. Anders verhält es sich im neunten Buch, wenn er hier unter dem visuellen Aspekt die Frage nach der Fiktionalität von Dichtung und Kunst stellt und ausgehend von der Malerei zwischen dem handwerklichen „Werkbildner“ und dem künstlerischen „Nachbildner“ unterscheidet. Während der Handwerker als „Werkbildner“ „Seiendes“ und das „Wesen“ der Dinge reproduziert, ist der künstlerische Maler lediglich ein „Nachbildner“ und befindet sich „gar weit also von der Wahrheit“5. Unter dem Aspekt der visuellen Repräsentation und des Fiktionalen wertet Platon auch die Dichtung als verderbliche „Nachbildnerei“, die nur „Schattenbilder der Tugend“ hervorbringen kann: Wollen wir also feststellen, dass vom Homeros an alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildern der Tugend seien und der anderen Dinge, worüber sie dichten, die Wahrheit aber gar nicht berühren; sondern wie wir eben sagten, der Maler werde etwas machen, was man für einen Schuhmacher hält, ohne selbst etwas von der Schusterei zu verstehen, und für die, welche nichts davon verstehen, sondern nur auf Farben und Umrisse sehen [...]. Ebenso, denke ich, wollen wir auch von dem Dichter sagen, dass er Farben gleichsam von jeglicher Kunst in Wörtern und Namen auftrage, ohne dass er etwas verstände als eben nachbilden [...].6

4 5 6

Platon, Sämtliche Werke 3, Hamburg 1958, 133f. Platon, Sämtliche Werke 3, 290. Ebd., 292f.

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Jurij Murašov

Als Nachbildung kommt es der Kunst nicht auf (ethische) Wahrheit, sondern auf äußere und effektvolle Darstellungsformen an. Jede künstlerische Nachbildung ist da „nur ein Spiel und kein Ernst.“ Das gilt für die Malerei, „die es mit dem Gesicht zu tun hat“ und ebenso für die Dichtkunst, „die mit dem Gehör“ aufgenommen wird.7 Indem Kunst und Dichtung auf äußerliche, ästhetische Wirkung aus sind, zielen sie immer auf eine „gereizte und wechselreiche Gemütsstimmung“, „weil diese leicht (…) nachzubilden“ ist. Deshalb richtet sich die Nachbildung in Kunst und Dichtung stets auf das „Schlechte in der Seele“ und ist „imstande, auch die Wohlgesinnten (…) zu verderben.“8 Unter diesen Umständen kann es konsequenterweise keine staatstragende Kunst und Dichtung geben. Dem Ästhetischen ist vielmehr eine prinzipielle Renitenz eigen, was den Staat zu entsprechenden Konsequenzen gegenüber den Kunstmalern und den Dichter zwingt: Und so sind wir wohl schon gerechtfertigt, wenn wir ihn nicht aufnehmen in eine Stadt, die eine untadlige Verfassung haben soll, weil er jenes in der Seele aufregt und nährt und, indem er es kräftig macht, das Vernünftige verdirbt, wie im Staat, wenn einer den Schlechten die Gewalt verschaffend den Staat verrät und die Besseren herunterbringt, ebenso werden wir sagen, dass der nachbildende Dichter jedem eine schlechte Verfassung in seiner Seele aufrichtet, indem er dem Unvernünftigen [...] Schattenbilder hervorruft, von der Wahrheit aber ganz weit entfernt bleibt.9

Mit Blick auf das 20. Jahrhundert – auf die Kulturpolitik der Sowjetunion und der osteuropäischen, sozialistischen Staaten nach 1945 (aber auch auf die amerikanische McCarthy-Ära) – sind in Platons Überlegungen für und gegen Kunst und Dichtung zwei Momente bemerkenswert. Erstens lässt Platons Verdikt über die Kunst eine Art strukturelle Unvereinbarkeit von Kunst und Politik, eine prinzipielle Asymmetrie von ästhetischer und politischer Kommunikation, sichtbar werden.10 In Platons Argumentation wird klar, dass das Politische eine Kommunikation darstellt, die auf Herstellung von kollektiver Verbindlichkeit und damit auf Eindeutigkeit von Entscheidungen aus ist, während im Gegenteil die Kunst bestrebt ist, „wechselreiche Gemütsstimmungen“ zu erzeugen und niemals den Ernst der Eindeutigkeit, sondern das „Spiel“ mit der Polysemie und den „Trugbildern“ sucht. Mit ihrer ästhetischen Vieldeutigkeit produziert die Kunst stets Effekte der Individuation, 7 8 9 10

Ebd., 294. Ebd., 296f. Ebd., 296. Dies ist der Punkt, an dem in der westeuropäischen Tradition das Konzept von der Autonomie des Ästhetischen entwickelt wird, das sich über Kants Diktum vom „interesselosen Wohlgefallen“ über Adorno bis hin zum Strukturalisten Jan Mukařovský und dessen Begriff der „ästhetischen Funktion“ verfolgen lässt. Dies bedeutet aber freilich nicht, dass das problematische Verhältnis, die Asymmetrie von Politik und Ästhetik damit aus der Welt wäre.

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Differenz und Abweichung und ist für eine unmittelbare Inanspruchnahme in politisch(-ideologischen) Gemeinschaftsstiftungsprozeduren unbrauchbar. Zweitens ist bemerkenswert, dass Platon auf dieses Ausschlussverhältnis von Kunst und Politik erst stößt, wenn er die Frage nach der Politikverträglichkeit von Kunst aus der Perspektive der Malerei, d. h. unter dem Aspekt der Visualität diskutiert und dabei feststellen muss, dass das Problem der visuellen Trugbilder auch die Dichtung betrifft. Das zeigt, dass die Unvereinbarkeit von politischer und ästhetischer Kommunikation und auch der moderne Gedanke der Autonomieästhetik wesentlich mit der Dominanz und Autonomie des Visuellen gegenüber dem Verbalen zusammenhängen. Platons Argumentation, die zum Verdikt gegen Kunst und Dichtung führt, konvergiert denn auch an diesem Punkt mit seiner Schriftkritik, bei der die visuell-graphische Kodierung der akustisch-verbalen Sprache dem Wesen des Menschen als nicht adäquat kritisiert und als Gefährdung für das Ethos der Gemeinschaft disqualifiziert wird.11 Analog zu dem visuell konzeptualisierten Ästhetischen bleibt auch die Schrift – im Unterschied zur verständnissicheren mündlichen Kommunikation – immer uneindeutig, missverständlich und neigt dazu, Dissens und Zwietracht in die (politische) Gemeinschaft hineinzutragen.12

2. Die Medien der Moderne, der Sozialistische Realismus und der Film Wenn sich in der griechischen Antike bei Platon Schriftkritik und -skepsis einerseits und die Unmöglichkeit, Kunst und Dichtung (weiterhin) für das politische Ethos in Anspruch zu nehmen andererseits, wechselseitig bedingen, dann lässt sich für die Moderne des 20. Jahrhunderts ein genau entgegengesetztes Bedingungsverhältnis feststellen. Nun nämlich konvergiert die offensichtliche Tendenz zur Re-Politisierung von Literatur und Kunst mit der Aufwertung von verbaler Kommunikation, die sich als Folge der technischen Entwicklung und Verbreitung von neuen elektroakustischen Massenmedien beobachten lässt. Eine solche Konjunktur neuer, verbaler Medien der sog. sekundären Oralität13 erreicht in den 1920ern mit Telefon, Lautsprecher und 11 12

13

Zu Platons Schriftkritik vgl. Walter Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987. Im Übergang vom Verbal-Mündlichen zum Schriftlichen wird Kommunikation für die Teilnehmer „unwahrscheinlicher“ und voraussetzungsreicher; dazu vgl. Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1993, 25-34. Zum Begriff der „sekundären Oralität“ und zu der damit zusammenhängenden Problematik der elektrischen/elektronischen Medien vgl. Ong, Oralität und Literalität, 136.

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dem Radio einen ersten Höhepunkt und setzt sich fort ab den 1950er Jahren mit der Verbreitung des Fernsehens und den multimedialen Möglichkeiten der digitalen Technologie und des Internets. Gegenüber den traditionellen, visuellen Medien der Schrift, der Typographie, der Photographie, aber auch gegenüber dem visuellen Medium des (Stumm-)Films befördern die Massenmedien der sekundären Oralität, und unter ihnen vor allem das Radio, eine Rekonzeptualisierung des Ästhetischen unter den Bedingungen der verbalen Kommunikation. Gleichsam als späte Erfüllung von Platons Hoffnung, Kunst und Dichtung für einen idealen Staat dienlich zu machen, geht die moderne Aufwertung des Verbalen durch neue technologische Möglichkeiten mit einer signifikanten Politisierung von Kunst und Dichtung einher. Diese medial bedingte Politisierung von Kunst und Dichtung lässt sich zunächst in den verschiedenen avantgardistischen Formationen beobachten. Bekannte Beispiele dafür sind Bertold Brecht oder Vladimir Majakovskij, die beide in ihren künstlerischen und essayistischen Arbeiten immer wieder auf die neuen Medien (bes. das Radio) Bezug nehmen, um damit gleichzeitig Kunst und Dichtung ausdrücklich für pädagogische und politischagitatorische Aufgaben zu funktionalisieren. Allerdings wird bei Brecht ebenso wie bei Majakovskij die politisch-ideologische Inanspruchnahme als formalästhetische und poetische Aufgabenstellung bearbeitet und fungiert als permanenter Stimulus für das Experiment mit sprachlichen und medialen Ausdrucksmitteln und -techniken. Die Politisierung von Kunst und Dichtung einerseits und formale Experimente andererseits stehen in der Avantgarde in einem Verhältnis wechselseitiger Reflexion, was letztlich eine erhebliche Steigerung der ästhetischen Selbstbezüglichkeit, Immanenz und eine Bekräftigung der Autonomie des Ästhetischen bedeuten musste. So wie in der Avantgarde die politisch-ideologischen Ansprüche Kunst und Dichtung stimulieren, produzieren sie komplexe und vieldeutige Werke, die sich ihrerseits aber einer ideologischen Vereindeutigung notorisch entziehen. Dies ist der Punkt, an dem der sog. Sozialistische Realismus ansetzt, der sich, sanktioniert durch parteiliche und staatliche Institutionen und unter maßgeblicher Initiative des Schriftstellers und sowjetischen Literaturtheoretikers und -bürokraten Maksim Gorkij, in der Sowjetunion der ausgehenden 1920er und beginnenden 30er Jahren herausbildet und dann in abgewandelter Weise auch in den sozialistischen Systemen Osteuropas bis zum Ende der 1980er Jahre kulturpolitisch verbindlich bleiben sollte. Gegen die exklusive Immanenzästhetik der Avantgarden gerichtet, propagiert der Sozialistische Realismus unter offensiver Nutzung der massenmedialen Kommunikation in Kunst, Literatur und Film den positiven, optimistischen (sozialistischen) Helden, Verständlichkeit, Einfachheit und Eingängigkeit der Sujets und Motive sowie pädagogische Wirksamkeit, um damit auf das sowjetische bzw.

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sozialistische Ethos einzuschwören.14 Auf diese Weise setzt der Sozialistische Realismus genau jene Kriterien in die Praxis um, die Platon für staatstragende Kunst und Dichtung in seiner Politeia entwickelt hatte. Relevant für das Verständnis des inneren poetologischen Mechanismus des Sozialistischen Realismus und seiner Entwicklungstendenzen besonders in der Spätphase der 1960er bis 1980er Jahre ist Platons weiterführende Argumentation und seine Einsicht, dass unter den Bedingungen des VisuellÄsthetischen und der fiktionalen „Trughaftigkeit“ die politisch-ideologisch intendierten Sinnsicherheiten und semantischen Eindeutigkeiten in Kunst und Dichtung prinzipiell nicht gewährleistet sein können. Platons Befund lässt eine auch dem Sozialistischen Realismus letztlich inhärente double-bindStruktur sichtbar werden: Denn so wie Kunst, Literatur und Film des Sozialistischen Realismus um Einfachheit, Verständlichkeit und Identifikation mit dem sowjetischen Ethos bemüht sind, produzieren sie als ästhetischfiktionale „trughafte“ Gebilde Mehrdeutigkeiten und Individuationseffekte und damit Erfahrungen der Nicht-Identität und Gespaltenheit, was dann regulierende, kommentierende und interpretierende Maßnahmen erforderlich macht.15 Damit erweisen sich die auf den ersten Blick in ihren Sujets so trivial scheinenden sozialistisch-realistischen Kunst-, Literatur- und Filmproduktionen als Gebilde, die in durchaus komplexen Wirkungszusammenhängen stehen. Das zeigt sich im Schaffensprozess der Künstler, die den Spannungen, Differenzen und Konflikten von verbal-ideologischer Sinnverbindlichkeit einerseits und visueller „Trughaftigkeit“ und Individuationserfahrung andererseits ausgeliefert sind, was auch den sowjetischen Ideologen und Schriftsteller Il’ja Ėrenburg veranlasst hat, von einer wesentlich „tragischen“ Seite des sozialistisch-realistischen Kunstschaffens zu sprechen.16 Auch der Versuch, dieses Problem der ästhetischen Vieldeutigkeit und „Trughaftigkeit“ institutionell durch den Aufbau einer sowjetischen Akademie für Schriftsteller sowie den verstärkten Ausbau und die parteiliche Kontrolle der Akademien für Künste sowie für Filmschaffende zu lösen, konnte freilich keine ideologischen Sicherheiten in der ästhetische Kommunikation schaffen, sondern trug durch die institutionell beförderte Expansion der ästhetischen Kommunikation – eher umgekehrt – zur Vervielfachung der Gefahr ideologi14

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16

Zum Sozialistischen Realismus vgl.: Hans Günther, Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart 1984; Jurij Murašov, Georg Witte (Hrsg.), Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre, München 2003; Chans Gjunter, Sabine Chėnsgen (Hrsg.), Sovetskaja vlast’ i media, Sankt Peterburg 2006; Evgenij Dobrenko, Politėkonomija socrealizma, Moskau 2007. So spricht auch Boris Groys von der sowjetischen Kultur als einer „gespaltenen Kultur“; vgl. Boris Groys, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur der Sowjetunion, München, Wien 1988, 57-82. Il’ja Ėrenburg, Otvet čitatelja, in: Znamja 2/1936, 237-245, hier: 237.

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scher Abweichungen bei. Eine ähnliche Verlagerung von einer verbalkommunikativen zu einer institutionell-administrativen Bewältigung der ästhetischen Renitenz lässt sich auch auf der Seite der Rezeption beobachten. So wie versucht wird, durch ständige Kommentierung in der Kunst- und Literaturkritik, durch Propädeutik und Didaktik die ästhetische Polysemie ideologisch zu vereindeutigen, werden die Auslegungs- und Deutungsprozeduren des Ästhetischen zunehmend zum Gegenstand institutionell-politischen Agierens auch jenseits der Verbände der sowjetischen bzw. sozialistischen Schriftsteller, Kunst- oder Filmschaffenden. So waren in der Sowjetunion mit Deutungs- und Auslegungsprozeduren von Literatur, Kunst und Film nicht nur die verschiedenen Zensurbehörden befasst, sondern ebenfalls der gesamte politische Apparat, das Zentralkomitee, das Politbüro, das Innenministerium, ebenso der Geheimdienst KGB, polizeiliche, juristische und medizinische Behörden, wenn es – wie im Fall der Schriftsteller Sinjavskij, Daniel’ und Brodskij – um die Ermittlung der Staatsfeindlichkeit, der sozialen Unverträglichkeit oder mentalen Gestörtheit von Schriftstellern und Künstlern ging. Gerade der enorme und sich permanent steigernde Aufwand, mit dem der politische Apparat in der Sowjetunion, aber ebenso in den anderen sozialistischen Systemen nach 1945 versuchte, Literatur, Kunst und Film ideologisch zu regulieren, verweist auf die prinzipielle Nichtrealisierbarkeit der politischen Ansprüche gegenüber den künstlerischen Projekten und auf jene bereits von Platon analysierte Asymmetrie und Unvereinbarkeit von politischer und ästhetischer Kommunikation.17 In diesem System des Sozialistischen Realismus kommt dem Film aus verschiedenen Gründen eine herausragende Stellung zu. Zentrale Bedeutung erlangt der Film zunächst aufgrund seiner Produktionsform als eine kollektive Hervorbringung von Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann, Schauspieler u. a., die dem sozialistischen Ethos zunächst weit eher zu entsprechen scheint als die literarische Arbeit, die durch die Vereinzelung in der Schreib17

Zur Kultur-, Literatur- und Kunstpolitik in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern Osteuropas vgl. u. a.: Dietrich Beyrau (Hrsg.), Das Tauwetter und die Folgen: Kultur und Politik in Osteuropa nach 1956, Bremen 1988; David W. Paul, Politics, Art and Commitment in the East European Cinema, London [u.a.] 1983; Anne White, DeStalinization and the House of Culture: Declining State Control over Leisure in the USSR. Poland and Hungary 1953-89, London 1990; Todor Živkov, Die Kulturpolitik des Sozialismus, Sofia 1986; Oskar Anweiler (Hrsg.), Kulturpolitik der Sowjetunion, Stuttgart 1973; W. Eggeling, Die sowjetische Literaturpolitik zwischen 1953 und 1970. Zwischen Entdogmatisierung und Kontinuität, Bochum 1994; D. Kretzschmar, Die sowjetische Kulturpolitik 1970-1985. Von der verwalteten zur selbstverwalteten Kultur. Analyse und Dokumentation, Bochum 1993; Stanisław Witold Balicki/Jerzy Kossak/Mirosław Zuławski, Cultural Policy in Poland, Paris 1973; Siegfried Baske, Bildungspolitik in der Volksrepublik Polen: 1944-1986, Wiesbaden 1987; Milan Šimek, Jaroslav Dewetter, Cultural Policy in Czechoslovakia, Paris 1986.

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situation permanent von einem „bürgerlichen“ Individualismus und Egoismus gefährdet ist. Auf diesen kollektivistischen Charakter der Filmproduktion ist von Anfang an – gerade im Kontext linker Filmkonzepte – hingewiesen worden, von Walter Benjamin oder Brecht ebenso wie von sowjetischen Regisseuren und Theoretikern wie Sergej Ėjzenštejn, Dziga Vertov oder Vsevolod Pudovkin. Damit einher geht die Wertschätzung des Films als eines auf neuester Technik basierten Gesamtkunstwerkes mit seinen intensiven, „organischen“ Einwirkungsmöglichkeiten auf die Zuschauer. Vor allem im Unterschied zum schriftlichen Text und zum Buch konnten nun mit bewegten, photographisch-realistischen Bildern, mit begleitender Musik und dann erst recht mit Ton und Sprache auch schwach literalisierte oder völlig illiterate Arbeitermassen in den Städten oder die bäuerliche Bevölkerung politisch angesprochen, ideologisch agitiert oder auch in unterhaltender Weise auf das Ethos der sozialistischen Gemeinschaft eingeschworen werden. Während sich noch in den utopisch gestimmten, avantgardistischen 20er Jahren auch im Film politische Agitation und ästhetisches Experiment wechselseitig bedingen,18 wird ab den 30er Jahren unter dem staatlich-parteilich sanktionierten Sozialistischen Realismus und begleitet vom Slogan „Rotes Hollywood“ (krasnyj golivud) der Film als Massenmedium ausgebaut und gefördert – als Massenmedium, das die ideologischen Werte der sozialistischen Gemeinschaft unterhaltend zu vermitteln und zur „Festigung der Fundamente des staatlichen Systems“ beizutragen hatte.19 Erst recht nach 1945 wird unter den Bedingungen der verschärften Konkurrenz und Konfrontation des sozialistischen Ostens mit dem kapitalistischen Westen sowohl in der Sowjetunion als auch in den anderen osteuropäisch-sozialistischen Systemen diese Doppelaufgabe von Massenunterhaltung und sozialistischer Erziehung kulturpolitisch gerade dem Film aufgebürdet.20 18

19

20

Ein solches Projekt in der Frühzeit des sowjetischen Films der 1920er Jahre verfolgte Dziga Vertov mit seiner sog. Kinopravda – ein Projekt, das Modellcharakter gerade für die linke, politisierte Kinokultur in westlichen Gesellschaften in den 1960er Jahren erlangen sollte, wie z. B. das 1968 unter Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin u. a. formierte politische Filmprojekt „Groupe Dziga Vertov“. Evgenij Margolit, Der Film unter Parteikontrolle, in: Christine Engel (Hrsg.), Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, Weimar 1999, 68; zum sowjetischen Film der 30er Jahre vgl. ebenso Richard Taylor/ Ian Christie (eds.), The Film Factory: Russian and Soviet Cinema in Documents, 1896-1939, Cambridge, MA 1988; Richard Taylor, (eds.), Inside the Film Factory: New Approaches to Russian and Soviet Cinema, London 1991; Eberhard Nembach, Stalins Filmpolitik: Der Umbau der sowjetischen Filmindustrie 1929 bis 1938, St. Augustin 2001. Zu Film und Propaganda sowie zur Filmproduktion in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Gesellschaften Osteuropas nach 1945 vgl. Paul, Politics, Art and Commitment in the East European Cinema; Valerij I. Fomin, Kino i vlast': sovetskoe kino: 1965-1985 gody; dokumenty, svidetel'stva, razmyšlenija, Moskva 1996; Evgenij S. Gromov, Stalin: vlast' i iskusstvo, Moskva 1998; Lars Karl, Leinwand zwischen Tau-

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Dieser für die Konzeption des Sozialistischen Realismus im Allgemeinen und für den osteuropäischen Film nach 1945 im Besonderen so charakteristische Versuch, ideologisch-politische Erziehungsansprüche unter den Bedingungen einer sozialistischen massenmedialen Unterhaltungsindustrie zu realisieren, hat erheblich zur Virulenz und Dramatisierung der Erfahrung von der Unvereinbarkeit von politischer und ästhetischer Kommunikation beigetragen. Die Vielfalt und die Eigenheiten der Filmgeschichten in den verschiedenen sozialistischen osteuropäischen Ländern resultieren dabei zu einem gehörigen Maße aus dem jeweils spezifischen, durch nationale Traditionen bedingten Umgang mit der zunehmenden Erfahrung der Unmöglichkeit, in einer modernen massenmedialen Kultur das Ästhetische für das Ideologisch-Politische zu funktionalisieren.

3. Deleuzes filmische Zeit- und Kristall-Bilder Wenn man versucht, in der Analyse der formalen und poetologischen Strukturen von osteuropäischen Filmen dieser komplexen Interrelation von politischer und ästhetischer Kommunikation, die für das sozialistischen Osteuropa so wesentlich ist, Rechnung zu tragen, bietet das Filmkonzept des französischen Philosophen Gilles Deleuze einen produktiven und bislang hinsichtlich des osteuropäischen Films wenig beachteten Zugang. Diese Relevanz resultiert aus dem spezifischen Aufbau von Deleuzes philosophischer Filmtheorie.21

21

wetter und Frost ‒ Der osteuropäische Spiel- und Dokumentarfilm im Kalten Krieg, Berlin 2007. Für Deleuze kommt dem osteuropäischen Kino mit Blick auf den russischen Avantgarde- und Revolutionsfilm (Sergej Ėjzenštejn, Dziga Vertov, Vsevolod Pudovkin, Aleksandr Dovženko) eine durchaus erhebliche konzeptionelle Bedeutung zu. Entwicklungen des russischen bzw. osteuropäischen Kinos nach 1945 mit ihren Beispielen für filmische Zeit- bzw. Kristall-Bilder finden bei Deleuze jedoch keine oder nur beiläufige Berücksichtigung (u. a. Sergej Paradžanov, Andrej Tarkovskij oder Krzysztof Zanussi); zu dieser Problematik vgl. Hartmanns/Meyers Beitrag im vorliegenden Band. Umgekehrt wird in Osteuropa besonders im Rahmen der Diskussionen um die Postmoderne Deleuzes philosophische Theorie relativ intensiv rezipiert. Unterschiedlich verhält es sich mit dem Interesse an Deleuze Filmtheorie. 2004 erschien in Russland die Übersetzung von Deleuzes Film-Büchern: Žil’ Delez, Kino. Kino 1 Obraz-Dviženie. Kino 2 Obraz-Vremja, Moskau 2004, unter der redaktionellen Betreuung und mit einem Vorwort „Jazyk vermeni“ (ebd. 11-38) versehen von Oleg Aronson. Für Tschechien wären der Aufsatz zu nennen: Karel Thein, "It’s Alive!" Gilles Deleuze a evoluce filmového obrazu, in: Iluminace. Roč. 12, č. 3 (2000), 5-19. Starkes Interesse an Deleuzes Filmkonzept zeigt die polnische Filmtheorie und -kritik; vgl. u. a. Alicja Helman, Gilles Deleuze o kinie. In: Kino. R. 38, Nr. 12/2004, 76-77; Małgorzata Jakubowska, Teoria kina Gillesa Deleuzesa: filozoficzna diagnoza kultury wizualnej XX wieku, Kraków, 2003;

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Deleuzes Filmkonzept, in dem zwei unterschiedliche Entwicklungs- und Systemlogiken ineinandergreifen, ist prozessual-dynamisch angelegt.22 Den allgemeinen Rahmen gibt – erstens – eine kulturkritische Logik der SubjektObjekt-Entfremdung vor. Ähnlich wie Georg Lukács’ Theorie des Romans (1916) oder Peter Szondis Theorie des modernen Dramas (1956) argumentiert auch Deleuze, dass die Entwicklungsdynamik der Moderne durch eine zunehmende Entfremdung des Subjekts von der Welt bzw. der Beziehungen der Subjekte untereinander geprägt ist, was nicht nur die Sujets in Literatur und Theater vorgibt, sondern ebenso deren spezifische formale Strukturen prägt.23 Während bei den Theoretikern der Moderne der Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die entscheidende Entwicklungsschwelle für die traditionellen Kunstgattungen und -genres bildet, stellt in Deleuzes Entwicklungstheorie des Films der Zweite Weltkrieg bzw. das Jahr 1945 jenes historische Datum dar, als „das Band des Menschen mit der Welt (…) zerrissen“24 ist, und damit auch grundlegend neue filmische Darstellungsformen hervorgebracht worden sind. Offensichtlich entspricht diese filmhistorische Markierung einer Grundposition des französischen Existentialismus, der gegen die ideologisch-kollektivistischen Entwürfe der Moderne philosophisch auf der Bindungslosigkeit des menschlichen Wesens insistiert hatte. Das Entscheidende an Deleuzes filmhistorischem Entwurf ist aber die poetologische Form, mit welcher der Film auf diese historische Befindlichkeit reagiert und dabei nicht nur thematisch seine Aufmerksamkeit auf (existentialistische) Sujets der Entfremdung und Zerrissenheit lenkt, sondern sich in seinen Erzählweisen und vor allem seinen Bildstrukturen wandelt. Sowohl die Bildfolgen, d. h.

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Małgorzata Jakubowska, "Wszechświat jako kino w sobie", czyli wprowadzenie do Deleuzesjańskich komentarzy do Bergsona, in: Studia filmoznawcze, Band 19, 1998, 137-152; Andrzej Zalewski, Kino Deleuzesa, in: Kultura Współczesna, Nr. 2/2004, 182-191. Für Beispiele der Beschäftigung mit Deleuzes Filmkonzept in den (ex)jugoslawische Regionen vgl. Stojan Pelko, R. E. M., in: Ekran 10/1994, 32-36; Stojan Pelko, Kot potnik, ki bi gledal nazaj: retroaktivnost filmske kritike, in: Ekran 27, 7/8 (1990), 21-22. Ausführlich zu Deleuzes Kunst- bzw. Filmtheorie vgl.: Peter Gente, Deleuze und die Künste, Frankfurt/M. 2007; Dork Zabunyan, Gilles Deleuze. Voir, parler, penser au risque du cinéma, Paris 2006; Ian Buchanan, Deleuze and Space, Toronto 2005; Anne Cauquelin, Le cas Deleuze. Ce que l'art fait à la philosophie, Paris 2004; Simon Ruf, Fluchtlinien der Kunst. Ästhetik, Macht, Leben bei Gilles Deleuze, Würzburg 2003; Mirjam Schaub, Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003; Stefan Heyer, Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept. Ein Wegweiser durch tausend Plateaus, Wien 2001; Gregory Flaxman, The Brain is the Screen. Deleuze and the Philosophy of Cinema, Minneapolis 2000. Zum Problem der Teleologie bzw. Finalität bei Deleuze und speziell in seinem filmhistorischen Entwurf, vgl. Christian Jäger, Gilles Deleuze. Eine Einführung, München 1997, 231. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991, 226.

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Schnitt und Montage der Filmsequenzen, als auch Kadrierung und innerer Aufbau der Filmbilder in ihren visuellen und akustischen Elementen organisieren sich jetzt nicht mehr nach Prinzipien eines übergeordneten Narrativs, das als Ganzes und in seiner Geschlossenheit Sinn produziert. Indem die vielfältigen motivischen, aber auch filmmedialen Einzelelemente von ihren sujetbildenden Funktionen entlastet sind, gewinnen sie aisthetischen Eigenwert als visuelle und akustische Wahrnehmungsereignisse. Der Film erzählt weniger davon, wie seine Protagonisten interpretierend und handelnd in der Welt agieren, wie dies beim traditionellen Erzählkino der Fall ist, sondern zeigt seine Helden in den Prozessen und Strukturen ihrer visuellen und akustischen Wahrnehmungen von Welt. Diese aisthetisch präparierte Filmpoetik fasst Deleuze unter dem Begriff des Zeit-Bildes.25 In der oxymoralen Begriffsbildung „Zeit-Bild“, bei der sowohl das Zeitliche, Performativ-Flüchtige und Erlebnishafte einerseits und das Räumliche, Repräsentative und Apollinisch-Vermittelte andererseits zusammengebracht werden, liegt der theoretische Clou von Deleuzes Auseinandersetzung mit dem Film. Dies ist auch der Punkt, an dem eine zweite philosophische und wahrnehmungstheoretisch angelegte Systemlogik in Deleuzes Filmkonzept wirksam wird. Da das filmische Zeit-Bild nicht so sehr von Motivationen, Intentionen und Kollisionen von Handlungen als vielmehr von Wahrnehmungsprozessen erzählt, vermag es jene physiologisch-körperlichen Voraussetzungen zu erfassen, die dem rationalen und diskursiven Bewusstsein der Figuren und ihren Handlungen vorgelagert sind. Damit wird für Deleuze der Film philosophisch „lesbar“. Diese philosophische Würdigung des Films basiert auf einer doppelten Annahme. Zunächst auf der Vorstellung von einer Bedingtheit des Denkens durch wahrnehmungsphysiologische und körperliche Prozesse, an die jedoch eine hegelianische, begriffslogisch verfahrende Beobachtungsarbeit nicht heranzureichen vermag.26 Bei diesem differenztheoretischen Dilemma kommt Deleuze die Ästhetik der Moderne mit ihrer gesteigerten Selbstbezüglichkeit zu Hilfe. Da in der modernen Kunst (und 25

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Systematisch und historisch lässt sich diese Typologie bzw. „Taxonomie“ so pointieren, dass sich „nach dem 2. Weltkrieg ein seherisches Kino entwickelt, welches das Verhältnis von Bewegung und Zeit umkehrt. Kristalline Bilder erlauben, Schichten der Zeit, ein unmittelbares Zeit-Bild zu sehen. Die Zeit wird nicht mehr aus der Montage, also der Komposition der Bewegungs-Bilder erschlossen, sondern umgekehrt: die Bewegung geht aus der Zeit hervor. Das kinematographische Bild wird zeigend, lesbar und fähig, Denkmechanismen zu erfassen.“ (E. Büttner, M. Ries, Kino-Werden. Die Dimension des Zeit-Bildes, in: Zeit ‒ Film, Wien 1999); vgl. auch Jäger, Gilles Deleuze, 231. In diesem Zusammenhang entwickelt Deleuzes auch seine antisemiotischen Argumentationen und seine Kritik am Peirce’schen Zeichenbegriff; vgl. dazu I/101, 137f, 264ff sowie II/47-53.

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Literatur) Materialität und Wahrnehmungsprozesse selbst als Objekt der ästhetischen Repräsentation fungieren, eröffnet sich der Philosophie die Chance, über die Reflexion auf moderne ästhetische Artefakte die aisthetischen Bedingungen ihrer eigenen begriffslogischen Operationen zu beobachten. So kann sich denn auch Deleuzes Philosophie als eine theoretische Praxis verstehen, die in der Rede und der Analyse des Ästhetischen das Andere des Denkens, die wahrnehmungsphysiologisch-körperlichen Dispositionen als Bedingungsgrund und treibende Kraft der eigenen begriffslogischphiloso-phischen Arbeit zur Geltung kommen lässt. Daraus resultiert auch der im Vergleich zur Literatur und Malerei herausgehobene Stellenwert des Films in Deleuzes Philosophie. Denn gegenüber dem abstrakt-graphischen Medium der Literatur wie auch der visuellen Malerei zeichnet sich der Film dadurch aus, dass er dem prozessualen Charakter des Denkens am nächsten kommt, dabei aber das Formal-Abstrakte (durch Schnitte, Kadrierung etc.), das dem Medium Schrift eigen ist, mit dem Konkret-Anschaulichen und Körperlichen der malerischen Abbildung „organisch“27 zusammenführt. An dieser Stelle kommt eine weitere Annahme zur Geltung, die dem Film in Deleuzes philosophischer Strategie eine zentrale Position zuweist und die aus der Auseinandersetzung mit Henri Bergsons Zeit- und Bildbegriff sowie mit dessen Vorstellung resultiert, dass das Denken nicht in analytischen, logischen und formalen Prozeduren fundiert ist, sondern sich wesentlich über (innere) Bilder, d. h. konkrete, wahrnehmungsgenerierte Bewusstseinsobjekte konstituiert. Nach Bergson ist dem Bewusstsein und dem Leben eine Prozessualität und Zeitlichkeit (durée) inhärent, die nicht über den mechanistischen, quantitativ-analytischen Zeitbegriff gefasst werden kann. Die Zeit als durée stellt eine in sich nicht teilbare Größe bzw. lebendige Kraft (élan vital) dar, die lediglich der unmittelbaren Wahrnehmung und Intuition zugänglich ist. Auf dieser Grundlage lehnt Bergson Darwins Evolutionstheorie als mechanistisch ebenso ab wie auch die bewegten, kinematographischen Bilder. Bergson ist der Film nicht geheuer, da hier Bewusstsein und Leben, wovon die filmische Narration, wollte sie Kunst sein, handeln sollte, einem mechanistischen Zeitregime unterworfen sind. An diesem Punkt dreht Deleuze Bergsons kinoskeptische Argumentation um, indem er den systematischen Akzent von der Zeitproblematik auf den des wahrnehmungsphysiologischen Bildcharakters des Denkens verschiebt und so in Bergsons strömender Bewusstseins- und Bildtheorie das kinematographische Grundprinzip ent-

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Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Sergej Ėjzenštejn, u. a. in seinem Essay über die organischen Qualitäten der Kunst und des Film „Das Organische und das Pathos in der Komposition des Filmes Panzerkreuzer Potemkin“ (1939).

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deckt.28 Entscheidend dabei ist, dass sich bei Deleuze das gestaltende Prinzip nicht in Bezug auf die Bewegung ergibt, sondern aus der Wahrnehmung des Nicht-Bildhaften, „der sprachlich organisierten Wahrnehmung: Körper (Substantive), Handlungen (Verben), Eigenschaften (Adjektive)“ resultiert.29 Die formalsprachliche Ordnung ist es, die die strömende Flut der Bewusstseinsbilder durch Intervalle strukturiert und damit die Wahrnehmung von Zeit, die Prozessualität selbst zum Objekt der Bildproduktion und -bewegung werden lässt. Dieser selbstbezügliche Mechanismus des Ins-Bild-Setzens von formalen Strukturen und Kategorien, die im Bewusstsein selbst vorfindlich sind, mobilisiert einen Entwicklungsprozess von filmischen Bildformationen, der vom ursprünglichen Bewegungs-Bild als einem „indirekten Bild der Zeit“ über das Wahrnehmungs-, Aktions- und Affektbild schließlich zum sog. ZeitBild führt, das „durch eine nicht-lokalisierbare Relation rein optische und akustische Situation – direktes Zeit-Bild“30 bestimmt ist. Diese Bildformationen stellen für Deleuze sowohl eine prozessual-historische als auch eine kategoriale Ordnung dar, in der das Zeit-Bild den finalen Punkt einer im Medium selbst entfalteten Reflexion seiner eigenen formalen, technologischen und wahrnehmungsphysiologischen Bedingungen und Strukturen darstellt, an der die Figuren im Film ebenso wie die Zuschauer teilhaben. Die Zeit-Bilder sind demnach Filmbilder, deren visuelle und akustische Elemente nicht mehr auf die narrative Explikation eines Sujets hin organisiert sind. Diese komplexe Multiperspektivität des filmischen Zeit-Bilds als Wahrnehmungsbild und virtuelles Bewusstseinsbild, in dem Erinnerungs-, Wunsch- und Traumelemente gleichermaßen eingelagert sind, bringt Deleuze dazu, von filmischen Kristall-Bildern zu sprechen. In der kristallinen Struktur der filmischen ZeitBilder erscheint das manifeste, aktuelle Filmbild immer schon durch virtuelle Bewusstseinsbilder, durch Erinnerungs-, Wunsch- und Traumbilder überlagert und gebrochen, die je nach Perspektive der Figuren im Film und der „lesenden“ Zuschauer in ihren Konturen und Wirkungen sichtbar werden.

4. Die antiökonomische Poetik des filmischen Zeit-Bilds Deleuzes beziehungsreiches Zeit-Bild-Konzept lässt sich mit einer textstrukturellen Unterscheidung resümieren, mit der der russische Linguist Roman Jakobson poetische Strukturen beschrieben hat – mit der Unterscheidung von 28

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Nach Deleuze ist darin eine Theorie des „Meta-Films“ formuliert, und das „bedeutet für den Film eine ganz andere Betrachtungsweise als jene, die er (=Bergson) in seiner expliziten Kritik entwickelt.“ (Jäger, Gilles Deleuze, 228). Ebd., 228. Vgl. ebd., 230.

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Syntagmatik und Paradigmatik.31 Jakobson zufolge besteht die poetische Dimension von Texten darin, dass die paradigmatischen Möglichkeiten und Varianten, über die eine Aussage verfügt, in einem künstlerischen Text syntagmatisch ausgefaltet werden. Nicht die syntagmatische, logische Ordnung ist konstitutiv und dominant, sondern die unterschiedlichen Signifikationsvarianten, die prozessualisiert werden. Eben in einer solchen Forcierung der paradigmatischen Dimension von Sinngenerierung besteht auch Deleuzes filmisches Zeit-Bild-Konzept, bei dem es auf die Differenzen und Nuancen von visuellen und akustischen Bedeutungsträgern/Zeichen ankommt, die nur in der Zeit gegeben und im Nachvollzug performativ erfahrbar sind. Sinn- und Bedeutungskonfigurationen, die in narrativ-logisch gefügten und wiederholbaren Syntagmen festgeschrieben und codiert sind, werden aufgebrochen und lassen das filmische Bild – Kristallen gleich – uneindeutig vielbedeutend schillern. Eine solche textstrukturelle Perspektivierung von Deleuzes filmischem Zeit-Bild macht aber auch die politische Dimension evident, die Deleuze dem filmischen Zeit-Bild zuschreibt und lässt die analytische Pointe erkennen, die dem Zeit-Bild-Konzept im Hinblick auf den osteuropäischen Film zukommt. Der selbstreflexive Prozess des filmischen Mediums, der mit dem Bewegungs-Bild einsetzt und dann im kristallinen Zeit-Bild kulminiert, bedeutet bei Deleuze nämlich auch eine politökonomische „Positionierung“32 des Films: Es ist ein und dieselbe Operation, durch die der Film seine innerste Voraussetzung, das Geld, bekämpft und durch die das Bewegungs-Bild dem Zeit-Bild Platz macht.33

Dieser antikapitalistische Impetus, den Deleuze im filmischen Zeit-Bild ausmacht, basiert auf der Idee einer Äquivalenz von sprachlich-zeichenhafter und ökonomischer Kommunikation, von Sprache und Geld, die seit der Antike die Philosophie und später vor allem die Soziologie tradiert hat34 und die in einem Ausdruck des deutschen Romantikers Johann Georg Hamann prägnant formuliert ist: Das Geld und die Sprache sind zween Gegenstände, deren Untersuchung so tiefsinnig und abstrakt, als ihr Gebrauch allgemein ist. Beide stehen in einer näheren Verwandtschaft, als man mutmaßen sollte. Die Theorie des einen erklärt die Theorie des anderen.35

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Vgl. Roman Jakobson, Linguistik und Poetik, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt/M. 1979. Vgl. Jäger, Gilles Deleuze, 231. Deleuze, Das Zeit-Bild, 108. Vgl. bes. Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt/M. 1989; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaften 2, Frankfurt/M. 1997, 347-351; Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben 1 (1991), München 1993. J. G. Hamann, Schriften zur Sprache, Frankfurt/M. 1967, 97.

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An dieser „näheren Verwandtschaft“ von Geld (als Prinzip und Zeichen der kapitalistisch-ökonomischen Kommunikation) und Sprache (als begriffslogisch organisierte, wesentlich schriftgestützte und von Körperlichkeit abstrahierte Kommunikation), setzt auch Deleuze an, um einen filmischen Bildtypus zu entwickeln, der die strukturelle Äquivalenz von Geld und begriffslogisch organisierter Sprache aufbricht, die kapitalistische Zweck- und Begriffsrationalität ebenso wie deren in den Geldzeichen abstrahierte, ökonomische Kommunikation subvertiert. In Jakobsons textstruktureller Perspektive betrachtet, heißt dies, dass Deleuze damit Text- bzw. Zeichenordnungen favorisiert, die sich vornehmlich nach paradigmatischen Prinzipien organisieren und weniger Sinn- und Bedeutungsstrukturen in Form von geschlossenen Narrativen repräsentieren, sondern vielmehr im performativen Vollzug den Rezipienten zu dionysischen Sinnerlebnissen und -intensitäten verhelfen. Die hier in Deleuzes Zeit-Bild-Konzept vorfindliche antiökonomische Konfiguration verweist zurück auf die Kapitalismus- und Bewusstseinsanalyse in der gemeinsam mit Guattari verfassten und zu einem kulturkritischen Kultbuch avancierten Monographie Anti-Ödipus (L’Anti-Œdipe, Paris 1972). Hier wird der antiökonomische Impetus zu einer theoretischen Strategie der sog. „Deterritorialisierung“ ausgearbeitet, mit der die begriffliche, logische und topologische Festigkeit von disziplinären Diskursen und Diskursordnungen unterhöhlt und die traditionelle, hierarchische Begriffarchitektonik durch rhizomatisch flächige Verknüpfungen aller Elemente und Theoriemotive untereinander substituiert wird. Begriffliche Eindeutigkeiten werden systematisch suspendiert. Ganz analog dazu funktioniert auch das filmische Zeit-Bild, das in seinem inneren Aufbau nicht narrativ-(teleo-)logisch und auch nicht symbolisch abstrahierend verfährt. Das Zeit-Bild ist der kapitalistischen Zweckrationalität mit ihrem Abstraktionsprinzip des Geldes diametral entgegengesetzt; es ist paradigmatisch organisiert und partizipiert performativ an einer antikapitalistischen Praxis. Das Zeit-Bild ist sowohl Produkt und Resultat der kapitalistischen Filmindustrie als auch Einspruch gegen deren Geld- und Rationalitätsprinzip. Es entbehrt nicht einer gewissen theoretischen Brisanz, dass das filmische Zeit-Bild mit seiner paradigmatischen Struktur nicht nur dem kapitalistischen Geld- und Rationalitätsprinzip, sondern auch jener sozialistischen Staatsideologie zuwider zu laufen scheint, auf die die nationalen Filmindustrien des sozialistischen Osteuropas in mehr oder minder direkter Weise verpflichtet waren. Wenngleich das narrative Telos in der sozialistisch-kommunistischen Ideologie bekanntermaßen nicht im kapitalistischen Individuationsprinzip, sondern im kommunikativen Erfolg und (metaphysischen) Einverständnis des Kollektivs besteht, so ist doch die sozialistisch-kommunistische Ideologie zunächst gleichfalls in einer geschlossenen, syntagmatisch-narrativen Struktur fundiert. Sozialistische plots beginnen und enden stets mit der Frage,

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inwieweit und auf welche Weise es dem Individuum gelingt, den Ansprüchen der Gemeinschaft zu genügen. Der Abstraktionsmechanismus, der auch hier am Werk ist, unterscheidet sich wesentlich von dem der kapitalistischen Individuationsgeschichten. Bei der Abstraktion, die hier wirkt und die Geschlossenheit des Narrativs gewährleistet, geht es nicht um abstrakte Geldund Begriffszeichen, in deren Kreisläufen sich die (kapitalistischen) Individuationsprozesse vollziehen, sondern um moralische Werte und um deren Internalisierung als psychische, mentale Abstraktionsleistungen des Helden von den „egoistischen“, libidinösen Ansprüchen einer gleichsam trägen, subjektiv-persönlichen Konstitution.36 Wenn Deleuze davon ausgeht, dass bereits in dem auf geschlossenen (kapitalistischen) Narrativen basierten filmischen Bewegungs-Bild eine Dynamik eingelagert ist, die zur Entwicklung von paradigmatisch-antikökonomisch strukturierten Zeit-Bildern führt, dann trifft eine solche Selbstzersetzung in einem weit stärkeren Maße auch für die zunächst in Bewegungs-Bildern des Sozialistischen Realismus gefassten sozialistisch-ideologischen Narrative zu. Gerade im Vergleich zu den (kapitalistischen) Individuationsnarrativen erweisen sich diese sozialistischen Narrative auf eine vertrackte Weise als per se instabil: Während die Individuationsnarrative auf dem Wiederholungs- und Symbolisierungsprinzip sowie auf der Materialität der Signifikation insistieren und damit ihre eigene syntagmatische Struktur und deren Reproduzierbarkeit festschreiben und bekräftigen, operieren sozialistische plots mit ideellplatonischen Abstraktionen, bei denen die individuierte, körperlich-materiell verankerte Sprecherinstanz zugunsten eines im mentalen Verstehensakt selbst und im Vollzug der Kommunikation innerlich erlebten kollektiven Einverständnisses transzendiert wird. Durch die Verinnerlichung von Sinn bekräftigt das sozialistische Narrativ die prinzipielle Insuffizienz seiner eigenen materiell-zeichenhaften Fixierung und Tradierung. An diesem Punkt führt die Frage nach der politischen, antiökonomischen Dimension von Deleuzes filmischen Zeit-Bildern wieder zu der oben skizzierten Platon’schen Asymmetrie von Politik und (Film-)Kunst und zum Sozialistischen Realismus zurück, der in den sozialistischen Systemen Osteuropas nach 1945 auf verschiedene Weise bemüht wird, um die tückische Vieldeutigkeit des Ästhetischen ideologisch-politisch zu bannen. Wenn Deleuze davon ausgeht, dass das traditionelle, narrativ basierte filmische Bewegungs-Bild in sich eine selbstreferentielle Dynamik und eine Tendenz in Richtung auf das paradigmatisch-antiökonomisch strukturierte filmische Zeit-Bild aufweist, dann trifft dies in einem weit dramatischeren Maße auch für das von sozialistischen plots erzählende Bewegungs-Bild zu: Indem der kommunikative, gemeinschaftsverpflichtende Sinn von sozialistischen Narra36

Zum Typus des sozialistischen Helden, vgl. Günther, Der sozialistische Übermensch. Stuttgart 1993.

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tiven gerade in der Bekräftigung der prinzipiellen Insuffizienz der eigenen materiell-zeichenhaften, somit ökonomisierten Fixierung und Tradierung besteht, unterstreichen gerade sozialistische plots die performative Dimension der ästhetischen Kommunikation. Zugespitzt ließe sich sagen, dass sozialistische plots, um kollektive, innerliche Sinnerlebnisse zu produzieren, mit paradigmatischen, bruchstückhaften Zeichenstrukturen arbeiten müssen, um an diesen die Sinngebungsfähigkeit und -bereitschaft, somit das Ethos der Mitglieder der sozialistischen Gemeinschaft zu prüfen und zu bestätigen. Für den Film und in ähnlicher Weise auch für Literatur und die anderen Künste entsteht in den sozialistischen Systemen eine vertrackte, aberwitzige Situation: Gerade der Versuch, die politische Inanspruchnahme von Film, Literatur und Kunst über plots zu etablieren, die das sozialistische Ethos massenmedial kommunizieren, bringt paradigmatische Strukturen der Bedeutungsgenerierung hervor, die jene ästhetische Vieldeutigkeit nochmals potenzieren, die durch die Dominanz des Politisch-Ideologischen eigentlich blockiert werden sollte. Eben dies vermag auch die immensen Anstrengungen zu erklären, die in den sozialistischen Systemen sowohl auf der Seite der Produktion wie auch der Rezeption unternommen werden, um die ästhetischen Mehrdeutigkeiten zu regulieren. Eine solche Regulierung und versuchte Blockierung von ästhetischer Mehrdeutigkeit erfolgte in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Systemen Osteuropas vornehmlich auf drei Ebenen: Erstens durch eine intensive Kommentierung der Filme in filmpublizistischen Zeitschriften, durch Organisation von Diskussionen mit Zuschauern und Filmemachern, bei denen ästhetische Vieldeutigkeiten in ideologisch-pädagogische Sachverhalte übersetzt wurden, zweitens durch intermediale und -diskursive Verweisstrukturen, bei denen besonders historiographische Sujets (z. B. Episoden aus der Oktoberrevolution oder aus dem Leben bedeutender politischer oder wissenschaftlicher Persönlichkeiten) durch verschiedene Medien und Diskurse (Film, künstlerische Literatur, Theater, populärwissenschaftliche Texte, Schulbücher) so kursieren, dass dabei ein nicht mehr zu befragender, mythologischer Kern herauspräpariert wird. Drittens erfolgt die Reduktion von ästhetischer Unbestimmtheit durch immanente, filminterne poetologische Verfahren. Dieser dritte Punkt ist relevant für unseren Zusammenhang und im Hinblick auf die Strukturen des Zeit-Bildes. Der in den Film-, Literatur- und Kunstproduktionen des Sozialistischen Realismus unternommene Versuch, Mehrdeutigkeit zu bannen, zielt immer darauf, die Frage zu unterdrücken, warum etwas so und eben nicht anders gesagt oder dargestellt wird, und somit darauf, Ausdruck und Inhalt unauflösbar miteinander zu verschmelzen. Dieser Versuch einer solchen Interpretationssteuerung bzw. -blockierung weist in den verschiedenen Kunstmedien jeweils eigene Formen und Ausprägungen auf. Im Bereich des Films setzt ein solcher Versuch vor allem an

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jenen bereits von Platon diagnostizierten gefährlichen Unein- und Mehrdeutigkeiten des Bildes an, indem die verbal-sprachlichen und akustischen Elemente verstärkt werden, um damit auf das Verstehen unmittelbar einzuwirken. Im Einzelnen führt dies zu verschiedenen Eigentümlichkeiten des sozialistisch-osteuropäischen Films. In formaler Hinsicht betreffen diese zum einen das Genresystem, das eine starke Tendenz zu nichtfiktionalen, quasidokumentarischen, historiographischen Genres aufweist; ebenfalls wird das Genre der filmischen Melodramen zum Genre von Adoleszenzfilmen verharmlost und pädagogisiert; und schließlich führt auch das bereits bei Platon wegen der Uneindeutigkeit mit Skepsis beurteilte Lachen zu einer Infragestellung und zu einer Neumodellierung der Filmkomödie als einer stark von chorischen und melodischen Elementen dominierten sozialistischen Musikkomödie. Zum anderen hat diese verständnissteuernde Forcierung des Verbal-Sprachlichen auch filmpoetische Konsequenzen: sie führt zu einer durch verbal-sprachliche Degressionen gebremsten Entwicklung des plots und so zu einer Lockerung des syntagmatischen Gefüges der filmisch erzählten Geschichten; sie bewirkt aber auch eine Privilegierung des Verbal-Sprachlichen und Akustischen und leistet damit einer Entkopplung von Bild und Ton Vorschub. So befördert also gerade auch das ideologisch angestrengte, sozialistische osteuropäische Kino auf einer filmpoetischen Ebene (des Zusammenspiels von visuellen und akustischen Zeichen) jenen Prozess, den Deleuze als eine dem filmischen Medium selbst inhärente Entwicklung vom Bewegungs-Bild hin zum Zeit-Bild analysiert. Es ist dieses gegenläufige Bedingungsverhältnis von ideologischer Inanspruchnahme und Funktionalisierung einerseits und filmpoetischer und filmästhetischer Entwicklung andererseits, das ausgehend von Deleuzes Konzept des filmischen Zeit-Bilds sichtbar gemacht werden kann.

N A T A S C H A D R U B E K -M E Y E R

Das Kino, die Uhr und der Regen Zur filmpoetischen Vorgeschichte von Deleuzes Zeit-Bildern 1. Der Anfang des Kinos und der Versuch, Zeit zu zeigen und zu denken An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert machte man sich in verschiedenen Disziplinen und Künsten über die Dimension der Zeit vermehrt Gedanken: Henri Bergson in der Philosophie und daran anknüpfend Marcel Proust mit À la recherche du temps perdu in der Literatur, Albert Einstein in der Physik. Zugleich ist der Beginn des 20. Jahrhunderts die Zeit des Siegeszugs des Kinos als Institution, der sich darin ausdrückte, dass die ersten festen Kinotheater gebaut wurden, die die temporären oder saisonalen Filmvorführungen verstetigten. Gilles Deleuze war der Auffassung, dass der Philosoph der durée, Bergson, in seinem Werk Matière et Mémoire (1896) vom neuen Medium des Films beeinflusst war – auch wenn er ihm kritisch gegenübertrat und es v.a. unter dem Aspekt der Bewegung beschrieb bzw. ihm keine adäquate Repräsentation von Zeit zugestand.1 Dass das Kino Bewegung darstellen, generieren, simulieren konnte, war seine größte anfängliche Attraktion und wurde in den ersten Jahrzehnten des Mediums als sein „pflegenswertestes Ausdrucksmittel“ verstanden.2 Dass Kino Zeit symbolisch repräsentieren oder anschau1 2

Vgl. hierzu D. Totaro, Time, Bergson, and the Cinematographical Mechanism, 2001. url: http://www.horschamp.qc.ca/new_offscreen/Bergson_film.html (20.1.07). Vgl. etwa Arnheims Kapitel „Bewegung im Film l“ (1934): „Bezeichnend für den Film ist, daß er die Veränderung in der Zeit, den Vorgang darstellt, im Gegensatz zu zwei andern großen optischen Künsten, der Malerei und der Skulptur, denen die Darstellung der Veränderung und damit die der Bewegung versagt ist. Ist also Bewegung eine der grundlegenden Eigenarten des Films, so ist sie ԟ nach einem allgemeinen ästhetischen Gesetz ԟ damit zugleich eine seiner wichtigsten und pflegenswertesten Ausdrucksmittel. Dabei ist gleich zu bemerken, daß die für den technischen Vorgang der Filmaufnahme und -vorführung charakteristischste Bewegung, die des Bildstreifens nämlich, nicht mit zum ästhetischen Charakter des Films gehört und daher auch nicht zu berücksichtigen ist, wenn von der Bewegung als künstlerischem Ausdrucksmittel des Films gesprochen wird. Die Bewegung, die der Zelluloidstreifen ausführt, während er von der einen Spule in die andre läuft, wird nicht als Bewegung des Bildes oder im Bilde sichtbar; ihre Geschwindigkeit hat nur als Proportion zwischen Aufnahme- und Vorfüh-

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lich machen konnte (etwa durch Zeitlupe und Zeitraffer oder im „tempus reversus“, dem komisch wirkenden Verkehrtlaufenlassen der Filmspule)3, wurde als sekundärer, auf der Bewegung aufbauender Trick wahrgenommen. Das Herumspielen mit Zeit (ihrer Geschwindigkeit und Richtung) war jedoch ein entscheidendes Trickelement des frühen Kinos, des sog. „Kinos der Attraktionen“ (Tom Gunning), das narrativ noch wenig entwickelt war und verschiedene Filmtricks bzw. die medialen Möglichkeiten des Kinos selbst ausstellte. Die Relativität der Zeit in der Projektion wurde anschaulich auch durch Unregelmäßigkeiten in der manuellen Bedienung der Apparate in der Frühzeit: etwa, wenn der Vorführer es eilig hatte und die Projektion zum Ende hin beschleunigte ‒ oder aber wenn der Kameramann bei der Aufnahme selbst die Kurbel plötzlich aufgrund von Ermüdung oder aber absichtlich langsamer gedreht hatte (das undercranking im slapstick, das zu einer schnelleren, ruckartigen Bewegung der Figuren führt). Man konnte mit eigenen Augen sehen, dass der gefilmte Zeitabschnitt in seiner Länge nicht absolut war, sondern der Aufnahme- oder Projektionsgeschwindigkeit unterworfen. Erkennen konnte man dies daran, dass die Bewegungen der gefilmten Objekte zu schnell oder zu langsam erschienen, wobei die ,reale‘ bzw. als natürlich empfundene Bewegungsgeschwindigkeit nicht mit absoluter Genauigkeit festzulegen war. Die Filmobjekte hatten also eine subjektive Kino-Zeit, die darüber hinaus in der Projektion selbst flexibel war. Hier sollte daran erinnert werden, dass es erst mit dem Tonfilmformat in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. Jh. zu einer standardisierten Bilderpro-Sekunde-Ratio kam, nämlich 244. Die Filme der ersten drei Jahrzehnte (d.h. 1895-1926/7) wurden mit variabler Bildgeschwindigkeit (16-23 b/sec) gedreht und auch projiziert. Und dies mitunter auch mitten im Film, wofür eigene Anweisungen gegeben wurden wie etwa für den Film Stranded (1916): „Time the feature to run 14 minutes to the reel. Only two places in the five reels call for speed. When the little girl falls from the trapeze there is

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rungsgeschwindigkeit Einfluß auf die Geschwindigkeit der im Film sichtbaren Bewegungen, und der Rhythmus des Bildwechsels, die sich in der Sekunde vierundzwanzigmal gleichmäßig wiederholende Bewegung des Greifers, bzw. des Malteserkreuzes hat mit dem Rhythmus als ästhetischer Komponente der Filmkunst nicht das mindeste zu tun.“ Auch wenn Arnheim (Rudolf Arnheim, Kritiken und Aufsätze zum Film (Hg.: Helmut H. Diederichs), München 1977, 42) hier das Gegenteil behauptet, scheint die Vorstellung einer intrinsischen Beziehung zwischen Bewegung des Streifens und Bewegungsillusion vorzuherrschen. Zu diesem Verfahren des frühen Films vgl. Jurij Civ’jan, Istoričeskaja recepcija kino: kinematograf v Rossii 1896-1930, Riga 1991, 78ff (auf engl.: Yuri Tsivian, Early Cinema in Russia and Its Early Cultural Reception, London 1994). Da v.a. die Sprache, aber auch Musik Geschwindigkeitsschwankungen nur in begrenztem Maße zulässt, war es also der Ton, der die Geschwindigkeit und damit die Darstellung von Bewegung in der Zeit (das Bewegungsbild in der Zeit) absolut festlegte.

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great excitement resulting. Speed it here.“5 Das timing der Projektion gestand dem Vorführer, der oft als der Herr der (Kino-)Zeit und damit auch des Charakters der Bewegung angesehen wurde, eine gewisse Interpretation des Filmmaterials zu. Die Relativität von Zeit, die Einstein 1905 in dem zweiten Paragraph „Über die Relativität von Längen und Zeiten“ in dem ersten, dem „Kinematischen Teil“ seines Aufsatzes Zur Elektrodynamik bewegter Körper beschrieben hatte, ließ sich also gut in den Kinotheatern erleben. Der Effekt dieser Projektionssituation ist ein Zeit-Bild im Sinne einer frühen kinematographischen Verbildlichung eines modernen Zeitkonzepts. Später wurde das Medium Film in der Illustration von Einsteins Relativitätstheorie übrigens gezielt eingesetzt: 1922 entstand ein Film mit dem Titel Die Grundlagen der Einsteinschen Relativitätstheorie (Regie: H. W. Kornblum; Buch: Prof. Dr. O. Fanta), in dem Einsteins spezielle Relativitätstheorie anhand von Animationen verständlich gemacht wurde.6

2. Bilder von Zeit und das Zeit-Bild Als Anfang der 80er Jahre des 20. Jh. der Philosoph Gilles Deleuze seine zwei Kino- Bücher Bewegungs-Bild und Zeit-Bild schrieb, waren sie keine Auseinandersetzung mit dieser frühen Zeit des Mediums Kino, die Deleuze mehr oder weniger ausblendet. Es war vielmehr die Beschäftigung mit Bergsons Kritik an der im Kino durch Phasenbilder hergestellten, „falschen“ Bewegung.7 Zugleich war es der Versuch, die toten Winkel in der Bergson’schen Sicht auf das Kino mit Gedanken zu bevölkern, die in ihren typischen Wendungen und Verkehrungen zwar Deleuze gehören, jedoch aus Bergsons eigenem Begriffsgebäude (Materie, Gedächtnis, Dauer, Wahrnehmung) stammen. Doch soll es hier nicht um die Deleuzesche Bergsonlektüre gehen, der bereits zahlreiche Arbeiten gewidmet sind,8 sondern um das Bild der Zeit (nen5 6 7 8

Zit. nach James Card, „Silent Film Speed“, Image, October 1955, 55–56, hier: 55. Zu diesem nicht erhaltenen Film vgl. url: http://www.kinematographie.de/EINSTEIN.HTM (20.9.08). Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1997, 14. Vgl. hierzu Paul Douglass, Bergson and cinema: friends or foes?, in: J. Mullarkey (Hg.), The New Bergson, Manchester, New York 1999, 209-227; G. Fihman, Bergson, Deleuze und das Kino, in: O. Fahle/L. Engell (Hg.), Der Film bei Deleuze/Le film selon Deleuze, Weimar, Paris 1997; D. Totaro, „Gilles Deleuze’s Bergsonian Film Project“, offscreen 1999, 3, vgl. url: http://www.horschamp.qc.ca/9903/offscreen_essays/deleuze2.html (19.1.07) und Totaro, Time, Bergson, and the Cinematographical Mechanism und die Beiträge in G.

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nen wir es Zeitbild) und den Terminus „Zeit-Bild“, das Deleuzesche Kompositum l’image-temps. Um dies zu bewerkstelligen, kommen Verfahren zur Anwendung, die Deleuzes Konzepte sowohl affirmieren als auch unwillkürlich verfremden. Zunächst werden Zeitbilder (Darstellungen von vergehender oder vergangener Zeit, von Zeitmessung, von Dauer usw.), die es auch außerhalb des Kinos gibt, behandelt. Hier wird versucht, einige Zeit-Konzepte bzw. Zeit-Darstellungen herauszuarbeiten, die weder Bergsons noch Deleuzes Kino-und-Zeit-Philosophie voraussetzen. Zum zweiten werden spezielle sprachlich verfasste Zeit-Begriffe aus der Nachkriegsgeschichte verhandelt, die Deleuze auch in seinen Kinobüchern verwendet bzw. auf welchen die historische Perspektive seines Kinoprojekts beruht (mit dem historischpolitischen Einschnitt „1945“, der ja keine filmhistorische, filmtechnische oder filmpoetische Basis hat). Zum dritten wird anhand von Beispielen aus der osteuropäischen Kinematographie, die Deleuze in seinem Zeit-Bild-Buch nur am Rande einbezieht, die Tragfähigkeit der Deleuzeschen Kino-Konzepte von der ,anderen‘ Seite her untersucht. Der dritte Punkt kann auch zur Prüfung der Deleuzeschen Entwürfe geraten. Die Evidenz zahlreicher osteuropäischer Filme der späten 1950er bis 1970er Jahre wirkt trotz (oder aufgrund) ihres Verkanntseins überraschend affirmativ, was Deleuzes Zeit-Bild-Vorstellungen angeht – zuweilen scheinen diese Filme mit größtem Nachdruck auf der Bildung und Reflexion von Zeit im Film zu insistieren. Der Archipelag osteuropäischer Filmkulturen, in denen der Film zwar politisch, aber kommerziell nur schwach gegängelt wurde, erweist sich als Heimstatt und Ressource von Zeit-Bild-Experimenten. In der politischen Nachkriegskonstellation und dem Denken des Jahres 1945 bei Deleuze wird der „Ostblock“ als das – v.a. politisch – Andere oder als Gegner im Kalten Krieg zwar laufend vorausgesetzt, aber nicht aktiv gedacht. Um diesen toten Winkel auszufüllen, reicht(e) es damals vermutlich, das „osteuropäische Kino“ zu sehen.9 Doch ist dieses als (weniger ästhetisch als politisch bestimmte) Einheit spätestens seit 1990 zur Vergangenheit geworden. Wir haben in der Konstanzer Konferenz von 2002 – Deleuzes Zeit-Bild im Sinn – zunächst versucht, auf seine Vielfalt hinzuweisen. Und erst in einem zweiten Schritt auf das, was es äußerlich einte, was eben auf „1945“ beruhte, ob es eine Um-

9

Flaxman (Hg.), The Brain is the Screen. Deleuze and the Philosophy of Cinema, Minneapolis, London 2000. Dies hat Deleuze ‒ kein professioneller Kinokritiker wie sein Kollege Serge Daney, der sich namentlich für die sowjetische Produktion interessierte ‒ nur bis zu einem bestimmten Grad und unsystematisch getan. Jedoch hatte Deleuze wohl durchaus Kenntnis von mehr osteuropäischen Filmen als im Buch erwähnt; dies zeigt sich indirekt auch darin, dass etwa Daney in seinem Text aus dem Jahr 1982 auf die Konzepte des Bewegungs-Bilds und Zeit-Bilds verweist.

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schreibung des Siegs (der UdSSR) war oder aber das Hineingeraten in eine Machtsphäre („Ostblock“). Zeit-Bild ist also auch immer ,Geschichte‘.10

3. Das Bild und der Effekt der cejtnot in der frühen Avantgarde Wie macht man Bilder von Zeit? Das können Bilder von ZeitmessInstrumenten sein (Sanduhr, Kalender, Mehrkanthölzer mit Monatskerben, Uhren mit Zifferblatt oder mit digitalem Display). Das Instrument des Zeitmessens signifiziert neben einer bestimmten konkreten Zeit auch seine allgemeine Funktion und wird so zu einer gut entzifferbaren Trope der Zeit (einem Zeitbild). Im filmischen „Bewegungs-Bild“ sind Uhren relativ häufig und befinden sich meist an Stellen des suspense. Im ersten Film des russischen Regisseurs Lev Kulešov, Das Projekt des Ingenieurs Pright (Proekt inženera Praita, 1918) wird gleich zu Anfang des Films ein der Bewegung untergeordnetes Bild von narrativ bestimmender „Zeit-Not“ (russ. cejtnot: Zeitknappheit) programmatisch entwickelt. Es ist die moderne Zeit, die immer knapp ist, so etwa im plot (Verfolgungsjagd und Wettlauf mit der Zeit, um die Sabotage des Fortschritts zu vereiteln usw.). Ein Experiment mit Filmlaufzeit ist auch in der physischen Länge dieses Films zu finden, die aufgrund begrenzt zur Verfügung stehenden Filmmaterials 1918 kurz gehalten werden musste; die überlieferte Version des Films beträgt nicht einmal eine halbe Stunde und der Regisseur muss in diese gedrängte Zeit mehrere Handlungsstränge hineinzwängen, so dass die Schnittfrequenz atemberaubend hoch ist und das filmische Erzählen elliptisch, was dem Film damals das Epitheton „hyperamerikanisch“ eingebracht hat.11 Zeit wird hier sowohl metonymisch als auch indexikalisch ausgedrückt (so etwa ihr Fehlen, ihr Verstrichensein, das Zu-Spätsein). Es ist die beschleunigte, gehetzte, verdichtete, „amerikanische“ Zeit, die sowohl durch die Präsenz der Uhren zu sehen ist als auch bei der Filmwahrnehmung spürbar wird. 10

11

So schreibt E.R. O’Neill: „Deleuze is not trying to give a history of cinema but rather to use cinema’s history as itself an image of a theoretical idea. Cinema and its history would thus become Deleuze’s own time-image, an image of the movement of history. On this view Deleuze does not recapitulate the history of cinema through his own conceptual categories in a Hegelian unfolding: rather he lets the history of cinema be its own image.“ Das Zitat stammt aus O’Neills Rezension des von O. Fahle und L. Engell herausgegebenen Bandes Der Film bei Deleuze/Le cinema selon Deleuze; vgl. url: http://www.film-philosophy.com/vol2-1998/n2oneill (16.8.08). N. Drubek-Meyer/N. Izvolov 2008, Annotation 3 zum Film Proekt inženera Praita (1918) by Lev Kulešov (absolutMedien, Berlin 2008; Hyperkino-DVD-Edition).

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4. Eisenbahn und Standardzeit Es ist kein Zufall, dass dieser ur-avantgardistische Film an einem Bahnhof beginnt. Sowohl die Dampfmaschine als auch das Kino sind Erfindungen des 19. Jh. Zudem fallen die Anfänge der Kinematographie in die gleiche historische Epoche wie die des Standardisierens von Zeit (die Standardzeit wurde ab den 1880ern als sog. „Eisenbahnzeit“12 eingeführt). Laut Lynne Kirby stellen wiederum der auf der Standardzeit basierende Eisenbahnverkehr und das Kino „parallele Gleise“ dar.13 Mechanisch-gleichförmige Bewegung (Eisenbahn), Standardzeit und Kino stellen eine moderne Triade dar, die Zeit an Bewegung knüpft, sie von ihr abhängig macht (schließlich mussten sich die lokalen Zeiten deshalb an eine globale anpassen, damit der Verkehr zwischen den Regionen möglich war). Im Film von 1918 sehen wir zweimal eine Uhr. Einmal die Bahnhofsuhr, die – als der Zug losfährt, der Dampf hochgeht und der Schaffner pfeift – genau 16.15 zeigt (vgl. Abb. 1-4). Danach die Armbanduhr des Verspäteten, die 16.17 zeigt; sie ist verkehrt herum um das Handgelenk gebunden, damit die Kamera und der Zuschauer sie richtig lesen können. Das explizitsynekdochische Zeitzeigen wird in Nahaufnahmen von Details der Bahnhofsarchitektur und des Arms des Helden realisiert und etabliert zwei Zeitordnungen (die des Bahnhofs, wo der Gehilfe des Helden wartet und die des Helden selbst, vgl. Abb. 5-8): Die hier intensiv präsentierte standardisierte Zeit der Eisenbahn ist eine Funktion der (Dampf-)Maschinen und abstrakt, absolut und unerbittlich. Der Held, der zwar auch über einen solchen Anzeiger der standardisierten Zeit verfügt, verpasst aufgrund eines Versagens eines anderen (individuellen) Transportmittels den Zug, da dieser nicht auf seine individuelle Zeit und konkrete Situation Rücksicht nimmt. Dieser erste russische Avantgardefilm nimmt die Sichtbarkeit und den mechanischen Rhythmus der urban-mechanischen Zeit, wie wir sie aus den klassischen Avantgardefilmen eines Vertov der 1920er kennen, vorweg. Wie wir später sehen werden, sind im Gegensatz zu diesen mit Tropen arbeitenden Zeitbildern die Zeit-Bilder der Nachkriegsfilme völlig anderer Art. Zeit wird dort selten direkt durch ihre Mess- und Anzeigeinstrumente dargestellt und passt sich auch nicht in solch geschmeidiger Form an die avantgardistische Lust an optimaler Sichtbarkeit bzw. Mechaniziät an. Sie beharrt auch nicht mehr auf der Unterordnung unter die Absolutheit der Standardzeit, die uns hier mit der Einstellung „16.17“ suggeriert wird. Doch dazu später.

12 13

Clark Blaise, Die Zähmung der Zeit: Sir Sandford Fleming und die Erfindung der Weltzeit, Frankfurt/M. 2001. Lynne Kirby, Parallel Tracks: the Railroad and Silent Cinema, Exeter 1997.

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Abb. 1-4: Die Bahnhofszeit im Film Das Projekt des Ingenieurs Pright, 1918, Lev Kulešov.

Abb. 5-8: Die Zeit vom Handgelenk des Ingenieurs für die Kamera in Das Projekt des Ingenieurs Pright, 1918, Lev Kulešov.

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5. Uhrwerke, Zeit-Bilder und die Relativitätstheorie Die Zusammenhänge zwischen Zeitmessung, Eisenbahn und Kino sind keinesfalls nur metaphorisch, sondern gehen konkret ins technische Detail. Kay Kirchmann14 sieht mechanische Transportmittel, Uhren und Kino (inklusive des „Filmtransports“ bei der Projektion) auf mehreren Ebenen ineinandergreifen und einander ermöglichen, bestätigen und verstärken: Was im kinematographischen Artefakt zudem exemplarisch materialisiert wird, sind eben die Zeitmuster, die die konkreten Wahrnehmungsbedingungen der neuzeitlichen Subjekte geprägt haben: als Takt der Arbeitsmaschinen, der Uhren, der Fortbewegungsmittel, der innerstädtischen Vernetzungen. Nichts lag so besehen also näher, als die relevanten Bewegungen im Innern der kinematographischen Apparatur nach Maßgabe des Prototyps aller zivilisatorischen Taktgeber miteinander zu verschalten. Und so geschieht es beim sogenannten Malteserkreuz, das sich als genuine Adaption des Hemmungs-Prinzips auf den Bildertransport erweist. [...] Man könnte [...] von einer „Bilder-Hemmung“ sprechen, die erst die kinematographische Illusion eines regelmäßigen Flusses jener isolierten Phasenbilder realisierbar machte, die die Serienphotographie vorher schon bereit gestellt hatte.

Das Zitat aus Kirchmanns Buch verweist auf die technische (wenn auch nicht historische) Gleichursprünglichkeit von Zeitmessinstrumenten (Uhren) und Kino mit besonderem Hinweis auf das Detail der Hemmung. Die klassische Kinotechnik bediente sich eines Uhrwerks. Laut P. Gendolla15 wird erst durch das Generieren einer wiederholten Leere zwischen Zeitstücken genaues Zeitmessen möglich (bis dahin war alle Zeitmessung ungenau: zunächst durch Sand, Wasser oder Sonne, später durch annähernde mechanische Uhrwerke). Ab dem 17. Jh. geschieht dies durch Systeme der mechanischen Hemmung, etwa das von Kirchmann erwähnte Malteserkreuz, das im 19. Jh. – neben dem Démény’schen batteur – eine grundlegende technische Voraussetzung der Kino- und Projektionstechnik wird (des Kreuzes bedienten sich in ihren Apparaten auch die Filmpioniere Oskar Meßter in Berlin oder R.W. Paul in London). Gendolla führt zur Hemmung aus: Die Hemmung, das sagt ihr Name, verzögert oder unterbricht einen Bewegungsablauf in möglichst gleichmäßigen Abständen. Sie definiert durch Größe und Abstand der Zähne im Hemm- oder Steigrad vollkommen gleiche Einschnitte in einer Bewegung, die sonst ‒ durch ein schneller fallendes Gewicht, eine sich schwächer entspannende Feder ‒ diskontinuierlich ablaufen würde. Sie macht den Ablauf kontinuierlich, regu14

15

Kay Kirchmann, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozeß, Opladen 1998, 339f. P. Gendolla, Zwischenzeiten – Zur Kultur und Technik der Zeit in der Moderne, in: W. Müller-Funk (Hg.), Zeit. Mythos – Phantom – Realität, Wien 2000, 15-27. Auch unter: url: http://www.uni-konstanz.de/paech2002/zdk/beitrg/Gendolla.htm (20.9.08).

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liert die großen Schritte des Tages und der Nacht, indem sie viele kleine Schritte daraus macht. „Schrittregler“ war nur ein anderer Name für die Hemmung. […]

Die Uhr basiert also – wie der Kinematograph (als der ,Bewegungsschreiber‘) – auf „vollkommen gleichen Einschnitten in einer Bewegung“. Gendolla beschreibt die Hemmungsmechanik, die Leerstellen beim Zeitmessen generiert, als die „eigene Bewegung“ der Uhr: Die Sonnenuhr ‒ zu schweigen von den über Jahrtausende nicht minder wichtigen biologischen Kalender- und Wecksystemen, den Pflanzen- oder Vogeluhren etwa, war noch direkt an einen äußeren Rhythmus gekoppelt. Mit den Wasser- über die Gewichts- zu den Federuhren wird die Kraft- oder Energieverausgabung nach innen verlagert, in ein eigenes Uhren-Gehäuse. Dies so isolierte Potential wird durch eine zweite, hemmende Kraft zur gleichmäßigen Verausgabung gezwungen, die mit einem Zwischenraum, einer Leerstelle operiert. Entscheidend ist diese Wendung von der Abbildung einer vorgegebenen anderen Bewegung zur Kontrolle der eigenen Bewegung durch die Einschaltung von Haltepunkten, Leerstellen. Von jetzt an definieren sie Raum und Zeit, d.h. eigentlich regulieren eine leere Zeit und ein Nicht-Raum zunehmend alle anderen Zeiten und Räume.

Das Uhr-Prinzip der Hemmung als „Schrittregler“, Zeit-Zerteiler oder ZeitOrdner hängt intrinsisch mit dem Wesen der Kinematographie zusammen. Das Kino ist technisch – genau wie die Uhr – als Maschine der Zeithemmung verstehbar (der Hauptunterschied besteht freilich darin, dass die Zeit in der Uhr abstrakt bleibt, während das Kino mit seinen Bildern konkret wird, Bilder in der Zeit bzw. eine Bilder-Zeit macht). Gendolla16 schreibt hierzu: Tatsächlich ist das Malteserkreuz eine Fortentwicklung einer Hemmung, wie sie in Spieluhren des 18. Jahrhunderts verwendet wurde, aus der sie Oskar Meßter gewissermaßen entwendet hat. Wiederum greift auch hier eine Unterbrechung, eine selbst qualitätslose Zeitstelle in einen Bewegungsablauf ein, reguliert die Bilderbewegung und ermöglicht so erst die Illusion, d.h. die Überlistung des körpereigenen Zeittaktes der Augen. Das Prinzip bleibt, es wird nur ausdifferenziert, in immer komplexere Anwendungen umgesetzt und perfektioniert.

Diese Aufteilung und Formung der ungemessenen, amorphen Zeit in Zeitstücke (die Entstehung von Sekunden usw.) kann man auch Montage der Zeit in einem geschlossenen System nennen; somit ist jede abstrakte Zeitmessung in ihrem Zerteilen einer kontinuierlichen Dauer (die immer auch mit konkretsubjektiven Leben verknüpft ist) als quasi-kinematographisch anzusehen. Erinnern wir uns an die Formulierung, die Deleuze für das Prinzip der abstrakten Zeit wählt; die Leerstellen der „abstrakten“ Zeit stehen der konkreten Dauer gegenüber: ,Unbewegliche Schnitte plus abstrakte Zeit‘ verweist auf geschlossene Ensembles, deren Teile in der Tat unbewegliche Schnitte sind, und auf eine Abfolge von Zuständen, deren aufeinanderfolgende Zustände in einer abstrakten Zeit gemessen werden; 16

Gendolla, Zwischenzeiten – Zur Kultur und Technik der Zeit in der Moderne.

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während ,reale Bewegung ‒ konkrete Dauer‘ auf die Öffnung eines dauernden Ganzen verweisen, dessen Bewegungen ebenso viele bewegliche, die geschlossenen Systeme durchquerende Schnitte sind.17

Ist der kinematographische Apparatus also als ein reglementierendes Uhrwerk des amorphen Lebens (das „dauernde Ganze“) zu verstehen? Als eine Uhr, die in ihren Filmen messbare Zeit macht, aus der Vielzahl der konkreten Dauern realer Subjekte und Objekte auswählt und so selbst Zeit und Narrative destilliert? Eine solche universale Vorstellung ähnelt der Idee von Materie als „Gesamtheit der Bewegungsbilder“ oder der Deleuzeschen (von Bergson inspirierten) Interpretation des Vertov’schen „Kameraauges“ als „Materieauge“18. Wie das Buch Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit von P. Galison19 zeigt, gibt es außerdem eine direkte Beziehung zwischen der Zeit-Standardisierung, also der weltweiten Synchronisation der Uhren in allen Zeitzonen20, und der speziellen physikalischen Relativitätstheorie. Es scheint, dass die aus naturwissenschaftlicher Sicht bis dahin als problematisch empfundene Beschaffenheit von Zeit zu einer solchen Theorie beigetragen hat. F. Müller21 stellt in seiner Rezension von Galisons Buch fest: Galison zeigt, dass sich Zeit weder allein in Uhrwerken verkörpern, noch im Zeitparameter physikalischer Gleichungen eindeutig bestimmen lässt: Dies belegen die vielfältigen und beunruhigenden Probleme, die bei der globalen Vernetzung und beim Versuch der Synchronisierung verschiedener lokaler Zeitsysteme auftraten.22

Die Zeitzonen und die Uhren, obgleich sie die Zeit immer genauer maßen und einteilten, standen mitunter im Gegensatz zu ,realen‘ Dauern oder Zeitauffassungen, bzw. zu den realen und virtuellen Zeiten und Zeitmodellen, von denen auch die Relativitätstheorie handelte. Auch der Kulešov’sche Film von 1918 enthält diesen Zweifel an der absoluten Uhrzeit: Das Versäumen des Zugs bewahrt den grazilen Ingenieur vor dem Überfall seiner Feinde, die seinem 17 18 19 20

21 22

Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 25f. Ebd., 90. Peter Galison, Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit, Frankfurt/M. 2003. Galison liefert eine „Geschichte der weltweiten Synchronisierung lokaler Zeitsysteme Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts“ und vermittelt ihre ökonomischen und „lebensweltlichen“ Hintergründe (Falk Müller, Rezension von Galison, Einsteins Uhren, Poincarés Karten, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], vgl. url: http://www.sehepunkte.historicum.net/2004/02/2701.html [19.9.08]). Müller, Rezension von Galison, Einsteins Uhren, Poincarés Karten. „Auch wenn der Einsatz von weltweiten Telegrafenverbindungen die Grundlage für eine sich immer weiter verfeinernde Technologie der Synchronie oder, wie Galison es ausdrückt, ein Polygon der Simultanität‘ schuf, ließ sich das Ziel einer global gültigen Zeitnorm vorerst nicht verwirklichen.“ (Müller, Rezension von Galison, Einsteins Uhren, Poincarés Karten.)

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technologischen Wissen auf der Spur sind. Sein robuster Gehilfe jedoch, den die Saboteure an seiner statt überfallen, kann alle Angriffe abwehren. Im plot dieses an einer ästhetischen Zeitenwende stehenden Films erhält die subjektive Zeit (die ,Verspätung‘) immerhin eine gewisse Würdigung.

