Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen 3525333935, 9783525333938

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Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen
 3525333935, 9783525333938

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Das wilhelminische Bildungsbürgertum Zur Sozialgeschichte seiner Ideen

Mit Beiträgen von Gerhard Dildier, Janos Frecot, PeterHampe, Thomas Hollweck, Bike-Wolfgang Kornhass, IBrich Linse, Midiael Naumann, Peter J. Opitz, Klaus Vondung

Herausgegeben von Klaus Vondung

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VANDENHOECK & RUPRECHT IN GöTIINGEN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Das wilhelminische Bildungsbürgertum: zur Sozialgeschichte seiner Ideen / mit Beitr. von Gerhard Dilcher •.. Hrsg. von Klaus Vondung. (Kleine Vandenhoedt-Reihe; 1420) ISBN 3-525-33393-5 NE: Vondung, Klaus [Hrsg.]; Dilcher, Gerhard [Mitarb.]

Kleine Vandenhoeck-Reihe 1420 Umschlag: Hans Dieter Ullrich. - © Vandenhoedt &; Ruprecht, Göttingen 1976. - Ohne ausdrüdtliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei E. Rieder, Schrobenhausen

INHALT Einleitung .

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1. Probleme einer Sozialgeschichte der Ideen von Klaus V ondung 2. Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit von Klaus V ondung

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I. Rahmenbedingungen 1. Bildung und Gehorsam. Zur ästhetischen Ideologie des Bildungsbürgertums von Michael Naumann 2. Das Gesellschaftsbild der Rechtswissenschaft und die soziale Frage von Gerhard Dilcher 3. Sozioökonomische und psychische Hintergründe der bildungsbürgerlichen Imperialbegeisterung von Peter Rampe

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II. Positionen und Exponenten

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1. Zwischen Rationalismus und Resignation: Max Weber von Peter J. Opitz 2. Zwischen Kulturkritik und Machtverherrlichung: Kurt Riezler von Eike-W olfgang Kornhass 3. Durchbruch zur Welt: Thomas Mann von Thomas Hollweck

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m. Widerstandsphänomene 1. Die Jugendkulturbewegung von Ulrich Linse 2. Die Lebensreformbewegung von Janos Frecot 3. Deutsche Apokalypse 1914 von Klaus V ondung Anmerkungen Personenregister über die Autoren

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EINLEITUNG 1. Probleme einer Sozialgeschichte der Ideen von Klaus Vondung Das Deutsche Kaiserreich von 1871 findet seit einiger Zeit das besondere Interesse der Geschichtswissenschaft, aber auch verstärkte Aufmerksamkeit in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Dieser Sachverhalt mag zunächst kaum Verwunderung erregen, da jene Periode der deutschen Geschichte, vor allem ihre zweite Phase nach Bismarcks Entlassung, die ,wilhelminische Ära', bemerkenswerte Wandlungsprozesse auf politischem, sozialem, ökonomischem und kulturellem Gebiet zeigt. Interesse solchen Ausmaßes jedoch, wie es die zahlreichen Publikationen der vergangenen Jahre erkennen lassen, muß noch andere, spezifische Ursachen haben. Diese Ursachen aufzudecken ist die erste Aufgabe eines Unternehmens, das wie der vorliegende Band jenes Interesse gleichfalls zum Ausdruck bringt und deswegen Klarheit über seinen Standort im Kontext der bisherigen Forschungsgeschichte gewinnen will. Sollen die Motive und Anlässe für das außergewöhnliche Interesse an der Kaiserzeit ermittelt werden, so ist zunächst zu fragen, wann und durch wen die eingehende Erforschung dieses Zeitraums in Gang gebracht wurde. Das Deutsche Kaiserreich ist natürlich seit seiner Gründung und vor allem dann seit seinem Zusammenbruch Gegenstand historischer Forschung gewesen. Es gibt zu dieser Periode eine kontinuierliche Forschungsgeschichte, die durch das Dritte Reich nur zum Teil unterbrochen wurde. Doch das verstärkte Interesse, von dem eingangs die Rede war, markiert deutlich eine neue Phase außergewöhnlich nachhaltiger Beschäftigung mit der Geschichte des kaiserlichen Deutschland: sie setzte zu Beginn der sechziger Jahre ein. Besondere Beachtung fanden von Anfang an die ,Weltanschauungen' jener Periode; zahlreiche Wissenschaftler verschiedener Disziplinen legten Untersuchungen zu diesem Gegenstand vor, wobei sie teilweise auch die Zeit vor oder nach dem Kaiserreich behandelten. Wie stark und verbreitet das Forschungsinteresse war, zeigt der Umstand, daß die wichtigsten 5

Darstellungen der ersten Zeit in rascher Folge erschienen: 1960 Hans Kohns The Mind of Germany (in deutscher Übersetzung 19621), 1961 Fritz Sterns The Politics of Cultural Despair (in deutscher Übersetzung 19632), 1962 die westdeutsche Ausgabe von Georg Lukacs' Die Zerstörung der Vernunft3, 1963 Hermann Lübbes Politische Philosophie in Deutschland, 1964 George L. Mosses The Crisis of German Ideology. Zur selben Zeit wurde die politische Geschichte des Kaiserreichs neu aufgerollt. Den Anstoß dazu gab 1961 Fritz Fischers Buch Griff nach der Weltmacht, in dem der Hamburger Historiker die bis dahin allgemein akzeptierte Auffassung, am Ausbruch des Ersten Weltkriegs habe jede der beteiligten Mächte Schuld getragen, angriff und Deutschlands Hauptschuld nachzuweisen suchte. Im Verlauf der heftigen Diskussion über Kriegsziele und Kriegsschuldfrage, die Fischers These in der deutschen Geschichtswissenschaft auslöste, wurde die Notwendigkeit deutlich, die Vorgeschichte des Kriegs neu und genauer zu erforschen. Der hitzig geführten Debatte folgten sachliche Analysen, die Untersuchung der unmittelbaren Vorgeschichte des Weltkriegs dehnte sich bald auf die ganze wilhelminische Zeit und das Kaiserreich insgesamt aus, Fragestellungen und Untersuchungsmethoden der politischen Ereignisgeschichte wurden mehr und mehr durch solche der Sozialgeschichte erweitert oder ersetzt, kultur- und literaturhistorische, selbst theologische Arbeiten traten hinzu, so daß inzwischen ein breites Spektrum neuer Forschungsergebnisse vorliegt. Was läßt sich nun für die Motive des Forschungsinteresses an der Geschichte des kaiserlichen Deutschland schließen? Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs hatten Historiker und vor allem Zeitgeschichtler zunächst ihre besondere Aufmerksamkeit der nationalsozialistischen Zeit zugewandt. Doch die Untersuchungen, die während der fünfziger Jahre erschienen, verfuhren meist noch im Stil der politischen Ereignisgeschichte. Dies war ein Grund, wenn auch nicht der einzige, für die Neigung der damaligen Geschichtswissenschaft, das Dritte Reich als geschlossene Einheit zu betrachten und insofern als Einbruch in die besseren Traditionen der deutschen Geschichte, deren Zerstörung den widrigen politischen und wirtschaftlichen Umständen der Weimarer Zeit angelastet wurde. In anderen wissenschaftlichen Disziplinen, wie z.B. der Literaturwissenschaft, ging die Auffassung vom nationalsozialistischen ,Betriebsunfall' deutscher Geschichte und Kultur so weit, daß jene Zeit aus der Forschung schlicht ausgeklammert wurde'. Gegen Ende der fünfziger Jahre begannen sich jedoch neue Einsichten durchzusetzen. Je fundierter die Kenntnisse über Ge6

schichte und Vorgeschichte des Dritten Reichs wurden und je mehr sich jüngere und unbefangenere Wissenschaftler an deren Erforschung beteiligten, desto augenscheinlicher wurde, daß der Nationalsozialismus nicht außerhalb der Kontinuität deutscher Geschichte stand und daß diese Kontinuität vor 1918 zurückreichte. Als Martin Broszat 1960 in seiner Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus diesen Sachverhalt aussprach 5 , markierte er den Endpunkt bisheriger Forschungstendenzen und lenkte zugleich den Blick auf die neuen Aufgaben. Fritz Fischers Untersuchung von 1961 verfolgte denn auch unter anderem die Absicht, eine Kontinuität aggressiver imperialistischer Politik Deutschlands nachzuweisen, in deren Zusammenhang 1914 als Präludium zu 1939 erschien. Nachdem dieser Anstoß gegeben war, bemühten sich vor allem jüngere Wissenschaftler, die das Dritte Reich nur noch als Kinder oder Jugendliche erlebt hatten, weitere Kontinuitätslinien der deutschen Geschichte zwischen 1871 und 1945 herauszuarbeiten. Sie stellten die Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus hartnäckiger und umfassender, die Antworten der älteren Generation befriedigten sie ebensowenig wie deren Forschungsmethoden. So wurden während der sechziger Jahre immer mehr Untersuchungen - sowohl des Dritten Reichs und der Weimarer Republik wie des Kaiserreichs unter sozialhistorischem Aspekt geführt, und stets stand nun die Frage nach der historischen Kontinuität im Vordergrund. Ralf Dahrendorf eröffnete 1965 seine Gesamtanalyse der deutschen Gesellschaft von 1871 bis zur Gegenwart ebenso mit dieser Frage - deren eine Version ausdrücklich lautet: ,,Wie war der Nationalsozialismus möglich?" 6 - wie Hans-Ulrich Wehler 1973 seine Gesamtdarstellung des Deutschen Kaiserreichs, in der er das „Kontinuitätsproblem in der modernen deutschen Geschichte" zu einer „Leitperspektive" der Untersuchung erhob 7• Dieselben Intentionen hatten die Wissenschaftler gehabt, die zu Beginn der sechziger Jahre begonnen hatten, sich mit den ,Weltanschauungen' der Zeit vor 1918 zu befassen. Doch die meisten dieser Wissenschaftler repräsentierten einen besonderen Personenkreis, ihre Motive erwuchsen aus einem andersgearteten Erfahrungshintergrund: Sie gehörten einer älteren Generation deutscher Wissenschaftler an, die durch den Nationalsozialismus in die Emigration getrieben worden war - von den oben genannten Kohn, Stern, Mosse; auch Lukacs kann man aufgrund seines Lebenswegs und Lebenswerks fast als ,deutschen' Emigranten ansehen. Die emigrierten Intellektuellen verstanden sich einerseits als Opfer einer Entwicklung, zu der auch der ,deutsche Geist' mit 7

seinen Entgleisungen beigetragen hatte, andererseits aber als Repräsentanten des ,wahren' deutschen Geistes und der besseren Traditionen deutscher Kultur und Geschichte. Daher stellte sich für sie die Frage nach der Kontinuität eher in der - ebenfalls von Dahrendorf festgehaltenen - Version: ,,Wie war der Siegeszug des Nationalsozialismus im Lande Kants und Goethes möglich?"S, und sie versuchten folglich zu ermitteln, wie der ,Geist' in den ,Ungeist' entgleisen konnte und wer die Schuld an der ,Zerstörung der Vernunft' trug. Mit den wachsenden Kenntnissen über die Geschichte des Kaiserreichs ließ das Forschungsinteresse an diesem Zeitraum nicht nach, sondern nahm eher noch zu. Denn mittlerweile hatte die motivierende Kontinuitätsfrage eine weitere Dimension gewonnen: Nachdem während der sechziger Jahre in der Bundesrepublik die ursprünglich prädominanten Probleme des staatlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus an Dringlichkeit verloren hatten, machte sich mehr und mehr bemerkbar, daß die so erfolgreiche Konsolidierung der äußeren Verhältnisse andere Probleme ungelöst, ja unbeachtet gelassen hatte, nämlich Probleme der geistigen und sozialen Ordnung und des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, die nun ins Blickfeld rückten. Da sich außerdem die Einsicht durchsetzte, daß das Jahr 1945 kein Nullpunkt in der deutschen Geschichte gewesen war, wurde immer deutlicher, daß viele dieser ungelösten Probleme der Gegenwart ein Erbteil der Vergangenheit waren, ja es zeigte sich, daß ihre Wurzeln zum großen Teil gerade in den Jahrzehnten vor 1914 zu finden sind. Diese Wurzeln aufzudecken, die geistigen wie die gesellschaftlichen, bemühten sich einerseits Geistes- und Kulturhistoriker, andererseits Sozialhistoriker und Soziologen, allerdings operierten die ersteren meist ohne direkten Kontakt mit der gleichzeitig sich entfaltenden sozialhistorischen Forschung. Wenn sie nicht ohnehin rein geistesgeschichtlich orientiert waren, sondern sich auch um die Berücksichtigung gesellschaftlicher Phänomene bemühten, so blieben solche Versuche doch fast immer oberflächlich und unvollständig - die Sozialgeschichte brachte selbst erst langsam grundlegendere Ergebnisse hervor - oder sie waren theoretisch und methodisch unbefriedigend. Es erübrigt sich fast, das Bedauern über diesen Tatbestand zu begründen. Zu offensichtlich ist der Sachverhalt, daß ,Ideen' oder ,Weltanschauungen' nicht unabhängig von konkreten historischen Gegebenheiten entstehen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihnen. überdies bildeten die meisten ,Produzenten' solch geistiger Entwürfe bis zum Ende des Ersten Weltkriegs einen relativ einheitlichen sozialen Stand, den 8