6. Bewegung und Rhythmus im Zeit-Bild: Laufen, Tanzen, Regnen Der Film ist Ordnen der Zeit. Wie aber unterscheidet sich nun aus dieser Perspektive das filmische Bewegungs- vom Zeit-Bild im Deleuzeschen Sinne? Ist das Bewegungs-Bild mit seiner schnellen Montage eine die reale Dauer von konkreten Abläufen völlig transformierende Maschine der Zeit, und der Film des Zeit-Bilds ein passiver Abdruck der realen Dauer? Bewegungs-Bilder weisen oft auf das Uhrenhafte ihres Mediums hin – Kulešovs Film von 1918 gehört dazu. Zeit-Bild-Filme minimieren umgekehrt die konkrete Dauer von Bewegungen und betonen weisen eine Resistenz gegenüber dem Nicht-Uhrenhaften und Nicht-Mechanischen der filmischen Aufnahme und Montage auf. Im osteuropäischen Nachkriegsfilm finden sich zahlreiche Filme, denen diese Geste des Zeigens organischer Zeit zugrunde liegt (am bekanntesten wohl die Filme Tarkovskijs bis in die 80er Jahre). Wenn das avantgardistische Bewegungs-Bild seiner Montage gern (absolute) Metrik oder ideologisch-dialektische Rhythmusfiguren (Ėjzenštejns Montage) zugrundelegt,23 präferiert das Zeit-Bild von außen kommende, natürliche Rhythmen. Diese wirken sowohl vor dem Hintergrund der AvantgardeSchnittstile als auch der klassischen Hollywood-Schnitt-Prinzipien gedehnt. Im Nachkriegsfilm gibt es vermehrt Rhythmusgeber, die auf einen natürlichen Typus des Zeit-Bilds wie durch den rhythmisch fallenden Regen zurückgreifen, etwa in den Filmen von Kurosawa in den 1950ern. Hier beginnt nicht nur die gleichmäßige Bewegung des Fallens eine Rolle zu spielen, sondern auch das Geräusch. Während der mechanische oder ideologischdialektische Rhythmus im Stummfilm ein visueller ist, ist der organische oft an der auditiven Wahrnehmung von Rhythmischem orientiert.24 Dies ist im Zeit-Bild weniger Musik (als diejenige Form des Rhythmus, die in den 30er 23

24

Auch hier ist wieder an Dziga Vertov zu erinnern, dessen metrische Schnittintervalle (etwa die mechanische Kürzung der Längen der Einstellungen) mit dem bloßem Auge eigentlich nicht zu erkennen sind. Dies hängt nur bedingt mit den Möglichkeiten des Tonfilms zusammen, wie man vielleicht denken könnte. Rhythmische Naturgeräusche waren früh aufzeichenbar. Im Hollywoodkino übrigens ist der Schnittrhytmus von Dialogen und plot bestimmt (d.h. auditiv und visuell).

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und 40er Jahren das Bild dominierte), sondern es sind Geräusche, vermehrt auch nicht-diegetische oder mit der Handlung nicht verbundene, etwa die rhythmische Wiederholung von Worten wie in dem Sprachkurs auf Schallplatte, den wir in Zwischenlandung in Moskau (Ja šagaju po Moskve, 1963) hören. Natürliche Rhythmen in Zeit-Bild-Filmen erfordern oft längere Einstellungen. Das Rhythmische findet nicht in der Schnittfrequenz statt, sondern wird in die Einstellung verlegt. Man könnte sagen, dass dies als filmhistorische Verschiebung derjenigen Verlegung der Montage in die Einstellung selbst entspricht, die Ende der 1930er Jahre stattfand25 und – emblematisch geworden in den vordergrundbetonten Einstellungen des Films Citizen Kane von Orson Welles – den Effekt einer Schärfentiefe hatte (auch als Plansequenz bezeichnet). Das auditive Rhythmisieren der Einstellung selbst hat jedoch eher einen Oberflächeneffekt. Dazu unten mehr. Es gibt auch den primär visuell verstandenen Rhythmus, etwa menschliche Schritte oder andere Körperrhythmen. Das Herumstreunen und Spazieren gehören zu jenen hervorgehobenen Bewegungen ohne narratives Ziel, die Deleuze26 u.a. für die „Krise des Aktions-Bilds“ verantwortlich macht. Schritte an sich, Passanten-Bewegungen durch den urbanen Raum, die keine narrative Funktion haben, zeigen das pure Vergehen von Zeit anhand der menschlichen Bewegungen, quasi durch das Muster, den eigenen Rhythmus dieser in Bezug auf die Filmhandlungen nebensächlichen, also ziellosen Körper (vgl. Abb. 9). Abb. 9: Zwischenlandung in Moskau, 1963, Georgij Danelija.

Der urbane Raum ist hier nicht mehr der organisiert-mechanische, sondern vielmehr der wimmelnd-chaotische. So etwa das Durchstreifen des urbanen Raums in Zwischenlandung in Moskau (die buchstäbliche Übersetzung ist: „Ich schreite durch Moskau“) oder auch das tracking der anonymen Menge im Film Juliregen (Ijuls’kij dožd’, 1967) von Marlen Chuciev, in der die Kamera auf der Straße nach Gestalten zu suchen scheint und ihre Entschei25 26

Im Russischen als „Montage innerhalb der Einstellung“ (vnutrikadrovyj montaž) bezeichnet. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 14.

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dung von einer sichtbaren Differenz der Gehgeschwindigkeit abhängig macht (vgl. Abb. 10-13). Abb. 10: Die Moskauer Menge.

Abb. 11: Dieser junge Mann ist es nicht…

Abb. 12: ...sondern diese Frau ist es.

Abb. 13: Die Kamera hat ihr Objekt gefunden, Juliregen, 1967, Marlen Chuciev.

Es ist eine Frau in längsgestreiftem Kleid, die schneller läuft als die anderen, so dass auch dieser Film – ähnlich wie der von Kulešov – in der einführenden Sequenz (hier noch während der Anfangstitel) ein Zeitprogramm entwickelt, genauer gesagt, eine Skala von Geschwindigkeiten (der Passanten, der Autos,

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der Trolleybusse, der Motorräder und der Heldin). Als die Hauptfigur die anderen Moskauer Passanten überholt, wird sie für die Kamera zum Objekt. Sie eilt freilich nicht – wie der Ingenieur 1918 – an den Arbeitsplatz, sondern zu einem Rendezvous. Die beschleunigte private Zeit überholt die öffentliche, wobei als nächstes Element der Regen hereinbricht, der den Lauf der Heldin für kurze Zeit aufhält (obwohl sie zuerst meint: „das wird jetzt lange dauern“/„nu – ėto teper’ nadolgo“). Doch leiht der Mann, der gerade noch gesagt hatte: „Jetzt sind wir abgeschnitten“, der Heldin seine „im Prinzip regenundurchlässige Jacke“ und sie kann ihren Weg (als einzige) fortsetzen. Während des Regens wird die zuvor dauernd in Bewegung befindliche Kamera verlangsamt und bleibt nach einigen langsamen Schwenks endlich ruhig, und zwar für mehr als 20 Sekunden, in denen der Regen gut sichtbar und hörbar wird (vgl. Abb. 14). Hier wird nicht nur die menschliche Bewegung angehalten, sondern es bleibt quasi auch die Zeit stehen: die Uhren im Hintergrund zeigen nicht nur verschiedene Zeiten an, sondern sie gehen auch nicht (vgl. Abb. 15-17). Es sind nur Bilder von Armbanduhren auf Reklameplakaten für die Firma Almaz, wie man ganz rechts im Bild erkennen kann. Der Film begann mit Studien städtischer Geschwindigkeiten, die abgelöst werden von dem Anhalten der Bewegung durch den Regen. Der Regen führt also auf verschiedene Weisen das Thema der Zeit ein (hier: das Zuspätsein der Heldin und das Stehengebliebensein der zweidimensionalen Uhren als überformatige Zeitbilder im Hintergrund). Ein Verweis auf einen anderen, wenig dynamischen Zeit-Hintergrund findet sich in der Replik der Frau (vgl. Abb. 17), die dem jungen Mann im Weggehen sagt, dass unter der angegebenen Telefonnummer „immer“ jemand erreichbar wäre (wobei er aber doch sie antreffen will und nicht „irgendjemanden“). Offensichtlich gibt sie ihm keine präzise Zeitangabe, um eine Verabredung, ein date, zu vermeiden. Die Szene schließt also mit dem Eindruck, den man von der Heldin erhält, der von ihrer beschleunigten Bewegung und ihrer unabhängigen, individuellen Zeit zeugt. Das „Immer“ der Familie oder der Mitbewohner der Gemeinschaftswohnung ist jene nichtendende Dauer, auf deren Hintergrund sich ihr persönliches Zeit-Bild des Sich-Entziehens entwickelt.

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Abb. 14: Der Einbruch des Regens.

Abb. 15: Die Menge wartet mit der ersten „Uhr“ im Hintergrund.

Abb. 16: Weitere „Uhren“ mit anderen Zeitanzeigen...

Abb. 17: „Schreiben Sie meine Nummer auf... bei uns ist immer jemand zu Hause“, Juliregen, 1967, Marlen Chuciev.

Im Bewegungs-Bild verweist Bewegung “auf intelligible Elemente: Formen oder Ideen, die selbst ewig und unbeweglich sind”, es ist ein “Übergang von einer Form zur anderen, das heißt in einer Ordnung von Posen oder von hervorgehobenen Momenten [sic!] wie in einem Tanz.“27 In den Filmen des Zeit-Bilds gibt es keinen solchermaßen choreographierten Tanz, sondern ein 27

Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 1.

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zielloses, jedoch rhythmisches Tanzen (der Welt), das beispielhaft in Chucievs Film zu finden ist (vgl. Abb. 18). Abb. 18: Party in Juliregen, 1967, Marlen Chuciev.

Das Tanzparkett als Raum für Zeit-Bilder mit nicht-handlungsbetonter Bewegung findet sich auch in den Filmen der tschechischen Neuen Welle wie etwa Miloš Formans frühe Filme, in denen gehäuft Tanzszenen und -Säle firmieren: Der schwarze Petr (Černý Petr, 1963), Die Liebe einer Blondine (Lásky jedné plavovlásky, 1965), Feuerwehrball (Hoří, má panenko, 1968). In Danelijas Film als das Sich-Drehen um die eigene Achse (vgl. Abb. 19, 20). Abb. 19, 20: Tanzen in Zwischenlandung in Moskau, 1963, Georgij Danelija.

In Věra Chytilovás Siebenschönchen (Sedmikrásky, 1966), einem Film, der die (nicht nur tschechische) nouvelle vague bereits auf einer Meta-Ebene verhandelt, findet sich eine Montage von verschiedenen Geräuschen und Klängen, die jedoch Bewegung und Rhythmus voneinander abkoppeln oder den Nexus zwischen ihnen anzweifeln bzw. ganz unterbrechen (in Juliregen wurde die Klang-Montage durch das Drehen am Radiosender motiviert, hier

Das Kino, die Uhr und der Regen

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ist sie durch die Pausen entblößt). Hier findet sich nicht nur eine „Lockerung der sensomotorischen Zusammenhänge“28, sondern sie werden geradezu attackiert: Das (unmotivierte und plötzlich aussetzende) Ticken eines Weckers, das durch das „ne-ne-ne“ (nein-nein-nein) einer der kopfschüttelnden Heldinnen imitiert wird, die kurzen Portionen der offiziell wirkenden Marschmusik auf der Straße, das ironisch aufgeladene Herunterschreiten auf dem roten Teppich auf der Treppe im Rhythmus einer grell wirkenden Musik, die Geräusche der klappernden Absätze, der wackelige Tanz auf dem gedeckten Banketttisch (zu amerikanischer Musik). In Siebenschönchen steigert sich jede Bewegung durch den Raum – in der verdoppelten Fassung – zu einer ironischen Geste, die sich in den verfremdenden Imitationen von metrischen Strukturen (Märschen, Weckern) niederschlägt (vgl. Abb. 21, 22). Man wird diesen Film weniger als ZeitBild denn als Destruktion des Bewegungs-Bilds im Sinne der “Ordnung von Posen”29 verstehen. Abb. 21, 22: Verdoppelte Grimassen der Bewegung in Siebenschönchen, 1966, Věra Chytilová.

28 29

Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M.1991, 14. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 1.

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7. Le temps und L'image-temps: Wetter im Film Betrachtet man die Filme der Neuen Welle in Osteuropa, fällt eines auf: Es ist oft Wetter zu sehen. Dieses Wetter hat eine eigene intensive Schauqualität, es ist v.a. der Regen, der in den Filmen der früheren Jahrzehnte eine andere (meist negative)30 Funktion hatte oder gar nicht in Filmen auftauchte, da Filmen und Regen in gewisser Weise kontraindiziert schienen. Regnerisches Wetter erschwert Außenaufnahmen bzw. war schwer im Studio zu simulieren.31 Realer Regen bedeutet schlechtere Lichtverhältnisse.32 Zugleich ist Regen unter den Wetterformen diejenige, die – gelangt sie in einen Film – am meisten für sich selbst steht. Eine autoreferentielle Form von Wetter. Regen ist ein sich meist über die gesamte Bildfläche erstreckender und in einem autonomen Rhythmus ausbreitender Zustand der Welt. Im Gegensatz zum Sonnenschein, den man nicht selbst sieht, nur in der Reflexion seiner Strahlen auf den gefilmten Objekten. Im osteuropäischen Film finden sich zahlreiche Regen-Szenen etwa in Tarkovskijs Werk, wo auch das Resultat des Regnens außerhalb der Stadt, d.h. der Schlamm, gezeigt wird (v.a. in Andrej Rublev, 1966-71, der zeitgleich mit Juliregen entstanden ist). Neben Chucievs Juliregen tragen weitere Filme der 1960er Jahre das Wort Regen im Titel: Regen (Déšť, ČSSR 1965, Juraj Jakubisko), Verstecken Sie sich nicht, wenn es regnet (Neschovávejte se, když prší, ČSSR 1962, Zbyněk Brynych), der für das slowenische Kino zentrale Film Tanz im Regen (Ples v dežju, 1961, Boštjan Hladnik) und der mazedonische Film Wohin nach dem Regen (Kade po doždot/Kuda posle kiše, 1967, Vladan Slijepčević).

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Regen war oft eine narrative Motivation für die Verlegung der Handlung in einen Innenraum. Kurosawa mischte 1950 Tinte bei: „In Rashomon, he dyed the rain water black with calligraphy ink in order to achieve the effect of heavy rain...“ (zitiert im Film: A.K., Chris Marker, 1985). Im Hollywood-Musical Singing in the rain (1952, Stanley Donen, Gene Kelly) wurde eine Mischung aus Milch und Wasser verwendet, die den Regen dichter aussehen ließ („The rain consisted of a mixture of water and milk so it would show up better on film but it caused Gene Kelly’s wool suit to shrink.“, vgl. url: http://www.imdb.com/title/tt0045152/trivia; 10.10.08). Hier tanzt der verliebte Gene Kelly im und mit dem Regen, was dann von einem Polizisten unterbunden wird. Auch wenn dies nicht die typische Form des Zeit-Bild-Regens ist, weist die Verbindung des „I’m happy again“-Tanzes und des strömenden Regens darauf hin, dass Regen in diesem Film der frühen 50er Jahre nun andere als rein negative, ausschließende oder verhindernde Funktionen annehmen kann (die Flucht vor dem Regen). Lediglich im film noir gab es eine positive Ausnützung von (meist künstlichem) Regen – jedoch eher der regennassen nächtlichen Straßen, die besser Licht reflektierten.

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Regen sorgt für „Wahrnehmungsbilder“33 des Zustandes unserer unmittelbaren Umgebung, er macht zudem die Dinge selbst wahrnehmbar – ohne einer menschlichen Perspektive oder aber der Montage zu bedürfen. Als würden sich die Dinge quasi durch den Regen selbst betrachten bzw. qua Prisma eine Lichtbrechung ermöglichen, die die dahinterliegende Welt in unzähligen Tropfen als eine andere zeigt. Diese natürlichen Prismen sind wiederum auffällig transhuman, nicht an eine individuelle Perspektive gebunden, multiperspektivisch (vgl. Abb. 23). Abb. 23: Die Weiße Taube (Holubice), 1961, František Vláčil.

Auch wenn der Zuschauer – im Gegensatz zum Regenbogeneffekt – meist nicht wirklich durch das Tropfenprisma blicken kann, ist die auf der Leinwand gezeigte Welt insgesamt eine der anderen Wahrnehmung. Und hierin liegt die Besonderheit – in der von der menschlichen Betrachtung völlig unabhängigen Optik der beregneten Welt, mit dem Regen als einer flüssigen und schnell vergänglichen Form des „Materieauges“ (Vertov/Deleuze). Die Vergänglichkeit der Tropfenprismatik ist etwas, was dieses Materieauge mit dem Zeit-Bild selbst verbindet. Der Regen als das temporäre (zeitlich begrenzte) optische Betrachtungsinstrument des Objektes, auf das er fällt oder was – im Falle von Tropfen auf Fenstern – hinter einer durchsichtigen Fläche liegt. Man kann im Regen zudem eine natürliche Analogie zu den optischen Linsensystemen der Kamera feststellen. Regen erinnert zugleich auch an die Flüssigkeit der filmischen Emulsion, ist also doppelt autoreferentiell, was das Filmmedium betrifft. Regen im Film ist somit eines der genuinsten Zeit-Bilder (vgl. Abb. 24, 25). Wir hatten gesagt, dass Uhren durch die Wiederholung von gleichlangen Zeitstücken funktionieren, die durch Hemmung generiert werden. Auch das Regnen scheint ein solcher Produzent von gleichförmigen Intervallen zu sein. 33

„Wahrnehmungsbild“ ist bei Deleuze ein Ausdruck, der Wahrnehmungsereignisse oder -prozesse beschreibt. Das Bild selbst wird als wahrgenommenes präsentiert.

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Doch ist der kleinteilige Regen – im Gegensatz zur mit der durée arbeitenden Sonnenuhr ‒ nicht als natürlicher Zeitmesser verwendbar. Er ist den mechanischen „Schrittreglern“ ähnlich, jedoch in einer Vielheit, die weder diskret genug ist noch ein Kontinuum (dauerhaft). Der Regen ist also weder reine Dauer (durée) noch abstrakte Zeit (temps). Und doch macht er Zeit im Sinne der französischen Wendung, die das Wetter als „gemacht“ auffaßt („il fait mauvais temps”). Abb. 24, 25: Menschliche Schritte und mechanisches Spacing im Regen in Zwischenlandung in Moskau, 1963, Georgij Danelija.

8. Vordergründe und der innere Rhythmus in Zeit-BildEinstellungen Oben war bereits von der innerlich rhythmisierten Einstellung die Rede. Zeit kann tatsächlich durch das Aufteilen des Bilds in Portionen zum Ausdruck gebracht werden – so etwa durch Szenen, die im Wald aufgenommen werden und wo die Einstellung vertikal zerteilt wird –, der horizontalen MontageSyntax entgegenstehend. In Jan Němec’ im 2. Weltkrieg spielenden Film Diamanten der Nacht (Démanty noci, ČSSR 1964) wird das Schreiten (un-)sichtbar gemacht durch die Baumstämme, die eine bildinterne Montage nahelegen (vgl. Abb. 26, 27). Dazu kommt der vertikale Regen, der eine weitere einstellungsinterne Zeitdimension einbaut (vgl. Abb. 28, 29).

Das Kino, die Uhr und der Regen

Abb. 26, 27: Der rhythmisierende Wald als Einstellungsaufteiler in Diamanten der Nacht, 1964, Jan Němec.

Abb. 28, 29: Der Regen im Wald als weitere Zerteilung in Diamanten der Nacht, 1964, Jan Němec.

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Das Aufteilen der Einstellung durch ein gitterartiges Vordergrundraster folgt einige Sequenzen später (vgl. Abb. 30) und semantisiert rückwirkend die Bäume als natürliches Gefängnis (der Wald ist der Raum, in den die Jungen aus dem Lager geflohen sind). Vordergründige Rasterungen der Einstellung finden sich in Filmen bereits am Anfang der Neuen Welle, wo Muster oder Maschen den ganzen Bildraum einnehmen,34 wie im Film Die Weiße Taube (Holubice, ČSSR, 1961, von František Vláčil (vgl. Abb. 31): Abb. 30: Gitterstäbe als Vordergrund in Diamanten der Nacht, 1964, Jan Němec.

Abb. 31: Die Weiße Taube, 1961, František Vláčil.

Es scheint nun, dass diese Vordergrundrasterungen, die im Film ab den 1950er Jahren auftauchen, eine ähnliche zerteilende und zeitgenerierende Funktion haben. Sie wirken ‒ ähnlich wie der Regen ‒ wie in den Bildraum eingeführte Zeit. Sie scheinen visuell zu evozieren, dass die Welt, ja, der Weltraum aus einem Raster besteht – wie die zeitgenössische Physik und 34

Eine solche Vordergrundmusterung findet sich in Filmen des „Bewegungs-Bild“ nur selten, wenn dann als Schatten, d.h. als Funktion der Objekte. Dahingegen finden sich Voiles und Gardinen im Vordergrund bereits im frühen russischen Kino des E. Bauėr (1910er Jahre), dessen Nähe zum „Zeit-Bild“ eine eigene Untersuchung wert wäre (zu Bauėrs Vorhängen vgl. Natascha Drubek-Meyer, Mediale Licht-Ordnungen in der russischen Kultur. Am Beispiel des vorrevolutionären Kinos (Evgenij Bauėr), unveröff. Habilitationsschrift München, 2006, Kap. IV).

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Mathematik ab den 1940er Jahren vermuteten (die die Wechselwirkung von Zellen eines Gitternetzes erforschenden zellulären Automaten von Stanisław Ulam, gefolgt von der mathematischen Spieltheorie John von Neumanns, Konrad Zuses „rechnender Raum“ und neuerdings Stephen Wolframs Theorien). Wolfram35 etwa sieht den Kosmos als einen großen Rechner: der Raum ist kein Kontinuum, sondern ein Gitternetz von winziger Maschenweite. Auch die Zeit verfließt nicht gleichmäßig; sie kommt ruckend voran im Takt eines Metronoms36 (auch im Computerprozessor gibt eine Uhr den Rechentakt vor). Sowohl Regen als auch andere Vordergrundrasterungen der Leinwand wirken somit in den Filmen als Ausdruck dieser Idee von allgegenwärtigen natürlichen oder in die Natur eingebauten Metronome. Es fällt auf, dass in zahlreichen Filmen der osteuropäischen Neuen Welle aus der weiblichen Perspektive erzählt wird, somit auch eine weibliche ZeitPerspektive eingenommen wird. Im Zeit-Bild wird oft der Gegensatz des „natürlichen“ Rhythmus zum künstlich gehemmten Bewegungsablauf als apparativer Grundlage des Kinos ausgespielt. Hier könnte man sich auch nach dem „Geschlecht“ der Bildertypen bei Deleuze fragen: Das Zeit-Bild als Kino der Weiblichkeit wäre durchaus einen Gedanken wert, schon deshalb, da der weibliche Körper mit seinen flüssigen monatlichen Zeit-Zeichen eine kalendarische Funktion haben kann. Das Zyklische vieler Zeit-Bild-Filme ist dem narrativ Gerichteten des Bewegungs-Bilds entgegengesetzt.37 Flüssigkeiten waren v.a. in der Vergangenheit Zeitmesser (etwa in den bis ins 2. Jahrtausend vor Christus zurückgehenden Wasseruhren). Im Film werden sie jedoch zu Tropen von Wiederholung, vergehender Zeit, von Erinnerung oder einem Auseinanderklaffen von Sicht- und Hörbarem. Abb. 32: Regen als Vordergrund in Zwischenlandung in Moskau, 1963, Georgij Danelija.

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Stephen Wolfram, A New Kind of Science, Champaign 2002. Die 1967 entdeckten Neutronensterne mit ihren Radiosignalen gelten als die stabilsten und genauesten Uhren. Pulsare (eine Form der Neutronensterne) werden manchmal auch als kosmische Metronome bezeichnet, nach denen sich die Erduhren stellen lassen. Vgl. zu dieser Entwicklung des späten Vertov N. Drubek-Meyer, Griffiths und Vertovs Wiege. Dziga Vertovs Film Kolybel'naja ‒ Wiegenlied (1937), in: Frauen und Film 1994, 54/55, 31-51.

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9. Der Rhythmus unsichtbarer Meere In den Filmen des tschechischen Regisseurs Vláčil generieren Geräusche von Flüssigkeiten auffällige Beispiele von Ton-Bild-Inkongruenz, die jedoch durch eine rhythmische Einheit überbrückt wird. Zu einer exemplarischen „Lockerung der sensomotorischen Zusammenhänge“38 kommt es in der Endszene des Films von Vláčil, Die Weiße Taube, die ein Panorama der Prager Altstadt vom Atelier eines Künstlers aus zeigt: Man hört die Prager Glocken und zugleich die Wellen der Ostsee. Das Natur-Geräusch der Ostseebrandung verbindet sich harmonisch mit dem Kulturgeräusch der Prager Kirchtürme.39 Doch das Meer ist in diesen Szenen nicht sichtbar – sein Soundtrack leitet sich nur aus der vorangegangenen Teil-Geschichte, die in Fehmarn spielt, ab. Das Hin und Her der Glocken entspricht dem Rhythmus des Wogens der Wellen. Ein ähnliches Verfahren der audio-visuellen Inkongruenz unter Einsatz von Meeresrhythmen wendet Vláčil in seinem späteren Film Tal der Bienen (Údolí včel, 1967) an: Auch hier hört man Wogen am Ende des Films in Böhmen rauschen.40 Das Meer wurde auch hier durch einen vorgängigen parallelen Raum im Film eingeführt – es ist diesmal der mediterrane, der von den Ordensbrüdern durchkreuzte. Vláčil setzt das Meer, das zwischen Europa (hier: Böhmen) und dem Heiligen Land liegt, als Allegorie des Anderen ein. Das Andere ist hier sowohl (das im Film unsichtbare) Jerusalem, das Ziel der Kreuzritter, als auch die Meereswellen, denen sich die beiden Mönche Hand in Hand als weiblichem, vom lunaren Rhythmus bestimmten Element aussetzen (vgl. Abb. 33-36): Das filmische Zeit-Bild der hier angeführten russischen und tschechischen Beispiele der 1960er Jahre ist flüssig und zugleich in Abschnitte zerteilt, die insgesamt die Filmwahrnehmung dehnen – und dies innerhalb der Einstellung. Zeit ist abhängig vom Außen, vom Anderen, vom Betrachter. ZeitBilder haben kein Ziel, doch sind sie rhythmisch oder: Rhythmus ist das Teilen von Zeit und kann so Körper in Bewegung setzen. Zeit ist relativ und lässt sich nur in geschlossenen Systemen verabsolutieren oder in Uhren standardisieren. Kameras als Uhrwerke machen ihr eigenes Zeit-Bild. 38 39

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Deleuze, Das Zeit-Bild, 14. Entsprechend wird in diesem Film Sprache sparsam eingesetzt, und wenn, dann verfremdet: Zum einen durch den Einsatz einer (seltenen) Fremdsprache, des Plattdeutschen, zum anderen durch eine gezielte Verfremdung der (tschechischen) Dialoge durch Echo-Effekte. Die fiktiv-geographische Konzept von “Bohemia. A desert country near the sea” stammt aus Shakespeare The Winter's Tale (1623). Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ entstand in einer ähnlichen Zeit wie Vláčils Film: 1964, veröffentlicht wurde es 1968. In ihm spricht sie von Proben, „Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.“

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Abb. 33-35: Die Kreuzritter und das Meer in Tal der Bienen, 1967, František Vláčil.

Abb. 36: Ondřej am Fluss in Tal der Bienen, 1967, František Vláčil.

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Zu den Beiträgen Der Band versteht sich als Versuchsanordnung, in der zum einen mit Deleuzes Zeit-Bild-Konzept der Bereich der sozialistisch bzw. sozialistischrealistischen geprägten Filmproduktionen Osteuropas so ausgeleuchtet werden kann, dass einige allgemeine spezifische filmpoet(olog)ische Tendenzen und Dynamiken sichtbar werden. Zum anderen geht es in dieser Versuchsanordnung darum, einzelne Schlaglichter auf den osteuropäischen Film in der Zeit zwischen 1945 und 1991 zu werfen und an konkreten Beispielen aufzuzeigen, wie filmische Zeit-Bild-Ordnungen im einzelnen funktionieren und auf welche Weise diese an zeithistorischen, ideologischen, politischen, sozialen oder auch medialen Konstellationen partizipieren.1 Die in dem Band versammelten Beiträge beziehen sich auf jene drei Entwicklungsphasen, die sich bei aller nationalkultureller Spezifik und Dynamik im sozialistischen Osteuropa in der Zeitperiode nach 1945 ausmachen lassen: Nach der Formierung des sozialistischen Osteuropas, bei der allerdings Jugoslawien unter Tito 1948 einen eigenen, von der hegemonialen Führung der Sowjetunion unabhängigen Weg einschlug, lässt sich eine erste Phase der Liberalisierung, des sog. Tauwetters, nach Stalins Tod 1953 bzw. nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 ausmachen, auf dem sich Nikita Chruščev in einer Geheimrede kritisch mit Stalins Politik auseinandersetzte. In dieser bis in die 60er Jahre hineinreichenden Phase wurden sowohl in Russland als auch in den anderen osteuropäischen Staaten Ansätze zu politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen unternommen, denen jedoch dann mit administrativen und polizeilichen Maßnahmen sowie auch mit militäri1

Der Band ist nicht daraufhin angelegt einen umfassenden historischen oder kulturgeographischen Überblick über den Film in Osteuropa zwischen 1945 und 1991 zu geben; dazu vgl. allgemein: Daniel Goulding, The Cinema of Eastern Europe since 1898, Trowbridge 2001; Mira Liehm/Antonín J. Liehm, The Most Important Art: East European Film after 1945, Berkley 1977; im Einzelnen zu Filmkultur und -geschichte in der Sowjetunion vgl. Birgit Beumers, The Cinema of Russia and the Former Soviet Union, London (u.a.) 2007; Christine Engel/Eva Binder (Hrsg.), Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, Weimar 1999; in Jugoslawien bzw. in den ehemals jugoslawischen Regionen vgl.: Bogdan Grabić, Die siebte Kunst auf dem Pulverfass, Graz 1995; Petar Volk, Srpski film, Beograd 1996; Ronald Holloway, Macedonian Film. A History of Macedonian Cinema, 1905-1996, Berlin 1996; Ronald Holloway, Slovenian Film. Slovenian Post-War Cinema 1945-1985, Berlin 1985; in Polen vgl. Charles Ford/Robert M. Hammond, Polish film. A Twentieth Century History, Jefferson, NC (u.a.) 2005. Weiterhin zu Bulgarien und Ungarn: Ronald Holloway, The Bulgarian Cinema, London (u.a.) 1986; Maria Ratschewa/Klaus Eder, Der bulgarische Film ‒ Geschichte und Gegenwart einer Kinematografie, Frankurt/M. 1977; Gyöngyi Balogh, Hungarian Film: A Short History from the Beginning until today, Budapest 1999.

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schen Mitteln durch die sowjetische Rote Armee, wie beim Ungarischen Volksaufstand bereits 1956 oder wie im Falle der tschechoslowakischen Liberalisierungspolitik unter Alexander Dubček, der 1968 ein jähes Ende gesetzt wurde. Die zweite Phase ist gekennzeichnet von einer dogmatischen Konsolidierung, Verhärtung und einer strukturellen Agonie, von der die sozialistischen Systeme Osteuropas zunehmend erfasst werden und die in der Sowjetunion durch den Herrschertypus des sowjetischen Regierungschefs und Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Brežnev, symbolisiert wurde. Diese Phase erstreckt sich von der zweiten Hälfte der 60er Jahre bis zum Beginn der Gorbačev-Ära 1985.2 Eine dritte Periode besteht in dem forcierten Umbau, der sog. Perestrojka, und einer davon ausgehenden rasanten Entropie bzw. einer staatlichen und ökonomischen Neuordnung der vormaligen sozialistischen Systeme. Diese Phase der Destabilisierung und der Transition dauert in den neu formierten Systemen auf den Territorien der ehemaligen osteuropäischen Staaten bis heute an.3 2

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Zur Geschichte des Tauwetters und der Stagnationsperiode der 70er und 80er Jahre vgl. Dietrich Beyrau (Hrsg.), Das Tauwetter und die Folgen: Kultur und Politik in Osteuropa nach 1956, Bremen 1988; Gale Stokes, From Stalinism to Pluralism: A Documentary History of Eastern Europe since 1945, New York (u.a.) 1996; Roger Engelmann/Thomas Großbölting/Hermann Wentker, Kommunismus in der Krise: Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, Göttingen 2008; Oleg A. Grinevskij, Tauwetter: Entspannung, Krisen und neue Eiszeit, Berlin 1996; Helmut Dahm, Der gescheiterte Ausbruch. Entideologisierung und ideologische Gegenreformation in Osteuropa (1960-1980), Baden-Baden 1982; zum osteuropäischen Film des Tauwetters und der Stagnationszeit vgl. Lars Karl, Leinwand zwischen Tauwetter und Frost ‒ Der osteuropäische Spiel- und Dokumentarfilm im Kalten Krieg, Berlin 2007; Alistair Whyte, New Cinema in Eastern Europa, New York 1971; M. J. Stoil, Balkan Cinema: Evolution after the Revolution, Ann Arbor 1982; Eva Binder, Eisensteins Erben: der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953-1991), Innsbruck 2002; Daniel Goulding, Post New Wave Cinema in the Soviet Union and Eastern Europe, Bloomington (u.a) 1989; S. Drobashenko (ed.), Sovetskoe kino 70-e gody, Moscow 1984; Sabine Hänsgen, Vom Pathos des Aufbruchs zur kulturellen Selbstreflexion. Entwicklungstendenzen im sowjetischen Film von der zweiten Hälfte der fünfziger bis in die frühen achtziger Jahre, Bochum 1990; Alexander Prokhorov (Hrsg.), Springtime for Soviet Cinema: Re/Viewing the 1960s, Pittsburgh 2001; Josephine Woll, Real Images: Soviet Cinema and the Thaw, London 2000. Zur Perestrojka-Periode und zur nachsozialistischen Transformation vgl. Ivo Bock, Kultur im Umbruch: Polen – Tschechoslowakei – Russland, Bremen 1992; Archie Brown, Seven Years that Changed the World: Perestoika in Perspective, Oxford (u.a.) 2007; Rainer Deppe (Hrsg.), Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt/M. 1991; Klaus-Detlev Grothusen, Ostmittel- und Südosteuropa im Umbruch, München 1993; Jakob Juchler, Osteuropa im Umbruch: politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen 1989 – 1993, Zürich 1994; zu (Ex)Jugoslawien vgl. Thomas Brey, Jugoslawien am Scheideweg: eine Bilanz jugoslawischer Politik nach Titos Tod, Bonn 1981; Raif Dizdarević, Od smrti Tita do smrti Jugoslavije, Sarajevo 1999. Zum Film vgl. Andrew Horton/Michael Brashinsky, The Zero Hour. Glasnost and Soviet

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Auf die erste Phase der nachstalinistischen Liberalisierung beziehen sich drei Beiträge: Sabine Hänsgens „Doppelbilder. Kanonische und nichtkanonische Darstellungsschichten im Film des Tauwetters“, Peter Deutschmanns „Kristallbilder aus Böhmen – die frühen Filme Miloš Formans“ und Jurij Murašovs „Hier hat die Hand das Auge überholt. Zur Körperlichkeit des filmischen Zeit-Bildes in Dušan Makavejevs Der Mensch ist kein Vogel“. Am Beispiel von Marlen Chucievs Film Ich bin zwanzig Jahre alt/Der Vorposten von Il’ič (Mne dvadcat’ let/Zastava Il’iča, 1959-64) zeigt Hänsgen, wie mit den Erfahrungen des ideologischen und politischen Tauwetters im sowjetischen Film die „großen ideologischen Meistererzählungen“ aufgebrochen und wie die Bewegungs-Bilder des Sozialistischen Realismus, in denen der Handlungsaufbau als Illustration von ideologischen Positionen fungiert, zugunsten einer Filmpoetik zurückgenommen werden, in der die „narrativen Verbindungen“ reduziert sind und in der sich das Filmbild für zufällige Realitätseindrücke und die Wahrnehmung von räumlichen und zeitlichen Qualitäten öffnet. Die Bilder haben nun teil an zwei gegensätzlichen Ordnungen, an einer syntagmatisch-narrativen, logischen und einer lyrischparadigmatischen Ordnung. Geprägt „von dem grundlegenden Widerspruch zwischen einer kanonischen und einer nicht-kanonischen Darstellungsschicht, zwischen Handlung und Poesie“, wird der Film zum „Zeugnis einer Zeit des Umbruchs“. Hänsgen macht aber auch klar, dass in diesem frühen Film Chucievs das Bewegungs-Bild mit seinen politischen Allegorien der Stalinzeit in seiner Grundstruktur nicht aufgegeben, vielmehr eine politische „Gegensymbolik“ entworfen wird. Eben diese „Gegensymbolik“ war es auch, die Nikita Chruščev dazu provozierte, sich persönlich in die Diskussionen um diesen Film einzuschalten. „Die Lockerungen der politischen Einflussnahme auf das kulturelle Leben in der Tschechoslowakei zu Beginn der 60er Jahre“ führen auch hier zu einem „kreativen Aufschwung“ in verschiedenen Bereichen. In weit stärkerem Maße als bei Chuciev lässt sich in Miloš Formans frühen tschechischen Filmen eine Tendenz ausmachen, die Aktions-Klischees des Sozialistischen Realismus dadurch aufzulösen, dass nun optische und akustische Wahrnehmungsprozesse selbst zum Gegenstand des filmischen Bildes werden. Die strikte Geschiedenheit von Gegenwärtigem und Erinnerung im filmischen Fluss der Bilder wird aufgehoben. Formans frühe Filmpoetik – so zeigt Deutschmann – operiert „exakt am Schnittpunkt von Bewegungs- und ZeitBild“ und „an jenem Übergang, wo der in einer durée stehende Organismus auf die aktuelle Gegenwart trifft.“ Deutschmann entwickelt seine Argumentation in zwei Richtungen. Einerseits nimmt er eine auf Bergsons Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Bildtheorie zurückführende theoretische Erkuncinema in Transition, Princeton 1992; Anna Lawton, Kinoglasnost: Soviet Cinema in Our Time, New York 1992.

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dung von Deleuzes Zeit- und Kristall-Bild vor, um damit die analytische Relevanz und Operationalisierbarkeit dieser Konzepte sichtbar zu machen. Andererseits geht es um Formans frühe Filme, resp. um eine eingehende Analyse von Schwarzer Peter (Černý Petr, 1963). Diese zielt auf die „kristallinen“ Bildstrukturen, die von Wechselbeziehungen zwischen authentischen und kinematographischen Wirklichkeiten, zwischen aktueller Wahrnehmung und virtuellen (Erinnerungs- oder Vorstellungs-)Bildern geprägt sind. Eine wichtige Funktion in diesen Forman’schen Kristall-Bildern kommt dabei der Musik und dem Einsatz von Laiendarstellern zu. Während die überwiegende Zahl der Beiträge auf die kristallinen Überlagerungsstrukturen von Aktuellem und Virtuellem in den Zeit-Bildern des osteuropäischen Films fokussieren, beschäftigt sich Jurij Murašovs Beitrag zum frühen Film des serbischen Jugoslawen Dušan Makavejev Der Mensch ist kein Vogel (Čovek nije tica, 1965) mit dem Problem der Körperlichkeit im Zeit-Bild, das auf markante Weise das gesamte Filmwerk des Regisseurs beherrscht. Diese Körperlichkeit figuriert dabei nicht nur auf der Ebene der Motive und Sujets, sondern generiert spezifische Bildstrukturen, bei denen die Visualität an haptische Wahrnehmungsdimensionen rückgebunden wird. Das Umschalten von Seh- auf Tast-Bilder geht einher mit der Auflösung des sozialistisch-realistischen Aufbau- und Arbeitsheldennarrativs. Und in dem Maße, wie Makavejevs Filmbilder Einspruch gegen die jugosozialistische Dogmatik erheben, korrespondieren sie in gewisser Weise mit Positionen und Argumentationslinien der systemkritischen, sog. jugoslawischen Praxisphilosophie, die mit ihrer gleichnamigen Zeitschrift Praxis von 1964 bis 1974 unter den linken, kritischen Intellektuellen in Ost und West gleichermaßen nachhaltig wirksam war. Der Phase der ideologischen Konsolidierung, der Erstarrung und der Agonie in den osteuropäischen Systemen lassen sich drei Beiträge zuordnen: Oleg Aronsons „Das Zeit-Bild und die Bilder des Sowjetischen“, Bernhard Hartmanns/Holt Meyers „Die Wissenschaft vom Kristall. Die Inszenierung der Evidenz bei Krzysztof Zanussi“ und schließlich Eva Binders „Zeit-Bilder und Erinnerungsräume in Andrej Tarkovskijs Der Spiegel“. In der Spaltung der Kultur in einen offiziellen und inoffiziellen Bereich, die die Erstarrung des sowjetischen Systems hervorbrachte, gewann gerade das Private, Periphere, Flüchtige, Beiläufige und Zufällige an Brisanz. Eben davon handelt Marlen Chucievs, nach Ende der Tauwetterperiode in der frühen Brežnev-Zeit entstandene Film Juliregen (Ijul’skij dožd’, 1967). Aronson illustriert mit diesem Film, dass das Zeit-Bild, das in einer Atmosphäre politischer Liberalisierung als Auflösung der sozialistisch-realistischen, narrativen Bewegungs-Bilder entstanden ist, nun keineswegs verschwindet, sondern – im Gegenteil – an Prägnanz gewinnt. Das Entscheidende in Aronsons Überlegungen besteht darin, dass er die filmischen Zeit-Bild-Strukturen mit

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einem eigentümlichen „Mechanismus des Sozialen“ in Verbindung bringt, der dem Sowjetischen jenseits des Ideologischen, Politischen und Ökonomischen eigen ist. In der Zeit-Bild-Struktur entdeckt Aronson ein Prinzip der Gemeinschaftsstiftung des Sowjetischen, das weniger auf kollektiven Symbolen und narrativen Konstruktionen, also der Repräsentation, beruht, als auf bestimmten, durch die Bildstruktur induzierten performativen Effekten der Verschränkung von Individuation und Vergemeinschaftung. Dies gibt Aronson Anlass zu der These, dass das „Zeit-Bild des Sowjetischen“, das im Film der Brežnev-Zeit entsteht, seine Fortsetzung in den ästhetisch als auch ideologisch so unterschiedlich ausgerichteten Produktionen Andrej Tarkovskijs, Aleksej Germans, Sergej Paradžanovs oder Kira Muratovas finden kann und sogar darüber hinaus einen Bildtypus der modernen, zeitgenössischen Medienkultur darstellt, in dem ein spezifischer performativer Mechanismus des Sozialen wirksam ist. Die Liberalisierungsphase, die in Polen 1963 mit dem vom polnischen KP-Parteichef Gomułka proklamierten nationalspezifischen Sozialismus begonnen hatte, endet mit der vom Innenminister Mieczysław Moczar angeordneten Niederschlagung der Studentenunruhen von 1968. Die ideologische und gesellschaftliche Verhärtung, die nun einsetzt, reflektiert Krzysztof Zanussis 1969 fertiggestellter Film Die Struktur des Kristalls – ein Film, dem, wie Hartmann/Meyer in ihrem Beitrag zeigen, gleichzeitig eine bedeutende Rolle in Deleuzes Ausformulierung jenes „Kristall“-Konzepts zukommt, das im Zentrum seiner Überlegungen zum filmischen Zeit-Bild steht. Hartmanns/Meyers Beitrag basiert auf einer wohl kalkulierten Konfrontation eines close-reading von einschlägigen Passagen aus Deleuzes Filmbuch einerseits mit analytischen Befunden von Zanussis Film andererseits. Die Autoren machen Bruchstellen und Reduktionen in Deleuzes filmphilosophischem Zugriff auf Zanussi aus, die vor allem die unangemessene Festlegung von Zanussis Œuvre auf das Wissenschafts-Sujet und das Ausblenden von kulturhistorischen Kontexten betreffen. Andererseits aber lassen sie die Relevanz von Deleuzes Kristall-Bild-Konzeption für eine Analyse der „weitreichenden theoretischen Implikationen“ von Zanussis Struktur des Kristalls sichtbar werden. Die „historische oder historiographische Pointe“ dieser wechselseitigen Spiegelung von Deleuzes philosophischem „cristal“ und Zanussis filmpoetischem „kryształ“ besteht in dem Befund von entgegengesetzten Entwicklungsdynamiken: Während das Kristall-Bild bei Deleuze als Zielpunkt einer filmpoetischen Teleologie erscheint, stellt die Struktur des Kristalls im Hinblick auf Zanussis Werk und die folgenden polnischen Regisseure wie Kieślowski den Beginn einer Entwicklung dar, bei der die ästhetische Selbstbezüglichkeit (wieder) zugunsten ethischer Referenzen reduziert wird.

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An Aronsons These, dass das Kino der späten 60er Jahre mit seinen „Bildern des Sowjetischen“ einen Bildtypus ausprägt, der auf eigentümliche Weise Individuation und Gemeinschaftlichkeit ineinander verschränkt, setzt Binder mit ihrem Beitrag Zeit-Bilder und Erinnerungsräume in Tarkovskijs „Der Spiegel“ an. Für Tarkovskij ist gerade der Film als Zeit-Bild-Kunst prädestiniert, das individuelle Erinnern auf das kollektive Gedächtnis hin zu öffnen und die entfremdeten Formen der offiziellen Geschichtsschreibung so zu durchdringen, dass jene Elemente hervortreten, an denen sich ein neues (spirituell begründetes) kollektives Gedächtnis zu formen vermag. Nicht die logisch-räumlichen Strukturen der Narration von Bewegungs-Bildern, sondern die Zeit in ihrer performativen Dimension konstituieren Tarkovskijs filmisches Bildkonzept. Wenngleich offensichtliche Parallelen zu Deleuzes Zeit-Bild vorliegen und Tarkovskij „formalästhetisch dem modernen Kino zugeordnet werden“ kann, könnten „weltanschaulich die Differenzen nicht größer sein“. Ähnlich wie in Hartmanns/Meyers Konfrontation von Deleuzes und Zanussis Kristall-Konzepten, zeigt auch Binder hier, dass die Idee einer linearen Entwicklungsgeschichte des Kinos, an der Deleuze selbst partizipiert und die er einer Naturgeschichte vergleichbar auch für den Film entwirft, nicht mehr selbstverständlich funktioniert, wenn in einem weiteren Horizont verschiedene Filmkulturen und -geschichten in den Blick genommen werden. Das Ende der Brežnev-Ära und das Ende des Sozialismus in Osteuropa stellen sich weniger als allmähliche Übergänge in eine Phase politischer, ökonomischer und sozialer Transformation, sondern eher als eine sprunghafte Zunahme von Ereignisdichte dar, die sich regulierenden und planenden Handlungseingriffen zu entziehen scheint. Die Beschleunigung von Kreisläufen des Ereignens, Beobachtens, Kommunizierens und Handelns im Bereich von Politik, Wirtschaft und Kultur und die chaotische Gegenläufigkeit von rapider Erosion alter Strukturen einerseits und von diffusem Emergieren neuer Formationen andererseits verweist auf grundlegende Probleme von Zeitlichkeit. Der Band bringt zwei Beispiele dafür, wie der osteuropäische Film diese drängende Zeitproblematik der ausgehenden 80er und der beginnenden 90er Jahre bearbeitet und wie dabei Zeitlichkeit jeweils unterschiedlich semantisch und ideologisch besetzt wird. Im ersten Beispiel beschäftigt sich Tanja Zimmermann in ihrem Beitrag Film als Ornament mit Raum-Zeit-Strukturen in Emir Kusturicas 1989 entstandenem Film Zeit der Zigeuner. In der theorie- und kunstgeschichtlichen Perspektive, die bereits von den Beiträgen Deutschmanns und Hartmanns/Meyers zum tschechischen bzw. polnischen Film eröffnet worden ist, zeigt Zimmermann zunächst, wie in Deleuzes Kristallbild jene Überlegungen zu Raum-Zeit-Konfigurationen des Ornaments eingegangen sind, die bereits in Wilhelm Worringers Kunstphilosophie sowie in der Film- und Literaturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt worden sind und die – so ließe

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sich hinzufügen – Schwellenerfahrungen der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts als ein heikles Gegen- und Miteinander von unterschiedlichen Zeitordnungen reflektieren. Eben dieses zyklische Moment des Ornaments prägt auch die Poetik von Kusturicas Film. Die innere Dynamik des BewegungsBilds wird dabei so forciert, dass es seine teleologische Gerichtetheit zugunsten diffuser, sich wechselseitig verstärkender und sich so letztlich stillstellender Bewegungen verliert. Das Bewegungs-Bild erstarrt im ornamentalen Kristall-Bild. Das Ineinander von forcierter Dynamik und Agonie trifft nicht nur einen wesentlichen Zug von Kusturicas Filmpoetik, den man auch in seinen anderen Filmen, in dem gleichfalls im Milieu der Roma spielenden Film Schwarze Katze, weiße Katze (1998) oder in seinem politisch so umstrittenen Film Underground (1995) ausmachen kann. Vielmehr verweist er auf jene spezifische jugoslawisch-serbische Zeit- und Geschichtserfahrung der ausgehenden 1980er Jahre, die gleichfalls von einer eigentümlichen Gegenläufigkeit geprägt war: 1989, in dem Jahr, als in Mittel- und Osteuropa die kommunistischen Systeme kollabieren, gelingt es Slobodan Milošević, sich gegen den moderaten Flügel seiner Partei, der eine Art Perestrojka angesteuert hatte, und gegen seinen politischen Ziehvater und langjährigen Freund Ivan Stambolić durchzusetzen und so „die gesellschaftlichen Grundlagen und die Machtstrukturen der kommunistischen Ära in die neue Epoche hinüberzuretten.“4 Diese Gegenläufigkeit von historischer Zeit, die sich im jugoslawischen Serbien Ende der 80er Jahre beobachten lässt, korrespondiert auf signifikante Weise mit Zimmermanns Befund von der „schwebenden“ oder „stillgestellten“ Zeit in Kusturicas Film. Während Kusturicas Filme mit obsessiver Gegenwärtigkeit auf die historisch-politische Zeiterfahrung im jugoslawischen Serbien reagieren, lässt sich im nachsowjetischen Film eine Tendenz zur Entgrenzung und (Sinn-)Entleerung des Gegenwärtigen beobachten. In verschiedenen Konstellationen wird in den russischen, nachsowjetischen filmischen Arbeiten von Aleksandr Sokurov, Aleksej German oder auch Kira Muratova das problematische Verhältnis von Gegenwart und historischer und/oder persönlicher Vergangenheit erkundet – ein Verhältnis, in dem die Versuche einer persönlichen oder historisch-sozialen Selbstversicherung im Jetzt durch Rekurse auf Vergangenes auf fatale Weise ins Leere führen. Unter neuen Bedingungen wird dabei Tarkovskijs Bild-Poetik der Dehnung, Verlangsamung und Stillstellung von Zeit fortgeführt und variiert. Ein markantes Beispiel für eine solche sinnentleerte Gegenwärtigkeit analysiert Birgit Beumers in ihrem Beitrag Die Blume im Staub. Das Zeit-Bild in Rustam Chamdamovs „Anna Karamazoff“. Wenn in Tarkovskijs Film Spiegel gegen die Starrheit der offiziellen, sowjetischen 4

Vgl. Matthias Rüb, Jugoslawien unter Milošević, in: Dunja Melčić (Hrsg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden 2007, 327-343, hier: 327.

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Geschichtsschreibung noch das Ethos einer möglichen russisch-spirituellen Gemeinschaftlichkeit herauspräpariert wird, dann erscheint in Chamdamovs Film Anna Karamazoff (1991) die Sinn gebende Zeitordnung Vergangenheit ‒ Gegenwart ‒ Zukunft nun als völlig aufgelöst. Die angestrengten Erinnerungsprozeduren auf der Ebene der Figuren, der Handlung und der Narration können nur noch „die Abwesenheit von Vergangenheit“ zu Tage fördern. Mit diesem Annullieren „temporärer Schichtung“ geht ein Leerlaufen und Scheitern aller Kommunikation ebenso einher wie die Verunmöglichung von Identitätsbildung und -stabilisierung. Im Rahmen von Deleuzes Kristall-BildKonzept und der hier bedachten Ununterscheidbarkeit des „aktuellen“ und „virtuellen“ Filmbildes macht Beumers’ Analyse klar, wie das spezielle Zeitkonzept bei Chamdamov auch den Fiktionalitätsstatus des Films tangiert und permanente Verkehrungen von Kunstfiktion und Lebensrealität in Szene setzt. Wenn man versucht, die Ergebnisse der experimentellen Konfrontation von Deleuzes filmphilosophischem Zeit-Bild mit unterschiedlichen Produktionen des osteuropäischen Kinos zwischen 1945 und 1991 zu resümieren, dann sind es vor allem zwei Momente, die festzuhalten wären. Das erste Moment betrifft die Affinität des osteuropäischen Films zu poetischen Strukturen, die Deleuze unter dem Begriff des Zeit- und KristallBildes fasst. Das Zeit-Bild und seine beiden konstitutiven Elemente – das Antinarrativ-Performative und die unter dem Druck der materiell-physiologischen Wahrnehmungsprozesse hergestellte Ununterscheidbarkeit von aktuellen und virtuellen (mentalen, inneren) Bildern – stellen offensichtlich eine Repräsentationsform von Zeit und eine Erfahrung von Zeitordnung dar, die für die sozialistisch-osteuropäischen Kulturen signifikant zu sein scheint. Frappierend dabei ist, dass diese spezifische filmische Zeit-Bild-Ordnung und -Erfahrung zunächst im Rahmen und unter den Bedingungen des staatlich sanktionierten Sozialistischen Realismus entsteht und dann von den 50er bis zu den 90er Jahren unabhängig von den jeweiligen politisch-ideologischen Orientierungen der einzelnen Entwicklungsphasen der osteuropäischen Systeme kontinuierlich an Virulenz gewinnt. Blickt man durch das Prisma des Genres Film auf die Entwicklung der osteuropäischen Kulturen und das historische Scheitern der sozialistischen Systeme, dann liegt sogar der Schluss nahe, dass diese Systeme, indem sie in ihren (filmischen, literarischen und künstlerischen) Selbstentwürfen Wahrhaftigkeit durch das Verstärken antinarrativer Strukturen und des Performativen herzustellen versuchen und sich damit einer der Bedingungen des Fiktionalen sich versichernden Arbeit an Geschichten und Geschichte entziehen, bereits von Anfang an von der Unmöglichkeit und vom katastrophischen Ende auch ihrer eigenen Realgeschichte künden. Bereits seit den 40er und 50er Jahren artikulieren sich in den Zeit-Bildern des osteuropäischen Kinos jene Probleme geschichtsloser Gegenwärtigkeit, mit der sich heute, nach dem Ende des

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Sozialismus, die osteuropäischen Nachfolgesysteme konfrontiert sehen und auf die sie mit forcierten (Re-)Konstruktionen von historischen, regionalen, nationalen, ethnischen, religiösen etc. Identitäten zu reagieren versuchen. Zweitens wirft die produktive Anwendbarkeit des Zeit-Bilds auf das osteuropäische Kino Licht auf die innere Konsistenz von Deleuzes Filmtheorie und vermag auch deren Gültigkeitshorizont auszuleuchten. Im Rahmen von Deleuzes philosophischer Argumentation stellt sich das Verhältnis zwischen Bewegungs-Bild und Zeit-Bild durchaus funktional und plausibel dar: Während dem Bewegungs-Bild mit seiner narrativ-logischen bzw. syntaktischen Struktur für die philosophische Erkundung von mentalen Prozessen, auf die es Deleuze eigentlich ankommt, eine nur illustrative Funktion zukommen kann, weist das Zeit-Bild insofern erhebliche philosophische Brisanz auf, da es die visuellen und akustischen Wahrnehmungsprozesse und damit den Vollzug von Zeit als Bedingung von Wahrnehmung als dem Anderen des Denkens in Bildern „kristallisiert“ und so philosophisch „lesbar“ werden lässt. Gerade in diesem Punkt vermag Deleuzes Zeit-Bild-Konzept eine enorme analytische Sensibilität für wahrnehmungsphysiologische und mediale Konstitutionsbedingungen des filmischen Bildes zu entwickeln, die über die analytischen Möglichkeiten der traditionellen Filmsemiotik hinausgehen. Hieraus erklärt sich auch die Produktivität von Deleuzes Zeit-Bild für die Untersuchung des osteuropäischen Films, indem es zu zeigen vermag, dass es weniger die „Filmsprache“ als vielmehr der eigentümliche wahrnehmungsphysiologisch-mediale Aufbau ist, was die Filmarbeiten in den sozialistischen Systemen auszeichnet. Dies ist auch der Punkt, an dem sich Deleuzes filmphilosophisches Konzept auf die Frage nach den Bedingungsformen von Film-Kulturen medientheoretisch und -anthropologisch weiterentwickeln ließe. In dieser Perspektive wären Film-Kulturen weniger in der (nationalen, regionalen oder zeitlich-epochalen) Spezifik ihrer Geschichten, Sujets, Motive, also in der Logik von Bedeutungsstrukturen, zu erfassen, als vielmehr daraufhin zu untersuchen, in welcher Relation die Bezüge auf visuelle und akustische Wahrnehmung zueinander und zur erzählten Geschichte, d. h. zum Prozess der Narration stehen. Die Narration erweist sich hier als Effekt der Wechselbeziehungen, in die visuelle und akustische Wahrnehmungen im filmischen Bild sowie in der zeitlichen Bildfolge zueinander gebracht werden. Gleichzeitig sind es aber diese weitreichenden theoretischen Perspektiven, die die filmhistorische und -teleologische Konstruktion in Frage stellen, in der Bewegungs- und Zeit-Bild bei Deleuze angeordnet werden. Und gerade auch der Blick auf das osteuropäische Kino legt die Vermutung nahe, dass Bewegungs- und Zeit-Bild nicht in der von Deleuze angenommenen, naturgeschichtlich notwendigen Entwicklungsfolge stehen, sondern eher zwei differente Bild-Typen darstellen – zwei unterschiedliche filmische Formen des In-Bezug-Setzens von Erzählen und Wahrnehmen.

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Vielleicht könnte eine weitere theoretische Herausforderung des Experiments, Deleuzes philosophischen Entwurf des Bewegungs- und Zeit-Bilds auf die osteuropäische Filmkultur nach 1945 zu beziehen, schließlich auch darin bestehen, die Erzähl- und Medientheorie in dem Horizont einer Theorie der (Film-)Kulturen zusammenzuführen.

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Doppelbilder Kanonische und nicht-kanonische Darstellungsschichten im sowjetischen Film des Tauwetters Die Bewegung zur Erneuerung der Filmkultur nach dem Zweiten Weltkrieg kann sowohl in Westeuropa als auch in Osteuropa als eine Reaktion auf die Funktionalisierung des Kinos in der Propaganda der totalitären Kulturen angesehen werden. Aus den Schriften jener Theoretiker und Kritiker, die den filmischen Aufbruchsprozess begleiteten und die Auseinandersetzung mit kanonisch gewordenen Darstellungskonventionen ästhetisch begründeten, ist dies deutlich herauszulesen. In Siegfried Kracauers Theorie des Films mit dem programmatischen Untertitel „Die Errettung der physischen Realität“ heißt es: Wenn man für einen Augenblick artikulierte Glaubensinhalte, ideologische Ziele, besondere Unternehmungen und dergleichen beiseite lässt, so bleiben immer noch die Sorgen und Befriedigungen, Zwiste und Feste, Bedürfnisse und Bestrebungen, die jeder Tag mit sich bringt. Als Produkte von Gewohnheiten und mikroskopisch kleinen Wechselwirkungen bilden sie ein elastisches Gewebe, das sich nur langsam ändert, das Kriege, Epidemien, Erdbeben und Revolutionen überlebt. Filme tendieren dazu, dieses Gewebe des täglichen Lebens zu entfalten […].1

In der Polemik gegen die Verwendung des Films zur Illustration großer ideologischer Ganzheitskonstruktionen stellt Kracauer die Fähigkeit des Mediums zur Schaffung visueller Evidenzen heraus: Der Film kann das, was ist, sichtbar werden lassen. Es wird ein Erkenntnisprozess von unten nach oben initiiert, und durch die Auskundschaftung des Sichtbaren, der physischen Details soll über die umgebende dingliche und soziale Realität Aufschluss gewonnen werden. Die alltägliche Wirklichkeit ist dabei durch ein Unterlaufen der Konventionen sprachlicher Bezeichnung und künstlerischer Darstellung als Rohmaterial im „Fluss zufälliger Ereignisse, verstreuter Objekte und namenloser Formen“2 wiederzuentdecken. Ähnlich wie Siegfried Kracauer betont auch André Bazin in seinen Essays aus der Sammlung Was ist Film? (Qu’est-ce que le cinéma?) als evidenzstiftendes Moment die fotografische Natur des Filmbildes, das einen quasi-mechanischen Abdruck der äußeren 1 2

Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1985, 394. Ebd., 393.

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Realität darstellt. Darüber hinaus kritisiert Bazin insbesondere den Montagefilm, der aus seiner Sicht durch die Zerstückelung des visuellen Kontinuums nicht nur das Material, sondern auch die Zuschauer überwältigt, indem er ihnen bestimmte Sinnverbindungen aufzwingt. Dagegen setzt Bazin die Tradition des ontologischen Films, bei dem in Plansequenzen aufgrund der Tiefenschärfe des Bildes lange ungeschnittene Einstellungen realisiert werden können, die den zeitlichen Ablauf wiedergeben und die Mitwirkung der Zuschauer an einem offenen Sinnbildungsprozess ermöglichen. Bei Bazin wird der Film als Medium der Dauer entworfen: „Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, es ist gleichsam die Mumie der Veränderung.“3 Während für die westeuropäische Filmkultur der Zweite Weltkrieg die zentrale historische Zäsur markiert, bezieht sich der entscheidende Einschnitt in der Geschichte des sowjetischen Films auf die gesellschaftliche Aufbruchphase des Tauwetters nach Stalins Tod 1953. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 hielt Nikita Chruščev eine Geheimrede, in der er mit dem Personenkult, dem Massenterror und der Geschichtsfälschung im Stalinismus abrechnete. Dies eröffnete auch Möglichkeiten zu Veränderungen im Bereich der Kultur.4 Neue ästhetische Positionen wurden von der sowjetischen Filmtheorie und Kritik vor allem in der Auseinandersetzung mit den etablierten Formen des sozialistischen Realismus formuliert, der als eine Art Virtualisierungsmaschine funktionierte, die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion außer Kraft setzte. Im sozialistischen Realismus wurde nicht gezeigt, wie die Welt war, sondern wie sie sein sollte. Dabei bildete sich ein mythologisches System heraus, das den Filmbildern ihre visuelle Evidenz und reale Substanz durch die Übersetzung in eine abstrakte, symbolische Dimension nahm.5 Letztlich erschien Stalin in der Sowjetmythologie als Personifizierung der an ihr Ende gekommenen Geschichte.6 Vor diesem Hintergrund entstand im Tauwetter das Bedürfnis nach einer Annäherung an die über Jahrzehnte ausgeblendete Realität. In der Reaktion auf die Künstlichkeit des sozialistisch-realistischen Kanons im Spätstalinismus, die den Verlust jeglicher Beziehung zur eigenen Lebenswirklichkeit zur 3 4 5

6

André Bazin, Ontologie des photographischen Bildes (1945), in: ders., Was ist Film? Hg. v. Robert Fischer, Berlin 2004, 33-42, hier: 39. Vgl. Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hg.), Entstalinierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt/M. 1977. Zur Sowjetmythologie vgl. Katerina Clark, The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago, London 1981 und allgemein zum Kanon des sozialistischen Realismus: Evgenij Dobrenko/Chans Gjunter [Hans Günther] (Hg.), Socrealističeskij kanon, SanktPeterburg 2000. Darauf machte André Bazin bereits sehr früh in seinem Aufsatz über den Stalin-Mythos im Film aufmerksam: André Bazin, Le mythe de Staline dans le cinéma soviétique, in: Esprit, juillet – août 1950.

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Folge hatte, kam es unter den Postulaten von „Natürlichkeit“, „Aufrichtigkeit“ und „Ehrlichkeit“ (estestvennost’, iskrennost’, čestnost’)7 zu einer neuen Sensibilisierung für die Alltagswirklichkeit, die mit einer Subjektivierung der Wahrnehmung verbunden war. Kennzeichnend für die Tauwetterströmung im sowjetischen Film waren die Entdeckung und Erkundung alltäglicher Interieurs und Exterieurs, das Hinausgehen aus einem künstlich in den Filmstudios geschaffenen Illusionsraum, Verzicht auf theatralische Schauspielkunst und das Eintauchen der Kamera in den Strom des alltäglichen Lebens: „Freie Montage, eine frei bewegliche Kamera, die Beobachtung des echten Lebens, die Absage an gemalte Dekorationen – all das machte den Film zu einem unersetzlichen Mittel zur Erforschung der Gegenwart.“8 Dieses Bekenntnis zu einer natürlichen Filmpoetik, die sich auf die dokumentarische Suche nach Spuren einer authentisch erfahrbaren Realität begab, stammt von Michail Romm, der als eine der Vater- und Lehrerfiguren der nachwachsenden Generation betrachtet werden kann. In seinem Kompilationsfilm Der gewöhnliche Faschismus (Obyknovennyj fašizm, 1965) setzte er sich indirekt auch mit der eigenen Vergangenheit als Regisseur in der Stalinzeit auseinander, denn es waren nicht zuletzt seine Spielfilme Lenin im Oktober (Lenin v oktjabre, 1937) und Lenin im Jahre 1918 (Lenin v 1918 godu, 1939), mit denen er in den 1930er Jahren in einer Uminterpretation historischer Fakten über den Leninkult den Stalinkult im sowjetischen Film etabliert hatte. Bei der weiteren Ausformulierung der neuen ästhetischen Positionen fand zumindest eine vorsichtige Rehabilitierung der im sozialistischen Realismus nicht-kanonisierten Gegenpositionen statt. So knüpfte der Tauwetterfilm nicht nur an die dokumentarische Filmpraxis, sondern auch an die in den 1920er Jahren entwickelte Konzeption des poetischen Films an. In seiner Poetik der Filmkunst (Poėtika kinoiskusstva)9, die auf einer Gegenüberstellung von Erzählung und Metapher (povestvovanie i metafora) im Film basiert, werden von Efim Dobin die Auseinandersetzungen zwischen Vertretern von Prosa und Poesie in der sowjetischen Filmgeschichte nachgezeichnet. Unter dem Etikett Poesie verstanden die avantgardistischen Filmpioniere den Einsatz originär filmsprachlicher Darstellungsmittel zur Rhythmus-, Assoziations-, und Metaphernbildung, aber auch zur Erzeugung von Stimmungen, Emotionen oder einer besonderen Atmosphäre im Zusammenwirken von Bild und Ton. Für Viktor Šklovskij, den Filmtheoretiker des Formalismus, war die Unterscheidung von Prosa (Dominanz der in den 7 8 9

Vgl. A. Sokol'skaja (u.a.), Molodye režissery sovetskogo kino (Sbornik statej), Leningrad, Moskau 1962. Michail Romm, Besedy o kino, Moskau 1964, 275. Efim Dobin, Poėtika kinoiskusstva. Povestvovanie i metafora, Moskau 1961.

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Handlungsschemata vorgegebenen Bedeutungen) und Poesie (Dominanz der filmischen Verfahren als solcher) sogar grundlegend für eine Einteilung der Gattungen überhaupt: Ich wiederhole: Es gibt ein Kino der Prosa und ein Kino der Poesie – und dies ist eine grundlegende Einteilung der Gattungen. Sie unterscheiden sich nicht durch den Rhythmus bzw. nicht durch den Rhythmus allein, sondern durch die Vorherrschaft technisch-formaler Momente (im poetischen Film) über semantische. Die formalen Momente ersetzen hierbei die semantischen, indem sie die Komposition zur Lösung bringen. Der sujetlose Film ist der „vershafte“ Film.10

In der Diskussion, die von 1931 bis 1934 während des Kanonisierungsprozesses des sozialistischen Realismus zwischen Vertretern von Poesie und Prosa im Film geführt wurde, trat Sergej Ėjzenštejn als leidenschaftlicher Verteidiger der poetischen Tradition im Film auf. Auf seine frühe Polemik gegen die Eindimensionalität der sich herausbildenden Handlungsschemata, gegen Standardisierung und Klischeebildung wurde in der Diskussion des Tauwetters nicht zuletzt auch als Äußerung einer filmischen Autorität Bezug genommen: Der poetische Charakter der Filmform ist verlorengegangen. Vor uns haben wir Protokolle über die Taten der Handlungspersonen […]. Die Filmleinwand hörte auf, eine Filmleinwand zu sein. Sie wurde zu einem viereckigen Leinentuch von verdächtig weißer Färbung – mehr nicht. Auf ihr bewegen sich graue Menschenschatten.11

Ėjzenštejns Äußerung ist als Kritik am Postulat der Sujethaftigkeit (sjužetnost’) im sozialistisch-realistischen Kanon zu verstehen, das vom künstlerischen Narrativ die Abbildung eines vorgegebenen ideologischen Handlungsschemas forderte: Das Sujet fungierte hier gewissermaßen als narrative Realisierung eines ideologischen Programms.12 Die Erneuerungsbewegung im Tauwetter nahm die Gegenpositionen zur stalinistischen Filmpoetik wieder auf. Sie formierte sich unter dem Begriff „Film ohne Intrige“ (Fil’m bez intrigi), der durch den Titel eines in den 1960er Jahren vielbeachteten Buchs des Filmkritikers Viktor Demin geprägt wurde. Bei der Bestimmung der eigenen Position geht Demin von einer Analyse der Muster des klassischen sozialistisch-realistischen Films aus (teleologisches Erfolgshandlungsschema, Verknüpfung eines Produktionsstrangs mit einer Liebesintrige, binäre Figurenkonstellation – Vertreter einer alten Ord10

11 12

Viktor Šklovskij, Poesie und Prosa im Film (1927), in: Wolfgang Beilenhoff (Hg.), Poetika kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, Frankfurt/M. 2005, 130-133, hier: 132-133. Sergej Eisenstein, Das Mittlere von Dreien (1934), in: Hans-Joachim Schlegel (Hg.), Schriften 1, München 1975, 238-273, hier: 272. Vgl. Hans Günther, Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der dreißiger Jahre, Stuttgart 1984, insbesondere das Kapitel: Die Diskussion über Joyce, Dos Passos und die Sujethaftigkeit, 68-80.

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nung vs. Vertreter einer neuen Ordnung, Freund vs. Feind) und beschreibt ironisch deren Fortleben in einer wie am Fließband hergestellten trivialen Massenfilmproduktion: „Es wurde eine Fabelformel geschaffen, in die man jedes thematische Material, jede plötzlich auftauchende Idee, jeden Charakter hineinjagen kann.“13 Unter dem Etikett „Film ohne Intrige“ profiliert Demin im Gegensatz dazu eine Tendenz zum „fabellosen Sujet“ (besfabul’nyj sjužet)14, oder wie es auch anders heißt, zu einer „beschreibenden Dramaturgie“ (opisatel’naja dramaturgija), die verschiedene konkrete Ausprägungen aufweisen kann: Die großen ideologischen Meistererzählungen werden aufgebrochen, und es gibt keine durchgehende Handlung mehr, nur noch lose Verbindungen von Episoden und Situationen, die häufig durch die Bewegung der Figur aneinandergereiht sind. Dies führt zu einer Öffnung für zufällige Realitätseindrücke. Durch die Reduzierung der narrativen Verbindung gewinnen dabei Außerfabelelemente (vnefabul’nye ėlementy), die in Analogie zur Literatur als Beschreibung von Landschaft, Wohnraum, Personen, Kleidung usw. konzeptualisiert werden, zunehmend an Bedeutung. Die Filmtheoretiker und Kritiker der Nachkriegsepoche haben ihre ästhetischen Positionen – häufig auch in Form von Essays oder kürzeren feuilletonistischen Texten – ohne eine systematische Begründung unter dem unmittelbaren Eindruck der Innovationen in der filmischen Praxis formuliert. In den 1980er Jahren findet Gilles Deleuze nachträglich zu einer umfassenden philosophischen Reflexion des auch von ihm auf den Zweiten Weltkrieg zurückgeführten Bruchs zwischen einem klassischen Kino der Handlung, bei dem jede Situation in einer Aktion oder Reaktion fortgesetzt wird, und einem modernen Kino, das eine autonome Zeitlichkeit entfaltet. Er unterscheidet grundsätzlich zwei Bildtypen: das Bewegungs-Bild, das nach der Logik einer sensomotorischen Verbindung funktioniert, und das Zeit-Bild, das rein optische und akustische Situationen sowie Räume einer gleichgültigen Leere und Unentschlossenheit hervorbringt. Nach dem Zweiten Weltkrieg konstatiert Gilles Deleuze einen Riss des sensomotorischen Bandes: Diese Situation ist keine sensomotorische mehr, sondern eine rein optische und akustische, in der der Sehende den Akteur ersetzt hat: eine „Beschreibung“. Optozeichen und Sonozeichen nennen wir diesen Bildtyp, der nach dem Kriege unter allen nur denkbaren äußeren Bedingungen auftaucht (Problematisierung der Aktion, Notwendigkeit des Sehens und Hörens, die Ausweitung leerer, abgetrennter und affektionslo-

13

14

Viktor Demin, Fil’m bez intrigi, Moskau 1966, 28. Die Formulierungen „Film ohne Intrige“, „fabelloses Sujet“ oder „beschreibende Dramaturgie“ treten im Tauwetter an die Stelle des Begriffs der „Sujetlosigkeit“ (bessjužetnost’), der in der Stalinzeit geradezu zu einem Schimpfwort in den Kampagnen gegen den Formalismus geworden ist. Ebd., 41.

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ser Räume), aber auch infolge des inneren Drangs eines wiedererstehenden Kinos, das seine Voraussetzungen neu erschafft […].15

In seinem Buch Die kinematographische Fabel (La fable cinématographique)16 antwortet Jacques Rancière auf Gilles Deleuzes filmphilosophischen Entwurf und unterzieht dessen dichotomische Gegenüberstellung von Bewegungs-Bild und Zeit-Bild einer Kritik. Er wirft Deleuze die Essentialisierung des Bruchs zwischen alter und neuer Bilderordnung vor und entwickelt selbst die Konzeption einer Doppeltheit, eines in Szene gesetzten Widerspruchs. Die durchkreuzte Fabel (une fable contrariée)17 eröffnet nach Rancière im ästhetischen Regime der Kunst zwei Perspektiven auf das Bild: Denn eine filmische Fiktion besteht ja aus einer Verkettung von zwei Arten von Sequenzen: Den nach den Regeln der darstellenden, aristotelischen Logik zweckgebundenen Sequenzen, in denen die Handlungen zusammengesetzt werden, und den nichtzweckgebundenen, lyrischen Sequenzen, die die Handlung suspendieren und sich dem Imperativ der Bedeutung entziehen, um einfach „das Leben“ in seiner „Banalität“, in seiner grundlosen, bloßen Existenz zu zeigen.18

Diesen Aspekt einer Doppeltheit möchte ich zum Ausgangspunkt für die nachfolgende Betrachtung eines Schlüsselfilms der sowjetischen Kultur der 1960er Jahre nehmen. Der Film Ich bin zwanzig Jahre alt/Der Vorposten von Il’ič (Mne dvadcat‘ let/Zastava Il’iča, 1959-1964) kann als Zeugnis einer Zeit des Umbruchs gelten. In seiner Struktur ist er von dem grundlegenden Widerspruch zwischen einer kanonischen und einer nicht-kanonischen Darstellungsschicht, zwischen Handlung und Poesie bestimmt. Der Regisseur Marlen Chuciev wählte als Drehbuchautor Gennadij Špalikov, der damals noch an der Moskauer Filmhochschule studierte und in der Jugendszene als Dichter und Liedermacher beliebt war. Mit den Vorarbeiten zum Film wurde 1959 begonnen, die Fertigstellung verzögerte sich allerdings aufgrund des persönlichen Eingreifens Nikita Chruščevs, der sich am 8. März 1963 bei einem Treffen von Führern der Partei und der Regierung mit Literatur- und Kunstschaffenden kritisch zu einer ersten Fassung äußerte. Erst 1964 wurde der Film nach einer Umarbeitung freigegeben, wobei der auf Lenin verweisende, verpflichtende Titel „Der Vorposten von Il’ič“ durch die weniger anspruchsvolle Bezeichnung „Ich bin zwanzig Jahre alt“ ersetzt wurde. 15 16 17 18

Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991, 348. Jacques Rancière, La Fable cinématographique, Paris 2001. Ebd., 7-28. Jacques Rancière, Die Geschichtlichkeit des Films, in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, 230-246, hier: 234.

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Dieser Film, der mit dem programmatischen Anspruch auftritt, ein neues, junges Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen, macht im gesellschaftlichen Erneuerungsprozess zugleich auch die Grenzen der Auseinandersetzung mit der Mentalität der totalitären Vergangenheit deutlich. Die unterschiedlichen, geradezu konträren Reaktionen auf den Film lassen sich als Hinweis auf eine doppelte Kodierung interpretieren. Nikita Chruščev reagiert in seiner kulturpolitischen Intervention negativ, in geradezu verächtlicher Weise, auf das filmische Innovationspotential, d.h. auf die Entwicklung vom sozialistisch-realistischen Aktionsbild zum ZeitBild des Tauwetters, das die konflikthaften Verwicklungen der Intrige minimiert und die Beschreibung in optisch-akustischen Situationen selbstwertig setzt. Chruščev misst die Figuren am heroischen Handlungsideal des sozialistischen Realismus und kritisiert, dass sie keine „Kämpfer“ und „Umgestalter der Welt“ seien: Nein, auf solche Menschen kann die Gesellschaft nicht bauen, sie sind keine Kämpfer und keine Umgestalter der Welt. Das sind moralisch brüchige, schon in ihrer Jugend vergreiste Menschen ohne edle Ziele, die sich zu nichts Hohem im Leben berufen fühlen.19

Die neue Beobachtungs-, Wahrnehmungs- und Reflexionsposition der jugendlichen Figuren, die umherschweifend die Räume der Metropole Moskau erkunden, erscheint ihm als verdammenswerter „Müßiggang“ und „Nichtstuerei“: Ihre Absicht, die Müßiggänger und Nichtstuer zu verurteilen, haben die Autoren des Films nicht verwirklichen können. Es mangelte ihnen an Zivilcourage und an Zorn, derartige Missgeburten und Abtrünnige zu brandmarken, sie an den Pranger zu stellen […].20

Die jungen Kritiker dagegen betrachten den Film aus einer entgegengesetzten Perspektive, vom Standpunkt der neuen ästhetischen Ideale. Für Neja Zorkaja ist nicht die Handlung entscheidend, die neue Qualität des Films erkennt sie vielmehr im Beobachten, Registrieren und Aufzeichnen des umgebenden Alltagslebens: Gerade in der unmittelbaren Realität, in den zahllosen Beobachtungen, in unserem wiedererstandenen Alltagsleben entfalten sich, wie in einer Tiefenströmung verborgen, die wesentlichen Gedanken des Films. Die Empirie des Films ist reicher als seine Konzeption.21

19

20 21

Nikita S. Chruščev, Vysokaja idejnost’ i chudožestvennoe masterstvo – velikaja sila sovetskoj literatury i iskusstva. Reč’ na vstreče rukovoditelej partii i pravitel’stva s dejateljami literatury i iskusstva 8 marta 1963 goda, in: Novyj mir 3/1963, 8. Ebd. Neja Zorkaja, Portrety, Moskau 1966, 291-292.

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Und in seinem Buch Film ohne Intrige kommt Viktor Demin zu folgender Einschätzung: Nicht darin besteht das Vergehen des Films, dass er die beschreibende Dramaturgie durchgehalten hätte, – im Gegenteil, er hat ihre Möglichkeiten nicht mit aller Konsequenz genutzt. […] Der allgemeine Grund für die Unzufriedenheit der Helden bewegt sich irgendwo ganz nah neben dem Film. Er bleibt aber trotzdem jenseits der Einstellung.22

Viktor Demin zeigt sich enttäuscht darüber, dass der Film seinen Anspruch nicht einlösen kann, sondern letztlich immer noch – wenn auch unter anderen Vorzeichen – der didaktischen Fabelkonstruktion des sozialistischrealistischen Entwicklungsromans verpflichtet bleibt. Die Initiation der drei jugendlichen Hauptfiguren ins Erwachsenenleben und ihre damit verbundene Sinnsuche ist durch die Entwicklung von einem spontanen Lebensgefühl zu einer neuen gesellschaftlichen Bewusstheit gekennzeichnet.23 Sergej, ein junger Arbeiter, hat Probleme, weil er sich in ein Mädchen aus einer höhergestellten Funktionärsschicht verliebt, sein Freud Kolja gerät in einen Konflikt mit seinem Vorgesetzten und Slava, der Dritte im Bunde, versucht, der Enge eines frühen Familienlebens zu entfliehen. Die Figuren weisen eine gewisse Stereotypik auf, und die Konflikte zwischen den Jugendlichen und den Vertretern der Vätergeneration erscheinen recht schematisch und abstrakt: Der jugendliche Idealismus trifft auf Relikte stalinistischer Mentalität, die häufig nur vage angedeutet sind, oder auf einen ausschließlich an materiellen Werten orientierten Karrierismus. Die nicht-kanonische Darstellungsschicht des Films entfaltet sich jenseits der Handlungskonstruktion vor allem in den Spaziergängen der Jugendlichen durch Moskau. Die Kamera beobachtet Sergej, der nach der Beendigung seines Armeedienstes nach Hause zurückkehrt, in langen ungeschnittenen Einstellungen auf dem ersten Gang durch das morgendliche Moskau. Sein Weg führt ihn nicht über die repräsentativen Plätze und Prospekte des Moskauer Zentrums, sondern durch die Straßen und Gassen seines Wohnviertels. „Der Vorposten von Il’ič“, die Bezeichnung eines Arbeitervororts im Titel, steht in diesem Zusammenhang für eine Orientierung weg vom Zentrum hin zu einer wenig beachteten Peripherie, die nun als solche in den Blick gerät. Aus einer subjektivierten Kameraperspektive, die die ruhigen Bewegungen und die umherschweifenden Blicke des jungen Mannes aufnimmt, eröff-

22 23

Demin, Fil’m bez intrigi, 199. Zur Dialektik von „Spontaneität“ und „Bewusstheit“ im Handlungsschema des sozialistisch-realistischen Romans vgl. Clark, The Soviet Novel, insbesondere das Kapitel: The „spontaneity“/„consciousness“ dialectic as structuring force that shapes the master plot, 15-24.

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net sich – unterstützt durch die Schwarzweißbilder von Margarita Pilichina24 – eine quasi-dokumentarische Sicht auf das alltägliche, nicht-inszenierte Moskau. Die Wiederentdeckung des Alltags ist von der Umweltwahrnehmung des „jugendlichen“ Mediums bestimmt, durch sein Prisma gebrochen. Moskau ist in eine Stadt der Jugend verwandelt: In den Hauseingängen und in den Höfen treffen sich die Jugendlichen, um zu reden, Fußball zu spielen, Musik zu hören, zu rauchen und zu tanzen. Ihre Spaziergänge führen über Moskauer Straßen und Boulevards, durch Parks und kleine Gassen, sei es zu Fuß, mit der Straßenbahn oder mit dem Bus (vgl. Abb. 1). Es sind dies die Orte der ersten Rendezvous, der zufälligen und flüchtigen Begegnungen, der Kontaktaufnahme und des Sich-Wieder-Verlierens in der Menge. Abb. 1: Jugendliche Flaneure, Ich bin zwanzig Jahre alt/ Der Vorposten von Il’ič, 1965, Marlen Chuciev.

Eine frei bewegliche Handkamera, die sich der Bewegung der Figuren – ihrer Geschwindigkeit und Verweildauer – anpasst und in einen beinahe körperlichen Kontakt mit ihnen zu treten scheint, ist ein wichtiger Faktor der Subjektivierung. Die Kamerabewegung, die die Blicke einzelner Figuren aufgreift, zieht die Filmzuschauer in die Erfahrung eines nicht ganz zu überblickenden Geschehens hinein, in einen Strudel unterschiedlicher, auch gegenläufiger, chaotisch wirkender Bewegungsdynamiken. Dies wird sehr deutlich in der nicht-kanonischen Darstellung einer Maidemonstration (vgl. Abb. 2). Die Menge ist hier nicht mehr als disziplinierter, in Reih und Glied marschierender Massenkörper aus einer alles überblickenden Perspektive inszeniert. Die Kamera befindet sich vielmehr mitten in der Menge, auf einer Ebene mit den Figuren, die sich in individuellen Rhythmen natürlich und ungezwungen bewegen.25 24

25

Vgl. Irina Šilova, Der Schwarzweißfilm: Ringen um eine realistische Filmkunst, in: Eva Binder/Christine Engel (Hg.), Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953-1991), Innsbruck 2002, 26-32. Zur Befreiung der Gestensprache im Tauwetter vgl. Oksana Bulgakova, Fabrika žestov, Moskau 2005, 272-279.

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Abb. 2: Maidemonstration, Ich bin zwanzig Jahre alt/ Der Vorposten von Il’ič, 1965, Marlen Chuciev.

Eine besondere poetische Qualität erhalten die Filmbilder in der Verbindung zur Tonschicht, in der gesprochene Sprache, rezitierte Gedichte, (Jazz-) Musik und Geräusche zusammentreffen. Durch eine Minimierung der Ereignishaftigkeit wird in den Episoden jenseits der Fabel, in irgendwie leer anmutenden Einstellungen, die Aufmerksamkeit auf das Wechselverhältnis von Bild und Ton gelenkt. Die rhythmische Komposition verschiedener, sich in einem mehrdimensionalen Klangraum überlagernder Wiederholungsfiguren (Schritte, Glockenschläge, Tropfen, Zeitzeichen, Redefragmente, musikalische Motive etc.) lässt dabei eine Atmosphäre entstehen, die zur Transzendierung der physischen Realitätserfahrung in der Alltagsdarstellung führt. Für die Erzeugung dieses Transzendenzeffekts spielt der Einsatz akusmatischer, körperloser Stimmen, deren Träger nicht im Bild zu sehen sind, eine entscheidende Rolle.26 Von Chuciev werden zudem intensiv Radiotöne eingesetzt: Sendezeichen, Erkennungsmelodien, Sprecherstimmen, übertragene Musik usw. Diese Radiotöne steigern durch ihren ätherischen Charakter noch einmal die Wirkung der anderen körperlosen Stimmen aus dem Off. Nicht zuletzt findet die poetische Ausrichtung des Films auch darin ihren Ausdruck, dass von den jugendlichen Figuren auf ihren Spaziergängen immer wieder Gedichte oder Gedichtzeilen (von Puškin über Majakovskij bis zu den zeitgenössischen Dichtern) rezitiert werden. In den Einstellungen, in denen die Rezitationen aus dem Off erfolgen, rücken vor allem die Intonationsfiguren in das Zentrum der Wahrnehmung: Die Alltagsrede in ihrer Flüchtigkeit, mit ihren Redundanzen und Unvollständigkeiten steht neben einer stärker formalisierten, metrisch-gebundenen Rede der Gedichtrezitation. Im Unterschied zu den Pariser Flaneuren im Zeitalter des Hochkapitalismus, die sich auf dem Markt positionieren und eine geschärfte Beobach26

Vgl. zur akusmatischen Stimme Michel Chion, La voix au cinéma, Paris 1982, 127128.

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tungsgabe für die sie umgebenden Warendinge entwickeln,27 registrieren die Blicke der Moskauer Flaneure des Spätkommunismus zwar durchaus auch die materiellen Veränderungen in dem sie umgebenden Alltagsleben (Wohnungseinrichtungen, Kleidermoden, Design von Gebrauchsgegenständen usw.)28, aber nichtsdestotrotz bleibt für sie die Literatur als Sphäre ideeller Werte das Leitmedium ihrer existentiellen Suche: Selbst in den Kiosken auf den Moskauer Straßen sind es immer wieder Bücher, die ihr Interesse finden. Ein großer dokumentarischer Wert kommt in Chucievs Film der Episode von einer der berühmten Dichterlesungen im Polytechnischen Museum zu. Die Episode ist so lang, dass man sogar von einem Film im Film sprechen könnte. Es treten die im Tauwetter Aufsehen erregenden „jungen“ Dichter auf: Evgenij Evtušenko, Andrej Voznesenskij, Bella Achmadulina, der Liedermacher Bulat Okudžava und andere.29 Chucievs jugendliche Protagonisten sind in das Saalpublikum eingetaucht und selbst von Akteuren zu Zuhörenden und Zuschauenden geworden. Auf diese Weise wird den Filmzuschauern der Blick auf handelnde Figuren entzogen und an Stelle dessen eine Situation kontemplativer Wahrnehmung zur Identifikation angeboten. Es wird ihnen gewissermaßen die Möglichkeit eröffnet, sich in den Zuschauern auf der Leinwand zu spiegeln. Die Kamera lässt den Blick über die versammelte Menge schweifen, aus der sie immer wieder Einzelporträts herausgreift. Die Dauer der Betrachtung macht dabei auch Momente des Leerlaufs in der Darstellung sichtbar. Neben den Gesichtern von Schauspielern werden Gesichter von Nicht-Schauspielern ohne Bezug auf eine filmische Figur gezeigt, – die Gesichter sind ganz allgemein als „menschliche“ Gesichter inszeniert.30 Es entsteht das Bild einer lebendig bewegten Menge, in der die einzelnen auch untereinander in einen intimen Austausch von Blicken und Gesten eintreten. Diese Intimisierung der Kommunikation steht in einem Kontrast zu den deklamatorisch ausgearbeiteten Auftritten der Dichter und Dichterinnen auf der Tribüne (vgl. Abb. 3). Die 27 28

29

30

Vgl. Walter Benjamin, Der Flaneur, in: ders., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Zwei Fragmente, Frankfurt/M. 1969, 35-71. Zu einzelnen neuen Gebrauchsgegenständen im Moskauer Alltag (Hula Hoop, synthetische Matratzen, aufblasbare Kinderspielzeuge etc.) vgl. Tat’jana Chlopljankina, Zastava Il’iča. Sud’ba fil’ma, Moskau 1990, 12. Nach Nikita Chruščevs Intervention mussten auf Einwirken der Zensur die Einstellungen, in denen die Dichter selbst zu sehen waren – ihre große Identifikationswirkung wurde wohl befürchtet –, herausgeschnitten werden. Zu den Zensureingriffen, die neben dieser Episode insbesondere die Abschwächung der Konflikte zwischen Vätern und Söhnen betreffen, vgl. die umfassende Dokumentation zur Produktions- und Rekonstruktionsgeschichte des Films: Artem Demenok, „Zastava Il’iča“ – urok žizni, in: Iskusstvo kino 6/1988, 95-117. Zur Gesichtsdarstellung im europäischen Film nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Jacques Aumont, Der porträtierte Mensch, in: montage/av 13/1/2004, 12-49.

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Tauwetterdichtung zielt mit ihren expressiv-pathetischen Intonationen weiterhin auf eine kollektive Rezeption und übersetzt den unbestimmten Ausdruck eines Lebensgefühls in die Artikulation einer gemeinsamen Idee der sozialistischen Erneuerung der Gesellschaft.31 Abb. 3: Evgenij Evtušenko in Deklamationspose, Ich bin zwanzig Jahre alt/ Der Vorposten von Il’ič, 1965, Marlen Chuciev.

In der allegorischen Schicht des Films findet dieser Übersetzungsprozess eine Fortführung. Zu den politischen Allegorien der Stalinzeit wird hier eine Gegensymbolik entworfen, die sich zwar inhaltlich von ihnen unterscheidet, der Form nach aber ähnlich ist und in der antithetischen Bezogenheit dem alten Darstellungskanon verhaftet bleibt. Für das filmische Medium bedeutet dies, dass eine rein audiovisuelle Atmosphäre jenseits von Wortbedeutungen wieder an die Verbalität einer symbolisch übertragenen Bedeutung zurückgebunden wird. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang eine traumartige Episode, in der Sergej, einer der jugendlichen Protagonisten, um Rat suchend, eine Begegnung mit seinem im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vater imaginiert (vgl. Abb. 4). Trotz einer zu erahnenden subjektiven Motivation hat diese Raum und Zeit überschreitende Episode einen ausgeprägt symbolischen Charakter: „Wie alt bist Du? – fragte der Soldat. – Dreiundzwanzig. – Und ich bin einundzwanzig. Wie soll ich Dir da einen Rat geben?“32 Mit dem Hinweis, dass er selbst jünger sei, weigert sich der Vater, dem Sohn einen konkreten Rat zur Lösung seiner Probleme zu geben. Der Vater erscheint als ideelles Vorbild, aber nicht als konkreter Ratgeber.33 31 32 33

Vgl. Petr Vajl’/Aleksandr Genis, 60-e. Mir sovetskogo čeloveka, Moskva 1996, das Kapitel: Soavtor ėpochi. Poėzija, 30-36. Mne dvadcat’ let. in: Gennadij Špalikov, Izbrannoe. Scenarii, stichi i pesni, razroznennye zametki, Moskau 1979, 14-113, hier: 111. Zum Problem der Vaterlosigkeit vgl. Eva Binder, Geschlechtsidentität als Krisenbarometer. Die vaterlosen Söhne im sowjetischen und russischen Film, in: Balagan Heft 2/1999, Bd. 5, 85-104.

Doppelbilder

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Abb. 4: Vater-/Sohnbegegnung in Ich bin zwanzig Jahre alt/ Der Vorposten von Il’ič, 1965, Marlen Chuciev.

Insbesondere diese Begegnungsszene zwischen Vater und Sohn bot Nikita Chruščev den Anlass für seine scharfe Kritik an dem Film: „Kann man sich etwa vorstellen, dass ein Vater nicht auf die Frage seines Sohns antwortet und ihm keinen Rat gibt, wie er den richtigen Weg im Leben finden kann?“34 Auch wenn Nikita Chruščev in dieser Szene einen anti-autoritären Impetus verspürt, so ist die symbolische Form der Darstellung doch letztlich durch die mythologische Tiefenstruktur des sozialistisch-realistischen Kanons begründet. Die hierarchische Vater-Sohn-Beziehung in der stalinistischen Mythologie wird hier auf einer abstrakten Ebene in das aus der Revolutionszeit stammende Ideal brüderlicher Gemeinschaft umgedeutet. In gewisser Weise erinnert diese Szene sogar an eine Einstellung aus Michail Čiaurelis Kultfilm Der Schwur (Kljatva, 1946), in der Stalin in einer einkopierten Dokumentaraufnahme Lenin wie in der Mandorla einer Heiligendarstellung erscheint. Bei Čiaureli diente diese Vision zur Legitimierung des Nachfolgeverhältnisses Lenin – Stalin, die imaginierte Vater-SohnBegegnung bei Chuciev steht dagegen symbolisch für ein Wiederanknüpfen an die Revolutionsideale über das „Band der Generationen“ nach den Exzessen des Personenkults während der Stalinzeit. Diese allegorische Lesart wird durch die filmische Rahmenbildung noch weiter verstärkt. Zu Beginn des Films patrouillieren drei Rotgardisten im Morgengrauen durch Moskau (vgl. Abb. 5); ein Bildsprung tauscht sie unter den Klängen der Internationale gegen eine ausgelassene Gruppe junger Leute aus. Im Schlussteil werden wiederum in einer symbolischen Einstellung drei Soldaten – diesmal aus dem Zweiten Weltkrieg – gezeigt (vgl. Abb. 6), und am Ende steht die Wachablösung am Lenin-Mausoleum (vgl. Abb. 7). Über die Dreiheit wird eine Verbindung zu den jugendlichen Protagonisten der Gegenwart hergestellt. Der Widerspruch zwischen der authentischen Darstel34

Chruščev, Vysokaja idejnost’, 8.

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lung eines neuen Lebensgefühls und der Schaffung eines Symbols für die Kontinuität kommunistischer Ideale bleibt bestimmend für den Doppelbildcharakter des Films. Abb. 5: Rotgardisten,

Abb. 6: Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg,

Abb. 7: Wachposten am LeninMausoleum, Ich bin zwanzig Jahre alt/ Der Vorposten von Il’ič, 1965, Marlen Chuciev.

PETER DEUTSCHMANN

Kristallbilder aus Böhmen Die frühen Filme Miloš Formans Die Lockerung der politischen Einflussnahme auf das kulturelle Leben der Tschechoslowakei hat zu Beginn der 1960er Jahre zu einem kreativen Aufschwung in verschiedenen kulturellen Bereichen beigetragen. Im historischen Rückblick auf dieses Jahrzehnt der verklärend als „goldene Sechziger“ („zlatá šedesátá“) apostrophierten Epoche erscheinen die Veränderungen in der Filmproduktion als besonders eindrucksvoll. Die traditionsreiche tschechoslowakische Filmindustrie hat in diesen knapp zehn Jahren einen in ihrer Geschichte einmaligen Höhenflug in quantitativer wie qualitativer Hinsicht erlebt: Die bald – zuerst von der französischen Kritik – als tschechoslowakische nouvelle vague (calquiert als nová vlna) rezipierten Filme von Miloš Forman, Věra Chytilová, Evald Schorm, Jiří Menzel, Juraj Jakubisko, Štefan Uher, Otokar Krivánek, Jan Němec, Ivan Passer und anderen weisen zwar einerseits Gemeinsamkeiten mit zeitgenössischen Filmen aus anderen Ländern auf (z.B. das Abgehen von „klassischen“ Handlungslinien und typisierten Protagonisten, die Bevorzugung von Einstellungen und Tiefenschärfe gegenüber der Montage), andererseits sind Generalisierungen aufgrund unterschiedlicher Poetiken der auteurs natürlich auch immer problematisch. Die traditionelle Kategorisierung der Filmgeschichte in klassisches und modernes Kino hat Gilles Deleuze in seiner zweibändigen Studie mit den Begriffen „Bewegungs-Bild“ („image-mouvement“) und „Zeit-Bild“ („image-temps“) erweitert. Beide Begriffe verdanken sich der Auseinandersetzung mit dem Werk von Henri Bergson; trotz des extravaganten philosophischen Hintergrundes bezieht Deleuze diese Begriffe explizit auf die Filmgeschichte: Die vor allem auf vagen stilistischen und inhaltlichen Präsuppositionen beruhende Unterscheidung von klassischem und modernem Kino wird somit von Deleuze in großer – und bisweilen großartiger – Geste um Konzepte bereichert, welche für die Geschichte des Kinos, für die Betrachtung von Filmen und wohl auch für die aktuelle Rezeption von Bergson anregend sein können. Dieser hat sich schon sehr früh – in L’évolution créatrice (1907) – über den Film geäußert, das filmische Aufnahmeverfahren dient ihm als Beispiel dafür, wie das menschliche Denken die Bewegung falsch konzipiert, nämlich als Aneinanderreihung von Momentaufnahmen. Das Fließen der Bewegung, Dynamik und Neuveränderung werden bei einer solchen Konzep-

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tion – der „kinematographischen Illusion“ – von vornherein ausgeschlossen.1 Deleuze greift jedoch auf Matière et mémoire (1896) zurück, Bergson habe darin das Neuartige des Kinos vorweggenommen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dieses Neuartige besteht darin, dass das Kino „bewegliche Schnitte“ durch die Zeit macht, also ein Werden reproduziert und die Zeit als qualitative Dauer sichtbar werden lässt – tatsächlich betrachtet man ja nicht die Kader eines Films als Zeitschnitte, die Wahrnehmung eines Filmes ist vielmehr kontinuierlich.2 In dieser Dauer ist nicht von vornherein schon jeder künftige Zustand vorherbestimmt, stattdessen ist das Ganze (die Welt als – offenes – Ensemble von Bewegungen/Materie) in ständiger qualitativer Veränderung.

1. Ein neues Sehen Gemäß der filmgeschichtlichen Pertinenz der komplexen Begriffe „Bewegungs-Bild“ und „Zeit-Bild“ ist die Epoche der nouvelle vague generell dem Zeit-Bild als dem „modernen“ Bildtyp des Kinos zuzuordnen. Anhand der Filme aus Miloš Formans tschechischer Periode soll im Folgenden versucht werden, Deleuzes „cinephilosophische“ Terminologie darauf hin zu probieren, ob eine pauschale Zuordnung der nouvelle vague zur Kategorie des ZeitBildes präzise genug ist, um Formans Filme adäquat zu erfassen. Zur Diskussion steht zugleich auch das Verhältnis des Zeit-Bildes zum Bewegungs-Bild als dem allgemeinen Bild-Typus des Kinos. An dieser Stelle sei vorausgeschickt, dass beide Konzepte – Bewegungs-Bild wie auch Zeit-Bild – gleichsam überzeitliche Geltung für das Kino haben. Das Spezifische von Formans Schaffen besteht wohl darin, dass seine Beschreibung exakt am Schnittpunkt von Bewegungs- und Zeit-Bild ansetzen muss, an jenem Übergang, wo der in einer durée stehende Organismus auf die aktuelle Gegenwart trifft. Als erste Annäherung an die Eigenschaften des Zeit-Bildes kann folgendes Zitat aus Formans Autobiographie dienen: Wenn ich auf meine ersten Filme zurückblicke, habe ich den Eindruck, dass ich mich in ihnen vor allem um eines bemüht habe: genau zu beobachten. Erst später wurde mir bewusst, dass es eher eine unbewusste Reaktion auf den sehr stilisierten, dramatischen, effektvollen Stil Alfréd Radoks war.3 1

2 3

Vgl. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1989, 13-15; Paola Marrati, Gilles Deleuze. Cínema et philosophie, Paris 2003, 16-21; Goran Grubacevic, Vom Bild des Denkens zum Denken des Bildes: Die Bergson-Lektüren von Gilles Deleuze, Dissertation, Univ. Zürich 2003, 4f. Vgl. Marrati, Gilles Deleuze, 16. „Když se dívám zpátky na své první filmy, mám dojem, že jsem se v nich snažil hlavně o jednu věc: přesně pozorovat. Až později jsem si uvědomil, že u mě šlo nejspíš o

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Diese Sätze wären schon aufgrund des eigentümlichen Tempusgebrauchs („ich blicke zurück … ich habe den Eindruck … erst später wurde mir bewusst“) sprachliche Demonstrationen für den Bergson’schen Begriff des „aufmerksamen Wiedererkennens“, von dem später noch zu sprechen sein wird. Formans Hervorhebung der Rolle des genauen Beobachtens ist in diesem Zitat freilich wichtiger, kann sie doch als präzise Charakterisierung seines frühen Schaffens (sowie des Schaffens einiger anderer Regisseure der nová vlna) gelten: Die Filme zeigen keineswegs ungewöhnliche Figuren in alltäglichen Situationen, größere Sujetkonstruktionen werden zugunsten von kleinen, lose aneinander gereihten Episoden aufgegeben, die eher als dramaturgisch nötige Motivation für die Darstellung von Verhaltensweisen in unspektakulären Milieus denn als ein die Aufmerksamkeit des Betrachters bindender „roter Faden“ erscheinen. Bereits diese sehr knappe Beschreibung der Forman’schen Poetik rechtfertigt hinreichend die Verbindung mit den Gedanken von Deleuze über die Entwicklung des Zeit-Bildes in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Deleuze spricht von Opto- oder Sonozeichen, um zu unterstreichen, dass die visuelle und akustische Wahrnehmung dominant und die Handlung der Protagonisten zweitrangig wird. Gleich in den ersten beiden Filmen Formans, in Der Wettbewerb (Konkurs, 1963) und Schwarzer Peter (Černý Petr, 1963) finden sich markante Beispiele für diesen Wechsel zu optischen und akustischen Situationen: Das rudimentäre Sujet von Der Wettbewerb besteht eben aus einem Wettbewerb, mit welchem eine Sängerin für das Theater Semafor gefunden werden soll. Die Jury – die Theaterleiter Jiří Suchý und Jiří Šlitr – soll über die mehr oder weniger gelungenen Gesangsdarbietungen der jungen Kandidatinnen befinden (vgl. Abb. 1), das Filmpublikum wird in die analoge Situation gebracht: Es betrachtet allerdings nicht allein die Auftritte der Sängerinnen, sondern analysiert die Situation des Wettbewerbs insgesamt. Es beobachtet also die Beobachter wie auch den gesamten situativen Kontext des Wettbewerbs. Eine ähnliche Situation zeigt Schwarzer Peter. Als Lehrling eines Selbstbedienungsgeschäfts hat Petr die Aufgabe, Ladendiebstahl zu bemerken und gegebenenfalls einzuschreiten: Er beobachtet somit die Kunden bei alltäglichen Vorgängen des Einkaufens, bei der Auswahl der Waren und ihren Bewegungen durch das Geschäft. Als ihm podvědomou reakci na vysoce stylizovaný, dramatický, efektní styl Alfréda Radoka.“ (Miloš Forman/Jan Novak, Co já vím? Autobiografie Miloše Formana, Brno 1994, 105.) – Alfréd Radok (1914-1976) war einer der wichtigsten tschechischen Film- u. Theaterregisseure der Nachkriegszeit. Sein lange unter Verschluss gehaltener Film Der weite Weg (Daleká cesta, 1949) über das Leiden der Juden während des Nationalsozialismus wird von Forman als zu wenig bekanntes Meisterwerk der Filmgeschichte eingeschätzt (vgl. Forman/Novák, Co já vím?, 76). Forman war in den fünfziger Jahren Radoks Assistent, arbeitete mit ihm u.a. am Film Großvater Automobil (Dědeček automobil, 1955) und für das Theater Laterna Magika, mit dem sie auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel sehr erfolgreich waren.

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ein älterer Herr verdächtig erscheint, folgt er ihm auf die Straße, die Beschattung wird zu einer balade, einem Spaziergang durch Kolín nad Labem, der eigentlich keine Funktion für das Sujet hat. Die Rolle des Beobachtens wird im Film weiter durch die Beobachtung des Beobachters quadriert bzw. reflektiert: In Sorge darüber, dass der Sohn seine Sache als Lehrling auch gut mache, späht ihm sein Vater hinterher, der Leiter des Geschäfts kontrolliert, ob Petr als Kaufhausdetektiv dezent genug auftritt (vgl. Abb. 2). Abb. 1: Die Jury des Gesangswettbewerbs beobachtet ein keck auftretendes Mädchen in Der Wettbewerb, 1963, Miloš Forman.

Abb. 2: Der Leiter des Lebensmittelgeschäfts beobachtet durch einen Vorhang Petr, dessen Aufgabe als Lehrling es auch ist, Kunden unauffällig zu beobachten, um Ladendiebstähle aufzuspüren in Schwarzer Peter, 1963, Miloš Forman.

Der Wechsel zum Zeit-Bild wird – auch dies eine treffende Bemerkung von Deleuze – begleitet von einer Umwertung der Gegenstände und Kulissen: Im Aktionsbild, welches im klassischen Kino das Gros der Filmproduktion ausmacht, sind die Gegenstände funktional bezogen auf die jeweilige Situation, im Zeit-Bild erhalten Gegenstände und Milieus eine „autonome materielle Realität mit eigenständigem Wert“, eine Tendenz, die sich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in den „Stillleben“ der Filme von Yasujiro Ozu manifes-

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tiert hat.4 Forman drehte an Originalschauplätzen; Handlungen setzen meist erst nach einer Vorlaufzeit ein, während welcher der Zuschauer Gelegenheit zur Milieubetrachtung hat.

2. Die Bergson’sche Folie von Deleuzes Kino-Begriffen Wenngleich bislang die Überlegungen nachvollziehbar erscheinen und man die von Deleuze verwendeten Beispiele aus der Filmgeschichte unschwer mit tschechischem Material fortführen wird, kann bereits hier eine Frage auftauchen, die geklärt werden muss, um die weniger zugänglichen Ideen von Deleuze zum Kino nicht misszuverstehen. Fragwürdig mag nämlich sein, auf welcher ontologischen Ebene diese Beobachtungen angesiedelt seien. Forman spricht davon, dass es ihm als Regisseur um das Beobachten gegangen sei; oben beschreiben wir die Auswirkungen dieser ustanovka auf die Filmbetrachter und verweisen schließlich auf charakteristische Beobachtungssituationen innerhalb der Diegese der Filme. Die Unbestimmtheit diesbezüglich verdankt sich der Übernahme von Bergsons Konzeption des Bildes und der Wahrnehmung, denn dessen Ablehnung transzendentalphilosophischer Positionen und eines Dualismus von Subjekt und Objekt gründet in der Gleichsetzung von Bildern, Materie, Licht und Bewegung.5 Mein Leib ist also in der Gesamtheit der materiellen Welt ein Bild, das sich wie die anderen Bilder betätigt: Bewegung aufnimmt und abgibt, mit dem einzigen Unterschiede vielleicht, dass mein Leib bis zu einem gewissen Grade die Wahl zu haben scheint, in welcher Form er das Empfangene zurückgeben will. […] Man nenne meinen Leib Materie oder man nenne ihn Bild, auf das Wort kommt es mir nicht an.6

Bild und Materie sind nur verschiedene Namen für dieselbe Entität, der Mensch ist leiblich und somit genauso Bild, ein Bild, das wie mit allen anderen ‚Bildern‘/Entitäten in Wechselwirkung steht. Geistige Vorgänge sind nicht wesensverschieden wie im Dualismus cartesianischer Prägung, sondern so etwas wie die verinnerlichte Wechselwirkung der ‚Bilder‘, eine Form von Tätigkeit. Was von der Welt als Bild wahrgenommen wird, hat für Bergson immer Bezug auf die Tätigkeit, das Eingelassensein des Wahrnehmungsapparates in die Welt selbst; „zweckfreie“ Erkenntnis (bzw. ein „interesseloses Wohlgefallen“) kann es in Bergsons Konzeption nicht geben, da die Wahr-

4 5 6

Vgl. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1989, 15. Vgl. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 89. Henri Bergson, Materie und Gedächtnis (1896), in: ders.: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Frankfurt/M. 1964, 43-245, hier: 54.

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nehmung eines lebendigen Organismus immer schon eine interessensorientierte Auswahl aus allen möglichen Wechselwirkungen der Materie darstellt. Die Wechselwirkung aller ‚Bilder‘ (die universale Bewegung, die Verbreitung des Lichtes) ist bei Bergson gleichsam als der menschlichen Erfahrung transzendent konzipiert, Bergson vermeidet aber diesen Ausdruck, um nicht terminologisch der Transzendentalphilosophie kantischer oder phänomenologischer Prägung nahe zu rücken.7 Der konzeptuelle Ausweg besteht darin, dass die wahrgenommenen Bilder als vom Wahrnehmungszentrum herausgefilterte Reste dieser universellen Wechselwirkung von Bildern/Licht/Bewegung/Materie angesehen werden, da nur dasjenige wahrgenommen wird, was für das jeweilige Wahrnehmungszentrum (den wahrnehmenden Organismus) relevant erscheint. Der Rest bleibt unerkannt.8 Der aufgenommene Reiz wird entweder in Bewegung weitergeleitet und/oder in raffiniertere Bahnen (der Erinnerung bzw. des Denkens) transformiert. Jedenfalls nehmen Wahrnehmungszentren eine Auswahl aus den universellen Wechselwirkungen der Bewegungs-Bilder vor, sie produzieren neue Bewegungen, die nicht mehr aus den ausgewählten Stimuli abgeleitet werden können. Das Gehirn fabriziert also keine Vorstellungen, sondern vervielfältigt nur die Beziehungen zwischen einer empfangenen (Erregung, Stimulus) und einer ausgeführten (Reaktion, Response) Bewegung. Es schiebt zwischen beide eine Zone [écart] ein, sei es, dass es die empfangene Bewegung ins Unendliche aufsplittert, sei es, daß es sie in eine Mehrzahl von Reaktionen hinein verlängert.9

Im Wesentlichen lassen sich in der bislang versuchten schematischen Darstellung der Bergson’schen Theorie die beiden Grundideen von Deleuzes Kinokonzeption ausmachen: Das Bewegungs-Bild führt zu den einfacheren Reflexen und Modifikationen, welche die Bilder im Durchgang durch den menschlichen Körper (qua ‚Wahrnehmungs‘- bzw. ‚Bildzentrum‘) erfahren (Deleuze unterscheidet hier die Grundtypen Wahrnehmungsbild, Aktionsbild, Affektbild und Relationsbild/mentales Bild). Das Bewegungs-Bild selbst ist noch die universelle Bewegung vor jeder spezifischen (z.B. menschlichen) Wahrnehmung, die totale Wechselwirkung von Materie/Licht/Bild. Der entscheidende Schritt, den Deleuze mit der Adaption von Bergson für das Kino vorgenommen hat, besteht eben darin, dass er Filmbilder nicht mit einem 7

8 9

In Kommentaren äußert sich diese Nähe zur Transzendentalphilosophie gleichsam unwillkürlich: „Das Ding und die Wahrnehmung des Dings sind ein und dasselbe, ein und dasselbe Bild […] Das Ding ist das Bild, wie es an sich ist, wie es sich auf alle anderen Bilder bezieht, deren Einwirkung es ganz und gar unterliegt und auf die es unmittelbar reagiert.“ (Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 93.) Vgl. Bergson, Materie und Gedächtnis, 66-69. Gilles Deleuze, Bergson zur Einführung [Orig. Le Bergsonisme, Paris 1966], Frankfurt/M. 2001, 37.

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subjektiven Wahrnehmungszentrum korrelieren lässt: Seiner Auffassung nach liefert der Film a-zentrische Bilder von der Bewegung der Welt/Materie, bezogen wird diese Auffassung des Filmbildes als BewegungsBild auf die Bergson’sche Konzeption einer universellen Wechselwirkung der Materie vor jeder spezifischen Wahrnehmung.10 Das allgemeine FilmBild ist das Bewegungs-Bild, welches erst beim Auftreffen auf ein wahrnehmendes Zentrum zum Wahrnehmungsbild, zum Aktionsbild oder zum Affektbild umgewandelt wird. An diesem Übergreifen des universellen Bewegungs-Bildes in die Subjektivität eines wahrnehmenden Zentrums ist zu erkennen, dass die Frage danach, wo eigentlich die Beobachtung anzusetzen sei – innerhalb der Diegese (als Beobachtung einer Figur) oder ob sie die extradiegetische Beobachtung des Filmbetrachters sei –, angesichts der technischen Gegebenheiten zu dichotomisch gestellt ist. Denn eine Filmkamera liefert Bilder, die mitunter rasch zwischen subjektiver und „objektiver“ Perspektive changieren oder diesbezüglich oft „diffus“ sind.11 Das wahrnehmende Zentrum, welches in die universale Bewegung der Bewegungs-Bilder eingelassen ist, ist wie gesagt auch ein Indeterminiertheitszentrum, eine black box, von der die Bewegungs-Bilder umgewandelt werden. Überträgt man dieses Bild von der black box eines Wahrnehmungszentrums (eines lebendigen Organismus, wie der Mensch mit seinem Körper und Gehirn einer ist) auf das Kino als black box, kann man sagen, dass Vergleichbares geschieht: Aus der universellen Bewegung werden bestimmte Bewegungen ausgewählt und neu montiert.12 Das Zeit-Bild emergiert dann, wenn der wahrnehmende und handelnde Körper (das Indeterminiertheitszentrum) die ‚Erinnerung‘ bei der – salopp formuliert – „Bildbearbeitung“ dazuschaltet und nicht nach eingespielten sensomotorischen Schemata des Aktionsbildes verfährt. Deleuzes Schema von der Geschichte des Kinos beruht auf Bergsons Gedächtniskonzeption, der zufolge es reine Wahrnehmungen/Vorstellungen praktisch nicht gibt; immer werden Erinnerungen dazu aktiviert – ähnlich konzipierte schon Herbart die Apperzeption. Das Zentrum ist ja nicht immer nur in der Gegenwart, es hat eine Vergangenheit, die nicht von der Gegenwart getrennt werden kann. Die Gesamtheit aller ehemaligen Gegenwarten, die mit der jeweils 10 11

12

Vgl. Marrati, Gilles Deleuze, 51. Man vergleiche hierzu Deleuzes klare Überlegungen zum ‚Wahrnehmungsbild‘ (Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 103-110), in denen die Kameraperspektive diskutiert wird hinsichtlich der Möglichkeit, subjektive, objektive oder halb-subjektive bzw. „freie subjektive Bilder“ zu liefern. Um ein hier möglicherweise auftretendes Missverständnis auszuräumen: Die Prozesse der Selektion und der Kombination beim Herstellen eines Filmes sind keine Wahl aus einem Zeichenrepertoire, sondern eine aus dem Totum der Bewegungs-Bilder (qua Materie, Licht).

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aktuellen Gegenwart koexistieren, hat Bergson mit dem sogenannten Gedächtniskegel zu veranschaulichen versucht (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Abbildung aus Bergson, Materie und Gedächtnis, 174.

Der Punkt S, die Spitze des Kegels, ist die jeweils aktuelle Gegenwart eines Organismus, eines wahrnehmenden und handelnden Körpers. Die Gegenwart steht mit der reinen Vergangenheit (alle Punkte am Kegelschnitt AB, der Basis des Kegels) in Zusammenhang. Alle Punkte des Kegelschnitts sind virtuell insofern, als sie der Vergangenheit angehören und somit nicht aktuell sind. Aus ihnen speisen sich die Erinnerungen, welche gleichsam Aktualisierungen der Vergangenheit (des Virtuellen) sind. Die Kegelschnitte A’B’, A’’B’’ stellen Wiederholungen dar, die fortwährend erfolgen. Die Vergangenheit AB bildet gleichsam die Erfahrungsbasis, welche für immer neue Handlungen des Wahrnehmungszentrums aktiviert wird. Eine (aktuelle) Vorstellung integriert die äußeren Bilder und die virtuellen Bilder der Vergangenheit in der Gegenwart qua Schnittpunkt von Aktualität und Virtualität. Der Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit besteht auch darin, dass zu jeder Gegenwart unmittelbar gleich ihre Vergangenheit hinzugefügt wird. Die Gegenwart kann ja nur dann in die Virtualität, den Speicher aller ehemaligen aktuellen Momente) übergehen, wenn sie zugleich auch schon Vergangenheit ist, wenn also die gegenwärtige Wahrnehmung um ihr virtuelles Bild ergänzt wird.13 Das aktuelle Bild wird von demselben virtuellen Bild doubliert.

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Bergson leitet aus dieser Konzeption eine Erklärung für das souvenir du présent, das sogenannte déjà-vu-Erlebnis ab (vgl. Grubacevic, Vom Bild des Denkens zum Denken des Bildes, 41-47).

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Um Deleuzes Bezugnahme auf Bergson zu verdeutlichen, kann man sagen, dass die Zeit-Bilder des Kinos in nichts anderem als in Bewegungen im Gedächtnis-Kegel bestehen. Damit werden die Filmbilder von der scheinbaren Allianz mit der Gegenwart gelöst, die Zeit-Bilder kennen gleichsam mehrere Modi und Tempora. Wie in der Folge noch zu zeigen sein wird, ist die Position der Zeit-Bilder Formans am Gedächtniskegel am Punkt S zu verorten, an jenem Punkt der Aktualität, der sich auf die Vergangenheit stützt, ohne dass diese als solche – in ihrer Virtualität – in den Film Eingang fände.

3. Zeit-Bilder statt Klischees Der Übergang zum Zeit-Bild des Kinos wird von einer „Krise des Aktionsbildes“14 eingeleitet: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vom italienischen Neorealismus, der nouvelle vague und dem Neuen Deutschen Film Bilder entwickelt, die nicht mehr metonymisch für eine große Gesamtkonzeption stehen, in denen es keine zwingende, quasi-ontologische Verkettung von Ereignissen und Situationen mehr gibt, sondern lose, bisweilen zufällige Verbindungen, aus denen variable und freie Formen entstehen wie roadmovies, Milieustudien, Porträts von Gruppen oder Individuen (vgl. die Filme von John Cassavetes oder Sidney Lumet). Im tschechischen Kontext waren die historischen Bedingungen für die Ablösung des klassischen Aktionsbildes freilich andere, doch lässt sich das begriffliche Schema des im amerikanischen und sowjetischen Kino gleichermaßen entwickelten Aktionsbildes auch auf die kulturellen Bedingungen im real existierenden Sozialismus übertragen. Das Aktionsbild ist insofern zum Klischee erstarrt, als jegliche Erwartung historischer Veränderung mit der ernüchternden tschechoslowakischen Wirklichkeit nach dem Februar-Putsch von 1948 enttäuscht werden musste. Noch die originellsten Filme der 50er Jahre sind in ihrer Poetik den Schemata des klassischen Realismus verpflichtet: Gemäß den Analysen von Škapová15 wird meist streng chronologisch erzählt, die Handlungszusammenhänge der Fabel sind kausal organisiert und stellen ein zentrales Gerüst dar, um welches herum die Einstellungen komponiert sind, die Charaktere sind eindeutig festgelegt, „Outsider“ erscheinen allenfalls als komplexere Figuren, Schnitte erfolgen möglichst unauffällig. All dies entspricht der „organischen Repräsentation“ des Aktionsbildes, in denen jedes Element des Filmbildes einen

14 15

Vgl. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 275-287. Zdena Škapová, Cesty k moderné filmové poetice, in: Stanislava Přádná/Škapová Zdena/Jiří Cieslar: Démanty všednosti. Český a slovenský film 60. let. Kapitoly o nové vlně, Praha 2002, 11-148, hier: 14-44.

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wohldefinierten Platz in der Komposition einnimmt, die Aktionslinien in einer Parallelmontage zusammenlaufen etc.16 Wenn nun der Glaube an die Veränderbarkeit der Welt durch menschliches Handeln abhanden kommen musste – sei es aufgrund der Erschütterungen des Zweiten Weltkrieges oder der Enttäuschungen über die sozialistische Wirklichkeit –, so tendierte die nová vlna zu einer Bestandsaufnahme der Welt vor ihrer Veränderung in einem Aktionsbild, das zu einem unglaubwürdigen Klischee geworden ist. Sie setzte auf Beschreibungen der Situation, bevor diese in Aktion übergeht.17 Dem klischeehaft gewordenen Aktionsbild des Films entspricht in der Bergson’schen Theorie das sensomotorische Schema, welches Wahrnehmungen mit Aktionen des lebendigen Organismus in Beziehung setzt. Wie werden beide aber ihre Routine, ihre Automatizität los, wie können die eingespielten Rezeptionsmuster der Wahrnehmungen durchbrochen werden? Für den Film ist mit diesem Problem die Entstehung des Zeit-Bildes verbunden, der lebendige Organismus hingegen geht dann seiner vertrauten Handlungsmuster verlustig, wenn er mit einer neuen Wahrnehmung konfrontiert wird, die nicht mehr sofort in routinierte Bewegungen umgesetzt werden kann.18 Zur aktuellen Wahrnehmung kommen vermehrt Erinnerungsspuren hinzu, das wahrgenommene Bild wird um diese ergänzt. Diese Parallelisierung von Filmbildern und Bergson’scher Wahrnehmungstheorie doubliert gewissermaßen die psychologistische Kunsttheorie des frühen Formalismus19: Sah dieser das Wesen der Kunst generell in einer erschwerten Wahrnehmung und 16 17

18 19

Vgl. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 206-211. Damit blieben die Regisseure immer noch im Rahmen der kulturpolitischen Vorgaben, die gewissermaßen ein ‚Aktionsbild‘ forderten, wie die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Produktivkräfte eines ist. Gegenüber offiziöser Kritik konnte man sich somit auf die Position berufen, sich der sozialistischen Wirklichkeit anzunähern. Bezeichnenderweise gelang dies bei Der Feuerwehrball/Anuschka - es brennt mein Schatz (Hoří, má panenko, 1967) nicht mehr, weil in die Darstellung des Feuerwehrballs allzu offensichtlich allegorische Elemente eingeflossen sind. Der mit einer Beteiligung Italiens mitfinanzierte Film – selbst Produzent Carlo Ponti fand die einfachen Menschen als zu negativ dargestellt – konnte nach dem Ende des Prager Frühlings nicht in der Tschechoslowakei gezeigt werden (vgl. Milan Kundera, Formanovo Hoří, má panenko. 1967, in: Iluminace 8 1/1996, 5, wo der Film ob seiner tragikomischen Elemente und dem Verlachen ungeschickten Verhaltens einfacher Feuerwehrleute mit Kafkas Schloss verglichen wird). Vgl. Bergson, Materie und Gedächtnis, 120-125. Der Einfluss Bergsons auf den russischen Formalismus, insbesondere auf die von Šklovskij geprägte frühformalistische Phase, wurde u.a. von Hansen-Löve (vgl. Aage Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978, 222) angezeigt: Gerade die Entautomatisierungsfunktion der Kunst korrespondiert mit Bergsons Insistenz auf der Korrektur erstarrter Konzepte der Philosophie bzw. des common sense.

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erklärte den Wechsel von Stilen und Poetiken mit der allmählichen Konventionalisierung von einmal Ungewöhnlichem und der Notwendigkeit einer neuerlich erschwerten Wahrnehmung, besteht nach jener das Wesen des modernen Films darin, Schemata des Aktionsbildes aufzugeben, um die Bilder einer geistigen Dimension zu öffnen, die von einem ‚neuen Blick‘ auf die Filmbilder begleitet wird. Das neue Bild hat ein direktes Verhältnis zur Zeit, es will gelesen werden (und nicht bloß gesehen); an die Stelle realer Räume und distinkter Oppositionen (imaginär-real, subjektiv-objektiv, FiktionWirklichkeit) treten mentale, weniger eindeutige Relationen. Deleuze bezeichnet solche Filmbilder als Chrono-, Lekto- und Noo-Zeichen.20 Das synekdochisch – totum pro partibus – für die im zweiten Band erörterten modernen Filmbilder stehende Zeit-Bild ist mit der oben erwähnten Eigenschaft von Film als Bewegungs-Bild verbunden, welches kein Zentrum mehr kennt, das den Bezugspunkt für Bewegungen abgeben würde. Während für die „natürliche“ Wahrnehmung (nach dem phänomenologischen Grundmodell) eine Bewegung darin besteht, dass sie sich von einem unveränderten Hintergrund in Relation zu einem Wahrnehmenden abhebt, scheinen die Bewegungs-Bilder des Films spätestens seit der Einführung der Montagetechnik und der bewegten Kamera „abnormal“ zu sein: Die Kamera zeigt jemanden von oben, wie er auf ein Haus zugeht, nach einem Schnitt tritt er bereits ins Zimmer (die Zeit der Darstellung und die Realzeit eines solchen Vorgangs divergieren), bzw. ein Flüchtender wird nicht kleiner, solange eine bewegte Kamera ihn verfolgt. Im ersten Fall wird das Ganze eines Handlungsverlaufs durch Montage zweier distinkter Einstellungen hergestellt, im zweiten entsprechen die Bewegungen (des Fliehenden und der Kamera) zwar nicht mehr der „natürlichen“ verkörperten Wahrnehmung, eine Vorstellung von der verstreichenden Zeit stellt sich aber indirekt durch die Bewegungen des Laufenden bzw. der Kamera ein. Der Film hat mithin schon immer eine Dissoziation von Bewegung und Zeit vorgenommen,21 im klassischen Kino aber die Zeit insofern der Bewegung untergeordnet, als entweder die Montage der Einstellungen eine Repräsentation der Zeit des Ganzen schuf, oder die einzelne Einstellung selbst über die in ihr ablaufenden Bewegungen Zeit darstellte. Deleuze zufolge ist im modernen Kino eine Ablösung der Zeit von der Bewegung bzw. der Montage zu bemerken, die Zeit wird als solche sichtbar und nicht mehr relativ auf die Bewegung bezogen. Faktisch äußert sich dies in einer Verfremdung der gewöhnlichen Zeitwahrnehmung als Bewegung entlang der Gegenwart, die stetiger Übergang von Zukunft in Vergangenheit ist. Die neuen Filmbilder 20 21

Vgl. Deleuze, Das Zeit-Bild, 36-40. „Es musste erst das moderne Kino kommen, um das gesamte Kino noch einmal als das zu lesen, was es bereits war, abweichende Bewegungen und falsche Anschlüsse.“ (Deleuze, Das Zeit-Bild, 61.)

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sind nicht mehr gegenwartsfixiert, sie zeigen Überlagerungen von Zeitschichten, was nur aufgrund der Befreiung von der Bewegung möglich ist. Der Wechsel zu den Zeit-Bildern kommt also nicht durch einen kardinalen Wechsel filmischer Verfahren zustande, sondern eher auf dem Wege der Verschiebung von Einstellungen (im doppelten Sinn: als ustanovka wie auch als filmische Einstellung): Gegenüber einer ustanovka des klassischen Kinos auf Montage oder auf stetige Bewegung in einer Einstellung, kommt es zur ustanovka des modernen Filmbildes auf die Zeit als irreduzible fundamentale Folie.22 Während im traditionellen Kino des Aktionsbildes die für die Handlung relevanten Ereignisse die Kadrierung bestimmen, kann sich im Zeit-Bild die Einstellung soweit verschieben, dass nicht immer klar ist, warum überhaupt eine solche Kadrierung gewählt wurde; leere und abgetrennte (Zeit-)Räume entstehen (Einstellungen, die keine narrative Funktion haben, nicht einmal als Charakterisierung eines setting, und vielleicht auch daher einem Betrachter langweilig erscheinen können). Was Formans Behandlung der Zeit anbelangt, so ist festzustellen, dass sein Streben nach einer realen Darstellung der Zeit dem klassischen Kino näher steht, welches Zeit an die Bewegung innerhalb einer Einstellung bindet. Forman strebt danach, Handlungen in Realzeit wiederzugeben: Die letzte Episode von Schwarzer Peter, in welcher Petr sich seinem Vater erklären soll und dann unangekündigt seine Bekannten Čenda und Zdeněk dazukommen, dauert ca. zwölf Minuten, die fast kontinuierlich wiedergegeben werden. Lange Einstellungen werden mittels „rationaler Schnitte“ (die Verkettung der Einstellungen ist wichtiger als die Unterbrechung durch den Schnitt23) aneinandergefügt, währenddessen tickt aus dem Off deutlich vernehmbar eine Wanduhr, eine Kadrierung setzt Petrs Armbanduhr ins Bildzentrum (vgl. Abb. 4). In Die Liebe einer Blondine (Lásky jedné plavovlásky, 1965) bildet eine Tanzmusiknummer die zeitliche Folie für die Szene des ungeschickten Flirtens der drei Soldaten. Diese idealtypischen Sequenzen stehen gleichsam paradigmatisch für die illusionistische Repräsentation von Zeit bei Forman.24 22

23 24

Vielleicht wird der Unterschied deutlicher, wenn wir Kants Begriff von Zeit als allgemeine Anschauungsform heranziehen, dem zufolge wir die Phänomene niemals außerhalb einer zeitlichen Ordnung oder unabhängig vom Raum wahrnehmen. Die moderne Kino-Ästhetik stellt aber gerade so losgelöste Phänomene dar: Erscheinungen, die keinem Raum-Zeit-Ort zugeordnet werden können/sollen. Vgl. Deleuze, Das Zeit-Bild, 275. „Málokdo ve světové kinematografii měl […] takový dar jako Forman ve svém českém období: vzbudit na plátně iluzi, že čas a v něm se odehrávající dění jsou zachyceny v přirozeném plynutí, jakoby bez sebemenšího režijního zásahu.“ (Škapová, Cesty k moderná filmové poetice, 52.) („Kaum jemand im Weltkino hatte eine solche Begabung wie Forman in seiner tschechischen Periode: auf der Leinwand die Illusion zu erzeugen, dass die Zeit und die in ihr ablaufende Handlung im natürlichen Fließen erfasst werden, gleichsam ohne Eingreifen der Regie.“) – In Wenn die Musik nicht wär (Kdyby

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Abb. 4: Ein Ausschnitt aus dem langen Küchengespräch, in dem danach gestrebt wird, die gefilmte Zeit der Realzeit anzugleichen (synekdochisch angedeutet durch das hörbare Ticken der Küchenuhr bzw. der Einstellung mit Petrs Armbanduhr im Bildzentrum) in Schwarzer Peter, 1963, Miloš Forman.

4. Die Vergangenheit der Gegenwart und die Gegenwart der Vergangenheit Die Wahrnehmungstheorie von Bergson postuliert nur idealiter einen reinen Gegenwartsbezug der Wahrnehmung: Praktisch ist immer die Vergangenheit eines Organismus bei der Wahrnehmung beteiligt. Dies gilt für die zu einem sensomotorischen Schema gewordene Wahrnehmung (die reconnaissance automatique/habituelle) insofern, als das Schema sich nur herausbilden konnte, weil ähnliche Spuren sich übereinander legten und so allmählich eine körperliche Disposition des Organismus entstehen ließen, während für die reconnaissance attentive (wir bevorzugen die Übersetzung „aufmerksames Wiedererkennen“ dem „attentiven Wiedererkennen“ in Deleuzes Das Zeitty muziky nebyly, 1963) findet sich ein markantes Gegenbeispiel. Vor dem Start eines Motorradrennens wird auf einer Tafel der Countdown von 30 Sekunden angezeigt. Forman montiert diverse Einstellungen so, dass knapp 90 Sekunden bis zum Start vergehen: Als die innere Uhr des Zuschauers das Startzeichen erwartet, werden Ausschnitte aus einem Blasmusikwettbewerb dazumontiert. An diesem Beispiel wird vielleicht die Unabhängigkeit der Zeit von der Bewegung, die eigentlich immer schon das Wesen des Kinos ausgemacht hat, deutlich: Das filmische Aufnahmeverfahren und die Rezeption lösen kontinuierliche Zeitflüsse auf. Zeit wird nicht in ihrem realen Verstreichen wahrgenommen. Die eigentlich markierte Form der Zeit im Film ist diejenige, in der das Verstreichen realer Zeit darzustellen angestrebt wird: Dies ist eine Tendenz bei Forman, noch klarer zutage tritt sie etwa in langen Einstellungen (Hitchcocks Cocktail für eine Leiche [The Rope, 1948] oder Aleksandr Sokurovs Russian Ark – Eine einzigartige Zeitreise durch die Eremitage [Russkij Kovčeg, 2002] können hier als berühmte Extrembeispiele gelten) oder in Agnès Vardas Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7 (Cléo de 5 à 7, 1961) wo die „rationalen Schnitte“ und die immer wieder zu sehenden Uhren diese für den Film untypische Annäherung an die Real-Zeit erreichen.

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Bild) immer mehr Erinnerungsspuren in die Wahrnehmung einfließen und die Wahrnehmung so in ihrer zeitlichen Dimension vertieft wird. Virtuelle Bilder (einst Wahrgenommenes) und die aktuelle Wahrnehmung eines Objekts O interagieren in beide Richtungen: Die Wahrnehmung löst virtuelle Bilder aus, diese wirken auf die Wahrnehmung von O zurück, um deren „tiefere Schichten“25 zu erreichen. Diese Interaktion von Gegenwart und Vergangenheit in der Wahrnehmung hat Bergson mit einer Skizze zu erläutern versucht, die den Gedächtniskegel ergänzt (vgl. Abb. 5). Abb. 5: Abbildung aus Bergson, Materie und Gedächtnis, 126.

Die Wahrnehmung bildet immer sowohl Ausgangs- wie Endpunkt der Assoziationsbahnen, bemerkenswert erscheint dabei vor allem der Umstand, dass in der Gegenwart gleich zwei simultane Bilder entstehen: Das eine ist das Wahrnehmungsbild O, das andere dessen virtuelle Doublierung, welche die Erinnerung an diese Gegenwart ausmachen wird. Wir nannten Optozeichen (und Sonozeichen) das aktuelle, von der motorischen Fortsetzung abgeschnittene Bild: es stellte die weiten Kreisläufe her, es trat mit all dem in Verbindung, was als Erinnerungsbild, Traumbild und Welt-Bild erscheinen konnte. Hier nun findet das Optozeichen sein wahres genetisches Element, wenn das aktuelle optische Bild mit seinem eigenen virtuellen Bild auf dem kleinen inneren Kreislauf kristallisiert. Wir haben es hier mit einem Kristallbild zu tun, das uns den Grund oder vielmehr das „Herz“ der Optozeichen und ihrer Zusammensetzungen liefert. Bei ihnen handelt es sich lediglich noch um Splitter des Kristallbildes.26

Die besten Momente von Formans Filmen (und deren sind es nicht wenige) machen solche Kristallbilder aus: Sie sind Zeit-Bilder in statu nascendi, da 25 26

Bergson, Materie und Gedächtnis, 127. Deleuze, Das Zeit-Bild, 96.

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sie primär um die gegenwärtige Wahrnehmung, die zugleich bereits Bilder für die zukünftige Erinnerung bereitstellt, organisiert sind. Die Filme liefern somit keine virtuellen Bilder, keine Fahrten entlang von Erinnerungsspuren, keine Traumwelten, in denen frei zwischen Erinnerungsspuren oder zwischen virtuellen Bildern assoziiert wird. Dafür aber sind gewisse Einstellungen so gelungen, dass sie im Betrachter schon während ihrer Wahrnehmung als künftiges Erinnerungsbild erkannt werden. Auf die Rolle des Sehens und Beobachtens in Schwarzer Peter wurde schon oben hingewiesen, im Film selbst finden sich einige weitere Details, die gleichsam als Instruktionen für ein neues Sehen des Vertrauten gelten können: Als Petr Kunstdrucke aus einem Tauschgeschäft in das Kaufhaus bringt, in dem er arbeitet, befindet sich darunter auch ein Druck von Giorgiones Schlafender Venus. Petr und sein Chef bestaunen den Akt, indem sie ihre Hände vor ihren Augen zu einem Rohr formen (vgl. Abb. 6), womit sie – wie der Chef erklärt – die störenden Flaschen, die neben dem Bild stehen, ausblenden. Man könnte sagen, dass für die Männer hier ein Kristallbild entsteht: Ihre „aufmerksame Wahrnehmung“ verknüpft die aktuelle Wahrnehmung des Druckes mit Erinnerungen, zugleich wird mit der aktuellen Wahrnehmung aber schon deren virtuelle Entsprechung gebildet, die bei späterem aufmerksamen Wiedererkennen aktiviert wird. Petr nimmt den Giorgione-Druck, der dann in der nächsten Szene durch seine Unachtsamkeit beschädigt wird, mit sich und betrachtet ihn vor seinem Rendezvous mit Pavla. Künftige Blicke (seine wie diejenigen des Zuschauers) rekurrieren natürlich auf diese „kristalline“ Wahrnehmung weiblicher Schönheit.27

27

In der anschließenden Szene, einem Gespräch mit seinen Eltern, erzählt Petr, dass auf dem Bild eine schöne nackte Frau gewesen sei – „tausendmal schöner als unsere da!“ („tisíckrát hezčí než tamhleta naše!“). Petr referiert dabei auf ein kitschiges Marienbild in der elterlichen Wohnung, zu dessen Verteidigung sein Vater sagt, es sei so wunderbar gemalt, dass die Augen den Betrachter immer verfolgten, egal wo er stehe. Der Vater demonstriert dies, indem er von einer Stelle des Raums zu einer anderen geht. Dabei verfolgt ihn auch die Kamera innerhalb einer Einstellung – ist mit dem Reden vom verfolgenden Blick das „Kameraauge“ nicht wenigstens mitgemeint?

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Abb. 6: Die beiden Herren „kadrieren“ ihre Einstellung auf das Aktbild in Schwarzer Peter, 1963, Miloš Forman.

Wenn Petr und sein Chef mit ihren Händen den Bildausschnitt so wählen, dass sie allein die Schlafende Venus sehen, so nehmen sie gleichsam eine Kadrierung ihres Bildausschnittes vor, ihre Wahrnehmung ist ein beginnendes Zeit-Bild. Vieles spricht dafür, diese kleine komödiantische Szene als metadiegetischen Kommentar Formans zum Kino zu betrachten.28 Auch die Kamera kadriert, auch die Leinwand zeigt einen Ausschnitt aus dem Universum der Bewegungs-Bilder. Die im Film gezeigten Bewegungs-Bilder sind, wie Deleuze immer wieder betont, nicht als Zeichen und noch weniger als Aussage (wie die auf narrativen Modellen basierenden Filmanalysen annehmen) zu betrachten, sie sind gleichsam die Sache selbst, sie sind ein Ausschnitt aus der Bewegung der Welt.29 Dieses grundlegende Prinzip gilt pauschal für alle filmischen Genres, egal, ob Dokumentar- oder Spielfilm. Von großer Tragweite ist das Prinzip für Miloš Formans Poetik, die dem cínema-vérité verpflichtet ist: Nicht selten erscheinen die gefilmten Bewegungs-Bilder als authentische Wirklichkeitsfragmente, als zweite – kinematographische – Wirklichkeit. Als Forman sich der Wirkung seines Verfahrens noch nicht sicher war – während der Dreharbeiten zu Schwarzer Peter, seinem zweiten Film –, befiel ihn Pa28

29

Ein ähnlich zweideutiges Element – das zum einen natürlich auf die Diegese selbst bezogen ist, zum anderen aber auch als metadiegetischer Kommentar, als Instruktion zum Betrachten des Films Schwarzer Peter zu sehen ist, ist die rekurrente Aufforderung „Schau mir zu!“ („Sleduj! Divej! Sleduješ mě!“), mittels welcher die Burschen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchten (wenngleich die daraufhin ausgeführten Handlungen meist eher kläglich ausfallen). Die auf diese Aufforderungen folgenden Einstellungen heben die Differenz zwischen subjektiver und objektiver Kameraperspektive auf, der Unterschied wird – wie meist in der Filmgeschichte – nivelliert, da es gleichsam um das Sehen als solches geht. „Das Bewegungs-Bild ist der Gegenstand, es ist die Sache selbst, die in der Bewegung als kontinuierliche Funktion erfasst wird. Das Bewegungs-Bild ist die Modulation des Gegenstands selbst.“ (Deleuze, Das Zeit-Bild, 44.)

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nik ob der Tatsache, dass sich die Welt seiner Filme so wenig von der Alltagswelt unterscheidet: Wer wird das unterhaltsam finden? In diesem Film gibt es ja nichts anderes als Gespräche von Burschen, Belehrungen von Eltern und Geschwafel von Vorgesetzten. Warum sollten die Leute dafür ihr Geld ausgeben, wenn sie eigentlich nur sich umzublicken bräuchten. […] Ich musste mir oft wiederholen, dass ich genau dies wolle, dass man diese Szenen zwar aus der Wirklichkeit, jedoch nicht aus dem Film kennt. Und der Gesamteffekt werde sich aus der Summe all dieser Banalitäten ergeben. Wenn es mir nur gelingen würde, möglichst reale, möglichst gewöhnliche Ausschnitte aus dem Leben zusammenzutragen, würde erst eine richtige Satire daraus entstehen.30

Die Entstehung eines Kristall-Bildes (ein solches ist ja die Grundform des Zeit-Bildes) ist theoretisch denkbar einfach: Nach Deleuze/Bergson ist die Wahrnehmung immer zweiseitig, einerseits verbunden mit der aktuellen Wahrnehmung, andererseits mit virtuellen Bildern, Erinnerungsspuren, die in den Wahrnehmungsprozess eingreifen. Während die einfache habituelle Wahrnehmung aktuelle Wahrnehmungsbilder rasch mit sensomotorischen Reaktionen verknüpft, werden bei der aufmerksamen Wahrnehmung bzw. beim aufmerksamen Wiedererkennen stärker die virtuellen Bilder aus der Vergangenheit des wahrnehmenden Körpers aktiviert. Der „kleinste Kreislauf“ zwischen der aktuellen Wahrnehmung und den virtuellen Bildern ist das Kristallbild, jenes Bild, welches gleichsam ein Double der aktuellen Wahrnehmung ist. Das Kristallbild ist der Punkt der Ununterscheidbarkeit zwischen den beiden verschiedenen Bildern, dem aktuellen und dem virtuellen, während dasjenige, was man in dem Kristall sieht, die Zeit selbst, ein geringer Teil der Zeit in reinem Zustand [ist], nämlich die Unterscheidung zwischen den beiden Bildern, die sich in ihnen unablässig erneuert.31

Und um genau dieses Kristallbild drehen sich die tschechischen Filme Formans, darum geht es auch im obenstehenden Zitat: In der Rezeptionssituation eines Kinofilms ist das Wahrnehmungsbild jeder sensomotorischen Anbindung entbunden, entsprechend aufmerksam wird das Gezeigte wahrgenommen; im Kino kommt es zum voir pour voir, während die alltägliche Wahrnehmung sieht, um handelnd zu reagieren (voir pour agir32). Wenn sich das Filmbild nun nur geringfügig von gewöhnlichen habituellen Wahrnehmungen 30

31 32

„Koho tohle bude bavit? Vždyť v tom filmu nemám nic jiného než klukovské kecy, řeči rodičů a blafání pánů šéfů. Proč by za tohle měli lidi platit, když se stačí podívat kolem sebe? […] Pořád jsem si opakoval, že přesně tohle chci, že takové scény člověk zná ze skutečnosti, ale nezná je z filmu. A výsledný efekt bude pramenit ze součtu všech těch banalit. Když se mi podaří shromáždit co „nejreálnější“, co nejobyčejnější úryvky ze života, vznikne teprve ta pravá satira.“ (Forman/Novák, Co já vím?, 111.) Deleuze, Das Zeit-Bild, 112. Vgl. Grubacevic, Vom Bild des Denkens zum Denken des Bildes, 20.

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unterscheidet, so bildet es mit diesen nun doch jenen inneren Kreislauf, der in tiefere Vergangenheitsschichten ausgreifen kann bzw. neue Aspekte an der gewöhnlichen habituellen Wahrnehmung entdeckt, die bei dieser ausgespart bleiben. Die Verdoppelung der Wirklichkeit, gegenüber welcher Forman selbst anfangs skeptisch war, macht eben jenes Kristallbild aus. Die pragmatisch fundierte sensomotorische Wahrnehmung ist das eine Bild der Wirklichkeit, vom Film wird es um genau die virtuellen Aspekte der Zeit ergänzt, die beim aufmerksamen Wiedererkennen beteiligt sind. Der Betrachter, bequem in der black box in einem Kinosessel sitzend, ist insofern zum aufmerksamen Wiedererkennen alltäglicher Situationen gezwungen, als ja gerade seine Motorik reduziert ist. Es handelt sich hier um das einfachste KristallBild, welches Deleuze seltsamerweise nicht bedacht hat: Der Film als Annäherung an die Routinen und Rituale des Alltags kann dabei tatsächlich immer nur in der Gegenwart sein, das Zeit-Bild entsteht im Betrachter.33

5. Die Auflösung von Identitäten im Kristall Viele der in Deleuzes Kino 2 diskutierten Filme des Zeit-Bildes scheinen mit dem Frühwerk Formans wenig gemeinsam zu haben. Dies liegt aber eben darin begründet, dass diese wesentlich stärker die virtuellen Bilder realisieren, also diejenigen Bahnungen, die nicht der scheinbar immerwährenden Gegenwart des Filmbildes entsprechen (verschiedene, alternative mögliche Welten lösen einander ab, ohne dass eine davon mit dem Index des Realen versehen wäre: z.B. bei L’Année dernière à Marienbad oder bei India Song von Marguerite Duras, zuletzt prominent bei Mulholland Drive). Forman hingegen bleibt der Spitze des Gedächtniskegels nahe: Der Gegenwart, in der virtuelle Bilder die realen Wahrnehmungen beständig doublieren, sodass beide kaum mehr zu unterscheiden sind. Das für diese Doublierung der Wirklichkeit bezeichnendste Verfahren Formans besteht im Einsatz von Laien, die sich selbst darstellen oder einen ihnen ähnlichen Typ zu spielen haben. Ein unvoreingenommener Betrachter mag gerade von den Schauspielerleistungen in Formans Filmen beeindruckt sein: Besonders gelungen (hinsichtlich ihrer Intensität und Realitätsnähe) erscheinen die Elternfiguren in Schwarzer Peter, Die Liebe einer Blondine und auch das Feuerwehrkommando in Der Feuerwehrball. Gerade diese 33

Deleuze hingegen diskutiert diejenigen Phänomene der Filmgeschichte, die dem Forman’schen Schaffen zeitlich wie konzeptionell am nächsten kommen (Filme von Cassavetes, Truffaut, sogar von Warhol, wenn man letztere als Dokumentierung realer Zeit auffasst), unter dem Schlagwort „Körper“ gleichsam abgelöst von Aspekten der Zeitlichkeit (vgl. Deleuze, Das Zeit-Bild, 244-262).

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Figuren aber sind mit Laien besetzt, die Forman/Passer/Papousek nach physiognomischen Kriterien ausgewählt haben.34 Die Invasion von Laienschauspielern auf der Leinwand (Chytilová, Forman, Passer, Němec, Menzel). Forman ist darin nicht zu übertreffen, welches Ausmaß an Authenzität er über die Figurenreden in den Film bringen konnte, dennoch ist dies eine allgemeine Erscheinung in den sechziger Jahren.35

Die Laiendarsteller waren einerseits Vertreter von Typen, andererseits wählte Forman auch junge Schauspieler aus, die „eher zu sehen und sichtbar zu machen wissen als zu agieren und die gelegentlich auch stumm bleiben oder eine endlose beliebige Unterhaltung führen können, statt zu antworten und einem Dialog zu folgen“36. Ladislav Jakim (der Darsteller von Petr) oder Vladimir Pucholt (in Die Liebe einer Blondine, Schwarzer Peter) entsprechen am ehesten jenem neuen Typus von Schauspielern, den in Frankreich etwa Jean-Pierre Léaud abgab. Dieser neue Typus sollte verlangsamt reagieren und dabei einen neuen Blick auf die Welt vorgeben, während die Laienschauspieler sich gewissermaßen zu verdoppeln hatten. Nach der Wortbildung im Tschechischen wird ein Laienschauspieler über das Negationspräfix von „herec“ („Schauspieler“) bezeichnet: Ein „neherec“ ist demnach jemand, der kein professioneller Schauspieler ist, aber dennoch eine Figur in filmischen oder szenischen Produktionen darstellt. Die innere Form dieser Bezeichnung suggeriert, dass ein Laie nicht „spielt“ – ähnliches suggeriert auch das Synonym „naturščik“. Bei der Betrachtung der vier Filme aus Miloš Formans tschechischer Periode wird diese Dichotomie des Lexikons fragwürdig: Die schauspielerischen Leistungen erscheinen vor dem Hintergrund der jeweiligen Situationen bzw. Szenen dermaßen überzeugend, dass es für den „naiven“ Betrachter unmöglich ist, professionelle Schauspieler von Laiendarstellern zu unterscheiden. Ein Betrachter kann dies nicht erkennen, ein Regisseur vom Format Formans wusste freilich um die praktischen Unterschiede im Umgang mit Schauspielern und Laien. Letztere unterteilte er in zwei Gruppen: In solche, die nur sich selbst 34

35

36

Vgl. Stanislava Přádná, Poetika postav, typů, (ne)herců, in: dies./Zdena Škapová/Jiří Cieslar: Démanty všednosti. Český a slovenský film 60. let. Kapitoly o nové vlně, Praha 2002, 149-298, hier: 162f. Einige dieser Laien machten in der Folge von Formans Inszenierungskunst gleichsam „Karriere“ im tschechoslowakischen Film, so etwa Jan Vostrčil, der Kapellmeister aus Kolín, der auch in anderen Produktionen der sechziger und siebziger Jahre mitwirkte (etwa in Intime Beleuchtung [Intimní osvetlení, 1966] von Ivan Passer, Ein totgeschlagener Sonntag [Zabitá neděle, 1969] von Drahomír Vihanová, Adelheid [1969] von Frantíšek Vláčil). „Invaze neherců na plátno (Chytilová, Forman, Passer, Němec, Menzel). Forman je asi nedostižný v tom, kolik autentičnosti se mu daří dostat do filmu skrze promluvy, nicméně tato tendence je v 60.letech obecná.“ (Škapová, Cesty k moderná filmové poetice, 68.) Deleuze, Das Zeit-Bild, 34.

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spielen (etwa die Mutter in Schwarzer Peter (Božena Matušková) und in solche, die gleichsam eine Stufe über ihren Figuren stehen. Letztere reflektieren sich in ihren Rollen, indem sie sich gleichsam selbst parodieren („wenn auch todernst“/„i když smrtelně vážně“). Demgegenüber seien wirkliche Schauspieler in der Lage, auch Rollen zu übernehmen, die mit ihrer Persönlichkeit nichts gemeinsam haben.37 Mit Laienschauspielern arbeitete Forman anders als mit professionellen Schauspielern. Er ging so vor, dass er als Regisseur und (Mit-)Autor des Drehbuchs die Szenen zuerst vorspielte, die Laien hatten dann die Situation nachzustellen, wobei sie nicht wortwörtlich die Vorgaben übernahmen, sondern selbst die Rolle spontan gestalteten. Das Drehbuch setzte somit nicht bereits alles fest, die Schauspieler adaptierten das Skript im Zuge der Aufnahme. Laut Forman waren Wiederholungen von Szenen in der Regel für dieses Verfahren weniger günstig, beim Schnitt wurden deshalb meist die ersten Klappen verwendet.38 Formans Inszenierungstechnik und Schauspielerarbeit unterscheiden sich gerade dadurch von anderen inszenierten Filmbildern, als sie spontanem Werden, stetigem Wandel gegenüber offen sind.39 Dabei entsteht jener innere Kreislauf des Zeitkristalls, der für den Betrachter dann als Wiederholung der Wirklichkeit erscheint: Die neherci bringen ein Double von sich selbst auf die Leinwand, das ebenfalls zu ihnen gehört und nicht unterschieden werden kann.40 Die Spontaneität, die von ihnen verlangt wird, wenn sie die szenischen Vorgaben zu realisieren haben, bezieht sich natürlich nicht allein auf die aktuelle Situation, in wesentlich höherem Maße integrieren sie ihre Vergangenheit, ihre Erfahrung, ihre „virtuellen“ Bilder in diese aktuelle Situation. Die Arbeit mit den Laienschauspielern ist für das Kristall-Bild des modernen Kinos kennzeichnend, in dem nach Deleuze die „Macht des Falschen“ 37 38 39

40

Vgl. Miloš Forman, Černý Petr, in: Jiří Janoušek (Hg.), 3 ½, Praha 1965, 78-140, hier: 86. Vgl. Forman/Novák, Co já vím?, 110. In einer Vorbemerkung zum Drehbuch von Schwarzer Peter schreibt Forman davon, dass der produktionstechnische Ablauf: Idee – Skizze – Drehbuch – Aufnahmevorbereitungen – Aufnahmen – Nachbearbeitung – fertiger Film für ihn nur in der Theorie bestehe, praktisch interagierten diese Abläufe. Das vorgelegte Drehbuch sei daher auch als Versuch zu verstehen, mit einfachen Worten einen fertigen Film zu beschreiben (vgl. Forman, Černý Petr, 88). In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass Forman in seiner Autobiographie die Verdoppelung gleichsam zu seinem Schicksalsmotiv erklärt: Eine Laienschauspielerin in Die Liebe einer Blondine wiederholte in Wirklichkeit das im Film erzählte Mädchenschicksal (vgl. Forman/Novák, Co já vím?, 121-123), als Formans zweite Frau Zwillingen das Leben schenkt, feiert er mit Freunden. Nach tschechischem Brauch muss er eine Schüssel Linsen essen, in die ein Ei geschlagen wird: Das Ei, welches Forman dafür zerschlägt, hat freilich zwei Dotter (ebd., 115), in den Vereinigten Staaten wird Forman ein zweites Mal Vater von Zwillingen etc.

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eine Aufwertung erfährt. Der doppelte Charakter des Kristallbildes, seine zwei Seiten, die der immer neuen Gegenwart einerseits und die der niemals vergehenden Vergangenheit andererseits, lässt ja nicht gleich erkennen, zu welcher Seite ein Bild gehört, zu derjenigen der ephemeren Gegenwart oder derjenigen der Vergangenheit: Das aktuelle Bild und sein virtuelles Double unterscheiden sich nicht voneinander. Überträgt man diese fehlende Unterscheidung zwischen zwei Bildern auf die jeweilige Person eines neherec, kann ebenso wenig eine Demarkationslinie zwischen dessen „Wesen“ und seiner Rolle bestimmt werden: Schon die grundlegende Dichotomie von wesentlichen, substantiellen Eigenschaften einerseits und akzidentiellen Facetten, die erst durch das Spiel hinzukommen, ist für Deleuze/Bergson grundlegend falsch, da sie ein statisches Wesen postuliert und Differenzen, die sich erst entfalten müssen, schon begrifflich ausschließt. Die vom Laiendarsteller gemimte Person lässt sich nicht so durchsichtig segmentieren, wie die Bezeichnung neherec in ihre Wortbildungsmorpheme aufgeteilt werden kann. Lassen sich die Beispiele, die Deleuze für die mit dem Kristallbild einhergehende Macht des Falschen gibt, wirklich bruchlos auf Formans Filme übertragen? Es fehlen zum einen die großen Fälscher-Figuren, die dauerhaft eine Macht über die erzählte Welt ausüben: Milda (die männliche Hauptfigur von Die Liebe einer Blondine) könnte zwar als ein Fälscher gelten, als er ja, um die Nacht mit Andula verbringen zu können, ihr die große Liebe verspricht, aber der Film konfrontiert Andulas Illusion mit einer ganz anders gearteten Wirklichkeit. Betrachtet man überdies den Schluss, in welchem Andula nach ihrer Rückkehr ins Internat ihrer Freundin eine verklärende Version ihrer Prager Erfahrungen erzählt, so bestätigt sich die Aufrechterhaltung der Dichotomie von objektiver Wirklichkeit und subjektiver Täuschung. Dementsprechend konventionell bleibt die Verteilung von objektiver und subjektiver Sichtweise: Die filmische Konvention besteht ja darin, dass als objektiv das gilt, was die Kamera sieht und als subjektiv das, was eine Figur wahrnimmt. Die allgemeine Tendenz in Filmen besteht darin, allfällige Divergenzen zwischen den beiden Sichtweisen zu beseitigen, um letztendlich eine Identität von objektiver Sicht und subjektiver Sicht, aber auch von Regisseur, Kamera, Figur und Zuschauer zu erreichen.41 Diese Tendenz zur Konformität hat einen Grund gewiss in dem Umstand, dass die Kamera nicht allein die Figur zeigt, sondern auch vieles von dem, was zugleich im Blickfeld der Figur ist. Figurenperspektive und Kadrierung besitzen viele gemeinsame Elemente; die Filmgeschichte überspielte Divergenzen zwischen dem Standpunkt der Kamera und dem der Figur eher, als dass sie diese akzentuierte. Pasolinis „freie indirekte Erzählung“ übertrug subjektive Sichtweisen auf die „objektive“ Kamera und löste somit deren Kontamination mit der Wahrheitsfunktion, um eine „poetische“ Erzählung zu erreichen. – Man kann al41

Vgl. Deleuze, Das Zeit-Bild, 195.

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lerdings nicht sagen, dass Forman in dieser Hinsicht ähnliche Wege gegangen wäre. Subjektive Perspektiven werden zwar eingeräumt oder auch realisiert, aufs Gesamte bezogen bleibt aber die objektive Instanz der Kamera bestehen, sie erst garantiert den Objektivitäts- bzw. Wirklichkeitseffekt. Dieser besteht in jenem „Mitsein“42 der Kamera im Geschehen (Personen verstellen kurzfristig die Kadrierung, die Kamera verfolgt und springt ähnlich wie ein menschlicher Betrachter), welche freilich keineswegs als subjektive Einstellung zu werten ist, eher als „glaubwürdige“ Zeugenschaft. Wohl aber scheint Formans Einsatz von Laien die herkömmlichen Identifizierungen zu unterlaufen. Wenn die traditionelle Formel lautet: Die Kamera filmt einen Schauspieler, der die fiktive Figur XY darstellt, so wird in den Filmen Formans diese Zuordnung schwankend. Über Der Wettbewerb etwa könnte man sagen: Die Kamera filmt den Theaterleiter Jiří Suchý, der als Juror in einem fiktiven Wettbewerb fungiert, sie filmt Mädchen, die sich vor der Kamera als Sängerinnen produzieren, um in das Theater aufgenommen zu werden, aber nichts davon ahnen, dass der Wettbewerb nur inszeniert ist. Die Kamera filmt aber auch Schauspieler, die innerhalb des Films eine Rolle spielen. Zwar kann von den meisten Laien gesagt werden, sie spielten gewissermaßen sich selbst oder ihnen entsprechende soziale Typen, doch soll gerade dabei nicht übersehen werden, wie die fiktionale filmische Erzählung an die dokumentarische Darstellung von Wirklichkeit angenähert wird. In den sechziger Jahren hatte wohl jeder einmal den Ehrgeiz, einen Film zu drehen, von dem gesagt werden würde, dass er dokumentarisch sei oder die dokumentarische Methode verwende […] Forman ist am weitesten in der reinen Darstellung der Wirklichkeit gegangen.43

Man könnte es auch so formulieren: Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit werden stellenweise in ihren Konturen aufgeweicht, freilich aber um den Preis, dass die Filme den Anspruch erheben, eine Wirklichkeit wiederzugeben, nicht aber durch eine „freie“ Schöpfung die Bindung von Filmbild und Wahrheit/Fiktion zu lösen. Führt man die bildlichen Potentiale von Deleuzes Kristall-Metapher weiter, könnte man sagen, dass Forman danach strebte, ein optisch besseres, klareres Bild der Wirklichkeit zu erzeugen, indem er den Kristall bearbeitete.44 42 43

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Vgl. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 104f. „Snad každý v 60. letech měl ambici natočit přinejmensím jedno dílo, o jakém se povšechne říká, že je „dokumentaristické“ nebo se užívá „dokumentárních metod“ […] Forman dospěl k nejzazším možnostem čirého zobrazení reality.“ (Škapová, Cesty k moderná filmové poetice, 52.) Beispielsweise indem er zentrale Figuren mit attraktiven oder wenigstens sympathischen Personen besetzte. Ein anderes Beispiel für Formans Bearbeitung des „Kristalls“ wäre etwa der große Altersunterschied zwischen dem sechzehnjährigen Petr und seinem Vater, der vom damals 60-jährigen Jan Vostrčil gespielt wird, dieser könnte auch

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Mit dem Einsatz von Laien und dem Drehen an authentischen Schauplätzen fabriziert Forman allerdings am nationalen Mythos von der Lebenswelt des einfachen tschechischen Menschen mit, ohne dass dabei die Parteinahme des Regisseurs deutlich würde, da die Kamera an die Fiktion objektiver bzw. naturalistischer Darstellung gebunden bleibt. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass die Filme vielfach als Satire auf menschliches Verhalten bzw. auf den realen tschechoslowakischen Sozialismus rezipiert wurden.45 Mit dem gleichen Recht könnte man freilich auch eine grundsätzlich sympathetische Haltung Formans zu den Figuren konstatieren.46 Dass es zu solch divergenten Auffassungen kommt, liegt aber wohl in den Bildern selbst begründet: Ihre Assimilation an die Wirklichkeit lässt im Betrachter Erinnerungsbilder und Assoziationen entstehen, die jeweils unterschiedlich auf die Wahrnehmung des Bildes selbst zurückwirken.

6. Das Zeit-Bild und die Musik Im Zusammenhang mit Bergsons Konzeption zweier Gedächtnisse ist auch die Musik zu betrachten, deren Wichtigkeit für Formans Œuvre sich bereits in seinen tschechischen Filmen überaus deutlich abzeichnet. Formans Charakteristikum hierbei ist wohl, dass die Musik nicht ein zusätzliches akustisches Element abgibt, sondern immer in Verbindung zum menschlichen Körper als Produzenten oder Rezipienten von Musik dargestellt wird. Die Filme präsentieren Menschen, die musizieren, singen oder tanzen, die Musik spielt eine große Rolle für die dargestellten Figuren, und erst über diese bekommt sie ihre Bedeutung für das Ganze (das sich ständig verändernde Raum-ZeitKontinuum). Die Musik kommt sozusagen immer aus dem Kader oder aus dessen Off, sie steht in einer Kontiguitätsbeziehung zu den Einstellungen.47

45 46

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sein Großvater sein: „Ale když se ti dva sešli nad textem, jejich věkový rozdíl jen podtrhl konflikt, který mezi sebou měli, a tak jsem si uvědomil, že určitá nesourodost může dokonce prohloubit dramatickou pravdivost.“ (Forman/Novák, Co já vím?, 109.) „Aber als diese beiden über dem Text zusammenkamen, unterstrich der Altersunterschied nur den Konflikt, den sie miteinander hatten, somit wurde mir bewusst, dass eine gewisse Unähnlichkeit die dramatische Wahrhaftigkeit sogar vertiefen kann.“ Přádná, Poetika postav, typů, (ne)herců, 170; Ferdinand Peroutka, Budeme pokračovat, Toronto 1984, 52. Forman selbst behauptet dies: „Nikdy si nedělám srandu z něčého, co nemám rád. Ty lidi, kterým se směju, mám skutečně rád.“ (Interview in Chytilová versus Forman [1981, belgisches TV], zitiert nach Přádná, Poetika postav, typů, (ne)herců, 166.) Das „Off“ kann dabei auch sehr weit gedehnt werden: Am Anfang von Wenn die Musik nicht wär sieht man Wettfahrten von Jugendlichen mit dem Motorrad, während dazu Blasmusik ertönt. Erst in den nachfolgenden Sequenzen wird klar, dass die Motorradfahrer auch in Blasorchestern spielen.