,gebildeten Mittelstand', den man gemeinhin als ,Bildungsbürgertum' bezeichnet. Es ist einsichtig, daß die Spezifika der sozialen Lage dieses Standes für seine Ideen eine Rolle spielten. Um geistige und kulturelle Phänomene adäquat verstehen und kritisch beurteilen zu können, muß daher ihr sozialhistorischer Kontext in die Analyse mit einbezogen werden. Wenn geistesgeschichtliche Untersuchungen dies nicht leisten können oder wollen, so müßte von der sozialhistorischen Forschung mehr zu erhoffen sein. In der Tat besteht hier wachsendes Interesse an einer ,Sozialgeschichte der Ideen' 9, doch ihrer Verwirklichung stehen offenbar noch große Schwierigkeiten entgegen. Die größte Schwierigkeit ist wohl, daß es eben nicht um eine sozialgeschichtliche Erforschung der Schicht der Gebildeten geht, für die Soziologen und Sozialhistoriker in erster Linie kompetent wären, sondern um eine sozialhistorische Analyse ihrer Ideen. Und man sollte sich hüten, das eine mit dem anderen vorschnell gleichzusetzen. Freilich kann die letztere ohne die erstere nicht auskommen, aber selbst eine solche Untersuchung scheint nicht ganz einfachen Problemen zu begegnen. Forschungsergebnisse über die soziale Lage der Bauern, der Arbeiter, der industriellen Bourgeoisie, des gewerblichen Mittelstands nehmen an Zahl und Exaktheit ständig zu, wann immer jedoch die Gebildeten in der sozialhistorischen oder soziologischen Literatur auftauchen - sofern sie nicht ohnehin ausgeklammert werden -, wird die Kompliziertheit dieses Gegenstands betont. Es mag sich dabei manchmal um captationes benevolentiae handeln, welche die Kapitulation vor einem störenden Problem beschönigen sollen, doch daß dieses Problem tatsächlich höchst kompliziert ist, wird glaubhaft auch von ernstzunehmenden Historikern und Soziologen bestätigt, so z. B. von Dahrendorf, der in seinem Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland besonders hervorhebt, daß sich die Intellektuellen „nur mühsam im Haus der sozialen Schichtung unterbringen lassen"10. Und diese Schwierigkeit betrifft, wohlgemerkt, zunächst nur die Analyse des sozialen Stratums, mit der eine ,Sozialgeschichte der Ideen' überhaupt erst beginnt. Ohne Zweifel wird sich hier die Frage erheben, ob nicht marxistische Untersuchungen diese Probleme beantworten, denn Marxisten stehen nicht nur im Ruf, soziale und insbesondere sozioökonomische Sachverhalte eingehender zu erforschen und besser zu würdigen als ,bürgerliche' Wissenschaftler, sie beanspruchen vor allem auch, den Schlüssel für die richtige Analyse der Wechselbeziehungen von gesellschaftlicher Realität und Bewußtseinsphänomenen in Händen zu haben. Es lohnt, jener Frage nach9

zugehen, da durch die Prüfung marxistischer Untersuchungsmodelle wie konkreter Materialanalysen zugleich generelle Aufschlüsse darüber gewonnen werden können, welche Wege eine ,Sozialgeschichte von Ideen' vermeiden und welche sie beschreiten sollte. Es sei zunächst gefragt, wieweit das soziale Stratum der Gebildeten innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft durch das marxistische Gesellschaftsmodell erfaßt wird. Vor einiger Zeit prüfte Jürgen Kocka in einer sozialhistorischen Analyse der deutschen Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs die faktische ,Reichweite' dieses Modells am konkreten Material; seine Untersuchung beantwortete auch die genannte Frage. Kocka versuchte, durch gewissenhafte Anwendung des dichotomischen klassengesellschaftlichen Modells „den sich verändernden Abstand zwischen ihm selbst und der historischen Realität" zu bestimmen 11• Hinsichtlich der generellen Aussagen des Modells stellte er fest, daß der wilhelminische Staat „nicht hinreichend als bloßes Instrument der herrschenden Klasse, als reine Agentur der Kapitalbesitzer beschrieben werden kann", und er arbeitete Faktoren heraus, welche verhinderten, ,,daß die deutsche Wirklichkeit jemals jenem Klischee vom liberal-kapitalistischen Klassenstaat entsprach"; als einen der wichtigsten nannte er die „eigengewichtige Bürokratie"12, ein weiterer wäre die kaum eingeschränkte Machtfülle des Adels, von dem wiederum die Bürokratie dominiert wurde. Kocka zeigte, daß folglich auch das Theorem vom ,staatsmonopolistischen Kapitalismus' bei der Erklärung verschiedener historischer Sachverhalte versagt 13. Er kam schließlich zu dem Ergebnis, ,,daß bestimmte, unter den jeweils leitenden Erkenntnisinteressen wichtige Züge der Wirklichkeit im Modell gar nicht auftauchen können, durch sein Raster sozusagen hindurchfallen, in das Modell weder positiv noch negativ hineinpassen, also übersehen werden"14. Für die hier diskutierte Problematik ist wichtig, daß das Bildungsbürgertum jedenfalls zu diesen Phänomenen der Wirklichkeit gehört, die nicht ins Modell hineinpassen und deswegen übersehen werden. Kockas Studie erbrachte diesen Nachweis implizit, indem sie die bürgerliche Intelligenz eben nicht behandelte. Für die übrigen Gruppen des Mittelstands wies er jedoch auch explizit nach, daß sie im dichotomischen Klassenmodell „nur äußerst schwer" unterzubringen sind15. Wenn das marxistische Gesellschaftsmodell das gebildete Bürgertum nur unzureichend erfaßt, so ist zu vermuten, daß auf der Grundlage dieses Modells auch kaum eine adäquate Analyse der Wechselbeziehungen zwischen der sozialen Lage jener Schicht und 10

ihren Ideen durchgeführt werden kann. In der Tat sind zumindest Untersuchungen, die sich diesem Problem der Wechselbeziehungen über die Erforschung sozialer Gegebenheiten nähern, enttäuschend. Jürgen Kuczynski z. B. widmet in seiner Arbeit Zur Soziologie des imperialistischen Deutschland der ,Intelligenz' nicht mehr als eine Seite. Nach der Aufzählung einiger sozialer Merkmale beendet er seine Ausführungen mit einem Satz, auf den die eigentliche Analyse erst folgen müßte: ,,In keiner gesellschaftlichen Tätigkeit ist die Beziehung zwischen Einkommen, Kapital und Ideologie so kompliziert, so locker wie in der der Intelligenz (einschließlich der künstlerischen Berufe)."16 In Kuczynskis grossem Werk über die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus läuft die Darstellung der Intelligenz und bürgerlichen Kultur im Rahmen der allgemeinen gesellschaftlichen Situation zwischen 1871 und 1900 auf eine streng parteiliche Ideologiekritik hinaus; über die ,komplizierten Beziehungen' zwischen konkreten gesellschaftlichen Sachverhalten und Bewußtseinsphänomenen erfährt man hier ebenfalls nichts11. Befriedigendere Auskünfte über diese Beziehungen sollte man von einem Marxisten wie Lukacs erwarten dürfen, der - anders als Kuczynski - ins Zentrum seiner Untersuchung die geistigen Phänomene selbst stellt. Lukacs' Analyse der deutschen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert, der er den Titel Die Zerstörung der V emunft gab, ist jedenfalls kenntnisreich, der Nachweis einer Kontinuität irrationalistischen Denkens vom 19. Jahrhundert bis zur nationalsozialistischen Weltanschauung verdienstvoll. Die Frage, ob seine Untersuchung nicht manche Sachverhalte verbiegt oder einebnet, da sie letztlich natürlich ebenfalls als parteiliche Ideologiekritik geführt wird, ist von Bedeutung, steht hier jedoch weniger zur Debatte 18. Wie aber verhält es sich mit der Darstellung jener ,komplizierten Beziehungen'? Auch Lukacs enttäuscht in diesem Punkt. Die fraglichen Beziehungen sind für ihn nicht einmal kompliziert. Seine vergleichsweise differenzierte Analyse geistiger Phänomene verkoppelt er mit den allergröbsten Kategorien des dichotomischen Gesellschaftsmodells: Die „bürgerliche Philosophie" entspricht nach seiner Ansicht „selbstredend den jeweiligen Klasseninteressen der Bourgeoisie" 19. Fragen wie die, ob die soziale Lage der bürgerlichen Intellektuellen im kaiserlichen Deutschland sich nicht von derjenigen einer industriellen Großbourgeoisie wie von der des übrigen bürgerlichen Mittelstands unterschied, ob sich in dieser Situation nicht schichtspezifische Interessen entwickelten, ob für die Interessenlage des Bildungsbürgertums eventuell auch andere als ökonomische Bedingungen 11

eine Rolle spielten, ob und wie schichtspezifischeErfahrungen und Interessen sich in den Weltanschauungen niederschlugen und ob diese den unterschiedlichen Interessen einer in mehrere Schichten differenzierten ,Bourgeoisie' vielleicht auch widersprachen, Fragen solcher Art also werden nicht gestellt, geschweige denn die entsprechenden Problembereiche durchgearbeitet. Warum orthodoxe marxistische Soziologen und Philosophen solche Fragen nicht aufwerfen, ist nicht allzu schwer festzustellen. Die Gründe sind in den Prämissen und Konsequenzen des dichotomischen Gesellschaftsmodells und des Basis-Oberbau-Modells zu suchen. Aus der Prämisse, daß die ,objektive' Wirklichkeit der Gesellschaft durch ihre Produktionsverhältnisse gegeben ist und daß sich deren Wesen - abgesehen von ihren materiellen Bedingungen, speziell der Entwiddung der Produktivkräfte - dadurch bestimmt, in wessen Eigentum sich die Produktionsmittel befinden, folgt erstens, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit des deutschen Industriestaats zur Zeit des Kaiserreichs durch die Existenz zweier Klassen, Bourgeoisie und Proletariat, und deren Klassenkämpfe bestimmt wird. Per definitionem dieser Prämisse ist die Intelligenz keine Klasse; sie wird als ,Zwischenschicht' eingestuft. Es folgt daher zweitens, daß die Intelligenz keine selbständige Rolle in der Gesellschaft spielen kann, denn ihre ,objektive' Lage ist abhängig von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie sie oben definiert wurde, und dies bedeutet, daß ihre Rolle im antagonistischen Kräftefeld der Gesellschaft letztlich durch die Lage und Interessen einer der beiden Klassen bestimmt wird. Die ,bürgerliche Intelligenz' ist folglich sozioökonomisch gesehen - um mit Lukacs zu sprechen - eine „parasitäre" Erscheinung der Bourgeoisie20. Wird durch das marxistische Gesellschaftsmodell die Schicht der bürgerlichen Intelligenz in Abhängigkeit von den Produktionsverhältnissen und den Eigentümern der Produktionsmittel gebracht, so stellt das Basis-Oberbau-Modell die ,Ideen' und ,Ideologien' dieser Schicht in dieselbe Abhängigkeit. Denn gemäß der Prämisse des Basis-Oberbau-Modells sind die Produkte des Bewußtseins „Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse" (Engels)21; selbst wenn ihnen eine ,relative Autonomie' und eigene Wirksamkeit zugestanden wird, sind sie - wie Lukacs betont „letzten Endes doch von den ökonomischen Verhältnissen und von den auf diesem Boden entstehenden Klassenkämpfen bestimmt"22. Daher können die bürgerlichen Intellektuellen, auch wenn „sie sich dessen eventuell völlig unbewußt" sind23, mit ihren Ideologien ,objektiv' nur den Klasseninteressen der Bourgeoisie dienen.

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Die marxistischen Modelle mögen in sich logisch sein, doch viele Fragen, die eine ,Sozialgeschichte von Ideen' unmittelbar nahelegt, können innerhalb dieser Modelle nicht beantwortet, ja nicht einmal gestellt werden. Die Modelle zeigen nicht nur empirische Lücken, insofern sie offensichtliche Bestandteile konkreter historischer Wirklichkeit vernachlässigen, sondern sind auch theoretisch unbefriedigend, insofern sie die Problematik der Wechselbeziehungen von Bewußtseinsphänomenen und sozialen Sachverhalten zu sehr einengen. Nachteile dieser Art treten nun allerdings nicht allein beim marxistischen Gesellschafts- und Erkenntnis-Modell auf, sie lassen sich vielmehr bei allen ,geschlossenen' Modellen beobachten, z. B. auch bei rigoristischen Modellen positivistischer oder geisteswissenschaftlicher Observanz, letztlich bei sämtlichen erkenntnistheoretischen Modellen, welche das Verhältnis zwischen menschlichem Bewußtsein und äußerer Wirklichkeit dichotomisieren und in der Folge entweder die eine oder die andere Seite zu einer ,eigentlichen' und ,objektiven' Realität hypostasieren. Denn stets werden dann - je nach Modell-Spezies verschieden materielle Gegebenheiten oder soziale Sachverhalte oder Bewußtseinsphänomene zu Scheinwirklichkeiten erklärt, gemäß den Systemforderungen des Modells interpretativ auf die jeweils gültigen ,objektiven Realitäten' zurückgeführt bzw. von ihnen abgeleitet und folglich in den konkreten Materialanalysen entweder als bloße ,Funktionen' behandelt oder völlig übergangen. Demgegenüber wird eine sozialhistorische Analyse von Ideen, die ,offen' und ohne Systemzwang vorgehen will, als erstes die Einengung ihres empirischen Radius zu vermeiden suchen, d. h. sie wird ganz selbstverständlich auch Stratum und Lage der Gebildeten als Teil historischer Realität ernstnehmen und für ihre Fragestellung in Betracht ziehen. Sie muß sich zweitens aber auch dem Tatbestand stellen, daß ,Ideen' in der Form von Weltanschauungen und Mythen, Realitätsbildern des common sense, religiösen oder philosophischen Ordnungsentwürfen ebenfalls als Phänomene der gesellschaftlichen Wirklichkeit auftreten. Diese Realitätsbilder und Ordnungsentwürfe sind ,institutionalisiert' in Erziehungssystemen, Religionen, rechtlichen und politischen Ordnungen, sie prägen Verhalten und Handeln. Die Frage, wie sie sich auf Wirklichkeit beziehen, d. h. die Frage nach ihrer Realitätsadäquanz, bleibt zwar zunächst offen, ihr Realitätsstatus wird jedoch akzeptiert. Es wird also für unzulässig erachtet, Realitätsbilder von vornherein als ,Belege' für irgendwelche Gegebenheiten der Wirklichkeit oder für sonstige Entitäten zu interpretieren; sie dürfen weder in abbildhafte Funktionen eines ,reinen Denkens'

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aufgelöst, noch als bloßer Ausdruck politischer oder ökonomischer ,Interessen', als bewußte Verschleierung ,tatsächlicher' politischer und sozialer Gegebenheiten abgetan werden. Es geht vor allem nicht an, Realitätsbilder sofort und ausschließlich als ,Ideologien' im marxistischen Sinn, d. h. als Mittel zur Legitimation und Aufrechterhaltung der Herrschaft einer herrschenden Klasse, als Instrumente der Rechtfertigung und Täuschung zu betrachten, obwohl sie natürlich solche Funktionen annehmen können. Zunächst jedoch wollen Realitätsbilder die Wirklichkeit überschaubar machen und deren ,Sinn' bestimmen; sie werden von jenem primordialen menschlichen Bedürfnis hervorgerufen, das Arnold Zweig einen seiner Romanhelden zum Ausdruck bringen ließ: ,,Der Mensch ward eingerichtet, ohne einen Sinn nicht gut auskommen zu können. " 24 Sinndeutungen der Wirklichkeit samt deren Institutionalisierungen, die ihrerseits durch das Verlangen nach individuellem psychischem Halt wie nach gesellschaftlichen Ordnungsmaßstäben für Denken und Handeln gefördert werden, nehmen demnach ihren Ursprung in der Psyche bzw. im Bewußtsein konkreter Menschen und nicht etwa in den kategorialen Entitäten einer ,Materie' oder einer ,reinen Vernunft'. Das Streben nach Wissen um Sinn und Ordnung der Wirklichkeit aktualisiert sich in dem psychischen Phänomen (bzw. Bewußtseinsphänomen) der ,Erfahrung'. Realitätsbilder, die Sinn und Ordnung der Wirklichkeit inhaltlich zu bestimmen suchen, sind symbolische Auslegungen konkreter Erfahrungen oder auch sekundäre Reflexionen über Erfahrungsexegesen. Demzufolge kann eine ,Sozialgeschichte der Ideen' nicht mit ,Ideen' in einem sensualistischen oder empiristischen, idealistischen oder marxistischen Sinn operieren, sondern hat es mit Realitätsbildern zu tun, die in der Exegese von Erfahrungen gewonnen werden; sie muß daher versuchen, auf Erfahrungen durchzustoßen. Die Erfahrungen selbst können nun allerdings nicht zum Gegenstand einer ,objektivierenden' Analyse gemacht werden, ebensowenig die Relation der Erfahrungen zu den Symbolen, durch die sie ausgelegt werden, wie zum Verhalten, das sie hervorrufen. Erfahrungen sind - wie Ronald D. Laing diesen Sachverhalt umschrieb - ,,unsichtbar", aber „gleichzeitig evidenter als irgend etwas sonst" 25 • Sie sind eigenständige Ereignisse in der Realität, die aus einer ,anderen' und ,eigentlichen' Wirklichkeit logisch nicht abgeleitet werden können. Es ist an dieser Stelle wohl angezeigt, dem möglichen Mißverständnis entgegenzutreten, es würden hier Positionen irgendeiner ,subjektivistischen' Erkenntnistheorie vertreten. Die obigen Be-