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Musik ist somit nicht autonom, sondern sie repräsentiert metonymisch die verschiedenen Lebenswelten: Wenn die Musik nicht wär, der gleichzeitig mit Schwarzer Peter gedrehte Zusatzfilm zu Der Wettbewerb, zeigt die Milieus von Blaskapellen, in denen nicht alle mit dem gleichen Engagement mitwirken. Die Jugend interessiert sich mehr für das mit dem Musizieren zu verdienende Geld und für Motorräder, ihr musikalisches Milieu wird in Der Wettbewerb und Schwarzer Peter eingefangen: Big-Beat-Konzerte und Tanzveranstaltungen mit Twist-Musik. Aber egal ob es sich um die Musik der Elterngeneration oder die der Jugend handelt: Forman zeigt die Wirkung der Musik auf die Menschen, indem er in einer einzelnen Einstellung den Übergang zwischen dem Zustand „Musik“ und „Nicht-Musik“ bzw. umgekehrt zeigt. Der Zustand „Musik“ ist dabei immer der „markierte“, besondere, derjenige, den die Figuren anstreben. Der Wettbewerb wurde von Forman konzipiert, als er im Theater Semafor sah, wie sich junge Frauen verwandelten, wenn sie die Möglichkeit sahen, auf einer Bühne zu singen: Sie schienen sich und ihre nicht immer großen musikalischen Möglichkeiten durch den Zauber des Mikrophons und der Musik ganz zu vergessen: Während des Wettbewerbs gab es Momente, in denen man sich ausgesprochen unwohl fühlte. Junge Frau entblößten den Kern ihres ehrgeizigen Ichs, ihre Selbstliebe war oft so dreist, dass man sich schämte, dies zu beobachten.48

Diese Auftritte vor der Jury könnten auch als Aktualisierung des Virtuellen (im Bergson’schen Sinne) gelten: Erinnerungen, Wunschbilder (eine berühmte Sängerin zu werden) werden bei den Auftritten der Mädchen aktualisiert. Schwarzer Peter beschreibt verschiedene Transitionen in den Zustand „Musik“, der für alle Figuren ähnliche Konnotationen hat – mit seinen Bewegungen an einer überindividuellen, kollektiven Bewegung zu partizipieren, Teil eines größeren Ganzen zu sein und dies als positiv zu bewerten. Petr verharrt an der Schwelle zu diesem Zustand, sein Vater betrachtet mit Sorge die Schwierigkeiten seines Übergangs. Für ihn ist der Eintritt in die Arbeitswelt assoziiert mit dem erstrebten Zustand gesellschaftlicher Integration, während Petr gerade damit nicht zurechtkommt: Nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil er als Kaufhausdetektiv die undankbare Aufgabe hat, sozial „falsche“ Bewegungen zu registrieren und darauf zu reagieren. Er verweigert letztendlich diese Aufpasserrolle, für sie eignen sich nur Personen, die sich ganz mit Normen des Kollektivs identifizieren und dementsprechend leicht „abweichendes“ Verhalten ahnden, nicht aber jemand wie Petr, der noch nicht soweit integriert ist. In anderer Hinsicht manifestiert sich sein transitorischer Zustand in seinem linkischen Twisttanzen.49 Die von ihm verehrte 48

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„Během konkurzu nastaly chvíle, kdy se člověk cítil vyloženě nepřijemně. Mladé ženy se odhalovaly až na samu dřeň svého ctižádostivého já a jejich sebeláska byla často tak nestoudná, až se člověk styděl na to koukat.“ (Forman/Novak, Co já vím?, 106f.) Vgl. Stanislava Přádná, Chuligán Petr tančí Twist, in: Film a doba 46 1/2000, 23-24.

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Pavla oder sein Bekannter Zdeněk tanzen gerne und scheinbar mühelos, während Petr sich nicht auf die Musik einlässt (vgl. Abb. 7). Sein Vater macht sich über den Twist lustig, seine Leidenschaft ist das Dirigieren einer Blaskapelle. Im Drehbuch heißt es: Blaskapellenmusik, die Leidenschaft von Petrs Vater. Er dirigiert beim Promenadenkonzert auf der Insel. Man könnte meinen, das sei Ausdruck sentimentaler Nostalgie. Aber das sagt nur jemand, der diese wunderbare Liebe zur Musik nicht bemerkt, die Freude, welche sie älteren Menschen und Senioren in Stadt und Land bereitet und die ihnen niemand zu nehmen das Recht hat. Nur ein Dummkopf macht sich über sie lustig. Mit schönen Bewegungen seiner Arme dirigiert Petrs Vater diese eindringliche Musik, die jeden Lärm und jede Dissonanz übertönt.50

Die Musik erscheint generell als Ideal-Zustand, in dem der Alltag wenigstens zeitweilig aufgehoben sein kann. Die Darstellung des Übergangs zwischen den Zuständen fixiert aber diese Zustände gleichsam von außen, objektiv, sodass für den Betrachter die Möglichkeit „analytischer“ Distanz gewahrt bleibt: Die Zustände der Figuren wechseln mit dem Einsetzen der Musik, indirekt affiziert die Musik den Betrachter. Abb. 7: Petr hat Schwierigkeiten, sich in die Twistbewegung einzufinden, während seine Partnerin Pavla mit Hingebung tanzt in Schwarzer Peter, 1963, Miloš Forman.

In Die Liebe einer Blondine wird die ganze komödiantische Aufreißszene am Tanzabend ständig von der Tanzmusik aus dem Off begleitet, während die „ernstere“ Szene der Konfrontation mit Milda in der Wohnung seiner Eltern ohne Musik auskommt.51 50

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„Dechovka, vášeň Petrova otce. Diriguje ji na promenádním koncertě na ostrově. Někdo by řekl, staromilství. Ale to jen ten, který nevídí tu nádhernou lásku k muzice, tu radost, kterou ta dechovka přináší starším a starým lidem na venkově i ve městech a kterou nemá nikdo právo jim brát a jen hlupák se jí může posmívat. Krásnými pohyby svých rukou diriguje Petrův otec tu břesknou muziku, která přehluší každý hluk a každou disonanci.“ (Forman, Černý Petr, 97.) Das Ende der Sequenz ist bezeichnend: Auf die lange Einstellung des Streits im elterlichen Bett folgt der Schnitt auf die traurige Andula, die sich das anhört und weint. Hier

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Die Bindung der Musik an Menschen und Lebenswelt hat zur Folge, dass in den Forman’schen Filmen Musik nicht als unmittelbarer Ausdruck des „Ganzen“ zu betrachten ist, nicht als jenes dionysische Medium, das Deleuze mit Rückgriff auf Nietzsches Musikkonzeption in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik als eigentliche Domäne der Filmmusik ansieht.52 Allenfalls den Figuren, ihrer Neigung zur Musik, wäre eine solche Auffassung hypothetisch zuzuschreiben. Obwohl also die Musik in den Filmen so prominent erscheint, ist sie im Wesentlichen auf ihre soziale Rolle beschränkt und somit mit der Authentizitätsfunktion von Originalschauplätzen vergleichbar.53 Die stets auch im Bild erfolgende Darstellung von Musik bei Forman lässt sich vielleicht am Besten mit Bergsons Unterscheidung von zweierlei Formen des Gedächtnisses beschreiben: Einerseits machen die virtuellen Erinnerungen die Gesamtheit der Vergangenheit einer Person aus (sie sind als solche auch nicht aktuell „bewusst“ oder „unbewusst“, sondern „reine“ Vergangenheit), andererseits gibt es ein körperliches Gedächtnis, die sensomotorischen Schemata, die sich in wiederholten aktuellen Situationen herausgebildet haben und gleichsam automatisch funktionieren.54 Das körperliche Gedächtnis ist den täglichen Routinen näher, es hat sich ja auch aus ihnen entwickelt. In jede aktuelle Situation fließt das körperliche Gedächtnis ein, die Vergangenheit wird so aktualisiert und in die Gegenwart integriert. „[Wir können] vom Leibe als der vorrückenden Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit sprechen, der vordringenden Spitze, die unsere Vergangenheit unaufhörlich in unsere Zukunft stößt.“55 Je öfter sich die aktuellen Situationen wiederholen, desto mehr werden die zuerst mühsam aktivierten Erinnerungsbilder zu einer körperlichen Routine. Das Auswendiglernen eines Gedichts, Bergsons Beispiel für das körperliche Gedächtnis, lässt sich problemlos auf die Ausführung von Musikstücken oder Tanzschritten übertragen: Mit jeder Wiederholung bilden sich die Automatisierungen weiter aus, für welche die vorangegangenen Wiederholungen vorbereitend waren. Die Gewohnheit tritt allmählich an die Stelle aufmerksamer, angestrengter Erinnerung. Die Erinnerung an eine bestimmte

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setzt Musik ein, die überleitet zur Internat-Szene, in der Andula ihr Prager Erlebnis beschönigt. Eine Freundin, die an Andulas Bett sitzt, spielt dieses melancholische Lied, das eine melodramatische Pointe setzt. Vgl. Deleuze, Das Zeit-Bild, 304-308. Eine Ausnahme bilden allein die Lieder von Jiří Suchý und Jiří Slitr in Der Wettbewerb und Schwarzer Peter, da sie gleichsam thematisch eingesetzt sind und ein musikalisches Motiv bilden, welches die Darstellung kommentiert (vgl. Přádná, Poetika postav, typů, (ne)herců, 168f). Vgl. Mirjana Vrhunc, Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München 2002 (=Übergänge. 47.), 247-255. Bergson, Materie und Gedächtnis, 103.

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einzelne Wiederholung wäre das Aufsuchen eines bestimmten Erinnerungsbildes in der Vergangenheit, die ausführende Wiederholung demgegenüber die Aktualisierung und Entindividualisierung dieser bestimmten Erinnerungen in einer gegenwärtigen Handlung. Dieser letzte Rekurs auf Bergsons Differenzierung von virtuellem und körperlichen Gedächtnis erleichtert das Verständnis der verkörperten Musik in Formans Filmen: Der Musik-Zustand der Figuren ist die automatische Aktualisierung der Vergangenheit, deren „vorwärtsstrebende Bewegung uns zum Handeln und Leben treibt“56. Mithin unterscheiden sich die MusikZustände bei Forman grundsätzlich vom Musical, das Deleuze als Verlassen der Gegenwart mit den in ihnen wirksamen sensomotorischen Mustern versteht, als Hingabe an den Traum, womit das von der Gegenwart gelöste Subjekt in virtuellen Erinnerungen driftet. Der Tanz ist für Deleuze „[…] jene Bewegung der Welt, die im Traum dem optischen und akustischen Bild entspricht“57. Bei Forman hingegen sind Musik und Tanz idealtypische Beispiele für die Rolle sensomotorischer Schemata und Klischees, für die Orientierung an der Gegenwart, für welche die Vergangenheit stets neu aktualisiert wird. In Entsprechung zu dieser Gegenwartsorientierung gibt es praktisch keine individuellen Erinnerungen, keine Träume, die äußerst seltenen Rückblenden – z.B. Andulas Verhältnisse zu Männern am Anfang von Die Liebe einer Blondine – haben allein für die Gegenwart Relevanz. Mit dem Rekurs auf das Körpergedächtnis wird schließlich auch der Einsatz der neherci verständlich. Wenn diese von Forman/Passer zuerst nach äußerlichen, physiognomischen Gesichtspunkten ausgewählt wurden, so liegt gerade darin der Grund für ihre große Wirkung: Aufgefordert, szenische Vorhaben auszugestalten, rekurrieren die Laien auf jene sensomotorischen Schemata, die sie im Laufe ihres Lebens erworben und die sich somit in ihren Körpern manifestiert haben. Mit dem Entschluss, künftig in den Vereinigten Staaten Filme zu drehen, musste Miloš Forman einsehen, dass er dort niemals in der Lage sein würde, mit Laienschauspielern zu arbeiten. „Es war mir klar, dass ich in Amerika nicht den Anspruch haben kann, Filme wie Die Liebe einer Blondine oder Der Feuerwehrball zu drehen, wenn ich in einer Bar nicht jedes Wort verstehe, das dort gesprochen wird.“58 Die obigen Ausführungen sollen eine theoretische Begründung dafür liefern, warum dies nicht gelingen kann: Formans tschechische Filme streben nach einer Annäherung an die Wirklichkeit, da56 57 58

Bergson, Materie und Gedächtnis, 106. Deleuze, Das Zeit-Bild, 88. „Bylo mi jasné, že když vejdu do baru a neporozumím každému slovu, co tam padne, nemám nárok na to, abych v Americe točil filmy, jako byly Lásky jedné plavovlásky nebo Hoří, má panenko.“ (Forman/Novák, Co já vím?, 149.)

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nach, diese Wirklichkeit im Film neu sichtbar werden zu lassen. Allein schon die technischen Umstände der Filmproduktion entwickeln eine so große Dominanz über das Set, dass das Vorhaben nur dann realisiert werden kann, wenn die Elemente der Wirklichkeit soweit präpariert werden, dass sie sich beim „Durchgang“ durch die dominante Apparatur erhalten. Die dauernden, langfristigen Automatismen und Schematisierungen, welche ein Organismus in der Interaktion mit seiner Umwelt und Umgebung entwickelt und die sich in Sprache und Verhalten manifestieren, sind eine so nachhaltige Präparierung, dass aus ihnen ein Regisseur wie Forman seine Poetik entwickeln kann: Er versteht ja nicht deshalb jedes Wort in einem Lokal, weil er ein so scharfes Gehör hat, sondern weil er auch das nur schlecht Gehörte aufgrund seiner kulturellen Prägung, seines in seinem Körper gespeicherten Wissens zum vollen Verständnis ergänzt. Die Emigration in ein fremdes Milieu bedeutet für einen jeden Organismus, sich neu zu adaptieren, neue Schemata auszubilden, da die bislang erworbenen es nicht gestatten, Bilder zu produzieren, die dem neuen Milieu adäquat sind. In seiner tschechischen Heimat hat Miloš Forman Filme gedreht, die Produkte einer durée, eines Gedächtnisses sind, das sich in der Aktualisierung immer neu realisiert: Kristallbilder als senso-motorische Zeit-Bilder.

J U R I J M U RA Š O V

„Hier hat die Hand das Auge überholt.“ Zur Körperlichkeit des filmischen Zeit-Bildes in Dušan Makavejevs Der Mensch ist kein Vogel 1. Der Körper im filmischen Zeit-Bild Deleuzes philosophisches Konzept filmischer Bildtypen weist eine bemerkenswerte wahrnehmungsästhetische Wendung auf: Im Unterschied zum Bewegungs-Bild des traditionellen Erzählkinos wird im sog. Zeit-Bild, das für Deleuze das politisch emanzipierte Kino nach 1945 wesentlich prägt, die Repräsentation von visuellen und akustisch-verbalen Zeichen nicht durch eine übergeordnete Sinn-Bewegung eines geschlossenen Narrativs, d. h. eines „sensomotorischen Schemas“, organisiert, sondern die Opto- und Sonozeichen befreien sich aus dem zentralperspektivischen Verweisungs- und Sinnzusammenhang, um selbst ästhetischen Eigenwert und ästhetischen Ereignischarakter zu gewinnen. In einer entkoppelten Interrelation fungieren die Opto- und Sonozeichen jeweils als „direkte Präsentation der Zeit“; als eigenständige Ausdrucks- und Bedeutungsmomente verlieren sie ihre wechselseitig sich komplementierenden Bezeichnungsfunktionen: Das sensomotorische Schema gelangt nicht mehr zur Anwendung, und doch läßt sich nicht einfach sagen, dass es überwunden worden sei. Vielmehr ist es von innen zerbrochen. Das bedeutet, dass sich die Wahrnehmungen und Aktionen nicht mehr verketten und dass sich die Räume nicht mehr zusammenfügen und füllen. Die in rein optischen und akustischen Situationen gezeigten Figuren sehen sich zum Herumirren und Umherschlendern verurteilt. Es sind reine Sehende, die lediglich noch im Bewegungsintervall existieren und nicht einmal Tröstungen des Erhabenen verspüren, das ihnen dazu verhilft, sich mit der Materie zu verbinden oder zum Geist vorzudringen. Sie sind etwas Unerträglichem ausgeliefert, und dieses Unerträgliche ist das Alltägliche ihres Lebens. Genau an dieser Stelle vollzieht sich die Umkehrung: die Bewegung ist nicht mehr einfach abweichend, die Abweichung hat von nun an einen eigenen Wert und bezeichnet die Zeit als ihre direkte Ursache. „Die Zeit gerät aus den Fugen“: sie gerät aus der Verankerung, in der sie die Verhaltensweisen in der Welt, aber auch die Bewegungen der Welt hielt. Nicht mehr ist es die Zeit, die von der Bewegung abhängt, sondern es ist die abweichende Bewegung, die von der Zeit abhängt. Die Beziehung sensomotorische Situation – indirektes Bild der Zeit wird durch eine nicht-lokalisierbare Relation reine optische und akustische Situation – direktes Zeit-Bild ersetzt. Die Opto- und Sonozeichen sind direkte Präsentationen der Zeit. […] Zerbrochen scheint nun der Kreis, in dem wir von der Einstellung auf die Mon-

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tage und von der Montage auf die Einstellung verwiesen wurden, wobei der erste Fall das Bewegungs-Bild und der zweite das indirekte Bild der Zeit konstituierte.1

Diese für das filmische Zeit-Bild eigentümliche Beziehung zwischen Visualität und Verbalität/Akustik bedingt auch eine besondere Form der Körperrepräsentation. Die Gegenläufigkeit von Opto- und Sonozeichen zersetzt die semantisch-somatische Einheit und Geschlossenheit des menschlichen Körpers in einen sich dem Auge zeigenden und offenbarenden Körper einerseits und einen sich dem Ohr darbietenden sprechenden oder lautlichen Körper andererseits und macht auf diese Weise die Körperlichkeit der Wahrnehmung selbst erfahrbar. Das filmische Zeit-Bild bedeutet stets widerständige und „erschwerte“ Rezeption.2 Im Zeit-Bild schlägt die Darstellung von Körpern durch auf das Performative, das traditionelle, sinndominierte Bewegungsbild zerfällt in körperliche Wahrnehmungseffekte, die Gegebenheiten von Sinn werden eliminiert. Das filmische Zeit-Bild zwingt den Rezipienten, gerade jenem Körperlichen Bedeutung und Sinn abzuringen, das sich selbst stets dem Denken entzieht. Eben dies ist der Punkt, an dem das Ästhetische in Form der Literatur, der Malerei und schließlich auch des Films für Deleuze theoretische Brisanz in einem neuen, politisch sensibilisierten philosophischen Denken erlangen kann: „Gebt mir einen Körper“ so lautet die Formel für den philosophischen Umsturz. Der Körper ist nicht länger ein Hindernis, das das Denken von sich selbst trennt und das es zu überschreiten hat, um zum Denken zu gelangen. Stattdessen versenkt es sich in ihn, ja, es muss sich sogar in ihn versenken, um das Ungedachte, das heißt das Leben zu erreichen. Zwar denkt der Körper nicht, doch unnachgiebig und unbeugsam zwingt er zum Denken und zwingt das zu denken, was sich dem Denken entzieht – das Leben.3

Unter dem Kamerablick des Zeit-Bildes wird – nach Deleuze – der Körper in zwei Erscheinungsformen repräsentiert: Erstens in einem „alltäglichen Körper“, der in seiner Unmittelbarkeit, seiner physiologischen materiellen Bedürftigkeit und Verfasstheit vorgeführt wird und darin Zeitlichkeit sichtbar und erfahrbar werden lässt: „Gebt mir einen Körper“ bedeutet zunächst, die Kamera auf einen alltäglichen Körper zu richten. Der Körper ist niemals einfach in der Gegenwart, er enthält das Vorher 1 2

3

Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991, 60ff. Die Verschiebungen, die Deleuze zwischen dem filmischen Bewegungs-Bild und dem Zeit-Bild im Hinblick auf Struktur und dann bes. im Hinblick auf Rezeption und Wahrnehmung ausmacht, weisen deutliche Parallelen zu dem auf, was im Rahmen der Theorie der russischen Formalisten mit dem Konzept des „ostranenie“ („Verfremdung“) entwickelt worden ist, das die Differenz des poetischen gegenüber dem alltagssprachlichen Text zu fassen versucht. Vgl. dazu Viktor Šklovskij, Die Kunst als Verfahren (Iskusstvo kak priem), 1917. Deleuze, Das Zeit-Bild, 244.

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und Nachher, die Erschöpfung und die Erwartung. [...] Das alltägliche Verhalten versetzt das Vorher und Nachher, die Zeit, in den Körper; es macht den Ablauf der Zeit am Körper sichtbar.4

Diesem Körper stellt Deleuze einen zweiten Körpertypus des filmischen ZeitBildes entgegen – den „zeremoniellen Körper“, der in all seinen Äußerungen und Bewegungen (allegorisch) über sich selbst auf ein Sinn gebendes Allgemeines verweist: Aber es gibt noch ein anderes Extrem des Körpers, ein anderes Band zwischen Kino, Körper und Denken. Einen Körper „geben“, eine Kamera auf einen Körper richten, ist noch in einem anderen Sinn zu lesen: es geht nicht mehr darum, den alltäglichen Körper zu verfolgen und zu jagen, sondern ihn in eine Zeremonie einzuführen [...], in einen Karneval oder eine Maskerade zu versetzen, die ihn zu einem grotesken Körper macht, aber ebenso seine Anmut und seine Glorie hervortreten lässt, um schließlich das Verschwinden des sichtbaren Körpers zu erreichen.5

Wichtig ist bei dieser Unterscheidung von alltäglichem und zeremoniellem Körper, dass es sich hier nicht um einen allgemeinen Doppelaspekt von Körperlichkeit handelt, der sein Pendant in den filmischen Repräsentationen findet. Vielmehr geht es Deleuze um den jeweiligen funktionalen Status des Körpers im Hinblick auf die Struktur des filmischen Bildes und die darin sich vollziehende Gegenläufigkeit von Verkörperlichung und Entkörperlichung von (philosophischen) Denkfigurationen, um mit diesen Dynamiken performativ die Handlungslogiken und Syntagmen ideologisch geschlossener Sinnund Machtsysteme aufzubrechen. Dieser ideologischen Geschlossenheit ist auch das filmische Bewegungs-Bild verpflichtet, das Deleuze ausdrücklich für die faschistisch-totalitäre Filmkultur sowie für die gelddominierte Filmindustrie Hollywoods als wesentlich annimmt und das – folgt man der Argumentation von Deleuze – ebenso auf die offiziellen osteuropäischsozialistischen Filmproduktionen beziehbar ist. Durch ihre körperliche Performanz und spezifische, gedoppelte Körperlogik kann somit das filmische Zeit-Bild auch für jene radikale, philosophische Ideologiekritik einstehen, die Deleuze und Guattari in ihrem Buch Anti-Ödipus mit den sich ständig entzweienden, „deterritorialisierenden“ begriffsanalytischen Bewegungen vorgeführt haben, die keine architektonisch-hierarchisierten Argumentationen und Diskursordnungen aufbauen, sondern alle autoritär-disziplinären und machtpolitisch gesicherten Begriffsterritorien in dezentrierte rhizomatische Strukturen auflösen. Solche Konstellationen, in denen die wahrnehmungspoetische Entkopplung filmischer Opto- und Sonozeichen von übergeordneten (narrativen) Sinnstrukturen mit einer gedoppelten Körperlogik im Namen einer radikalen 4 5

Ebd. Ebd., 245.

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philosophischen Ideologiekritik verbunden wird, lassen sich auch in den Filmen jener osteuropäischen Regisseure beobachten, die versuchen, die geschlossenen Narrative des offiziellen Sozialistischen Realismus zu durchbrechen. Besonders interessant stellt sich in dieser Hinsicht das Filmwerk des jugoslawischen Regisseurs Dušan Makavejev dar, dessen frühen Film Der Mensch ist kein Vogel (Čovek nije tica, 1965) wir im Weiteren genauer untersuchen wollen. Diese Filmanalyse verfolgt ein zweifaches Ziel: Zum einen soll gezeigt werden, wie Deleuzes filmphilosophisches Zeit-Bild-Konzept im Hinblick auf die Körperproblematik bei Makavejev filmpoetisch funktioniert. Zum anderen aber interessiert uns neben den medialen Grundlagen von Deleuzes philosophischer Filmtheorie und Makavejevs Filmpraxis die Frage, mit welchem Konzept von Visualität Deleuze und Makavejev operieren und wie dieses mit politischen Ambitionen des Kinos in Verbindung gebracht wird. Eher implizit wird diese zweite Intention die Filmanalyse begleiten.

2. Die Dissoziation von Opto- und Sonozeichen Im Hinblick auf die Genrezuordnung stellt sich Makavejevs Film Der Mensch ist kein Vogel hybrid und uneindeutig dar. Im Vorspann ist ausdrücklich von „ljubavni film“ (Liebesfilm bzw. Melodram) die Rede, während es sich, vom Sujet und von der „sensomotorischen Bewegung“ her gesehen, um eine industrielle Aufbaugeschichte im Sinne des Sozialistischen Realismus handelt:6 Der slowenische Ingenieur Rudinski wird in eine Schmelzhütte beordert, um eine neue technische Anlage zu montieren. Heldenhaft bewältigt er alle technischen Schwierigkeiten und menschlichen Probleme, die wesentlich durch die Rückständigkeit des inner- wie außerbetrieblichen Milieus bedingt sind. Er erfüllt seinen Auftrag in einer Rekordzeit vor der Frist, wofür er von der Partei- und Betriebsleitung bei einer grandiosen Feier unter den Klängen von Beethovens 9. Symphonie mit dem „Orden für Arbeit. Erster Klasse“ („Orden rada prvog reda“) ausgezeichnet wird. Eben dieser sozrealistische Aufbauplot wird aber durch gegenläufige Liebesgeschichten und -episoden konterkariert. Da ist zunächst die melodramatische Geschichte, die von der unglücklichen Liebe des Arbeitshelden Rudinski erzählt: Während er öffentlich gefeiert wird, betrügt ihn seine Geliebte mit einem jungen Burschen aus dem Industriedorf. Der sozialistische Arbeitserfolg wird für den Helden zur bitteren sexuell-erotischen Nie6

Obwohl mit Miroslav Krležas Rede auf dem Schriftstellerkongress in Ljubljana 1952 gegenüber dem sowjetischen Konzept des Sozialistischen Realismus eine kritische Abgrenzung erfolgte, bleiben sozialistische Aufbaugeschichten im Sujetbestand von Literatur, Kunst und Film bis in die 60er und 70 Jahre.

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derlage. Das auch für den jugoslawischen Film nach 1945 grundlegende sozrealistische, positiv utopische Handlungsmuster, in dem Einsatz und Erfolg für das Kollektiv auch Bedingung für das persönliche (Liebes-)Glück sind, wird durchbrochen.7 Brüchig erscheint die sozrealistische Aufbaugeschichte zudem durch eine weitere Reihe von Episoden um den Arbeiter Barbulović, der als Komplementärfigur zum technisch versierten Rudinski fungiert und dem propagierten Idealbild von der jugosozialistisch befreiten Arbeiterschaft auf eklatante Weise widerspricht. Wie Makavejev verbales Erzählen und filmisches Zeigen auseinander gleiten lässt, vermag eine Szene zu verdeutlichen, der im Gesamtzusammenhang des Films eine propädeutische Rolle zukommt. Es handelt sich dabei um eine Betriebsbesichtigung, bei der die sozialen und technischen Errungenschaften des Jugosozialismus einer Schulklasse (und damit auch dem Zuschauer) vorgeführt werden. Der euphemistische Text, den der Leiter der Besichtigungsgruppe von sich gibt, widerspricht eklatant dem, was der Film mit seinen Bildern über seine beiden für den Sozrealismus typischen Helden, den Ingenieur Rudinski und den Arbeiter Barbulović, erzählt. So zeigen die Bilder Barbulović als Trunkenbold, der sein weniges Geld in Spelunken vertrinkt und an Dirnen verschwendet und der sich aufgrund seiner brachialen Art in ständigem Konflikt mit den betrieblichen und polizeilichen Autoritäten befindet. Analog dazu wird vorgeführt, wie der Ingenieur Rudinski zum Sklaven seiner Arbeit und seines slowenischen Ehrgeizes wird und schließlich im Privaten scheitert. Vor diesem Hintergrund entwirft der sprachliche Text ein verklärtes Wort-Bild von befreiten Arbeitern und jugosozialistischen Industrieerfolgen: Wir befinden uns vor der neuen, gigantischen Schmelzhütte. In ihr wird vom besten Montageteam aus Slowenien, unter der Leitung vom Meister Rudinski, die Montage von gewaltigen Turbo-Kompressoren fertig gestellt. Ihr wisst, Kinder, dass das eines der größten Zentren für die Produktion von Kupfer, Silber und Gold in der Welt ist… In alten Zeiten war der Mensch der Sklave der Arbeit. Die Arbeiter waren nur Anhang der Maschinen. Das wurde am besten von den Klassikern im Werk Die Lage der Arbeiterklasse in England beschrieben. […] Kinder, wir haben im Unterricht von der Arbeiterklasse und vom Arbeiter gehört. Wer sie sind, wie sie geschichtlich entstanden sind und wie sie die Macht von den Kapitalisten übernommen haben. Hier ist einer von ihnen! Das ist ein Arbeiter. Wir sagen manueller, was bedeutet HandArbeiter, physischer, im Unterschied zu den intellektuellen Arbeitern, wobei man an Beamten denkt... Hier ist der Genosse Barbulović. Er ist einer der besten.8 7

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Als Beispiel für jugosozialistische, realistische Filme lassen sich nennen: Priča o fabrici (The factory story, 1949; Regie: Vladimir Pogačić) 1949, Te noći (1958; Regie: Jovan Živanović); Pogon B (Factory B, 1958; Regie: Vojislav Nanović), Vlak bez voznog reda (Train without Timetable, 1959; Regie: Veljko Bulajić) oder Uzavreli grad (The First Fires oder Boom Town, 1961; Regie: Veljko Bulajić). Vgl. Der Mensch ist kein Vogel, vgl. 00:23:28.

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Die kritische Auseinandersetzung mit der jugoslawischen Aufbaustory beschränkt sich nicht auf die semantische Ebene, auf der verbaler Text und filmisches Zeigen auf wechselseitig sich ausschließende Sinnhorizonte verweisen, wie dies bei der Ironie und der Satire der Fall ist. Die Auseinandersetzung setzt sich vielmehr fort auf einer tiefer liegenden, medialen, die Konstitution des filmischen Bildes selbst betreffenden Ebene: Die visuellbildlichen und akustisch-sprachlichen Elemente, die Opto- und Sonozeichen, die in den Filmen (und Texten) des Sozialistischen Realismus auf das große kollektive Erfolgsnarrativ hin organisiert sind, werden entkoppelt und verselbständigen sich. So scheint die genannte Szene zunächst dominiert zu sein vom verbalen, in einem belehrenden, distanzierten Duktus vorgetragenen Text, der in der Perspektive des jugosozialistischen Aufbaunarrativs auf eine die Situation transzendierende Verallgemeinerung und Objektivation zielt. Nach einem ganz anderen Prinzip jedoch sind die Optozeichen der Filmbilder organisiert: Großaufnahmen vom arbeitenden Körper des Barbulović, von schweren Gerätschaften sowie von glühender, rauchender Schlacke rücken den Betrachter in eine bedrängende Nähe zu den dargestellten Objekten – in eine Nähe, in der die Gegenstände ihre signifikanten Konturen als diskrete visuelle Objekte immer wieder zu verlieren scheinen. Die Optozeichen tendieren dazu, sich von den Objekten, von denen in dieser Szene erzählt wird, abzulösen; ihre semantische Intentionalität wird reduziert zugunsten einer die visuelle Distanz tilgenden Intensivierung. Einem ähnlichen Mechanismus folgt auch die Tonmontage dieser Szene. Obgleich der Ton konsequent diegetisch bleibt, präsentiert sich der gesprochene Text, als ob er aus dem Off käme. Erst in seinen periodischen Unterbrechungen, wenn er von Fabriklärm überblendet und übertönt wird, wird sein diegetischer Ursprung evident, und erst am Ende der Szene kommt der Sprecher selbst kurz ins Bild, dessen Rede aber sogleich wieder in tosendem Maschinenlärm untergeht. Auch dieses Arrangement der Sonozeichen ist auf eine Intensitätssteigerung von akustischen Impressionen angelegt. Sprache und Geräusche ergänzen sich nicht wechselseitig im Hinblick auf eine semantisch gesättigte und kohärente Repräsentation der Szene. Vielmehr sind die Sonozeichen so montiert, dass sich Wortsprache als begriffsbasiertes Instrument der Distanzierung und Lärm mit seiner körperlich invasiven Energie in ihren Effekten wechselseitig bedingen und steigern.9

9

Diesbezüglich aufschlussreich ist auch eine Szene, in der die Orchestermusiker und Sänger auf ihrem Weg zur Fabrikhalle, in der dann Beethovens Neunte zur Aufführung kommen wird, in den Bereich gelangen, in dem Metalle geschmolzen und geschmiedet werden. Der Rockzipfel des Konzertkleids einer Sängerin fängt Feuer und ein ohrenbetäubender Maschinenlärm verschlingt die Rede der Musiker und Sänger, die dann als Untertitel im Bild erscheint (vgl. 00:55:33).

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3. Der alltägliche Körper, Hypnose und Akrobatik Das Auseinanderdriften und Gegeneinanderlaufen von visueller Evidenz und ideologischer Verbalität verbindet Makavejev mit einer Darstellungsstrategie von Körperlichkeit entlang zweier Achsen, bei der – entsprechend von Deleuzes Gegenüberstellung – der Körper entweder in seiner materiellalltäglichen, der Zeitlichkeit unterworfenen Verfasstheit oder aber in einer „Zeremonie“ gefasst, stilisiert und formalisiert gezeigt wird. Auf der einen Seite werden von der Kamera alltägliche, in ihrer materiellphysiologischen Befindlichkeit sich veräußernde Körper in den Blick genommen. In Großaufnahme werden schwitzende, begehrende, liebende, essende, trinkende, lachende, weinende, schlagende oder geschundene Körper vorgeführt (vgl. Abb. 1-6).

Abb. 1-6: Der Mensch ist kein Vogel, 1965, Dušan Makavejev.

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Dabei geht es weniger darum, mit Groß- und Detailaufnahmen metonymische Spannungen auf das dem Blick entzogene Ganze zu erzeugen oder analytisch die Körperobjekte zu sezieren, als darum, die Körper in ihrer materiellen Präsenz und in ihrem Für-, Mit- und Gegeneinander zu erfassen. Die Körper verlieren ihre individuelle Abgeschlossenheit und präsentieren sich dem Betrachter in ihren brachialen, exhibitionistischen oder erotischen Kontaktnahmen. Entscheidend ist dabei, dass die Kamera – indem sie mit ihren Groß- und Detailaufnahmen die Körper tastend erkundet – an dieser Entgrenzung der individuellen Körper und an den Prozessen wechselseitigkörperlicher Kontaktstiftung selbst partizipiert. Die Kamera sucht nicht den distanzierten, literarischen, analytischen Blick auf den Körper, sondern disponiert das Auge des Betrachters auf ein tastendes Körpersehen hin. Bezeichnenderweise wird im Zusammenhang dieser ertasteten Filmbilder vom alltäglichen Körper, im Bild selbst und/oder in der szenischen Rede explizit auf Motive des Tastens und Berührens Bezug genommen. Damit hängt auch die spezifische Zeitlichkeit dieser Körperbilder zusammen. Als jung oder alt repräsentieren die Körper nicht nur Zeit; es handelt sich nicht so sehr um körperliche „Dinge oder Dingzustände, sondern um Ereignisse“10, die in den Bereich der filmischen Wahrnehmung selbst hineinreichen und hier Körperlichkeit als Einbrüche apollinisch gesicherter, visueller Distanznahme erlebbar werden lassen. In der Darstellung der materiell-alltäglichen Körperlichkeit erlangt Zeitlichkeit eine performative Dimension. Diesen „Tastbildern“ vom alltäglichen Körper steht im Rahmen von Deleuzes filmischem Zeit-Bild ein zweites Darstellungskonzept gegenüber, bei dem es gilt, den Körper „in eine Zeremonie einzuführen“. Dieser „zeremonielle“ Körper, dessen Erscheinungsformen von grotesken Deformationen bis zur körperlichen „Anmut“ und „Glorie“ reichen,11 wird in Makavejevs Der Mensch ist kein Vogel in zwei prägnanten Ausformungen herausgearbeitet – als hypnotisierter (und grotesker) Körper und als akrobatischgymnastischer Körper. Das Thema der Hypnose durchzieht den gesamten Film. Theorie, Geschichte und (therapeutische) Praxis der Hypnose werden in verschiedenen, längeren Sequenzen von einem Hypnotiseur – z. T. vor der Kamera und so 10

11

Vgl.: „Alle Körper sind füreinander, wechselseitig Ursachen […]. Sie sind Ursamen bestimmter Dinge ganz anderer Natur. Diese Wirkungen sind nicht Körper, sondern im eigentlichen Sinn „Unkörperliche“. Es handelt sich nicht um physische Qualitäten oder Eigenschaften, sondern um logische oder dialektische Attribute. Es handelt sich nicht um Dinge oder Dingzustände, sondern um Ereignisse. Man kann nicht sagen, dass sie existieren, sondern eher, dass sie subsistieren oder insistieren, da sie über kein Mindestmaß an Sein verfügen, das all dem zukommt, was kein Ding, was nicht-existierende Entität ist. Es handelt sich nicht um Substantive oder Adjektive, sondern um Verben.“ (Gilles Deleuze, Logik des Sinns (1969), Frankfurt/M., 1993, 19). Deleuze, Das Zeit-Bild, 244.

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direkt an den Filmzuschauer gewandt – referiert.12 In einer zentralen Szene führt der Hypnotiseur bei einer öffentlichen Veranstaltung dem amüsierten Publikum, unter dem sich alle im Film agierenden Personen befinden, seine Künste vor. Zur großen Erheiterung der Zuschauer lässt der Hypnotiseur einige Freiwillige auf der Bühne unter der Macht seiner Worte von eingebildeten Gefühlen der Liebe, Angst und Ekel beherrscht agieren oder zu Gegenständen erstarren (vgl. Abb. 7-10).

Abb. 7-10: Der Mensch ist kein Vogel, 1965, Dušan Makavejev.

Bemerkenswert ist hier zunächst die komisch-satirische Dimension des Hypnosediskurses, in deren Perspektive sich letztlich alle Figuren des Filmgeschehens als hypnotisierte, unter Fremdeinfluss stehende Körper erweisen, deren entfremdetes Handeln sich dem Filmbetrachter ebenso offensichtlich und komisch darbietet wie das der unter dem Willen des Hypnotiseurs auf der Bühne agierenden Freiwilligen. Ausdrücklich werden die beiden komplementären Hauptfiguren mit dem Hypnosemotiv in Verbindung gebracht. Die Gewalt, mit der der Arbeiter Barbulović seine Frau unterdrückt 12

Die Ausführungen des Hypnotiseurs rahmen den Film ein. Zu Beginn spricht der Hypnotiseur, der „allerjüngste Hypnotiseur auf dem Balkan“ („najmlađi hipnotizer na Balkanu“), eine „Einführung“ („uvodnu reč“) über die therapeutischen Möglichkeiten der Hypnose im Falle von „Störungen des Liebesleben“ („negativnost u ljubavnom životu“). Am Ende des Film hört man die Stimme des Hypnotiseurs im Off, die über die Geschichte und den politischen Einsatz der Hypnose spricht.

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und entwürdigt, wird von dieser in einem Gespräch mit einer Freundin als hypnotische Wirkmacht ausgemacht, bei der das Opfer im Bann fremder Worte seinen eigenen Willen verliert. Ebenso bewegt sich auch der Arbeitsheld Rudinski, der der Einladung seiner Geliebten folgt und sie zur der Show des Hypnotiseurs begleitet, als ein hypnotisierter, sich selbst entfremdeter Körper, wenn er vom Ehrgeiz besessen die Zeitnormen der Montage übererfüllt, dabei aber schließlich sein privates Glück verfehlt.13 In diesem Zusammenhang erscheint auch die gesamte jugosozialistische Aufbau- und Erfolgsideologie als wirkmächtige Hypnose, die alle Mitglieder des Gemeinwesens, die führenden Funktionäre ebenso wie die einfachen Arbeiter, zu hypnotisierten, unter Einfluss eines fremden, politisch-ideologischen Willens stehenden Körpern degradiert.14 Gleichzeitig wird der Hypnose aber auch eine mögliche therapeutische Relevanz zugewiesen, auf die in der Rede des Hypnotiseurs ausdrücklich Bezug genommen und die durch die Filmhandlung selbst nochmals bekräftigt wird, wenn es der Ehefrau des Barbulović nach der öffentlichen Hypnosevorführung gelingt, ihre Unterdrückung und Entwürdigung durch ihren Mann als hypnotischen Bann zu erkennen und sich davon zu befreien – im Gegensatz zum Ingenieur Rudinski, der zwar über die hypnotisierten, grotesken Körper auf der Bühne lacht, diese komische Szene jedoch nicht auf seine Lebenssituation zu beziehen vermag. An dem Punkt, an dem die Hypnose auf der Bühne des Theaters (oder auch des Films) eine therapeutische und kathartische Funktion erlangt, kommt ein zweiter Typus des „zeremoniellen“ Körpers ins Spiel, wenn Makavejev akrobatisch-gymnastische Körper durch den Film schweben und turnen lässt. Während die hypnotisierten Körper vom fremden (ideologischen) Willen gesteuert werden, ist es hier die souveräne Subjektivität, die die Körper ihre Schwerkraft und träge Materialität überwinden lässt. Dieser akrobatisch-gymnastische Körper wird explizit dem hypnotisierten Körper des Arbeitshelden Rudinski gegenübergestellt, wenn auf dessen disziplinari13

14

Sinnbildlich wird dies am Ende des Films in einer Szene, in der Rudinski sich im betrunkenen Zustand im Spiegel betrachtet und sein Trinkglas gegen den Spiegel schleudert. Vgl. die Worte des Hypnotiseurs am Ende des Films: „Von der Hypnose wusste man bereits seit Alters her: Die Römer, die Ägypter, die Griechen. Das Wort Hypnose kommt vom griechischen Wort hypnos, was Schlaf bedeutet. Aber die Hypnose ist kein gewöhnlicher, natürlicher Schlaf, eher ein Experten-Schlaf, denn ein Mensch, wenn er schläft, kann nicht arbeiten, aber unter Hypnose vollbringt er die kompliziertesten Dinge, und sogar auch Morde“ („Za hipnozu znali su još od davnina: Rimljani, Egipćani, Grci. Sama reč hipnoza došla je od grčke reči hypnos, što znači san. Ali hipnoza nije običan, prirodan san, već veštački san, jer čovek kada spava ništa ne može da radi a pod hipnozom izvršava najkomplikovanija naređenja, pa čak i ubistva.“).

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sche Rüge hin der angesprochene Monteur, ein ehemaliger Zirkusakrobat, seine Arbeits- und Lebenseinstellung auch körperlich-gestisch bekräftigt, indem er sich auf einem Kranseil durch den Raum schwingt. Im wörtlichen wie übertragenen Sinne versucht ihn Rudinski mit jener Bemerkung wieder auf den Boden zu holen, die auch den Filmtitel ausmacht: „Der Mensch ist kein Vogel.“ Analog zum großen öffentlichen Hypnosespektakel und den Erläuterungen des Hypnotiseurs am Anfang des Films wird auch dieses Leitmotiv der akrobatisch-gymnastischen Körper durch eine eigene Szenenfolge nochmals symbolisch verdichtet und herausgehoben: Der Film endet mit Aufnahmen von einer Vorstellung eines Zirkus, der vor den Toren der Stadt seine Arena aufgebaut hat und die Zuschauer mit den Künsten seiner Akrobatinnen, Trapezturnerinnen, Schlangenschlucker und Seiltänzerinnen begeistert (vgl. Abb. 11-14).

Abb. 11-14: Der Mensch ist kein Vogel, 1965, Dušan Makavejev.

Wenn im Film Körper in ihrer individuellen Konturiertheit und Abgeschlossenheit ins Bild kommen, dann handelt es sich dabei immer um „zeremonielle“ Körper, die auf ein Sinn gebendes Allgemeines verweisen, das entweder anhand von hypnotisierten, von fremdem Willen beherrschten Körpern von Machtgeschichten erzählt, oder das utopisch von einer souveränen Subjektivität kündet, die in den akrobatisch-gymnastischen Körpern versinnbildlicht wird. Die Kritik an der dogmatischen Ideologie des titoistischen Jugosozialismus und der utopische Ausblick auf eine befreite Subjektivität werden in Der

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Mensch ist kein Vogel als sinnbildliche Geschichten zweier Erscheinungsformen des „zeremoniellen“ Körper erzählt.15

4. Körperbilder und filmische Sehkonzepte Die beiden gegensätzlichen Typen des „zeremoniellen“ Körpers, der hypnotische und der akrobatische Körper, versinnbildlichen nicht nur ideologische Konstellationen, sondern thematisieren gleichermaßen Kinogeschichte und verschiedene Konzepte des filmischen Sehens. Das Leitmotiv der Hypnose greift ein prominentes Sujet des deutschen expressionistischen Films auf. Hier steht, in Filmen wie Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari oder Fritz Langs Dr. Mabuse, der Spieler, das Hypnose-Thema in einem doppelten Kontext – einerseits in dem der einschlägigen wissenschaftlichen Debatten über „kriminelle Suggestionen“, andererseits in dem der zeitgenössischen filmtheoretischen Diskussionen 15

Diese doppelte Sinnbildlichkeit des „zeremoniellen“ Körpers ist prägend für Makavejevs filmisches Frühwerk und manifestiert sich in zwei auf Der Mensch ist kein Vogel folgenden Filmen – im dokumentarischen Film Unschuld ohne Schutz (Nevinost bez zaštite, 1968), der den gleichnamigen Spielfilm des serbischen Akrobaten Dragoljub Aleksić zum Gegenstand hat und in WR – Die Mysterien des Organismus (Misterije organizma, 1971), in dem es um ideologisch hypnotisierte und hypnotisierbare Körper geht. In der filmischen Neukontextualisierung des historischen Films Unschuld ohne Schutz (1942) wird der gymnastische, oder genauer, der akrobatische Körper, zu einem Medium der utopischen Befreiung stilisiert. Das historische Melodram Unschuld ohne Schutz, das während der Okkupation von und mit dem serbischen Akrobaten Dragoljub Aleksić ohne Wissen der deutschen Besatzer gedreht worden ist, erzählt davon, wie eine junge Frau von ihrer übel wollenden Stiefmutter mit dem fiesen Petrović verkuppelt werden soll; sie aber liebt und hofft auf einen anderen – auf den Akrobaten Dragoljub Aleksić, in dessen perfektem Körper auch eine reine Seele wohnt. Dieses Melodram wird von Makavejev auf ebenso witzige wie hintergründige Weise reinterpretiert: Die Erinnerung und Vergegenwärtigung des Film hat verschiedene Funktionen und Bedeutungsdimensionen. Offensichtlich ist eine historische Konnotation: Hitlers Angriff auf den Osten Europas wird in dem Übergriff des Herrn Petrović auf das arme Mündel ebenso mitbedeutet, wie der jugoslawische Kampf gegen und die Befreiung vom deutschen Faschismus mit der akrobatischen Befreiungsaktion der unglücklichen Schönen durch den Akrobaten verglichen wird. Um Körper, die durch ideologische Macht hypnotisiert sind, geht es in Makavejevs Dokumentarfilm WR - Die Mysterien des Organismus, dessen zentrales Sujet Wilhelm Reichs Werk und Wirkung in den USA darstellt. Hier geht es um eine fatale Wechselbeziehung zwischen einem im Sinne von Michail Bachtins Karnevalkonzeption entgrenzten, ekstatischen Körper, in und mit dem sich ein Einspruch gegen Autoritäten und Machtkonstellationen artikuliert einerseits und den disziplinierten, gezähmten und mit Elektroschocks gemarterten Körpern andererseits.

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und medizinischen und neurologischen Darstellungen, in denen „die Wirkungen des Kinos auf seine Zuschauer selbst als hypnotisch“ beschrieben werden. Der deutsche Expressionismus entdeckt im filmischen Hypnosesujet „eine Selbstreferenz zur hypnotischen Macht des Films“ selbst.16 In Fritz Langs Film ist es der konsequente Einsatz der subjektiven Kamera, der den Zuschauer zu einer Identifikation mit den hypnotisierten Opfern zwingt und so die Macht der Hypnose, von der der Film erzählt, als filmische Wirkung selbst inszeniert.17 Bei Wienes Film ist die Teilhabe am hypnotischen Verfahren zunächst weniger offensichtlich und erfolgt mittelbar, indem der Realitätsstatus der Binnenerzählung durch eine entsprechende Rahmenhandlung zur Disposition gestellt wird. Für den Zuschauer ist es unmöglich, zu entscheiden, wer tatsächlich im Film wahnsinnig ist, der Erzähler und Protagonist Francis, der sich als Patient einer Nervenheilanstalt erweist oder der Leiter dieser Anstalt selbst, der am Ende behauptet, den Fall geklärt und den Schlüssel zu seiner Heilung gefunden zu haben. Eben diese Unentscheidbarkeit, auf die der Zuschauer im Hinblick auf die Autorität der hypnotischen Macht zurückgeworfen wird, war es auch, die Siegfried Kracauer in Von Caligari zu Hitler (1947) zur prominenten und seither vielfach wiederholten These veranlasste, dass Wiene das zunächst durchaus „revolutionäre“ Drehbuch mit der Rahmenhandlung zu einer die totalitäre Macht des Nationalismus affirmativen Antizipation gemacht habe.18 Auf diesen Konnex von Hypnose und Macht scheint auch Makavejev zu rekurrieren, wenn er die hypnotischen Motive immer wieder satirisch mit dem titojugoslawischen Sozialismus in Beziehung bringt. Weniger evident, aber gleichfalls relevant ist die Beziehung von Zirkus und Kinematographie, an der Makavejevs Der Mensch ist kein Vogel partizipiert und die historisch ihren Ausgangspunkt in der Affinität der avantgardistischen Theatermoderne zur Akrobatik und Zirkuskunst hat. Dafür stehen beispielsweise die russischen und frühsowjetischen Theaterexperimente und besonders die Arbeiten des Regisseurs Vsevolod Meyerhol’d.19 Aus diesem Zusammenhang heraus entwickelte auch Sergej Ėjzenštejn sein Konzept der Montage der Attraktionen für Theater und Film. Die Sequenzialität einer Nummernshow und die durch körperliche Attraktionen und Sensationen ausgelöste, unmittelbare, ästhetisch-physische/physiologische Wirkung auf den Zuschauer sind es, die Ėjzenštejn im Begriff der Montage Film und Zirkus/Varieté aufeinander beziehen lässt: 16 17 18 19

Stefan Andriopoulos, Besessene Körper. Hypnose, Körperschaft und die Erfindung des Kinos, München 2000, 13. Vgl. 113. Vgl. 106. Vgl. z. B. Alexander Tairoff, Das Entfesselte Theater, Berlin 1989 [1923], 96-99; zur Beziehung von Film und Zirkus vgl. Oksana Bulgakova, FEKS, Die Fabrik des Exzentrischen Schauspielers, Berlin 1996, 34-40.

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Die Schule der Montage ist der Film und vor allem das Varieté und der Zirkus, denn eine (vom formalen Standpunkt) gute Aufführung zu machen heißt eigentlich, ein gutes Varieté bzw. Zirkusprogramm aufzubauen […].20

Mit der Figur des akrobatischen Hilfsmonteurs, der die Befangenheit des Arbeitshelden Rudinski in der jugosozialistischen Aufbauideologie satirisch offen legt, und besonders mit den Szenen von der Zirkusaufführung, mit denen der Film endet, erweist Makavejev dieser avantgardistisch-revolutionären Kinotradition eine deutliche Referenz. Neben diesen beiden filmhistorischen Bezügen auf kinematographische Sehkonzepte operiert der Film mit einem weiteren, dritten Sehkonzept. Wenn die Kamera ihren Blick auf den alltäglichen, physiologischen Körper richtet und durch Groß- und Detailaufnahmen die Positionierungen der Körper im Raum und deren Konturen auflöst, wird – wie oben bereits angedeutet – die ästhetische Struktur der Bilder selbst von der Materialität des Körperlichen erfasst. In diesen Bildern wird performativ ein Sehkonzept realisiert, bei dem der distanzierte, literarische und analytische Blick auf den Körper zugunsten eines tastenden Körpersehens zurückgenommen wird. Mit diesem filmischen Sehkonzept hängt unmittelbar eine spezifische Konzeptualisierung des Raumes zusammen, mit und in dem Makavejevs Film operiert: Die architektonischen, raumgeometrischen und -perspektivischen Strukturen und Elemente werden zugunsten der Darstellung von Oberflächen und Reliefs reduziert, die mit ihren Rissen, Poren, Fasern, Faltungen, Wölbungen, Ein- und Ausstülpungen den distinktiven räumlichen Gegensatz von (materiellem) Außen und (immateriellem) Innen in der Frage nach jener Intensität aufheben, mit der Materialität und Stofflichkeit (für das Auge) wahrnehmbar und erlebbar werden kann. Der filmische Raum, in dem sich der Film dem Betrachter mitteilt, ist kein strukturierter, apollinischer Raum der cineastischen Visionen, kein Raum der diskreten Signifikanten, ihrer Architekturen, sondern ein vom menschlichen Körper her verfasster und erlebter Kontakt- und Kommunikationsraum. Das Filmbild selbst tritt dem Zuschauer immer wieder als Kontaktfläche entgegen.

20

Sergej Eisenstein, Montage der Attraktionen [1923], in: Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1995, 46-72, hier: 50.

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5. Bildkörper und Handzeichen Diese dichotomische Logik der Körper- und Raumrepräsentation, bei der einerseits mit den Bewegungen der individuellen und konturierten Körper ein emblematischer Raum eröffnet wird, in dem Sinngeschichten von hypnotischen Wirkmächten oder befreiten schwebend-akrobatischen Subjektivitäten erzählt werden und andererseits das Auge in Groß- und Detailaufnahmen auf ein tastendes Körpersehen und -kommunizieren eingestellt wird, weist mit den systematisch wiederkehrenden Bildern von der menschlichen Hand eine für die Gesamtpoetik des Films aufschlussreiche motivische Pointierung auf. Die utopisch-sozialistische (Idee der) Arbeiterhand, die vom Auge geführte und mit Werkzeugen operierende Hand der Vernunft und schließlich die tastend die Welt begreifende Hand bilden drei Linien, entlang derer das Handmotiv entwickelt und die Interrelation von Nähe stiftender, kommunikativer Körperlichkeit und analytisch reflektierendem Sehen unter den Bedingungen des Films erkundet wird. Eine erste Entwicklungslinie des Händemotivs knüpft an ein klassisches sozialistisches Ideologem an, wenn der Leiter einer Betriebsbesichtigung von der Überwindung der Selbstentfremdung des Menschen und der (kapitalistischen) Trennung von Kopf- und Handarbeit im jugoslawischen Sozialismus erzählt.21 Die Hand der vormals entfremdeten Arbeit wandelt sich im Sozialismus zum Symbol der gesellschaftlichen Solidarität. Dieses Narrativ setzt sich in Aufnahmen fort, die einen Transport von übermannsgroßen, erhabenen Plakaten von Händen zeigen. Die Aufnahmen von den Plakathänden werden schlaglichtartig zwischen die Episoden geschnitten, bis schließlich in einer Abschlusssequenz die Plakat-Hände, am Bestimmungsort angelangt, als Kulisse für eine grandiose Betriebsfeier aufgestellt werden. Entlang dieser Reihe von Plakathänden wird satirisch das Auseinanderklaffen von ideologischem Anspruch und Wirklichkeit des jugosozialistischen Projekts und schließlich auch der Zynismus der Politelite augenfällig gemacht, wenn die Plakate mit den erhabenen Arbeiterhänden auf Geheiß eines für die Betriebsfeier zuständigen Funktionärs kurz vor Beginn der Veranstaltung wieder entfernt werden (vgl. Abb. 15-20).

21

Zur Hand- und Kopfarbeit vgl. Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, 85, 531.

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Abb. 15-20: Der Mensch ist kein Vogel, 1965, Dušan Makavejev.

Dieser (satirischen) Geschichte von der erhabenen sozialistischen Arbeiterhand wird eine zweite Serie von Händemotiven gegenübergestellt, die zeigt, wie der Gegensatz von instrumenteller Vernunft und menschlicher Kommunikation bzw. von individuellem Willen (zur Macht) und sozialer Gemeinschaft in und mit jedem Handgriff von neuem virulent wird. In dieser Reihe stehen die Aufnahmen von den rational agierenden Händen des Monteurs und Arbeitshelden Rudinski, der es versteht, geschickt und klug mit Werkzeugen zu hantieren; in seinen Handgriffen manifestiert sich sein technischer Verstand. Gleichzeitig sind Rudinskis Werkzeug-Hände Hände, die durch das scharfe, analytische Auge dirigiert werden; das Auge steuert jede Handbewegung. Der Körperapparat wird beherrscht durch die rationale Instanz und das präzise Kalkül des Sehens (vgl. Abb. 21-24).

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Abb. 21-24: Der Mensch ist kein Vogel, 1965, Dušan Makavejev.

Die wiederholte Attribuierung von Rudinskis Händen mit technischen Werkzeugen und Messgeräten unterstreicht den Gegensatz von Verdinglichung und Körperlichkeit, von dem die melodramatische Filmstory handelt und erzählt, wie Rudinski in den Händen und Planungen der staatssozialistischen Administration selbst – als Mittel zum Zweck – zum Instrument wird, im Privaten und Sozialen aber scheitert; sinnbildlich dafür ist jene Sequenz, die zeigt, wie Rudinskis Geliebte Rajka ihn während der Auszeichnung für seine Leistungen auf der Betriebsfeier mit einem Dorfburschen betrügt. Eine dritte Serie schließlich bilden Aufnahmen von tastenden, berührenden und Kontakt stiftenden Händen – von Händen, mit denen gleichermaßen die inneren Dispositionen der Figuren sowie deren begreifende Teilhabe an der gegenständlichen und sozialen Welt kommuniziert werden. Diese Hände der menschlichen (Körper-)Kommunikation werden von der Kamera oftmals eher beiläufig als kleine Körpergesten beobachtet. Zwei Hand-Szenen sind in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert. Zunächst ist da die Tast- und Rätselszene, die sich direkt auf den Filmtitel Der Mensch ist kein Vogel bezieht. Darin malt der akrobatische Hilfsmonteur mit flinker Geste Zeichen auf Rudinskis Rücken, um dann auf die verdutzte Frage dessen, was das bedeuten solle, die ironische Antwort zu geben, ob denn Rudinski nicht spüre, wie ihm Flügel wachsen. Die satirische Kraft dieses Aktes basiert wesentlich auf der Körperlichkeit und der zur Kommunikation zwingenden Rätselhaftigkeit der Hand-Schrift und -Zeichen des Hilfsmonteurs. Die Hände fungieren in dieser Szene als ein vorsprachli-

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ches Kommunikationsmedium. Es ist das Berühren und der unmittelbare (blinde) Körpereindruck, worauf – auf das gereizte Nachfragen des Rudinski hin – der Hilfsmonteur seine mit Anspielungen durchsetzten Bemerkungen folgen lässt, in denen die leistungsbesessene Lebensart des slowenischen Ingenieurs persifliert wird. Zunächst zeigt diese Szene von Handschrift auf dem Rücken die ödipale „Blindheit“ und ideologische Verblendung des mit einem präzisen technischen Blick begabten slovenischen Arbeitshelden. Er sieht nicht, dass durch seine Leistungen keinerlei Beitrag zur Erfüllung der utopischen Ideale des Jugosozialismus, zum sozialen Fortschritt und zur angestrebten Synthese von Kopf- und Handarbeit geleistet wird. Im Gegenteil: Das gesamte Projekt fungiert als Selbstbestätigung der politischen und technischen Elite, und Rudinskis heldenhafter Arbeitseinsatz ist durch die Aussicht auf ein Devisen bringendes Folgeprojekt „kapitalistisch“ motiviert. Entscheidend aber ist, auf welche Weise in dieser Sequenz die ideologische Beschränktheit des Helden körperlich-gestisch in Szene gesetzt und als eigentümliches Wahrnehmungsproblem profiliert wird. Rudinski ist ein Mensch des Auges. Alles, was sich nicht unmittelbar seinem analytischen (und kalkulierenden) Blick erschließt, „begreift“ und versteht er nicht. Ihm ist es unmöglich, einem der Sichtbarkeit entzogenen Körpereindruck Sinn abzugewinnen. (Erst als der Hilfsmonteur erklärt, welche Zeichen er auf den Rücken des Ingenieurs gemalt habe, beginnt dieser zu verstehen.) Mit dieser kritischen Aufdeckung von Rudinskis ideologischer Verblendung wird in dieser Sequenz gleichzeitig auch ein wahrnehmungsfundiertes Modell für die Hervorbringung einer selbstbewussten Weltsicht entworfen: Es ist eben nicht das Auge, sondern es sind die unmittelbaren körperlichen Eindrücke und Befindlichkeiten, die Ausgangs- und Bezugspunkt der Vergewisserung des Selbst in der Welt und seiner Begriffe sind. Erst über eine solche körperliche Rückversicherung können verbalsprachliche Evidenz und Rationalität (philosophische, soziale und politische) Wahrheit und Gültigkeit erlangen. Bezogen auf das Motiv der Hand bedeutet dies, dass es hier nicht mehr darum gehen kann, dass der analytische Blick die Hand (des Ingenieurs Rudinski) führt, sondern umgekehrt es die Hand ist, die die Welt bereits körperlich begriffen, erschlossen und bearbeitet hat, bevor das Auge die Ordnung der Dinge ins Visier nimmt. In dieser Umwertung der klassischen Hierarchie von Auge und Hand/Körper hat auch die oben beschriebene Dissoziation von Opto- und Sonozeichen im filmischen Zeit-Bild ihr poetologisches Telos. Genau an diesem Punkt setzt eine zweite Handszene an, in der die Filmheldin mit den Händen gegen die Windschutzscheibe eines Lastwagens greift und tastet, während von außen ein Wasserstrahl gegen die Scheibe klatscht. Durch die letzte Aufnahme, die für eine Sekunde zum Standbild erstarrt, wird diese Szenenfolge von Makavejev markant herausgehoben (vgl. Abb. 25-26).

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Abb. 25, 26: Der Mensch ist kein Vogel, 1965, Dušan Makavejev.

Diese Szene dokumentiert zunächst die exaltierte Gestimmtheit der Protagonistin Rajka nach dem Liebesakt mit ihrem neuen Verehrer. Betrachtet man diese Sequenz jedoch im Kontext der in dem Film entfalteten Handmotive, dann wird offensichtlich, wie hier der Diskurs über Sehen und Tasten aufgenommen und um eine entscheidende filmpoetische Nuance erweitert wird. Wenn Rajkas Hände ekstatisch die Scheibe betasten, gegen die der Wasserstrahl klatscht, dann geht es dabei zunächst um die haptische Attraktion visuell-filmischer Effekte. Die Gegenläufigkeit einer rhetorischen discors concordia und concors discordia, die in Ėjzenštejns avantgardistischrevolutionärem Konzept der „Montage der Attraktionen“ sprachlich basiert und auf noetische Effekte aus ist,22 wird bei Makavejev auf der Ebene der Wahrnehmungsstrukturen inszeniert: Obgleich der visuelle Effekt eine haptische Dimension aufweist und Sehen und Tasten als körperliche Intensitäten konvergieren, können dennoch Rajkas Hände (auch die des Filmbetrachters) jenes Wasser nicht ertasten, das ihre (seine) Augen sehen. Gerade dieses motivische Detail ist signifikant, bedenkt man doch die Popularität des Wasser- und Regenmotivs und die Konjunktur der (regen-)nassen Körper im europäischen Film der 50er und 60er Jahre, durch die die Erotik ebenso bedeutet wie auch taktil-körperliche Eindrücke in Szene gesetzt werden.23 Bei Makavejev nun wird mit Rajkas tastenden Händen der taktil-körperliche Eindruck zum Bestandteil des Filmbildes selbst. Das (filmische) Bild (des Wassers) wird in seiner haptisches Qualität und Attraktion den Protagonisten und dem Filmbetrachter vor Augen geführt. Die entscheidende filmpoetische Nuance besteht aber darin, dass die Dominanz der Hand gegenüber dem Auge, für die der Film im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit der 22 23

Dieses noetische Prinzip bedingt die Entwicklung von Ėjzenštejns Filmmontage von der Montage der Attraktionen zur sog. intellektuellen Montage. Vgl. entsprechende Regen-Szenen in dem russischen Film Ja šagaju po Moskve (UdSSR, 1963; dt. Verleihtitel: Zwischenlandung in Moskau) von Georgij Danelija oder in dem slowenischen Film Ples v dežju (Jugoslawien, 1961; dt. Tanz im Regen) von Boštjan Hladnik.

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Figur des Rudinski plädiert, mit dieser Sequenz unter den medienästhetischen Bedingungen des Films reflektiert erscheint: Die haptische Qualität bleibt im Film ein Effekt des Visuellen, das die Logik der filmischen Repräsentation dominiert.

Exkurs: Marinkovićs Hände (Ruke, 1956): Die schreibende Hand und die manuelle Selbstentäußerung des Ich Die philosophisch-ideologische sowie filmästhetische Auseinandersetzung mit der Wechselbeziehung von Hand und Auge steht nicht nur in der marxistisch-sozialistischen Tradition und deren utopischer Vision von der Aufhebung der Differenz von Kopf- und Handarbeit, sondern in einem breiter gefächerten Spektrum der körper- und wahrnehmungstheoretischen Auseinandersetzungen des frühen 20. Jh. bis zu den 50er und 60er Jahren, an denen, Bezug nehmend auf Henri Facillons prominente Eloge de la main, ebenso Bergson wie Deleuze teilnehmen.24 Für den jugoslawischen Kontext ist diesbezüglich Ranko Marinkovićs Text Ruke einschlägig, der, gleichfalls mit Blick auf Facillon, die jugosozialistische, utopische Handideologie erheblich relativiert. In diesem Text, der aus zwei Teilen besteht, einem dramatischen Dialog zwischen linker und rechter Hand und einem literaturtheoretischen Essay, macht Marinković deutlich, dass sich der Entfremdungsproblematik auch die Hände nicht entwinden können und dass letztlich nur die Kunst, resp. die Literatur es vermag, die aisthetisch vorgängige Position der Hand gegenüber dem Auge wieder herzustellen. 24

Das kultur- und geisteswissenschaftliche Forschungsinteresse am Tastsinn hat seit den 1990er Jahren erheblich zugenommen; vgl. u. a. Tasten. Göttingen 1996, Kunst- und Ausstellungshalle der BRD; C. Benthien, "Hand und Haut. Zur historischen Anthropologie von Tasten und Berührung." Zeitschrift für Germanistik NF 8.2, 1998, 335-348; M. Bickenbach, Manus Loquens: Medium der Geste – Gesten der Medien, Köln 2003; R. Schnell, Taktilität, Stuttgart 2000; M. Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt/M. 1994; U. Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie: Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000. Für unseren Zusammenhang sind dabei vor allem medientheoretische und medienanthropologische Ansätze relevant, wie sie in den 1960er Jahren vor allem von Marshall McLuhan formuliert worden sind. Hier werden der Tastsinn und seine Wechselbeziehungen zur Visualität und zum Hören in einem konstitutiven Zusammenhang mit der Entwicklung von technischen Medien untersucht, vgl. einschlägige Passagen in M. McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis, in: ders., Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf 1992, 186f, 298. In dieser Forschungsrichtung steht auch D. d. Kerckhove, Touch versus Vision: Ästhetik neuer Technologien. Die Aktualität des Ästhetischen, W. Welsh, München 1993, 137-168.

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Marinkovićs dramatischer Dialog führt zunächst vor, dass sich in der Dopplung und dem Gegensatz der Hände eine unüberwindbare Entzweiung der Person „mani“-festiert. Die Selbstentfremdung resultiert aus der asymmetrischen Kompetenzverteilung – der Schreibkompetenz der Rechten im Unterschied zur Linken, die nur des Lesens fähig ist. Weder im Willen noch in der Sprache ist Identität möglich. Entsprechend entrüstet sich die Linke gegenüber der Rechten: Worte entstehen nicht aus dem Wunsch, sondern auf der Zunge. Die Zunge kann leicht Unsinn zusammenreden; davon stirbt man in den Büchern, in denen du blätterst. Die Zunge wirft ihre Worte in die Welt – übrigens immer dieselben und altbekannten –, und sie gehen in Rauch auf. Nichts geschieht. Die Menschen gehen, essen, rauchen und schlafen weiter, und wieder sprechen sie Worte, und wieder nichts. Die Menschen reden gern, aber ihre Wünsche drücken sie nicht in Worten aus; sie schützen und verstecken sie vielmehr dahinter. Worte sind Masken. Auch er will nicht wirklich, was er sagt.25

Die Asymmetrie in der Schreibfähigkeit bedingt eine prinzipielle Verschiedenheit der Hände und eine daraus resultierende Spaltung der Person in den Antagonismus von Ratio und Körperlichkeit. Während die rechte Hand für die Prinzipien der Rationalität, Abstraktion und Kultiviertheit steht, gewährleistet die Linke die körperliche, materiell-stoffliche Einbindung des Individuums in die Umwelt. Entsprechend kann die Linke von sich behaupten: Ich bin ein Greifinstrument. Ich bin immer irgendein Gehinstrument, der Vorderlauf, ein Tastinstrument, ein Pseudopodium und dergleichen. Ich bin seine [des Menschen, J. M.] Verbindung zur Erde, wie auch der Fuß. […] Für mich sind die Dinge roh wie Lehm, hart, heiß und nass wie Stein, Feuer und Wasser, und für dich [die rechte Hand, J. M.] sind sie gebrannte Erde, korinthische Vasen, die Venus, Raketen und H2O.26

Von dieser Position der Körperlichkeit aus klagt die Linke die Rechte an, sich „zwischen den Menschen und die Natur gestellt zu haben wie ein selbsternannter Arbiter und Zensor, wie ein Zeremonienmeister oder, einfach gesagt, wie ein Filter.“ Der Streit der Hände gipfelt im Vorwurf der Linken an die Rechte, schon immer auf der Seite des Todes zu agieren: „Gibt es denn ein Jahrhundert, das du nicht mit Messern zerfetzt und mit Kugeln durchsiebt hast? Das waren keine Worte. Das war das Werk deiner fünf Finger.“27 Es ist die Schreibkompetenz der Rechten, die sich mit dem Tod verbindet, und so hält die Linke der Rechten vor, ihrer Zeit „den Füllfederhalter des Richters am Standgericht“ geführt zu haben:

25 26 27

Ranko Marinković, Hände. Eine Erzählung und ein Traktat, Salzburg, Wien 1989, 8. Ebd., 9f. Ebd., 10f.

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Er saß wegen irgendeiner Worte vor uns. Nicht wegen einer Tat seiner Hände, sondern wegen Worten. Dich hat es nicht gekümmert, wie diese Worte von seiner Zunge gerutscht waren, du hast einfach die Tatsache notiert. […] Sie nannten dich damals die Eiserne und die Blutige. Das Iridium an der Spitze deiner goldenen Feder war vom Töten schon ganz abgenutzt.28

Wie die asymmetrische Medienkompetenz der Hände die Persönlichkeit zersetzt und die Stellung und das Agieren des Subjekts in der Welt unkalkulierbar macht, zeigt die Schlussszene, bei der die Person in eine von den Händen provozierte Schlägerei gerät, in der sie jämmerlich unterliegt und die Hände sich schließlich „blutverschmiert“ wieder finden, wie sie „gedemütigt auf der Straße liegen, eine neben der anderen, machtlos, wie abgetragene Handschuhe.“29 Eine andere Wendung gibt Marinković der Handproblematik in seinem anschließenden Essay, indem er der Kunst, resp. der Literatur die Aufgabe zuweist, eben diese schriftbedingte existentielle Zersetzung des Subjekts zu kompensieren. Kunst bzw. Literatur erscheinen als „Handwerk“ in einem emphatischen Sinne: Man muss das Vergnügen einer Hand kennen, die arbeitet. Darin liegt, so scheint mir, das ganze Mysterium des sogenannten „Handwerks“, und alles außerhalb dieses Vergnügens ist „fachmännische“ Präzision“ und Mystifikation des Gewerbes. […] Es mag dubios, gekünstelt und launisch erscheinen, dieses Insistieren auf der Rolle der Hand in den Belangen des Geistes. Nun, wie dominant und inventiv der Geist in seinen Ideen auch sein mag, er wendet sich an die Hand und lässt sie für ihn arbeiten.30

Der Literatur kommt es zu, diese instrumentelle Inanspruchnahme der Hand durch den Geist, diese „protodaktylodichterische Entfremdung“ zu überwinden.31 Hier fungiert die Hand als Übersetzerin und Vermittlerin zwischen Körper und Geist: Sie [die Hände, J. M.] koordinieren die komplette Kinetik des Körpers. Sie „orchestrieren“ die Stimmen, artikulieren die „Sätze“, dirigieren das „Ensemble“, übersetzen die Bewegungen in die sogenannte „Handlung“, in die Sprache, sogar die verbale, 28 29 30 31

Ebd., 11. Ebd., 20. Ebd., 22f. Vgl.: „Diese ,protodaktylodichterische‘ Entfremdung bringt uns nur wieder auf jene vorhin gestellte Frage zurück: warum besteht der ,Schriftstellergeist‘ in der Ausführung seiner Tätigkeit so sehr auf die Dienste der Hand?“ (Ebd., 24f.) Der Hand ist es zudem möglich, die nationalsprachlichen Differenzen zu überwinden. Indem die Hand zeichnet, vermag sie phonetisch codierte Sprachzeichen durch graphische Illustration des bezeichneten Gegenstands in Ähnlichkeitszeichen zu übersetzen: „Schaltet sich hier die Hand als Übersetzerin ein, wird sie mit einemmal in den Klängen aller Sprachen sprechen. Sie wird sich einfach einen Bleistift nehmen, ein paar allernotwendigste Striche ziehen, […] um, Jahve zum Trotz, die babylonische Sprachverwirrung zu lösen.“ (Ebd., 26.)

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fabulieren, erzählen eine Geschichte aus der unpersönlichen Askese der „Ideenwelt“ in die individuelle Vielfalt und Opulenz der „Dingwelt“, in die Sünde des Daseins. Sie überführen, führen, verführen die Worte zu unvorhergesehenen semantischen Abenteuern, durch ihren unerschöpflichen Einfallsreichtum, zum Verrat des „Bezeichneten“. Mit der ganzen Auswahlbreite ihrer unbändigen und unendlich nuancierten Semiotik der Affirmation, der Negation, des Zweifels, der Skepsis, der Ironie, der Persiflage, des Humors, der Groteske dramatisieren sie die abstrakte und unpersönliche Instrumentierung der Worte.32

In der Literatur wird jene ontologische Priorität der Hand gegenüber dem Auge wiederhergestellt, die unter den Bedingungen der Schrift bzw. der Dominanz des Geistes auf das Sehen übergegangen war. Mit Blick auf Focillons L’éloge de la mains und dessen Überlegungen zum „taktilen Wert“ in der bildenden Kunst, sieht Marinković die Aufgabe der Literatur darin, im graphischen Raum der schriftbedingten Visualität die Sprache der Taktilität wieder zu finden, oder anders gewendet, „aus der Sprache des Tastsinns die Sprache des Sehens [zu komponieren].“33 In der Literatur kehrt jene noetische Urszene wieder, in der schon immer „die Hand das Auge überholt und verblüfft“ hatte: Schon als sie [die Hand, J. M.] ihr erstes Beil aus dem Stein schlug, konnte ihr das Auge kaum, oder gar keine Hilfe sein. Das Auge hatte einfach nicht die geringste visuelle Erfahrung und schon gar keine Kenntnis von den Eigenschaften, der funktionalen Form und der Verwendbarkeit dieser „Fabrikation“. Die Hand kannte all das: den Widerstand des Steins gegen ihre Anstrengungen und die „endgültige“, plumpe Form (wie sie selbst auch plump war), aber eine Form, die sie ihrem Gebieter durchaus bieten konnte, damit er sie in sein spärliches Werkzeug aufnahm, aber auch in das immer reichere System kommunikativer (verbaler?) Zeichen. Auf einer höheren Stufe des „Ertastens der Welt“ entdeckt die Hand das taktile „Interesse“ am menschlichen und tierischen Körper. Das Auge folgt bloß der Hand, streichelt die Formen der Brüste und Hüften, Knie und Schultern mit seinen Blicken oder übersetzt das Anspannen der Muskeln des Diskobolos in seine visuelle Perzeption.34

Eben auf diesem von Marinković für die Literatur ausgemachten Verhältnis von Sehen und Tasten, bei dem nicht die Visualität die Poetik der Bilder dominiert, sondern umgekehrt „das Auge […] bloß der Hand [folgt]“, gründet sich auch das filmpoetische Konzept von Makavejevs Der Mensch ist kein Vogel. Auch hier geht es Makavejev darum, „aus der Sprache des Tastsinns die Sprache des Sehens [zu komponieren].“

32 33 34

Ebd., 28. Vgl. ebd., 29. Ebd., 29.

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6. Sehen, Tasten und die Politik des kollektiven Körpers Diese Problematik von Hand und Auge, auf die man stößt, wenn man ausgehend von Deleuzes Konzeption des filmischen „Zeit-Bildes“ und dem darin entworfenen Körperkonzept Makavejevs Der Mensch ist kein Vogel analysiert, führt wieder zurück in das Werk von Deleuze – nämlich zu seiner zwei Jahre vor seinen Kinobüchern entstandenen kunsttheoretischen Abhandlung Francis Bacon. Logique de la Sensation, in der er sich in einem eigenen Kapitel mit „Auge und Hand“ beschäftigt und dabei vier verschiedene Formen der Relation zwischen Auge und Hand unterscheidet: Die beiden Definitionen der Malerei – durch die Linie und die Farbe, durch den Strich und den Fleck – decken sich nicht genau, da die eine visuell, die andere aber manuell ist. Um das Verhältnis zwischen Auge und Hand und die Valeurs zu qualifizieren, die dieses Verhältnis durchläuft, genügt es sicher nicht zu sagen, das Auge urteile und die Hände wirken. Das Verhältnis von Hand und Auge ist unendlich viel reicher und durchläuft dynamische Spannungen, logische Umkehrungen, organische Austauschprozesse und Ersetzungen (Focillons berühmter Text Lob der Hand scheint dem nicht Rechnung zu tragen). Der Pinsel und die Staffelei mögen eine Unterordnung der Hand allgemein ausdrücken, niemals aber hat sich ein Maler mit dem Pinsel begnügt. Man müßte mehrere Aspekte in den Werten der Hand unterscheiden: das Digitale, das Taktile, das eigentlich Manuelle und das Haptische. Das Digitale scheint das Maximum an Unterordnung der Hand unter das Auge zu markieren: Das Sehen geschah im Innern, und die Hand ist auf den Finger reduziert, d. h. interveniert nur, um die entsprechenden Einheiten für reine visuelle Formen zu finden. Je mehr die Hand auf diese Weise untergeordnet ist, desto mehr entwickelt der Blick einen „idealen“ optischen Raum und sucht seine Formen nach einem optischen Kode zu erfassen. Dieser optische Raum aber weist wenigstens in seinen Anfängen noch manuelle Referenten auf, mit denen er sich zusammenschließt: Man wird derartige virtuelle Referenten wie die Tiefe, die Kontur, die Modellierung etc. taktil nennen. Diese lockere Unterordnung der Hand unter das Auge kann ihrerseits einem regelrechten Ungehorsam der Hand weichen: Das Gemälde bleibt eine visuelle Realität, dem Blick aber drängt sich ein formloser Raum und eine ruhelose Bewegung auf, denen er nur mit Mühe folgen kann und die das Optische auflösen. Man wird das derart verkehrte Verhältnis manuell nennen. Schließlich wird man vom Haptischen immer dann sprechen, wenn weder eine enge Unterordnung in dem einen oder anderen Sinn noch eine lockere Unterordnung oder virtuelle Verbindung bestehen werden, sondern wenn der Blick selbst eine Tastfunktion in sich entdecken wird, die ihm eignet und nur zu ihm gehört, unterschieden von seiner optischen Funktion. Man könnte dann sagen, dass der Maler mit seinen Augen malt, allerdings nur sofern er mit seinen Augen berührt. Und sicher kann diese haptische Funktion ihre Vollendung unmittelbar und mit einem Schlag erhalten, und zwar in antiken Formen, deren Geheimnis wir verloren haben (ägyptische Kunst). Sie kann sich aber auch im modernen Auge von neuem erschaffen, ausgehend von der manuellen Gewalt und dem manuellen Ungehorsam.35

35

Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logik der Sensation, München 1995, 2 Bde, I/94f.