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merkungen unterstellen natürlich keineswegs, daß es eine von Erfahrungen bzw. vom Bewußtsein unabhängige Realität nicht gebe, sie akzentuieren jedoch erstens, daß Aussagen nur über die Realität möglich sind, von der wir Erfahrung haben, und zweitens, daß Realität nicht auf diejenigen Termini der Erfahrung eingeschränkt werden darf, die ,Dinge' der Außenwelt sind. Die Problematik liegt jenseits der Reichweite von Subjekt-Objekt-Modellen; das Wesen der Relation zwischen Erfahrungen und Phänomenen der Außenwelt - Symbolen, Verhalten, Institutionen - ist „mysteriös", um noch einmal Laing zu zitieren, ,,das heißt, es ist kein objektives Problem" 2 6. Denn Erfahrungen sind „weder ,subjektiv' noch ,objektiv', weder ,innerlich' noch ,äußerlich'" 2 7, Andererseits ereignen sich Erfahrungen, welche die Entwicklung symbolischer Realitätsbilder anstoßen, nicht im luftleeren Raum, sondern in einer konkreten historischen Situation mit dem jeweils vorhandenen Geflecht individuell-biographischer, sozialer, ökonomischer und politischer Gegebenheiten. Zu diesen gehören auch die bereits vorhandenen Ordnungsentwürfe, mittels derer neue Erfahrungen unter Umständen ausgelegt werden, in die diese Erfahrungen eingeordnet werden oder gegen die sich neue Erfahrungsauslegungen auflehnen. Materielles Substrat, soziopolitische Verhältnisse und kurante Ordnungsentwürfe bilden also nicht nur den Rahmen der Erfahrungsanlässe, sie liefern auch das ,Material' für die symbolischen Realitätsbilder und sorgen für deren historischspezifische ,Einfärbung'. Der Analyse bieten sich demnach zwei Untersuchungsfelder an, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen: einerseits der historische Kontext mit den genannten Bereichen, andererseits die symbolischen Realitätsbilder, in denen bestimmte Sektoren des Kontexts in unterschiedlicher Weise als ,Erfahrungsbereiche' thematisch werden können. Eine Sozialgeschichte von Realitätsbildern hätte so die Aufgabe, durch die interdependenten Operationen einer Symbolanalyse solcher Realitätsbilder und einer Sozialgeschichte ihres Erfahrungskontexts auf Erfahrungen durchzustoßen, um in deren Licht die Realitätsadäquanz der Erfahrungsexegesen, sekundären Reflexionen, Institutionalisierungen und Verhaltensweisen zu prüfen. Wie diese Aufgabe im einzelnen zu lösen ist, wurde mit den bisherigen Ausführungen freilich noch nicht gesagt. Da die skizzierten Sachverhalte kein ,Modell' im strengen Sinn konstituieren, leiten sich aus ihnen keine verbindlichen ,Rezepte' ab. Es sei der Hinweis erlaubt, daß dies keine billige Ausrede ist: Die ,geschlossenen' Systeme sind es üblicherweise, welche die einfachen Ant-

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worten liefern; sie kommen zwar damit dem menschlichen Verlangen nach umfassenden und logischen Erklärungen der Wirklichkeit entgegen, sind dieser Realität aber inadäquat, denn es gibt weder einen Erkenntnisstandpunkt, von dem aus die Wirklichkeit insgesamt ,von außen' überblickt werden könnte, noch ein logisches System, in dem sie aufginge. So sollten denn auch die voraufgegangenen Überlegungen zu den Problemen einer ,Sozialgeschichte der Ideen' in erster Linie auf die „Crux der Sozialphänomenologie" (Laing)2B hinweisen, die in der Erfahrungsproblematik liegt, und allenfalls die Richtung andeuten, die eine adäquate Analyse einzuschlagen hätte. Weitere theoretische und methodische Anregungen sowie Beispiele konkreter Materialanalysen, die für die Lösung der genannten Aufgabe hilfreich sein können, bieten gegenwärtig vor allem Arbeiten der modernen Bewußtseinstheorie und Wissenssoziologie, der Psychohistorie und nicht-individualistischen Psychoanalyse29.

Der vorliegende Band will als Versuch verstanden sein, einer im beschriebenen Sinn ,offenen' und realitätsadäquaten sozialhistorischen Analyse von ,Ideen' näherzukommen und zugleich zur weiteren Erforschung des ,Bildungsbürgertums', seiner Realitätsdeutungen und Ordnungsentwürfe beizutragen. Unter dieser Zielvorstellung fanden sich Beiträger verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zusammen; die Wechselbeziehungen zwischen sozialhistorischen Sachverhalten und Bewußtseinsphänomenen werden zum Teil in den einzelnen Beiträgen thematisch gemacht, zum Teil erschließen sie sich erst aus der Verbindung dieser Beiträge. Um mehr als einen Versuch kann es sich im Hinblick auf die genannten Ziele nicht handeln: erstens sind die skizzierten theoretischen Probleme zu komplex, als daß sie in diesem Band eine generelle Lösung finden könnten, zweitens ist der Untersuchungsgegenstand ,wilhelminisches Bildungsbürgertum' zu umfangreich und zu breit gefächert, als daß er im Rahmen dieses Taschenbuchs erschöpfend behandelt werden könnte. Es seien nur einige Themenbereiche genannt, die ganz oder teilweise fehlen: verschiedene Aspekte zeitgenössischer Philosophie, viele Bereiche der Dichtung dieser Zeit vom Naturalismus bis zum beginnenden Expressionismus, ferner die bildende Kunst und die Musik30 • Der Historiker mag zudem beanstanden, daß bestimmte Entwicklungen geistiger Positionen (und auch Stilrichtungen künstlerischer Produkte) in ihren Wechselbeziehungen mit anderen historischen Ent-

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wicklungen während der wilhelminischen Zeit nur zum Teil berücksichtigt werden. Das Konzept des vorliegenden Bandes orientiert sich an Problemen, die den Autoren zentral erscheinen, und beschränkt sich auf eine Auswahl von Gegenständen und Themen, an denen diese Probleme exemplarisch durchgearbeitet werden können; allerdings glauben die Verfasser, daß sie ungeachtet der begrenzten Auswahl auch auf der Ebene der Gegenstände und Themen neue Einsichten vermitteln können. Unter den genannten Problemen steht zunächst die Frage im Vordergrund, was das ,Bildungsbürgertum' - zur wilhelminischen Zeit - als soziales wie geistiges Phänomen eigentlich ist. Diese Frage kann nach Überzeugung der Verfasser nicht durch eine Nominaldefinition - sei sie soziologisch oder geistesgeschichtlich inspiriert - beantwortet werden, in deren Licht dann etwa Gegenstände und Themen auszuwählen, zu ordnen und zu analysieren wären. Vielmehr muß versucht werden, durch Analysen der konkreten historischen Personen und Phänomene einer genaueren Bestimmung des ,Bildungsbürgertums' näherzukommen. Es versteht sich von selbst, daß die Analysen hierbei nicht voraussetzungslos verfahren, sondern an tradierten Selbstinterpretationen und Möglichkeiten zur Eingrenzung des Gegenstands mittels bereits erprobter Kriterien anknüpfen. Daher hat der zweite Teil dieser Einleitung zur Aufgabe, Möglichkeiten der Schichtbestimmung und Lagebeschreibung des wilhelminischen Bildungsbürgertums zu prüfen sowie zu klären, welche Schlußfolgerungen hieraus für die problemorientierten Materialanalysen gezogen werden können. Die generelle Frage nach dem Bildungsbürgertum als sozialem und geistigem Phänomen aktualisiert sich in Fragen nach den verschiedenen Erscheinungsformen bildungsbürgerlicher Existenz und bildungsbürgerlicher Realitätsdeutungen. Da sich diese Erscheinungsformen in einem geschichtlich-gesellschaftlichen Rahmen entfalten, der von ökonomischen und politischen Sachverhalten, rechtlichen Ordnungen und geistigen Traditionen geprägt ist, untersucht der I. Teil des Bandes entsprechende ,Rahmenbedingungen'. Der geistige Rahmen, der unter dem Terminus ,Bildung' von besonderer Bedeutung für Formation und Selbstverständnis des Bildungsbürgertums ist, war allerdings zur wilhelminischen Zeit schon soweit verfestigt, daß zu seiner Erhellung auf die Zeit vor 1890 zurückgegriffen werden muß. Zum Teil sind solche Rückgriffe auch notwendig, um Entwicklungen - respektive Konstanten - innerhalb des soziopolitischen Rahmens der Rechtsordnung und bei den sozioökonomischen Rahmenbedingungen ausmachen zu können. Die letzteren werden - um damit zugleich ein 17

weiteres grundsätzliches Problem zu behandeln - mit einer wichtigen und verbreiteten ideologisch-politischen Erscheinung in Korrelation gebracht: mit dem so spektakulären Phänomen der bildungsbürgerlichen Imperialbegeisterung. Wird mit der Imperialbegeisterung eine für das wilhelminische Bildungsbürgertum typische Erscheinung erfaßt, so sind die im II. Teil behandelten geistigen und politischen Positionen nur bedingt typisch für die mehrheitlich im Bildungsbürgertum umlaufenden Ideen und Einstellungen. Ebenso ist die Frage, ob die Vertreter jener Positionen - Max Weber, Kurt Riezler, Thomas Mann - ,Repräsentanten' des wilhelminischen Bildungsbürgertums sind, nicht ohne weiteres zu beantworten, da sie in jedem Fall den durchschnittlichen Bildungsbürger der Zeit an intellektuellen Fähigkeiten, künstlerischem Vermögen bzw. kraft politischer Stellung überragen. Andererseits ist es gerade dieser Sachverhalt, der die nicht-durchschnittlichen Exponenten des Bildungsbürgertums untersuchenswert macht: sei es deswegen, weil sie Probleme der eigenen Schicht wie auch der wilhelminischen Gesamtgesellschaft zu größerer Bewußtheit und präziserer Artikulation bringen, sei es aufgrund ihrer außergewöhnlichen Biographie, in der sich manche dieser Probleme besonders deutlich manifestieren. Die Frage, ob die genannten Personen demzufolge nicht doch repräsentativ sind, und zwar nicht als Vertreter des Durchschnitts, sondern insofern sie grundsätzliche Probleme bildungsbürgerlicher Existenz in der wilhelminischen Gesellschaft exemplarisch vor Augen führen, schlägt wieder den Bogen zur Frage, was das Bildungsbürgertum als geistiges und soziales Phänomen ist: Können dessen Charakteristika an jenen exemplarischen Fällen näher bestimmt werden? Die Suche nach charakteristischen Gemeinsamkeiten soll allerdings die Beobachtung und Analyse unterschiedlicher Erscheinungsformen keineswegs in den Hintergrund drängen. Wenn hier konstatiert wird - was z. T. schon die Titel der Beiträge zum Ausdruck bringen -, daß eine charakteristische Gemeinsamkeit jener Exponenten des Bildungsbürgertums eine gewisse Ambivalenz des Denkens und Verhaltens zwischen Affirmation und Opposition gegenüber politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Verhältnissen der Zeit ist, so ist damit noch nichts darüber ausgesagt, wie sich diese Ambivalenz jeweils aktualisiert und welche der beiden möglichen Denk- und Verhaltensweisen hierbei dominieren. Da zumindest die Möglichkeit besteht, daß die Skala konkreter Erscheinungsformen, welche sich zwischen Anpassung und Widerstand bewegen, bis zu jenem Punkt reicht, an dem die Haltung 18

des Widerstands dominiert, untersucht der III. Teil - als letztes der zentralen Probleme - die Frage, ob im Bildungsbürgertum auch Widerstandsphänomene zu finden sind. Doch ebenso, wie sich ambivalentes Denken und Verhalten unterschiedlich aktualisieren kann, ist auch ,Widerstand' eine Position, die nicht von vornherein eindeutig bestimmbar ist. Aus diesem Grund werden verschiedenartige soziopolitische, kulturelle bzw. spirituelle Phänomene der wilhelminischen Zeit zur Untersuchung herangezogen, um inhaltlich differenzierte Bestimmungen dessen zu ermöglichen, was eventuell als ,Widerstandsphänomen' bezeichnet werden kann. über die Realitätsadäquanz von Widerstandsphänomenen sagt allerdings weder das bloße Vorhandensein von Widerstand noch dessen ,Stärke' oder ,Effektivität' etwas aus; daher ist zusätzlich zu prüfen, ob aus dem Widerstand gegen spirituelle und gesellschaftliche Unordnung realitätsadäquate Antworten entwickelt werden.