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All den von Deleuze genannten Interrelationen von Auge und Hand, der digitalen, taktilen, manuellen, und schließlich auch der haptischen Wechselbeziehung, lassen sich Aufnahmen und Sequenzen aus Makavejevs Der Mensch ist kein Vogel zuordnen. Auch das filmpoetische Telos, das in der Entfaltung des Handmotivs bei Makavejev erkennbar ist, entspricht dem, was Deleuze mit seiner Graduierung des Übergangs von der Dominanz des Auges zu der der Hand intendiert. Wie Deleuze in seiner Bacon-Studie geht es Makavejev darum, das Bedingungsverhältnis von Körperrepräsentation und Seh- bzw. Wahrnehmungskonzept zu erkunden und zu zeigen, wie der Akt des Sehens selbst den Körper in unterschiedlichem Maße involvieren bzw. ausschließen kann. Diese Erkundung der Interrelation von Auge und Hand impliziert ein ästhetisches Credo: die filmische (bzw. literarische) Überwindung der durch die Dominanz des Sehens (und der Schrift) bedingten Selbstentfremdung des Subjekts durch Restitution einer noetischen Urszene im filmischen Bild, einer Szene, in der die Hand das Auge regiert. Hier wird, wie wir oben bereits gezeigt haben, die Dominanz des körperlichen Tastens gegenüber dem konturen- und detailscharfen Blick in der Bildstruktur selbst umgesetzt. Wichtig ist dabei die kompensatorische Funktion dieser Praxis des Sehens im Hinblick auf Sujet und Narration des Films. Wenn der Film ironisch und satirisch vom technischen (slowenischen) Zweckrationalismus, dem kapitalistisch motivierten Arbeitsethos, der Isolation des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, der Selbstgefälligkeit der betrieblichen Administration etc. handelt, dann erzählt er damit von unterschiedlichen Aspekten letztlich ein und derselben sujetträchtigen Konstellation – nämlich vom Auseinanderklaffen des jugosozialistischen Anspruchs, d. h. der sprachlichen Selbstrepräsentation des soziopolitischen Systems und der realen, gesellschaftlichen Erfahrung und Praxis. Medientheoretisch pointiert und im Kontext von Marinkovićs Überlegungen, ließe sich sagen, dass es sich bei Makavejev um eine Kritik handelt, die die Trennung in den Blick nimmt zwischen dem in der Sphäre des Visuellen sich repräsentierenden (dogmatischen) Schriftwort und den damit verbundenen, semantischen und sozialen Effekten und kulturellen Konsequenzen einerseits und der Tat, der unmittelbaren Erfahrung und der materiell-physischen Teilhabe an der Welt andererseits. Es geht um Kritik an jener Konstellation, die bei Marinković im Dualismus zwischen der schreibkundigen Rechten und der Linken, die körperlich-haptisch den Weltbezug sucht, sinnbildlich gemacht wird. Genau diese in der filmischen Narration herauspräparierte Trennung versuchen die intensiven, dichten Körperbilder, in denen das Sehen haptische Qualität erlangt, wieder aufzuheben. Diese Bilder legen eine Praxis des Sehens nahe, die die Tendenz zu Distanz, Abstraktion, Analyse und schließlich auch zur Individuation, die dem (schriftbedingten) Visuellen inhärent ist, zu unterdrücken versucht, zugunsten eines tastenden, körperlichen und mithin sprachlich-mündlich disponierten Sehens,

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eines Sehens, das ähnlich dem klingenden Wort auf einer körperlich erfahrbaren Ebene Gemeinschaftlichkeit unter den Rezipienten stiftet. In der Begrifflichkeit Michail Bachtins ließe sich sagen, dass diese haptischen Bilder auf die Restitution eines kollektiven Körpers hin operieren, in dem sich die Rezipienten erleben sollen, im Unterschied zu den apollinischen Individuationseffekten des traditionellen Filmbildes und der Institution Kino.36 Gerade von diesen kollektiven Momenten der Rezeption wird auch im Film selbst mit den Aufnahmen von einer bewegten, lachenden Zuschauermenge bei der Hypnoseveranstaltung und bei der Zirkusvorführung wiederholt erzählt. Mit den haptischen Bildern versucht Makavejev unter den Bedingungen des Films und des Kinos eben jene kollektiven Zuschauererlebnisse zu initiieren, die den dionysischen Genres des Theaters und des Zirkus eigen sind. Dieser Konnex von haptischem Bild und kollektivem Körper ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens liegt darin die politische Dimension von Makavejevs Filmpoetik begründet: Das Kino soll jenen Ort darstellen, an dem das Versprechen auf Überwindung der durch die Vergegenständlichung der lebendigen Sprache im Medium der Schrift erfahrenen Selbstentfremdung des Menschen in einer durch die ästhetische Rezeption erlebten, erfüllten Gemeinschaftlichkeit eingelöst wird, das auch in der jugoslawischen Variante des Sozialismus nach 1945 und nach dem Bruch mit der Sowjetunion zu realisieren nicht so recht gelingen wollte. Zweitens korrespondiert diese Beziehung zwischen der filmischen, körperlich-haptisch disponierten Praxis des Sehens und der (politischen) Gemeinschaftsstiftung, die Makavejevs Filme der 60er Jahre auszeichnet, mit jenem auf Performativität hin angelegten Gestus der Theoriebildung, mit dem die jugoslawische Praxisphilosophie nicht nur ihre Kritik an dem offiziellen dogmatischen Jugosozialismus formuliert, sondern durch den sie auch nachdrücklich die westlichen, neumarxistischen Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre geprägt hat. Drittens schließlich ist es diese Verbindung von haptischem Bild und kollektivem Körper, an der sich ein grundlegender Unterschied zwischen Makavejevs Filmpoetik der utopisch gestimmten 60er Jahre und Deleuzes letztlich skeptischer Filmtheorie der 80er Jahre zeigt. Die politische Dimension des filmischen Zeit-Bildes reduziert sich bei Deleuze nun darauf, partiell 36

Die Individuation, die dem Medium Film wesentlich ist, reflektiert eindrücklich Boris Ėjchenbaum in seiner Studie Probleme der Filmstilistik (1927), wenn er der Frage nachgeht, wie auf den Film und in das Kino die Forderung nach „kollektiver“ Kunst aus dem sowjetischen Theater mit seinen Massenaufführungen übertragen werden kann: „[…] der Film (fordert) an sich in keinster Weise die Anwesenheit einer Masse, wie zu einem gewissen Grad das Theater. […] Der Film erwartet keinen Beifall von uns, es gibt – abgesehen vom Vorführer – niemanden, dem zu applaudieren wäre. Die Disposition des Zuschauers gleicht einer intimen Einzelbetrachtung, er beobachtet gleichsam den Traum eines anderen.“ (Texte zur Theorie des Films, 100-140, hier: 107f.)

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innere Mechanismen im totalen und totalitären, ökonomischen und technologischen System des Kinos, des Filmautomaten, sichtbar und erlebbar zu machen – ohne aber dabei an jener positiven, Geschichte bildenden Kraft zu partizipieren, die Deleuze über den Begriff des „organlosen Körpers“ der philosophischen Theorie, der Literatur und auch der Malerei zugesprochen hatte.

O LEG A R O N S O N

Das Zeit-Bild und die Bilder des Sowjetischen Wenn das „Sowjetische“ zum Thema wird, dann neigen wir ungewollt dazu, dieses mit einer Reihe von konstanten Bildern gleichzusetzen, in denen es in Form von einigen durchaus fest konventionalisierten Zeichen definiert ist, die auf eine bestimmte historische Periode, auf die Existenzperiode des heute nicht mehr bestehenden Staates der UdSSR verweisen. Uns aber geht es hier nicht um Bilder, die von der Ideologie hervorgebracht worden sind, nicht um „sowjetische Bilder“, deren Katalog schon genügend umfangreich ist und beständig durch historische und semiotische Untersuchungen vervollständigt wird. Vielmehr geht es uns um solche Bilder, in denen die Zeichen der Ideologie gar nicht direkt zum Ausdruck kommen müssen und in denen das vertraute, erkennbare „Sowjetische“ keinerlei kulturelle oder politische Konnotationen enthält. Die Bilder, von denen die Rede sein wird, haben in erster Linie eine Beziehung zum Modus des alltäglichen Lebens des sowjetischen Menschen. Wenn man von den „Bildern des Sowjetischen“ spricht, setzt man voraus, dass hier etwas vorliegt, was sich nicht in Form von solchen Zeichen bestimmen lässt, mit deren Hilfe die Bedeutung des „Sowjetischen“ abgelesen werden kann, sondern etwas, was uns auf einen besonderen Typ von Gemeinschaft verweist, der damals entstand und sich in vielerlei Hinsicht bis heute erhalten hat. Man könnte sagen, dass die Bilder, von denen hier die Rede ist, sich noch nicht zu Zeichen verdichtet haben und noch nicht an der Erzeugung von Sinn partizipieren, doch bereits mit einem Typus von Subjektivität verbunden sind, für den dieser vage Sinn des Sowjetischen eine Voraussetzung für die zukünftige Hervorbringung jeglicher historischer und politischer Zeichen bildet. Im Unterschied also zu den „sowjetischen Bildern“, die aus den ikonischen Zeichen und rhetorischen Figuren einer bestimmten Epoche entstehen und die auf die eine oder andere Weise ihre Bestimmung, ihre Lektüre und Auslegung voraussetzen, entziehen sich die „Bilder des Sowjetischen“ der Repräsentation und treten nur mittelbar in Erscheinung. Mit anderen Worten: In unserem Fall ist das „Sowjetische“ nicht das Prädikat, sondern eine Relation, die zwischen den Dingen und zwischen den Zeichen besteht. Dies bedeutet, von keinem Ding sagen zu können, dass es absolut „sowjetisch“ sei. Aber wenn es in das System der Wechselbeziehungen mit anderen Dingen einbezogen wird, verweist es auf eine immanente Ebene der alltäglichen Existenz des Menschen, in der jener besondere Typ der sozialen Erfahrung zum Ausdruck kommt, den wir als sowjetisch bezeichnen.

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Die Frage ist nun, wie wir dieses so verstandene „Sowjetische“ festmachen können. Wir haben es nicht mit klaren Vorstellungsbildern zu tun, die wir wiederholt wahrnehmen und verstehen können, sondern mit obskuren und entgleitenden Bildern des alltäglichen Seins, mit einer kommunikativen Praxis, die uns mit dem Mit-Anderen-Sein und dem In-Gemeinschaft-Sein konfrontiert, das in gewisser Weise jedem individuellen Sein vorausgeht. Die Kinematographie hat überwiegend mit eben diesem Typ von Bildern zu tun. Gerade im Kino wird jenes „Bild des Sowjetischen“ tradiert, das sich nicht einmal in Erinnerungen finden lässt. Dies betrifft aber nicht die sowjetische Kinematographie im Ganzen, sondern nur Filme jener bestimmten Periode, die in dem Augenblick einsetzt, wenn die historische Phase, die als Tauwetter bezeichnet wird, bereits vergangen ist. Ziehen wir hingegen das Kino der 1920er Jahre in Betracht, dann sehen wir, dass durch die formalen Bestrebungen der Regisseure jener Zeit und durch die Suche nach neuen Ausdrucksformen jene Bilder, um die es uns hier geht, zurückgedrängt werden und dass ihnen keine Möglichkeit gegeben wird, zur Darstellung zu gelangen. Das Gleiche geschieht in der sowjetischen Kinematographie der 1930-50er Jahre, wenn anstelle der formalen Suche entweder bewegungslose Zeichen der Ideologie wie bei Мichail Čiaureli oder Gattungsklischees wie bei Grigorij Aleksandrov treten. Diese Situation, auf die Gilles Deleuze aufmerksam macht, ist für das Kino insgesamt charakteristisch, das zu seiner eigenen Sprache durch eine auf die kinematographische Bewegung hin orientierte Sprache gelangte, die Sprache der BewegungsBilder. Erst als es die Möglichkeiten dieser Sprache ausgeschöpft hat, wendet es sich jener Schicht von Bildern zu, die man als vorsprachlich bezeichnen kann. In gewisser Weise ist das „Sowjetische“ in den Filmen Der Schwur (Kljatva, 1946) und Der Frühling (Vesna, 1947) absolut phantastisch und weist keinerlei Bezug zu irgendeiner sozialen Erfahrung auf. Wenn wir diese im Fall von Der Schwur noch mit bestimmten ikonischen Zeichen in Verbindung bringen können, dann wird in Der Frühling die völlige Beliebigkeit dieser Zeichen offensichtlich. Das Tauwetter als historischer Moment in der Entwicklung des sowjetischen Staats hat viele Veränderungen hervorgerufen, darunter auch im Kino und in der Rezeption von Filmen. Hier werden uns aber nicht jene Veränderungen interessieren, die man gewöhnlich mit dem „Kino der TauwetterZeit“ verbindet. Auch wenn sich in diesen Filmen ein Wandel der ideologischen Akzentsetzungen und in einem stärkeren Maße auch ein Wandel der Zeichen (darunter auch der Zeichen des Ausdrucks) vollzieht, geht es dabei nicht um die Beziehung zwischen den Zeichen und um die Selbstreflexion der Zeichen, die auf das „Sowjetische“ bezogen sind. Das heißt, wir betrachten das Tauwetter nicht als einen bestimmten Zeitabschnitt, der Filme wie Der Kommunist, Wenn die Kraniche ziehen, Die Ballade über den Soldaten

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oder Ich bin zwanzig Jahre alt/Der Vorposten von Il’ič hervorgebracht hat, durch die er sich historisch und sozial charakterisiert, sondern uns geht es um das außerhistorische, strukturelle „Prinzip“, durch das ein besonderer Typ von Erfahrung in die sowjetische Kinematographie Eingang gefunden hat. Eine der Aufgaben besteht für uns nun darin, das Schlüsselmoment zu ermitteln, das mit der Veränderung des Wahrnehmungscharakters zusammenhängt und darin, unter Berücksichtigung des Wandels, der nach Stalins Tod eingetreten war, jene Bereiche auszumachen, in denen relativ unabhängig von den sozialen Faktoren neue kinematographische Bilder hervorgebracht werden. Dies erfordert besondere Voraussetzungen für die Analyse. Als erstes gilt es, solche Filme zu untersuchen, die nach dem definitiven Ende des Tauwetters gedreht worden sind, in denen aber dessen soziale Wirkung, nachdem es von der politischen Szene verschwunden war, im Kino in einer besonderen Wirkungsart der Filmbilder seine Fortsetzung gefunden hat. Dies hängt damit zusammen, dass die Besonderheiten des Filmbildes, dessen Entstehung seit Mitte der 1950er Jahre erfolgte, es nicht erlauben, den sowjetischen Film als eine gewisse historische Ganzheit zu betrachten. Mit anderen Worten: Wir wollen unsere Aufmerksamkeit nicht auf Kontinuität und Tradition richten, sondern auf den Unterschied, dank dem wir in der Kinematographie andere, bisher nicht realisierte Möglichkeiten entdecken. Warum aber sprechen wir gerade von der Kinematographie des Tauwetters als einem „genetischen Element“ dieses Unterschieds? Vor allem deswegen, weil der Film in größerem Maße ein soziales Phänomen darstellt als Theater, Malerei und Literatur, die schnell auf Veränderungen reagieren, gelegentlich den sozialen Erwartungen vorauseilen und diese in gewissem Sinne sogar formen. So wurde Il’ja Ėrenburgs Erzählung Tauwetter, die einer ganzen Dekade der sowjetischen Geschichte ihren Namen gegeben hat, bereits 1953 geschrieben. Das Kino selbst ist ein Mechanismus des Sozialen. Da es zu einem geringeren Grade die Technologie eines Autors als vielmehr die einer Gemeinschaft ist, vermag es in sich Bilder zu speichern, die nicht nur mit den Ansprüchen eines Autors, mit der kulturellen Tradition und mit der Ideologie verbunden sind, sondern zugleich auch Bilder der unterdrückten sozialen Wünsche. Das Tauwetter gab einer ganzen Reihe von Filmen die Möglichkeit, über den Rahmen des Ästhetischen und des Politischen sowie, in den Worten Walter Benjamins gesprochen, über den der „Politisierung der Ästhetik“ der 1920er Jahren wie auch den der „Ästhetisierung der Politik“ der Stalinepoche hinauszugehen. In beiden Fällen haben wir es mit Sprachen zu tun, die bereits aktualisierte „soziale Wünsche“ reproduzieren. Die besondere Aufgabe besteht jedoch darin, im Film jenen virtuellen Wunsch zu entdecken, der noch keine ästhetische, politische oder kinematographische Form gefunden hat.

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Eine Analyse dieser Wünsche setzt voraus, dass wir uns von einer wertenden und geschmacksorientierten Betrachtung der Filme befreien. Bereits das Erscheinen eines Films an sich stellt ein Faktum der kinematographischen Erfahrung dar. Deshalb ist es notwendig, einen Unterschied zu machen zwischen dem Kino als historisches Konstrukt, in das eine Auswahl der „besten“ Filme eingeht und das damit kulturelle und künstlerische Erfahrung repräsentiert, einerseits, und solchen Filmen andererseits, die in ihrer Gesamtheit die Einführung einer wertmäßigen Beurteilung und einer darauf folgenden Auswahl erst bedingen. Auf diese Weise gerät „das Kino“ als ein ausgeprägtes System von Werten in Widerspruch zu „dem Film“ als individuellem Bestandteil einer heterogenen Erfahrung, d. h. einer kommunikativen Gemeinsamkeit, die in der kinematographischen Wahrnehmung festgehalten ist. Folglich haben wir es hier nicht mit dem Kino als System zu tun und auch nicht mit dem Film als Werk, sondern in gewisser Weise mit dem sowjetischen Film im Allgemeinen, der einen besonderen, mit der sowjetischen existenziellen Erfahrung zusammenhängenden Typ von Bildhaftigkeit impliziert. Eben um diesen Typus geht es immer, wenn wir zum ersten Mal einen Film sehen und ihn allein von der Darstellung her anhand von nicht fest zu machenden Besonderheiten sofort als sowjetisch identifizieren, ohne den Stil des Regisseurs zu kennen und ohne die konkreten Details benennen zu können, die auf eine bestimmte Epoche oder ein bestimmtes Land verweisen. Es ist offensichtlich, dass unter dem Begriff Erfahrung nicht der synthetische sinnlich-rationale Charakter der Beziehung zwischen dem Subjekt und der Welt (wie bei Kant) zu verstehen ist, sondern in erster Linie eine kommunikative Erfahrung, die ihrer möglichen Subjektivierung vorausgeht. Diese Erfahrung hat einen doppelten Sinn. Einerseits handelt es sich dabei um etwas Unabstrahierbares im Rahmen der Analyse, um einen gewissen empirischen Überrest, für den es keinen „adäquaten“ Begriff und vielleicht sogar keine Sprache gibt. Andererseits führen wir durch diesen Überrest implizit die Kategorie des Anderen ein, nicht als philosophische Abstraktion, sondern als das Andere, das sich in eben dieser Erfahrung konkretisiert. Eigentlich schließt Erfahrung Subjektivität aus, da kein Ich sagen kann: Das ist „meine“ Erfahrung. Es handelt sich immer um die Erfahrung des Anderen, eine Erfahrung, die wir uns nicht aneignen können. Die Bilder, in denen sich die Erfahrung des Sowjetischen verkörpert, bestehen aus solchen nicht anzueignenden Bildern. Aus diesen aber formiert sich gerade unsere Subjektivität. Diese Art von Bildern weist einen prinzipiell anderen Charakter auf. Auf die nach dem Zweiten Weltkrieg sich herausbildende Situation, in der diese Bilder in Erscheinung zu treten beginnen, macht Gilles Deleuze in seinem dem Zeit-Bild gewidmeten zweiten Band seines Kinobuches aufmerksam. Er verbindet die Krise des gängigen Bildsystems mit der Wirtschafts- und Kunstkrise im Europa der Nachkriegszeit. Dieser andere Bildtyp, den Deleuze

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als Zeit-Bild bezeichnet, stellt eine natürliche Fortsetzung des vorher entstandenen Bewegungs-Bildes dar und bedeutet eine Erschöpfung der Entwicklungsmöglichkeiten des Bewegungs-Bildes. Deleuze spricht sogar von der Ausarbeitung einer darwinistischen „Naturgeschichte“ des Bildes, die auf die Kinematographie anwendbar wäre. Entsprechend durchläuft das Filmbild nach Deleuze folgende Entwicklungsstadien: 1) Das erste Stadium erstreckt sich von einer dem Bild der Welt korrespondierenden perzeptiven Entsprechung zu einem Bewegungs-Bild, das sich bereits außerhalb des Rahmens der natürlichen Wahrnehmung befindet und das die sensomotorischen Verbindungen aufdeckt. Hier tritt der Affekt an die Stelle des Urteils. Wenn sich das Bild der Welt aus privilegierten Momenten der Wahrnehmung formiert, die als dominante, zum Lesen bestimmte Zeichen herausgehoben und fixiert sind, und wenn die Bewegung damit als Übergang von einem privilegierten Moment zum anderen verstanden wird1, dann stellt das Bewegungs-Bild, das durch die kinematographische Technologie selbst hervorgebracht wird, eine Zusammenfügung von zufälligen „beliebigen Momenten“ (Deleuze) dar. Im Bewegungs-Bild erweist sich die Veränderlichkeit des Bildes selbst als Bedingung für die Herausbildung der kinematographischen Wahrnehmung und der kinematographischen Sprache, die ihre Grammatik in den sensomotorischen Verbindungen, in den Wahrnehmungs-, Affekt- und Aktions-Bildern sucht. 2) Das zweite Stadium führt vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild, das nicht nur den Charakter der Wahrnehmung selbst verändert, sondern auch das Subjekt der Wahrnehmung. Das Zeit-Bild entsteht in einer Situation, die Deleuze als „Inflation der Bilder“ bezeichnet, d. h. wenn die auf die perzeptive und affektive Wahrnehmungsschicht orientierte Grammatik des Films sich bereits herausgebildet hat und wenn das Bedürfnis nach anderen Zeichen, nach Zeichen nichteigener Subjektivität, entsteht. So zeigt sich im italienischen Neorealismus und in der französischen (später in der deutschen) Nouvelle Vague ein Interesse an dem, was Deleuze als „beliebige Räume“ bezeichnet, d. h. ein Interesse an solchen Räumen des alltäglichen Daseins, die in unserer Wahrnehmung als nicht privilegiert erscheinen, die uns stets entglitten und zwischen den Montageschnitten des Bewegungs-Bildes verschwunden waren. Es erweist sich, dass eben diese beliebigen Räume jene vagen (Hindergrund-)Bilder konstituieren, die uns im Verlauf unseres Lebens mit der existenziellen Erfahrung selbst verbinden, wenn wir uns in klischeeartiger Alltäglichkeit auflösen. Das Zeit-Bild löst das Bewegungs-Bild nicht einfach ab. Doch im Unterschied zum letzteren, das den imaginären Filmraum auf der Grundlage der sichtbaren Realität formiert, entdeckt das Zeit-Bild die Nichtunterscheidbar1

Eben dies hat H. Bergson in Die schöpferische Entwicklung als „kinematographische Erkenntnismethode“ kritisiert, was aber eher als „fotographisch“ zu bezeichnen wäre.

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keit des Realen und des Imaginären als Prinzip. An die Stelle der Opposition real – imaginär tritt die Opposition aktuell – virtuell. Das Zeit-Bild ist die Einheit des Aktuellen, das in Beziehung steht zum gegenwärtigen Moment, der unmittelbaren Wahrnehmung und zum Bewegungs-Bild einerseits und dem Virtuellen andererseits, bei dem der Prozess des Werdens des Gegenwärtigen mittels der Vergangenheit, des Erinnerungsbilds, des Traumbilds und des Wunschbilds erfolgt. Auf diese Weise vereint das Zeit-Bild nach Deleuze in sich einerseits jene optisch-akustische Situation der Nachkriegszeit, die es dem Kino erlaubt, schwache, durch Wahrnehmung und Affekt nicht gesicherte Kommunikationen als „unklare“ kommunikative Beziehungsbilder zu entdecken und hierin Kräfte des Realitätsverlustes und der Desintegration von Vorstellungs- und Bewegungsbild freizusetzen. Damit weist das Kino auch beständig auf die Unzulänglichkeit sowohl der Psychologie als auch der Phänomenologie der Wahrnehmung für die Beschreibung seiner Bilder hin. Andererseits bestimmt das „Werden der Gegenwart mittels Vergangenheit“ jenen Ort des Erscheinens von Zeit (beliebige Räume), an dem der vorherrschende Typ von Subjektivität und infolgedessen auch die Kategorie der Wahrheit selbst in Frage gestellt werden. Die Zeichen, die am Erzählen beteiligt sind, können nicht mehr als wahr oder falsch unterschieden werden, sondern verwandeln sich in Spuren, die nur noch die Symptome der nicht realisierten sozialen Wünsche, genauer gesagt – der Neurosen, anzeigen. Einer der bemerkenswertesten Filme der sowjetischen Kinematographie, in denen das Zeit-Bild deutlichen Ausdruck findet, ist Marlen Chucievs Film Juliregen (Ijul’skij dožd’) von 1967. Dabei scheint gerade dieser Film von der sowjetischen Ikonographie maximal entfernt zu sein. Aber insbesondere in diesem, wie in keinem anderen Film, tritt das „Sowjetische“ in Form von existenzieller Erfahrung in Erscheinung, von Erfahrung, die, wie oben bereits erwähnt, unmittelbar mit dem Zeit-Bild verbunden ist. In gewisser Hinsicht bezeichnet dieser Film strukturell jene Charakteristika der Bilder des Sowjetischen, durch die sich das Kino nicht nur der UdSSR, sondern auch Russlands nach der Perestrojkazeit auszeichnet. Präzise treffen auf diesen Film folgende Worte von Deleuze zu, mit denen er das Zeit-Bild beschreibt: Wir haben es nun mit reinen optischen und akustischen Situationen zu tun, in denen die Personen nicht mehr zu reagieren wissen, mit affektionslosen Räumen, in denen sie nichts mehr verspüren und nicht mehr handeln – und diese Situationen und Räume treiben sie schließlich zur Flucht, zum Bummeln, zum Kommen und Gehen, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem, was mit ihnen geschieht, zur Unentschlossenheit gegenüber dem, was sie tun sollen. Doch was ihnen an Aktion und Reaktion verlorengegangen ist, haben sie an Hellsicht gewonnen: sie SEHEN, und das Problem des

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Zuschauers wird nun heißen: „Was ist auf dem Bild zu sehen?“ (und nicht mehr: „Was ist auf dem nächsten Bild zu sehen?“).2

Eben dieses „Bummeln“ und „das Kommen und Gehen“ (die Wiederholungen) sind Basis für das serielle Prinzip der Materialorganisation, bei dem das Sehen an den Anderen delegiert und desubjektiviert wird. Die logische Struktur von Juliregen besteht gerade in dieser Manifestation des Seriellen. Das serielle Prinzip zeigt sich auf der Ebene der „musikalischen“ Strukturierung des Films ebenso wie in der Wiederholung von Episoden, die als Spaziergänge organisiert sind, auf denen irgendwelche „beliebigen Räume“ durchquert werden und in denen das Moment der Bewegung selbst jenseits aller konventionalisierten Bilder und jenseits jener Bedeutungen, die man aus dieser Episode ableiten würde, wesentlich ist. Es zeigt sich auch in der sinnentleerten Wiederholung, des Ritornells, einer Wiederholung, bei der eben das Unwesentliche wiederkehrt. Ebenso trägt das serielle Prinzip dazu bei, das Moment der Variation in der Episode hervorzuheben, das uns einen gewissen minimalen Zuwachs an Anschaulichkeit (obraznost’) im Vergleich zur vorgängigen Episode verschafft. Diese Variationen sind mit der Organisation des anderen Sinns verbunden, der allerdings unfixierbar bleibt – weder im Signifikanten, an dem beliebige Zeichen teilhaben können, noch im Signifikat, d. h. einem Begriff, der mit Hilfe dieser Zeichen auf ein bestimmtes Subjekt bezogen ist. Bereits hier erscheint das serielle Prinzip wichtiger als Zeichen und Begriffe. Die Reihe entwickelt sich durch die hinzukommenden Elemente der Variation, bei denen der Zuwachs einerseits eine Art Bedeutungsüberschuss produziert, der es dem Sinn verunmöglicht, sich im Signifikat zu fixieren. Andererseits aber bleiben diese hinzukommenden Elemente unwesentlich und ohne Zeichenstatus und erfüllen deshalb letztlich nur die Funktion, den Mangel der bezeichnenden Zeichenmaterie anzuzeigen. Eine entsprechende Idee der Organisation von Sinn auf der Oberfläche, durch leere Ereignisse und Effekte, die Serien produzieren, durch Spaziergänge und Ritornelle und die Zusammenführung von beliebigen Räumen entwickelt Deleuze in Die Logik des Sinns (Logique du sens, Paris 1969), in seinen Überlegungen zur Musik und schließlich zum Zeit-Bild. In der Tat wird jener andere Sinn, den Deleuze nicht in der Tiefe, sondern auf der Oberfläche der Dinge ausmacht, von uns als Erfahrung bezeichnet – im Unterschied zum traditionellen Kantischen Verständnis von Erfahrung. Diese Erfahrung konfrontiert uns mit einer anderen, sinnlichen Erfahrung – der sinnlichen Erfahrung von Gemeinschaft, die über gemeinsame Bilder kommuniziert, welche zwar inhaltsleer und sujetlos sind, aber ein wichtiges kommunikatives Moment bewahrt haben, das sich nicht auf die Repräsentati2

Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991, 348.

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on, das Verständnis oder den Informationsaustausch reduzieren lässt. Genau diese Bilder bilden die Grundlage für die Beschreibung des Zeit-Bildes durch Deleuze. Und eben deshalb weil dies Bilder des Gemeinschaftlichen sind, können wir zu Recht davon sprechen, dass sich in ihnen eben jener gewisse asoziale Rest der Alltäglichkeit abgesetzt hat, den wir als das „Sowjetische“, als „Bilder des Sowjetischen“ zu betrachten versuchen. Wenden wir uns nun dem Film Juliregen zu. Bereits der Anfang, eine Kamerafahrt durch die Straßen Moskaus, mit der der allgemeine Fluss des Alltags festgehalten wird, gibt die grundlegende Intonation des gesamten Films vor. Noch während des Vorspanns und vor dem Auftritt der Figuren gleitet ein subjektloser Kamerablick an Gebäuden, Menschen, Autos, Kiosken, Aushängen und Automaten für Sodawasser vorbei, ohne irgendwo anzuhalten. Damit korrespondiert die Tonspur dieser Episode, die einen Radioempfänger imitiert, an dem jemand, der unsichtbar bleibt, von einem Sender zum nächsten weiterdreht, und so ein entsprechendes akustisches Zeit-Bild entstehen lässt, in dem Bruchstücke aus G. Bizets Carmen, die Übertragung eines Fußballspiels, politische Nachrichten, das Lied Dunkle Nacht, Englischunterricht, eine Lesung von Kindergedichten durch Kornej Čukovskij usw. sich aneinander reihen. Jedes von diesen visuellen und akustischen Elementen könnte ein Zeichen sein und die Verbindung dieser Elemente ein allgemeines Bild der Zeit abgeben. Aber gerade ihre Organisation in nicht semantisierten, zufälligen Serien legt das Vorhandensein eines anderen Bildes nahe, in dem die Zeit nicht dargestellt, sondern selbst als Bild, als ZeitBild, erscheint. Gerade durch die Zufälligkeit der Elemente in der visuellen Darstellung und im Soundtrack entwickeln die Serien Resonanzen und lassen damit einen gewissen einheitlichen optisch-visuellen Raum entstehen. Diese Resonanzen werden verstärkt durch das Einblenden von Gesichtern aus Gemälden der Renaissance. Diese dritte Serie wirkt insofern verfremdend, als hier das Gesicht als universelles Zeichen figuriert, bei dem Bezeichnetes und Bezeichnendes untrennbar und wechselseitig aufeinander verweisen. Diese hineinmontierten Abschnitte verstärken den Eindruck des Zufälligen und Unwesentlichen all dessen, was weder durch den Blick noch durch das Ohr festgehalten werden kann. Irgendwann im Laufe dieser langen Kamerafahrten (travelling) gerät die Heldin (E. Uralova) ins Bild, als Teil einer amorphen Menschenmasse, eines beständigen Stromes des Lebens. Sie erscheint wie zufällig. Die Kamera verliert sie zunächst auch immer wieder aus dem Blick, bis sie sie dann doch zu verfolgen beginnt, einem Passanten gleich, auf den die Frau von Zeit zu Zeit einen Blick wirft (vgl. Abb. 1).

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Abb. 1: Juliregen, 1967, Marlen Chuciev.

Im Film lässt sich eine ganz bestimmte Ordnung von Wiederholungen feststellen: Durch eine fast mechanische Wiederholung ist die Episode gekennzeichnet, bei der Autos am Konsulatsgebäude vorfahren; um Wiederholung handelt es sich aber auch bei den Kamerafahrten durch die Straßen von Moskau, durch die Wälder am Stadtrand, bei dem Flanieren von Personen entlang von Zäunen mit Aushängen und Plakaten. Hier werden die Personen eigentlich eliminiert, manchmal verschwinden sie auch tatsächlich und geraten in den Raum hinter der Kamera; gelegentlich verliert sie die Kamera aus dem Blick, und manchmal werden sie durch die Eindrücklichkeit des Hintergrunds, der ausländische Luxuslimousinen der Botschafter und Gesichter auf Kinoplakaten zeigt, aus dem Bild gedrängt. Wichtig ist dabei jedoch nicht, dass die Personen und der Hintergrund ihre Plätze tauschen, sondern dass die Personen zu einem Bestandteil des Hintergrunds mit seiner undefinierbaren Alltäglichkeit werden. Einen anderen Typ von Wiederholung bilden Menschenansammlungen auf Partys, beim Picknick, im Restaurant, in der Wohnung eines verstorbenen Verwandten, auf dem Platz beim Bol’šoj Theater (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Juliregen, 1967, Marlen Chuciev.

Dies sind solche Räume, in denen Menschen als integrativer Bestandteil der Situation auftreten, ihre Rede und ihr Handeln sind konventionalisiert, immer gleich und wiederholbar. Hier geht es in erster Linie um den sozialen Gestus. In Form von Wiederholungen sind die Dialoge der Heldin mit ihrem Freund und ihrer Mutter aufgebaut (die Theatralisierung von Aktionen und Reaktio-

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nen, eine unterstrichene Affektlosigkeit, die sich im Verzicht auf Großaufnahmen und den Aufnahmen der Figuren von hinten ausdrückt). Sich wiederholende Szenen, in denen die Figuren mit dem Rücken zur Kamera gezeigt werden, verleihen dem Ganzen eine weitere Dimension an Entpersönlichung des Raums und Bedeutungslosigkeit des Gesprochenen (vgl. Abb. 3, 4). Als eine schwache Antithese zu den sinnentleerten, entwicklungslosen Wiederholungen (die Limousinen der Botschafter), die zu nichts führen und auch auf nichts verweisen, fungieren schließlich Telefongespräche im Korridor einer Kommunalwohnung mit einer abwesenden Person. Abb. 3, 4: Juliregen, 1967, Marlen Chuciev.

Wenn wir von Serialität sprechen, dann erscheinen nicht diese Wiederholungen selbst als Serien, sondern ihre Anordnung ausgehend von einem beliebigen, leeren Element, einer „leeren Zelle“. Diese stellt, wie Deleuze schreibt, keine Bildrepräsentation dar, sondern ist als nichtrepräsentative, serielle Resonanzeinheit wirksam. Als eine solche „leere Zelle“ erscheint auch die Heldin des Films selbst, die über keine individuellen Eigenschaften verfügt und als Singularität agiert, lediglich als ein Ereignis auf der Oberfläche des Lebens. Als eine solche „Leerstelle“ erscheinen sowohl ihr Freund, der ihr im Bild an die Seite gestellt wird (A. Beljavskij) und um den herum eine Serie von Signifikanten entwickelt wird, bei der jeglicher in sichtbaren Zeichen gefasste Sinn verloren geht, als auch ihr unsichtbarer Telefongesprächspartner. Die Gespräche mit ihm lassen eine Serie von Signifikaten entstehen, in der die materielle Abwesenheit der Figur auf eine minimale zusätzliche Sinndifferenz verweist,

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die, notorisch überdeterminiert und inadäquat, Wiederholung provoziert. Diese Figuren der Abwesenheit sind dabei nicht nur inhaltlich oder formal aufzufassen, sondern als eine Art Entdeckung eines anderen Bildes, das nicht auf der Hervorbringung von werthaften und verlässlichen Bildern basiert, sondern auf der Wiederholung von Wertlosem. An dieser Stelle sei angemerkt, dass neben einer möglichen moralischen Interpretation dieser Leere hier auch ein wichtiges positives Moment enthalten ist. Gerade diese Leere der Einzelfiguren und die Kühle der Räume sind es, die Orte der Gemeinschaftlichkeit entstehen lassen, von denen Kultur und Politik nichts wissen: Die Leere ist der beste Platz für die Gemeinschaftlichkeit. Das ist ein physisch privilegierter Raum der Gesetzesmanifestation. Ein leerer Mensch präsentiert die Statistikgesetze am besten.3

Indem die Wiederholung den sinnlosen Fluss des Lebens bekräftigt, bekundet sie auch ihre Autonomie in der Welt der auf Wiedergabe ausgerichteten Bilder. In der Wiederholung wird nur das Vergessene, das Nichterinnerte wiederholt, während uns die Wiedergabe auf die Zeichen des Gedächtnisses verweist, auf die Bewahrung und Bekräftigung des Werthaften und – im Idealfall – auf den Sinn als Wert. Eben die dritte Serie, die Serie der Gesichter, begründet das Prinzip der Differenz von Wiederholung und Wiedergabe, das Deleuze in seinem Buch Differenz und Wiederholung (1968, 1997 dt.) beschrieben hat. Die Bilder der alten Meister, die in den Prolog des Films hineinmontiert sind, treten in ihrer Materialität als reproduzierbare Plakate in Erscheinung, die in der Druckerei vervielfältigt werden, wo auch die Hauptfigur arbeitet. Diese Bilder finden ihre Fortsetzung in den Großaufnahmen von Gesichtern auf Kinoplakaten, die den Hintergrund abgeben, auf dem sich die durch Weitwinkelaufnahmen „entindividualisierten“ Figuren bewegen (vgl. Abb. 5). Abb. 5: Juliregen, 1967, Marlen Chuciev.

3

Gilles Deleuze, Proust und die Zeichen, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1978, 110.

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Das Gesicht selbst – ein Effekt der Wiedergabe einer transzendentalen Illusion – erscheint erneut am Ende des Films in bewegungslosen Bildern von anonymen jungen Leuten, die den Gemälden der Maler ähneln und damit den Sinn der in verschiedene Richtungen entwickelten Serien zusammenführen. Für sich allein trägt jede dieser Serien nichts zum Sinn des Films bei, sondern produziert lediglich einen Bildtyp, der auf den Mangel und eine gewisse Desintegration des Sinns verweist. Es ist das Zeit-Bild, durch das diese Serien zusammengehalten werden, und in den eben jenes entideologisierte „Sowjetische“ eingeprägt ist, dessen Zeichen zwar für immer verbraucht und vergessen sind, sich aber in den kommunikativen Erfahrungsbildern bewahrt haben. Das sind nicht mehr die Bilder der Ideologie, sondern vielmehr Erfahrungen eines anderen Typs von Dasein, andere Bewegungen, andere Handlungen, eine andere Dauer – also ein anderer Typ von Subjektivität. Nur das Subjekt selbst erweist sich hier als entindividualisiert; es ist nicht in der Lage, sich in einem Sein oder einem Gesicht zu verkörpern, sondern es löst sich im uneigentlichen Mit-Anderen-Sein und in einer Welt von eingebürgerten Klischees auf, in der nur noch Gesetze gelten, die weder durch die Form eines Werkes noch durch die Ideologie, sondern durch die Welt des Alltäglichen selbst diktiert werden. Die oben beschriebene Serialität zeigt sich mitunter auch in ganzen Episoden: Die Wohnungsbesuche der Heldin zum Zweck der Agitation erscheinen als eine maximale Verdichtung beliebiger Räume und verweisen auf das Darstellungskonzept des Films; im Zusammenschnitt von Telefongesprächen erscheint die Zeit als Bewegung still gestellt und wird als Ereignis und in seiner inhaltlichen Unbeweglichkeit gezeigt. Die wechselnden Gesichter auf den Kinoplakaten, vor deren Hintergrund die sprechenden Figuren kaum wahrnehmbar sind, deuten auf den Verlust des Bilds und Gesichts hin, dessen Spuren in der Massenproduktion und sogar in der reproduzierten klassischen Kunst kaum noch zu erkennen sind. Die Melancholie des Verlustes legt dennoch einen Ersatz nahe. An die Stelle des verlorenen Objektes (Bildes) tritt ein ununterscheidbarer Strom von Einzelheiten, den zu erfassen das Serialitätsprinzip der Analyse ermöglicht. In diesem Strom, in diesen Wiederholungen, entsteht ein zukünftiges mögliches Kinoverfahren, eine Schablone oder ein Klischee, wobei es unwichtig ist, ob es sich dabei um ein klassisches Gemälde oder um ein Werbeplakat handelt. Was auch immer es im Einzelnen sein mag – es sind Wiederholungs-Bilder. Das Moment des Verlustes (von Sinn oder des Gesichts) steht selbstverständlich in Beziehung zu dem sozialen Verlust, dem Ende der Tauwetterzeit, was sich in der Ablehnung von bestimmten, dem Tauwetter charakteristischen Bewegungs-Bildern und in der Suche nach neuer Bewegung äußert. Die neue Bewegung beginnt mit dem Anhalten von Zeit, was sich sowohl in einer übertriebenen Beweglichkeit (Musikalität) der Kamera als auch in der

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Montage von zufälligen Elementen zeigt. Es ist wichtig, hier auf den Unterschied zum Film Ich bin zwanzig Jahre alt/Der Vorposten von Il’ič (Mne dvadcat’ let/Zastava Il’iča, 1959-1964) hinzuweisen, in dem, wie es zunächst scheinen mag, bereits ähnliche Darstellungsweisen vorliegen. In Der Vorposten von Il’ic sind die Kamerafahrten und die Passagen der Personen durch den Raum der Stadt noch unmittelbar mit den Figuren selbst verbunden. Durch diese Passagen und Handlungen der Figuren werden die Räume der Stadt umkodiert: Wohnungen, Höfe, Straßen und schließlich der wichtigste Raum – der Rote Platz, werden entideologisiert, indem sie sich als Orte der Begegnung von Liebespaaren erweisen. In Juliregen jedoch werden für das sowjetische Kino Räume der fehlenden Handlung erschlossen und legitimiert, als Schlüsseleffekt des „Sowjetischen“ erweisen sich nun eigentümliche Figuren der Abwesenheit,4 in denen die Affekt- und Bewegungs-Bilder ihr Ende finden. Filme, die auf eine solche Art von Raum hin konzipiert sind, streben nicht nach totalen, universellen Handlungen, Zeichen und Bildern, die jedermann lesen und wiedergeben kann, sondern nach solchen Zuständen, in denen sich die Gemeinschaft als Ensemble lockerer kommunikativer Bindungen zeigt. Abgesehen von Chucievs Juliregen wären noch Gennadij Špalikovs Langes glückliches Leben (Dolgaja sčastlivaja žizn’, 1966) und Vasilij Šukšins Reisebekanntschaften (Pečki-Lavočki, 1972) zu nennen, die sich mit Deleuzes Film-Balladen (Spaziergängen) in Verbindung bringen lassen. Darauf wären weiterhin die Filme von Aleksej German und Kira Muratova zu beziehen, die gänzlich auf den unpersönlichen Hintergrund des Lebens des sowjetischen Menschen zielen, ebenso auch Il’ja Averbachs Filme, in denen sich spezifische moralische, beliebige Räume der sowjetischen Erfahrung materialisieren. Alle diese Filme machen sich auf die eine oder andere Weise die nicht anzueignenden „Bilder des Sowjetischen“ in Gestalt des Zeit-Bilds zueigen. Und sogar Andrej Tarkovskijs und Sergej Paradžanovs Filme, die auf andere, aber dennoch sowjetische Gemeinschaften gerichtet sind, rühren an dasselbe Paradoxon, wenn die Form des KinoSchauspiels das Ende einer Bewegung fordert, deren Subjekt schon längst verschwunden ist. In gewisser Weise könnte man sagen, dass auch die Massenfilmproduktion schwach ausgeprägte „sowjetische“ Klischees produziert hat. Im Unterschied dazu haben allerdings die oben erwähnten Filme ein reflexives Element eingebracht, wenn auch dies den Autoren selbst nicht bewusst gewesen sein mag. Die Erstarrung der Form, die Entleerung der Zeichen und die Hervorbringung neuer, noch nicht ganz lesbarer Zeichen sowie die Kultivierung des Stillstands durch Figuren der Abwesenheit erlauben es, ausgehend von De4

Siehe dazu: Oleg Aronson, Metakino. Kapitel: Sowjetischer Film: Kino, das nie entstanden ist, Moskau 2003.

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leuzes Zeit-Bild nicht nur die Natur des „Sowjetischen“ zu verstehen, sondern sich auch darüber klar zu werden, dass das Zeit-Bild als ein Bild entsteht, für das es kein universales Wahrnehmungssubjekt (kein Verbrauchersubjekt) gibt und dass das Zeit-Bild ein Bild ist, das eine Gemeinschaft als Subjekt voraussetzt, wobei diese heterogene Gemeinschaft von Einzelnen durch eine gemeinsame Erfahrung geeint ist, die in dem in dieser Erfahrung enthaltenen Zeit-Bild festgehalten ist. Die Rolle des sowjetischen Films bei der Aneignung nicht nur des Bewegungs-Bildes, sondern auch des ZeitBildes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dem pflichtet auch Deleuze bei, wenn er S. Daney zitiert: Die Amerikaner haben ihr Studium der fortlaufenden Bewegung sehr weit vorangetrieben (…), einer Bewegung, die das Bild seines Gehalts und seiner Materie entledigte (…). In Europa, besonders aber in der Sowjetunion, haben sich einige den Luxus erlaubt, sich der Bewegung von ihrer anderen Seite zu nähern: der Zeitlupe und der Unterbrechung, Paradžanov und Tarkovskij (doch auch bereits Eisenstein, Dovženko und Barnet) betrachten die Materie im Zustand des Wachstums und der Verstopfung, eine Geologie von Elementen, Abfällen und Reichtümern, die in der Zeitlupe im Entstehen begriffen ist. Sie schufen den Film des sowjetischen Glacis, dieses unbeweglichen Imperiums – ob dieses Imperiums es will oder nicht.5

Deleuzes Gedanke lässt sich weiterführen. Ein Film, der unter imperialen Bedingungen entsteht, verweist darauf, dass in diesem Imperium des „Sowjetischen“ ein Leben weitergeht, das sich von jenem Leben unterscheidet, mit dem normalerweise die üblichen Zeichen des Lebens in Verbindung gebracht werden. Aber auch dieses Leben erweist sich als Teil jener sowjetischen Erfahrung, die wir bereit sind, nur mit der Geschichte und Ideologie zu assoziieren. Das „Sowjetische“ verfügt über seine eigene Sinnlosigkeit, über eine solche Verallgemeinerung und solche Bilder, die es nicht mehr zulassen, diese Sinnlosigkeit auf ein bestimmtes Land und eine bestimmte Epoche zu beziehen. In diesen Bildern erscheint das „Sowjetische“ als ein Teil der Welt, in dem die Herrschaft der Medien gerade erst im Entstehen begriffen ist und in dem das Kino eine andere Dimension von Zeit eingeführt hat. In dieser heterogenen Zeit, im Zeit-Bild, in dieser Zeit, die kein Subjekt der Wahrnehmung von Zeit kennt, erscheint das „Sowjetische“ selbst als eine zusätzliche Serie, die ‒ zusammen mit anderen Serien ‒ teilhat an der Entdeckung der Erfahrung des Seins des zeitgenössischen Menschen. Aus dem Russischen von Tat’jana Lastovka, Natascha Drubek-Meyer und Jurij Murašov.

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Gilles. Deleuze, Negotiations, New York 1995, 79. Daneys Text erschien in Libération 29.1.82.

BERNHARD HARTMANN

UND

HOLT MEYER

Die Wissenschaft vom Kristall Die Inszenierung der Evidenz bei Krzysztof Zanussi Für Maximilian

1. Deleuze, Zanussi Der Sachverhalt „Kristall“ erscheint als Schlüsselwort cristal im zweiten Teil von Gilles Deleuzes Buch mit dem schlichten Titel Cinéma und als Schlüssel- und Titelmotiv von Krzysztof Zanussis ebenso fundamental betiteltem Film Die Struktur des Kristalls (Struktura kryształu, 1969). Diese beiden Orte im Filmdiskurs wollen wir in unserem Beitrag unter zwei Aspekten untersuchen: Zum einen mit Blick auf die Rolle der Deleuzeschen Auseinandersetzung mit Zanussi in der allgemeinen Definition des cristal in Deleuzes Theoriegebilde und zum anderen hinsichtlich der Analyse des angesprochenen Films selbst. Angesichts der Tatsache, dass Deleuze bemerkenswerte Formulierungen für die Bedeutung des Kristalls von Zanussis Film ableitet (als Teil der Definition des Wortes im Kontext seines CinémaProjekts), soll versucht werden, die beiden Verwendungen des Begriffs bei Deleuze und Zanussi wechselseitig zu beleuchten. Im Folgenden interessieren uns vor allem drei Fragekomplexe, die den kulturanalytischen Status (und die kulturellen Grenzen) der Deleuzeschen Thesen, den meta-medialen Status des Zanussi’schen Films sowie die historische und historiographische Komponente beider Werke betreffen: Im ersten Teil („Cristal“) beschäftigen wir uns mit dem entsprechenden Wort bzw. dem Begriff bei Deleuze hinsichtlich seiner Figuralität und seiner Hintergründe (insbesondere einigen kunsthistorischen Thesen Wilhelm Worringers). Im zweiten Teil („Cristal – kryształ“) analysieren wir die Stelle in Deleuzes Cinéma 2, in der auf Zanussi direkt Bezug genommen wird. Den Schwerpunkt bildet hier die Frage nach der Bedeutung von Zanussis kryształ für die Definition des Deleuzeschen cristal. Im dritten Teil („Struktura kryształu“) wird der Film Die Struktur des Kristalls vor dem Hintergrund des bis dahin Ausgeführten analysiert. Hier geht es zum einen um die Frage, inwieweit sich die Deleuzeschen Begriffe und Kategorien in Zanussis Film wiederfinden lassen, und zum anderen um solche Spezifika des Films, die

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Bernhard Hartmann und Holt Meyer

Deleuze (unabsichtlich oder absichtlich, d.h. methodisch bedingt) übersieht und auslässt.1 Mit der Verwendung des Begriffs „Evidenz“ soll die Problematik des Sichtbar-Machens, des Vor-Augen-Führens als Verfahren eines rhetorischen Akts angesprochen werden, welches wiederum im Hintergrund der Arbeit mit der besondern Art von Sichtbarkeit gesehen werden kann, die das cristalmot und das cristal-image bezeichnen wollen.2 Es ist uns dabei ein Anliegen, das bisher unterbelichtete kulturelle Umfeld der Deleuzeschen Theoriebildung insbesondere in Verbindung mit ihrer Anwendung auf die polnische Kinotraditionen in den Blick zu rücken.

2. Cristal In seiner ersten Eigenschaft (als Schlüsselwort im zweiten Teil von Deleuzes Buch Cinéma) erscheint „le cristal“ als ein wenigstens auf den ersten Blick erstaunlich metaphorisches Wort in Deleuzes konzeptuellem Gebilde. Dieses Gebilde hat keinen geringeren Zweck, als in der Tradition von Henri Bergson die philosophische Bedeutung des Kinos (und keineswegs eine Philosophie des Kinos, geschweige denn des Films3) zusammenzufassen. Cinéma 2 beginnt nicht mit einer Erläuterung des Schlüsselbegriffs cristal, sondern mit einer Beschreibung des neorealistischen Kinos, Definitionen der „rein optischen und akustischen Bilder“ (bei Ozu, deren „Erfinder“4 ), einer Erweiterung von Peirce’ Zeichensystem, in deren Rahmen die entscheidende Differenz zwischen Zeit-Bild (Cinéma 2) und Bewegungs-Bild (Cinéma 1) erläutert wird, und einem „dritten Bergson-Kommentar“, in dem es um „Erinnerungsbilder“ geht. Erst im vierten Kapitel und nach 90 Seiten meint Deleuze, den Boden für den Einsatz des Wortes cristal ausreichend 1

2 3 4

Mit der Benennung der jeweiligen Sprachen (cristal, kryształ) soll auch die Frage des Kunst- und Theorietransfers zwischen dem Polnischen (bzw. Ostmitteleuropa insgesamt) und dem Französischen markiert werden, die im übrigen im späteren Schaffen Krzysztof Kieślowskis eine große Rolle spielt. Obwohl Kieślowski hier nur am Rande erscheint, wäre eine Analyse seines Œuvres sowohl mit Blick auf unser systematisches Anliegen als auch im Hinblick auf die Inszenierung dieses Kulturtransfers als Faktor der medialen Reflexion sicherlich aufschlussreich (vgl. dazu Meyer, Holt, Trauer um Kieślowski/Kieślowskis Trauer [7 Einstellungen], in: Balagan 1997 [1], 128-150). Die Autoren dieses Beitrags beabsichtigen, hierzu eine gesonderte Studie vorlegen. Rüdiger Campe, Evidenz als Verfahren. Skizze eines kulturwissenschaftlichen Konzepts, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 2004 (8), 105-134. Ähnlich schreibt Michail M. Bachtin über die philosophische Bedeutung des Romans oder sogar über den Roman als Philosophie, keineswegs aber eine Romanphilosophie. Gilles Deleuze, Kino 2. Das Zeit-Bild, Frankfurt/M. 1991, 26.

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vorbereitet zu haben. Danach dominiert dieses Wort Deleuzes Kino-Diskurs in Cinéma 2. Der Band endet mit der eher beiläufig verpackten, in ihrer Tragweite allerdings kaum zu überschätzenden Verwendung des Begriffs „hyalosigne“ dessen eigentliche Bedeutung in der 23. und letzten Anmerkung der Conclusions aufscheint. Die Einleitung zum Begriff des cristal im Kapitel Les cristaux de temps (Die Zeitkristalle) enthält folgende allgemeine Kernformulierungen, die das Kristallbild über die Oppositionen von Realem und Imaginärem, Gegenwart und Vergangenheit sowie Aktuellem und Virtuellem definieren: Hier nun findet das Optozeichen sein wahres genetisches Element, wenn das aktuelle optische Bild mit seinem eigenen virtuellen Bild auf dem kleinen inneren Kreislauf kristallisiert. Wir haben es hier mit einem Kristallbild zu tun, das uns den Grund oder vielmehr das „Herz“ der Optozeichen und ihrer Zusammensetzungen liefert. Bei ihnen handelt es sich lediglich noch um Splitter des Kristallbildes. Das Kristallbild oder die kristalline Beschreibung besitzt zwei Seiten, die nicht miteinander zu vermengen sind. Die Vermengung von Realem und Imaginärem ist nämlich ein simpler Tatsachenirrtum und beeinträchtigt keineswegs ihre Unterscheidbarkeit: die Konfusion stellt sich einzig und allein „im Kopf“ des Betreffenden ein. Die Ununterscheidbarkeit dagegen ist eine objektive Illusion; sie verhindert zwar nicht die Unterscheidung der beiden Seiten, wohl aber ihre Zuordnung, wobei jede Seite die Rolle des anderen innerhalb einer Relation einnimmt, die man als reziproke Voraussetzung oder als Unumkehrbarkeit bezeichnen kann. Und in der Tat gibt es kein Virtuelles, das nicht durch Bezug auf das Aktuelle aktuell würde, während dieses innerhalb derselben Beziehung virtuell wird: wir haben es hier mit vollständig umkehrbaren Vorder- und Rückseiten zu tun. Bachelard sprach in diesem Zusammenhang von „wechselseitigen Bildern“, zwischen denen sich ein Austausch ereignet. Die Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem, von Gegenwärtigem und Vergangenem, von Aktuellem und Virtuellem entsteht folglich keineswegs im Kopf oder im Geist, sondern ist das objektive Merkmal gewisser existierender Bilder, die von Natur aus doppelt sind.5

2.1. Arten, Zustände Ausgehend von dieser ersten Definition benennt Deleuze, nun schon mit Bezug auf Zanussi, „drei Arten des kristallinen Kreislaufs“, in denen „Austausch und Ununterscheidbarkeit […] ihre Fortsetzung“6 finden. Diese „drei Arten“ („trois façons“) werden wiederum durch drei opponierende Begriffspaare umschrieben: „Aktuelle[s] und Virtuelle[s] (oder [die] beiden gegenüberliegenden Spiegel), Reine[s] und Undurchsichtige[s] sowie Keim und Um5

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Deleuze, Zeit-Bild, 96f. – Diese Formulierung findet sich unmittelbar vor den Ausführungen zu Zanussi (und zu Welles’ Lady of Shanghai), die uns später beschäftigen werden. Ebd., 99.

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welt.“7. Daran anschließend differenziert er, jeweils am Beispiel eines Regisseurs und eines oder mehrerer seiner Werke „vier Zustände“ des Kristalls: 1. den idealen Zustand des vollkommenen und vollendeten Kristalls8 am Beispiel von Max Ophüls, insbesondere anhand der Filme Le plaisir (1952), Madame de… (1953) und Lola Montes (1955). Der „ideale Zustand“ des Kristalls besteht in seiner totalen lückenlosen Spiegelung: „Die kristalline Vollkommenheit lässt kein Außen bestehen: es gibt nichts außerhalb des Spiegels oder der Szenerie, lediglich eine Rückseite, an der die Personen vorüberziehen, die verschwinden oder sterben, vom Leben verlassen, das sich in der Szenerie wieder einführt.“9 2. den Kristall mit einem Sprung, Fluchtpunkt, Makel10 („crapaud“) am Beispiel von Jean Renoir und vor allem seines Films La Règle du jeu (1939). Für diesen Kristallzustand steht die „profondeur de champ“ (übersetzt als „Schärfentiefe“, meist aber als „Tiefenschärfe“ wiedergegeben): „Es flieht etwas in den Hintergrund aufgrund der dritten Seite oder der dritten Dimension: des Risses.“11 3. den in seiner Entstehung und seinem Wachstum begriffenen Kristall, in Bezug gesetzt auf die ‚Keime‘, aus denen dieser besteht12, am Beispiel von Frederico Fellini und insbesondere seines Films I Clowns (1971). In den Ausführungen zu diesem dritten Typus wird der Umstand herausgearbeitet, dass es „niemals einen vollendeten Kristall gibt“, und zwar so, dass die Frage in den Mittelpunkt gestellt wird, „wie man dort hineingelangt“. Es wird gezeigt, dass „jeder Eingang selbst ein kristalliner Keim, ein zusammensetzendes Element ist.“13 4. den im Zerfall befindlichen Kristall14 („le cristal en décomposition“) am Beispiel des Œuvres von Luchino Visconti, insbesondere anhand der Filme Il Gattopardo (1963) und Ludwig (1972). Dieser kristalline Zustand wird sehr differenziert und konkret herausgearbeitet. Fokussiert werden die folgenden Aspekte: Aristokratie, kristalline Gegenden im Dekompositionsprozeß, Geschichte15, die etwas zu spät kommende Enthüllung bzw. das „Zuspät“ („le trop-tard“) als eine „Dimension der Zeit“16: „n’est pas un accident qui se produit dans le temps, c’est une dimension du temps lui-même“. 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Ebd., 99. Deleuze, Zeit-Bild, 114. Ebd. Ebd., 116. Ebd. Ebd., 120. Ebd. Ebd., 127. Ebd., 127ff. Ebd., 130.

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Interessant ist in diesem Zusammenhang die Orientierung einer jeden Erläuterung an einem Regisseur. Wir werden nachher der Frage nachgehen, wo Zanussis Schaffen hier einzuordnen ist. In allen Fällen, besonders in den Ausführungen zu Visconti, werden die Regisseure in ihrer kulturellen Einbettung vorgeführt. Allerdings führen die besprochenen französischen und italienischen Regisseure eine nachvollziehbare Welt vor, die sich beispielsweise über „Aristokratie“ und „Geschichte“ (Visconti), die soziale Stellung von Clowns (Fellini) oder komplexe Liebesverhältnisse im Frankreich der 1930er Jahre (Renoir) konstituiert. Die sozialen Verhältnisse sind also integrale Bestandteile der „kristallinen Struktur“, die sie auf fundamentale Weise strukturieren. Dieser Sachverhalt wird später für die Analyse der Deleuzeschen Arbeit mit Zanussis kryształ von Belang sein. An dieser Stelle bleibt zunächst festzuhalten, dass Deleuze die „Zustände“ des Kristalls mit Filmœuvres, also mit einer Art Autorschaft, Stil und/oder künstlerischer Individualität verknüpft. Damit wird unterstellt, dass nicht nur ein bestimmter Film, sondern alle Filme des betreffenden Regisseurs dem jeweiligen „Zustand“ des Kristalls entsprechen.17 Es gehört also zum Kern der Definition des Kristalls (als unentscheidbare Spiegelung), dass er von einzelnen Künstlern unterschiedlich gefasst werden kann. Auch dieser Aspekt ist für die Beurteilung sowohl von Zanussis Rolle in der Definition des Kristalls als auch der Rolle dieser Definition des Kristalls als Motivation und Rahmenbedingung der Analyse des Zanussi’schen Œuvres relevant. Denn auch im Falle Zanussis hat Deleuze eindeutig dessen gesamtes Œuvre (oder jedenfalls den beachtlich großen Teil, der ihm bei Abfassung seiner Cinéma-Bücher bekannt war) im Blick. Um die allgemeinen Ausführungen zur Definition des Kristalls abzuschließen, sollen aber zuerst noch die Sätze zum „hyalosigne“ am Ende des Buches besprochen werden: Vielmehr befinden wir uns jetzt in einer Situation, in der das aktuelle Bild und sein eigenes virtuelles Bild vorliegt, dergestalt, daß es keine Verkettung des Realen mit dem Imaginären mehr gibt, sondern – in einem fortdauernden Austausch – eine Ununterscheidbarkeit beider. Hinsichtlich des Optozeichens ist dies ein Fortschritt: wir haben gesehen, wie der Kristall (das Hyalozeichen) die Verdopplung der Beschreibung gewährleistet und den Austausch zwischen Aktuellem und Virtuellem, Reinem und Undurchsichtigem, Keim und Milieu in einem doppelseitig gewordenen Bild in Gang setzt. Mit dem Erreichen der Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem überwinden die Kristallzeichen jede Psychologie der Erinnerung und des Traums ebenso wie jede Physik der Aktion. Blicken wir in den Kristall, dann nehmen wir nicht mehr den empirischen Verlauf der Zeit als Sukzession der Gegenwarten 17

Vgl. dazu auch Ronald Bogue, Deleuze on Cinema, New York 2003, 126: „If Deleuze paints with broad strokes in charakterizing hyalosigns, treating whole films as crystals, his strokes are even broader in delineating the four cristalline states, each state being exemplified by a director’s entire œuvre.“

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wahr, auch nicht mehr ihre indirekte Repräsentation als Intervall oder Ganzes, sondern ihre direkte Darstellung, ihre konstitutive Verdopplung in vorübergehende Gegenwart und sich bewahrende Vergangenheit, die strikte Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit der Vergangenheit, die sie sein wird, der Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie gewesen ist.18

Die Anmerkung präzisiert, was unter „hyalosigne“ zu verstehen wäre: Genau genommen verweisen die Kristallbilder auf kristalline Zustände (die vier von uns unterschiedenen Zustände), während die kristallinen Zeichen oder Hyalozeichen sich auf Eigenschaften beziehen (die drei Aspekte des Austauschs).19

Damit wird ganz am Ende von Cinéma 2 noch einmal Deleuzes bemerkenswerte Arbeit mit der (v.a. Peirce’schen) Zeichentheorie aufgerufen, welche eine besondere Art von Indexikalität auf den Plan ruft. In diesem Zusammenhang ist es von außerordentlicher Bedeutung, dass Deleuze die Doppelbezeichnung „signes cristallins [übersetzt als „kristalline Zeichen“; H.M.] ou hyalosignes“ verwendet. Denn die Grenze zwischen diesen beiden Bezeichnungen kann auch als diejenige zwischen Metapher (kann ein Zeichen wirklich „kristallin“ sein?) und Begriff (Behauptung eines Zeichentypus) gesehen werden. Die Doppelverwendung zeugt von Deleuzes Bewusstsein nicht nur dessen, dass sein Wort cristal an dieser Grenze angesiedelt ist, sondern auch des Umstands, dass seine Argumentation diese Grenze verhandelt. Damit ‚bewohnt‘ die „l’indiscernabilité“ Deleuze Philosophie selbst. Hier geht es allerdings nicht um eine Unentscheidbarkeit des Figuralen im Sinne Paul de Mans, sondern um eine konsequent radikale Auseinandersetzung mit dem Medium (philosophische) Sprache in seinem Umgang mit dem Medium cinéma-comme-image-temps. Das Wort von der „Nicht-Unterscheidbarkeit“ wiederholt die Beziehung zwischen dem Virtuellen und dem Realen auf der Ebene der Kino-Terminologie: Eine Sprache, welche mit diesem Phänomen fertigwerden will, muss die Kino-Bilder nicht nur beschreiben, sondern reproduzieren. Daher die Formulierung „dédoublement de la description“, welche auf die erstaunliche Doppelung aus der ersten Rede vom Kristall rekurriert: „l’image-cristal, ou la description cristalline“. Das Buch von Deleuze spannt sich somit zwischen zwei Begriffsdoppelungen, zwischen „l’imagecristal, ou la description cristalline“ und „signes cristallins ou hyalosignes“.

18 19

Deleuze, Zeit-Bild, 349f. Ebd., 430, Anm. 27.

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2.2. Kristall(inisches): Worringer und die Gotik als „regime cristallin“ Der Gebrauch des Begriffs „Kristall” steht bei Deleuze im Zusammenhang mit der Bezugnahme auf eine binäre kunsthistorische Systematik, die nicht nur mit dem Namen Wilhelm Worringer, sondern auch insgesamt mit den Versuchen der Kunstgeschichte der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verbunden ist, das ‚Andere‘ des „Klassischen“ bzw. des „Organischen“ zu definieren. Dieses Andere ist bei Worringer das Transzendentale, das sich in der Kunst in „kristallinischen“ Formen niederschlägt. Mit der Entstehung der Wissenschaft und der damit einhergehenden Auslagerung des Transzendentalen aus dem Bereich der Kunst kann letztere zur „klassischen“, „organischen“ werden. Diesen Gedanken formuliert Worringer wie folgt: Alle transzendentale Kunst geht also auf eine Entorganisierung des Organischen hinaus, das heißt auf eine Übersetzung des Wechselnden und Bedingten in unbedingte Notwendigkeitswerte. Solche Notwendigkeit aber vermag der Mensch nur im großen Jenseits des Lebendigen, im Anorganischen, zu empfinden. Das führte ihn zur starren Linie, zur toten kristallinischen Form. Alles Leben übertrug er in die Sprache dieser unvergänglichen und unbedingten Werte. Denn diese abstrakten, von aller Endlichkeit befreiten Formen sind die einzigen und höchsten, in denen der Mensch angesichts der Verworrenheit des Weltbildes ausruhen kann. Anderseits spiegelt sich die Gesetzmäßigkeit dieser anorganischen Welt in der Gesetzmäßigkeit jenes Organs, mit dem wir unsere sinnliche Abhängigkeit überwinden, nämlich unseres menschlichen Verstandes. Diese Beziehungen geben die entscheidende Perspektive für die eigentliche Entwicklungsgeschichte jener menschlichen Lebensäußerung, die wir Kunst nennen. Die große Krisis in dieser Entwicklung, die ein zweites, anderes Reich der Kunst schuf, beginnt mit dem Augenblicke, wo der aus dem Mutterboden des Instinkts sich loslösende und auf sich selbst vertrauende Verstand allmählich jene Funktion der Verewigung der Wahrnehmungen übernahm, die bisher von der künstlerischen Tätigkeit geleistet worden war. Nichts anderes geschah, als daß jene Übertragung in die Gesetzmäßigkeit des Anorganischen von der Übertragung in die Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes abgelöst wurde. Die Wissenschaft kam nun auf und die transzendentale Kunst verlor an Boden. Denn das durch den Intellekt geordnete und zum sinnvollen Geschehen gestaltete Weltbild bot nun dem an die Erkenntnismöglichkeit des Verstandes glaubenden Menschen dasselbe Sicherheitsgefühl, das der transzendental veranlagte Mensch nur auf dem mühsamen und freudlosen Umweg völliger Entorganisierung und Lebensverneinung erreicht hatte.20

Bei Deleuze findet sich eine explizite Bezugnahme auf Worringer im Zusammenhang mit der Kristall-Thematik in dem Text Sur le „régime cristal-

20

Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, 11. Auflage, München 1921, 177178.

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lin“ aus dem Jahr 1986.21 Gregory Flaxman fasst die betreffende Stelle kommentierend wie folgt zusammen: Thus, on either side of this breach – the old world and the new one – a different sign system develops; as Deleuze explains, „one can't say one is 'truer' than the other, because truth as a model or as an Idea is associated with only one [i.e., the first, the older] of the two systems. “ Deleuze calls the two regimes the „organic“ and the „crystalline,“ borrowing the distinction from Worringer; as he explains, Worringer „long ago brought out a confrontation in the arts between a 'classic' organic system and an inorganic or crystalline system with no less vitality than the first but a powerful nonorganic, barbarous or gothic life.“22

Es stellt sich also die Frage, inwieweit die Herkunft des Deleuzeschen Begriffs aus Worringers kunstanalytischer Betrachtung für die Definition und den Status des cristal, aber auch für den Übergang vom cristal zum kryształ, von Bedeutung ist. Der erste, generelle Teil dieser Frage kann in dieser Studie nicht ausführlicher erörtert werden. Hinsichtlich des zweiten Teils zeigt sich, dass der Einbezug der Gedanken Worringers gerade mit Blick auf Deleuzes Zanussi-Analyse verblüffende Verknüpfungen ans Tageslicht treten lässt. Dies wiederum lässt sich mit einigen allgemeinen Beobachtungen zu Deleuzes Denken in Verbindung setzen.

21 22

Gilles Deleuze, Negotiations 1972-1990, New York 1995, 67f. (= Sur le „régime cristallin“, in: Hors cadre, avril 1986, 39-45). Gregory Flaxman, The Brain Is the Screen: Deleuze and the Philosophy of Cinema, Minneapolis 2000, 26. Diese Ausführungen sind eine Antwort auf die folgende Frage: „Might not the analysis of cinema induce you to set out the heuristic role of the imaginary in your own work – including that on cinema – and in the way you write?“ Das Kapitel trägt den Titel Doubts About the Imaginary. Die einleitenden Bemerkungen lauten: „And then a crystalline system, that of the time-image, based on irrational cuts with only relinkings, and substituting for the model of truth the power of falsity as becoming. Cinema, precisely because it set images in motion, had its own resources for dealing with this problem of two different systems. But one finds these systems elsewhere, drawing on other resources.“ Es folgt eine daraus hervorgehende philosophiegeschichtliche Schlussfolgerung: „In Nietzsche one sees philosophical discourse toppling into a crystalline system, substituting the power of becoming for the model of truth, nonorganic life for the organon, „pathic“ relinkings (aphorisms) for logical links.“ Damit ist das Fundament für eine Selbstcharakterisierung des Autors der Cinéma-Bücher – auch als Erweiterung der Semiotik – gelegt: „What Worringer called expressionism is a fine way of approaching nonorganic life, fully developed in cinema, that one can’t adequately explain in terms of the imaginary. But expressionism is only one approach, and in no way exhausts the crystalline system: it appears in many other guises in other art forms and in cinema itself. […] What I set out to do in these books on cinema was not to reflect on the imaginary but something more practical: to disseminate time-crystals. It’s something you can do in cinema but also in the arts, the sciences, and philosophy. It’s not something imaginary, it’s a system of signs. Making, I hope, further systems possible.“ Deleuze, Negotiations, 64.

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Die Isolation der Figur, die Deleuzes in seiner Arbeit über Francis Bacon als dessen Hauptanliegen herausstellt, kann man unmittelbar auf Die Struktur des Kristalls, aber auch auf den Folgefilm Illumination (Iluminacja, 1973) beziehen. Diese Isolation hängt ebenfalls mit einem der Hauptanliegen der Deleuzeschen Philosophie zusammen: Der Untersuchung der Möglichkeit des Neuen, d.h. der Differenz, welche die angebliche Wiederholung desselben bewohnt und das Grundprinzip der Repräsentation in Frage stellt. Dieses grundsätzliche Anliegen, das Deleuze am ausführlichsten in Différence et répétition formuliert, führt ihn zu einer Reihe von Oppositionsbegriffen zum „Organischen“. Am Bekanntesten ist das „Rhizom“ alternative Organisationsform zum taxonomisch geordneten Baum-Prinzip. Auch die „Deterritorialisierung“ als Grundeigenschaft des Nomaden steht in binärer Opposition zum organizistisch angelegten und begründeten „Territorium“. Beide Konzepte stehen im Mittelpunkt einschlägiger Kapitel des mit Félix Guattari realisierten Mille plateaux-Projekt, das 1980, also unmittelbar vor dem Bacon-Buch, zum Abschluss gebracht wurde. Die Herleitung ist somit deutlich: Deleuzes Grundanliegen nimmt – auch in Verbindung mit den Ansichten Worringers – durch das Bacon-Projekt besondere Konturen an, und diese gehen direkt in die spezifische Terminologie der Cinéma-Bücher hinein. An diesem Punkt lässt sich an Joseph Vogls Generalthese zum Bezug zwischen Worringers „Anorganismus“ und Deleuzeschen Positionen v.a. aus dessen Bacon-Arbeiten anschließen. Die von Vogl hervorgehobene Parallelität zwischen der „‚gotischen‘ oder ‚nordischen‘ Linie bei Worringer“ und dem „Diagramm“, dem „Strich“ und dem „Verhältnis von Glattem und Gekerbtem“ bei Deleuze kann direkt zum cristal weitergeführt werden. Vogl konstatiert, dass Worringers „Linie“ mit „Anschauungsqual“ verbunden ist. Wenn er letztere anschließend als „die Unfähigkeit zu Gegenständen überhaupt“ umschreibt und mit dem „Realen oder Reellen“ bei Lacan verbindet,23 so erinnert dies an Deleuzes Wort von der „Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem“ im cristal (dazu mehr im nächsten Abschnitt). Diese „Ununterscheidbarkeit“ kann mit dem verknüpft werden, was Vogl als „Chaos“ bezeichnet und mit Lacans Kategorie des „Realen/Reelen“ in Verbindung bringt. Es erscheint in der Form von „disparaten Einzelheiten“, „Gestöber von Kräften und Molekülen“ und „begriffslosem Gestammel“. Worringers „gotische Linie“ ist – so Vogls These – an der „Grenze zu diesem Chaos“ angesiedelt bzw. stellt eine „Verarbeitungsweise dieses Chaos“ und eine „spezifische Veranstaltung, sich diesem Chaos auszusetzen“, dar.24 Vogl assoziiert dies mit Deleuzes Konzepten der „Wiederholung“ (genauer: einer „in sich selbst wiederkehrende[n] Wiederholung“, die „begriff- und 23 24

Joseph Vogl, Deleuze und Worringer, in: H. Böhringer und B. Söntgen, Wilhelm Worringers Kunstgeschichte, München 2001, 181-192; hier: 183. Ebd.

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erinnerungslos“ ist) und der „Differenz“. Zu letzterer stellt Vogl fest: „[D]ie gotische Linie zieht zwar eine Differenz, sie unterscheidet sich; aber das, wovon sie sich unterscheidet, der Untergrund, hängt ihr wie ein Unterschiedloses an und unterscheidet sich nicht von ihr“.25 Vogl benennt und beschreibt das „anorganische Leben“, das sich in der „gotischen Linie“ abzeichnet, und bringt es – im Gegensatz zum „Gefühl“ – mit dem „Affekt“ (d.h. mit Emotion aus der Sicht der rhetorisch-technischen Produktion im Gegensatz zur tatsächlich innerlichen Regung26) in Verbindung, der wiederum „mit bestimmten Formen der Unterbrechung“27 verbunden ist. In diesem Zusammenhang fällt eine Formulierung, die den Leser der Cinéma-Bücher aufmerken lässt: der Affekt sei „ein Riß im sensomotorischen Band“28. Ohne auf die weiteren Betrachtungen Vogls näher eingehen zu können, bleibt festzuhalten, dass Vogl viele Deleuzesche Denkfiguren benennt, die auch für die cristalProblematik im Zusammenhang mit dem temps-image von essentieller Bedeutung sind. Vogl benennt mit dem Bacon-Buch, Cinéma 1, Mille Plateaux und Was ist die Pilosophie? (allerdings nicht Cinéma 2, wo Worringer zwar nicht namentlich, aber mit dem „Kristall“-Begriff implizit stark vertreten ist) die wichtigsten Worringer-Bezüge, ohne sie einzeln auszudifferenzieren, da es ihm um die generelle Bedeutung der Verbindung zwischen den beiden Denkern geht. Hätte er selbst diese Problematik an der Nahtstelle zwischen dem Bacon-Projekt und dem Kino-Projekt konkretisiert und weiterreichende Schlüsse gezogen, so hätten die für uns interessantesten möglicherweise in Verbindung mit dem bereits erwähnten Lacan’schen „Reellen“ und damit einer Engführung des Imaginären und des Symbolischen mit dem SensoMotorischen des image-mouvement gestanden. Worringers eigenes Wort von der „toten kristallinischen Linie“, das Deleuze in seinen Cinéma-Büchern implizit aufgreift, bekommt aus dieser Sicht ganz neue Konturen. Nahe liegend wäre auch eine stärkere Einbeziehung von Deleuzes Bacon-Buch, deren deutsche Übersetzung Vogl selbst 1995 vorgelegt hat.29 Folgende Charakterisierung der „gotischen Linie“ aus dem Abschnitt Die Hysterie lässt vertraute Denkfiguren erkennen: sie sei „eine Linie, die fortwährend ihre Richtung ändert, gebrochen, abgeknickt, auf sich gewendet, eingerollt oder über ihre natürlichen Grenzen hinaus verlängert, ersterbend in einem ‚ungeordneten

25 26 27 28 29

Ebd., 185. Vgl. dazu Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck, München 1990. Vogl, Deleuze und Worringer, 187. Ebd. Gilles Deleuze, Francis Bacon – Logik der Sensation, München 1995.

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Kampf‘“.30 Deleuze erwähnt in diesem Zusammenhang explizit den Bezug zur „hohen Spiritualität“.31 Eine große Frage, die der Worringer-Bezug als Grundlage des Deleuzeschen cristal-Begriffs aufwirft, ist die nach der historischen bzw. historiographischen Dimension der Cinéma-Bände, insbesondere des Image-temps. Denn wenn sich die beiden Kategorien Bewegungs-Bild und Zeit-Bild jeweils auf das „Organische“ und das „Abstrakte“ bei Worringer zurückführen lassen, dann gewinnen Worringers Konzeption der Gotik und der von ihm gespannte Bogen zwischen Gotik und Expressionismus besondere Bedeutung. Für unser Anliegen besteht der Kern dieser Bedeutung darin, dass die Bezüge zur mittelalterlichen bzw. frühchristlichen Philosophie in Zanussis frühen Filmen eine Dimension erhalten, die eine bemerkenswerte ‚ideengeschichtliche‘ Gemeinsamkeit zwischen Deleuze und Zanussi zu Tage treten lässt. Im Raum bleibt aber nach wie vor die Frage, ob das poststalinistische Polen, das in Zanussis Filmen charakterisiert wird, von dieser historiographischen Dimension erfasst wird. Gerade diese zeitgeschichtliche Verankerung verleiht nämlich Aussteiger- und Individualistentypen wie Jan in Die Struktur des Kristalls und Franciszek in Illumination besondere Konturen, da ihre Weigerung bzw. Unfähigkeit, mit sozialen Normen bzw. Machtstrukturen umzugehen, in der konkreten historischen und politischen Situation einen völlig anderen Stellenwert hat als in anderen Zeiten und anderen Gesellschaftssystemen. Gleiches gilt für mittelalterliche kirchliche Ideen im katholischen, aber atheistisch regierten Polen. So bilden etwa die „anorganische[n] religiöse[n]“ ästhetischen Impulse, die Deleuze für Bacon betont,32 keinesfalls einen verzichtbaren historischen Hintergrund, sondern stehen im Zentrum des von der Gotik hergeleiteten Kristall-Denkens. Diese Problematik greifen wir in der Analyse des Films Die Struktur des Kristalls wieder auf. Zunächst soll aber die Beschaffenheit des Übergangs von Deleuzes cristal zu Zanussis kryształ in Cinéma 2 betrachtet werden.

3. Cristal – kryształ Deleuzes Ausführungen zu Zanussi am Beginn des vierten Kapitels von Cinéma 2 (Die Zeitkristalle), die in der deutschen Übersetzung kaum mehr als eine Druckseite einnehmen, stehen zwischen der grundlegenden Bestimmung des Kristallbildes und der Differenzierung seiner „Arten“ und „Zu30 31 32

Ebd., 33. Ebd. Ebd.

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stände“. Zwei Kernpunkte der Definition des Kristallbilds seien hier nochmals in Erinnerung gerufen: Die Feststellung, „daß das aktuelle Bild ein virtuelles besitzt, das ihm wie ein Double oder Reflex entspricht“33, und der Hinweis, dass man es mit einem Kristallbild immer dann zu tun habe, wenn das aktuelle (und bereits „von der motorischen Fortsetzung abgeschnittene“34) Bild – das Opto- oder Sonozeichen – nicht mehr mit anderen Bildern wie Erinnerungs- oder Traumbildern zu „weiten Kreisläufe[n]“ zusammengeschlossen werde, sondern „mit seinem eigenen virtuellen Bild auf dem kleinen inneren Kreislauf kristallisiert.“35 Ein dritter, bisher noch nicht angesprochener, für den Übergang zu Zanussi aber wichtiger Aspekt ist das unter Verweis auf Robbe-Grillet eingeführte Moment der Beschreibung, „die statt auf einen vermeintlich von ihr unterschiedenen Gegenstand zu zielen, […] ihren eigenen Gegenstand sowohl absorbiert als auch erschafft.“36 Nicht zuletzt hieraus resultiert die für das „Kristallbild oder die kristalline Beschreibung“37 („L’image-cristal, ou la description cristalline“38) konstitutive „Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem, von Gegenwärtigem und Vergangenem, von Aktuellem und Virtuellem“39. Zur Veranschaulichung des auf ihr gründenden kristallinen Kreislaufs, der gleichzeitig ein Austausch sei, verwendet Deleuze das Beispiel des Spiegels: […] das Spiegelbild ist in bezug auf die aktuelle Person, die es einfängt, virtuell, aber zugleich ist es aktuell im Spiegel, der von der Person nicht mehr als eine einfache Virtualität zurückläßt und sie aus dem Bild – hors champ – verdrängt. Der Austausch findet umso aktiver statt, je mehr der Kreislauf auf ein Polygon mit einer zunehmenden Anzahl von Seiten verweist […]. Wenn die virtuellen Bilder sich derart vermehren, wird die ganze Aktualität der Person von ihnen absorbiert, während die Person nur noch eine Virtualität unter anderen ist.40

Seinen Ausdruck findet dieser Austausch laut Deleuze im Gegensatzpaar ‚undurchsichtig/rein‘ (das ebenso wie der Begriff des cristal vor allem metaphorisch zu verstehen ist), das die Übergänge zwischen Aktualität und Virtualität markiere: Als aktuelles werde das virtuelle Bild „sichtbar und rein wie im Spiegel oder in der Festigkeit des vollendeten Kristalls“41; umgekehrt

33 34 35 36 37 38 39 40 41

Deleuze, Zeit-Bild, 95. Ebd., 96. Ebd. Ebd., 93. Ebd. Ebd. Deleuze, Zeit-Bild, 97. Ebd. Ebd., 98.

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werde das aktuelle Bild „seinerseits virtuell, […] auf anderes verwiesen, unsichtbar und dunkel wie ein kaum aus dem Boden gewachsener Kristall“42. Deleuze betont die Verschiedenartigkeit der beiden Seiten des Bildes, die solange ununterscheidbar bleiben müssten, solange die Rahmenbedingungen, deren Veränderung den Austausch in Gang setze, nicht exakt bestimmt seien. Diese Bestimmung sei Aufgabe der Wissenschaft, und mit diesem spezifischen Begriff von ‚Wissenschaft‘ schlägt Deleuze die Brücke zu Zanussi, der in seinen Filmen die theoretisch beschriebene Situation der Spiegelung und des Austauschs „unter wissenschaftlichem Vorzeichen“43 entwickele. Wie bereits erwähnt, wird dabei der Großteil des Zanussi’schen Œuvres von Die Struktur des Kristalls (1969) bis Imperativ (Imperatyw, 1982) in den Blick genommen. Hinsichtlich Zanussis ‚Wissenschaftlerfilmen‘, zu denen er neben den beiden vorgenannten auch Illumination (1973) und Tarnfarben (Barwy ochronne, 1977) zählt, betont Deleuze die Frage nach dem Status der institutionalisierten Wissenschaft, ihrer ‚Macht‘ und ihres Einflusses auf das Leben allgemein sowie auf das der Wissenschaftler. Als übergreifendes Merkmal dieser Filme nennt er die Ungewissheit bezüglich der jeweils gegenübergestellten Positionen, die „uns daran [hindert], herauszufinden, welche von beiden, im Hinblick auf die Umstände, rein und welche dunkel ist“44. Stehen hier vor allem die Protagonisten und ihre den Handlungsverlauf fundierenden Konstellationen im Mittelpunkt von Deleuzes Ausführungen, so verlagert er sein Interesse mit Blick auf Die Spirale (Spirala, 1978) und Ein Mann bleibt sich treu (Constans, 1980) auf das Verhältnis zwischen Protagonisten und Umwelt. In diesen Filmen sei der „Kristall […] nicht mehr länger auf die äußere Position zweier gegenüberliegender Spiegel zurückführbar, sondern auf die innere Anlage eines Keims im Verhältnis zur Umwelt“45. Daraus leitet Deleuze ein weiteres Gegensatzpaar ab – Keim/Umwelt – das ihm im Folgenden wie die Begriffspaare aktuell/virtuell und rein/undurchsichtig zur Bestimmung der im vorangegangenen Abschnitt bereits angesprochenen drei Arten des kristallinen Kreislaufs dient. Zanussis Œuvre nimmt also in Deleuzes Cinéma 2 eine insofern grundlegende Stellung ein, als an ihm fundamentale Charakteristika des cristal-image veranschaulicht oder überhaupt erst herausgearbeitet werden. Die Indienstnahme Zanussis durch Deleuze bedeutet allerdings auch eine (aus seiner Sicht gerechtfertigte und notwendige) Einengung der Perspektive auf solche Aspekte, die für seine Argumentation relevant sind. Außerdem erwecken die Zusammenfassung der einzelnen Filme zu einem Ganzen und der abschließende Befund, Zanussi versuche in seinem Werk „die Möglichkeiten des 42 43 44 45

Ebd. Ebd. Ebd., 99. Ebd.

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Films unter diesen verschiedenen Aspekten des Prinzips der Ungewißheit [den Arten des kristallinen Kreislaufs; B.H.] durchzuspielen“ 46, den Eindruck einer Kohärenz dieses Œuvres, die so keinesfalls gegeben ist. Vor allem aber suggeriert Deleuze hier eine weitgehende Kongruenz zwischen seinem cristal und Zanussis kryształ, hinter welcher der Eigensinn des letzteren als Titelbegriff von Zanussis Erstlingsfilm Die Struktur des Kristalls zu verschwinden droht (aufgrund der bereits erwähnten ganzheitlichen Betrachtung der Œuvres der einzelnen Regisseure als Grundverfahren seiner Argumentation war der Weg von cristal zu kryształ wohl auch nicht anders vorstellbar). Ebenso wie für Deleuzes cristal stellt sich jedoch auch für Zanussis kryształ die Frage nach seinem Status. Mit welcher Stimme wird der am ehesten mit „Die Struktur des Kristalls“ zu übersetzende Titel47 gesprochen, mit welchen Augen wird er gesehen? Bezieht sich der Titel auf die wissenschaftliche Beschäftigung der beiden Protagonisten? Auf die mit ihr verbundene Problematik der Suche nach Erkenntnis und Wissen? Oder ist der Film selbst ein Kristall oder eine „kristalline Struktur“? Erstaunlicherweise geht Deleuze dieser letzten Frage nicht nach. Dabei liegt sie eigentlich ganz in seinem Sinne, weil ihre Bejahung schon den Titel des Films als Signal einer meta-medialen Fragestellung auswiese. Stattdessen betont er an der ZanussiStelle für Die Struktur des Kristalls und Zanussis übrige Filme anstelle formaler Verfahren Elemente des Aufbaus und Verlaufs der Handlung. Dies mag nicht zuletzt darin begründet sein, dass Zanussi selbst mit Tarnfarben die meta-medialen Potenziale seiner Filme bewusst zurückfährt. Wenn wir nun dafür plädieren, die ersten abendfüllenden Filme Zanussis – Die Struktur des Kristalls und Illumination – isoliert zu betrachten und mit der Setzung des Schwerpunkts eben auf das meta-mediale Potenzial vor allem von Die Struktur des Kristalls diese für Deleuzes Ansatz in vieler Hinsicht wichtige, von ihm selbst aber übersehene Bedeutung unterstreichen, so tun wir dies weniger im Sinne einer Kritik oder Korrektur, sondern vielmehr als Feststellung der Unabdingbarkeit einer (ausgebauten) Brücke zwischen Deleuzes cristal und Zanussis kryształ. Damit kann zum einen Zanussis Film in seinen weit reichenden theoretischen Implikationen erfasst werden, was von der bisherigen Forschung noch nicht in Angriff genommen wurde. Zum anderen ist so auch eine bedeutend tiefer gehende Verbindung zwischen Deleuzes Ansatz und den ersten Filmen Zanussis, insbesondere Die Struktur des Kristalls, rekonstruierbar. 46 47

Ebd. Diese Übersetzung ist angesichts der originalsprachlichen syntaktischen Fügung die naheliegendste. Angesichts der für Deleuze und, wie zu zeigen sein wird, auch für Zanussi charakteristischen Vieldeutigkeit des „Kristall“-Begriffs kämen möglicherweise auch die Varianten „Die Kristallstruktur“ oder evtl. „Die kristalline Struktur“ (ihnen entspräche im Polnischen allerdings eher die Wendung „Struktura kryształowa“) in Frage.

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4. Die Struktur des Kristalls Die Handlung von Zanussis Film, der in der polnischen Filmwissenschaft ästhetisch wie intellektuell als „kleine Revolution“ angesehen wird,48 lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der erfolgreiche Wissenschaftler Marek (Andrzej Żarnecki) besucht seinen Studienfreund Jan (Jan Mysłowicz) auf dem Land, wo dieser mit seiner Frau Anna (Barbara Wrzesińska), einer Grundschullehrerin, lebt und als Meteorologe arbeitet. Wie sich im Verlauf des Geschehens herausstellt, besteht Mareks Mission darin, Jan zur Rückkehr in den akademischen Wissenschaftsbetrieb zu bewegen. Es zeigt sich jedoch bald, dass Marek keinen Erfolg haben wird und dass ihrer beider Positionen – Mareks auf Erfolg und Produktion von (materieller, verwertbarer) Evidenz und Jans Suche nach transzendentalem Wissen – unverändert bleiben werden.

4.1. Deleuzes Kristall-„Figuren“ in Zanussis Film Vor allem in der Figurenkonstellation des Films lassen sich neben der von an der Zanussi-Stelle selbst angesprochenen Opposition ‚rein/undurchsichtig‘ auch die beiden anderen für die Kristall-„Arten“ konstitutiven Begriffspaare auffinden, die Deleuzes in seiner Analyse des Films nicht explizit erwähnt. Zanussi verhandelt die von den Hauptfiguren verkörperten Ideen oder Lebenskonzepte offensichtlich nicht nach den Regeln einer klassischen Konf48

Tadeusz Lubelski, Film fabularny, in: Encyklopedia kultury polskiej XX wieku: Film, kinematografia, pod redakcją Edwarda Zajička, Warszawa 1994, 115-179, hier 152. Der auch marxistisch argumentierende Kritiker der Kriegsrechtszeit Czesław Donziłło betrachtet demgegenüber den Film vor allem in seiner moralischen Dimension im Hinblick auf die Darstellung „fundamentaler Werte“ (wartości): „Oczywiście jest to film o awansie społecznym i zawodowym, i wielu jeszcze innych sprawach […] ale to, co jest w nim najważniejsze, dotyczy sporu o wartości“ („Offensichtlich handelt es sich um einen Film über den gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg, und auch über viele anderen Dinge […], aber das, was in ihm am Wichtigsten ist, betrifft den Streit um Werte“ [unsere Übersetzung], Czesław Donziłło, Młode kino polskie lat siedemdziesiątych, Warszawa 1985, 30). Damit wird der Film zum Vorboten des sogenannten „Kino der moralischen Unruhe“, das in den 70- Jahren als dominierende Tendenz gesehen wurde (zur Einstufung Zanussis als Vorläufer dieser Strömung vgl. u. a. auch Teresa Rutkowska, Film polski na świecie, in: Encyklopedia kultury polskiej XX wieku: Film, kinematografia, pod redakcją Edwarda Zajička, Warszawa 1994, 301322, hier 318). Donziłło zählt Zanussis späteren Film Tarnfarben direkt zu dieser Tendenz (vgl. ders., dass., 83). Ähnlich wie Deleuze, wenn auch mit anderen Beweggründen, wird auch hier also das konventionellere und realistischere spätere Œuvre Zanussis auf die früheren Werke zurückprojiziert und damit auch hier die Spezifik der Anfangsphase des Zanussi’schen Schaffens verwischt.

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liktdramaturgie (nach denen einer der beiden als Sieger aus der Diskussion hervorgehen müsste), sondern stellt sie auf spezifische Weise als gleichberechtigte Positionen einander gegenüber. Diese Gegenüberstellung bildet in gewisser Weise eine erste Ableitung dessen, was Deleuze als Grundstruktur des Kristallbilds beschreibt: Das aktuelle Bild und sein virtuelles Bild konstituieren demnach den kleinsten inneren Kreislauf und bilden im Grenzfall eine Spitze [pointe] oder einen Punkt [point], jedoch einen physikalischen Punkt mit verschiedenartigen Elementen (vergleichbar dem epikureischen Atom). Verschiedenartig, aber ununterscheidbar sind das Aktuelle und das Virtuelle, die sich unentwegt austauschen.49

Ronald Bogue beschreibt vor diesem Hintergrund das Spiegelbild als einfachstes Modell des Kristallbildes.50 Bei Zanussi wird dieses einfache Modell insofern erweitert, als Jan und Marek sich ineinander spiegeln, d.h. beide aktuell und virtuell (als Spiegelbild des jeweils Anderen) zugleich sind, ohne dass klar zu unterscheiden wäre, welche Funktion ihrer Figuren in einem gegebenen Moment dominiert. Das Moment der gegenseitigen Spiegelung wird unterstrichen durch das erste Vorzeigen einer Serie von Fotographien (das im Film insgesamt vier Mal geschieht und damit ein signifikantes Strukturelement darstellt): Es handelt sich um Bilder aus der Zeit des gemeinsamen Physikstudiums der beiden Protagonisten, als Jan und Marek sich an einem gemeinsamen und gleichen Ausgangspunkt befanden und ihre Lebenswege noch offen waren. Mit Hilfe der Fotos präsentiert Zanussi die Lebenswege seiner beiden Hauptfiguren als Potenziale einer – durch die Fotos (re-)evozierten – keimhaften Ausgangssituation.51 Insofern ist auch Deleuzes dritte Kristall-„Figur“ (Keim/Umwelt) in Die Struktur des Kristalls anzutreffen, wenngleich sie im Dienst der ersten (Aktualität/Virtualität) zu stehen scheint. Welche der beiden Aktualisierungen dieser Potenziale die reine oder die undurchsichtige ist – das ist die zweite Kristall-„Figur“, auf die Deleuze in seinen Ausführungen zu Die Struktur des Kristalls abhebt –, bleibt dabei offen bzw. hängt von Sichtweise und Standpunkt des Betrachters ab („Es kommt darauf an, wie man schaut“, lässt Zanussi Jan an einer Stelle sagen. Vgl. Abb. 1). 49 50 51

Deleuze, Zeit-Bild, 98. Ronald Bogue, Deleuze on Cinema, 121. Die Fotos aus der Studienzeit fungieren in dieser Perspektive also nicht als ‚Erinnerungsbilder‘, da sie den Figuren im Film nur am Rande der Erinnerung an die gemeinsame Zeit dienen (an anderer Stelle erwidert Jan eine Erzählung Mareks aus der Studienzeit explizit mit dem Satz „Już nie pamiętam“ [„Ich erinnere mich nicht“]), sondern dienen vielmehr der Vergegenwärtigung der für beide Protagonisten gleichen (hinsichtlich Alter, Ausbildung, Talent) Ausgangssituation. In Illumination (1972) greift Zanussi die Studiensituation als Keim wieder auf und verlängert sie gewissermaßen ins Unendliche: Die Hauptfigur wechselt, der Entwicklung ihrer Interessen und Neigungen folgend, die Studienrichtungen und Tätigkeiten und verharrt damit in gewisser Weise im Status der Virtualität, die so letztlich zu ihrer Aktualität wird.

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Abb. 1: Marek (l.) und Jan (r.) vor dem Spiegel in Die Struktur des Kristalls, 1969, Krzysztof Zanussi.

Deleuzes Zuschreibung der ‚Reinheit‘ zur Wissenschaft Mareks52 scheint daher auf den ersten Blick willkürlich – oder aber sprechend, insofern sich hier eine bestimmte Ausrichtung auf die Wissenschaft und die wissenschaftliche Produktion von Evidenz äußert. Aus dieser Perspektive können in der Tat Jans Leben als „undurchsichtig“53 und seine Tätigkeiten als „obskur“54 gelten. Der Eindruck der Willkür ist aber Folge der angesprochenen Unentscheidbarkeit (bzw. einer Entscheidbarkeit, die eine bewusst zu vollziehende Wahl des Standpunktes voraussetzt – Deleuze spricht von einer Bestimmung der „conditions“55, was als „Randbedingungen“56 übersetzt wird. Deleuze beschreibt deren Wirkung, in einer Frage, in der neben dem Motiv der Macht (dies unter Verweis auf zwei weitere Zanussi-Filme) die zuvor bereits angesprochene ‚ideengeschichtliche Verwandtschaft‘ zwischen Deleuze und Zanussis anklingt: Aber wird nicht unter einem anderen Gesichtspunkt die dunkle zur leuchtenden Seite, auch wenn dieses Licht nicht mehr von der Wissenschaft herrührt, auch wenn sie sich dem Glauben wie einer augustinischen illuminatio annähert, während die Vertreter der reinen Wissenschaft im besonderen Maße undurchsichtig werden und sich Unternehmungen hingeben, die einem uneingestandenen Willen zur Macht folgen (Tarnfarben, Imperativ)?57

In Zanussis Film ist es eher die Figur des Jan, die – wenn auch auf unklare, nicht ‚wissenschaftliche‘ Weise – mit dem Motiv des Lichts, genauer gesagt, 52 53 54 55 56 57

Deleuze, Zeit-Bild, 98. Ebd. Ebd. Deleuze, L’Image-temps, 95. Deleuze, Zeit-Bild, 98. Deleuze, Zeit-Bild, 98.

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der Sonne, verbunden ist. Eine weitere Fotoserie dokumentiert eine Bergbesteigung Jans und endet mit einem Foto, das den Blick vom Gipfel in die von der Sonne erleuchteten Wolken zeigt. (An einer anderen Stelle des Films suggeriert Jans Frau Anna, dass ein Unfall beim Bergsteigen Grund für Jans ‚obskure‘ Lebens- und Verhaltensweise sein könnte.) Abb. 2-4: Die Weitung des Blicks (Jans Weg zur Evidenz) in Die Struktur des Kristalls, 1969, Krzysztof Zanussi.

Am Ende des Films wird der Kontrast Hell-Dunkel ausgespielt, indem Jan gezeigt wird, wie er mit einem speziellen Fernrohr in die Sonne schaut, während Marek, der unverrichteter Dinge nach Warschau zurückfährt, im Auto die Sonnenblende herunterklappt und sein Gesicht hinter deren Schatten verschwindet. Die paradoxale Pointe des Films, die eine abschließende

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Ununterscheidbarkeit herstellt, sieht also so aus, dass weder Jan noch Marek als Sehender/Erkennender gezeigt und damit keine der beiden vorgeführten Lebens- und Erkenntnisweisen als privilegiert dargestellt wird. Angesichts der Tatsache, dass Die Struktur des Kristalls sich in Deleuzeschen Kategorien als Grundmodell eines filmischen Kristalls – definiert als „Kreislauf, der durch drei Figuren hindurchgeht“58 – erweist, verwundert es nicht, dass Deleuze gerade diesen Film und daran anschließend das Œuvre gerade dieses Regisseurs an den Anfang seiner Kristallbild-Systematik gestellt hat.

4.2. Zanussis kryształ Was aber ist Zanussis kryształ abgesehen von der Möglichkeit, ihn mit Deleuzes Begrifflichkeit zu beschreiben? Zur Beantwortung dieser Frage scheint es naheliegend, zunächst die beiden Szenen unter die Lupe zu nehmen, in denen der von Andrzej Żarnecki gespielte Marek über Kristalle spricht, und sie im Kontext des Films zu betrachten. Zum ersten Mal geschieht dies nach etwa 15 Minuten, wenn der aus Warschau angereiste erfolgreiche Wissenschaftler Marek seinem Studienfreund Jan, der als Meteorologe mit seiner Frau, der Grundschullehrerin Anna, in der Provinz lebt, von seinen Forschungen erzählt. Das zweite Mal – ca. 15 Minuten vor Ende des Films – markiert Jans Vortrag vor den Bewohnern des Dorfes oder der Kleinstadt, in der Jan und Anna leben, im Rahmen einer Bildungsveranstaltung. Diese beiden Sequenzen verleihen dem Film eine innere Symmetrie, die durchaus als Analogon zur titelgebenden „Struktur des Kristalls“ und damit als Vorverweis auf seine meta-mediale Dimension gesehen werden kann. In ihrer Verankerung im Kontext des gesamten Films verweisen beide Szenen auf zwei zentrale Problematiken, die Zanussi nicht nur in Die Struktur des Kristalls beschäftigen: zum einen auf die Frage nach den Möglichkeiten von Erkenntnis und der Hervorbringung von Evidenz,59 zum anderen auf die Reflexion des Mediums Film, die hier vor allem als Präsentation und Infragestellung unterschiedlicher Bildtypen erscheint.60 Ersteres – und auch der erste Kristall-Vortrag Mareks – steht im Kontext der im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Konstellation. Diesem ersten Vortrag entspre58 59

60

Ebd., 103. Diese Frage wird in Illumination als philosophische Frage nach dem ‚richtigen‘ Weg zur Erkenntnis und der ‚richtigen‘ Lebensweise gestellt. In Tarnfarben hingegen wird sie in der Konfrontation eines jungen, den Idealen der reinen Wissenschaft verschriebenen Wissenschaftlers mit einem älteren, zynischen und opportunistischen Kollegen mit der Frage nach den realen Machtverhältnissen als Rahmenbedingungen der Wissenschaft verknüpft. Hier ist besonders auf den Film Illumination zu verweisen, für den das Nebeneinander von Spiel- und Dokumentarszenen auf fundamentale Weise konstitutiv ist.

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chen die Ausführungen Jans über die Evolution des Konzepts der Unendlichkeit von der antiken Philosophie bis in die zeitgenössische Mathematik am Beginn der Mittelsequenz des Films. Die Tatsache, dass in beiden Fällen eine identische Musik die Worte ersetzt, unterstreicht, dass es Zanussi weniger um eine Diskussion der von den Hauptfiguren verkörperten Ideen oder Lebenskonzepte geht als vielmehr um eine spezifische Gegenüberstellung dieser Haltungen im Zeichen dessen, was man mit Deleuze als „Unentscheidbarkeit“ bezeichnen kann. Diese wiederum lässt sich in gewisser Weise auf eine Gemeinsamkeit zurückführen, die im Film eher obskur durch die Feststellung Annas, beide Männer seien Egoisten, angedeutet wird und die letztlich in der Fixierung beider Wissenschaftler auf ihren Forschungsgegenstand besteht – des Naturwissenschaftlers Marek zum ‚Anorganischen‘, der unbelebten Materie der Kristalle, des ‚Geisteswissenschaftlers‘ Jan, der seine „kristalline Seele“ kontempliert (so ein Vorwurf Mareks an einer Stelle des Films), zur Seele (zur reinen Erkenntnis, zu Gott?). Sie geht einher mit der Abwendung bzw. Abstraktion vom ‚Leben‘, das im Film u.a. in Gestalt von Tieren – Pferden, Kühen – durchgängig präsent ist. Diese Konstellation scheint Zanussi in Die Struktur des Kristalls unter die Lupe nehmen zu wollen. Dabei inszeniert sich der Regisseur nicht zuletzt selbst als Wissenschaftler, der die Kamera als Mikroskop einsetzt – augenfällig wird dies in der Szene, als die beiden Männer und Anna mit Mareks Auto in eine Kuhherde fahren: Die Szene wird aus der Vogelperspektive so gezeigt, dass das Auto und die Kühe wie mikroskopisch betrachtete Bakterien oder Zellen wirken (vgl. Abb. 5). Zanussis Film wird damit zur Versuchsanordnung, zum Experiment. Abb. 5: Die Kamera als Mikroskop (Organisches und Anorganisches) in Die Struktur des Kristalls, 1969, Krzysztof Zanussi.

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4.3. Zanussi als (Wissenschafts-) Philosoph und (Film-) Wissenschaftler In diesem Experiment richtet sich Zanussis ‚Forschungsinteresse‘ keineswegs nur auf die skizzierte Wissenschaftsproblematik, sondern auch auf den Film selbst als Medium (dementsprechend unterliegen zahlreiche Elemente des Films einer doppelten Codierung). Eine Schnittstelle zwischen den beiden Problematiken ist darin zu sehen, dass es jeweils um Fragen des SichtbarMachens, des Zeigens geht – um die Vermittlung wissenschaftlich produzierter Evidenz einerseits, um die spezifischen Bedingungen des Vorzeigens von Bildern im und durch den Film andererseits. Beide Fragenkomplexe, der (wissenschafts-) philosophische und der meta-mediale, kristallisieren (wieder im Zeichen Deleuzescher Ununterscheidbarkeit) in Mareks zweitem KristallVortrag. In diesem Vortrag werden in einer Schlüsselszene einige zentrale Motive von Die Struktur des Kristalls zusammengeführt und resümiert, die wir im Folgenden näher betrachten wollen: 1. die gestörte oder misslingende Kommunikation, 2. das Vorzeigen einer Serie von Fotographien von Kristallen, 3. die Verwendung des Begriffspaars „sztuczne“ (‚künstlich‘) vs. „naturalne“ (‚natürlich‘). Ad 1.) Mareks populärwissenschaftlicher Vortrag über Kristalle im Rahmen einer von Jans Frau Anna initiierten Bildungsveranstaltung an ihrer Schule stößt auf völliges Unverständnis: Das dörfliche Publikum lässt Mareks Ausführungen teilnahmslos über sich ergehen und auch ein Scherz Mareks verpufft wirkungslos. Schließlich nutzen die Zuhörer die erste Gelegenheit – eine technische Panne – dazu, den Veranstaltungssaal zu verlassen. Das Scheitern der Kommunikation ereignet sich damit an dieser Stelle auf zwei Ebenen: Zum einen auf der Ebene der Vermittlung wissenschaftlicher Evidenz an ein Laienpublikum, zum anderen auf der zwischenmenschlichen Ebene. Beides ist in Die Struktur des Kristalls durchgängig zu beobachten. Mehr noch, Zanussi scheint dieses Scheitern in den Dialogen seiner Figuren bewusst zu inszenieren: Jan versteht Mareks Erläuterungen zu seinen wissenschaftlichen Forschungen ebenso wenig wie später Marek Jans philosophiegeschichtliche Ausführungen. Darüber hinaus kommt es immer wieder zu Unsicherheiten und Missverständnissen bei der Interpretation von scherzhaft oder ironisch gemeinten Aussagen des jeweils Anderen. Immer wieder bleibt der Dialog auch ‚stecken‘, wenn etwa Anna nach dem gemeinsamen Ausflug und Kinobesuch unbeholfen über den gesehenen Film zu sprechen versucht. Als geradezu programmatisch erscheint in diesem Zusammenhang die Figur des schwerhörigen und, wenn überhaupt, nur undeutlich sprechenden Großvaters (Władysław Jarema).

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Dieser Abwertung der Sprache – die mehrfach als Ausschaltung vorgeführt wird, indem die Dialoge der Figuren durch Musik überblendet und ersetzt werden – entspricht die ostentative Verneinung von Handlung im Sinne einer logisch-kausalen Verkettung einzelner Geschehensmomente nach dramaturgischen Gesichtspunkten.61 Diese Verneinung betrifft nicht nur die bereits angesprochene grundlegende Gegensätzlichkeit der Protagonisten, die aber – anders als etwa in Tarnfarben, einem weiteren ‚Wissenschafts‘-Film Zanussis – nicht in ein antagonistisches Handlungsmodell überführt wird. Auch andere ‚typische‘ filmische Handlungsmuster werden nur angedeutet, nicht aber aktualisiert. Ein Beispiel hierfür wäre die Möglichkeit eines aus erotischen Verwicklungen zwischen Anna und Marek resultierenden Beziehungsdramas. Zanussi zeigt zwar eine Szene, die zum Keim eines solchen Dramas werden könnte, deren Funktion allerdings vor allem darin zu bestehen scheint, entsprechende Erwartungen zu enttäuschen. Das Resultat dieser Verfahren ist der Eindruck der Statik und der Isolation der Figuren und Ereignisse.62 Ihre Funktion mit Blick auf die behandelte Wissenschaftsproblematik besteht in der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Erzeugung von Unentscheidbarkeit (die in einem paradoxen Verhältnis zum Streben der Wissenschaft nach Klarheit und Hervorbringung von Evidenz steht). Indem Zanussi diese Verfahren auch auf weiteren und zwar den genuin filmischen Ebenen anwendet, lenkt er die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die meta-mediale Dimension des Films und auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand des Regisseurs: die Frage nach den Bildern des Kinos. Ad 2.) Die Vortrags-Szene beginnt mit einer Serie von sechs Fotos (vier von natürlichen Kristallen, zwei von künstlichen, unter dem Mikroskop vergrößerten Kristallen), mit denen Marek seine Ausführungen illustriert. Sie kann insofern als eine Art mediales Resümee angesehen werden, als sie den Abschluss einer Reihe von insgesamt fünf Serien bildet, in denen das mediale 61

62

Gemessen an Zanussis Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre als Zeitschriftenkolumnen entstandenen Ratschläge für Laienfilmer erscheint Struktura kryształu ohnehin als konsequent nicht-filmischer gestalteter Film, der neben klassischen Regeln der Dramaturgie auch die Zanussi’sche Definition des Films als „Raum- und Bewegungskunst“ bewusst und systematisch negiert. (Im Vor- und Nachwort der späteren Buchausgabe dieser Kolumnen [Rozmowy o filmie amatorskim, Warszawa 1978] distanziert sich Zanussi gleich zweifach von seinen Aussagen, die er als überholt ansieht. Dies ist umso interessanter wegen der zeitlichen Nähe der Kolumnen zur Entstehungszeit von Struktura kryzstału, aber auch aufgrund der Tatsache, dass die Zanussi zum Zeitpunkt der Buchausgabe bereits Filme macht, deren Poetik manchen in Rozmowy… vertretenen Positionen näher zu sein scheint als den ästhetischen Prämissen des Frühwerks.) Nicht von ungefähr fällt in einer Szene des Films der Name Anton Čechovs, der in der Dramatik mit ähnlichen Verfahren arbeitete. Auch die Situierung des Geschehens auf dem Land, in einem ehemaligen Guts- oder Bauernhaus, verweist auf die Handlungsorte der großen Čechov-Dramen.

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Ereignis des Films im Vorzeigen eine Serie von Aufnahmen im Film selbst vorgezeigt wird.63 Auch diese Fotoserien sind teils doppelt codiert, indem sie einerseits – beispielsweise – der Charakterisierung der Hauptfiguren bzw. der durch diese verkörperten Erkenntnisweisen dienen, andererseits aber auch auf die meta-mediale Ebene verweisen. So sind in der dritten Serie fünf Fotos von einem New York-Aufenthalt Mareks zu sehen (vgl. Abb. 6-8). Abb. 6-8: Die Verengung des Blicks (Mareks Weg zur Evidenz) in Die Struktur des Kristalls, 1969, Krzysztof Zanussi.

63

Die erste dieser Serien wurde bereits im vorangegangenen Abschnitt angesprochen; sie zeigt (nach ca. acht Minuten) sechs Fotos aus Jans und Mareks gemeinsamer Studienzeit sowie ein Foto von Jans Hochzeit mit Anna. Die zweite, durch die Aufnahme eines Umschlagfotos eines Buchs über Kristalle angekündigte Serie (nach ca. 14 Minuten) besteht aus fünf Kristall-Skizzen und bildet den Kern der Szene, in der Marek Jan von seinen Forschungen berichtet. Eine angekündigte Serie weiterer Kristall-Fotos wird aufgrund der bereits angesprochenen technischen Panne am Ende von Mareks öffentlichem Vortrag nicht mehr gezeigt.

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Die schrittweise Annäherung und Verkleinerung des Ausschnitts – man sieht zunächst die Skyline von Manhattan, dann einzelne Wolkenkratzer und schließlich Fassadensegmente – entspricht dabei der mikroskopischen Verengung des Blicks, welche Mareks wissenschaftliche Arbeit kennzeichnet. Demgegenüber vollziehen die einzelnen Aufnahmen der bereits angesprochenen, Jans Bergbesteigung dokumentierenden Foto-Serie (nach ca. 40 Minuten) in ihrer Abfolge eine Aufwärtsbewegung von der Erde zum Himmel bzw. zur Sonne (die auf dem letzten, vom Gipfel aus aufgenommenen Foto zu sehen ist) nach, die Jans – gleichwohl vernunftgeleitetem – Streben nach dem Licht (der ‚illuminatio‘?) transzendenter oder metaphysischer Erkenntnis entspricht.64 Gleichzeitig wird in diesen Serien der kontinuierliche Bildfluss des Kinos unterbrochen, indem konventionelle Einstellungen und Kamerabewegungen in einzelne Bilder zerlegt werden. Segmentierung und Isolierung einzelner Elemente erweisen sich also auch hier als grundlegende Verfahren Zanussis. Im Sinne der Deleuzeschen Konzeption lassen sich diese Verfahren durchaus als eine Manifestation der Betonung des Intervalls auffassen, die eines der Indizien für den „Riß des sensomotorischen Bandes“65 ist, welcher den Übergang vom Bewegungs- zum Zeit-Bild kennzeichnet. Darüber hinaus scheint es Zanussi aber um die Zerlegung seines Untersuchungsgegenstandes ‚Film‘ und eine Reduktion der filmischen Bewegung auf ihre elementaren Bestandteile zu gehen. Neben den Foto-Serien gibt es eine Reihe weiterer Stellen, die in diesem Kontext von Interesse sind, wie etwa lange statische Einstellungen am Beginn von Szenen, in denen Handlung und Dialog gewissermaßen mit Verzögerung einsetzen, Einstellungen auf Gegenstände, in denen das Filmbild zum Standbild wird und von einer Fotographie kaum noch zu unterscheiden ist, oder die Einfügung von Fragmenten aus Kinofilmen und Wochenschauen. Mithin erscheint der Gestus des Zeigens über die Fotoserien hinaus als basales Moment von Die Struktur des Kristalls. Die Heterogenität des Bildmaterials verstärkt dabei einerseits die Auflösung konventioneller Mechanismen der Verkettung, andererseits scheint es Zanussi darum zu gehen, ein möglichst breites Spektrum von Bildarten und damit von Möglichkeiten des Zeigens im Film vorzuführen. Darauf deuten auch die diversen Annäherungen an den kinematographischen Nullpunkt (der schwarzen oder weißen) Leinwand in Szenen, die im Halbdunkel oder sehr hellen Schneelandschaften spielen. Auch der technische Aspekt des Kinos wird nicht ausgeschlossen: In der Serie der New York-Fotos spielt das Handgerät zum Anschauen von 64

65

Als Gewährsmann hierfür erscheint im Film Descartes, dessen Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences Marek in Jans Studierzimmer entdeckt. Deleuze, Zeit-Bild, 347.

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Dias, mit dem der Großvater nicht zurecht kommt, eine komische Rolle und am Ende von Mareks Kristall-Vortrag verhindern Probleme mit dem Projektor die Vorführung einer weiteren Dia-Serie. Vor diesem Hintergrund ließe sich also sagen, dass es Zanussi in Die Struktur des Kristalls um das Vorführen dieser Elemente und Aspekte des Kinos gehe, kurz gesagt also das Kino Zanussis kryształ und der Gestus des Zeigens und Vorführens auch für die meta-mediale Ebene in Anschlag zu bringen sei. Das ist aber nicht alles. Wenn hier auch die Zerlegung und Untersuchung des Kinos und seiner Bestandteile dominant scheinen, zielt Zanussi doch auf mehr und scheint Die Struktur des Kristalls den Keim einer spezifischen filmischen Poetik und Konzeption von Kino zu bilden, die in den (chronologisch und thematisch) an Die Struktur des Kristalls unmittelbar anschließenden Filmen weiter entwickelt wird.66 Die Schlüsselszene in diesem Zusammenhang ist die Vorführung eines einfachen technischen Apparats zur Produktion von Licht- und Tonsignalen durch Jan (vgl. Abb. 9, 10). Abb. 9, 10: Obskure Wissenschaft - Jans „Denaturator“ in Die Struktur des Kristalls, 1969, Krzysztof Zanussi.

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In Illumination in der Konzentration auf eine Figur und in der Konfrontation/Kombination von Spiel- und Dokumentarfilmsequenzen, in Tarnfarben in einem Spielfilm, der wiederum die Konfrontation zweier Wissenschaftler (diesmal unter dem ethischen Aspekt ihres Verhältnisses zur Macht) in den Mittelpunkt stellt.

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Sie veranschaulicht gleichzeitig, inwiefern die bereits angesprochene Unentscheidbarkeit in Die Struktur des Kristalls gleichfalls das Zusammenspiel von Darstellungs- und meta-medialer Ebene betrifft. Auf der Darstellungsebene besteht die Funktion dieser Szene darin, Jans interesselose, spielerische Anwendung seines Wissens mit der zielgerichteten, zweckorientierten Haltung Mareks zu konfrontieren. Auch in dieser Hinsicht handelt es sich um eine zentrale Stelle, da hier das gegenseitige NichtVerstehen zwischen Jan und Marek einen Höhepunkt erreicht.67 Auf der meta-medialen Ebene lässt sich in der Ausstellung des Geräts durch den Regisseur Zanussi ein weiteres Beispiel für die Reduktion des Kinos auf seine Grundbestandteile sehen: Die Licht- und Tonsignale des Geräts, die – losgelöst aus dem Kontext der Handlung – in einer recht langen Szene vorgeführt werden, können als Beispiele par excellence für die Deleuzeschen Sono- u. Optozeichen (nur Licht, nur Ton) gelten. Signifikant ist aber der Name, den Jan nach längerem Nachdenken seiner ‚Erfindung‘ gibt. Er nennt sie „Denaturator“ (‚Denaturierer‘), was im Polnischen einerseits eine Anspielung auf „denaturat“ (‚Brennspiritus‘) und in einer weiteren Assoziation das Problem des Alkoholismus darstellt und damit Jans ironische Haltung in Bezug auf Mareks Vorwürfe unterstreicht. Andererseits wird hier auch auf den biochemischen Prozess der Denaturierung verwiesen, der im Polnischen als „Veränderung der inneren Struktur von Eiweißen (Begradigung/Streckung der Kette durch Aufbrechen der Wasserstoffbindungen) unter dem Einfluss physikalischer (Temperatur, Strahlung) oder chemischer (Alkohol) Faktoren“68 beschrieben wird. Diese Definition liefert mit dem Moment einer inneren Strukturveränderung durch das Aufbrechen von bestimmten Verkettungen eine Metapher für Zanussis Vorgehen in Die Struktur des Kristalls und dem Frühwerk, das in dieser Hinsicht der Deleuze-

67

68

Jan gibt sich ganz der Faszination durch seinen Apparat hin und betont durchaus provokativ dessen praktische Nutzlosigkeit, indem er Mareks Frage nach Sinn und Zweck des Geräts mit den Feststellungen „lubię, kiedy coś mruga“ („ich mag es, wenn etwas blinkt“) und „poza tym lubię lutować“ („außerdem löte ich gerne“) beantwortet. Marek hingegen wirft Jan vor, sein Leben zu vergeuden; ein Vorwurf, den wiederum Jan nicht versteht (oder nicht zu verstehen vorgibt). In gewisser Weise könnte man die weitere Handlung des Films so beschreiben, dass Marek Jans Haltung wenn schon nicht zu verstehen, so aber wenigstens zu akzeptieren beginnt (darauf deutet seine Ankündigung weiterer Besuche am Ende des Films hin). Vgl. Słownik wyrazów obcych, wydanie nowe, Warszawa 1995, 221: „zmiana wewnętrznej struktury białka (wyprostowanie łańcucha w wyniku rozerwania wiązań wodoroych) pod wpływem czynników fizycznych (temperatury, promieniowania) lub chemicznych (np. alkoholi).“ Das ist eine sehr verkürzte Definition des Verfahrens, die aber das metaphorische Potenzial des Begriffs und seiner Verwendung bei Zanussi gut trifft.

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schen Beschreibung des Übergangs vom Bewegungs- zum Zeit-Bild als Aufbrechen des sensomotorischen Schemas durchaus entspricht.69 Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum der ZanussiAbschnitt relativ früh im zweiten Kino-Buch auftaucht. Der dominanten Positionierung des Zeigens in Die Struktur des Kristalls entspricht komplementär die Aufwertung des Sehens (gegenüber der Spannung, der Erwartung des weiteren Verlaufs der Handlung), die Deleuze als Folge dieses Übergangs anspricht: Die Situationen finden hier keine Fortsetzung mehr in Aktion oder Reaktion, wie es den Erfordernissen des Bewegungs-Bildes entspräche. Wir haben es nun mit reinen optischen und akustischen Situationen zu tun, in denen die Personen nicht mehr zu reagieren wissen, mit affektionslosen Räumen, in denen sie nichts mehr verspüren und nicht mehr handeln – und diese Situationen und Räume treiben sie schließlich zur Flucht, zum Bummeln, zum Kommen und Gehen, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem, was mit ihnen geschieht, zur Unentschlossenheit gegenüber dem, was sie tun sollen. Doch was ihnen an Aktion und Reaktion verloren gegangen ist, haben sie an Hellsicht gewonnen: sie SEHEN, und das Problem des Zuschauers wird nun heißen: ‚Was ist auf dem Bild zu sehen?‘ (und nicht mehr: ‚Was ist auf dem nächsten Bild zu sehen?‘). Die Situation setzt sich nicht mehr über die Affektionen in Aktionen fort. Von all ihren Fortsetzungen abgeschnitten, hat sie ihren Wert nur noch in sich selbst, nachdem all ihre affektiven Intensitäten und all ihre aktiven Extensionen aufgezehrt sind. Diese Situation ist keine sensomotorische mehr, sondern eine rein optische und akustische, in der der Sehende den Akteur ersetzt hat: eine ‚Beschreibung‘.70

Zanussis Die Struktur des Kristalls funktioniert durchaus und auf doppelte Weise als ‚Beschreibung‘ im Deleuzeschen Sinne: als Beschreibung zweier Erkenntnisweisen und Wissenschaftskonzeptionen ebenso wie als Beschreibung der Elemente und „conditions“ des Kinos. Ad 3) Über das Begriffspaar „künstlich vs. natürlich“ in Mareks Vortrag lässt sich schließlich an das in Verbindung mit Worringer bzw. dem Komplex Worringer/Deleuze bereits angesprochene Problem des „Anorganischen“ anschließen. Bei der Betrachtung des Films fällt auf, dass die Differenz zwischen dem Organischen und dem Anorganischen sowie zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen durchgängig und unübersehbar unterstrichen wird. Aus dem filmischen Fluss herausgelöste Bilder von Holzscheiten, Bienenwaben, verschiedenen Arten von echten Kristallen sowie von künstlichen Kristallen und entsprechenden Parallelstrukturen wie den bereits angesprochenen Wolkenkratzerfassaden drängen sich auf (vgl. Abb. 11-13). 69

70

Auch die Figurenkonstellation wird in gewisser Weise meta-medial aufgeladen: Marek könnte in dieser Hinsicht als Repräsentant des Bewegungs-Bilds gesehen werden, während Jan eher eine Verkörperung des Zeit-Bilds darstellt. Deleuze, Zeit-Bild, 348

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Abb. 11-13: Organisches und Anorganisches (natürlicher und künstlicher Kristall) in Die Struktur des Kristalls, 1969, Krzysztof Zanussi.

Vor dem Hintergrund der Deleuze- und Worringer-Lektüre scheint es fast so, als solle das „Kristallinische“ als das Anorganische und Künstliche unmittelbar inszeniert und thematisiert werden. Wenn Marek in seinem relativ ungeschickt improvisierten Vortrag die künstlichen Kristalle als die Zukunft anpreist und immer wieder das Wort „sztuczne“ (,künstlich‘) wiederholt, wird damit das im Film immer wieder gezeigte Kristallinische gewissermaßen diskursiviert, wobei durch seine unbeholfene Rede der Übergang in ein ‚organisches‘ Publikum entautomatisiert wird. Die Grenze zum „Chaos“, das Joseph Vogl mit der Sphäre jenseits des Wahrnehmbaren (Imaginären, Symbolischen) verbindet, wird hier im Spiel auf einer umfunktionierten Bühne sichtbar: Das Lob des „Künstlichen“ (hier auch durchaus mit der Differenz zwischen dem in der artifiziellen Karrierewelt lebenden Marek und dem in

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der „Natur“ lebenden Jan zu verrechnen) als Replik und Motiv verknüpft sich mit der gesamten Ästhetik des Films als einer Verhandlung der Repräsentation des kryształ als Baustein der (polnischen) Schneelandschaft und gleichzeitig als Gegenstand oder gar Erzeugnis der Physik. In der Repräsentation des so redenden und Kristall-zeigenden Marek liegt möglicherweise sogar ein Versuch vor, die Worringer’sche „gotische Linie“ zu ziehen, von der Joseph Vogl sagt, sie zeichne bzw. umreiße die „Unfähigkeit zu Gegenständen überhaupt“. Die Repräsentation des Marek macht ihn zum Schauspieler auf einer Bühne der Künstlichkeiten, und in diesem Sinne macht Zanussi tatsächlich, wie Deleuze am Ende seiner Ausführungen zu dessen Werk etwas unvermittelt konstatiert, „aus dem Wissenschaftler einen Schauspieler, ein theatralisches Wesen par excellence.“71 Abgesehen von den genannten formalen Aspekten sind vor diesem Hintergrund andere Spezifika Zanussis, insbesondere in seinem frühen Schaffen einzubeziehen. An erster Stelle wäre dies sein noch zu erforschendes starkes Interesse für das Verhältnis zwischen Laien-/Profischauspielern und überhaupt für den Laienfilm,72 auch im Verhältnis zum Dokumentarfilm. Hier wären Linien zur Problematik eines etwaigen ‚organischen Realismus‘ auch auf der Ebene des Umgangs mit Schauspielern und echten Akteuren (vgl. die vielen Interviews mit echten Experten und Betroffenen zu Sachfragen in Illumination) zu ziehen. Auch die Frage nach dem Stellenwert des Dokumentarfilms in Deleuzes Kinoblick wäre hier einschlägig. Es ist jedenfalls offensichtlich, dass Zanussis frühes Schaffen sowohl systematisch und historisch näher an dem liegt, was Deleuze für den „Neorealismus“ geltend macht. Die Ironie eines „Realismus“, der die Konventionen des ‚organisch‘ ausgerichteten Realismus hinter sich lässt, gilt für den Zanussi der 1960er Jahre durchaus. Das ist die historische und historiographische Pointe einer grundlegenderen Betrachtung der Berührungspunkte zwischen Deleuzes cristal und Zanussis kryształ.

5. Abschluss und Ausblick Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Relevanz des Deleuzeschen cristal-Begriffs für Zanussis Schaffen (der frühen Phase) – und insbesondere für den kryształ und dessen struktura – weit über die Punkte hinausgeht, die Deleuze selbst unterstreicht. Deleuzes an sich verdienstvoller Versuch, einen großen Teil des bis zur Niederschrift der Cinéma-Bücher entstandenen Ge71 72

Deleuze, Zeit-Bild, 99. Dieses Interesse schlägt sich in Zanussis Buchpublikationen O montażu w filmie amatorskim (ohne Ort, 1968) und Rozmowy o filmie amatorskim (Warszawa, 1978) nieder.

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samtœuvres Zanussis zu berücksichtigen, geht offensichtlich mit einer Projektion des – aus der Deleuzeschen Perspektive – Spätwerks auf das Frühwerk als dessen ‚Konsequenz‘ einher, die dazu führt, dass die meta-mediale Dimension von Filmen wie Die Struktur des Kristalls oder Illumination unterbelichtet wird. Ausgeblendet werden in Deleuzes Analyse außerdem einige gerade für die Frühphase bedeutsamen kulturgeschichtlichen Momente in Zanussis Schaffen, was bei einem Regisseur, der seine kulturellen Wurzeln in Polen ausdrücklich betont,73 besonders schwer ins Gewicht fällt. Zu diesen Momenten gehören der Gegensatz zwischen Stadt und Land ebenso wie die Problematisierung des Verhältnisses zwischen Warschau als (kulturellem, wissenschaftlichen und Macht-) Zentrum und anderen, an die Peripherie gedrängten Städten, die in Die Struktur des Kristalls episodenhaft im Zusammenhang mit der Figur Mareks thematisiert werden, der zum einen die ländliche Bevölkerung von Jans Wahlheimat aus der herablassenden Haltung des Städters betrachtet und der zum anderen, wie sich herausstellt, seinen wissenschaftlichen Erfolg einer Intrige gegen Fachkollegen aus Poznań verdankt. Ein anderer kulturgeschichtlich interessanter und für die weitere Entwicklung des polnischen Kinos bedeutsamer Aspekt ist die implizite Auseinandersetzung mit der kommunistischen Propaganda, die in Die Struktur des Kristalls in Form eines geschönten Wochenschau-Berichts über die Einweihung eines Industriekombinats zitiert wird. Zanussi konfrontiert diese Bilder mit ‚authentischen‘ Bildern eines solchen Kombinats, um die Kluft zwischen Schein und Wirklichkeit zu offenbaren, und führt zudem die von der Propaganda verursachten Deformationen des Denkens und der Sprache vor, wenn er Jan und Anna beim Anblick des ‚echten‘ Kombinats unbeholfen die Sätze des Sprechers aus dem Bericht der Wochenschau wiederholen lässt. Dies und anderes, was sich in Zanussis Frühwerk großenteils noch im Keimstadium befindet, gelangt in den Filmen des „Kinos der moralischen Unruhe“ zu voller Geltung. Beispielhaft sei abschließend kurz auf zwei frühe Filme Krzysztof Kieślowskis verwiesen, die hinsichtlich formaler Verfahren und thematisch an Zanussi anschließen, dabei aber die kultur- und zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen stärker betonen. In Die Narbe (Blizna, 1976) wird mit dem Bau eines Chemiekombinats in einer bis dahin unberührten Naturlandschaft das Thema der Industrialisierung des ländlichen Raums (und damit im weiteren Sinne auch die Opposition von ‚Organischem‘ und ‚Anorganischem‘) aufgerufen. Die Frage nach den Möglichkeiten der Erfassung der Wirklichkeit mit den Mitteln des Films und der Wissenschaft wird hier von der philosophischen in eine politische Dimension 73

Vgl. dazu Rutkowska, Film polski na świecie, 317, die als wesentliche und von ihm selbst unterstrichene Bestandteile von Zanussis kultureller Identität als Pole die spezifischen historischen und politischen Erfahrungen seines Landes sowie die Prägung durch nationale Traditionen und das Wertesystem des Katholizismus anführt.

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überführt: Die Entstehung des Fabrikkomplexes wird sowohl von einem Dokumentarfilmer begleitet als auch von einer Gruppe junger Soziologen hinsichtlich der Auswirkungen auf die Menschen in der Umgebung untersucht und dokumentiert – gegen den Widerstand politischer Funktionäre, die die Entscheidung für den Standort der Fabrik gegen sachliche Einwände getroffen haben und nun die negativen Folgen für Bevölkerung und Umwelt nicht publik werden lassen wollen. Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik wird letztlich auch die Hauptfigur des Films, der Ingenieur und Direktor des Kombinats Stefan Bednarz (Franciszek Pieczka) zerrieben. Wo Zanussi in seinem Frühwerk den Film und das Kino gewissermaßen in seine Einzelteile zerlegt, scheint Kieślowski – auf Zanussi aufbauend – in Die Narbe den Versuch zu unternehmen, sie neu zusammenzusetzen. Augenfällig wird dies in einer Szene, in der Bednarz in einem Zimmer seiner neuen Plattenbauwohnung das Licht abwechselnd ein- und ausschaltet. Das Fenster, vor dem er steht, erlaubt bei ausgeschaltetem Licht den Blick auf das Fabrikgelände, während sich bei eingeschaltetem Licht Bednarz’ Gesicht darin spiegelt (vgl. Abb. 14-16). Abb. 14-16: Der Blick auf sich selbst und die Umwelt: Das Fenster als (transparenter) Spiegel in Die Narbe, 1976, Krzysztof Kieślowski.

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Bernhard Hartmann und Holt Meyer

Diese Szene erinnert in der Reduktion auf optische Effekte an Jans Vorführung des ‚Denaturators‘ in Die Struktur des Kristalls, ohne dass sich allerdings wie dort von reinen Opto- und Sonozeichen sprechen ließe. Anders als bei Zanussi verweisen die Licht- und Spiegeleffekte hier nicht vorrangig auf sich selbst, sondern dienen als Mittel zur Charakterisierung der Hauptfigur. In Kieślowskis ebenfalls fest in den polnischen Realia seiner Entstehungszeit verankertem Der Filmamateur (Amator, 1979) wird demgegenüber mit dem Verhältnis von Dokumentar- und Spielfilm eine Problematik als ethische verhandelt, die in Zanussis frühen Filmen (vor allem in Illumination) als meta-mediale virulent war. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen als Dokumentarfilmer interessiert Kieślowski vor allem die Frage nach der Verantwortung des Filmemachers. Kieślowski arbeitet dabei mit einem grundlegenden Verfahren des frühen Zanussi, indem er reale Personen in einer fiktiven Geschichte auftreten lässt. Die wichtigste dieser realen Personen ist Zanussi selbst. Die Gegenüberstellung des fiktiven Laien- und Dokumentarfilmers Filip Mosz (Jerzy Stuhr), der in mancher Hinsicht als alter ego Kieślowskis gelten kann,74 mit dem authentischen professionellen Spielfilmregisseur als Vorbild und Autorität gehört zu den zentralen Momenten des Films.75 Abb. 17: Laienfilmer (Filip Mosz, l.) und professioneller Regisseur (K. Zanussi, r.) in Der Filmamateur, 1979, Krzysztof Kieślowski.

74

75

Mikołaj Jazdon (Dokumenty Kieślowskiego, Poznań 2002) verweist auf Parallelen zwischen Kieślowski und dem Hauptdarsteller seines Films im Hinblick auf Biographie und künstlerische Entwicklung (vgl. 141f.). Amator kann aus diesem Grund zu Recht als „indirekte Hommage“ (Jean A. Gili, La caméra comme outil des connaissance. Note sur L’Amateur, in: Krzysztof Kieślowski, hg. v. Michel Estève, Paris 1994, 15-19, hier 17) Kieślowskis an Zanussi angesehen werden. Eine weitere Funktion dieses besteht für Kieślowski in der Beglaubigung der fiktiven Handlung: „[…] wollte ich auch eine Situation schaffen, in der das Auftreten authentischer Personen sowohl dem Tun als auch den Motiven der Hauptfigur, aber auch der ihn umgebenden Welt eine größere Wahrscheinlichkeit verleiht. Das heißt, ich wollte gewissermaßen […] die Realität dieser Welt unterstreichen. Meine Hoffnung war es, dass man dadurch das Gefühl bekommt, dass es vielleicht so ist und es sich nicht bloß um eine beliebige Fiktion oder Fabel handelt“ (Kieślowski in „Czas“ 37/1979, zitiert nach: Jazdon, Dokumenty Kieślowskiego, 191).

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Kernpunkt von Zanussis Gastauftritt sind seine Ausführungen über die Wahrheit des Films während einer wiederum an der Grenze von Fiktion und Dokumentation angesiedelten Publikumsdiskussion im Anschluss an eine Vorführung von Tarnfarben. Ausgehend von der skeptischen Haltung, dass der Film weder die Möglichkeit zur Feststellung objektiver Wahrheiten noch die Macht zur unmittelbaren Veränderung der Gesellschaft oder des Menschen besitze, beschreibt Zanussi die Tätigkeit des Filmemachers als Prozess einer ständigen Überprüfung und Präzisierung von als wahr empfundenen Positionen. Auf der Handlungsebene von Amator ist diese Haltung ein wichtiger Faktor der Entwicklung des Dokumentarfilmers Mosz, der am Ende des Films den Anspruch auf die objektive Erfassung der Wirklichkeit aufgibt und sich, beginnend mit der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte, der Erforschung subjektiver Weltsichten zuwendet. Mit Blick auf Die Struktur des Kristalls können diese Ausführungen auch als Bestätigung der in den nach Illumination entstandenen Filmen Zanussis vollzogenen Rücknahme des wissenschaftlichen, auf Objektivität zielenden Gestus verstanden werden, mit dem er in seinen ersten beiden Filmen das Medium Film als Mittel zur Welterkenntnis erforschte. Die Untersuchung der angedeuteten kulturgeschichtlichen Dimension von Zanussis Frühwerk und dessen Fortführung und Weiterentwicklung im polnischen Kino und bei Zanussi selbst kann hier nicht vertieft werden, ein möglicher Ansatzpunkt sollte aber über die Verbindungslinie ZanussiKieślowski zum Abschluss wenigstens angedeutet werden. Das Ziel dieser Arbeit war es, zum einen die geistesgeschichtliche Herkunft und den Status von Deleuzes Kristall-Begriff zu beleuchten und zum anderen am Beispiel Zanussis und der Deleuzeschen Zanussi-Analyse zu zeigen, inwiefern eine konsequente Anwendung von Deleuzes Ansatz auf die von ihm besprochenen Filme neue und aufschlussreiche Erkenntnisse hervorzubringen vermag. Die Grenzen dieses Ansatzes liegen, wenigstens im Fall Zanussis und wohl auch der wenigen übrigen von Deleuze berücksichtigten osteuropäischen Regisseure (vor allem Ėjzenštejn und Tarkovskij76) in der weitestgehenden Ausblendung des kulturgeschichtlichen Hintergrunds und damit wesentlicher „Randbedingungen“. In einem nächsten Schritt wären also Möglichkeiten der Erweiterung des Deleuzeschen Ansatzes um eben diese kulturgeschichtliche Dimension zu prüfen.

76

Ėjzenštejn wird in beiden Cinéma-Bänden mehrfach erwähnt (ausführlicher u.a. I, 5362, 244-248; II 206-215, 217-219), Tarkovskij einige Male im zweiten Band (II, 62f., 104, 172).

EVA BINDER

Zeit-Bilder Persönliche Erinnerung und kulturelles Gedächtnis in Andrej Tarkovskijs Der Spiegel Andrej Tarkovskijs Spielfilm Der Spiegel (Zerkalo, 1974) ist ein paradigmatischer Film über Erinnerung und Gedächtnis. Im Unterschied zu den vorangegangenen Filmen Tarkovskijs sowie zu denen, die bis zu seinem frühen Tod 1986 folgen sollten, ist Der Spiegel ein sehr persönlicher, zum Teil autobiographischer Film. Die bewegenden, großen Themen und Fragen, die Tarkovskij in seiner filmischen Arbeit beschäftigen, wie die zerstörende Wirkung des Krieges auf die menschliche Psyche (Iwans Kindheit [Ivanovo detstvo], 1962), das prekäre Verhältnis von Künstler und politischer Macht (Andrej Rublev, 1966) oder die rücksichtslose Entfaltung von Fortschrittsglauben und Industrierationalität (Stalker, 1979), bleiben in Der Spiegel im Hintergrund. Dagegen treten persönliches Erinnern und das Medium Film als Gedächtnis derart in den Mittelpunkt, dass ein komplexes Spannungsfeld entsteht zwischen individueller Erinnerungsarbeit, dem kollektiven Gedächtnis der Tauwetter- und Nachtauwettergeneration und der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung. Die Auseinandersetzung mit Tarkovskijs Spielfilm Der Spiegel verfolgt das Ziel, die unterschiedlichen Erinnerungsschichten und Gedächtnisformen, die Tarkovskij in der ganzheitlichen Totalität des filmischen Kunstwerks aufhebt, herauszuarbeiten und analytisch zueinander in Beziehung zu setzen. Der Betrachtung der filmischen Erinnerungsbilder und narrativen Rekonstruktionen von Erfahrung auf der inhaltlich-konzeptionellen Ebene des Films werden Ausführungen zu formalästhetischen Aspekten von Tarkovskijs filmischer Arbeit vorangestellt. Die Bedeutung, die dem Phänomen der Zeit in den Filmen Tarkovskijs zukommt, lässt sich mit dem Begriff des Zeit-Bildes von Gilles Deleuze umreißen. Tarkovskij verlagerte – wie andere Regisseure seiner Generation auch – die Bewegung von der Montage in die einzelne Einstellung. Zeit, Bewegung in der Zeit und Rhythmus können daher als die formalästhetischen Leitbegriffe angesehen werden, die die künstlerische Arbeit Tarkovskijs kennzeichnen.

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1. Filmkunst als ein „Modellieren der Zeit“ Die Bildtypologie von Gilles Deleuze basiert auf einer grundlegenden Unterscheidung in der filmischen Organisation der Zeit. Während das Bewegungs-Bild in ein „Aktions-Reaktions-System“ eingebunden ist und lediglich ein „indirektes (von der Montage abhängiges) Bild der Zeit“1 liefert, repräsentiert das Zeit-Bild – so Deleuzes Leitbegriff für das moderne Kino nach 1945 – die Zeit direkt. Die Abgrenzungen, die Tarkovskij zwischen seiner eigenen „Zeit-Kunst“ und dem Montagekino der sowjetischen Filmavantgarde vornimmt, entsprechen dem bipolaren Schema von Deleuze. Dabei argumentiert Tarkovskij mit dem begrifflich-sprachlichen Fundament des Montagekinos, das in Kontrast zu seinem eigenen Verständnis des Mediums steht. Das Aktions-Reaktions-System des Montagekinos basiert nach Tarkovskij auf der Bildsymbolik und erschließt sich den Rezipient/inn/en über rationale Deutungen. Diese Art der Sinnproduktion beinhaltet die Möglichkeit, dass der Regisseur dem Kinopublikum seine ideologische Einstellung zum auf der Leinwand Gezeigten vermitteln kann. Eine derartige „Generalattacke“ auf den Zuschauer, wie Ėjzenštejn seine künstlerische Intention einmal bezeichnete, erfolgt nach Tarkovskij über die vom Konkreten abstrahierte, sprachliche Ebene: Das Montagekino stellt seinem Zuschauer Rätsel, läßt ihn Symbole dechiffrieren und sich für Allegorien begeistern, appelliert an seine intellektuelle Erfahrung. Doch jedes dieser Rätsel hat seine verbal genau formulierte Auflösung.2

Im Gegensatz dazu betrachtet Tarkovskij den Film als eine Kunstform, die nicht als Sprache und Sprachsymbolik gefasst werden kann, sondern „uns sich selbst vor Augen führt“3. Film ist sinnlich unmittelbar und jener „irdisch-materiellen Substanz“ verhaftet, „mit der wir es Stunde um Stunde zu tun haben“4. Die langen Einstellungen und der ruhig fließende Rhythmus in Tarkovskijs Filmen können im unmittelbaren Wortsinn der Deleuzeschen Begrifflichkeit als direkte Repräsentationen der Zeit betrachtet werden. Die Kamera zeichnet sich bei Tarkovskij dadurch aus, dass sie nicht statisch ist, sondern Bewegung aufzeichnet und dabei selbst nahezu ständig in Bewegung ist. Das entscheidende formbildende Element des Kinos ist nach Tarkovskij der Rhythmus des Films, der nicht auf der Montage der einzelnen Filmteile basiert, sondern auf der Zeit, die innerhalb der Einstellung abläuft. Da nur der Film die Zeit nach „ihren äußeren, emotional zugänglichen Merkmalen“ fixieren kann, bildet die Zeit die Grundlage des Kinos, ähnlich wie der Ton 1 2 3 4

Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991, 37. Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, Berlin, Frankfurt/M. 1985, 137. Ebd., 67. Ebd., 133.

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die Basis in der Musik oder die Farbe die Grundlage der Malerei darstellt. Das Filmbild entsteht dementsprechend während der Aufnahme und durch den „Zeitdruck“ innerhalb der Einstellung – durch die „eine Einstellung durchlaufende zeitliche Konsistenz, die wachsende oder ,sich verflüchtigende‘ Spannung der Zeit“5. Tarkovskij räumt dem filmischen Rhythmus daher auch Priorität im Hinblick auf die Individualität des Filmkünstlers ein. Im Rhythmus äußert sich das subjektive Zeitempfinden des Regisseurs – seine individuelle „Zeitsuche“6. Mit seinen „Zeit-Bildern“ erhebt Tarkovskij den Anspruch, die sichtbare, im abgebildeten Gegenstand fixierte bzw. im dargestellten Lebensprozess wiedergegebene Bewegung der Zeit festzuhalten. Das Filmbild erfasst das Konkrete und sinnlich Wahrnehmbare und dient der unmittelbaren Beobachtung des Lebens. Ein Charakteristikum von Tarkovskijs Bildwelten sind die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft – sei es in Form von Kamerabewegungen, die das Erdreich mit seinen Wurzeln und Pflanzen abtasten, sei es durch die visuellen und akustischen Motive des knisternden Feuers und des plätschernden Regens oder aber durch den Windstoß, der in der ersten Sequenz des Der Spiegel über das Feld streift. Mit dem Argument der irdischmateriellen Substanz des Filmbildes verwehrt sich Tarkovskij auch der immer wieder unternommenen symbolischen Deutung und Entschlüsselung seiner Bilder. Dabei teilt er seine Zuschauer/innen in jene, die sich auf seinen individuellen Rhythmus einlassen und die anderen, die diese Rezeption verweigern und seinen Filmen daher „völlig fremd“ bleiben: „Entweder ,fällt‘ nun der Zuschauer in deinen Rhythmus (in deine Welt) mit ,ein‘ und wird so zu deinem Verbündeten, oder aber er tut dies nicht, was bedeutet, daß es zu keinerlei Kommunikation kommt“7. Analog zur Auffassung, das „Wesen“ des Films bestehe im Festhalten der Zeit, schätzt Tarkovskij die „Filmchronik“ als das „ideale Kino“ ein. Er sieht den Film als eine „Matrix der realen Zeit“8 – als ein Medium, das es erstmals ermöglicht, „die Zeit in ihrer realen und unauflöslichen Verknüpfung mit der Materie der uns täglich, ja stündlich umgebenden Wirklichkeit“ als solche aufzuzeichnen und in „Metallbüchsen“ aufzubewahren.9 Die Grundidee des Films ist folgerichtig „die in ihren faktischen Formen und Phänomenen festgehaltene Zeit“, während das „Wesen“ der Autorenfilmkunst im künstlerischsubjektiven Umgang mit der filmischen Fähigkeit besteht, die Zeit festzuhalten. Die Filmkunst kommt so einem „Modellieren der Zeit“ gleich: 5 6 7 8 9

Ebd., 136. Ebd., 140. Ebd., 141. Ebd., 68. Ebd., 70.

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Ähnlich wie ein Bildhauer in seinem Innern die Umrisse seiner künftigen Plastik erahnt und entsprechend alles Überflüssige aus dem Marmorblock herausmeißelt, entfernt auch der Filmkünstler aus dem riesengroßen, ungegliederten Komplex der Lebensfakten alles Unnötige und bewahrt nur das, was ein Element seines künftigen Films, ein unabdingbares Moment des künstlerischen Gesamtbildes werden soll.10

2. Entstehungsgeschichte und Kontext Die Entstehungsgeschichte von Tarkovskijs viertem Spielfilm Der Spiegel reicht in die sechziger Jahre zurück. 1968 schlug der Regisseur dem Studio „Mosfil’m“ zwei Projekte vor – das Drehbuch zu seinem dritten Film Solaris (Soljaris) und ein Drehbuch mit dem Titel Die Beichte (Ispoved’). Der darauf basierende Film sollte seiner Mutter gewidmet sein und aus drei verschiedenen Erzählebenen bestehen. Erstens sollte seine Mutter einen Fragebogen mit Fragen zu verschiedenen Themen beantworten und dabei mit versteckter Kamera gefilmt werden. Die vorgesehenen Fragen sollten einen breiten Bogen spannen von der persönlichen Erinnerung an glückliche und tragische Momente ihres Leben über alltägliche Vorlieben und Besonderheiten ihres Charakters bis hin zu aktuellen weltpolitischen Themen.11 Eine zweite, fiktionale Erzählebene sollte die Erinnerungen des Autors an seine Kindheit wiedergeben und als dritte Ebene sollten Ausschnitte aus Wochenschauen montiert werden. Die ursprüngliche Konzeption verrät zweifelsohne auch den in der Sowjetunion zu dieser Zeit zu beobachtenden Trend zum Dokumentarischen, Ungestellten und Authentischen. Wie Maja Turovskaja ausführt, fügt sich Tarkovskijs Balance-Akt zwischen Faktischem und Fiktionalem, Dokumentarischem und Inszeniertem gut in zeitgenössische Tendenzen. Einerseits ließ das ursprüngliche Drehbuchkonzept „deutliche Affinitäten zum Fernsehen erkennen, dem jüngsten Massenmedium, das soeben begonnen hatte, die Ästhetik des Films zu beeinflussen“12, andererseits lag das Authentische, das am zielführendsten mit versteckter Kamera zu erreichen war, zu dieser Zeit geradezu „in der Luft“13. International einflussreich waren dabei insbesondere das in Frankreich entstandene cinéma verité und das amerikanische direct cinema. Doch auch in der damaligen Sowjetunion maß man dokumentarischen Verfahren wie Direktinterview, Originalton oder versteckter Kamera einen hohen Stellenwert bei. Ein anschauliches Beispiel dafür stellt der Do10 11

12 13

Ebd., 71. Vgl. dazu die Filmnovelle Heller, heller Tag in A. Tarkowskij, „Der Spiegel“: Novelle, Arbeitstagebücher und Materialien zur Entstehung des Films, Berlin, Frankfurt/M. 1993, 7-89. M. Turowskaja/F. Allardt-Nostitz, Andrej Tarkowskij: Film als Poesie – Poesie als Film, Bonn 1981, 59. Ebd., 61.

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kumentarfilm Schauen Sie in das Gesicht (Vzgljanite na lico, 1966) nach dem Buch von Sergej Solov’ev und unter der Regie von Pavel Kogan dar, der auf Aufnahmen von Besuchern der Petersburger Eremitage basiert. Diese wurden mit versteckter Kamera gefilmt, während sie das Bild der „Madonna Litta“ von Leonardo da Vinci betrachteten. Neben der internationalen Tendenz zum Dokumentarischen lässt sich auch die Idee eines Spielfilms über Erinnerung und Gedächtnis im Kontext des europäischen Autorenfilms der 1950er und 1960er Jahre verankern. So arbeitete der von Tarkovskij hochgeschätzte schwedische Regisseur Ingmar Bergman bereits 1957 mit Erinnerungs- und Traumbildern in seinem Film Wilde Erdbeeren (Smultronstället). Alain Resnais ließ kurze Zeit später in seinem Spielfilm Hiroshima mon amour (1959) verschiedene Vergangenheitsregionen ohne die uns vertrauten Prinzipien von Ursache und Wirkung in Beziehung treten, während er in Letztes Jahr in Marienbad (L’année dernière à Marienbad, 1961) Erinnern und Vergessen, Erzählen und Erzähltes, Realität und Traum, Wahrheit und Lüge keiner erhellenden Auflösung mehr zuführte. Schließlich wandte sich beispielsweise auch Federico Fellini dem filmischen Diskurs um Erinnerung und Gedächtnis zu, wie in 8 ½ (1963) oder zehn Jahre später in Amarcord (1973). Im Entstehungsjahr von Fellinis Amarcord griff auch Tarkovskij die Idee eines filmischen Eintauchens in die eigene Kindheit wieder auf. Nachdem das Drehbuch unter dem Titel Heller, heller Tag (Belyj, belyj den’) von offizieller Seite genehmigt wurde, konnten noch im selben Jahr die Dreharbeiten beginnen. Die Fertigstellung erfolgte 1974 und erforderte einen nervenaufreibenden Montageprozess mit 16 stark voneinander differierenden Montagevarianten14, denn die montierten Teile erlangten nach Tarkovskijs eigenen Worten lange Zeit „keinerlei Einheit, innere Verbindung, Konsequenz und Logik“15. Die Filmversion enthielt allerdings nur die beiden letzten Komponenten der ursprünglichen Konzeption – die in Traumbildern und Mikrosujets wiedergegebenen Kindheitserinnerungen des Ich-Erzählers, die sich mit den Erinnerungen der Mutter überschneiden, sowie Ausschnitte aus Wochenschauen. Statt dem Interview16 wurde das Sujet um eine gegenwärtige Ebene erweitert – um die Erzähllinie über die geschiedene Frau des Ich-Erzählers und deren gemeinsamen Sohn Ignat. Durch diese Erweiterung wurden gleichzeitig die autobiographischen Bezüge zu Tarkovskijs Leben verstärkt.

14 15 16

Vgl. Tarkowskij, „Der Spiegel“, 211-237. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, 134. Das Interview mit der Mutter wurde einerseits von den Verantwortlichen bei Goskino abgelehnt (vgl. Tarkowskij, „Der Spiegel“, 106f.), andererseits stellte sich wohl auch für Tarkovskij selbst das Unterfangen allein schon aufgrund der Schwierigkeit einer derartig intimen Befragung als unmöglich heraus (vgl. dazu insbesondere die Diskussion im Redaktionskollegium anlässlich der Präsentation der Grundidee, ebd., 294-300).

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3. Die „schwierige“ Erzählstruktur des Films Die Erzählstruktur provozierte die allgemeine Einschätzung des Films als „schwierig“. Seine fehlende „allgemeine Verständlichkeit“, so einer der offiziellen Hauptkritikpunkte, missfiel sowohl den Instanzen der sowjetischen Filmbürokratie als auch zahlreichen Regiekollegen. Die Erzähllinien und Erzählfragmente des fertig gestellten Films setzen sich aus vier verschiedenen Arten von Erinnerungsbildern zusammen. Erstens wird die Vergangenheit durch fünf epische Rückblenden in die Kindheit des Ich-Erzählers vergegenwärtigt. Es sind dies die Szene der wartenden Mutter vor dem Sommerhaus und ihre Begegnung mit einem zufällig vorbeikommenden Fremden, die Szene in der Druckerei, die Episode über die schulische Militärausbildung während des Zweiten Weltkriegs, die kurze Szene des Besuches des Vaters sowie die Erzählung über den Schmuckverkauf. Die zweite Erzähllinie ist zeitlich in einer nicht näher bestimmten Gegenwart bzw. jüngeren Vergangenheit des Ich-Erzählers angesiedelt, der nur über seine Stimme präsent ist.17 Die Gegenwartsszenen sind fragmentarisch gehalten und kreisen direkt oder assoziativ um die Krise, die der Ich-Erzähler durchlebt und die mit seinem Beziehungsleben verbunden ist – mit seiner ExFrau und dem gemeinsamen Sohn Ignat sowie mit der Beziehung zu seiner Mutter. Dabei werden eine Reihe von persönlichen Problemen angedeutet: Kindheitstraumata, die sich im Erwachsenenleben fortsetzen, Beziehungsunfähigkeit und Kommunikationsstörung, Schuldgefühle der Mutter gegenüber oder aber auch die Wiederholung der eigenen Geschichte in der nächsten Generation. Die Schwierigkeit des Ich-Erzählers, über diese intimen Probleme zu sprechen und der befreiende Akt des Sprechens werden im Prolog assoziiert, in dem eine Logopädin versucht, einen Jugendlichen durch Hypnose vom Stottern zu heilen. Räumlich sind die Gegenwartsszenen durch die immer gleiche Stadtwohnung gekennzeichnet. Der intim-familiäre Beziehungskomplex Ich-Erzähler/Ex-Frau/Sohn/Mutter ist durch mehrere Spiegelungen der Vergangenheit in der Gegenwart und umgekehrt markiert: Eine dieser Spiegelungen zeigt die Ex-Frau Natal’ja, die Fotos betrachtet, die sie bzw. die junge Mutter (sie werden beide von Margarita Terechova verkörpert) gemeinsam mit der gealterten Mutter zeigen. Schließlich sind noch zwei Episoden in die Gegenwartsszenen integriert, die in keinem direkten Zusammenhang mit der familiären Beziehungsthematik stehen. Dabei handelt es sich einerseits um die Episode der spanischen Exilanten, die einst vom Bürgerkrieg in die Sowjetunion flüchteten, andererseits um die Szene mit der Tee trinkenden fremden Frau, die Ignat bittet, einen Brief von Puškin an Čaadaev aus dem Jahr 1836 vorzulesen. 17

Dabei handelt es sich um die Stimme des Schauspielers Innokentij Smoktunovskij.

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Ergänzend zu diesen beiden Erzählebenen integrierte Tarkovskij lyrische Traumbilder, die auf das Haus der Kindheit konzentriert sind. Sie sind als rein optische und akustische Bilder angelegt und entziehen sich der kausallogischen Verknüpfung mit der filmischen Narration. So zeigen die Traumbilder einmal einen Licht durchfluteten Innenraum mit im Wind wehenden Vorhängen und dem Jungen, der einen Milchkrug zerbricht, ein anderes Mal einen Holztisch vor dem Haus mit Gegenständen, die durch einen Windstoß vom Tisch geweht werden. Physikalische Gesetze sind in diesen Traumbildern aufgehoben: Die Zeit läuft durch Zeitlupe verlangsamt ab, Mauerteile fallen von der Zimmerdecke, der Körper der Mutter schwebt über dem Bett. Dokumentarische Aufnahmen aus der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs bilden schließlich neben den narrativen Rekonstruktionen der fernen und jüngeren Vergangenheit und den Traumbildern einen filmischen Darstellungsmodus für sich. Dabei handelt es sich um Wochenschaumaterialien zum spanischen Bürgerkrieg, um Dokumentarbilder von der Präsentation des ersten sowjetischen Stratosphärenballons, vom Marsch der sowjetischen Armee durch den Sivaš-See im Jahr 1943 sowie von den Siegesfeiern 1945. Weiter sind Aufnahmen vom Atombombenabwurf in Hiroshima, von der chinesischen Kulturrevolution und von einem sowjetisch-chinesischen Zusammenstoß am Ussuri montiert. Es scheint das große künstlerische Verdienst Tarkovskijs zu sein, dass diese unterschiedlichen Erinnerungsschichten zueinander in Beziehung treten und dadurch ständig ihre eigenen zeitlichen Grenzen überschreiten. Man könnte auch sagen, dass jener „Verkettungsmodus“ in Kraft tritt, den Deleuze in einem ersten Abgrenzungsversuch der Bildtypen dem rein optischen Bild zuschreibt: „[…] was miteinander in Beziehung träte, wäre das Reale und das Imaginäre, das Physische und das Mentale, das Objektive und das Subjektive, die Beschreibung und die Erzählhandlung, das Aktuelle und das Virtuelle…“18.

4. Film als Gedächtnis: Die persönliche Erinnerung Tarkovskij plante seinen Film als „authentische lyrische Erinnerung“19, als filmische Erzählung, die weniger von dem Regisseur und Autor selbst, als vielmehr „von den Gefühlen, die ich mir nahestehenden Menschen gegenüber empfinde, von meinen Beziehungen zu ihnen, meinem ewigen Mitgefühl für sie“ bestimmt sein sollte.20 Es sollte ein sehr persönlicher Film 18 19 20

Deleuze, Das Zeit-Bild, 66. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, 151. Ebd., 155.

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werden und er sollte auf dem individuellen Charakter der Mutter21 sowie auf Tarkovskijs eigenen Erinnerungen an die Kindheit basieren. Dabei war das erklärte Ziel, anhand der Erinnerungen von Menschen zweier unterschiedlicher Generationen die Vergangenheit auf der kognitiven wie auch sinnlichen Ebene zu rekonstruieren: Zwei analoge Wahrnehmungen der Vergangenheit (die des Erzählers und seiner Mutter) sollten hier einander konfrontiert werden, dem Zuschauer als wechselseitige Projektion von Erinnerungen zweier einander nahestehender, verschiedenen Generationen angehörender Menschen präsentiert werden.22

In den Mikrosujets über die Vergangenheit greifen dementsprechend beide Perspektiven, die der Mutter und die des Ich-Erzählers als Kind, ineinander. Insbesondere die letzte Episode, die Szene des Verkaufs der Ohrringe, ist so angelegt, dass sie – obwohl darin die Mutter als Trägerin der Handlung auftritt – aus der eingeschränkten Perspektive des Jungen erzählt wird. Dieser versteht das verunsicherte und Scham erfüllte Verhalten der Mutter nicht, da er nicht weiß, dass sie aufgrund der Not während des Krieges Schmuck an die Doktorsfrau verkaufen will: „Die Mutter geht voran, die Hände auf dem Bauch verschränkt. Von Zeit zu Zeit schaut sie besorgt in meine Richtung. Über uns hängt eine Wolke gieriger Stechmücken.“23 Um die emotionale Verfasstheit des Jungen in der filmischen Erzählung wiederzugeben, arbeitet Tarkovskij mit fragmentierenden Kamerablicken im Haus. Das kleinbürgerliche Familienglück der Doktorsfrau, das bei der Mutter beim Anblick des wohlbehüteten schlafenden Kleinkindes Trauer und Sehnsucht auslöst, bleibt zunächst im Film wie bereits im Drehbuch der Vermutung des beobachtenden Jungen überlassen: „Ihre Augen waren so voller Schmerz und Verzweiflung, daß ich erschrak. Sie schien es plötzlich eilig zu haben, flüsterte der Solowjowa etwas zu, und wir gingen ins Entree zurück.“24 Erst auf die Szene der Schlachtung des Hahnes, die psychoanalytische Deutungen geradezu provoziert,25 erfolgt im Film der Perspektivenwechsel zur Mutter selbst 21 22 23 24 25

Vgl. dazu Tarkowskij, „Der Spiegel“, 273. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, 149. Tarkowskij, „Der Spiegel“, 35. Ebd., 41. Einerseits drängen sich hier Assoziationen zur männlichen Kastrationsangst auf, andererseits fragt Eva M.J. Schmid in ihren detailreichen Überlegungen zu den optischen und akustischen „Filmgesten“ Tarkovskijs, ob das Schlachten des Hahnes zu einem Initiationsritus gehört, der den Ich-Erzähler zum Mann macht (vgl. E.M.J. Schmid, Erinnerungen und Fragen, in: Andrej Tarkowskij. Reihe Film 39, München 1987, 43–80, hier: 49). In einer weiteren Deutung kombiniert Schmid die Schuldgefühle des Sohnes der Mutter gegenüber mit einem biblischen Motiv: „Wäre es möglich, die ganze Episode als Verrat an dem sich der Mutter schämenden Sohnes aufzufassen? Wird der Hahn auch deshalb geschlachtet, damit er nicht krähen kann? Fliegt er deshalb immer wieder

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– ein Traumbild, das ihren Körper in den Schwebezustand erhebt und sie mit ihrem Ehemann zeigt. Neben der narrativen Entfaltung erinnerter Ereignisse räumt Tarkovskij der Materialität der Erinnerungsräume und der an sie geknüpften sinnlichen Wahrnehmungen einen vorrangigen Stellenwert ein. Um die persönlichen Erinnerungen filmisch darzustellen, verfolgte Tarkovskij das Prinzip der Verräumlichung, wie es für das Erinnern allgemein charakteristisch ist. So ist die Vergangenheit in der individuellen Erinnerung häufig an Orte geknüpft, da diese sinnlich unmittelbar erlebbar sind. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs setzt dem Flüchtigen der Zeit daher die Dauerhaftigkeit des Raumes entgegen, auf der Erinnerungsprozesse aufbauen: […] unsere Eindrücke jagen einander, nichts bleibt in unserem Geist haften, und es wäre unverständlich, daß wir die Vergangenheit wiedererfassen können, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt würde, das uns umgibt. Dem Raum, unserem Raum, in dem wir leben, den wir oft durchmessen, zu dem wir stets Zugang haben und den unsere Einbildungskraft oder unser Denken auf jeden Fall jederzeit zu rekonstruieren fähig ist, müssen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden; auf ihn muß unser Denken sich heften, wenn eine bestimmte Kategorie von Erinnerungen wiederauftauchen soll.26

Der Ausgangspunkt von Tarkovskijs Erinnern sind authentische Orte und Räume seiner eigenen Kindheit. Ein großer Teil der Dreharbeiten fand an Originalschauplätzen statt: In der Moskauer Druckerei, in der die Werke Josif Stalins gedruckt wurden und wo Tarkovskijs Mutter als Redakteurin arbeitete, in Jurevec, wo die Szene der Militärausbildung während des Zweiten Weltkrieges ursprünglich gedreht werden sollte27 oder in Tučkogo, wo die Familie Tarkovskijs die Sommermonate verbrachte. Tarkovskij ließ das Haus dort auf den übrig gebliebenen Fundamenten wieder aufbauen: „Wir rekonstruierten das vom Zahn der Zeit zerstörte Haus mit aller Genauigkeit nach alten Photographien, ließen es auf den erhaltenen Fundamenten an derselben Stelle, an der es vierzig Jahre davor gestanden hatte, wieder ,auferstehen‘“28. Um die Erinnerungen plastisch erscheinen zu lassen, legte Tarkovskij eines seiner Hauptaugenmerke auf die sinnlichen Eindrücke. So filmte er das Haus von innen und außen zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlichen Wetterverhältnissen – bei Wind und Regen, bei Sonnenschein und Nebel. Außerdem ließ Tarkovskij auf dem Feld vor dem Haus Buchweizen aussäen, denn das blühende Buchweizenfeld stellte für Tarkovskij eines der authen-

26 27 28

durch die Erinnerungsbilder des Erwachsenen, um zu demonstrieren, daß der Sohn mit diesem Verrat nie fertig geworden ist?“ (Ebd., 74. [Fußnote 27]) Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M. 1985, 142. Gedreht wurde die Szene dann in Kolomenskoe in Moskau (vgl. Tarkowskij, „Der Spiegel“, 171). Tarkovskij, Die versiegelte Zeit, 153.

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tischen Erinnerungsbilder dar. Wie schwierig es war, die Dreharbeiten auf Faktoren abzustimmen, die von der Natur – von den Jahreszeiten und vom Wetter – vorgegeben waren, lässt sich an seinen Arbeitstagebüchern verfolgen. So beklagt er in einem Eintrag vom 9. Juli 1973, dass die Dekorationen – der Bauernhof – immer noch nicht fertig seien und dass es noch keine Hauptdarstellerin gäbe, obwohl der Buchweizen bereits zu blühen begonnen habe.29 Dass die persönliche Erinnerung des Ich-Erzählers im Zentrum des Films steht, lässt sich aus der Klammer ablesen, die sich aus dem Prolog zu Beginn und der letzten Gegenwartsszene am Schluss ergibt. Der Aussage des stotternden Jungen im Prolog, „Ich kann sprechen!“, steht die Aussage des Ich-Erzählers im Finale, „Ich wollte einfach nur glücklich sein.“ gegenüber. Die Welt der Vergangenheit und Gegenwart mit all ihrer im Filmverlauf aufgezeigten Komplexität versinkt in dieser rätselhaften Schlussszene30 im hermetischen Ich des Erzählers. Ähnlich hermetisch und auf Subjektivität beharrend sind die Traumbilder gestaltet: der schwebende Körper der Mutter, ihre über einer Waschschüssel herabfallenden langen Haare (vgl. Abb. 1), ein metallener Kerzenhalter, der über die Tischplatte rollt und auf den Boden fällt. Abb. 1: Der Spiegel, 1974, Andrej Tarkovskij.