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2. Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit von Klaus Vondung In den Jahrzehnten nach der Gründung des deutschen Nationalstaats, vor allem jedoch während der ,wilhelminischen Ära' nach Bismarcks Rücktritt, durchlief die deutsche Gesellschaft einen beispiellosen und - gemessen an der relativ kurzen Zeit - rapiden Umwandlungsprozeß 1• Die Zunahme der Bevölkerung zwischen 1890 und 1913 um 36 ¼ kann nachgerade als ,Bevölkerungsexplosion' bezeichnet werden; während desselben Zeitraums begann die Zahl der Stadtbewohner die der ländlichen Bevölkerung zu übersteigen, die Zahl der Arbeitnehmer in Industrie, Verkehr, Handel, Banken und Versicherungen wurde größer als die Beschäftigtenzahl in der Landwirtschaft. Dieser Wandel in der Bevölkerungs- und Beschäftigungsstruktur reflektierte den Strukturwandel der Wirtschaft. Nachdem Deutschland während der ,Grossen Depression' zwischen 1873 und 1895 eine erste Phase der Hochindustrialisierung durchlaufen hatte, steigerte sich während der darauf folgenden und bis 1913 dauernden Hochkonjunktur die Gesamtproduktion von Industrie und Handwerk um mehr als 100 ¼; der Aufstieg von Großunternehmen und der Konzentrationsprozeß in fast allen Bereichen der wirtschaftlichen Organisation setzten sich beschleunigt fort und bestimmten endgültig die moderne Industriewirtsd::laft.Die Phase des hochindustriellen Ausbaus fiel mit außenwirtschaftlicher und außenpolitischer Expansion zusammen; unter dem ,neuen Kurs' Wilhelms II. begann das Deutsche Reich ,Weltmachtpolitik' zu betreiben. Auf innenpolitischem und sozialem Gebiet ergaben sich neue Konstellationen und Konfrontationen: Neben die traditionelle Führungsschicht adliger Großgrundbesitzer trat die neu entstandene industrielle Großbourgeoisie. Ihr gegenüber gewann die an Zahl ständig wachsende Industriearbeiterschaft an Geschlossenheit, die Partei, die sie politisch vertrat, an Gewicht - bei den Reichstagswahlen von 1912 errang die SPD die meisten Mandate. Die skizzierten Wandlungen wurden während der ganzen wilhelminischen Zeit von krisenhaften Erscheinungen mannigfaltiger Art begleitet, die auf drei hauptsächliche Ursachen zurückgeführt werden können: Die eine lag in dem rapiden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozeß selbst, welcher zwangsläufig Entwicklungs- und Strukturkrisen mit sich brachte. Die andere Ursache für eine wesentlich tiefergehende und vor allem per20

manente Krise der wilhelminischen Gesellschaft sehen Soziologen und Historiker gemeinhin in den „Verwerfungen" zwischen jenen Wandlungen und dem politischen System2, in der „Spannung zwischen der voraneilenden ökonomischen und sozialen Entwicklung zur Industriegesellschaft auf der einen Seite und der überkommenen starren politischen Struktur auf der anderen Seite"a. Die dritte Ursache lag in der geistigen Orientierungs- und Niveaulosigkeit der Zeit, die schon von Nietzsche als ,Bildungsphilistertum' gegeißelt worden war; der weniger leidenschaftlich urteilende Zeitgenosse Theobald Ziegler konstatierte einen Mangel an „führenden Geistern" und fand - nicht ohne unterschwellige Ironie - an Positivem wenig mehr hervorzuheben als den „Fleiß und die Betriebsamkeit unserer Gelehrten" 4 • Wirtschaftliche, soziale, politische und geistige Krisenphänomene betrafen die verschiedenen Schichten der Gesellschaft in unterschiedlicher Weise, besonders stark wirkten sie sich auf das ,mittelständische' Bürgertum aus. Der handwerkliche, handel- und gewerbetreibende Mittelstand geriet mit der fortschreitenden Hochindustrialisierung und dem wachsenden Gewicht der industriellen Großbourgeoisie wie der Industriearbeiterschaft in eine primär wirtschaftlich bedingte Strukturkrise, die jedoch auch gesellschaftliche und politische Folgen hatte. Weniger eindeutig bedingt und vielschichtiger in ihrer Erscheinung war die Krise des ,gebildeten Mittelstands'. Zwar waren sich gerade die Angehörigen des Bildungsbürgertums des Vorhandenseins einer Krise besonders bewußt, wie viele Äußerungen zeigen, doch läßt sich nicht ohne weiteres feststellen, ob sie eher eine schichtspezifische Krise des gebildeten Mittelstands reflektierten, seine geistige Situation wie seine gesellschaftliche Lage betreffend, oder aber allgemeine Krisenphänomene der wilhelminischen Gesellschaft, wie sie aus deren sozialen und politischen Verwerfungen resultierten und von denen sich auch das Bildungsbürgertum betroffen fühlte. Diese Frage, die zum engeren Kreis der zentralen Fragen gehört, welche die folgenden Beiträge zu beantworten versuchen, kann besser verfolgt werden, wenn zuvor einige Aufschlüsse über die soziale Lage des Bildungsbürgertums innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft gewonnen werden. Eine solche Klärung setzt ihrerseits die Bestimmung dessen voraus, was das ,Bildungsbürgertum' eigentlich ist. Allerdings beantwortet weder eine Stratifikationsbeschreibung des Bildungsbürgertums noch ein Aufriß seiner sozialen Lage automatisch die Fragen nach Ideologien, politischen Einstellungen und Interessen dieser Sd:richt. Aus zwei Gründen können hier

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keine unmittelbaren Schlußfolgerungen gezogen werden: Der erste liegt in der von Soziologen und Historikern mehrfach angemerkten Schwierigkeit, die Gebildeten überhaupt im ,Haus der sozialen Schichtung' unterzubringen 5, bzw. ein einigermaßen einheitliches Bild der Schicht zu gewinnen, aus dem allgemeinere Einsichten abgeleitet werden könnten. Der zweite liegt in der grundsätzlichen Schwierigkeit, aus einer Lagebeschreibung Schlußfolgerungen für ideologische und politische Einstellungen zu ziehen; von der sozioökonomischen Lage kann allenfalls, wie schon Theodor Geiger hervorhob, zurück auf die wirtschaftlich-soziale Schichtung geschlossen werden, nicht jedoch auf die „gesellschaftlichen Totalgesinnungen" 6• Betrachten wir diese beiden Schwierigkeiten etwas näher, um dann zu fragen, was Stratifikationsbeschreibung und Lagebestimmung des Bildungsbürgertums gleichwohl leisten können. Die Schwierigkeit, das Bildungsbürgertum soziologisch eindeutig zu klassifizieren, ergibt sich aus der begrenzten Bedeutung sozioökonomischer Kriterien für dessen Schichtbestimmung. Lassen sich industrielle Bourgeoisie, Industriearbeiterschaft, aber auch mittelständische Schichten wie Handwerker oder Gewerbetreibende nach den Kriterien des Eigentums an Produktionsmitteln, der Höhe des Einkommens und der Berufstätigkeit stratifizieren, so ist dies bei den Gebildeten nicht möglich. Aus der Tatsache, daß sie in der Regel keine Eigentümer von Produktionsmitteln sind, folgt zunächst nichts; die Höhe des Einkommens kann äußerst stark variieren, zudem ist sie für das Selbstverständnis der Schichtangehörigen von sekundärer Bedeutung; die Berufe weisen ebenfalls eine große Variationsbreite auf. Gleichwohl spielen natürlich ökonomische Sachverhalte auch für die Gebildeten eine Rolle als Schichtmerkmale, doch die nicht-ökonomischen Charakteristika sind für die Stratifikationsbeschreibung zweifellos von größerer Bedeutung, und diese Charakteristika sind nicht immer so exakt zu erfassen wie ökonomische. Noch größere Schwierigkeiten ergeben sich daraus, daß die zahlreichen sozialen Merkmale, ökonomische wie nicht-ökonomische, die sich bei der Untersuchung von Gebildeten sammeln lassen, nicht durchgängig auftreten, sondern in unterschiedlicher Streuung und Kombination. Versuche, das gebildete Bürgertum der wilhelminischen Ara zu stratifizieren oder zumindest seine auffälligsten Merkmale zu bestimmen, wurden schon von Zeitgenossen unternommen. Diese meist noch lückenhaften, wenn auch im einzelnen oft aufschlußreichen Beschreibungen wurden seither präzisiert und erweitert, doch häufig ebenfalls nur en passant oder an untergeordneter

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Stelle im Rahmen umfassenderer Stratifikationen bzw. thematisch anders gerichteter Arbeiten. Auf solche Beobachtungen und Ergebnisse älterer wie neuerer Untersuchungen 7 stützt sich - neben den Ergebnissen des vorliegenden Bandes - die folgende Charakteristik des wilhelminischen Bildungsbürgertums. Eingedenk der oben genannten Schwierigkeiten unterbleibt allerdings der Versuch, notwendige wie hinreichende Kriterien zur Bestimmung dessen, was das Bildungsbürgertum ist, zu fixieren und damit die Schicht eindeutig zu umgrenzen. Statt dessen wird eine eher typologische Beschreibung vorgenommen, bei der zu beachten ist, daß entsprechend der ungleichen Häufung und Verteilung möglicher Merkmale die Übergänge zwischen typologischem Kernbereich und den verschiedenen Randbereichen fließend sind. Dennoch besteht die Gefahr, daß ein zu einheitliches und geschlossenes Bild entsteht und daß der typologische Querschnitt wie die daran anschließende Lagebeschreibung die zweite, oben erwähnte Schwierigkeit vergessen machen und den Eindruck erwekken, als erlaubten sie auf direktem Weg allgemeine Schlußfolgerungen für Ideologie und Mentalität, Interessen und politische Einstellungen. Aus mehreren Gründen können solch direkte Schlußfolgerungen nicht oder nur mit begrenzter Gültigkeit gezogen werden: Daß von der wirtschaftlichen Lage nicht auf ,gesellschaftliche Totalgesinnungen' geschlossen werden kann, daß generell der Grad des Deckungsverhältnisses zwischen Lage und Ideologie sehr gering ist, wurde schon von Geiger betont. Ein weiterer Grund liegt in dem Umstand, daß die verschiedenartigen Berufe von Gebildeten höchst unterschiedliche, berufsspezifische Interessen und Verhaltensweisen hervorbringen können. Und schließlich ist sogar fraglich, ob es in der wilhelminischen Zeit überhaupt noch eine einheitliche ,Mentalität' der bildungsbürgerlichen Schicht gab. Zwar definierte Geiger die ,Schicht' geradezu als einen „Bevölkerungsteil, dem eine typische Mentalität zugeschrieben wird" 8, wobei er Mentalität als „geistig-seelische Disposition" bestimmte, als die „unmittelbare Prägung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt und die von ihr ausstrahlenden, an ihr gemachten Lebenserfahrungen"9; doch die soziale Lebenswelt des Bildungsbürgertums war um die Jahrhundertwende schon so heterogen und bei verschiedenen seiner Gruppen von so ungleichartigen Faktoren geprägt, daß man kaum gleichartige Lebenserfahrungen unterstellen kann, geschweige denn dieselben Erfahrungsauslegungen. Denn ein besonderes Charakteristikum der Gebildeten ist eben das - zumindest potentielle - Vermögen, ihre sozialen Bedingungen zu reflektieren, ihre Erfahrungen auf ver-

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schiedene Art und Weise auszulegen und eventuell auch bewußt atypische Verhaltensweisen zu entwickeln. Es erscheint daher notwendig, die enge Koppelung zwischen Schicht und Mentalität, die Geiger vornahm, zu lockern - oder aber die Schlußfolgerung zu ziehen, daß sich das Bildungsbürgertum während der wilhelminischen Zeit als Schicht bereits in einem Desintegrationsprozeß befand. Obwohl es kaum möglich ist, aus den - ohnehin vereinfachenden Schicht- und Lagebeschreibungen des wilhelminischen Bildungsbürgertums direkte und allgemeine Folgerungen abzuleiten, leisten sie doch wichtiges für die weiteren Analysen: Vor ihrem Hintergrund werden die konkreten Personen und Gruppen mit ihren Vorstellungen und Handlungen nicht nur deutlicher, sondern auch verständlicher. Dies ist nicht so gemeint, daß Schichtspezifika und Lage lediglich Hintergrund im Sinne einer kontrastierenden Folie seien, vor der sich die Ideen und Handlungsweisen einzelner zwar besser abheben, gegenüber der sie aber letztlich doch beliebig und unabhängig sind. Wenn auch Erfahrungsauslegungen und Handlungen von schichtspezifischen Sachverhalten und Gegebenheiten der Lage nicht determiniert werden, so werden sie von diesen doch insofern bestimmt, als sie in der Auseinandersetzung mit ihnen hervorgetrieben werden. Die Schicht- und Lagebeschreibung kann daher ein Bezugsfeld herstellen, das nicht nur erkennen läßt, zu welchen Sachverhalten bestimmte Vorstellungen und Handlungen in Relation stehen und zu welchen nicht, sondern auch erlaubt, die Art und Weise der jeweiligen Relation zu bestimmen, d. h. die unterschiedlichen Reaktionsmodi einsichtig zu machen. Eine Stratifikationsbeschreibung des wilhelminischen Bildungsbürgertums hat es mit einem historisch vergleichsweise ephemeren, zudem stark national geprägten Phänomen zu tun. Im Gegensatz zu den historisch wie zivilisatorisch weniger spezifischen Begriffen ,Intelligenz' oder ,Intellektuelle' bezeichnet der Terminus ,Bildungsbürgertum' eine bestimmte Gesellschaftsschicht in Deutschland, mit einer ihr eigentümlichen Geschichte, spezifischen geistigen und sozialen Merkmalen und einer - zumindest während der Blütezeit dieser Schicht - relativ einheitlichen Mentalität. Daß sich die Gebildeten anderer Länder, etwa die Englands oder Frankreichs, im Hinblick auf geistigen Habitus, politisches Verhalten und Stellung im gesellschaftlichen Gesamtgefüge vom deutschen Bildungsbürgertum unterschieden, obwohl sie zum Teil auch vergleichbare Merkmale aufwiesen, kann hier nur festgehalten, jedoch nicht weiter ausgeführt werden. Die Charakteristika des 24

deutschen Bildungsbürgertums, das sich im 18. Jahrhundert als ,Stand der Gebildeten' zu profilieren begann, bildeten sich im Lauf des 19. Jahrhunderts heraus und waren zu Beginn der wilhelminischen Ära voll entwickelt. Nach Geiger war das Bildungsbürgertum zu dieser Zeit ein „wirklicher Stand", ,,mit eigenen Sitten und Konventionen, einer eigenen Lebenseinschätzung und Lebensführung, eine Welt für sich, in breiten Teilen minder begütert als das Besitzbürgertum, aber zu stolz auf seinen geistigen und sozialen Rang, als daß es die ,Geldmacher' als seinesgleichen erachtet hätte" 10• Die Geschichte dieses besonderen Standes war 1918 zu Ende: Wie kein anderes Element der alten Gesellschaft verlor er nach dem Ersten Weltkrieg - wie ebenfalls Geiger feststellte - seinen Rang und seine Bedeutung im sozialen Gesamtgefüge; als ,Stand' wurde das Bildungsbürgertum von einem Auflösungsprozeß erfaßt, einem Prozeß, der sich allerdings schon in der wilhelminischen Zeit angekündigt hatte. Folgende Charakteristika bestimmen den typologischen Innenbereich der bildungsbürgerlichen Schicht zur wilhelminischen Zeit: (1) Angehörige des Bildungsbürgertums besitzen eine akademische Ausbildung. Das ,humanistische' oder ,klassische' Bildungsideal, das ursprünglich die ausschlaggebende geistige Bestimmung der ,Gebildeten' gewesen war, wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts formalisiert. Die ,gebildeten Stände' wurden zum sozialen Statusbegriff, ab der Mitte des Jahrhunderts wurde unter ,Bildung' fast nur noch akademische Bildung verstanden. In der wilhelminischen Zeit kann die akademische Ausbildung als das maßgeblichste Kriterium für die Zugehörigkeit zum Kernbereich des Bildungsbürgertums angesehen werden; nach Geiger stellte der ,Stand der Akademiker' eine „sehr fest abgegrenzte Kernmasse innerhalb der ,Gebildeten' [dar], fest gebunden vor allem durch das Reservat gehobener Berufsfunktionen" 11• Nach diesem Kriterium sind folgende Berufsgruppen dem Bildungsbürgertum zuzurechnen: als erste - und wichtigere - Obergruppe die höhere Beamtenschaft mit Universitätsprofessoren, Oberlehrern ( = Gymnasiallehrern), Richtern, höheren Verwaltungsbeamten; zur Beamtenschaft im weiteren Sinn gehören auch - wie Hintze 1911 konstatierte - die ,,teilweise wenigstens verstaatlichte evangelische Geistlichkeit" 12• Die zweite Obergruppe bilden die akademischen freien Berufe: Ärzte, Rechtsanwälte, sowie Schriftsteller, Künstler, Journalisten und Redakteure mit entsprechender Ausbildung 1a. (2) Das Bildungsbürgertum rekrutiert sich überwiegend aus sich selbst. Besonders ausgeprägt ist die Selbstrekrutierung bei den Beamten. Aber auch bei den Angehörigen freier Berufe waren die