Die scheinbar schwerelosen, durch Zeitlupe verlangsamten Bewegungen der Menschen und Dinge in den Traumbildern sind der Körperlichkeit und sinnlichen Intensität filmisch nachempfunden, die allgemein dem Traum als qualitative Merkmale zugeschrieben werden. Darüber hinaus heben Träume raumzeitliche Kontinuitäten auf, bewirken ein Zusammenziehen und Zerdeh29 30

Vgl. Tarkowskij, „Der Spiegel“, 114. Die Szene spielt in der Wohnung des Ich-Erzählers, der schwerkrank im Bett liegt. Ein Arzt sowie zwei ältere Frauen sind bei ihm. Im Dialog klingt vage die Frage nach Schuld und Gewissen an sowie die Befürchtung des bevorstehendes Todes. In der letzten Einstellung der Szene ist die Hand des Ich-Erzählers am Bettrand zu sehen, aus der er einen kleinen Vogel entlässt, der zum Fenster hinausflattert.

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nen der Zeit, führen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Gleichzeitigkeit zusammen. Schließlich bedeuten Träume und Traumbilder die Freiheit der Subjektivität schlechthin und verhelfen dadurch nicht zuletzt auch einem Autorenkino zur Artikulation, das sich auf die irdisch-materielle Substanz des Filmbildes stützt und die künstlerisch-subjektive „Zeitsuche“ zu seinem „Wesen“ erhebt. Die Traumbilder in Der Spiegel bereiten den Boden für jenen Schwebezustand zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in dem auch die persönlichen Erinnerungen aufgehen. In den Schlussbildern blickt der IchErzähler gleichsam in seine eigene Vorzeit und begegnet seiner Mutter, die ihr erstes Kind (d.h. den Ich-Erzähler) erwartet. Die Idee der Spiegelung, die im Film sowohl als unmittelbares Bild für den Erinnerungsprozess realisiert wird (der Blick in die Vergangenheit als Blick in einen trüben Spiegel, vgl. Abb. 2) wie auch als Metapher für die sich wiederholenden Schicksale über die Generationengrenze hinweg (Mutter und Ex-Frau, Vater und Sohn), kulminiert in der Schlusssequenz in einer Gleichzeitigkeit und Einheit: Nach einem langen Kameraschwenk über Erde, Gras, Wurzelwerk und Holz verfolgt die Kamera die gealterte Mutter, die mit den noch kleinen Kindern über die Wiese spaziert. Abb. 2: Der Spiegel, 1974, Andrej Tarkovskij.

Dieses Moment eines zeitenübergreifenden Erinnerns klingt auch in einem der rezitierten Gedichte von Arsenij Tarkovskij unmittelbar an: „Unsterblich alle. Und unsterblich alles… Das Künftige vollendet sich schon heut“31 (Bessmertny vse. Bessmertno vse… Grjaduščee sveršaetsja sejčas). Die subjektive Qualität der Erinnerung, die Tarkovskij in seinem Film herausarbeitet, besteht damit darin, dass die Zeitwahrnehmung dem individuellen Bewusstsein überlassen wird, das diese entsprechend seinem Rhythmus zu31

Dt. zitiert nach Tarkowskij 1990, 104.

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sammenzieht bzw. zerdehnt. Diese Konzeption von Erinnerung lässt zweifelsohne Parallelen zum philosophischen Denken von Henri Bergson erkennen, das gegen die Möglichkeiten einer naturwissenschaftlichen Fundierung von Subjektivität und Zeitlichkeit gerichtet war. So setzt Hans-Dieter Jünger die Bildwelt Tarkovskijs in Beziehung zur Zeitkonzeption Bergsons und erhebt sie zu einer platonischen Seinserfahrung. Tarkovskijs Filme sind nach Jünger „platonische Anabasen und orphische Reisen ,ins Innere‘ der Zeit“, „Bilder jener durée intérieure, wie sie nach Bergson allererst in einem zeiten-übergreifenden Erinnern erfahren wird, eines solchen Erinnerns, das für Augustinus noch an die ,Ewigkeit‘ heranreicht und in Platons Anamnesis-Philosophie so etwas wie eine unabtrennbare Nabelschnur zum Sein überhaupt darstellt“32. Betrachtet man dagegen Träume unter dem Aspekt der Verdichtung, wie es der Zeitgenosse Bergsons, Sigmund Freud, angeregt hat, so können die Traumbilder Tarkovskijs als unstillbare Sehnsucht des Ich-Erzählers nach einer Rückkehr in die Kindheit bzw. zu seinem eigenen Ursprung und zur pränatalen Einheit mit der Mutter gedeutet werden. Dabei kann die in Der Spiegel imaginierte Begegnung über die Zeiten hinweg, wie auch schon zwischen junger Mutter und erwachsenem Sohn in Solaris, als Teil jenes „Stoffes“ angesehen werden, aus dem die Melancholie und der Weltschmerz in den Filmen Tarkovskijs gemacht sind. Es ist eine Trauer angesichts des in der Zeit unwiederbringlich Verlorenen, wie auch aus dem Drehbuch hervorgeht: Und wenn ich jetzt von den Balkenwänden träume, die die Jahre geschwärzt haben, von der weißen Holzverkleidung, der halboffenen Tür ins schattige Dunkel – dann weiß ich schon im Schlaf, daß alles nur Traum ist, und die überwältigende Freude der Rückkehr in die Heimat verdüstert sich in Erwartung des Erwachens. Gehe ich aber durch raschelndes Laub auf die Haustür zu, behält die Sehnsucht nach Heimkehr die Oberhand, und das Erwachen ist immer unerwartet und voller Trauer…33

5. Das kollektive Gedächtnis Tarkovskij geht mit seiner Vergangenheitsrekonstruktion zwar von der individuellen Erinnerung aus, die Erinnerungsorte und Erzählsujets sprechen jedoch gleichzeitig das kollektive Gedächtnis einer durch den Zweiten Weltkrieg geprägten Generation an. So kann als Referenzrahmen für die Erinnerungsarbeit, die Tarkovskij in seinem Film unternimmt, nicht nur die Zeitkonzeption Bergsons genannt werden, sondern vielmehr auch das Gegen32 33

H.-D. Jünger, Zeitbilder: Zu Andrej Tarkowskijs Poesie des Erinnerns, in: Lettre International 37/1997, 82-84, hier: 82. Tarkowskij, „Der Spiegel“, 64.

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konzept von Maurice Halbwachs, der die Erinnerung als soziales Phänomen betrachtet. Demnach sind die Bilder vergangener Ereignisse niemals vollständig im Gedächtnis abgelegt, sondern werden immer wieder neu und innerhalb sozial determinierter Wahrnehmungsrahmen rekonstruiert: Was für uns dagegen fortbesteht, sind nicht fertige Bilder in irgendeinem unterirdischen Schacht unseres Denkens, sondern innerhalb der Gesellschaft all jene Anhaltspunkte, die notwendig sind, um bestimmte Teile unserer Vergangenheit zu rekonstruieren, die wir uns in unvollständiger und unklarer Weise vergegenwärtigen oder die wir sogar völlig aus unserem Gedächtnis entschwunden glauben.34

Halbwachs stellt jede individuelle Erinnerung außerhalb kollektiver Gedächtnisse in Frage. Vielmehr wird nach seinem Verständnis die individuelle Erinnerung in einem fortlaufenden Prozess um „fremde Beiträge“ erweitert, „die sich, sobald sie Wurzel gefaßt und ihren Platz gefunden haben, nicht mehr von anderen Erinnerungen unterscheiden“.35 Die Mikrosujets in Tarkovskijs Der Spiegel öffnen sich permanent dem kollektiven „Wir erinnern uns“, wie es die Filmhistorikerin Maja Turovskaja formuliert, die selbst wie Tarkovskij der sowjetischen Nachkriegsgeneration angehört.36 Die sozialen Gruppen, die die Erinnerungen Tarkovskijs in ihren eigenen kollektiven Rahmen „wiederfinden“, können weiter eingeengt werden auf das Milieu der künstlerischen Moskauer Intelligencija, die in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs ihre Kindheit erlebte und die in der Tauwetter- und Nachtauwetterperiode eine relativ mächtige Bevölkerungsgruppe bildete. So dominierte sie das kulturelle Leben und trat in Opposition zu Politik und Bürokratie, indem sie sich als geistig-kulturelles Potential verstand und ihre spezifische Aufgabe darin sah, die Gesellschaft diesbezüglich zu bereichern und zu erneuern. Zu ihren „Denk- und Erfahrungsströmungen“37 gehört in Tarkovskijs Darstellung das halb ländliche Leben rund um Moskau – die Datschensiedlungen und Bauernhöfe, wo die Familien die Sommermonate verbrachten,38 oder die Evakuierung und die erlittene Not während des Zweiten Weltkriegs. Neben den spezifischen Lebenssituationen lassen sich an Tarkovskijs Film Verhaltensweisen und Lebensstile von zwei Generationen nachverfolgen. Für die Kriegsgeneration steht vor allem die Figur der Mutter – das Bild der wartenden, rauchenden Frau am Zaun in der Eröffnungssequenz (vgl. Abb. 3) oder das Bild der emanzipierten, alleinstehenden Frau und Mutter, 34 35 36 37 38

Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 62f. Ebd., 63. vgl. Turowskaja 1981: 63. Halbwachs 1985: 50. Bezeichnenderweise war einer der Drehorte Tarkovskijs die prestigereiche Datschensiedlung Peredelkino, wo die herbstliche Szene der Rückkehr des Vaters aus dem Krieg gedreht wurde.

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die mit ihrer Rolle überfordert ist und sich von ihrer Freundin den Vorwurf gefallen lassen muss, sie sei selbstsüchtig und würde ihre Kinder unglücklich machen. Die im Film mehrmals anklingende Problematik der modernen, emanzipierten Frau ist dabei weit weniger der individuellen Rückschau der Mutter geschuldet, als vielmehr der Bewertung und Rekonstruktion des IchErzählers bzw. des Regisseurs selbst. Ihr Konflikt besteht in der Darstellung Tarkovskijs darin, dass sie zwischen Selbstbestimmung einerseits und ihrer „eigentlichen“ Bestimmung der Selbstaufgabe als Frau und Mutter andererseits gespalten ist. Im Kontrast zur anwesenden, „realen“ Mutter erscheint die Vaterfigur im Film als Wunschprojektion des Beschützers und liebevollzärtlichen Vaters. Abb. 3: Der Spiegel, 1974, Andrej Tarkovskij.

Für das Verhalten der Tauwetter- und Nachtauwettergeneration charakteristisch sind das Gefühl der Sinn- und Ziellosigkeit vor dem Hintergrund der politischen Stagnation sowie eine davon geprägte intellektuelle Geschwätzigkeit. Insbesondere dieses Milieu wurde von Tarkovskij pointiert herausgearbeitet, wenngleich er es gekonnt bei einer Fülle von Andeutungen und bei fragmentarischen Ausschnitten belässt – im Unterschied zu den epischen Rückblenden, die in einer kunstvollen narrativen Geschlossenheit präsentiert werden. Ein Charakteristikum der künstlerischen Intelligencija der Tauwetterzeit ist die überaus hohe Bewertung von Kultur, wobei darunter allem voran die traditionelle Hochkultur verstanden wurde. Kultur wurde als homogenes Ganzes gedacht und als Feld der Auseinandersetzung mit der politischen Macht betrachtet. Dabei sah die künstlerische und wissenschaftliche Intelligencija ihre Mission zu einem Teil darin, die Lücken auszufüllen, die in der Gegenwartskultur durch ideologisch bedingte Verdrängung und Tabuisierung

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entstanden waren.39 Dies betraf vor allem auch die Bewahrung des kulturellen Erbes in Form der russischen, aber auch der gesamteuropäischen Kulturtradition. Der Kampf der künstlerischen Intelligencija gegen die literaturpolitischen Machtinstanzen äußerte sich einerseits in der Publikation bzw. Nicht-Publikation eigener Texte, andererseits aber auch in der Nennung von Namen oder der Veröffentlichung von in der Stalinzeit tabuisierten Autoren. Die kulturpolitische Auseinandersetzung in der Sowjetunion, die Tarkovskij am eigenen Leib erfahren musste, wird in einer der Gegenwartsszenen des Films artikuliert. In einem Streitgespräch zwischen dem Off-Erzähler und seiner Ex-Frau klingt die Situation der zeitgenössischen Schriftsteller an, die aufgrund der Zensur zur Untätigkeit verurteilt sind. Gleichzeitig wird der Tätigkeitsbereich des kreativen Schreibens als Sammelbecken talentloser Möchtegern-Literaten kritisiert. Vor diesem Hintergrund wird die Funktion des Buches überhöht eingeschätzt, wie es eine Replik des Ich-Erzählers verdeutlicht: „[…] ein Buch ist nicht einfach Schreiberei und nicht Broterwerb, sondern eine Tat. Ein Dichter ist dazu berufen, seelische Erschütterung hervorzurufen und nicht Götzendiener zu erziehen“ ([…] kniga – ėto ne sočinitel’stvo, ne zarabotok, a postupok. Poėt prizvan vyzyvat’ duševnoe potrjasenie, a ne vospityvat’ idol-poklonnikov). Neben diesen Anspielungen auf den aktuellen Kulturbetrieb lässt Tarkovskij ideologisch ausgegrenzte Themen und verdrängte Bereiche der russischen Kultur in die Dialoge einfließen, wie beispielsweise das biblische Motiv des Dornbusches oder die russische Identitätsfrage des 19. Jahrhunderts in Form der barbarischen, „asiatischen“ Eigenart Russlands – ein Vorwurf, der im 19. Jahrhundert v.a. von europäischen Intellektuellen sowie von der westlich gesinnten russischen Intelligencija erhoben wurde. Diese Zuschreibung klingt in einer ironischen Aussage des Ich-Erzählers über die verpönte Bürgerlichkeit seiner Generation an: „I buržuaznost’ naša kakaja-to dremuče aziatskaja“ (Auch unsere Bürgerlichkeit ist irgendwie zurückgeblieben asiatisch). Die zahlreichen intertextuellen und intermedialen Bezüge, die Tarkovskij in seine Filmwelt einbaut, können einerseits in einem künstlerischen und kunstphilosophischen Sinn gedeutet werden, andererseits aber auch im sozialen Kontext der sowjetischen Intelligencija und ihres Kulturverständnisses. Tarkovskij schafft einen Assoziationsraum der europäischen Kunst- und Kulturtradition, der subjektiv und relativ eng gefasst ist, gleichzeitig jedoch für die Intelligencija der Stagnationszeit eine der wenigen Möglichkeiten darstellte, aus ihrer geographischen und gesellschaftlichen Isolation herauszutreten. In Der Spiegel beispielsweise finden sich musikalische Fragmente von 39

Vgl. F. Thun, Re-Produktion oder Neusetzung: Zum Kulturverständnis der „Šestidesjatniki“, in: Ch. Ebert (Hg.), Kulturauffassungen in der literarischen Welt Rußlands: Kontinuitäten und Wandlungen im 20.Jahrhundert, Berlin 1995, 159–172, hier: 161.

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Bach, Purcell und Pergolesi, in Nostalghia ist es die Musik von Debussy, Verdi und Wagner. Dabei fällt auf, dass die Bereiche der Kunst wie die der Musik auf wenige große Namen reduziert bleiben. Für Soljaris und Der Spiegel sind dies Pieter Bruegel d. Ä. und sein Bild „Jäger im Schnee“,40 während aus dem Bereich der Literatur in Der Spiegel Dantes Divina Commedia zitiert wird.41 Nahezu in alle Filme Tarkovskijs sind dagegen Bezüge zu bzw. direkte Bildzitate von Leonardo da Vinci eingebaut.42 Die demonstrative Einbindung da Vincis ist angesichts des künstlerischen Anspruchs von Tarkovskij, den Film zur dominanten künstlerischen Ausdrucksform des 20. Jahrhunderts zu erheben, vor allem symbolisch zu verstehen, galten doch da Vincis Werke allen nachfolgenden Zeiten als Beispiel höchster Vollkommenheit und Schönheit. Im idealistischen Kunstverständnis Tarkovskijs kommt dem einzelnen Kunstwerk wie der Kunst- und Kulturtradition als Ganzes eine zentrale allgemeine Funktion zu, die darin besteht, die Menschen über ihre eigene Zeitlichkeit zu erheben. In diesem Sinn wird die Kunst zu einem im Menschen wirkenden transzendentalen Prinzip, das insbesondere in modernen, säkularisierten Gesellschaften an die Stelle des religiösen Glaubens tritt. Im Vergleich zum Assoziationsraum der europäischen Kunst- und Kulturtradition weisen die Bezüge zur russischen Kultur ein subversives ideologisch-politisches Potential auf. So wird die russische Kulturtradition als umfassendes kulturelles Gedächtnisses aufgerufen, um jene Bereiche in die Gegenwartskultur zurückzuholen, die durch die sowjetische Ideologie verdrängt und dadurch dem Vergessen überantwortet wurden. Ein prominentes Beispiel dafür stellt die Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rublev dar,43 die neben ihrer ästhetischen Funktion die religiöse Tradition des alten Russland in der Gegenwart aktuell hält. Aus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts fallen in Der Spiegel zwei für die national-russische Kulturtradition nicht minder bedeutende Namen. Zum einen handelt es sich dabei um den 40

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Im Unterschied zu Solaris, wo das Bild als solches abgebildet ist, hat Tarkovskij in Der Spiegel einen Ausschnitt des Bildes in der Szene des Militärausbildners kunstvoll nachgestellt. Die Verse werden im Film von Liza in der Druckereiszene rezitiert, können aber assoziativ mit der Lebenskrise des Off-Erzählers verbunden werden: „Als unseres Lebens Mitte ich erklommen, / Befand ich mich in einem dunklen Wald.“ In Der Spiegel findet der italienische Künstler gleich zwei Mal Eingang: ein erstes Mal durch das Kunstbuch mit Zeichnungen da Vincis, das sowohl Ignat als auch der Off-Erzähler als Kind durchblättert, ein weiteres Mal durch das kurz eingeblendete „Porträt der Ginevra de’ Benci“, das wohl auf die zwiespältige Schönheit der Frau anspielt. In Der Spiegel kehrt die Dreifaltigkeitsikone, die die mehrminütige Schlusssequenz von Andrej Rublev ausfüllt, als Plakatmotiv zu Tarkovskijs Film wieder. Dabei handelt es sich um ein französisches Filmplakat, das die Wand der Stadtwohnung ziert und von der Kamera bei ihrem Schwenk durch die Räume kurz ins Blickfeld kommt.

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Nationaldichter Puškin, der charakteristischer Weise in Zusammenhang mit der russischen Selbstthematisierung des 19. Jahrhunderts aufgerufen wird. Der zweite Name ist der in der Stalinzeit tabuisierte Autor Dostoevskij, der im Dialog gleich zwei Mal angesprochen wird – einmal über die Figur der Marja Timofeevna aus dem Roman Die Dämonen (Besy) in der DruckereiSzene, ein zweites Mal im Gespräch zwischen dem Off-Erzähler und seiner Ex-Frau. Das Drehbuch enthielt darüber hinaus noch eine Szene aus Tolstojs Trilogie Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre (Detstvo, otročestvo, junost’), in der der Abbruch einer alten Kirche geschildert wird.44 Als persönlicher Bezug zur Literatur erscheinen schließlich die Gedichte von Tarkovskijs Vater Arsenij Tarkovskij, die aus dem Off rezitiert werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die filmische Erinnerungsarbeit Tarkovskijs dem kollektiven Gedächtnis der Tauwetter- und Nachtauwettergeneration nicht nur zum Ausdruck verhalf, sondern dass sie dieses zweifelsohne auch formte. Tarkovskij greift kollektiv vorhandene Erinnerungsbilder und sinnliche Wahrnehmungen auf und verdichtet diese zu einer poetischen filmischen Erzählung. Dabei können die effektvollen, an Kitsch grenzenden Bilder von den lichtdurchfluteten Innenräumen eines Holzhauses oder einer verfallenden Moskauer Stadtwohnung als anschauliche Beispiele für die potentielle Wirkung dieser Bildwelten herangezogen werden (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Der Spiegel, 1974, Andrej Tarkovskij.

Durch die vorgenommenen Ästhetisierungen sind die Erinnerungsbilder Tarkovskijs besonders geeignet, in die individuelle Erinnerung der Rezipient/inn/en einzugehen und dort Wurzeln zu fassen, bis sie sich – wie von Halbwachs formuliert – nicht mehr von den bereits vorhandenen Erinnerungen unterscheiden. Abgesehen davon, dass Tarkovskij auf diese Art das kol44

Vgl. Tarkowskij, „Der Spiegel“, 19ff.

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lektive Gedächtnis formt, kann Der Spiegel die Gedächtniskultur der Tauwetter- und Nachtauwetterperiode beleuchten. So spannte Tarkovskij mit seinen Erinnerungsbildern einen Gedächtnisraum auf, der einerseits aus der Kultur Verdrängtes und Tabuisiertes in die Gegenwart zurückholte und andererseits geographisch durch die politisch-ideologischen Grenzen Getrenntes in ein kulturelles Ganzes reintegrierte. Kultursoziologisch betrachtet erfüllen die intertextuellen Bezüge nicht zuletzt auch die Funktion der sozialen Distinktion. So kann die Auswahl der Namen und Werke als Hinweis darauf angesehen werden, welche Traditionen man kennen musste, um sich der künstlerischen Intelligencija oder allgemein jenen Schichten zugehörig zu fühlen, die sich durch ihre Bildung und durch ihr kulturelles Wissen von den anderen unterscheiden. So betrachtet appellieren die Zitate durchaus an die kunsthistorische Bildung der sowjetischen Rezipient/inn/en und sind – insbesondere im konkreten Fall von Breughels Winterlandschaft (vgl. Abb. 5) – nicht nur als „Imago von kindlicher Frühe, Heimat und Geborgenheit“ zu sehen.45 Abb. 5: Der Spiegel, 1974, Andrej Tarkovskij.

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Vgl. dazu die Ausführungen von Kreimeier: „Alle Zitate und Selbstzitate bei Tarkowskij sind Spielmaterial jener hellsichtigen Ratlosigkeit, die uns befällt, wenn es uns scheint, ,als ob alles schon mal gewesen wäre‘. Dies gilt auch für jene Einstellungen, die klassischen Gemälden nach-inszeniert sind. Breughels Winterlandschaft oder Runges Kinderbilder (an die der kleine Sohn der Arztfrau erinnert) appellieren ja nicht in erster Linie an unsere kunsthistorische Bildung; ihre Qualität besteht, wie schon in Soljaris, vielmehr darin, daß sie an jene Imago von kindheitlicher Frühe, Heimat und Geborgenheit rühren, die tief in den Menschen eingelagert ist.“ K. Kreimeier: Kommentierte Filmographie, in: Andrej Tarkowskij, Reihe Film 39, 81-177, hier: 130.

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6. Kulturelles Gedächtnis und offizielle Geschichtsschreibung Halbwachs unterscheidet zwei Formen des Vergangenheitsbezugs, nämlich ein autobiographisches und ein historisches Gedächtnis. Während das autobiographische Gedächtnis auf Vorstellungen von Konstanz und Ähnlichkeit basiert und für eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe identitätsbildend wirkt, hält Geschichte die Veränderungen fest und behandelt die Ereignisse als „scheinbar vergleichbare Elemente“. Dies erlaubt es dem historischen Gedächtnis, objektivierende Aussagen zu treffen und die Ereignisse „wie Variationen eines oder mehrerer Themen untereinander zu verbinden“, um so einen „verkürzten Überblick über die Vergangenheit zu geben“46. Aleida und Jan Assmann rekurrieren in der begrifflichen Trennung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis auf den Theorieentwurf von Halbwachs. Während das kommunikative Gedächtnis nach Jan Assmann ein in der Regel drei Generationen verbindendes Gedächtnis mündlich weitergegebener Erinnerungen darstellt, das als Praxis der „Oral History“ zu verstehen ist, erweitert das kulturelle Gedächtnis den beschränkten Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses durch seine „Alltagstranszendenz“47. Teil der ursprünglichen Konzeption von Tarkovskij war es, nicht nur das autobiographische, sondern auch das historische Gedächtnis in seinen Film unmittelbar mit einzubeziehen. So sah das Drehbuch neben der Szene, in der der Brief Puškins an Čaadaev verlesen wird, auch eine Szene der Schlacht zwischen Russen und Tataren auf dem Schnepfenfeld am Don im Jahr 1380 vor.48 Dabei weisen die beiden historischen Fragmente denselben Referenzrahmen auf, nämlich die Vorstellung von Russland als Bollwerk gegen die tatarische Fremdherrschaft, von der Europa auf diese Weise verschont blieb. Die mit diesem historischen Diskurs verbundene Idee eines nationalen russischen Charakters sowie eines besonderen historischen Schicksals war in der Sowjetunion ideologisch mit einem Tabu belegt. Im Brief Puškins an Čaadaev werden diese Fragen direkt angesprochen, wenn von der historischen Mission Russlands die Rede ist, Europa vor einer Eroberung durch die Mongolen zu bewahren – um den Preis der eigenen Entfremdung und Abgesondertheit von der übrigen christlichen Welt. Die Problematik der russischen Identitätsfrage sollte auch in das Interview mit der Mutter Eingang

46 47 48

Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 73. Vgl. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders.,/ T. Hölscher, (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, 9-19. Vgl. Tarkowskij; „Der Spiegel“, 61ff. In dieser Schlacht trat der Moskauer Großfürst Dmitrij Donskoj als Anführer der vereinigten Heere der russischen Fürsten den Tataren in einem offenen Feldzug entgegen und stellte durch seinen Sieg erstmals die bereits mehr als 100 Jahre andauernde Fremdherrschaft der Goldenen Horde in Frage.

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finden. So lautete eine der zahlreichen Fragen, was ihres Erachtens den russischen Charakter ausmache.49 Abgesehen von diesen Assoziationen zum russischen Messianismus zielte Tarkovskij durch die Integration der Schlacht am Schnepfenfeld auf eine verallgemeinernde Aussage über den Krieg und seine Folgen für die Menschen ab. Diese Aussageintention liefert auch eine Motivation für die montierten Bilder zum spanischen Bürgerkrieg sowie für die geplante Montage von Wochenschaubildern zum Vietnam-Krieg. Während die kritische Haltung Tarkovskijs dem Krieg gegenüber im Film nur angedeutet wird, ist sie im Drehbuch explizit formuliert, und zwar als Kommentar zur Schlacht am Schnepfenfeld: Der Krieg ist anders geworden. Jetzt genügt, um den Menschen zu töten, ein einziger zufälliger Granatsplitter, eine an den Körper schwappende, an ihm festklebende flüssige Napalmflasche, radioaktiver Staub, der mit dem Nebel sinkt oder mit dem Regen fällt.50

Im Film wird das objektivierte historische Gedächtnis in erster Linie durch die Montage von authentischem Dokumentarmaterial repräsentiert, das die Zeit von den dreißiger Jahren bis in die Gegenwart „bezeugen“ sollte. Die Auswahl der Wochenschaubilder war einer jener empfindlichen Bereiche, die Tarkovskij in Konflikt mit der Zensur brachten. Dabei wurde nicht nur die Unmotiviertheit der Aufnahmen der Ballonfahrer kritisiert, sondern vor allem auch die Montage des Kriegsdokumentarmaterials.51 Dass Tarkovskij gerade bei der Präsentation der dokumentarischen Aufnahmen auf heftige Kritik stieß, zeigt die Macht des staatlichen Bildmonopols in der Sowjetunion an und die eng gefassten Grenzen des offiziellen Gedächtnisses. So forderte man von Tarkovskij einerseits eine optimistischere Geschichtsdarstellung, andererseits sollte der Zweite Weltkrieg von jeder Abstraktion befreit werden. Die Forderungen der Zensurinstanzen fanden in den Korrekturen ihren Niederschlag, die Tarkovskij für die Endfassung vornahm. So fügte er dem Wochenschaumaterial über die Stratosphärenballons die Einstellungen über den Empfang von Valerij Čkalov in Moskau an, während die Kriegswochenschauen chronologisch geordnet und um den Empfang der sowjetischen Soldaten in Prag und um die Siegesfeiern in Moskau erweitert wurden.52 Den Mittelpunkt der Dokumentaraufnahmen stellen nach Tarkovskijs eigener Aussage die Bilder vom Marsch der sowjetischen Armee durch den Sivaš-See dar, die die längste dokumentarische Montagesequenz im Film bilden (vgl. Abb. 6). 49 50 51 52

Vgl. Tarkowskij; „Der Spiegel“, 268. Ebd., 63. Ebd., 301f. Ebd., 307.

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Abb. 6: Der Spiegel, 1974, Andrej Tarkovskij.

So beeindruckend diese Aufnahmen aufgrund ihrer Ungestelltheit und ihres zufälligen Zustandekommens auch sein mögen,53 verwundert es dennoch, dass Tarkovskij eben nicht die im Film dargelegte persönliche Erinnerung, sondern eben diese Dokumentaraufnahmen als „das Zentrum, den Nerv und das Herz“ seines Films betrachtet.54 Gleichzeitig wird aus dieser Einschätzung deutlich, dass das offizielle sowjetische Gedächtnis und die Geschichtsvorstellungen Tarkovskijs sehr wohl Berührungspunkte aufweisen. So wird das Individuelle, Partikulare nach beiden Auffassungen in seinem Bezug zum Allgemeinen gedacht und auf diese Weise einer Sinnstiftung zugeführt. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Gedächtnis, dem Tarkovskij in seinem Film Ausdruck verleiht, und dem offiziellen sowjetischen Gedächtnis besteht allerdings im Sinnzentrum. Während nämlich die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung den Zweiten Weltkrieges als Triumph über den Faschismus feierte und die Opfer mit dem dadurch erzielten historischen Fortschritt rechtfertigte, rückte Tarkovskij das menschliche Leiden in

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Die Frage, warum diese Aufnahmen so beeindruckend sind, könnte mit dem von Roland Barthes beschriebenen „punctum“ beantwortet werden. Barthes bestimmt das „punctum“ einer Photographie im Unterschied zum „studium“ als „jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)“, (Barthes, Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M. 1985, 36). Dies kann ein Detail sein, abhängig vom Kontext kann das „punctum“ aber auch eine zeitliche Verdichtung sein, die – wie im Foto eines zum Tode Verurteilten – den Tod in die Zukunft setzt: „ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen“ (Barthes, Die helle Kammer, 106). Auch die Dokumentaraufnahmen bei Tarkovskij beinhalten dieses Moment des gleichzeitigen „das wird sein“ (der Tod der Soldaten) und „das ist gewesen“ (das noch festgehaltene Leben). So ist nach Tarkovskijs eigenen Angaben der Frontkameramann, der dieses Material gefilmt hat, noch am selben Tag gefallen (vgl. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, 151). Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, 151.

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den Vordergrund und betrachtete es als Unterpfand für die Unsterblichkeit des russischen Volkes: Diese Bilder sprachen von jenen Qualen und Leiden, mit denen der sogenannte „historische Fortschritt“ erkauft wird. Von jenen zahllosen menschlichen Opfern, auf denen er letztlich ewig beruht. Es war unmöglich, auch nur für eine Sekunde an die Sinnlosigkeit dieser Leiden zu glauben. Dieses Material sprach uns von der Unsterblichkeit, und das Gedicht Arsenij Tarkowskijs verlieh dieser Episode einen Rahmen, vollendete sie sozusagen.55

Mit der Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs verfolgt Tarkovskij damit weit mehr, als einen Rahmen für das kollektive Gedächtnis seiner Generation zu schaffen. Durch die Montage der Dokumentaraufnahmen rührte er direkt an der Autorität der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung, indem er der Sinngebung und dem Absolutheitsanspruch der sowjetischen Ideologie sein eigenes Erklärungsmodell entgegen hielt, das allerdings nicht minder zentriert war. Tarkovskij ersetzte die vom Marxismus-Leninismus vertretene Doktrin, nach der Geschichte als eine vom Menschen rational steuerbare Fortschrittsbewegung konzipiert war, durch christlich inspirierte Vorstellungen einer sich von Generation zu Generation wiederholenden Prüfung des Menschen durch das Leiden. Diese und ähnliche weltanschauliche Grundpositionen sind ebenso Teil der künstlerischen Arbeit Tarkovskijs wie seine ästhetischen Ambitionen. Die eingangs erfolgte Übertragung des Begriffes des Zeit-Bildes von Deleuze auf die ästhetisch-künstlerische Arbeit Tarkovskijs soll daher abschließend noch einmal in einem ideologisch-weltanschaulichen Kontext betrachtet werden. Im Gegensatz zur monistischen, auf dem Glauben an eine absolute Wahrheit basierenden Weltanschauung Tarkovskijs ist der philosophische Hintergrund von Deleuze der eines postmodernen, relationalen und dezentrierten Denkens. Während Deleuze im modernen Kino Belege für das „Verschwinden des Zentrums“, für die „Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem“ oder für die „Macht des Falschen“ sucht, sieht Tarkovskij in der Filmkunst eine Möglichkeit der Seinserfahrung und Weltaneignung und geht dabei von einer „künstlerischen Einsicht“ aus, die „jedesmal als ein neues und einzigartiges Bild der Welt, als eine Hieroglyphe der absoluten Wahrheit“ entsteht.56 Wenn wir mit Deleuze davon ausgehen, dass das wesentliche Merkmal der postmodernen Zeit darin besteht, „daß wir nicht mehr an diese Welt glauben“ und dass es die Welt ist, „die uns als ein schlechter Film vorkommt“57, dann mag Tarkovskij zwar formalästhetisch dem von Deleuze beschriebenen modernen Kino zugeordnet werden, weltanschaulich könnten die Differenzen jedoch größer nicht sein. 55 56 57

Ebd. Ebd., 42. Deleuze, Das Zeit-Bild, 224.

TANJA ZIMMERMANN

Film als Ornament Emir Kusturicas schwebende Zeit der Zigeuner „Zeitkristalle“ (les cristaux de temps), wie Gilles Deleuze ein synchrones, oszillierendes Nebeneinander von „aktuellen“, „realen“ und „virtuellen“, „imaginären“ Filmbildern bezeichnet, wurden zum signifikantesten Verfahren verdichtender Filmerzählung, als das „Bewegungs-Bild“ (l’image-mouvement) zugleich mit den klassischen Montageverfahren zugunsten des „ZeitBildes“ (l’image-temps) verabschiedet wurde.1 Die Hierarchie von Aktuellem und Virtuellem, die auf einem einheitlichen Zeit-Raum-Kontinuum gründet, wird in Zeitkristallen gebrochen und durch eine ,Demokratie‘ gleichberechtigter, aktueller und virtueller Doppelbilder ersetzt. Ein solcher Verknüpfungsmechanismus ähnelt den Konstruktionsprinzipien des Ornaments. Anhand von Emir Kusturicas Film Zeit der Zigeuner (Dom za vešanje, 1989) wird hier das Ornamentale der Zeitkristalle bzw. das Kristalline des Ornaments untersucht. In der Zeit der Zigeuner werden einzelne Filmbilder schließlich zu einem filmischen Gesamt-Ornament zusammengeflochten. Aus dem Film über die „Zigeuner“ wird ein „Zigeuner“-Flechtwerk. Die Roma auf dem Balkan werden in eine neo-primitivistische Ästhetik eingeflochten.2 Auf die ornamentale Struktur dieses Films hat Peter Handke auf seiner arabesken Reise durch Serbien im Jahre 1995 hingewiesen: Die vorigen Filme des Bosniers aus Sarajewo, etwa Die Zeit der Zigeuner und Arizona Dream, hatte ich einerseits bewundert wegen ihrer mehr als bloß frei schwebenden – ihrer frei fliegenden Phantasie, mit Bildern und Sequenzen so dicht verknüpft und gleichmäßig, dass sie oft übergingen in orientalische Ornamente (was das Gegenteil von Verengung sein konnte), und andererseits hatte ich doch ganz und gar an diesen Bilderflügen vermisst etwas wie eine Erd- oder Land- oder überhaupt Weltverbun-

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Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1997, 95ff; Zum philosophischen Hintergrund der Deleuzeschen Zeitkristalle: Stephen Zepke, Art as Abstract Machine. Onthology and Aesthetics in Deleuze and Guattari, New York London 2005, 101-112; Anne Sauvagnargues, Deleuze et l’art, Paris 2006, 245-248. Zu Kusturicas auf Achsen (oben – unten, links – rechts, vorne – hinten) beruhender Filmästhetik: Dina Iordanova, Emir Kusturica, London 2002, 97-150; Zum ornamentalen Charakter von Kusturicas Zeit der Zigeuner: Verf., Das Leben im ornamentalen Zeitgeflecht: Zeitinseln im Fluss der Zeit, in: Wiener Slawistischer Almanach 55: Festschrift für Johanna Renate Döring, München Wien 2005, 49-66.

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Tanja Zimmermann

denheit, so dass die ganze Phantastik jeweils bald geplatzt war zu augenverstopfenden Phantastereien […].3

Handke bewundert einerseits Kusturicas Ästhetik des Ornamentalen, die ihn gemäß durchaus nicht originellen Balkan-Klischees an einen orientalischen Teppich erinnert, vermisst jedoch in ihrer Weltenthobenheit eine feste Verankerung der Bilder. Handke wirft dem Regisseur vor, das Ornament diene verspielter Phantasterei. Dabei hat das Ornament in Zeit der Zigeuner durchaus nicht nur schmückende Funktion. Es bestimmt vielmehr die Struktur der filmischen Narration, der auf der Leinwand rekonstruierten Zeit. Handke sollte auf seinen Vorwurf gegen Kusturica nicht zurückkommen. Doch zwei Jahre später, im Jahre 1998, sollte sich für den Schriftsteller das Ornament des geographisch-geschichtlichen Territoriums Bosniens und der Herzegowina bemächtigen. In der Nähe von Srebrenica will es ihm scheinen, als würden sich die Zeitstränge der Geschichte sklavisch einer ornamentalen Form unterordnen: Bewegte man sich an der Hand (Hand?) des Geschichts-Studiums zuletzt doch nicht bloß im Kreis, oder eher im Zickzack, und statt mit seiner Hilfe weiterzusehen, in einem Labyrinth, einem fast lichtlosen?4

Die Tragödie von Krieg und Völkermord fügt sich für Handke gnadenlos einer Lebensfigur ein, die den zugleich unvorhersehbar im Zick-Zack springenden wie auch kreisenden, sich zyklisch wiederholenden Gang der Geschichte auf dem Balkan bestimmt. Das Ornamentale kippt aus einem immateriellen, enthobenen Zustand in den materiellen, der die Geschichte bis hin zum Massaker bestimmt.

1. Zeitkristalle in Deleuzes Zeit-Bild Als es in der historischen Entwicklung des Films darum ging, die Zeit im Filmbild einzufangen, sie zu komprimieren, sie zu beschleunigen oder sie umgekehrt ihrer Flüchtigkeit zu entziehen, bedienten sich die Filmemacher zuerst der Darstellung von Bewegung. Die unter allen Bildmedien ausschließlich dem Film eigene Fähigkeit, Bewegung unmittelbar wiedergeben zu können, räumte ihm in der Mediendiskussion Ende der 1920er Jahre eine herausragende Stellung ein: Immer wieder wurde der Film in kontroversen 3 4

Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina, Frankfurt/M., 22f. Peter Handke, Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Frankfurt/M. 1998, 242.

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Debatten auch als die realste aller Künste gepriesen.5 Die Bewegung der agierenden Akteure im Bild oder die von Bildsequenzen, die durch unterschiedliche Montageverfahren dynamisiert wurden, vermittelte die Fiktion, dass der Film einen ganzheitlichen, kontinuierlich mit Zeit erfüllten Raum erschließe. Zeit- und Raumsprünge wurden überbrückt, unterschiedliche Aktionen wieder zusammengeführt. Das Bewegungs-Bild wurde später, wie Gilles Deleuze dargelegt hat, durch eine neue Form des Filmbildes, das Zeit-Bild ersetzt. Im Zeit-Bild hat sich die Zeit von ihrer Bindung an die Bewegung und deren logischer Entfaltung im Raum gelöst. Nicht mehr an ein in der Imagination homogenes ZeitRaum-Kontinuum gebunden, wird die Zeit entfesselt und zu unabhängigen, der Chronologie entbundenen, zersplitterten Zeitkristallen kondensiert. In konkurrierenden Bildern oder Bildsequenzen wird auch die Grenze von Aktuellem und Virtuellem verwischt. Bilder und ihre Doppelgänger unterdrücken den Unterschied von Realität und Fiktion. Das Kristallbild wird durch die grundlegendste Operation der Zeit konstituiert: da sich die Vergangenheit nicht nach der Gegenwart, die sie gewesen ist, bildet, sondern gleichzeitig mit ihr, muss sich die Zeit in jedem Augenblick in Gegenwart und Vergangenheit aufteilen, die naturgemäß voneinander differieren, oder, was auf das Gleiche hinausläuft, sie muss die Gegenwart in zwei heterogene Richtungen teilen, wobei die eine auf die Zukunft, die andere in die Vergangenheit fällt.6

Die Zersplitterung des sukzessiv erschließbaren Zeit-Raum-Kontinuums in derartige Zeitkristalle macht aus den einzelnen Filmbildern autonome, jenseits der Sequenzialität des Filmes simultan existierende Zeit-Raum-Formen. Diese un-zeitlichen, doch mit Zeit erfüllten Chronotopoi7 setzten die Abfolge der Zeit, des sukzessiv erschließbaren Raumes und die kausale Aufeinanderfolge der Ereignisse gemäß Ursache und Wirkung außer Kraft. Zugleich 5 6 7

Adrijan Piotrovskij, Kinofikacija iskusstv, Leningrad 1929; Karl Steinorth (Hg.), Internationale Ausstellung des deutschen Werkbundes. Film und Foto, Stuttgart 1979. Deleuze, Das Zeit-Bild, 111-112. Den Begriff des Chronotopos setzen wir hier bewusst ein, obwohl er in der Deleuzeschen Filmtheorie nicht die Rolle spielt, die ihm in der neoformalistischen Analyse zukommt. Auf der Ebene der Narratologie ergeben sich nach meiner Überzeugung methodische Perspektiven, die ich hier nicht entfalten kann. Der Begriff stammt von Michail Bachtin (Zeit und Raum des Romans/Vremja i prostranstvo romana, unveröffentlichtes Fragment 1937-38, veröffentlicht als Fragen der Literatur und der Ästhetik. Forschungen aus verschiedenen Jahren/Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let, 1975), der damit das räumlich-zeitliche Zusammenfließen zu einer Ganzheit in der Struktur des Erzählens bezeichnet; vgl. Zoran Konstantinović, Chronotopos, in: Aleksandar Flaker (Hg.), Glossarium der russischen Avantgarde, Graz Wien 1989, 146-151; Zur Anwendung des Begriffs Chronotopos im Film: Karl Sierek, Ophüls. Bachtin. Versuch mit Film zu reden, Basel-Frankfurt/M. 1994; Trias-Afroditi Kolohita, Im Rahmen. Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards, Bielefeld 2005, 111-115.

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verliert die Bewegung ihre scheinbare, von dem imaginären Zeit-RaumKontinuum abhängige Organizität und beginnt, willkürlich zu verlaufen. Nicht mehr die Bewegung als kausal verknüpfte Folge von Ereignissen bestimmt die Zeit, sondern die unabhängig davon komponierte, fraktionierte Zeit diktiert umgekehrt die Bewegung. Das Zeit-Bild impliziert nicht die Abwesenheit von Bewegung, sondern die Umkehrung der Hierarchie; nicht mehr die Zeit ist der Bewegung untergeordnet, sondern die Bewegung der Zeit.8

Bereits vor Erscheinen seiner Studien zur Geschichte und Geschichtsphilosophie des Films, Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (Cinéma 1. L’imagemouvement, 1983) und Das Zeit-Bild. Kino 2 (Cinéma 2. L’image-temps, 1985), hat Deleuze ein Begriffspaar zur Erfassung jener Zeitmodelle vorgeschlagen, die den klassischen Gegensatz von mathematischer und erlebter Zeit neu fassen.9 Im Kunstwerk kondensiert, wird die Zeit nach den Formen der Gegenwärtigkeit erfasst. Die Konstruktionen der Zeit im Werk, die Deleuze 1969 analysiert, sind der zyklische Chronos und der lineare Äon. In Logik des Sinns (Logique du sens, Paris 1969) hat er den paradoxalen Diskurs und seine Mittel in Lewis Carrols Alice im Wunderland untersucht. Die Zeit hat Carrol nach Deleuze entweder gemäß dem Chronos oder seinem Gegenpol, dem Äon, strukturiert, um die Logik von Zeit, Raum und Aktion außer Kraft zu setzen.10 Die Zeit bleibt stehen oder sie wird beschleunigt. Räume werden übermäßig ausgedehnt – oder sie schrumpfen. Die Akteure kommen nicht vom Fleck – oder ihr Erleben geht im Flug vorbei. Alles gehorcht dem Diktat von Chronos und Äon. Im Chronos, der „sich verschlingenden“ Zeit, existiert allein die Gegenwart, welche die Vergangenheit und die Zukunft aufsaugt. Die Zeit des Chronos zerfällt nicht in die drei Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern kennt im Grunde nur die stets aktuelle Gegenwart. Chronos zufolge existiert in der Zeit allein die Gegenwart. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden nicht drei Dimensionen der Zeit; nur die Gegenwart erfüllt die Zeit, wohingegen Vergangenheit und Zukunft zwei in der Zeit auf die Gegenwart bezogene Dimensionen sind.11

Dem zirkulären Chronos, der immer wieder aktualisierten Gegenwart, stellt Deleuze eine lineare Zeitauffassung, den Äon, entgegen. Hier spalte sich die 8 9 10

11

Deleuze, Das Zeit-Bild, 347. Walter Mesch, Reflektierte Gegenwart. Eine Studie über Zeit und Ewigkeit bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustinus, Frankfurt/M. 2003. Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt/M. 1993, 88-90, 203-210; Zur Herkunft der Deleuzeschen Begriffe Äon und Chronos: François Zourabichvilli, Le vocabulaire de Deleuze, Paris 2003, 10-13. Ebd., 203.

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Zeit in zwei auseinanderdriftende Strahlen, sodass die aktuelle Gegenwart umgekehrt von der virtuellen Vergangenheit und Zukunft aufgesogen wird. Gemäß Äon insistieren oder substituieren in der Zeit ausschließlich die Vergangenheit und die Zukunft. Anstelle einer Gegenwart, die die Vergangenheit und die Zukunft in sich aufsaugt, eine Zukunft und eine Vergangenheit, die in jedem Augenblick die Gegenwart teilen, sie bis ins Unendliche in Vergangenheit und Zukunft und in beide Richtungen zugleich unterteilen. Oder es ist eher der ganz flache Augenblick ohne jede Ausdehnung, der jede Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft unterteilt, statt in weite und breite Gegenwarten, die in wechselseitigem Bezug die Zukunft und die Vergangenheit umfassen.12

Beide Zeitkonstruktionen führen die geregelte Folge von Zeiteinheiten, die chrono-logisch verlaufende Zeit, ad absurdum, oder sie eliminieren sie vollkommen. An die Stelle der chronologischen Zeit treten die verselbständigten Zeitformen von Chronos und Äon mit ihren autonomen Chronotopoi. Entsprechend dieser Zeit-Raum-Manipulationen werden auch Körper, die in die achronologischen Chronotopoi geraten, unterschiedlichen Verzerrungen ausgesetzt. Im ausgedehnten Chronos treten das Körperliche und das Gegenständliche übertrieben hervor. Körper und Gegenstände, in denen sich die Zeit angesiedelt hat, wachsen zu monumentalen Formen an, die den Raum vollkommen ausfüllen. „In gewisser Weise ist die Gegenwart in Chronos eine körperliche. Die Gegenwart ist die Zeit der Gemische oder Verkörperungen, ist der Prozess der Verkörperung selbst.“13 Im momentanen, augenblicklichen Äon dagegen schwinden dreidimensionale Körper und Gegenstände wie auf einer ebenen Oberfläche. Die minimierte, auf einen kurzen Augenblick beschränkte Zeitdauer lasse keine körperliche Ausdehnung zu. Während Chronos die Aktion der Körper und die Schaffung körperlicher Qualitäten ausdrückte, ist Äon der Ort unkörperlicher Ereignisse und der von den Qualitäten verschiedenen Attribute. Während Chronos von den Körpern nicht zu trennen war, die ihn als Ursachen und Materialien ausfüllten, wird Äon von Wirkungen bevölkert, die ihn heimsuchen, ohne ihn je auszufüllen.14

Chronos erfüllt das Objekt ganz mit Vergangenheit und Zukunft, während Äon es von Zeit entleert. Beide einander entgegengesetzten Vorstellungen einer Gegenwart, die entweder die Zeit verschlingt oder aber von ihr entleert ist, spielen im Film erst dann eine herausragende Rolle, als das Zeit-Bild die kausal oder erzähllogisch verlaufende Zeit des Bewegungs-Bildes abgelöst hat. Die Aktualisierung dieses Begriffspaars als analytisches Instrument stößt sich daran, dass Deleuze selbst diese Terminologie von 1969 in den beiden 12 13 14

Ebd., 206. Ebd., 203. Ebd., 207.

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Filmbüchern von 1983 und 1985 nicht wieder aufnimmt, obwohl sie in den Analysen von virtuellen und aktuellen Bildern nachwirkt. Warum Deleuze die ältere Terminologie nicht wieder aufnahm, ist eine Frage, der hier nicht nachgegangen werden kann. Sie muss an eine philosophische Analyse der Deleuzeschen Begriffsgeschichte weiterverwiesen werden.15 Ohne Zweifel jedoch zog Deleuze zwischen virtuellen und aktuellen Bildern eine weniger scharfe Grenze als zwischen den Verfahren der Zeitkonstitution gemäß Chronos und Äon. Entsprechend werde ich im Folgenden das Begriffspaar nicht als Dichotomie, sondern im Sinne einer Polarität gegenläufiger Verfahren zu aktualisieren versuchen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Nach der Perspektive der Kinobücher würden sowohl Chronos als auch Äon zum Zeit-Bild gehören. Beide charakterisieren unterschiedliche Verfahren der Konstitution von Zeitkristallen. In ihnen ist nicht der Gegensatz von Bewegungs- und Zeit-Bild präfiguriert, sondern eher ein frühes, ornamentales Stadium der Deleuzeschen Filmtheorie. Auf das ältere Begriffspaar greife ich vor allem deswegen zurück, weil es erlaubt, Deleuzes „Zeitkristalle“ gemäß unterschiedlichen Tendenzen zu differenzieren. In dem Text von 1969 erfasst Deleuze die Gegenwart im Kunstwerk – wohl vor dem Hintergrund von Nietzsches paradoxaler Konstruktion des Augenblicks – gemäß räumlicher Geometrien: entweder als ein Kreisen im Chronos, oder als ein Auseinanderdriften im Äon. Diese gegenläufigen Tendenzen der Akkumulation oder der Auflösung des Momentanen bezeichnen Formen, die in allen Künsten – und insbesondere bei Carroll – immer wieder als Ornamente gestaltet werden. Beide Tendenzen entsprechen in bemerkenswerter Weise den Denkformen aus Worringers Abstraktion und Einfühlung (1907), gemäß derer Abstraktion als zentripetale, Einfühlung (und damit Realistik) als zentrifugale Entfaltungsrichtlinien des Kunstwerks gefasst werden.16 Wie die Formen und Materialien im Kunstwerk maximiert, ausgefaltet oder umgekehrt minimiert, eingefaltet werden können, kann auch die Zeit als ausgedehnt, über das Werk hinausweisend oder als komprimiert, im Werk „aufgehoben“, in diesem konstruiert werden. Ähnliche Raum-Zeit-Pähnomene, die Deleuze bei Carroll beschreibt, fanden in den Dreißiger- und Vierziger- Jahren mit dem absurden Diskurs den Eingang in die Literatur und ins Theater.17 Auch im Film löst sich die Logik 15 16

17

Zu Deleuzes Begrifflichkeit: Philippe Mengue, Gilles Deleuze ou le système du multiple, Paris 1994, 241-272; Zepke, Art as Abstract Machine. Verf., Abstraktion und Realismus im Literatur- und Kunstdiskurs der russischen Avantgarde, Wien München 2007 (=Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband 68, Hg. Aage A. Hansen-Löve), 19-66, 76-82, 167-178. Zu Raum-Zeit-Verfahren der absurden Literatur und des absurden Theaters: JeanPhilippe Jaccard, Daniil Charms. Teatr absurda – real’nyj teatr. Pročtenie p’esy Elizaveta Bam, in: Russian Literature XXVII/1990, 21-40; ders., Daniil Harms et la fin de l’avant-garde russe, Bern 1991; Aage A. Hansen-Löve, Konzepte des Nichts im Kun-

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der Zeit, des Raumes und der sie bewohnenden Körper in kreisende oder momentane, in Serien zerlegte Strukturen auf. In kristallinen, filmischen Zeit-Bildern werden die Zeitbegriffe der Logik der Bewegung und des kausalen oder narrativen Verlaufs außer Kraft gesetzt. Montageverfahren, die den kausal-narrativen Bewegungsverlauf nur manipulieren, nicht aber auflösen, werden obsolet, sobald sich die verräumlichte Zeit in Zeit-Bilder spaltet und vervielfacht. Die diachrone Struktur des in einer homogenen Erzählzeit verknüpften Filmsujets geht verloren. An seine Stelle treten zerstreute Stücke im simultanen, verräumlichten Nebeneinander verschiedener Chronotopoi. Neben den beiden Extremformen der Ausdehnung und der Eliminierung der Zeit beobachtet Deleuze noch „eine Vielzahl möglicher Überleitungen, eine Vielzahl unmerklicher oder uneinheitlicher Übergänge“, die von der Krise des Bewegungs-Bildes zeugten und als Bindeglied zwischen den beiden Bildorganisationen vermittelten.18 Solche Übergangsformen sah er in den Bildern einer Bewegung, die sich selbst widerspreche: in der im Leerlauf kollabierenden Aktion, im statischen „Kino des Sehens“ mit verlassenen Räumen, in minimalistischen Szenen und erstarrten tableaux vivants, in gleitender Kameraführung, die nur noch die Aufnahme reiner Fakten leistet, in zu Stücken, Serien und Sequenzen fragmentierten, filmischen Sujets, aber auch in der Aufhebung der Grenze zwischen subjektiven und objektiven, realen und imaginären, körperlichen und mentalen Bildern.19 Dennoch sind Filme nach dem Verzicht auf klassische Montageverfahren nicht weniger organisiert. Der Aufbau beruht vielmehr auf anderen, Zeit und Raum organisierenden Strukturen. Der Film kehrt scheinbar in ein früheres Entwicklungsstadium vor der Entdeckung der Montage zurück, als Aktuelles und Virtuelles, Reales und Irreales nicht hierarchisch, aperspektivisch organisiert worden war. Die von Deleuze beschriebenen Störungen im Bewegungsverlauf, in der räumlichen Entfaltung des Körpers und in der Raumorganisation, die den Übergang des Bewegungs- ins Zeit-Bild markieren, haben erstaunliche Parallelen in früherer, ornamentaler Kunst20 und in ornamentaler Literatur21.

18 19 20

stdenken der russischen Dichter des Absurden (Obėriu), in: Poetica 26/1994, 308-373; ders., Paradoxien des Endlichen. Unsinnsfiguren im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden, in: Wiener Slawistischer Almanach 44/1999, 125-183; ders., Der absurde Körper und seine Tot-Geburt: Verbale Brachialitäten bei Daniil Charms, in: Wiener Slawistischer Almanach 57/2006, 151-230; Michail B. Jampol’skij, Bespamjatstvo kak istok (čitaja Charmsa), Moskva 1998; Ol’ga Burenina (Hg.), Absurd i vokrug. Sbornik statej, Moskva 2004; Neil Cornwell, The absurd literature, Manchester New York 2006. Deleuze, Das Zeit-Bild, 346. Ebd., 11ff. Zum Ornament in der bildenden Kunst vgl. Ernst H. Gombrich, Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stutt-

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In Lob der Filmchronik (Pochvala kino-chronike, 1947) und Primitive and Ornament (1947) parallelisiert Sergej Ėjzenštejn die frühen Entwicklungsstadien der Filmmontage mit der Verflechtung in der Frühgeschichte des Ornaments. Wie die Malerei habe sich auch der Film von einfachen, linearen Verfahren zu immer komplexeren entwickelt. Zwei frühe, noch vorkünstlerische Anfangsstadien – die Felsenmalerei und die Filmchronik – seien das Ergebnis der automatischen Fixierung von Fakten, die keiner einheitlichen künstlerischen Gesamtkonzeption gefolgt sei. Das nächste Stadium der bildenden Kunst sei die Herausbildung, ja Vorherrschaft des Ornaments, das des Films die halbkünstlerischen Filmchroniken, die Kinopravda und der Kinoglaz. Ėjzenštejn beobachtet, dass die eingefügten Elemente gemäß den Gesetzmäßigkeiten des Ornaments – der Reihung von „Gliedern“ (zveno), des „Wiederholungscharakters“ (povtornost’) und der „Verflechtung“ (spletenie) – künstlerisch organisiert und abstrakt gestaltet seien. Die ornamentale Organisation erzeuge „Simultaneität des Raumes und der Zeitfolgen“ (odnovremennost’ prostranstva i vremennoj posledovatel’nosti). Durch Wiederholungen, Reihung und Verknüpfung von eingefügten Elementen wie auch deren Unterbrechung in regelmäßigen Intervallen entsteht im ornamentalen Geflecht ein imaginäres Zeit-Raum-Kontinuum. Der ornamentale Rhythmus, der aus dem Zusammenwirken von Dauer und Wechsel entsteht, manipuliert trotz des sukzessiv erschlossenen Zeit-RaumKontinuums die Wahrnehmung der Zeit. Die Zeit erscheint dem Betrachter als sich verschlingende, zyklische Zeit oder als serieller, unendlicher Rapport von Augenblicken. Ebenso wirken einzelne Elemente, sobald sie sich der ornamentalen Gesamtstruktur unterordnen, trotz ihrer Körperlichkeit als stilisiert und abstrahiert. Sie sind weder organisch in den Raum integriert noch in der Perspektive verankert. All dies macht Ėjzenštejn sowohl für den Film als auch für die ornamentale Literatur und Kunst der historischen Avantgarden geltend.

21

gart 1982; Oleg Grabar, The Meditation of Ornament, Princeton 1992; N. V. Zlydneva, Metafizika ornamenta i suprematizm, in: Russian Literature XXXI/1994, 123-130; Markus Brüderlein (Hg.), Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Basel 2001. Zum Ornament in der Literatur vgl. Viktor Šklovskij, Andrej Belyj, in: Gamburgskij sčet. Stat'i – vospominanija – ėsse (1914-1933), Moskva 1990, 212-239; Peter Alberg Jensen, The Thing as Such: Boris Pil’njak’s ,Ornamentalism‘, in: Russian Literature XVI/1984, 81-100; Jacques Dugast, Der Begriff des Ornaments in der Literatur, in: Gérard Raulet/Burkhart Schmidt (Hg.), Kritische Theorie des Ornaments, Wien Köln Weimar 1993, 142-152; Wolf Schmid, Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Čechov – Babel’ – Zamjatin, Frankfurt/M. Berlin Bern 1992; Erika Greber, Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln Weimar Wien 2002.

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Bevor ornamentale Organisationsprinzipien und -strukturen im Film untersucht werden, soll daher die ornamentale Bild- und Textorganisation betrachtet werden, die die Wahrnehmung von Raum und Zeit steuert. Daher wenden wir uns zunächst der Ornamenttheorie der Jahrhundertwende zu, als das Ornament von einer dekorativen Zutat zum beherrschenden Organisations- und Konstruktionsprinzip avancierte.

2. Gesetzmäßigkeiten des ornamentalen Zeit-Raums An der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert drang das Ornament aus der bildenden Kunst und der Architektur immer stärker ins Forschungsgebiet der Anthropologie, der Mythenforschung, der Soziologie, der Wahrnehmungsund Gestaltpsychologie vor – bis hin zu Versuchen, die Ornamentkunde als autonomes Forschungsgebiet jenseits der Disziplinen zu etablieren. Gleichgültig begegnete man dem Ornament kaum: dem einen galt es als „Verbrechen“, so Adolf Loos,22 oder als Keim der Abstraktion, so Wilhelm Worringer, um zwei Extrempole zu benennen.23 Als belangloses, schmückendes Beiwerk war es nicht mehr geduldet: einmal verbannt, stieg es ein anderes Mal zum zentralen, verschiedene Bereiche des Lebens durchdringenden Konstruktionsprinzip auf.24 Im Folgenden seien vor allem solche Gedankengänge der Diskussion um das Ornament resümiert, die sich auf die Wahrnehmung der Raum-Zeitlichkeit beziehen. Denn einerseits ergeben sich hier Parallelen zur filmischen Gestaltung von „Zeitkristallen“. Andererseits wird deutlich, dass die ornamentale Komposition nicht nur von synchronischräumlichen, sondern auch von diachronisch-zeitlichen Elementen denkbar ist: eine Ornamentalisierung der Zeit, auch der filmischen Zeit. Künstler und Forscher beobachteten, dass der Raum im Ornament seine Dreidimensionalität einbüßt und sich in oszillierende Flächen verwandelt, wenn seine plastischen Formen in einen oszillierenden Zustand mit verschiedenen Lese- und Dekodierungsmöglichkeiten übergehen. Der Kunstphilo22 23 24

Adolf Loos, Ornament und Verbrechen, in: Adolf Opel (Hg.), Trotzdem 1900-1930, Wien 1982, 78-88. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung – Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Dresden 1996. Zum Ornament als Kunstformen übergreifendes Konstruktionsprinzip vgl. Raulet/Schmidt, Kritische Theorie des Ornaments; Ursula Franke/Heinz Paetzold (Hg.), Ornament und Geschichte. Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne, Bonn 1996; Carola Hilmes/Dietrich Mathy (Hg.), Dasselbe noch einmal. Ästhetik der Wiederholung, Opladen-Wiesbaden 1998; Carola Hilmes/Dietrich Mathy (Hg.), Die Magie der Unterbrechung, Bielefeld 1999.

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soph Broder Christiansen, beeinflusst von der Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie, wählt in Die Philosophie der Kunst (1909) zum Gegenstand seiner Forschungen zwei ornamentale Grundformen aus: eine ornamentale Einheit – das Diamantenmuster mit zwei ineinander verschachtelten Quadraten (vgl. Abb. 1) und eine zur Kette verknüpfte Sequenz von einfachen ornamentalen Einheiten – die Zickzackbordüre (vgl. Abb. 2). Abb. 1, 2: Diamantenmuster und Zick-Zack-Bordüre aus Broder Christiansen, Die Philosophie der Kunst, Hanau 1909, 279, 284.

Im Diamantenmuster können beide Quadrate durch die Blickbewegung – durch die Fixierung der Augen auf eines der beiden Quadrate – als Vorderbzw. als Hintergrund gelesen werden. Daraus ergibt sich ein neues, ambivalentes Raumkontinuum mit zwei Lesemöglichkeiten: Zwei ineinander verschachtelte Quadrate bilden eine dreidimensionale Pyramide mit abgeschnittener Spitze, die entweder auf den Betrachter zu oder weg von ihm anwächst. Ebenso zeigt sich die Zick-Zack-Bordüre entweder als ein flaches Muster oder als ein plastischer, geknickter Streifen. Was im Ornament aktuell und was virtuell ist, kann man – wie in Deleuzes Zeit-Bild – nicht entscheiden. Ernst Cassirer sieht in Das mythische Denken (1924) die Gesetzmäßigkeiten des Ornamentalen auch im mythisch-archaischen Denken früher Kulturen verwirklicht. Wie die Raum- und Zeitzusammenhänge ist auch die Differenz zwischen Wirklichem und Vorgestelltem, zwischen dem realen Ding bzw. Körper und seinem zeichenhaften Repräsentanten aufgehoben. An die Stelle realer Grenzen treten imaginäre, durch den ornamentalen Rhythmus neu hergestellte, die zur Störung des Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung beitragen. Konkretion und Abstraktion befinden sich in schwebenden Übergängen, in ständiger Metamorphose.

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Die mythische Welt ist nicht insofern ,konkret‘, dass sie es nur mit sinnlichen – gegenständlichen Inhalten zu tun hat und alle bloß ,abstrakten‘ Momente, alles was lediglich Bedeutung und Zeichen ist, von sich ausschließt und abstößt – sondern sie ist es dadurch, dass in ihr beide Momente, das Dingmoment und das Bedeutungsmoment, unterschiedslos ineinander aufgehen, dass sie hier in eine unmittelbare Einheit zusammenwachsen, ,konkresziert‘ sind.25 […] Der sympathetisch-magische Zusammenhang greift wie über die räumlichen, so auch über die zeitlichen Unterschiede hinweg: wie die Auflösung des räumlichen Beisammen, die physische Abtrennung eines Körperteils vom Ganzen des Körpers, den Wirkungszusammenhang zwischen beiden nicht aufhebt, so gehen auch die Grenzen des ,vor‘ und ,nach‘, des ,früher‘ und ,später‘ ineinander über.26

Wie im Zeit-Bild treten Aktuelles und Virtuelles im ornamentalen mythischen Denken nebeneinander auf, dazu miteinander vermischt. Nicht nur die Koexistenz und die Ambivalenz von Aktuellem und Virtuellem verbinden das Ornament und das Zeit-Bild. Auch die sie bewohnenden Elemente, gleich ob Körper oder Gegenstände, treten ‚als solche‘ auf, d.h. nur als das, was sie sind, herausgelöst aus allen raum-zeitlichen Zusammenhängen. Bereits Wilhelm Worringer analysierte in Abstraktion und Einfühlung – Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1907), wie Gegenstände oder Körper durch abstrakte Stilisierung im Ornament „von allem äußeren Weltzusammenhang erlöst“, „aus dem Fluss des Geschehens herausgerissen“, „von aller Zufälligkeit und Willkür befreit“ in den Bereich „des Notwendigen gehoben“ werden. Von der Zeitlichkeit befreit, negieren sie den dreidimensionalen Raum, die Körperlichkeit, die Stofflichkeit, um sich in Höhe und Breite und in der Fläche auszudehnen. Um einen Punkt arrangiert, ordnen sie sich den linearen Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten anorganischer, kristallinischer Formen unter. Alles ist von der Proportionalität der Teile in der Komposition bestimmt, vom Ausgleich zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften, vom Gleichgewicht zwischen tragenden und lastenden Faktoren. Im Ornament geht es nicht um ein „phantastisches Spiel“, sondern darum, „das Naturbild um jeden Preis in geometrisch-starre, kristallinische Linien hineinzwängen zu wollen“27. Im ornamentalen Fluss werden erwachsene Menschen und Embryonen, ganze Körper und deren Teile gleich behandelt – wie Vasilij Kandinskij beobachtete, der sich in der Phase des Übergangs zur Abstraktion intensiv mit dem Ornament auseinandergesetzt hat.28 Auch für ihn sind im Ornament Anfang und Ende, Teil und Ganzheit austauschbar. Einem weiteren russi25 26 27 28

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1994, 32. Ebd., 59. Worringer, Abstraktion und Einfühlung, 71, 73, 82, 99, 106, 116. Vasilij Kandinskij, Über das Geistige in der Kunst insbesondere in der Malerei, Bern 1973, 116, 117.

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schen Maler der Avantgarde, Michail Matjušin, fiel in Die Erfahrung des Künstlers der neuen Dimension (Opyt chudožnika novoj mery, 1926) auf, dass ornamentale Kunstformen wie die orientalische Kunst, die Volkskunst, die Kunst von „Primitiven“ und von Kindern, es nicht vermöchten, das Dargestellte in den Raum zu integrieren. Stattdessen würden Figuren und Gegenstände instinktiv um ein Zentrum angeordnet. Eine eingeschränkte RaumZeit-Perzeption, die keine mehrdimensionale Vorstellungskraft zulasse, macht Matjušin sogar dafür verantwortlich, dass sich „Naturmenschen“, Bauern und Kinder im vieldimensionalen Stadtleben nicht zurechtfänden.29 Wie im Ornament spaltet sich auch in filmischen, kristallinen Zeit-Bildern der Zeit-Raum in zwei unverbundene, autonome Einheiten. Er erscheint dem Betrachter als ausgedehnt, als sich verschlingender, zyklisch kreisender ZeitRaum mit monumentalen Körpern und Gegenständen, oder aber als serieller, unendlicher Rapport von flachen, raum- und körperlosen Augenblicken. Die Progression der Bewegung wird auf zwei Arten annulliert – durch ewiges Kreisen oder durch unendlichen Rapport. Diese Wirkung des Ornamentalen im Rahmen narrativer Sequenzen haben Viktor Šklovskij,30 Peter Alberg Jensen31 und Wolf Schmid32 anhand von Phänomenen in der ornamentalen Literatur in Russland beschrieben. Šklovskij, der ornamentale Prinzipien in den Romanen des spätsymbolistischen russischen Schriftstellers und Theoretikers Andrej Belyj untersucht, beobachtet, dass unterschiedliche Textsegmente in Belyjs Romanen nicht durch Ereignisse, sondern durch Assoziationen und Erinnerungen verknüpft seien. Durch musikalische Prinzipien wie Klangwiederholungen und Parallelismen werden diese zum „Kreisen wie auf einem Karussell“ gebracht. Die ornamentale Struktur des Textes besteht nach Šklovskij im „Aufeinanderprallen zweier Ebenen im Text“ (stolknovenie dvuch planov), in der Überdeckung der Teile, die ineinander übergehen (načalo odnoj vešči perekryvaet konec drugoj) und in der Aneinanderreihung „unverbundener Teilchen“ (nesvjazannye kusočki). Zerstreute Teile der Fabel stehen simultan nebeneinander, verbunden nur durch eine assoziative, springende Sujetlinie. Die Erzählung erfolgt in „zeitlichen Umstellungen“ (vremennymi perestanovkami), wodurch das Werk in seiner Prozessualität in den Vordergrund tritt. Statt einer geschlossenen Gesamtheit treten einzelne Bilder in den Vordergrund. Belyj schreibe ornamental, in „Winkeln, Kolonnen und Zick-Zack-Linien“33 (uglami, kolonkami, zigzagami).34

29 30 31 32 33

Michail Matjušin, Opyt chudožnika novoj mery, in: Nikolaj Chardžiev (Hg.), K istorii russkogo avangarda, Stockholm 1976, 159-187. Šklovskij, Andrej Belyj. Jensen, The Thing as Such. Schmid, Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Šklovskij, Andrej Belyj, 219.

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In diesem Werk [Belyjs Kotik Letaev] ist die ganze Einstellung auf das Bild gelegt. [...] Die moderne russische Prosa ist zum großen Teil ornamental; in ihr herrscht das Bild über das Sujet.35

Jensen beobachtet, ausgehend von Ėjzenštejns Ornamentforschung, dass im ornamentalen Gefüge an die Stelle der Darstellung eines Gegenstandes dieser ‚als solcher‘ trete. Gegenstände, an sich statisch, würden erst durch den ornamentalen Rahmen als Vehikel dynamisiert. In der Literatur, besonders in den Werken des Schriftstellers Boris Pil’njak, träten als Gegenstände „TextStücke“ hervor, die als Teile eines Leitmotivs in Sequenzen verkettet würden. Solche „Text-Stücke“ (otryvok, vypis) bestünden aus isolierten, „nackten Substantiven“ ohne Adjektive und Personalpronomina. Erst durch rhythmisch-prosodische Mittel würden sie untereinander verknüpft. Zwischen ihnen gebe es keine perspektivischen Verhältnisse, stattdessen herrsche eine Simultaneität des Erzählens ohne jegliche Retrospektive. Dadurch würden „Text-Stücke“ selbst zu Gegenständen, auf die der Text ikonisch oder indexikalisch verweise. Die Stärkung der indexikalischen und ikonischen Ebene des Textes gegenüber der symbolischen entspreche einem mythischen Konzept des Textes, in dem Gegenstand und Zeichen, konkretes Ding und zeichenhafter Text nicht in einem repräsentativen, sondern in einem Identitätsverhältnis stünden. Wolf Schmid sieht im ornamentalen Erzählen eine Schreibweise, in der paradigmatische Zusammenhänge im Vordergrund stünden, syntagmatische dagegen aufgelöst würden. Das Werk baue auf einer Vernetzung von thematischen und formalen Motiven durch Äquivalenzen, Parallelismen und Iterationen statt auf temporal-kausalen Beziehungen auf. Kohärente Sujets, sukzessive zeitliche und kausale Verknüpfungen würden durch unzeitliche Äquivalenzen – Analogien und Assoziationen im Verhältnis der Similarität oder der Opposition – ersetzt. Statische Bilder von Zuständen, Räumen und Situationen würden von einer zirkulären Zeit dominiert, ihre Verhältnisse unterlägen vorrationalen (intuitiven, assoziativen, sinnlichen, unbewussten, unpsychologischen, unperspektivischen) Wahrnehmungen. Da keine zeitlichen und kausalen Verbindungen zwischen verschiedenen Sujetsträngen geknüpft würden, ereigne sich die Erzählung sozusagen in absentia. Der Leser könne nur eine Linie, nicht das gesamte ornamentale Muster rekonstruieren. So könne er den Text durch ein sukzessives erstes Lesen nicht adäquat erfassen und sei zur Reproduktion, zum Erinnerungsakt, gezwungen. Nur durch „gleichschwebende Aufmerksamkeit“, gleich der eines Psychoa34 35

Auch Deleuze spricht in seinem Kino-Buch immer wieder von kristallinen Spitzen und Punkten. „В этом произведении вся установка дана на образ, сюжета почти нет. Š( klovskij, Andrej Belyj, 223.) [...] Современная русская проза в очень большой части своей орнаментальна, образ в ней преобладает над сюжетом.“ (ebd., 227.)

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nalytikers, oder durch multiple Wahrnehmung in verschiedene Richtungen, könne der Text erfasst werden.

3. Zeitkristalle als Ornament in Kusturicas schwebender Zeit der Zigeuner In Kusturicas Zeit der Zigeuner (Dom za vešanje, 1989), wörtlich übersetzbar sowohl als „Ein Haus, sich aufzuhängen“ wie auch als „Ein Haus zum Aufhängen“, lösen sich die Bewegungen, die Handlungen und Motivationen der Akteure von dem Zeit-Raum-Kontinuum einer kausalen Bewegungslogik. Der deutsche Titel des Films, Zeit der Zigeuner, und der englische, Time of the Gypsies, rücken den schwarzen Zynismus der serbokroatischen Version in den Hintergrund und erheben das Zeiterleben der Zigeuner zum eigentlichen Thema des Films. Doch der serbokroatische Titel bezieht sich auf schwebende Zeit, allerdings motivisch – durch Anspielung auf zwei Szenen: eine, in der Perhan, der Held, vergeblich versucht, sich an einem Glockenseil zu erhängen, und eine andere, in der sein Onkel Merdzan das Holzhaus der Familie an einem Seil in die Höhe zieht. In diesen und anderen Augenblicken des Schwebens suspendiert Kusturica mit der Zeit auch die Gesetze der Schwerkraft. Derartige Kristalle einer schwebenden Zeit erfassen letztlich das gesamte Leben der Roma und fügen es in den Rapport einer ornamentalen Zeit. Das Leben – so der Regisseur in Interviews – fließe an den Roma unbemerkt vorbei. Nur zur Zeit ihrer Feste, bei Hochzeiten, am Georgsfest und bei Totenfeiern erwache die Gemeinschaft kollektiv zum Leben.36 Der Lebensfluss der Generationen, die sich in zyklischen Kreisen bewegende Zeit, werde periodisch angehalten. Im Rausch des Festes, das Michail Bachtin in Das Werk von François Rabelais und die Volkskultur von Mittelalter und Renaissance (Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kul'tura srednevekov'ja i renessansa, 1930er, veröffentlicht 1965) und Rabelais in der Geschichte des Realismus (Rable v istorii realizma, 1946) als karnevalistische Strategie der Außerkraftsetzung von hierarchisch aufgebauten Systemen betrachtet,37 gehe 36

37

Vgl. Giorgio Bertellini, Emir Kusturica, Milano 1996, 15: „I gitani non vivono che per queste ceremonie, le nozze, la festa di San Giorgio ecc. Il resto del tempo non vivono. [...] la loro personalità è in armonia con la communità. Non e possibile cogliere presso die loro foto individuali. Si tratta sempre die una foto di gruppo. [...] Il film assomiglia al loro costume tipico.” Michail Bachtin, Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, Berlin, Weimar 1986, 333-336; ders., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Nörd-

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der Zeitfluss von horizontaler Sukzession in vertikale Momentaneität über, in einen ausgedehnten, unfixierten, ins Unendliche gezogenen Augenblick. Das Leben trete aus der Bahn des Gewöhnlichen heraus. Die Zeit erstarre wie in einem tableau vivant, in dem der Augenblick der Ernüchterung verdrängt sei. Die Dauer des Festes ist eine kleine Zeitinsel außerhalb jeglichen Machtbereiches. Hier siegt der Rausch über die Furcht. Vor allem der Karneval ist „das Fest der allvernichtenden und allerneuernden Zeit“38. Die gleiche Zeitstruktur findet Bachtin auch im apokalyptischen Diskurs, der letztlich auf das Ausbleiben des so vehement erwarteten Ereignisses hinausläuft.39 Liest man Kusturica mit Deleuze, so bekämpfen sich in seinem Film die beiden konträren Zeitauffassungen, Chronos und Äon, eine hypertrophe und eine entleerte Gegenwart. Die Zeit wird zuerst angehalten. Anschließend wird der Augenblick in Vergangenheit und Zukunft aufgespalten und auf eine sich entziehende Augenblicklichkeit reduziert. Die Zeit spaltet sich dann in zwei gegenläufige Strahlen. Die zuvor noch übervolle Gegenwart wird auf einen flüchtigen Augenblick reduziert. Bereits im Zeitpunkt der Entstehung ist die Gegenwart im Schwinden begriffen, virtualisiert. Die Protagonisten, die sich in diesen zwei verschiedenen Zeitdimensionen bewegen, werden sorgfältig voneinander getrennt; sie erleiden unterschiedliche Schicksale. Diejenigen, die sich im zyklischen Chronos befinden, sind langlebig, fast unzerstörbar. Den anderen, die im punktualisierten Äon angesiedelt sind, gelingt es nicht, die Grenze von der Kindheit zum Erwachsenenalter zu überschreiten.

3.1. Chronos: Gegenwart als Stillstand der Zeit Die beiden unterschiedlichen Zeitauffassungen machen sich bereits in der ersten Filmszene einer Zigeunerhochzeit bemerkbar. Eine kräftige, maskulin wirkende Braut, für einige Sekunden im tableau vivant der angehaltenen Zeit erstarrt, schlägt enttäuscht auf ihren bis zur Ohnmacht betrunkenen Bräutigam ein und wirft ihm vor, er habe durch die Zerstörung des Hochzeitsrituals zugleich ihr ganzes Leben ruiniert. Das körperliche Erscheinungsbild der nahansichtig Porträtierten und ihre Lebensklage entsprechen dem Chronos, der aktualisierten Gegenwart, die das ganze Leben umfasst. Der ohnmächti-

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lingen 1996; ders., Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Hg. Renate Lachmann, Frankfurt/M. 1998. Bachtin, Literatur und Karneval, 50. Zu apokalyptischen Diskursen vgl. Aage A. Hansen-Löve, Utopija/apokalipsa, in: Pojmovnik ruske avangarde 9/1990, 9-40; ders., Zum Diskurs des End- und Nullspiels bei Dostoevskij, in: Die Welt der Slaven XLI/1996, 299-324; ders., Diskursapokalypsen: Endtexte und Textenden. Russische Beispiele, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996, 183-250.

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ge, schwache Bräutigam, der kurz die Augen aufschlägt, sonst aber das Fest verschläft, gehört dagegen dem anderen Zeittypus, dem Äon, der virtualisierten Gegenwart an. Hatten die italienischen Neorealisten als Symptom der Krise des Aktionsbildes ganze Räume aus der Zeit herausgelöst, so zieht Kusturica nur einzelne Menschen aus dem Zeitfluss heraus. Für Braut wie Bräutigam aber ist auf unterschiedliche Weise der kausal-chronologische Erlebnisfluss suspendiert. In der ersten Szene wird der aktuellen Gegenwart die Ohnmacht als Metapher der virtuellen Präsenz gegenübergestellt. In der zweiten werden Lebenszeitzyklen unmittelbar zum Thema, gebunden an den im Film verdoppelten Film. Irgendwo auf dem Balkan, in einem vorstädtischen Slum, teilen sich drei Generationen ein einziges Zimmer unter einem Dach. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein in diesem Leben, das sich seit Jahrhunderten gleich bliebe, wäre da nicht ein Fernsehgerät. Das anachronistische, Zeit und Raum überspringende Medium wirft die Frage nach der verrinnenden Zeit auf. Auf dem Bildschirm erscheint der Titel einer naturwissenschaftlichen Sendung In Search of the Secret of Life mit dem Bild eines menschlichen Embryos (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Fernsehsendung mit einem Embryo in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

Doch die Bewohner verstehen die englischsprachige Sendung nicht, die dem Geheimnis des Lebens auf den Grund gehen will.40 Der Roma Merdzan singt beim Rasieren eine einheimische Melodie vor sich hin, die zusammen mit dem Ton aus dem Fernsehgerät eine Dissonanz erzeugt (vgl. Abb. 4). Drei kurze Blicke Merdzans stellen die aktuelle Gegenwart der virtuellen gegenüber: 1. Der Blick des Rasierenden auf das eigene Ich im Spiegel verdoppelt die Gegenwart in eine aktuelle und eine virtuelle (vgl. Abb. 4). 2. Der Blick durchs Fenster auf die arbeitende Großmutter fügt mit dem Altern die Zukunft hinzu (vgl. Abb. 5). 3. Der Blick auf den Fernsehschirm mit dem 40

Umgekehrt sollte der Filmzuschauer nichts verstehen, da der Film fast ausschließlich auf Romani gedreht wurde.