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14 Väter großenteils bereits Akademiker, zudem vielfach Beamte • Eine signifikante Minorität des Bildungsbürgertums hat Kaufleute zu Vätem15; nach Hintze rekrutieren sich auch Beamte häufig aus 16 diesem Berufsstand, wie überhaupt aus dem ,alten Mittelstand' . (3) Gleiches Herkommen, gemeinsame gleichartige Ausbildung, Mitgliedschaft in Institutionen, die höhere Schulbildung oder Studium voraussetzen (Verbindungen, Reserveoffizier), prägen Mentalität wie soziales Verhalten und führen zu ,ln-group-Verhalten' im gesellschaftlichen Verkehr. (4) Gesellschaftliches Prestige ist wichtiger als wirtschaftliche Prosperität. Nach Geiger ist für das Bildungsbürgertum „die Art des Einkommens weniger ausschlaggebend, als die Frage - wer mit wem am Stammtisch sitzt" 17. Die Prädominanz des gesellschaftlichen Prestiges gilt vor allem auch für die Beamten, die ihr Ansehen zudem noch auf einen besonderen „Fonds von sittlichen Gefühlen und Verpflichtungen" gründen können, wie Hintze formulierte; nach dessen Feststellung beginnt allerdings in der wilhelminischen Zeit dieser ,Geist des Beamtentums' auch auf die freien Berufe abzufärben, namentlich auf Ärzte und Rechtsanwä1te1s. (5) Das Bildungsbürgertum ist überwiegend protestantisch, zu einem weit höheren Prozentsatz, als er dem Anteil der protestantischen Bevölkerung entspricht19 • Damit zusammen hängt, daß die Studenten- und Professorenschaft überproportional aus Protestanten besteht. 20 (6) Das Bildungsbürgertum ist die ,kulturelle Elite' der Gesellschaft. Die Interpretationen der Wirklichkeit und die Ordnungsentwürfe seiner Mitglieder, die von positiven und formalen Systemen - etwa im Rechtswesen - bis hin zu künstlerischen Realitätsdeutungen reichen, konstituieren die ,öffentliche' Kultur. Wenn Geiger sagt, daß „dieser Stand repräsentativ für die Kultur seines Volkes" ist21 , so ist von derjenigen Kultur die Rede, die das Bildungsbürgertum selbst hervorbringt; die repräsentative Geltung dieser Kultur kann durchgesetzt werden, weil vom Bildungsbürgertum im wesentlichen die öffentliche Meinung gemacht wird 22 • (7) Das Bildungsbürgertum besetzt die Berufe, welche die von ihm entwickelten Ordnungsentwürfe weitervermitteln und dadurch sozialdominant werden lassen: Universitätsprofessoren aller Disziplinen, insbesondere der geisteswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, theologischen und juristischen, Gymnasiallehrer, Geistliche, Schriftsteller und Künstler, Journalisten und Redakteure. Die Angehörigen dieser Berufe, die nicht nur durch ihre

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Ausbildung dem Bildungsbürgertum angehören, sondern auch weiterhin hauptberuflich ,Bildung' betreiben (im dreifachen Sinn der Entwicklung von Realitätsdeutungen und Ordnungsentwürfen, der Ausbildung von Menschen, der Bildung der öffentlichen Meinung), können als ,sozial-aktiver Kern' des Bildungsbürgertums angesehen werden; ihnen gilt der vorliegende Band in erster Linie. Von den Randgruppen des Bildungsbürgertums, die aufgrund sehr verschiedenartiger Kriterien nicht zum typologischen Innenbereich gerechnet werden können, sind folgende besonders erwähnenswert: (1) Katholiken. Das sozialdominante Bildungsideal des 19. Jahrhunderts, das zugleich konstitutiv für das Selbstverständnis des Bildungsbürgertums war, entsprang der von Protestanten getragenen Philosophie des Idealismus und Literatur der deutschen Klassik. Die Katholiken partizipierten an diesem Bildungsideal nur begrenzt, wenn sie es nicht gar ablehnten. In soziopolitiscber Hinsicht wirkten die antikatholischen Affekte des Liberalismus und die Dominanz des Protestantischen in dem unter preußischer Hegemonie geeinten Reich, gerade auch in Bildungsinstitutionen, sowie schließlich der Kulturkampf repressiv auf die katholischen Gebildeten und verstärkten noch deren Abwehrhaltung. Andererseits fanden im Katholizismus die Träger teilstaatlicher Traditionen und der gegen den Bismarckscben autoritären Nationalstaat gerichteten europäisch-universalistischen Tendenzen Rückhalt in ihrem Kampf gegen Liberalismus und Nationalismus 23 • So befand sieb die vergleichsweise sehr kleine Schicht katholischer Gebildeter in einer - teils erzwungenen, teils selbstgewählten - geistigen und sozialen ,Diaspora', zusätzlich zur territorialen Diasporasituation im mehrheitlich protestantischen Reich. Die wenigen, die diese Diaspora verließen, vollzogen damit meist eine Art intellektuelle und gesellschaftliche ,Konversion'; Kurt Riezler, einer ihrer Prominentesten, der auch in diesem Band behandelt wird, ist ein gutes Beispiel für eine solche Assimilation an das protestantische Bildungsbürgertum. (2) Volksschullehrer. Obwohl die Volksschullehrer schon zur wilhelminischen Zeit eine akademische Ausbildung forderten, blieb ihnen dieser wichtigste Ausweis der Zugehörigkeit zum eigentlichen Bildungsbürgertum damals noch versagt. (3) Ingenieure und Techniker. Mit den Technischen Hochschulen, denen 1899 auch das Promotionsrecht gewährt wurde, erhielt zwar die technische Intelligenz akademische Würden, doch wurde sie von den ,klassisch' und ,humanistisch' Gebildeten nicht voll als ihresgleichen akzeptiert.

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(4) Adelige. Die geistig interessierten Kreise des Adels, vor allem akademisch gebildete, wurden im 19. Jahrhundert häufig zum ,gebildeten Mittelstand' oder zumindest zum ,Stand der Gebildeten' gezählt24. In der wilhelminischen Zeit können akademisch gebildete Adelige als Randgruppe des Bildungsbürgertums angesehen werden, sofern feudale Charakteristika nicht prädominant sind, d. h. etwa Angehörige des Kleinadels in Beamtenpositionen, die auch Bürgerliche einnehmen konnten. (5) Die Boheme. Obwohl sich die Boheme in Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft stellte, muß sie doch andererseits - so Helmut Kreuzer - ,,als ihr Produkt und Element" aufgefaßt werden2s. In der wilhelminischen Zeit kam ein großer Teil der Bohemiens aus dem Bildungsbürgertum, manche Künstler und Literaten traten lediglich in losen Kontakt zur Boheme oder gehörten ihr nur vorübergehend an und kehrten nach einiger Zeit wieder in ,geordnete Verhältnisse' zurück26; es gibt daher :fließende Übergänge zwischen Bildungsbürgertum und Boheme. (6) Geistige und politische Führer der Arbeiterbewegung. Worauf Heinrich v. Sybel schon 1872 hingewiesen hatte 27, konnte Robert Michels auch noch vierzig Jahre später feststellen: daß „die Herolde der großen modernen Arbeiterbewegung" größtenteils den ,gebildeten Ständen' entstammten 2B. Die Arbeiterführer aus dem Bildungsbürgertum brachten nicht nur die Mehrzahl der sozialistischen Ordnungsentwürfe hervor, welche - teils inhaltlich, teils strukturell - Denkmodellen aus bildungsbürgerlicher Tradition verpflichtet waren, sondern vermittelten auch dem Proletariat viele Elemente der bürgerlichen Kultur, z.B. mit den Arbeiterbildungsvereinen 29 • Andererseits war der Bruch solcher ,Überläufer' mit der bürgerlichen Welt schärfer als etwa derjenige der meisten Bohemiens. Ihre Hinwendung zum Proletariat bedeutete fast immer, wie Michels auch aufgrund eigener Erfahrungen konstatierte, eine radikale und irreversible Durchtrennung der gesellschaftlichen, oft sogar der familiären Bande zur angestammten Gesellschaftsschicht3o. Wenn nun abschließend noch ein Blick auf die gesellschaftliche und politische Lage des Bildungsbürgertums in der wilhelminischen Zeit geworfen wird und einige seiner Reaktionsmodi wenigstens kurz umrissen werden, so sollten die entsprechenden Sacliverhalte sowohl im Kontext der eingangs skizzierten sozioökonomischen Situation der wilhelminischen Gesamtgesellschaft, als auch vor dem Hintergrund der politischen Geschichte Deutschlands und des deutschen Bürgertums gesehen werden. Es sei hier zunächst nur an die wichtigsten Daten erinnert, die im 19. Jahr-

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hundert nicht nur in entscheidendem Maß die nationalstaatliche Geschichte Deutschlands bestimmten, sondern zugleich auch politische Niederlagen des zur selben Zeit wirtschaftlich aufsteigenden und geistig selbstbewußt gewordenen Bürgertums markierten: Die Befreiungskriege 1813/14, vom Bürgertum vor allem geistig vorbereitet und getragen, führten nicht zur erhofften nationalen Einigung. Die bürgerliche Revolution von 1848, die einen geeinten Verfassungsstaat schaffen sollte, scheiterte. Die vorbereitenden Aktionen zur Einigung Deutschlands unter preußischer Hegemonie zwischen 1862 und 1866 wurden von einem Verfassungskonflikt begleitet, in dem das liberale Bürgertum Preußens bei seinem Versuch, parlamentarische Regierungskontrolle durchzusetzen, eine folgenschwere Niederlage erlitt. 1871 schließlich wurde das Deutsche Reich über die Köpfe des Bürgertums hinweg gegründet, dem weiterhin die selbstverantwortliche Ausübung politischer Herrschaft versagt blieb. Partizipation an der Herrschaft, z. B. in den Reichseinrichtungen, die Bismarck mit Hilfe der Nationalliberalen ausbaute, wurde für die letzteren nur dadurch möglich, daß sie ihren Frieden mit dem Bismarckschen Staat machten und dessen Bedingungen anerkannten. Stagnierte die politische Emanzipation des Gesamtbürgertums, so gingen Gewicht und Einflußmöglichkeiten seiner gebildeten Schichten sogar noch zurück. Gegen Ende des Jahrhunderts zerfiel der ursprünglich relativ homogene Liberalismus des ,Bürgertums von Besitz und Bildung' und mit ihm der Typ der Honoratiorenpartei, in der 1848 und in den Jahrzehnten danach Akademiker noch den Ton angegeben hatten. Das Bürgertum aus Industrie, Handel und Gewerbe wanderte in die ,Ordnungsparteien' ab, die immer stärker den Charakter von Interessenparteien annahmen; seine wirtschaftlich einflußreichsten Teile näherten sich dem Adel, der nicht nur die bestimmende politische Kraft blieb, sondern seine Machtposition sogar noch ausbaute. Auf der Linken formierte sich die Sozialdemokratie als Massenpartei, welche den Liberalismus in der Rolle der fortschrittlichsten politischen Bewegung ablöste. Das Bildungsbürgertum sah sich politisch seiner Funktion und seines Einflusses beraubt. Die soziale Situation der Gebildeten wurde in der wilhelminischen Gesellschaft nicht weniger problematisch. Mit dem Niedergang des Liberalismus begann auch der ,alte Mittelstand' dahinzuschwinden; die zunehmende Industrialisierung führte nicht nur zu Abspaltung und Aufstieg eines industriellen Großbürgertums, sondern auch zur Desintegration der kleinbürgerlichen handeloder gewerbetreibenden und der bäuerlichen Berufsstände, die 29

sich gemäß ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Interessenlage den entsprechenden Interessen-Verbänden und -Parteien anschlossen. Zurück blieb das Bildungsbürgertum, bei dem die wirtschaftlichen Interessen nicht unbedingt dominierten oder - wie bei den Beamten - nicht auf dem freien Markt verfolgt werden konntens 1• Zwar organisierten sich die Gebildeten ebenfalls in berufsständischen Interessen-Verbänden, aber gegenüber den Wirtschaftsverbänden einerseits und den Vertretungen von Arbeitern und Angestellten andererseits hatten sie minderes Gewicht. Status- und Prestigeverlust drohte dem Bildungsbürgertum vor allem auch durch die rapide wachsende Schicht technischer und VerwaltungsAngestellter, die ihrerseits Produkt der Hochindustrialisierung war. Symptom des Niedergangs war die zunehmende „Minderschätzung der Zeit" für die Geisteswissenschaften, die Theobald Ziegler beobachtete32 ; er nannte auch die Gründe, warum sich die öffentliche Meinung „entschieden von den Universitäten ab, zum Teil geradezu gegen sie" wandte: ,,Das nationale Leben mit seiner starken Betonung der materiellen Interessen, des Handels und der Technik hatte auch andere Bildungswege und Bildungsweisen kennen gelehrt und notwendig gemacht, die Gelehrten aber wollten und konnten diesem modernen Leben nicht rasch genug folgen und entfremdeten sich ihm daher immer mehr: so ging der Glaube an den akademischen als den allein seligmachenden Bildungsgang verloren." 33 Die Abwertung humanistischer Bildung und dementsprechend der Universitäten und Gymnasien stand in Korrelation zur Aufwertung naturwissenschaftlich-technischen Wissens wie zum Aufschwung der Technischen Hochschulen und Realschulen. Dies führte zunächst einmal zu Veränderungen in der Rangordnung sozialen Prestiges: Das alte akademische Bildungsbürgertum, das sich seit Fichtes Zeiten als geistige Führungsschicht der Nation verstand, sah sich inzwischen nicht nur von Industriekapitänen und Verbandsführern überflügelt, sondern zusehends auch von Ingenieuren und Technikern. Der Prestigeverlust war seinerseits Folge und Ausdruck einer - wesentlich schwerwiegenderen - sozialen Umschichtung. Die ,anderen Bildungswege' wurden in zunehmendem Maß zum Vehikel gesellschaftlichen Aufstiegs für Angehörige der unteren Schichten, diese begannen gemeinsam mit Verwaltungs- und Büro-Angestellten den ,neuen Mittelstand' ,,lohnabhängiger Geistes- und Schreibsessel-Arbeiter"34 zu bilden, von dem das alte Bildungsbürgertum aufgesogen zu werden drohte. Die kritische Lage des Bildungsbürgertums zur wilhelminischen 30