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Bild des Embryos weitet den Augenblick auf die (eigene) Vergangenheit bzw. die Zukunft (eines Neugeborenen) (vgl. Abb. 3). Abb. 4: Merdzan beim Rasieren in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

Abb. 5: Die Großmutter bei der Arbeit in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

Die drei Lebensalter des Menschen verweisen auf den Chronos, den Zyklus des Lebens. Die Momentaneität des virtuellen Spiegel- und des Fernsehbildes weist auf die Vergänglichkeit der Gegenwart, den Äon, hin. Die Sequenz der Filmbilder verbindet sich zu einem Zeit-Bild, das als Triptychon aufgebaut ist. Im Laufe des Films wird das Fernsehgerät noch zweimal thematisiert, um die virtuelle Gegenwart der aktuellen gegenüber zu stellen. In einer Sequenz wird gezeigt, wie es auf das Gerät regnet und dieses unbrauchbar, ein Stück Abfall wird. Die Aktualität siegt zeitweilig über die Virtualität, doch nicht endgültig: Nach diesem Verlust spielt Merdzan, verkleidet als Charles Chaplin, der Familie die Szene des Tanzes um den Tisch aus dem Film Goldrausch (Gold Rush, 1925) vor. Der Tramp in seiner Goldgräberhütte, die schließlich den Berg herabstürzen sollte, wird zur Parallelfigur Merdzans und seiner prekären Häuslichkeit. Das Problem der aktuellen Gegenwart wird ins Virtuelle überführt. Ein anderes Mal erscheint das Fernsehgerät bei der Hochzeit. Nach der Rückkehr aus Italien bringt der junge Roma Perhan seinem im Dorf gebliebenen Onkel Merdzan ein Geschenk mit – ein winziges Fernsehgerät, damit er „die Welt in seiner Handfläche halten kann“. Während Perhan die Hoch-

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zeit mit der hochschwangeren Azra feiert, blickt sein Onkel in das Miniaturfilmbild des komprimierten, übertragbaren Zeit-Raums, auf dem das Emblem eines Fernsehsenders erscheint – die Weltkugel als zweidimensionale geometrisch-abstrakte Fläche, als Kreis. Durch die Verwischung des Bildes infolge von Sendestörungen wird die Zerbrechlichkeit der virtuellen Gegenwart noch zusätzlich unterstrichen (vgl. Abb. 6). Nicht einmal über das Fernsehgerät lässt sich eine andere Zeit-Raum-Dimension erreichen. Abb. 6: Fernsehbild mit dem Emblem eines Senders in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

3.2. Zwischen Chronos und Äon: Bewegung in Mustern Die Zirkulation der Zeit konstruiert Kusturica nicht nur auf der Ebene des Sujets mit Hilfe von ornamental funktionierenden Leitmotiven. Das Ambiente und die Bekleidung der Roma bedecken bunte Muster auf Teppichen, Bettdecken, Vorhängen, Wänden und Wandteppichen, Röcken, Blusen und Kopftüchern. Selbst der menschliche Körper dient als Ornamentträger: die tätowierte Hand des Mafiabosses Achmed, die er auf den Kopf Perhans und das Säuglings-Zwillingspaar legt, zum Zeichen, dass er sie verkaufen will – seine zukünftigen Opfer; desgleichen die Körper des verliebten Perhan und besonders der Azras, die den Namen des Geliebten mit Säure in ihre Haut einschreibt. Selbst die Musik, die auf Akkordeon und Flöte gespielt wird oder als Spieluhr aus dem Plüschspielzeug ertönt, greift immer wieder dasselbe Thema auf: rhythmisch reiht sie einzelne Töne in ornamentaler Wiederholung aneinander. Als Perhan mit Hilfe der Telekinese einen Löffel dazu bringt, die Schwerkraft zu überwinden, umkreist dieser mit ornamentalen Zick-ZackBewegungen den Spiegel, in dem sich das Abbild der Stadt zeigt (vgl. Abb. 7).

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Abb. 7: Der telekinetisch bewegte Löffel im ,Tanzschritt‘ um das Spiegelbild der Stadt in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

Der Löffel umkreist das Spiegelbild, wie die Roma an der Peripherie um die Stadt herum ziehen, ohne sie jemals zu erreichen. Die Bewegung des Löffels verdoppelt den geschnitzten Rahmen des Spiegels und das gemalte Muster an der Wand, als wäre alles darauf angelegt, die Roma im Status der ornamentalen Umkreisung zu belassen, ohne dass sie aus dem Parergon jemals im Ergon der Stadt, wie sie im Spiegel erscheint, ankommen. Das Ornament erfüllt im Film also keineswegs nur eine folkloristische Funktion, die dem immer wieder von der Kritik beobachteten „neuen Primitivismus“ Kusturicas entspricht. Es geht über die klischeehafte, anthropologische Bestimmung der Roma als exotisches, ahistorisches, primitives ‚Natur‘Volk hinaus. Wie die spiralförmige Haarlocke Madeleines bzw. Judy Burtons in Alfred Hitchcocks Vertigo, die für die spiralartige Bewegung der Zeit, für Schwindelgefühl und Vergessenheit steht, resümiert das Ornament auch in Zeit der Zigeuner die Zeitstruktur des Films: es repräsentiert den unendlichen Rapport der Zeit und der Spuren eines festgelegten Lebens. Die ornamentale Struktur bestimmt so das Leben der Roma, die in einer paradigmatischen Ordnung, einem fest umrissenen Muster gefangen sind. Generationen folgen einem Schema, das sie wie in einem ästhetischen Zwang wiederholen.41 Rhythmische Reihungen treten als Serien in verschiedenen Zeitumfängen auf, auf der Ebene des Alltags ebenso wie auf der des gesamten Lebens.42 Merdzan wird beim Würfel- und Kartenspiel immer wieder auf 41

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Zum Zwangcharakter des Rhythmischen vgl.: Aage A. Hansen-Löve, Paradoxien des Endlichen. Zur Poetik des Minimalismus in der russischen Dichtung des Absurden, in: Mirjam Goller/Georg Witte (Hg.), Minimalismus. Zwischen Leere und Exzeß, Wien 2001, 133-186; Hans Zitko, Rationalisierung im Dienste der Tradition. Ornament und Serie in der Kunst der Moderne, in: Brüderlein, Ornament und Abstraktion, 59-60. In den 20er und 30er Jahren, der Zeit der aufkommenden Diktaturen, nimmt das Ornamentale an der Stelle seiner schmückenden, befreienden Funktion immer mehr den Charakter des Zwanghaften, des Unfreien an (vgl. Schmid, Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne). Für Siegfried Kracauer (Kracauer, Das Ornament der Masse, in: Das Ornament der Masse – Essays, Frankfurt/M. 1977, 50-63) ist das Ornament ein Mittel, die Menschenmasse in allen Bereichen des Lebens – auf dem Arbeitsplatz, in

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die gleiche Art von seinem Gegenspieler betrogen. Selbst wenn er von einem besseren Leben in Deutschland träumt, kann er sich nicht vom Wiederholungszwang befreien. Wenn er von fünf bis eins zählt, als ob er eine Rakete zünden möchte, springt er doch immer zur Ausgangsnummer fünf zurück. Der Start verschiebt sich, tritt nie ein. Wie Perhan in die Fußstapfen des Mafiabosses Achmed tritt, den er Vater nennt, scheint sein eigener Sohn, der auch den Namen Perhan trägt, wiederum in seine Fußstapfen zu treten, sein Schicksal zu wiederholen: Auf der Begräbnisfeier trägt er die gemusterte Mütze, die einmal dem Verstorbenen gehörte. Wie sein Vater in Italien Gold gestohlen hatte, so stiehlt der Sohn gleichen Namens die Goldmünzen, mit denen einem Brauch folgend die Augen des Toten bedeckt wurden. Perhans Frau Azra stirbt bei der Geburt des kleinen Sohns, wie zuvor Perhans eigene Mutter bei seiner eigenen Geburt gestorben war. Die fast mathematisch präzisen Ereignis-Serien kehren immer wieder an den Ausgangspunkt zurück. Die Zeit und die Bewegung im Raum kreisen wie der Uhrzeiger um die eigene Achse.43 Das Ornament schließt die Roma in die kreisartig aufgebaute, sich wiederholende Struktur eines wenn auch komplexen, so doch letztlich synchronischen Rapports ein – des Chronos, in dem ganze Zeitläufe synchronisch zusammengefasst sind. Das Paradigma des Ornaments schwankt ambivalent zwischen dem Zwang zur Vereinheitlichung und der Partizipation gleichberechtigter Elemente gemäß einem ,demokratischen‘ Prinzip.44 In gleicher Weise ist der Film seiner Struktur nach auf einer Dialektik von letztgültiger Abstraktion und Narrativität im Detail, von alles überhöhender Zeitdauer und Wechsel in der Einzelszene aufgebaut. Wie das Ornament eine konstitutive Rolle bei der Entstehung der Abstraktion in der bildenden Kunst spielte, ihr zur Autonomie verhalf, wird es auch in der Zeit der Zigeuner bei der Herausbildung einer eigenständigen Zeitstruktur, bei der Abstrahierung vom ZeitRaum, eingesetzt. Die Bewegung im Raum wird von den Gesetzen des Ornamentalen beherrscht. Im Leben von Kusturicas Helden herrschen gegenläufige Kräfte, deren Auf- und Ab-, Vor- und Rückwärtsbewegungen mit der Zeitachse spielen. Jede Bewegung im Raum wird von einer ihr entgegengesetzten begleitet,

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Sportveranstaltungen, beim Tanz, in Illustrationen und im Film – dem kapitalistischen Produktionsprozess, der Fabrikation, zu unterordnen. Der menschliche Körper als Teil der ornamentalen Komposition, so Kracauer, verliere seine organischen Eigenschaften und nehme anorganische, mathematische Eigenschaften an. Walter Benjamin (Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1977) sieht im Ornament nicht nur ein Mittel zur Organisation der Mengen, sondern auch zum Ästhetisieren des Politischen. Zur paradoxen Struktur der Wiederholungen: Hansen-Löve, Zur Poetik des Minimalismus in der russischen Dichtung des Absurden. Schmid, Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne.

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deren Kraft sie ausgleicht. Bewegungen im Raum werden wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückgeführt. Selbst als sich Perhan am Seil der Kirchenglocke zu erhängen versucht, folgt nicht der Stillstand im Tod. Sein am Hals aufgehängter Körper bringt die Glocke zum Läuten und schaukelt mit ihr auf und ab, bis der Held durch einen Alten, den das Geläut alarmiert hat, gerettet wird. Sein Sprung in den Tod mit dem Seil um den Hals hat nach der Logik des Ornaments eine Gegenkraft entfaltet, die ihn gegen seinen Willen im Rapport des Lebens belässt. Die Pendelbewegung des Körpers im Raum ersetzt die Pendelbewegung der Uhr, bei der jedes Zurück das Vor aufhebt. So pendelt Perhan zwischen Leben und Tod – ein versöhnliches memento mori, das eher die Aussichtlosigkeit des Sterbens als die des Lebens verdeutlicht (vgl. Abb. 8-10). Abb. 8-10: Perhan beim Versuch, sich zu erhängen in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

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Die auseinanderdriftende – und gerade dadurch in einer immer ausgedehnteren Gegenwart kollabierende – Zeit enthält selbst die im Film gezeigten Gegenstände in komprimierter Form. Ambivalent, in doppelter Funktion treten sie auf, wenn sich hinter ihrer aktuellen Funktion stets noch eine virtuelle verbirgt. Im Sarg, der als Boot auf dem Fluss schwimmt, zeugt Perhan seinen Sohn, bei dessen Geburt seine Frau Azra sterben wird. Zugleich als Ehebett und Wiege hat der Sarg am zirkulären Lebenskreis teil: kaum könnte man im Wiegen auf dem Wasser die entferntesten Schlüsselmomente näher zusammenziehen. Azras Hochzeitsschleier dient ihr als Totenschleier. Kartonschachteln mit eingeritzten Öffnungen für die Augen benutzen Kinder beim Versteckspiel, Erwachsenen dienen sie als Versteck vor der Polizei.

3.3. Das Bewegungs-Bild als Zeitkristall Solange konträre Bewegungen sukzessiv aneinander gereiht werden, bleibt das Deleuzesche Bewegungs-Bild im Detail noch erhalten. Die Bewegung bestimmt indirekt die Zeit, selbst wenn sie durch gegenläufige Bewegungen insgesamt stillgestellt wird. Wenn gegenläufige Bewegungen jedoch in einer einzigen Einstellung simultan fixiert werden, so wird das Bewegungs-Bild selbst zu einem Zeitkristall transformiert. Dies geschieht nun gerade an der symmetrischen Mitte des Films, am tragischen Wendepunkt von Perhans Leben.45 Während der Fahrt im Kleinbus blickt der Held durch das Fenster auf die vorbeiziehenden Bäume, wobei sein Blick zugleich in den Rückspiegel fällt. Die Silhouetten der unbelaubten Äste werden zu einem schwarz-weißen Raster abstrahiert, das an Piet Mondrians Formvariationen auf einen Apfelbaum erinnert (vgl. Abb. 11).

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Auf den Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Teil des Films verwies bereits Bertellini, Emir Kusturica, 62: „In particolare si è insistito sulla notevole differenza fra prima e seconda parte, denunciando false continuità diegetche che dovrebbero congiungere periodi temporali e narrativi molto lontani, in realtà senza alcuna motivazione pertinente. Andrebbe notato, tuttavia, che l'architettura stilistica del film non soffre più di tanto per queste ellissi azzardate, perché l'intera operazione segue sin dal principio diverse traiettorie narrative che la seconda parte accelera o lasia cadere disinvolutura e libertà, senza turbare un equilibrio narrativo che non c'è mai stato perché non è mai stato cercato.“

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Abb. 11: Blick durchs Fenster auf vorbeiziehende Bäume, verdoppelt im Rückspiegel in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

Das Spiegelbild spaltet die Bewegungsströme in zwei simultane, dabei in entgegengesetzte Richtungen auseinanderdriftende Ströme: Die aktuelle Vorwärtsbewegung im unmittelbaren Blick durchs Fenster wird durch eine virtuelle Rückwärtsbewegung im Außenspiegel neutralisiert. Die Landschaft bewegt sich ebenso nach hinten wie nach vorne. Beide gleichzeitig in spiegelverkehrt entgegengesetzte Richtungen verlaufenden Bewegungen werden in einer Bildkomposition vereinigt. Die ,Montage‘ der ineinander geschachtelten Bildelemente nähert sich dem Prinzip des Ornaments in der bildenden Kunst: Die Oberfläche des Bildes wird durchbrochen und fängt an, zwischen Vorder- und Hintergrund zu oszillieren, wobei beide Bildsegmente mit verschiedenen Zeitschichten gefüllt sind. Das aktuelle Bild konkurriert mit dem virtuellen. Die Zeit ist nur scheinbar dem Bewegungs-Bild untergeordnet. Die Vorwärtsbewegung im Raum, verdoppelt im Spiegelbild, beinhaltet bereits eine Rückwärtsbewegung der Zeit, ihre Einfaltung durch die Annäherung an den Tod. Die Zeit in ihrer doppelten Präsenz, aktuell und dabei doch virtuell, Spur der tatsächlich ablaufenden Bewegung und doch eintöniges Muster aller möglichen gleichartigen Bewegungen, transformiert das Bewegungs-Bild in einen Zeitkristall, der beginnt, alle Bewegung insgesamt zu bestimmen. Zwei Bewegungen, die aktuelle und die verdoppelte, virtuelle im Spiegel, tappen hier einander in die Falle. Durch die Symmetrie zweier entgegengesetzter Verläufe wird die Zeit nicht entfaltet, sondern eingefaltet. Die simultane Fixierung in einer Einstellung annulliert gegenläufige Bewegungen in einer alles verschluckenden Gegenwart. Solche Einstellungen sind letztlich keine Bewegungs-Bilder mehr. Denn nicht die Bewegung dominiert das Bild, sondern die Zeit – in ihrem Bestreben, sich selbst zu annullieren. Zeit und Bewegung holt die letztlich statische Synchronie des Ornaments ein. In keinem synchronischen Medium könnte das Ornament seine verharrende, die Zeit aufhebende Kraft so vollkommen demonstrieren wie in der – und gegen die Diachronie des Films.

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3.4. Die schwebende Zeit und der vergebliche Traum von der Schwerelosigkeit des Körpers Dem Diktat des in sich geschlossenen, ornamentalen Zeit-Raums versuchen die Protagonisten immer wieder zu entkommen: sie verhandeln mit einem unbarmherzigen Gott über ihr Schicksal; sie ergehen sich in Wahnvorstellungen vom Fliegen; Perhan versucht, einem Truthahn das Fliegen beizubringen; ja sogar Menschen und Dinge werden vergeblich aufgehängt; schließlich wird die Schwerkraft telekinetisch überwunden.46 Ein aus dem Irrenhaus entflohener Roma wendet sich als Erzähler an den Zuschauer, dem er klagt, Gott sei in den Himmel aufgefahren, da er nichts mit den Zigeunern habe anfangen können. Die Zigeuner-Seele versucht nun, sich in gleicher Weise wie ein Vogel von der Erde zu lösen – ein Vogel, der allenfalls im Wahn fliegen kann. Der spielsüchtige Merdzan versucht vergebens, ein Geschäft mit Gott zu schließen, um mit seiner Hilfe ein einziges Mal gegen den Betrüger zu gewinnen. Doch Gott erhört ihn nicht. Vom Zigeunerdorf aus, das beinahe im Schlamm versinkt, lässt sich eine vertikale Kommunikation mit dem Himmel nicht herstellen. Im Wahn zieht Merdzan die Baracke, in der er mit der Familie wohnt, durch ein am Auto befestigtes Seil in die Luft. Der schwebende Kubus erinnert an Vladimir Tatlins aufgehängte und in ihrem angespannten Zustand verharrende Eck-Konterreliefs (Abb. 12).47 Abb. 12: Baracke, an einem Seil hängend in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

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In seiner Schrift Gott ist nicht gestürzt bringt der ungegenständliche Maler Malevič (Kazimir Malevič, Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik. Herausgegeben und kommentiert von Aage A. Hansen-Löve, München Wien 2004, 81) die Befreiung von der Schwerkraft in Zusammenhang mit Gott: „Im ersten Fall vermute ich demnach in Gott als Ursache für die Schöpfung des Alls die Gewichtsverteilung, die Befreiung im Schwerlosen. Gott legte sein Gewicht ab, oder: Gott als Gewicht zerstäubte sich in das Schwerlose; nachdem er aber das Denken in das Schwerlose zerstäubt hatte, verharrte er selber in Freiheit. Auch der Mensch strebt in allen drei Punkten nach demselben: nach der Verteilung des Gewichts, um selbst gewichtlos zu werden, d.h. in Gott einzutreten.“ Zur Überwindung der Schwerkraft in der bildenden Kunst und zur Entstehung des vierdimensionalen Raumes: Linda Dalrymple-Henderson, The Fourth Dimension and Non-Euclidian Geometry in Modern Art, Princeton 1983, besonders 285, 286.

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Ein anderer Roma hängt seine wütende Frau an einen Nagel an die Wand. Die hängende Frau ruft zu Gott. Perhans Versuch, sich aus Verzweiflung an der Kirchenglocke zu erhängen, misslingt. Erst im Augenblick des Todes, als Perhan in einem Schüttgutwaggon, hier die Metapher einer kurzen Zeiteinheit, weggefahren wird, fliegt ihm in seiner Vorstellung sein weißer, nun endlich einem Engel gleichender Truthahn vom Himmel entgegen. Die Schwerkraft lässt sich nur durch Telekinese überwinden. Nur ihr gelingt es, die Körper dem Zeit-Raum zu entziehen. Mittels telekinetischer Phänomene knüpft Kusturica an frühe Arten der Beschränkung des AktionsBildes wie Traum, Halluzination und Hypnose an, in denen, so Deleuze, die Bewegung der Welt die Stelle der zurücktretenden Bewegung der Figuren einnimmt.48 In Kusturicas Film gerät keineswegs die ganze Welt in Bewegung, sondern nur dynamisierte Gegenstände, die durch Telekinese die Schwerkraft überwinden. Durch seine Begabung versetzt Perhan eine leere Dose, einen Löffel und schließlich eine Gabel in Bewegung. Letztere dient ihm bei seiner Rache an dem langlebigen, unzerstörbaren Mafiaboss Achmed als Mordinstrument. Doch Perhans Versuch, den menschlichen Körper zum Schweben zu bringen, scheitert. Umsonst bemüht er sich, beim Anblick eines Werbeplakats für kalorienarme Ernährung mit der Aufschrift Mangiar bene per sentirsi in forma – das Arnold Schwarzenegger als Model im Augenblick des Luftsprunges zeigt – selber in der Luft zu schweben (vgl. Abb. 13). Immer wieder fällt er zu Boden. Abb. 13: Werbeplakat für kalorienarme Ernährung mit schwebendem Sportler in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

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Deleuze, Das Zeit-Bild, 141-148.

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Der einzige wirklich schwebende Körper ist der von Perhans Frau Azra. Sie schwebt in der Luft im Augenblick der Entbindung ihres Kindes, zugleich der Augenblick ihres Todes (vgl. Abb. 14). Abb. 14: Schwebende Azra mit dem vorbeiziehenden Zug im Hintergrund in Zeit der Zigeuner, 1989, Emir Kusturica.

Die Auf- und Ab-, Vor- und Rückwärtsbewegungen erreichen ihren Kräfteausgleich im Schweben, mitten im Filmbild, als könnten sich auch die Kräfte des entstehenden und verscheidenden Lebens in der Schwebe halten. Aus dem Zeit-Raum-Kontinuum herausgelöst, schwebt Azra, die gebärend Sterbende, in einer zeitlosen Gegenwart, wie in fortwährender Prokreation. Doch in diesem Augenblick fährt im Hintergrund mit großer Geschwindigkeit ein beleuchteter Zug vorbei. Im seriellen Nacheinander der Waggons rauscht die Bewegung durch die Szene als statisches Bild – die Metapher einer beschleunigten Zeit, in der in wenigen Sekunden die Distanz von der Geburt bis zum Tod verfliegt. Als Metapher der verflossenen Zeit sind die Waggons zugleich auch ein Bild des Mediums, des ausgerollten Filmstreifens, und seines normalen Verlaufs, der im Schlüsselbild der sterbend-gebärenden, schwebendverscheidenden Azra außer Kraft gesetzt wird. Als der Zug vorbeigefahren ist, fällt Azra wieder zu Boden: Sie ist tot, das Kind geboren. Chronos wurde durch die Geburt erneuert. Es ist Kusturicas Figuren nicht vergönnt, verschiedene Dimensionen des Zeit-Raums zu durchqueren. Die Herauslösung aus ihrem Kontext ist dem barocken Verfahren des diagonalen Aufbaus entgegengesetzt, bekannt aus der illusionistischen Deckenmalerei, in der die Figuren mehrere Raumschichten erobern. In der barocken Illusionsmalerei hat Deleuze die erste Repräsentation der entfesselten Zeit gesehen – der Zeit, die sich von ihrem Hintergrund befreit und alle Ebenen des Raumes durchquert. Im Bereich des Films sieht er eine Parallele in der Szene des sterbenden Citizen Kane, wo eine Glaskugel wie in manieristischen Spiegelbildern den Kubus des Raumes und die Größenverhältnisse durch Krümmung deformiert. Anders ist die Zeit der Zigeuner entfesselt: Um seine Figuren der Logik des Zeit-Raums zu entziehen, lässt Kusturica sie im Zentrum des Bildes

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schweben. Dort annullieren verschiedene Zeitformen und Bewegungen sich gegenseitig wie in einem Raster aus Horizontalen und Vertikalen – im Bereich des Ornamentalen, in der Schwebe zwischen Bewegungs- und ZeitBild. Um sie von allen Dimensionen zu befreien, um die Zeit zu entfesseln, löst Kusturica die Figur von ihrem Kontext, den er doch, etwa durch die Fenster des vorbeifahrenden Zuges, mit ins Bild setzt. ,Als solche‘ jenseits des Zeit-Raum-Kontinuums schwebend, verkörpert sie im Augenblick des Werdens und Vergehens das Zeit-Raum-Kontinuum des Lebens und seiner Zyklen. In einer solchen Zeit wird jeder Tod zur Geburt, befreit – oder gefangen – durch das Ornament.

BIRGIT BEUMERS

Die Blume im Staub Das Zeit-Bild in Rustam Chamdamovs Anna Karamazoff 1. Einleitung Rustam Chamdamov ist ein Filmemacher, dessen Arbeiten von Mythen, Legenden und Skandalen umgeben ist. 1944 in Taschkent geboren, schloss er 1968 sein Studium am Moskauer Filminstitut ab und feierte sein Debüt mit einem Film, der auf die Stummfilmästhetik zurückging. Der Film trug den Titel Mein Herz in den Bergen (V gorach moe serdce, 1967) und lehnte sich frei an eine Geschichte von William Saroyan an. Sein zweiter Film, Unerwartete Freuden (Nečajannyje radosti, 1974), der auf einem Drehbuch von Andrej Končalovskij und Fridrich Gorenštejn basiert, wurde während der Post-Produktion von Mosfil'm gestoppt und zerstört.1 Das Skript diente dann als Ausgangsbasis für Nikita Michalkovs Sklavin der Liebe (Raba ljubvi, 1975). Im Jahr 1991 stellte Chamdamov Anna Karamazoff (mit Jeanne Moreau in der Hauptrolle) fertig und ließ ihn auf den Filmfestspielen in Cannes vorführen. Die Antwort der Kritiker auf den Film fiel dort eher verhalten aus. In Russland wurde der Film nie freigegeben, und das Negativ verblieb bei dem französischen Koproduzenten Serge Zilberman. Chamdamovs jüngstes Filmprojekt handelt von einer Sängerin, die zur Mörderin wird und trägt den Titel Vokale Parallelen (Vokal’nye parallely, 2005). Der Film Anna Karamazoff sorgte in Cannes für Aufsehen, insofern er mit großen Versprechungen angekündigt worden war; doch verließ der Großteil der Zuschauer den Film schon in den ersten 20 Minuten seiner Vorführung – ein Schicksal, das auch Aleksej Germans Film Chrustalev, Mein Auto (Chrustalev, mašinu) 1998 in Cannes widerfahren war. Im Falle Anna Karamazoff führten diese Umstände allerdings dazu, dass der Film bei dem französischen Produzenten verblieb und nicht in den Verleih kam, während Mosfil'm bei der Eile der Fertigstellung des Films für die Aufführung in Cannes nicht das Negativ, sondern nur den ersten Abzug aufbewahrt hatte. Die wenigen in Russland vorhandenen Filmkopien zeichnen sich deshalb durch eine sehr schlechte Farbqualität aus, wohingegen die französische Kopie nur gelegentlich in Paris gezeigt wird und nicht in den Vertrieb gekommen ist.2 1 2

Nur zwanzig Minuten Filmmaterial haben überlebt und sind von Ilja Minkoveckij, Kameramann bei den Dreharbeiten, editiert worden. L. Arkus, Anna Karamazoff: Izčeznovenie, in: Séance 9/1994, 104-111.

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Anna Karamazoff verfügt über keinen zusammenhängenden, in sich geschlossenen Erzählstrang. Es ist die Geschichte einer namenlosen Frau (gespielt von Jeanne Moreau), die am 24. September 1949 aus einem Gefangenenlager in die Stadt – vermutlich Leningrad – zurückkehrt und sich dort auf die Suche nach ihrer Mutter, Maria Alexandrovna, macht. Sie kehrt zunächst in die Wohnung zurück, in der sie selbst vor dem Lageraufenthalt gelebt hatte, und findet diese von einer usbekischen Familie bewohnt, die auf ihrer Suche nach einem Verwandten in die Stadt gekommen ist. Bei deren Ankunft war Maria Alexandrovna bereits tot. Daraufhin besucht die Frau die Wohnung ihrer Mutter und muss feststellen, dass in der nunmehr zur Kommunalka umfunktionierten Wohnung Vera Ivanovna mit ihren Söhnen lebt. Es stellt sich heraus, dass die Kommode der von der namenlosen Frau gesuchten Mutter samt den Familiendokumenten verbrannt ist. Schließlich besichtigt die Frau einen dritten Ort: ein verlassenes Haus, das von dem Mädchen Marie, ihrem Bruder Alexander und der kindlichen Großmutter Katerina Ivanovna bewohnt wird. (Erinnerungen werden hier wach an die dem Wahnsinn verfallene Katerina Ivanovna aus Dostoevskijs Verbrechen und Strafe und dem Mädchen Marie aus Der Idiot.) Es ist Marie, die, nachdem ihre Eltern bei Kriegsausbruch deportiert wurden und ihre Großmutter den Verstand verlor, die Verantwortung für die Familie übernommen hat. Sie schirmt die Hausbewohner von der Außenwelt ab und weigert sich, Teil einer Gesellschaft zu sein, die ihrer Meinung nach weder Ziel noch Richtung kennt. Im weiteren Handlungsverlauf kommt die Frau dann zu einer Fabrik. Gegenüber der Drehbuchfassung3 – der zufolge sie dort auf zwei betrunkene Männer, Freunde ihrer verstorbenen Mutter, stößt, die sie zu dem Friedhof führen – findet sie im Film selber den Friedhof, indem sie den Anweisungen Maries folgt. Sie legt sich auf das Grab ihrer Mutter, während in unmittelbarer Nähe das Begräbnis eines kleinen Jungen stattfindet. Im weiteren Verlauf wird die Handlung des Films durch den Zwischentitel ,Zeit verging‘(,Vremja prošlo‘) unterbrochen. Die Frau hat das Grab ihrer Mutter gefunden und besinnt sich ihrer Vergangenheit: des Lebens, von dem sie abgeschnitten war. Sie setzt nun ihr Leben in der Gegenwart fort: allein in der Stadt geht sie in ein Kino und sieht dort einen Film, der von einer Schauspielerin handelt. Nataša, so der Name dieser Figur, streift durch die Straßen einer Stadt und fällt vor einem Filmstudio in Ohnmacht. Nataša wird ins Studio gebracht, wo sie von ihrer Vergangenheit träumt, in der sie einen Film irgendwo im Süden des Landes dreht und versucht, Russland durch den Erwerb eines ominösen Teppichs zu retten. In ihrem Traum kann Russland jedoch nicht gerettet werden. Der mit dem Teppich in Zusammenhang stehende Mythos entpuppt sich als Irrglaube. Während Nataša noch immer im Filmstudio liegt und dabei anscheinend zu der Figur eines neuen 3

Veröffentlicht in Kinoscenarii 4/1993, 3-38.

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Films wird, sieht man plötzlich eine ganz andere Sequenz: ihr Fuß ist zwischen zwei Schienensträngen eingeklemmt, auf denen sich ein Zug nähert. Nataša kommt zu Tode (man fühlt sich an Anna Karenina erinnert, die sich vor einen Zug wirft), und der Film ist zu Ende. Die Frau verlässt das Kino und trifft einen jungen Mann, der ihr anbietet, ihren Koffer zu tragen. Sie gehen am Flussufer entlang und kehren zu dem Zimmer des Mannes zurück, nachdem er ihr angeboten hat, dort die Nacht mit ihm zu verbringen. Der junge Mann ist ein von der Gesellschaft isolierter Musiker, der seine Zeit damit verbringt, die Notenseiten für einen Pianisten zu wenden, der eine von ihr verehrte Sängerin auf dem Klavier begleitet. Die Frau erzählt ihm von ihrer Freundin aus dem Gefangenenlager, die sich vor ihrer Verurteilung an einem reichen Mann hatte rächen wollen; sie verstarb jedoch im Lager. Die Frau beschließt nun, an ihrer statt Rache zu nehmen, und mit Hilfe des jungen Mannes vergiftet sie einige Äpfel, die sie in einem Korb zu dem Fremden bringt, der sie mit Anna Karamazoff (die Frau, mit der er sich offenbar verabredet hat, oder vielleicht die Frau aus dem Lager) verwechselt. Er isst einen vergifteten Apfel und stirbt; seine Ehefrau ertappt die Rächerin, als diese die Wertsachen stiehlt, doch kann sie mit einem Koffer voller Beute aus der Wohnung flüchten. Sie nimmt das Diebesgut mit zu dem jungen Mann. Als sie am Abend zusammen mit dem jungen Mann in die Oper geht, wo er der von ihm verehrten 70-jährigen Sängerin Blumen überreicht, schenkt sie einige der Schmucksachen einer Toilettenfrau des Theaterhauses. Sie verlässt daraufhin die Oper, während der junge Mann zurück nach Hause geht. Hier endet der Film. Laut des Drehbuchs suchen die Frau und der junge Mann allerdings noch einmal die Orte ihrer Vergangenheit auf und stellen fest, dass die usbekische Familie inhaftiert worden ist, die verwirrte Großmutter in ein Hospital eingeliefert wurde und der Junge zur Schule geht. In der Drehbuchfassung fungiert die Opernaufführung als ein weiterer ,Film-im-Film‘, als eine weitere Vorführung. Der Film folgt keiner strengen Unterteilung, sondern erscheint als vielfach geschichtet und in sich verwoben. Es gibt zwei Handlungsebenen im Leben der Filmheldin. Dazu gehört erstens: die Suche nach der Gegenwart als eine Fortsetzung der Vergangenheit, die sich ausdrückt: (a) in dem Aufsuchen ihrer alten Wohnung; (b) der Wohnung ihrer Mutter; (c) der Familienfreunde in dem verlassenen Haus, die sie zum Grab auf dem Friedhof führen; [(d) das Aufsuchen der betrunkenen alten Männer in der Fabrik]. Zur zweiten Ebene gehört das Bemühen, in der Gegenwart zu leben, wie durch (a) den Kinobesuch; (b) die Verführung des jungen Mannes; (c) die Mordtat als Rache für ihre Freundin aus dem Gefangenenlager und (d) die Verteilung des Diebesguts an die Armen. Über diesen zwei Ebenen liegt die Verflechtung des Films als ,Film-im-Film‘, wozu (a) die fiktionale Dimension gehört; (b) die Vergangenheit der weiblichen Hauptfigur, verwoben mit dem fiktiven

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Plot des in Produktion befindlichen Films; (c) die Vergangenheit des Regisseurs, der den Handlungsstrang seines (in Russland nicht freigegebenen) Films erzählt; (d) die Vergangenheit Natašas, sowohl im Traum als auch in ihrer Vorstellung, fiktiv und real. Der Film handelt vom Abwesenden: während alle anderen Charaktere einen Namen tragen, bleibt die Titelfigur namenlos. Sie ist nicht Anna Karamazoff, und diese Negation ihres Ichs gibt dem Film seinen Titel. Anstelle der Bejahung eines bestimmten Lebensinhalts und -sinns (der Hauptperson Anna Karamazoff), geht es in dem Film um die Bestimmung der Leerstellen des Lebens (kein Name, keine Gegenwart als Fortsetzung der Vergangenheit).

2. Das Zeit-Bild In den folgenden Ausführungen werde ich mich hier im Besonderen mit dem Konzept der Zeit befassen, wie es in den Bildern des Films Anna Karamazoff zum Tragen kommt, und es im Rahmen von Deleuzes ,Zeit-Bild‘ analysieren.4

2.1. Die Abwesenheit einer Vergangenheit „Der Film“, so die Überlegungen von Deleuze, „präsentiert nicht nur Bilder, er umgibt sie auch mit einer Welt. Aus diesem Grunde war er schon sehr früh auf der Suche nach immer größeren Kreisen, die ein gegenwärtiges Bild mit Erinnerungsbildern, Traumbildern und Welt-Bildern verbinden können.“5 Während das Erinnerungsbild einen kleinen Kreis besitzt, das Traumbild einen erweiterten, so eignet hier dem Welt-Bild der größte Umkreis. Das Erinnerungsbild bezieht sich in der Regel auf die Gegenwart; während das Bild in die Vergangenheit zurückreicht, verbleibt der Erzähler in dem gleichen Raum. Die Ausdehnung der Zeit ist somit nicht an eine Ausdehnung des Raums gebunden. Chamdamov verwendet keine Erinnerungsbilder, sondern arbeitet stattdessen mit den größeren Kreisen des Traum- und Welt-Bildes. Er klammert die sofortige, erinnerbare Vergangenheit aus, die weitaus zu genau für den unbestimmten Zeitverlauf seines Films ist. An die Stelle der Erinnerung setzt er die Abwesenheit einer Vergangenheit: die Titelfigur sucht nach der Vergangenheit als einer Zeit, die der Gegenwart geschichtlich vorausgeht und dabei nur ihre eigene, von der Gegenwart abgetrennte Vergangenheit kennt. 4 5

Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1991. Ebd., 95.

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Demgegenüber wartet Chamdamov mit einer genauen Datierung der Gegenwart in einem Tagebuch auf, die die Hauptfigur des Films in ein Schreibheft einträgt, und dies beinah immer in dem gleichen (virtuellen) Raum: an einem Tisch, bedeckt mit einem Spitzendeckchen, auf dem eine Kanne und einige mit Tee gefüllte Gläser stehen. Das Tagebuch transformiert damit gleichsam die Gegenwart in die Vergangenheit. Die Vergangenheit existiert nur auf dem Papier: die in dem Schrank aufbewahrten Schriftstücke repräsentieren diese Vergangenheit – eingefroren und bedeutungslos. Die übrigen Papiere und Dokumente aus der Kommode sind durch ein Feuer vernichtet worden. Die Thematik der abwesenden Vergangenheit dieses im Jahre 1949 spielenden Films lässt sich auch im Hinblick auf die historischen Umstände erklären: Die späten 40er Jahre waren die Zeit, in der die Vergangenheit buchstäblich ausgelöscht, Biografien umgeschrieben und die Verbrechen Stalins von der offiziellen Historiographie systematisch vertuscht wurden. Chamdamovs Film steht indes nicht im Zeichen der Erinnerung einer Vergangenheit, denn wenngleich es einige Szenen gibt, in denen solche Erinnerungen auftauchen, so versucht die Titelfigur zuvorderst, jene Gegenwart zu finden, von der sie durch ihre Gefangenschaft im Zeitlauf getrennt wurde. Traumbilder werden hingegen auf dem erweiterten Bildkreis erforscht, und hier ist Erinnerung möglich. In der fiktionalen (virtuellen) Welt Natašas – die Doppelgängerin der namenlosen Hauptfigur – ist ihr eine das Geschehen kommentierende Erzählerstimme aus dem Off beigegeben, um die Geschichte der Dreharbeiten des im Süden spielenden Films mit der des Teppichs zu verweben. Das aktuelle Bild hat im Unterschied zum virtuellen keine Vergangenheit. In der Weise, wie Chamdamov die Vergangenheit im Modus temporärer Schichtung gleichsam annulliert – ein Umstand, der durch die Namenlosigkeit der Filmheldin und des jungen Mannes noch verstärkt wird – ist die Vergangenheit nur als fiktive, künstlerische Konstruktion möglich. Die Vergangenheit ist nicht in Bildern erinnerbar, sondern ermöglicht einen parallelen Handlungsverlauf. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit inspiziert die namenlose Hauptfigur jene Orte, an die sie sich erinnert. In der ersten Wohnung, wo usbekische Frauen mit ihren Kindern wohnen, wird ihr in dem für sie unverständlichen Usbekisch von der Vergangenheit berichtet. Die Usbekinnen erzählen der Titelfigur, in der sie die Hauswirtin zu erkennen vermeinen, von ihrer Flucht und bieten ihr an, den Schrank zu öffnen, in dem die Papiere und Schriftstücke lagern. Die Vergangenheit entpuppt sich hierbei als ein chaotisches, papiernes Durcheinander, das ihr aus dem Schrank entgegen gleitet (sehr schön eingefangen vermittels einer in Zeitlupe gedrehten Filmsequenz). Allerdings bleiben der Filmfigur die ihr zugetragenen Vergangenheitsgeschehnisse so unverständlich wie die Auskünfte über Maria Alexandrovna, die der Familie als gutmütige Frau empfohlen worden, bei deren Ankunft jedoch bereits verstorben war.

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In der zweiten von der Hauptfigur aufgesuchten Wohnung reagiert Vera Ivanovna (eine Verwandte oder Freundin der verstorbenen Maria Alexandrovna) zunächst mit kindlich verstellter Stimme auf das Klingeln der Türschelle. Sie und ihre erwachsenen Söhne verstecken sich dort vor dem Inspektor, der ihnen wegen Stromdiebstahls nachstellt – eine Tat, die auch das Feuer verursacht hat, in dem die Kommode samt den Dokumenten und Fotos in Flammen aufging. An die Hauptfigur, den Sohn wie auch an die Nachbarin gewandt, wiederholt Vera nun fortwährend die gleiche Geschichte über Marias Tod, ihren letzen Willen, den Stromdiebstahl, das Feuer, die Kommode etc. Durch diese ständige Wiederholung reduziert sich ihr Sprechtext auf einen bedeutungslosen Singsang von Wörtern. Diese Absurdität erfährt ihre Steigerung des Weiteren auch in dem, was sie sagt. In der Weise, wie sie perennierend erklärt, dass die Kommode in Flammen aufgegangen ist, redet sie beständig über einen Gegenstand, der schon gar nicht mehr existiert. Das Ergebnis ist ein grotesk anmutender Vortrag über die Geschichte eines Möbelstücks, das anscheinend im Mittelpunkt einer Eigentumsdebatte steht, aber gar nicht mehr vorhanden ist. Die Vergangenheit hat sich mit ihm in Asche aufgelöst. Die ganze Szene ist gekennzeichnet von Slapstick und Theatralizität: wie sich Vera Ivanovna zuerst mit einer Kinderstimme zu verstellen sucht und später einen Topf Nudeln über ihren Kopf geschüttet bekommt, so deklamiert sie schließlich in endloser Wiederholung einen sinnlosen Text, als habe sie ihn wie eine Rolle auswendig gelernt. Mit Deleuze lässt sich hier festhalten, dass Theatralizität eine Möglichkeit ist, das aktuelle Bild zu reflektieren. Ein Gesichtspunkt, von dem weiter unten noch die Rede sein wird. In dem verlassenen Haus erzählt Marie der Hauptfigur eine weitere Geschichte. Maria Alexandrovna habe sicherstellen wollen, dass sie und ihr Bruder zu Schule gingen, wohingegen Marie, die weiter in der Verantwortung für ihre Familie bleiben wollte, dies ablehnte. Marie behauptet, dass sie Maria Alexandrovna bei einem Besuch tot aufgefunden und anschließend auf dem Friedhof begraben habe. Als sich Marie darüber im Klaren wird, dass sie aufgrund ihres Berichts den sicheren Hafen ihres Zuhauses verlassen müsste, um die Filmheldin zum Friedhof zu führen, behauptet sie, die ganze Geschichte nur erfunden zu haben. In der Fabrik (die die Titelfigur im Film aufsucht, die sie aber verlässt, bevor sie die Männer findet, die sie dort sucht) wird die Lebensgeschichte Maria Alexandrovnas durch den Bericht zweier betrunkener Männer um eine weitere Variante ergänzt. Keine dieser verbal evozierten Erinnerungen erweist sich aber als wirklich zuverlässig: Fremdsprachen, Theatervorstellungen, Erfindungen und Alkohol präsentieren sich als Bruchlinien in einem Spiegel, die ein unebenes Bild der Vergangenheit schaffen und die Filmheldin daran hindern, die Gegenwart als eine bruchlose Entwicklung der Vergangenheit erkennen zu können – eine Vergangenheit, die, obschon sie zu ihr gehört, außer Reichweite

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steht (es ist die Zeit, die sie anderswo verbrachte, eine Vergangenheit, die an einem anderen Ort beschlossen liegt). Ein Vergangenheitsstrang steht im Einklang mit dem Raum, während der andere von der Vergangenheit der Hauptfigur räumlich abgetrennt ist. Als die namenlose Heldin des Films schließlich den Friedhof erreicht, ist sie wiedervereinigt mit ihrer verlorenen Vergangenheit und ihrer Gegenwart. Nach dieser Verschmelzung ihrer Lebenszeit und der Zeit des Lebens, das sie hätte führen sollen oder können (ihre aktuelle und virtuelle Zeit), ist die FilmZeit unterbrochen. Wenn für Deleuze das aktuelle und virtuelle Bild in ständiger Bewegung und im Austausch zu einander stehen (was, wie zu zeigen sein wird, im ersten Teil des Films der Fall ist), dann haben wir hier einen Punkt erreicht, in dem die Bilder koinzidieren: „das aktuelle optische Bild [kristallisiert] mit seinem eigenen virtuellen Bild [...]. Wir haben es hier mit einem Kristallbild zu tun.“6 Während man bis jetzt den Eindruck hatte, dass die Ereignisse im Film innerhalb eines einzigen Tages stattgefunden haben, erreicht der Zeitverlauf nunmehr seinen Verschmelzungspunkt: die Filmheldin sieht einen Regenbogen über einem Feld. Eine Zwischeneinblendung durchbricht die Linearität der bisherigen Handlung mit dem Hinweis, dass ,Zeit verging‘. Die verbleibenden Szenen des Films sind in der Absicht, die Zukunft der Heldin zu bestimmen, ihrem Leben in der Gegenwart gewidmet. Das Kristallbild wird durch die grundlegendste Operation der Zeit konstituiert: da sich die Vergangenheit nicht nach der Gegenwart, die sie gewesen ist, bildet, sondern gleichzeitig mit ihr, muß sich die Zeit in jedem Augenblick in Gegenwart und Vergangenheit aufteilen, die naturgemäß voneinander differieren, oder, was auf das Gleiche hinausläuft, sie muß die Gegenwart in zwei heterogene Richtungen teilen, wobei die eine auf die Zukunft hinstrebt und die andere in die Vergangenheit fällt.7

Diese Gegenwart ist jedoch weit weniger real als die Suche nach der Vergangenheit. Während der Nachforschungen zu ihrer Lebensgeschichte wurde die Filmheldin von einer alten, ganz in Schwarz gekleideten Frau verfolgt, die die Kappe eines Hasenkostüms trug; nun sieht man die Hauptfigur selbst einem Kind nachgehen, das ein sehr ähnliches Kostüm in Weiß trägt. Ihre Vergangenheit wieder gefunden (repräsentiert durch die alte Frau), läuft sie der Jugend nach (zunächst dem Kind in der Hasenverkleidung, später dem jungen Mann). Mit Deleuze gesprochen reicht dieses Bild in die Zukunft hinein, auch wenn es in Chamdamovs Film keine zwei heterogenen Richtungen gibt, die zeitgleich existieren. Die Richtung, die in die Vergangenheit führte, hat die Gegenwart erreicht und die Ausrichtung auf die Zukunft hin wird erst im Nachhinein deutlich.

6 7

Ebd., 96. Ebd., 111.

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Im zweiten Teil des Films sucht die Titelfigur ein Kino auf. Die Erfahrung ihrer eigenen (Vergangenheits-)Suche wird dabei (als Suche nach der Zukunft) in die auf der Leinwand statthabende Fiktion übertragen, wobei die zu Natašas Teppich-Geschichte gehörige Traumsequenz darauf verweist, dass bei der Sinn- und Inhaltssuche nur in sich verschlungene Ornamente zu entdecken sind. Wie dieser Kinobesuch zu der Bekanntschaft mit dem jungen Mann führt, so finden sich nunmehr auch Anzeichen eines ausschweifenden Lebenswandels der Titelheldin. Deuteten – abgesehen davon, dass sie einen weißen Regenmantel, einen eleganten Hut mit Schleier und schwarze, hochhackige Schuhe trägt – zuvor nur ihr Rauchen und ihre zerrissenen Strümpfe auf einen Mangel an Stil und Benimm hin, so tauchen angesichts ihres jetzigen Verhaltens sogar Zweifel an dem Grund ihrer Gefangenschaft auf: sie verführt den jungen Mann; sie spannt ihn in ihre kriminellen Machenschaften ein; sie vergiftet einen Mann und erschießt wahrscheinlich dessen Ehefrau; und sie stiehlt deren Wertsachen (auch wenn sie diese später unter den Armen verteilt). Sie handelt kaltblütig wie eine Verbrecherin, die genau weiß, wie man in solchen Dingen vorzugehen hat. Sie nimmt Rache – nicht für sich selbst, aber für eine befreundete Frau aus der Zeit ihrer Gefangenschaft (Anna Karamazoff?). In Ermangelung eines eigenen Lebenssinns macht sie sich mit der Durchführung der Racheaktion die Absicht einer anderen Person zu Eigen und liefert damit einen echten Grund für ihre Gefängnisstrafe (es ist anzunehmen, dass sie unschuldig im Gefängnis saß: als Opfer Stalin’scher Willkürakte). In der Gegenwart liefert sie die Gründe für ihre Vergangenheit: die Vergangenheit, welche sie gegenüber derjenigen, die sie in der Stadt nicht länger zu finden vermag, wirklich gelebt hat. Chamdamov deckt die zeitlichen Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft mittels eines naiv anmutenden Bildes des Kindlichen und Greisenhaften auf. Das verkehrte Beziehungsverhältnis zwischen dem Kind und der Großmutter, Marie und Katerina Ivanovna, ist ein Beispiel; das zwischen dem jungen Mann und der weiblichen Hauptperson mittleren Alters ein weiteres für die Verkehrung des Zeitverlaufs. Die schwarz gekleidete alte Frau mit ihrer Hasenkappe und die Hasenverkleidung des Kindes in Weiß weisen metaphorisch auf den Beziehungswechsel von Vergangenheit zu Zukunft zwischen Teil I und II des Films hin. Bei Chamdamov ist die Vergangenheit eine nur narrativ vermittelte Form der Erinnerung (so erfolgt die Erinnerung an Maria Alexandrovna durch verschiedene Personen), die aber auch als solche unzuverlässig und flüchtig ist. Sie ist von der Gegenwart abgetrennt, so dass dadurch die Zeitfolge unterbrochen wird. Die weibliche Hauptperson kann die Vergangenheit (in der Stadt) nicht mit der Gegenwart verbinden, und ihre Vergangenheit (die Gefängnisstrafe) entspricht nicht ihrem Charakter. Die Erinnerung dupliziert die Zeit, aber sie spaltet dabei sowohl die Vergangenheit von der Gegenwart als

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auch die Gegenwart von der Vergangenheit ab, wie sie schließlich auch die Charaktere spaltet. In der Gegenwart erfährt die Hauptfigur eine Abtrennung ihres Handelns von ihrem Charakter: sie verhält sich wie eine Kriminelle und führt die Handlungen aus, die vermutlich das Los einer anderen Person sind: Anna Karamazoff. Die Protagonistin des Films ist von der Zeit (in ihrem Verlauf) abgetrennt und somit auch mit sich selbst entzweit. Abb. 1: Natal'ja Leble als Anna in Anna Karamazoff, 1991, Rustam Chamdamov.

2.2. Das aktuelle und virtuelle Bild Für Deleuze besitzen die Bilder zwei Seiten: eine aktuelle und eine virtuelle. Das Kristallbild resultiert aus dem Bewegungsaustausch zwischen diesen beiden. Verschiedenartig, aber ununterscheidbar sind das Aktuelle und das Virtuelle, die sich unentwegt austauschen. Wenn das virtuelle Bild aktuell wird, dann ist es sichtbar und rein wie im Spiegel oder in der Festigkeit des vollendeten Kristalls. Aber das aktuelle Bild wird seinerseits virtuell, sieht sich auf anderes hin verwiesen, unsichtbar, undurchsichtig und dunkel wie ein kaum aus dem Boden gewachsener Kristall.8

Aktuelle und virtuelle Bilder sind ununterscheidbar, aber verschieden; das eine verweist wie ein Spiegel auf das andere. Deleuze spricht in diesem Zu8

Ebd., 98.

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sammenhang von einem Übergang des Virtuellen und Aktuellen, die beide auf eine temporale und visuelle Reflexion verweisen. Bei den von Chamdamov zur Anschauung gebrachten Bildern erweist sich weniger der Bezug von Vergangenheit und Gegenwart als das Verhältnis von Kunst und Leben als Achse des Films. Anna Karamazoff beginnt mit einer Sequenz, die auf einem mondbeschienenen, vom Wind leicht bewegten Feld spielt. Ein Mann bestreicht seinen ganzen Körper mit Lehm, nimmt Pfeil und Bogen in die Hand und rennt einem vorbeifahrenden Zug (worin die weibliche Hauptfigur des Films sitzt) entgegen. Einerseits können wir die Gegenwärtigkeit der Kräfte der Natur (der Mond, das Rascheln des Windes) als temporale Schicht der Ewigkeit interpretieren. Andererseits stellt der lehmbedeckte Mann zugleich eine Art Kunstwerk, eine Statue dar, die sich verlebendigt. Durch dieses Bild bricht Chamdamov die Grenze zwischen Kunst und Leben. Der auf dem Körper des Mannes aufgetragene Lehm ist flüssig, dann weich und geschmeidig, aber nicht hart und brüchig. Der Mann verharrt nicht in statuarischer Leblosigkeit, sondern zeigt sich, ganz im Gegenteil, äußerst agil. In dieser Sequenz erweckt Chamdamov ein mythisches Bild gleichsam zum Leben und erweitert so den temporalen Kreis, der nun einen größeren Zeitkreis umfasst: den von Ewigkeit und Beständigkeit. Das Verfahren Chamdamovs ist hier nicht unähnlich zu der in Pasternaks Gedicht Stern der Weihnacht (Roždežstvenskaja zvezda , 1947) stattfindenden Transposition der Geburt Christi in ein sibirisches Dorf. Im Kontext dieser Betrachtung lässt sich das verlassene Haus als Museum sowohl für die darin anzutreffenden Kunstgegenstände als auch für die Vergangenheit betrachteten: ein Ort der Gegenwärtigkeit. Es ist von einem überwuchernden Garten und einem Tor umgeben, so als gehöre es zu einer anderen Welt (fern der Häuser in Leningrad mit ihren Treppen und Geländern). Insoweit das Haus aber als Ort musealer Präsenz überfüllt ist mit Einrichtungsgegenständen aller Art, verflüchtigt sich zugleich jeder tiefer gehende Sinn (wie die bedeutungslosen Muster auf dem Teppich in der geschilderten Traumsequenz, der letztendlich keine Funktion hat). In dem Haus finden sich jede Menge Tische, auf denen Krüge, Gläser, Obstschalen, Kelche sowie Deko-Schwäne stehen und die mit Spitzendecken bedeckt sind, und es gibt eine große Anzahl von Gemälden. Bemerkenswert sind dabei vor allem die abstrakten, der konstruktivistischen und suprematistischen Periode entstammenden Arbeiten von Malevič und Kandinsky, die in der ganzen Wohnung verteilt sind: sie hängen an der Wand oder stehen auf dem Fußboden. Damit wird auch klar, weshalb die Eltern Maries verschwunden sind: die Gegenstände gehörten einer wohlhabenden Familie, und das private Sammeln von Kunstwerken wurde auf dem Höhepunkt der unter Stalin erfolgten Säuberungen in den späten 30er Jahren nicht mehr geduldet. Die gezeigten

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Gemälde fungieren dabei zugleich als Oberflächen, auf denen sich das Licht, und mit ihm das am Fenster herabrinnende Regenwasser, gebrochen reflektiert. Gleichzeitig ähneln die Innenaufnahmen Gemäldekompositionen oder dem Arrangement von Stillleben, aus denen die Titelfigur sich gleichsam eine Zigarette aus einer Packung ,Gitanes‘ nimmt. Das Leben ist starr, während seine abstrakt künstlerische Darstellung lebendig wirkt. Das Interieur wird von den Spiegeln an der Wand zurückgeworfen. Sie erzeugen Stillleben, die von dem Handeln der Figuren im Raum animiert werden. Die Zeit ist in dem Haus eingefroren, nicht aber auf den Leinwänden der Bilder. Die Tränen des Mädchens gerinnen zu Perlen und die Schildkröte mit ihrem diamantbesetzten Rückenpanzer erinnert an Huysmans: das Haus ist zwar mit einer ganzen Reihe künstlerischer Reminiszenzen, nicht aber mit Leben erfüllt. Die Bilder verwandeln sich und ihre Farben scheinen zu fließen, wenn das Licht auf ihrer Oberfläche spielt. Die Kamera ist förmlich auf der Suche nach Großaufnahmen der Figuren und Formen und erweckt durch die eingefangenen Reflexionen des an den Fensterscheiben herabrinnenden Wassers die in der Wohnung befindlichen Bilder beinahe zum Leben. Gegenüber der in dem Haus eingekapselten Welt der Vergangenheit, eingefroren in den Bildern des Films, ist die Kunst lebendig. Chamdamov kehrt damit die Qualitäten des Virtuellen und Aktuellen um, friert die Vergangenheit in der Gegenwart ein und versetzt die still gestellte Vergangenheit des künstlichen Bildes in Bewegung. Er veranschaulicht die ,umfassenden‘ und ,befreienden‘, die einfrierenden und lebendig machenden Wirkmechanismen des Bildes, indem er das Aktuelle ins Virtuelle wendet und umgekehrt. Wie Deleuze im Hinblick auf die „Koaleszenz“ von aktuellem und virtuellem Bild festhält, [...] entsteht dabei ein zweiseitiges Bild: ein aktuelles und ein virtuelles. Es ist, als ob ein Spiegelbild, ein Photo oder eine Postkarte ein Eigenleben gewönne, unabhängig würde und ins Aktuelle überginge, dann aber, sobald das aktuelle Bild im Spiegel wiederkehrte, wieder seinen Platz auf der Postkarte oder dem Photo annehme, also einer doppelten Bewegung von Befreiung und Verhaftung folgte.9

9

Deleuze, Das Zeit-Bild, 95f.

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2.3. Zeitkristalle Im Zusammenhang seiner Unterscheidung von aktuellem und virtuellem Bild kommt Deleuze auf der Grundlage ausgesuchter Filmbeispiele auf eine Vielzahl der künstlerischen Möglichkeiten hinsichtlich der Wechselwirkung, die zwischen den beiden Bildarten besteht, zu sprechen. Oberflächen, die das Aktuelle reflektieren und virtuell machen können, die es spiegeln oder brechen und die eine spielerische Darstellung in virtuellem Ausmaß erlauben, spielen eine zentrale Rolle bei der Diskussion des Kristallbildes der Zeit: „Der Kristall tauscht unaufhörlich die beiden Bilder aus, die es konstituieren, das vorübergehende aktuelle Bild der Gegenwart und das sich bewahrende virtuelle Bild der Vergangenheit.“10 In Chamdamovs Film gelangen im Wesentlichen zwei Oberflächenarten zur Darstellung: solche, die glatt sind wie die Oberfläche eines Fensters oder Spiegels und Oberflächen, die durch Wind oder Wasser bewegt und gekräuselt werden. Als die Hauptfigur erstmalig in Erscheinung tritt, sieht man sie zunächst durch das Fenster des vorüberfahrenden Zuges: sie ist eingerahmt wie ein Gegenstand auf einem Bild. Im Verlauf des Films tauchen dann immer wieder eingerahmte Fotografien auf: sie finden sich unter den Dokumenten im Schrank, in dem verlassenen Haus, auf einem Kreuz am Friedhof und in dem Haus des jungen Mannes. Tatsächlich besteht zwischen dem an dem Kreuz angebrachten Foto des Jungen – das die Frau in Schwarz in einer Szene des Films sauberwischt – und dem Foto in der Wohnung des jungen Mannes eine auffallende Ähnlichkeit. Es erscheint beinah so, als wäre die alte Frau die Hauptfigur aus der Zukunft und der junge Mann der (tote) Sohn der Alten. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft überlagern und verwischen sich mehr, als dass sie anhand der Fotografien von einander zu unterscheiden wären. Die Fotografien erweisen sich letztlich als ,Dokumente‘, die nur scheinbar zur Aufklärung beitragen. In jeder der von ihr aufgesuchten Wohnungen beobachtet die Filmheldin genau die Fenster. In der Wohnung der usbekischen Familie dringt nicht ein einziger Lichtstrahl durch die Fenster. In der Wohnung Veras hingegen durchflutet das einfallende Licht den gesamten Raum, in dem die Titelfigur, ihre Strumpfhosen stopfend, vor einem Fenster steht, das den Blick auf eine Kirche freigibt. Die Fenster in Chamdamovs Film tauchen ihre Umgebung in helles Licht oder verdunkeln sie; sie eröffnen oder verstellen den Blick ins Freie. Und dann gibt es da noch die zerbrochenen Fensterwände in dem verlassenen Haus. Der Junge steht dort in einem der Fenster und ahmt zwischen all den auf dem Geländer aufgereihten Krügen die Pose einer Statue nach: wie er da mit ausgestreckten Armen und Beinen inmitten der versammelten Gegenstände posiert, gleicht dieses Arrangement einem Stillleben Magrittes. 10

Ebd., 112.

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Das Fenster, in dem der Junge steht, liefert hier allerdings nicht den Rahmen für die Kunst, sondern für das Leben; ein Rahmen, in dem Leben als eine Art Verfahren der künstlerischen Fixierung erscheint. Wie die Fenster in dem zweiten Teil des Films einerseits dafür sorgen, dass das Sonnenlicht ungehindert auch in die Wohnung des jungen Mannes einfallen kann und andererseits als Ladenfenster den Zweck der Beobachtung erfüllen, so dienen sie auf der Filmebene dazu, die Gegenwart gleichsam einzurahmen und in einem bestimmten, speziell arrangierten Licht zu fixieren. Den Spiegeln im Film eignet die Funktion, den (selbstreflexiven Film-) Horizont auszudehnen. Noch bevor es zu einer Film-im-Film-Sequenz kommt, die auf dem Meer spielt, wird das Bild des Meeres gespiegelt, um seinen Manipulationen auf der Leinwand quasi zuvorzukommen. In dem verlassenen Haus dienen Spiegel der Erschaffung künstlicher, künstlerischer Bilder. Die Frau betrachtet sich öfters in einem Spiegel; zumeist in einem kleinen Schminkspiegel, den sie benutzt, wenn sie sich die Lippen nachzieht: sie prüft dabei gleichsam ihre Identität und vergewissert sich ihrer Existenz in der Gegenwart. Ein Spiegel wirft in diesem Haus auch das Bild Maries und das der Frau zurück: in ihm reflektiert sich ihr jetziges, wahres Selbst und ihr gesuchtes Vergangenheits-Ich ebenso wie das Bild Maries, die in der Gegenwart Lügengeschichten erzählt, in der Vergangenheit aber ihre Anteilnahme an den Geschehnissen gezeigt hat. In Teil II des Films kommt es in den Spiegeln nicht nur zur Reflexion, sondern zur Verdoppelung der Bilder. Als die Frau in der Wohnung des Ermordeten eine Kerze anzündet, sieht sie sich auf der Oberfläche der gegeneinander aufgeklappten Spiegelfronten gleich zweimal. Durch die besondere Kameraeinstellung sieht der Zuschauer die Frau hierbei sowohl als reales wie auch als zweifach widergespiegeltes Bild. In Chamdamovs Film haben wir es nicht einfach mit Aktuellem und Virtuellem zu tun, sondern mit einer Multiplizierung von Bildern, die sich aus der Vermengung der verschiedenen Zeitebenen mit der Identität der Hauptperson ergibt: die Frau übt Rache nicht für ihr eigenes Schicksal, sondern für das einer anderen Person. Sie ist auf der Suche nach ihrer eigenen Zukunft und erfüllt dabei eben jene Zukunft, die in ihrer Vergangenheit von einer anderen Person geplant wurde. Neben Fenstern und Spiegeln ist Wasser eine weitere, interessante Oberfläche in Chamdamovs Werk: es fließt an den Fensterscheiben herab und reflektiert sich nicht selten im Filmbild. So, wie das Wasser in der Natur immer in Bewegung ist, erinnert es an das Fließen der Zeit (im Gegensatz zu den Fensterrahmen im Film, in denen die Zeit gleichsam still gestellt wird). Auch der Fluss ist in ständiger Bewegung und durchkräuselt mit seinen Wellen die Oberfläche des Filmbilds. An keiner Stelle des Films besitzt das Wasser die Eigenschaft einer flachen und ruhigen Oberfläche, die für eine scharfe, unbewegte Reflexion sorgen könnte (vgl. Abb. 2). Der Wind verstärkt

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Bewegungen, unterbricht den statischen Charakter der Filmaufnahmen zu dem mondbeschienenen Feld und verhindert somit, dass diese artifiziellen (virtuellen) Bilder eine statische Qualität annehmen. In Anna Karamazoff erweist sich das Aktuelle als statisch und das Virtuelle als fließend. Weil das Virtuelle fließend ist, erscheint das Aktuelle in Bewegung. Die Kunst ist fließend, während das Leben statisch ist, weil im realen Leben die Zeit nur in den Unterbrechungen der Zwischentitel fortschreitet. Abb. 2: Anna Karamazoff, 1991, Rustam Chamdamov.

2.4. Die Leinwand als Kristall Wie oben erwähnt, zählt Deleuze die Faktoren Theatralizität und Performance mit zu den künstlerischen Möglichkeiten der Reflexion des aktuellen Bildes und argumentiert, dass die zur Performance gehörenden Elemente das aktuelle Bild in gleicher Weise widerspiegeln, wie auch die Leinwand selbst eine spezifische Oberfläche spielerischer Reflexion darbietet.11 Eben dies geschieht in Anna Karamazoff, wenn Chamdamov in seinem Film die Sequenz eines Kinobesuchs einbaut, in der sich die Hauptfigur einen Film anschaut, der auf seinen eigenen, früheren und unvollendet gebliebenen Film verweist. In dieser Film-im-Film-Sequenz hallen die in der unmittelbaren Gegenwart der Filmhandlung gesprochenen Worte wider, die hier gleichsam in die Vergangenheit zurückverlegt sind (der Film-im-Film-Dialog wiederholt die Worte, die die namenlose Hauptperson über den Tag gehört hat) und somit Wirklichkeit in Fiktion verwandeln. Gleichzeitig erweist sich diese Umgestaltung in die Fiktion als der Traum der Film-im-Film-Heldin Nataša. Sie ist das Leinwanddouble der Hauptfigur des Films: beide Frauen irren einsam 11

Vgl. ebd., 105f.

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und heimatlos durch die Stadt. Zusammen mit der Hauptfigur sehen wir als Zuschauer, wie in Natašas Traum zwei Filme gedreht werden: in dem einen Film spielt sie selbst als eine Darstellerin mit; der zweite Film wird in einem Filmstudio gedreht, wo Nataša das Bewusstsein verlor. Die Dreharbeiten zu diesem Film sind allerdings ins Stocken geraten, und die Crew ist auf der Suche nach einer Schauspielerin. Der gesamten Traumsequenz ist eine Stimme aus dem Off unterlegt, die damit auch den Plot zu Chamdamovs unabgeschlossenem Film Unerwartete Freuden erzählt. Es ist dies die Geschichte zweier Schauspielerinnen und Schwestern, Elena und Nataša, die einen Film drehen, der 1918 nahe der Südgrenze des Landes spielt. In der Rolle zweier Zarentöchter rudern sie mit ihren Booten über das Meer. Elena und Nataša machen diesen letzten Film, um mit dem verdienten Geld einen Teppich zu kaufen. Dieser Teppich soll angeblich die Kraft besitzen, das Böse (die Revolution) zu bekämpfen, wenn auf ihm das Blut eines Unschuldigen vergossen wird. Der Regisseur von Elenas und Natašas Film versucht die Sache so einzurichten, dass dieser Teppich an die Front geschafft wird, um damit die Wirklichkeit auf der Ebene der mise-en-scène so auszugestalten, dass ein Soldat auf dem Teppich sterben wird. Stattdessen jedoch wird der Regisseur selbst getötet, und es ist sein Blut, das auf dem Teppich vergossen wird. Die Legende stellt sich als Irrglaube heraus: die Muster auf dem Teppich sind nichts anderes als Ornamente; sie bieten keine sinnhaften Strickmuster für das Leben der Schwestern. Präsentiert wird diese ganze Geschichte als ein Traum Natašas; jetzt liegt sie hingegen wieder in einem Filmstudio – in Gegenwart von Elena, so als ob sie ihre Vergangenheit und ihre Familie wiedergefunden habe, während die Hauptfigur vergeblich nach ihrer Mutter sucht. Dergestalt erweist sich der Traum-Film gleichermaßen als ein Traum-Bild der Titelfigur wie als Traum-Bild Natašas; der Film selbst vermischt hier beständig Fiktion und Realität, Vergangenheit und Gegenwart. Der Film-im-Film steht in Korrelation zu der Filmhandlung. Die beiden Darstellerinnen Natal’ja Leble und Elena Solovej (sie spielen die beiden Schauspielerinnen und Schwestern Nataša und Elena) erscheinen – in Anspielung auf ihre Verbindung zu der Hauptfigur des Films – erstmals in einem Fahrstuhl in dem Haus, worin die usbekische Familie wohnt, welche die Hauptfigur bei ihrer Ankunft in der Stadt aufsucht. Als diese sich nun im Kino den Film anschaut, schläft sie während der Vorführung ein und überträgt dabei gleichsam ihre Erlebnisse auf Nataša; ganz so, wie Chamdamov als Regisseur seine Erinnerung an den früheren, unabgeschlossenen Film in den neuen Film einbaut. Weitere Beispiele dieser Art spielerischer Reflexion lassen sich anführen: Das Mordthema klingt sowohl im Film-im-Film wie auch in der Realität an: Mit ihrem Traum stellt Nataša gewissermaßen sicher, dass jemand auf dem Teppich getötet wird und der Teppich somit seine Magie entfaltet; Marie

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könnte sehr wohl auch ihren Großvater umgebracht haben, nachdem ihr in einem Traum bedeutet wurde, ihre Eltern würden zurückkehren, wenn sie diese Tat vollbringe; die Hauptfigur tötet einen Mann, den sie nicht kennt, und vollzieht damit den von einer anderen Frau geplanten Mord, um ihrem Leben einen Sinn zu geben (einen Sinn, den sie quasi bei ihrer toten Freundin stiehlt). Das Handeln der Akteure aufgrund eines Traumes, aufgrund der Eingebung und Motivation anderer, erzeugt eine Scheinwirklichkeit, in der letztendlich alles mit falschen Bedeutungen aufgeladen wird in einem Leben, das keinen Inhalt anbietet, sondern nur schmückendes Beiwerk. Die weiße Blume, die Nataša in der Wüste pflückt, ist dieselbe Blume, die die Hauptfigur auf dem Feld am Friedhof pflückt und der alten Frau überreicht, womit sie ihr Schicksal mit dem Natašas (ihrer Vergangenheit) und dem der alten Frau (ihrer Zukunft?) verknüpft. In ihrer Angst vor der Zukunft und dem Alter läuft sie dem Kind in dem Hasenkostüm hinterher und verführt den jungen Mann; Zeichen dafür, dass sie versucht, ihre Jugend einzufangen. In gleicher Weise spielt das Motiv des Apfels aus der fiktionalen Dimension in die reale Handlung hinein: in dem Filmstudio bekommt die hungrige Nataša einen Apfel. Einen Apfel isst auch der Pfarrer auf dem Friedhof, und das Gift, mit dem der unbekannte Mann vergiftet wird, wird in einen Apfel injiziert. Der Apfel ist hier natürlich die ,verbotene‘ Frucht. Obwohl Obst in dem verlassenen Haus im Überfluss vorhanden ist, ist es ungenießbar: es ist dies eine tote Gegenwart. Andererseits ist aber das Obst auf dem Friedhof, im Reich der Toten, genießbar (der Pfarrer isst dort Äpfel und die Frau findet an diesem Ort Trauben): das Vergangene ist lebendig. Natašas Traum während ihrer Ohnmacht oder ihres Schlafens in dem Filmstudio beginnt mit einer Szene, in der die Dialoge diejenige Geschichte wiederholen, die Vera Ivanovna über die Schlüssel erzählt; darauf folgt Natašas Erinnerung an ihre Rolle der Zarentochter. Während der im Filmstudio noch zu drehende Film seine Resonanzen in der Gegenwart findet, ist die im geträumten Film ästhetisierte Vergangenheit tot, die Zarentochter begraben. Indem Chamdamov das Bild der Zarentochter wieder zum Leben erweckt, die im Film das nachgemachte Kostüm einer Adelsdame aus dem 17. Jahrhundert trägt, stellt er auf diese Weise eine spielerische Verbindung zu Russlands Vergangenheit und seinen Traditionen her. Gegen Ende des Epilogs ,Kätzchens Haus‘ (Koškin dom) erschüttert das Geräusch eines Zuges die Wohnung des jungen Mannes. Es schrumpft dabei förmlich auf eine Größe zusammen, bei der der Mann Schwierigkeiten bekommt, noch durch die Tür gehen zu können. Die anschließende Filmeinstellung, in der man ihn nach einigen schriftlichen Unterlagen suchen sieht, ist ebenfalls mit diesem Zuggeräusch unterlegt, womit die Szene mit derjenigen Natašas parallelisiert wird, in der sie entlang der Eisenbahnschienen läuft und mit ihrem Fuß zwischen den Gleisen stecken bleibt. Natašas Tod steht ganz

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augenscheinlich, und zwar in sowohl visueller als auch akustischer Verknüpfung, für den Tod der namenlosen Hauptperson. Der Film endet mit dem Tod der Filmfigur Natašas. Nataša gleicht hier der Titelfigur und teilt deren Erinnerungsvermögen. Der Film kehrt zu der im Filmstudio als Schauspielerin agierenden Nataša nicht mehr zurück und lässt den Kreis der Filmgeschichte der in der Großstadt Hunger leidenden Schauspielerin Nataša unabgeschlossen. Die von ihr geträumte Filmhandlung endet mit dem Tod ihrer Rolle. Der in Natašas Traum-Leben mit ihrer Schwester Elena geteilte Aberglaube stellt sich als Trugschluss heraus. Das Filmstudio, in dem man sie auf einer Chaiselongue liegen sieht, produziert nicht einen einzigen Film. Auf allen drei Ebenen findet sich kein Umkehrpunkt, der aus der Traumwelt in die Realität zurückführt. Die als solche deutlich erkennbaren Traum-Bilder sind Dekorum, spielerische Reflexion, und weisen somit nicht den Weg in das wirkliche Leben. Deshalb, so lässt sich in Übereinstimmung mit den Ausführungen von Deleuze festhalten, sind alle Reflexionen in dem Maße von spielerischer Art, wie sie die Zeit nicht vorantreiben, als vielmehr aufspalten: „die Zeit teilt sich in jedem Augenblick in Gegenwart und Vergangenheit auf, in vorübergehende Gegenwart und sich bewahrende Vergangenheit.“12 Der Film, der in Natašas Traum gedreht wird, stellt das Bild der Zarentochter in einer Weise in den Vordergrund, so dass es in den ihm zukommenden Variationen und Modifikationen den Prozess kontinuierlicher Tilgung und Neuschreibung der (künstlerisch ausgestalteten) Geschichte veranschaulicht. An seinem Ursprung steht eine Fotografie der Fürstin Elizaveta Fedorovna, die auf einem 1903 im Winterpalais stattfindenden Maskenball ein (nachgemachtes) Adelskostüm aus dem 17. Jahrhundert trägt. Als Maler hat Chamdamov dieses Bild auch in eine Serie von Aquarellen, Ölgemälden und Bronzestatuen übertragen. Nach der Vorlage des Bildes wurde dann für den Film Unerwartete Freuden ein Kostüm angefertigt – die zweite Imitation des Originalkostüms (vgl. Abb. 3). Eine Episode dieses bei der Nachbearbeitung gestoppten und zerstörten Films wurde (mit dem besagtem Kostüm) neu gedreht und hat seinen Eingang an der Stelle des (in Russland nie veröffentlichten) Films Anna Karamazoff gefunden, wo die namenlose Hauptfigur das Kino aufsucht und einen Film sieht: und zwar einen, der – weil zerstört – gar nicht mehr existiert (vgl. Abb. 4). Diese Art Palimpsest-Funktion des Films resp. seiner Leinwand verdeutlicht einmal mehr, wie sehr Deleuzes Zeitkonzept als Fluktuation von Aktuellem und Virtuellem auf den Prozess künstlerischen Schaffens angewendet werden kann. In all seinen Arbeiten beschäftigt sich Chamdamov als Maler, Filmemacher oder Designer unentwegt mit dem Prozess andauernder Auslöschung und Neuschreibung bestimmter Schlüsselbilder, wozu neben dem Bild der Zarentochter, der Früchte – Äpfel, Trauben 12

Ebd., 113.

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etc. – auch die Bilder von Schuhen oder Hüten gehören. Als Künstler trachtet er beständig danach, die Vergangenheit festzuhalten, sie gleichsam einzufrieren; doch verwischen sich selbst noch auf seinen Bildern die Konturen von Zeit und Form, wenn er sie – im Wissen um die Vergänglichkeit der Zeit – immer und immer wieder übermalt. Die logische Folge davon ist ein gleichsam artistisches Unvermögen, im Modus künstlerischer Produktivität je zu einem abgeschlossenen Endergebnis kommen zu können. Abb. 3, 4: Anna Karamazoff, 1991, Rustam Chamdamov.

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3. Zusammenfassung Chamdamovs Film Anna Karamazoff wartet mit keiner in sich geschlossenen Erzählstruktur auf: Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart, Traum und Realität gehen ohne feste Grenzen permanent ineinander über. Wie sich Chamdamov als Künstler und Filmemacher mit den Prozessen künstlerischer Auslöschung und Neu(be)schreibung beschäftigt, so handelt auch sein Film von dieser Thematik, ist selbst eine Art cineastisches Palimpsest. Auf der einen Ebene des Films gibt es da den alten, zerstörten Film und das persönliche Erinnerungsvermögen des Filmemachers, dem daran liegt, einen verloren gegangenen Film wieder herzustellen, indem er einige der Fragmente neu schreibt bzw. neu filmt und sie in Anna Karamazoff einbaut. Auf der anderen Ebene repräsentiert das Tagebuch der Hauptfigur des Films den Versuch, die Gegenwart still zu stellen; denn wenngleich auch die Bilder geradezu angefüllt sind von der Vorwärtsbewegung ihres Federhalters auf dem Papier, so erscheint doch die Gegenwart als eine statische, beinah artistisch eingefrorene Vision vergangener Zeit. Am Grab ihrer Mutter ist die Hauptfigur des Films wiedervereinigt mit ihrer eigenen Vergangenheit. Die Stauung der Erinnerungsbilder und Traum-Bilder in dem Film, den sie im Kino sieht, ist der fließenden Bewegung in den Gegenwartsbildern gegenübergestellt. Die Bilder der Gegenwart umfassen das Schöne, doch sie entfalten sich nicht oder wirken sich auf die Entwicklung des Films aus. Sie gleichen der Blume im Staub, die Nataša in der Wüste und die die Hauptfigur auf dem Friedhof findet, als sie mit ihrer Vergangenheit wiedervereint ist. Die Blume, die nicht auf Erde wächst, ist ein Bild für die Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart, oder für einen flüchtigen Augenblick zeitlicher Harmonie. Bei Deleuze bewegt Zeit die Gegenwart, macht sie vergänglich und bewahrt die Vergangenheit. Bei Chamdamov schafft sie die Vergangenheit und bewahrt die Gegenwart. Die Seiten der Vergangenheit werden als subjektive Erinnerungen eines einzigen Ereignisses dargestellt. Dieses bringt Schichtungen von Vergangenheitsbildern hervor, die niemals ganz opak sind, sondern immer transparent bleiben, lichtdurchlässig und löchrig, wie die Gardinen in der Wohnung der usbekischen Familie. Übersetzt von Stephan Kossmann.

Die Autoren O LEG A R O N S O N , Dr. phil., leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften; Autor der Bücher Bogema: opyt soobščestva (2002) [Die Bohème: Erfahrungen einer Gemeinwesen], Metakino (2003), Kommunikativnyj obraz (2007) [Die kommunikative Gestalt]; wissenschaftlicher Redakteur und Autor des Vorwortes zur russischen Übersetzung des Buches von Gilles Deleuze Kino (2004).

B IR G I T B EU M ER S , Dr. phil., Dozentin für Slavistik an der Universität zu Bristol; ausgewählte Forschungsschwerpunkte: zeitgenössische russische Kultur, insbesondere Film und Theater; Publikationen u. a.: Nikita Mikhalkov: Between Nostalgia and Nationalism (2005), PopCulture: Russia! (2005); Russia on Reels: The Russian Idea in Post-Soviet Cinema (1999) und 24 Frames: Russia and the Soviet Union (2006).

E V A B IN D ER , Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik der Universität Innsbruck; Forschungsgebiete: die russische Kultur des 20. Jahrhunderts unter dem Aspekt von kulturwissenschaftlichen, film- und literaturhistorischen sowie medienwissenschaftlichen Fragestellungen; Publikationen u. a.: Konstruktionen von Identität im Film des postsowjetischen Russlands. Dissertation (Elektronische Veröffentlichung), Innsbruck 2004.

P E TER D EU TS C H MA N N , Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Graz; ausgewählte Forschungsschwerpunkte: russische und tschechische Literatur bzw. Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Filmtheorie und Filmanalyse, Publikationen u. a.: Intersubjektivität und Narration. Gogol' ‒ Erofeev ‒ Sorokin ‒ Mamleev, Frankfurt/M. 2003.

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Die Autoren

N A T A S C H A D R U B E K -M E Y E R , Dr. phil. habil., zurzeit tätig an der Karls-Universität Prag; Arbeiten zu slavistischen und filmwissenschaftlichen Themen, u. a. zum vorrevolutionären russischen Kino (Evgenij Bauėr) sowie zum frühen Tonfilm und anderen klangexperimentellen Anordnungen; Herausgeberin der Filmseite von www.ArtMargins.com, Mitautorin einer wissenschaftlichen Methode von Filmedition auf DVD: www.hyperkino.net.

SABINE HÄNSGEN, Dr. phil., zurzeit tätig am kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“ der Universität zu Köln; ausgewählte Forschungsschwerpunkte: Russisch-sowjetische Mediengeschichte und intermediale Ästhetik; letzte Publikation: Sovetskaja vlast’ i media [Sowjetmacht und Medien], (St. Petersburg 2006, hrsg. zs. mit Hans Günther).

BERNHARD HARTMANN, M. A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Wien; ausgewählte Forschungsschwerpunkte: polnische Literatur und Theater; freie Tätigkeit als Übersetzer; letzte Publikation: „Schwarze Gedanken?“ Zum Werk von Tadeusz Różewicz (Passau 2007, hrsg. zs. mit Alois Woldan).

HOLT MEYER, Professor für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt; ausgewählte Forschungsschwerpunkte: Russische, polnische und tschechische Literatur und Medien; Film und Filmtheorie; Postavantgarde; Spätstalinismus (Projekt „Imperial Traces“); Diskursivierung der Religion; Publikationen u. a.: Inventing Slavia. Proceedings of the workshop held and organized by Slavonic Library (Prag 2005, hrsg. zs. mit Tomáš Glanc).

J U R I J M U RA Š O V , Professor für Slavische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz; Aufsätze und Bücher zur russischen Literatur und Literaturtheorie des 18. ԟ 20. Jh.; Publikationen zu technischen Medien und

Die Autoren

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zum Film in der sowjetischen und jugoslawischen Kultur; u. a. Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre (München 2003, hrsg. zs. mit Georg Witte).

T A N J A Z IM M E R M A N N , Dr. Dr., wissenschaftliche Assistentin in Slavistischer Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt; Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Wandmalerei, russische, polnische und südslawische Literatur und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, komparatistische Ost-West-Studien, Medientheorie, Gender studies; Publikationen u. a.: Abstraktion und Realismus im Literaturund Kunstdiskurs der russischen Avantgarde (Wiener Slawistischer Almanach, München, Wien 2007).