Zeit, die bereits die Endphase seiner Geschichte markiert, war so das Ergebnis langandauernder Prozesse, im wesentlichen der Industrialisierung und der innenpolitischen Entwicklung Deutschlands. Die Reaktionen des Bildungsbürgertums auf diese Lage und damit auch seine politischen Einstellungen, so wie sie sich zwischen 1890 und 1918 aktualisierten, ergaben sich zwar nicht mit gesetzmäßiger Notwendigkeit, aber doch in logischer Folge aus jenen Prozessen sowie aus der spezifischen Geistes- und Bildungsgeschichte dieses Standes im 19. Jahrhundert. Die politische Haltung des Bildungsbürgertums wurde - wie die des Gesamtbürgertums - seit 1848 in der Folge der genannten Prozesse sukzessive konservativer; nach 1871 machte der größte Teil des Bürgertums seinen Frieden mit dem Bismarckschen Autoritätsstaat. Das Bildungsbürgertum neigte, wenn nicht den beiden konservativen Parteien, überwiegend den Nationalliberalen zu; Theodor Fontane illustrierte in seinem Roman Frau Jenny Treibei anschaulich den soziopolitischen Nexus: indem er die nationalliberalen Repräsentanten eines preußischen Provinz-Wahlkreises aufzählte - ,,drei Oberlehrer, einen Kreisrichter, einen rationalistischen Superintendenten und zwei studierte Bauemgutsbesitzer"ss -, zeichnete er zugleich ein nahezu vollständiges Bild des gesellschaftlichen Mikrokosmos bildungsbürgerlicher Prominenz in der Provinz. Während der wilhelminischen Zeit engagierte sich das Bildungsbürgertum zudem stark in außerparlamentarischen politischen Verbänden nationalistischer Couleur; im Alldeutschen Verband z.B. stellten 1901 die bildungsbürgerlichen Berufe - Professoren, Dozenten, Künstler, Beamte und Lehrer 50 ¼ der Mitgliederss. Der Wendung zum Konservatismus entsprach eine „Feudalisierung" (Beutin)37 , genauer: ,,Aristokratisierung" (Wehler)SB des Bürgertums, d. h. eine Annäherung an den Adel, die vor allem auch das Bildungsbürgertum vollzog. Sie war zum einen Reaktion auf die immer noch ungebrochene politische und gesellschaftliche Bedeutung des Adels, der - abgesehen von seinem Gewicht auf dem agrarischen Sektor - besonders den höheren Verwaltungsdienst und das Militär dominierte, die beiden wichtigsten und sichtbarsten Stützen der Macht, denen folglich auch höchstes gesellschaftliches Prestige zukam. Beide Bereiche boten dem Bürgertum aber auch Möglichkeiten der institutionellen Annäherung an den Adel, einerseits durch die Einrichtung des bürgerlichen Reserveoffiziers, andererseits durch die - noch engeren Kontakt erlaubende - Zusammenarbeit in der höheren Beamtenschaft; hier entwickelte sich - wie Hintze formulierte - eine „adlig-bürgerliche 31

Amtsaristokratie" 3D. Formale Krönung der Annährungsbestrebungen war die Erteilung eines Adelsprädikats, ein Ziel, das allerdings neben Großindustriellen allenfalls besonders loyale hohe Beamte und Universitätsprofessoren erreichten; von den in den folgenden Beiträgen erscheinenden Gelehrten wurden z. B. Carl Friedrich Gerber unter Wilhelm 1., Adolf Hamack und Otto Gierke unter Wilhelm II. geadelt. Die Akademiker besaßen außerdem noch eine besondere Institution, durch die sie ihr gesellschaftliches Ansehen dem des Adels wie des Militärs anzunähern versuchten: die studentischen Korporationen mit ihrem pseudofeudalen Ehrenkodex und ihren pseudomilitärischen Verhaltensformen. Die Revision der ehemals antifeudalen Einstellung des Bürgertums während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war zum andern eine Reaktion auf das als soziale wie politische Bedrohung empfundene Anwachsen von Arbeiterschaft und Sozialdemokratie. Vor dieser Bedrohung suchte das Bürgertum Schutz bei den alten Mächten; die antifeudale Komponente machte der antisozialistischen Platz. Die wenigen Versuche bürgerlicher Liberaler, sich der Arbeiterschaft anzunähern - z. B. in Friedrich Naumanns Nationalsozialem Verein-, fanden keine Resonanz im Bürgertum, allerdings auch nicht bei der Arbeiterschaft, und scheiterten. Die bisherige Skizze bildungsbürgerlicher Reaktionsmodi, die zum Teil denen des Gesamtbürgertums entsprachen, gibt zwar vorherrschende Tendenzen wieder, zeichnet jedoch ein sowohl unvollständiges wie undifferenziertes Bild. Zunächst ist zu betonen, daß Teile des Bildungsbürgertums zur wilhelminischen Zeit auch andere Einstellungen und Verhaltensweisen zeigten als die beschriebenen. So gab es gerade unter den Gebildeten immer noch starke linksliberale Gruppen, die sich mit dem autoritären Bismarckschen Staat nicht versöhnt hatten; in den außer- und neupreußischen Gebieten kamen noch Gegner der preußischen Hegemonie hinzu. Des weiteren brachte das Bildungsbürgertum in der wilhelminischen Zeit eine ganze Reihe von ,Reformbewegungen' hervor, die durch Entwicklung von ,Gegenkulturen', durch gesellschaftlichen Exodus oder andere Formen des Widerstands zum Ausdruck brachten, daß viele Gebildete keineswegs die bestehende Ordnung akzeptierten. Kann man so beim wilhelminischen Bildungsbürgertum in toto durchaus beträchtliche Heterogenität in Mentalität und Ideologie, politischer Einstellung und gesellschaftlichem Verhalten konstatieren, so läßt sich bei einzelnen seiner Vertreter häufig eine bemerkenswerte Ambivalenz der Gesinnung feststellen, selbst bei solchen, die an der Oberfläche dem oben

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skizzierten Bild zu entsprechen scheinen. Die politische Seite dieser Ambivalenz wurde schon 1911 von Robert Michels treffend beschrieben: ,,Von Rotteck bis Naumann haben sich die deutschen Gelehrten ein ganzes Jahrhundert lang im Schweiße ihres Antlitzes darum bemüht, die natürlichen Gegensätze von Demokratie und militärischer Monarchie theoretisch zu höherer Einheit zu vereinen. Hand in Hand mit dem ehrlichen Streben nach diesem höheren Zweck ging ihr Versuch, die Monarchie nach Möglichkeit zu entfeudalisieren, das heißt, die aristokratischen Hüter des Thrones durch akademische zu ersetzen. "4o Zwar könnten die von Michels beispielhaft erwähnten Namen den Eindruck erwecken, sein Diktum gelte nur für Gebildete linksliberaler Couleur, aber man darf es durchaus umfassender verstehen. Auch konservativ gewordene, an die bestehende Ordnung angepaßte und ,feudalisierte' bzw. ,aristokratisierte' Bildungsbürger hatten das Programm nicht vergessen, mit dem das liberale Bürgertum unter Führung der Gebildeten einst angetreten war; auch sie konnten nicht übersehen, daß in England etwa oder Frankreich inzwischen solche Programme vom Bürgertum verwirklicht worden waren. So nährten auch sie nicht selten unter der Oberfläche der Anpassung trotz ,Feudalisierung' nach wie vor einen unterschwelligen Antifeudalismus aus dem Geist bildungsbürgerlichen Selbstwertgefühls, hegten sie trotz staatstreuer und monarchischer Gesinnung Vorstellungen eines politischen ,dritten Wegs' und entwickelten Modelle neuer gesellschaftlicher Ordnungen, möglichst unter Führung der Gebildeten: der Anspruch auf die ,Herrschaft des Geistes', den die vorzüglichsten Repräsentanten des gebildeten Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhoben hatten, war von den Nachfahren trotz der Krise, in der sie sich hundert Jahre später befanden, noch nicht aufgegeben.

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I. RAHMENBEDINGUNGEN

1. Bildung und Gehorsam. Zur ästhetischen Ideologie des Bildungsbürgertums

von Michael Naumann Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden, sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten. (Friedrich Schlegel) Was ,deutsche Bildung' sei, schien der „anständigen Minorität" 1 der wilhelminischen Ära, dem Bildungsbürgertum, zumal in Erinnerung an 1870/71 wohl noch mancher Deutung, aber keiner historisch-kritischen Debatte mehr wert. Selbst die pädagogischen Innovationskrisen der Nation auf dem Weg zur Großmacht konnten den verinnerlichten Begriff ,Bildung' nicht mehr zur theoretischen Disposition stellen. Im Gegenteil: Der Rekurs auf die kulturellen Leistungen deutscher und griechischer Klassik sollte der ökonomisierten Außenwelt einen Sinn unter dem Titel ,Bildung' verleihen, der noch deutschen Waffen den schimmernden Glanz von ,deutschem Geist' verlieh. ,Bildung' wird als Sozialsedativ dem wilhelminischen Zeitalter verordnet im Gerede seines majestätischen Wortführers von den Reisezielen deutscher Ästhetik seit Winckelmann: ,,Sie beschäftigen sich mit dem Studium der Antike. Legen Sie den Hauptwert nicht auf die Einzelheiten des politischen Lebens", nötigt Wilhelm II. im Jahr 1911 Kasselaner Gymnasiasten zur politischen Abstinenz ihrer Väter, ,,denn diese Verhältnisse haben sich so geändert, daß sie nicht mehr auf die Jetztzeit übertragen werden können [... ]. Und wenn Sie das politische Treiben zu verwirren droht, so rate ich Ihnen, für einige Zeit sich zurückzuziehen [... ]. So können Sie immer wieder sich emporrichten an jenen Idealen des Altertums". Im übrigen würden sich Deutschland neue Aufgaben stellen - ,,wir [... ] müssen nationalökonomische und finanzielle Kenntnisse uns aneignen. Denn es gilt, Deutschland seine Stellung in der Welt, besonders auf dem Welt34

markte, zu wahren. Dazu müssen wir alle fest zusammenhalten. " 2 Des Kaisers konfliktscheuer Aufruf zur Einheit ist der ,fürstliche' Reflex eines seit dem „Neuen Curs" vorherrschenden bürgerlichen Integrationsbedürfnisses, dem zumal das Bildungsbürgertum stärkste Resonanz in Literatur und Öffentlichkeit garantierte: Nationale, innere Einheit, letzte Hoffnung des deutschen ,politischen' Bewußtseins, das auf freiheitliche Partizipation zu verzichten gelernt hatte, sollte mittels deutscher Bildung und deutschen Exports im Nationalstolz erblühen. Daß jenes nationale Bedürfnis erst mit der Mobilmachung des ,deutschen Geistes' 1914 vorübergehend befriedigt werden konnte, ist geschichtsnotorisch. Die Jahre bis zum Kriegsausbruch aber erleben die Krise der deutschen professoralen Mandarine und ihres Gefolges, des Bildungsbürgertums 3 , die ihre politische Ohnmacht im sozialen Umbruch durch Beharrung auf ,Bildung' als Indikator eines qualifizierten Sozialstatus kompensierten. Unter der gewaltigen Schwemme popular-naturwissenschaftlichen ,Bildungsgutes' unterlag in jener Zeit der idealistische Neuhumanismus dem technokratischen Anspruch der industriellen Revolution und ihren Folgen. Um die Jahrhundertwende endet der 50 Jahre alte Antagonismus zwischen klassischer und moderner ,Bildung' mit dem Teilerfolg einer positivistisch-materialistischen Bildungs- und Sozialphilosophie zumal in den Großstädten, die sich neben den ,klassischen' Gymnasien Realgymnasien leisten können. Der Kaiser selbst rühmte sich, das Promotionsrecht für die Technischen Hochschulen erkämpft zu haben (1899); die weitere Produktion junger Römer und Griechen an den Gymnasien empfahl er nicht - statt Latein wurde Deutschunterricht die Konstante im wilhelminischen Bildungsgang 4 • Die Gleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen wurde durch kaiserlichen Erlaß vom 26. 11. 1900 amtlich anerkannt. Fast unbeschädigt aber überlebte der Begriff ,Bildung' die inneren Widersprüche seiner gesellschaftlichen Repräsentanten. Das andauernde Beharrungsvermögen dieses spezifisch deutschen terminus technicus läßt ahnen, daß der terminus selbst einen - näher zu bestimmenden - symbolischen Gehalt transportiert, der für das Bewußtsein des Bildungsbürgertums stets unmittelbar konstitutiv blieb: sogar unabhängig von der artikulierbaren Kenntnis derjenigen Autoren, die das Wort ,Bildung' durch theoretische, poetische oder spekulative Bemühungen in das Symbolaggregat des gesellschaftlichen Selbstverständnisses integrierten. Prinzipiell scheint neben ,Freiheit' ,Bildung' das erstrangige säkulare Symbol im historischen Aufbruch des deutschen Bürgertums 35

zur politischen Existenz in Gesellschaft und Geschichte zu sein - ein Aufbruch freilich, dessen von Kant formulierter Anspruch, Vollendung von Geschichte schlechthin einzuleiten5, ,Bildung' von Anfang an mit der Bürde immanent-eschatologischer Heilserwartungen belastete. Unvergessen war den Gebildeten des 19. Jahrhunderts Lessings Erziehung des Menschengeschlechts, jene Vision eines teleologisch organisierten Bildungs- und Erziehungsfortschritts der Menschheit, die - im Bild eines seiner Zeitgenossen von einer Schulklasse zur anderen aufrückt, von der Orthodoxie zur Aufklärung. Lessings Idee des göttlichen Erziehungsplanes hatte sich in der eschatologischen Grundstimmung des Idealismus zur dialektischen Obsession verhärtet. ,Bildung' schien schließlich das unsterbliche Geschenk der Kant, Humboldt, Fichte, Schelling, Hegel, der Goethe und Schiller an das deutsche Bürgertum zu sein, das die Perfektibilität der Menschheit an sich selbst - als gebildetem - demonstrativ auf den Begriff brachte. Der postulierte Fortschritt in Geschichte (z. B. vom Naturstaat über den Polizeistaat zum vernünftigen Staat) schien ein „Bildungsgang der Menschheit" 6 • An ihm teilzuhaben, war noch Ziel und Hoffnung der ,Arbeiterbildungsvereine'. Seit mehr als vierzig Jahren liegen allerdings ausreichende Belege dafür vor, daß ,Bildung' nicht als idealistisch-pädagogischer oder geschichtsphilosophischer Begriff, sondern als theologisches Symbol der Imago-Dei-Lehre seinen genuinen Ort in der Tradition europäischer Bewußtseinsanalysen hat7. Die weitgehende Mißachtung dieser Forschungsergebnisse durch die deutsche Pädagogik gehört noch heute selbst zu den konkreten Erscheinungen einer komplizierten Symbolgeschichte von ,Bildung'. Seit dem 14. Jahrhundert taucht ,bildunge' im Wortschatz deutscher Mystiker als Symbol der Gottesbildlichkeit auf. So, wie Meister Eckbart nach der Versenkung in das Mysterium menschlicher Gottesbildlichkeit zur Explikation der Erfahrung des Heiligen einige Neologismen formt wie ,ein inbilden', ,in sich bilden', ,überbilden', ,widerbilden' 8, so gerät ihm die unio mystica zum großgeschriebenen Bildungs-Erlebnis der Imago-Identitäto. An der äußersten Grenze der Meditation stößt Eckhart, von menschlicher Gottesbildlichkeit mystisch bewegt, zur Erfahrung der „Vergottung" vor: ,,swenne der geist haftet an gote mit ganzer einunge des willen, so wirt er vergotet"io. Das Zentrum späterer deutscher Bildungslehre, die sich allerdings von göttlicher Gnade - conditio sine qua non christlicher Mystik - zu lösen weiß, war damit frühzeitig benannt: Die Divinisierung des Menschen, ein von Humboldt noch offen aus36

gesprochenes Bildungsgeheimnis 11• Zur Bankettfrage wird die Vergottung des Menschen in der idealistischen Bildungslehre Hegels. Das Hegelsche Selbstbewußtsein, das sich nach den Regeln der Dialektik selbst hervorbringt1 2, leistet diese Arbeit im Namen der ,Bildung'. ,Bildung' ist das kultische Zentrum der Dialektik des Geistes. Für Hegel bedeutet ,Bildung' keinen mystisch-ekstatischen Zustand, sondern kennzeichnet einen kognitiven Prozeß - kritisch gesagt: die dynamische Prädikatisierung von Hegels Wissen und Gewißheit, ,,alle Realität zu sein"13, Es ist nicht möglich, den historischen Ablauf der Immanentisierung der christlichen, mystischen Bildungssymbolik, der in Hegels System gipfelt, hier nachzuzeichnen. Doch besteht kein Zweifel, daß diese Symbolveränderung Teil des gnostischen, europäischen Spiritualismus ist, der seit dem Mittelalter als geistige Unterströmung zu chiliastischen Gewaltprotuberanzen geführt hat. Fest steht außerdem, daß Jakob Böhme, dessen theosophische Bildungslehre die entsprechenden idealistischen Sinnverschiebungen von ,Bildung' teilweise antizipierte, als Philosophus teutonicus und Vermittler traditioneller Bildungs-Mystik zur Erbauungsund Pflichtlektüre der Tübinger Idealisten zählte. Hegels wesentliche Leistung war es freilich, ,Bildung' und ,Staat' in eine dialektische Beziehung zu setzen, die für das wilhelminische Bildungsbürgertum noch verbindlich blieb, als Hegels Gesamtwerk schon dem bekannten ,Paradigmenwechsel' (Thomas Kuhn) unterlag und zu Ausverkaufspreisen verschleudert wurde. Politische Funktion von Bildung sei es, in den Worten der Rechtsphilosophie, den subjektiven Willen in jene Objektivität zu verwandeln, deren Würde es ist, die Wirklichkeit der sittlichen Idee, also der Staat zu sein. Hegel: ,,Die Bildung ist in ihrer absoluten Bestimmung, die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der [... ] zur Gestalt der Allgemeinkeit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit [... ]. Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektiven Willen in jene Objektivität zu verwandeln, deren seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein."14 ,Bildung' symbolisiert hier den praktischen Prozeß der Selbstbefreiung des Individuums zum Staatsbürger. ,,Bildung als immanentes Moment des Absoluten" 15 kennzeichnet aber nicht nur die Beziehung des Hegelschen Subjekts zum Staat, sondern auch, unter dem Namen „Reflexion" 16,die Beziehung zu Gott. Entsprechend dogmatisch-theologisch fallen an anderer Stelle Hegels Ermahnungen an den Lehrer aus: ,,Dem Lehrerstande ist der Schatz der Bildung [... ] anvertraut [... ]. Der Lehrer hat sich als 37

den Bewahrer und Priester dieses heiligen Lichtes zu betrachten. "17 Wenn Lehrer zu Priestern werden und ,Bildung' zum existentiellen Zentrum des gesellschaftlichen Sinnzusammenhangs gerät, dann fällt es leicht, die politische Funktion des Bildungsgedankens im 19. Jahrhundert neu zu benennen: ,Bildung' wird zum sozialmythologischen, kompakten Symbol einer scheinbar kritischdialektisch gelösten, gesellschaftlichen Repräsentations- und Legitimationsproblematik. ,Bildung' wird von Hegel als Synonym von ,Wahrheit' in Gesellschaft verankert. Neben ihrer Denomination der neuen, göttlichen Bestimmung des Menschen liefert ,Bildung' in Hegels System zugleich die endgültige Legitimation des preußischen Reformstaates. ,Bildung' verwandelt sich so zum gnostischen Kern einer neuen theologia civilis, die in ihrer dialektischen Symbolik die freiheitliche Versöhnung von Subjekt und Objekt, Individuum und Staat feiert. Die deutsche Revolution des Geistes ist insofern ein Bildungserlebnis. Ihr endzeitliches Ziel, die Abschaffung von Herrschaft, objektiviert sich widersprüchlich in der dialektisch konstituierten Legitimation von Herrschaft schlechthin. Deren Fortbestand sichert das gebildete Individuum kraft seiner vernünftigen Einsicht in die bürgerliche Pflicht, in die es selbst sich stellt: Mitglied des Staates zu sein. Im Schatten des wirklich vorhandenen Feudalstaates werden Bildung und Pflichtbewußtsein - in seiner realen Erscheinungsform also Gehorsam - zu wesensverwandten Primärtugenden. Deren ziviltheologische Funktionen werden noch dort ,verstanden' und akzeptiert, wo ihre spekulative Einbettung in das komplexe System idealistischer Staats- und Geschichtsspekulation gemeinhin schon vergessen oder gar nicht bekannt ist. Das ist nicht weiter erstaunlich: Wären alle Gläubigen Theologen, hätte es keiner Theologie bedurft. Ohne expliziten Rückgriff auf Hegel konnte so der deutsche Bildungsbürger par excellence, Friedrich Theodor Vischer (30.6.1807 bis 14.9.1887) als Reutlinger Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung zurufen: ,,Der Staat ist religiöser geworden als die Religion, und diesem Staate gehört die Schule. Es kommt darauf an, daß wir vor allem die Lehrer frei machen; wir müssen ihnen Würde und Ehre geben. [... ] Die Zeit wird kommen, wo die wahre, menschliche, sittlich-politische Religion eins ist mit dem Staate und mit der Schule."1s Ein Vierteljahrhundert später, im ,Hoch und Hurra!' der untertänigen Sedanstimmung, summiert Vischer den ziviltheologischen Zusammenhang von Bildung und Gehorsam, der auch nach 38

1870/71 gesellschaftlich thematisch blieb: ,,Der straffe Befehl kann nicht alles bestimmen, er läßt notwendig der eigenen Einsicht der Gehorchenden ihren Spielraum. In diese Lücke trat der geistige Einschlag, mit dem die Masse unserer Bürger durchschossen war, die in der höheren Schulbildung gereifte Intelligenz, die mit der Klarheit der Auffassung den Winken der Führer entgegenkam; und auch dies ist noch nicht alles: in der Kriegszucht und Willigkeit der Massen selbst hat Deutschland die Früchte seiner Volksschule geerntet."19 Die Peinlichkeit derlei platter Reportagen über die Fronterlebnisse des deutschen Geistes auf Hegels ziviltheologisches Bildungstheorem schlüssig zurückzuführen, hieße allerdings, die Symbolgeschichte von ,Bildung' unschlüssig glätten; festzuhalten bleibt dennoch, daß die Selbstverständlichkeit, mit der sich das deutsche Bildungsbürgertum dem Macht- und Herrschaftsanspruch Bismarcks und Preußens nach 1870 beugte, undenkbar wäre ohne jene idealistische ,Vorarbeit' Hegels, der zwischen Staat und Subjekt die Legitimationsleistung eines Bildungstheorems ausbreitet: Es glänzt in der Annahme eines absoluten Geistes, der in der dialektischen Entfaltung des Bewußtseins zu sich selbst kommt, d. h. sich bildet, und - als Wirklichkeit der sittlichen Idee - den Staat realisiert. Der Staat ist das objektive, göttliche, auf alle Fälle aber sittliche deutsche Bildungsprodukt. Die Verwerfungen, die das idealistische System im Verlauf seiner Epigonalisierung seit Hegels Tod erschütterten und die auch die Bewußtseinskrisen des neuhumanistischen Bildungsbürgertums im Zuge seiner Anpassung an die Wirklichkeit des preußischen Machtstaates kennzeichnen, sollen hier am besonderen Beispiel von Leben und Werk Friedrich Theodor Vischers dargestellt werden. Der bedeutendste deutsche Ästhetiker nach Hegel starb zwar an der Schwelle der wilhelminischen Ära, aber er verkörperte den beispielhaften Typus des gebildeten Bürgers, dessen habituelle und intellektuelle Erscheinung bis 1918 repräsentativ für die Idee des Bildungsbürgertums schlechthin blieb. In der - damals bekömmlichen - Verkleidung des „großen Repetenten deutscher Nation für alles Schöne und Gute, Rechte und Wahre" (Gottfried Keller) steht Vischer, ehemaliger Hegelianer, 48er-Revolutionär und „Virgil des Wilhelm I." (Karl Marx) am Ende des langen Weges des deutschen Bürgertums in den wilhelminischen Imperialismus. Er war der fleißigste Ästhetiker seiner Zeit, dessen opus magnum, die fünfbändige Ästhetik, das „herrliche Werk" (Treitschke), für „viele Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts (u. a. Hebbel, C. F. Meyer, Dahn, Groth), für

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die Kunst- und Literaturkritiker (u. a. Hanslick., Kuh) sowie für die Schulpraxis [... ] das große ästhetische Schulbuch [war] und trotz verschiedener Kritiken im Grunde bis zum Ersten Weltkrieg geblieben ist" 20. Die erstaunliche Breitenwirkung des nach rigidtriadischer, geradezu statischer Dialektik organisierten Werkes entspricht der stillen Hoffnung des Autors, das systematischmethodische Gerüst spekulativer Ästhetik mit soviel kunst- und literaturgeschichtlichem Material verkleidet zu haben, daß der Besitz seiner Ästhetik identisch werde mit dem Besitz des Sediments aller Kultur, mit ,Allgemeinbildung' also, im schon gebräuchlichen, trivialen Sinne des Wortes. Mit De excelso et ridiculo theses 38 hatte sich Vischer 1836 in Tübingen habilitiert. Sein Weg zur Professur ist typisch noch für die 65 Prozent der zwischen 1860 und 1890 Habilitierten, die sans reserve aus Beamten- und Professorenfamilien stammten 21 • Der Vater, Christof Friedrich Benjamin Vischer, 1768 in Stuttgart geboren, hatte drei Schriften über Probleme von Bildung und Volkserziehung verfaßt, ehe er 1810 Archidiakonus zu Ludwigsburg wurde. Der ehemalige Tübinger Repetent (1783-1798), der Hegel, Schelling und Hölderlin zu seinen Schülern zählte, erzog seinen Sohn Friedrich Theodor nach zeitgemäßen Regeln: ,,Eine tüchtige Tracht Schläge für eine versäumte Bestellung ist mir in dankbarer Erinnerung geblieben" 22 • über seine Mutter, eine geborene Stäudlin, war F. Th. Vischer mit Schelling verwandt. Frühzeitig also führten ihn Herkunft und Berufsziel - Pfarrer in das Gravitationsfeld idealistischer Bewußtseinsrevolte, über deren metaphysischen Charakter nie Zweifel bestanden haben werden; denn Vischers Lehrer und treuer Mentor seit seinem 14. Lebensjahr war Ferdinand Christian Baur. Als Lehrer im Seminar von Blaubeuren und als Professor in Tübingen hatte Baur den jungen Vischer in jenen historischen Zusammenhang krisenhafter jüdisch-christlicher Welterfahrung eingeführt, der unter dem Titel Gnosis zum Thema von Baurs epochaler Studie wurde. (Gnosis, so Baur, sei der uralte Versuch, Natur und Geschichte als Entfaltung des absoluten Geistes zu verstehen; ein Versuch, der sich in Hegels dialektischer Religionsphilosophie zur absoluten Gewißheit, zu Wissen= Gnosis zuspitzt 23 .) Auf Baurs Betreiben wurde Vischer nach kurzem, ländlichen Vikariat erst Stiftrepetent, dann (1836) außerordentlicher Professor für Ästhetik und deutsche Literaturgeschichte in Tübingen. Einer zehnjährigen Züricher Professur folgte 1866 der Ruf an das junge Stuttgarter Polytechnikum, das „vor allem durch Vischer zum Bildungszentrum der Hauptstadt wurde" 24. Im März 1870 40

belohnte der König den Gelehrten, der gerade einen Ruf an das Münchner Polytechnikum abgelehnt hatte, mit dem württembergischen Kronen-Orden und dem Personaladel: glanzvolle Außenansicht einer klassischen Bildungsbürger-Karriere auf ihrem Höhepunkt. Ihr Anfang hatte indes unter dem Zeichen der „metaphysischen Revolte" (Camus) gestanden. Der junge Hegelianer Vischer hatte im Schlagschatten jener Revolte gedacht und gearbeitet, ,,mit der ein Mensch sich gegen seine Lebensbedingungen und die ganze Schöpfung auflehnt. Sie ist metaphysisch, weil sie die Ziele des Menschen und der Schöpfung bestreitet" 25, und sie ist gnostisch, indem sie, wie Baur als erster nachwies, eine nie vergessene europäische Tradition pneumatischer Existenzauslegung fortsetzt. Die programmatischen Modalitäten jener Rebellion stehen am ,Fall Vischer' hier zur Debatte, weil der Ästhetiker - im Anschluß an die bekannte christologische Religionskritik seines Schul- und Studienfreundes D. F. Strauß - der einzige Hegelianer ist, der implizit ein zukünftiges Reich der Bildung propagiert2 6 • Dessen Bürger können auf ihr dialektisches Widerspiel, die Ungebildeten, nicht verzichten: Ihr ästhetisch-utopisches Lebensgefühl bleibt insofern sozial vermittelt und repressiv, da jene Vermittlung in den von Vischer erst melancholisch, später selbstverständlich hingenommenen Zwängen von industrieller Arbeit beschlossen sei27. (Die Zwänge selbst verschwinden noch heute in der Rede von ,,Gebildeten" und „Ungebildeten" - Echo der mittelalterlichchiliastischen Trennung zwischen den „Rohen" und den „Feinen im Geiste".) Bildung sei eben ein Privileg von Besitz, wie wahre Dichtung, die nur dort überlebe, wo Besitz ist, ,,Besitz und Genüge der Seele" (Vischer)2s. Jenes Bildungsreich also, dessen Landesgrenzen „Schönheit", „Harmonie", ,,Heiterkeit und Ernst" umgreifen, beschreibt Vischer 1837 in seiner Habilitationsschrift: ,,[... ] im Reich des Schönen ist wolkenlose Heiterkeit. Hier dürfen· wir sinnlich seyn, denn hier sind die Sinne nur die gefälligen Schwestern des Geistes, dem sie auf blühenden Pfaden die reinste Nahrung zuführen. Hier sind wir als geistige Wesen befriedigt, ohne mit unserer Sinnlichkeit brechen zu müssen, und so schließt die Heiterkeit mit dem Ernste einen vollkommenen Frieden. Die Wirklichkeit ist von der Idee gesättigt und die Idee läßt sich in die Wirklichkeit herab. Der höchste und herbste Gegensatz ist gelöst. Es ist Sonntag. Werktags-Seelen begreifen dies nicht und schreiben über Unsittlichkeit. " 29 Hier wird scheinbar die Realität des göttlichen Logos in Christus neoplatonisch umschrieben: ,,Die Idee läßt sich in die 41

Wirklichkeit herab". Gemeint ist von Vischer allerdings das Bildungsreich des Schönen, bzw. das schöne Reich der Bildung. Die klassische Kunst der Griechen, so hatte Hegel noch kurz zuvor in seiner Ästhetik-Vorlesung doziert, ,,war die Vollendung des Reiches der Schönheit. Schöneres kann nicht sein und werden"3o. Die konkrete Wirklichkeit der Schönheit entfaltet sich in Hegels Ästhetik allein aus der eschatologischen Struktur seiner Geschichtsspekulation. Hegel kann das schlechthin Schöne antiker Kunst nur in dem Licht sehen, das die nahe Erscheinung des Gottmenschen in die Gegenwart des Sophokles oder Phidias wirft. Der Hegelianer Vischer hingegen gibt die religions- und geschichtsphilosophische Verknüpfung der „Ästhetik" des „alten Herrn"s1 auf: Damit löst er sich zwar die Möglichkeit ein, das Reich der Schönheit aus der Vergangenheit in die Zukunft zu verlagern, schließt sich zugleich aber - wenn auch halbherzig der Gruppe epigonaler Hegelschüler an, die, so Jürgen Gebhardt, „sukzessive die jenseitsbezogenen Symbole Gottes, Christi und der Eschata als Widerspruch zum absoluten Wissen verwerfen. Zugleich unterwerfen sie den Menschen, die Gesellschaft und die Geschichte der neuen Realität ihres pneumatischen Bewußtseins, indem sie die unausweichliche Logifizierung der Menschheit konstatieren. Als Parakleten des innerweltlichen Heils, das ihnen letzthin immer wieder zu entgleiten droht, zweifeln sie schließlich selbst daran, ob der kontemplative Akt, der spekulative Nachvollzug der ,Phänomenologie des Geistes', allein die Menschen glückselig macht. Der Ausweg für diese Zweifler ist die innerweltliche Aktion"32. Die Hoffnung auf das revelatorische Ereignis hie et nunc, das der Geschichte von den Hegelianern unter dem Hinweis auf „Versöhnung", die sie der Menschheit schulde, abverlangt wird, entspringt offensichtlich dem Unglück des Bewußtseins, das an der vorgefundenen Realität verzweifelt und die „schreckliche Beute" der Gottverlassenheit (Vischer) nicht länger tragen mags3: Es bildet sich stattdessen selbst zu Gott aus. Oder, mit Vischer: ,,Die geschichtlich in einer bestimmten Person realisierte Einheit der göttlichen und menschlichen Natur ist doch nur die Möglichkeit davon, daß jene Einheit nun dem menschlichen Geschlechte allgemein wieder angeeignet werde. " 34 Dies ist der spekulative Kern der ,metaphysischen Revolte' Vischers. Sie ist nicht mit Sehnsucht nach einer humanen Zukunft zu verwechseln, sondern weist auf eine göttliche. An solchem Anspruch mißt sie ästhetisch die Welt und was sich der Zukunft in den Weg stellt. Auf die Ästhetik der „Aneignung" des göttlichen Logos durch die 42

(deutsche) gebildete Menschheit zielt somit das Werk zumal des jungen Gelehrten; das Programm der kultischen „Aneignung" des göttlichen Logos in Geschichte trägt selbstverständlich den Titel ,Bildung': ,,[... ] das Prinzip der Reformation [... ), von der Weltbildung durchgeführt, hat den Olymp des Mittelalters ein für allemal rein ausgeleert. Unser Gott ist ein immanenter Gott [ ... ], seine wahre Gegenwart der Menschengeist. Diesen Gott zu verherrlichen, ist die höchste Aufgabe der neuen Kunst [... ]. Wir kennen keine Wunder mehr als die Wunder des Geistes [... )."35 Die praktische Politik jener „Aneignung" hingegen stellte sich als schlaffe Handgreiflichkeit des deutschen Bildungsbürgers vor, der schon 1848, zu jener Zeit, da „die übersatte Bildung der deutschen Nation endlich mit Macht nach außen drängte, an das Tor der Wirklichkeit pochte" 3 6, das Tor zur politischen Partizipation gleich hinter sich zu schließen beabsichtigte: ,,Die vielen, die nichts haben", so ein durchaus repräsentativer Frankfurter Abgeordneter, ,,sind die schlechtesten Wähler. Wenn wir uns auch von jeder Aristokratie trennen können, so doch nicht von der des Verstandes, und der ist in der Regel mit Besitz verbunden. "3 7 Als „Aristokratie der Bildung" taucht dieselbe Schicht bei Vischer aufss. Zu jenem Zeitpunkt ist ,Bildung' nicht mehr der Hegelsche kontemplative Durchgangspunkt zum Absoluten, sondern das Kraftzentrum eines bürgerlichen Geschichtsbildes, das von den kultivierten Versprechungen der nationalen Zukunft eingerahmt ist. Die angenommene Sinnakkumulation der Geschichte ist für Friedrich Theodor Vischer vor allem ein schöner Bildungsprozeß, von dem seine fünfbändige Ästhetik Zeugnis ablegen soll. Nach Hegels Regeln der Dialektik - im Nachvollzug der Bewegung des Geistes - ,,entläßt" in den streckenweise glänzenden Abschnitten des Werkes (§ 82-§ 231) das einfache Schöne (dessen metaphysische Idee im Anschluß an Schelling, Solger und Hegel zuvor abgehandelt wird [§ 9-§ 81)) das „Erhabene" und „Komische" aus sich. Diese „heben" sich dann „auf" in der allgemeinen Bestimmung des Schönen. Das so bestimmte Schöne „entläßt" sich wiederum objektiv-unmittelbar als Schönheit der Natur und subjektiv-mittelbar als Schönheit der Phantasie. Die Versöhnung von Natur und Phantasie in höchster Schönheit schließlich sei Aufgabe der Kunst, zumal des Dramas. Entscheidend für seine Stellung als Bildungsbürger aber ist Vischers utopische Halbherzigkeit, die sich einstellt, als es gilt, Ort und Zeit jener Versöhnung zu nennen: „Diese höchste Einheit [... ] kann aber auf keinem einzelnen Punkte der Zeit und des Raumes als solche zur Erscheinung kom43

men, sondern sie verwirklicht sich bloß in allen Räumen und im endlosen Verlaufe der Zeit durch einen beständig sich erneuernden Prozeß der Bewegung."s9 Unabhängig von einer (hier nicht möglichen) Untersuchung der magischen Selbstbewegung von Begriffen ist festzuhalten, daß die Verschiebung der endzeitlichen Aktualisierung eines Bildungsreiches der Schönheit in den mythischen Prozeß ewiger, zirkularer Geist-Bewegung vor allem eines reflektiert - bildungsbürgerliche Revolutionsverdrossenheit: Das Reich der Schönheit ist eben ein privates, zukünftiges Bildungsreich, dessen Etablierung als schöne Welt in Kopf und Gemüt auf Mord und Totschlag vorerst verzichten kann. So gilt denn Vischers „Mythologie des höheren Menschen: des Gebildeten"4o ab 1850 auch der Erklärung quietistischer Privatexistenz: ,,Im modernen Staate wird in dem Grade, in welchem die Lebendigkeit aus den mechanisierten Formen des öffentlichen Lebens sich ins Innere zurückzieht, das Privatleben, die persönliche Bildung wichtig [... ]." 41 So wird aus einer ,öffentlichen Tugend' eine private - die Entwicklung war freilich in ihrem eigenen Begriff schon beschlossen -, und statt der ,Bildung' der Welt erhebt Weltflucht den Anspruch, der korrekte Habitus des Gebildeten zu sein. Der Bürger entpuppt sich als ,bourgeois', sein Reich ist das Private: Hier war er frei, ein Republikaner der Innerlichkeit. Nicht der Inhalt von Vischers voluminöser Ästhetik, der bedeutenden ästhetischen Gruft des Idealismus, steht hier zur Diskussion, sondern das Bildungsbewußtsein ihres Autors. Gleichwohl liegt der theoretich relevante Kern dieses Bewußtseins unter der Last seiner Ästhetik begraben. Die post-Hegelschen Modifikationen des Bildungsbegriffs durch Vischer entsprechen den Eingriffen des Hegelianers in die ästhetische Systematik des „alten Herrn". Vischer wurde mit seiner eigenen Vorstellung von ,Bildung' schließlich zum notorischen Objekt von Nietzsches Hohn über den deutschen „Bildungsphilister" 42. Seine Ästhetik muß hier im Vergleich zu der Hegels untersucht werden, um den Verfall des idealistischen Begriffs von ,Bildung' zum Philistertum sichtbar zu machen. Das Schöne, so wäre zu erinnern, bestimmt sich nach Hegel „als das sinnliche Scheinen der Idee" 4a. Die Idee - Prozeß des sich real entfaltenden Denkens - erfährt sich als wirklich - so Gebhardt „im ontischen Status des Philosophen (Hegel), der eins ist mit dem verklärten Jesus als der Wirklichkeit schlechthin"44. Diese Einheit ist das wesentliche, idealistische Bildungserlebnis, von dem aus Geschichte strukturiert wird. ,,Retrospektiv erlebt (Hegel) die

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Weltgeschichte als die ,geistige Expansion' von der Erscheinung Christi her, in der sich durch den auferstandenen Christus der Logos und in diesem Gott in seiner Totalität der Menschheit in Hegel ergibt, und damit die Offenbarung endgültig komplettiert, konkretisiert und realisiert ist in der Freiheit. " 45 Das sinnlich konkrete Scheinen der Idee in Schönheit kann für Hegel darum historisch nur vor dem Erscheinen des Logos im verklärten Christus liegen. Mit seiner göttlichen Wirklichkeit wendet sich der Schein der Idee in reflektorisches Wissen, das auf den sinnlichen Schein von Wahrheit in Gegenwart den Glanz von absoluter Schönheit nicht mehr zu lenken vermag. Philosophie ist im Sinne Hegels nicht nur die gebildete Richterin der Künste, sondern auch die emanzipierte, zum wortreichen, kritischen Wissen gewordene Kunst der Klassik. Modeme Kunst besteht nicht mehr neben ihr. Ganz anders urteilt Vischer. Der historische Christus verkehrt sich dem ehemaligen Theologiestudenten in einen ,Geistesheros' vom Schlage Luthers oder Kants: Keineswegs aber verkörpere er die absolute ,Idee'. Seine Erscheinung ist nicht der Wendepunkt der Geschichte des Geistes - und somit auch kein Thema der Ästhetik. Wohl übernimmt Vischer Hegels Explikation vom Schönen als sinnlichem Schein der Idee - und doch bleibt ihm aufgrund seines theologischen Verzichts die „Wirklichkeit der Idee", als absolute, historische Einheit von Denken und Sein, ein bislang unerfülltes metaphysisches Desideratum, das sich irgendwann und immer, nicht aber punktuell in Geschichte, sondern als ewige Bewegung des Geistes realisiere, ubique et nusquam. Dem (nicht erklärten) ,,Gesetz dieser Bewegung entsprechend erzeugt sich der Schein, daß ein einzelnes sinnlich Daseiendes seinem Begriff absolut entspreche, daß also in ihm zunächst eine bestimmte Idee und dadurch mittelbar die absolute Idee vollkommen verwirklicht sei"4G.Dieser Schein sei der Schein des Schönen in seiner Wirklichkeit. Bleibt also, nach Vischers Abänderung der Symbole Hegelscher Meditation über die Realität des Logos, nur ein zurückgestutzter idealistischer Begriffsapparat übrig, so genügt der Hinweis auf die metaphysische Qualität jenes Scheins, um Vischers Metaphysik des Schönen, Zentrum seiner unausgesprochenen ,Bildungstheorie', auf den angemessenen Begriff zu bringen: Der Schein des Schönen war von Vischer - ganz hegelianisch - als Erscheinung der Einheit von Denken und Sein bestimmt worden. Wird diese Einheit freilich in den diffusen Kreislauf einer „Bewegung des Geistes" verbannt, der seine dynamische Sinnerfül-

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lung aus den ästhetischen Versprechungen der nationalen Zukunft bezieht, so gerät jener Schein in die vernichtende Nachbarschaft der Illusion und verschwindet in ihr. Auf der dialektischen Verifikation von Illusion als Schein der Schönheit in Geschichte baut Vischer - unter'm Banner deutscher Bildung - sein Lebenswerk auf. Als Ästhetik zielt das Werk auf die verbindliche Systematisierung aller Formen sinnlicher Erfahrung und ihrer Gegenstände in Kunst und Geschichte. Da die Systematisierung - als Bildungsprogramm - jedoch selbst die Realität sinnlicher Primärerfahrungen monologisch zu verschütten droht, befindet sich der Ästhetiker im notorischen Dilemma gerade des deutschen Intellektuellen, der zwischen einer seit Kant denunzierten common-sense-Erfahrung von Wirklichkeit und ihrer begrifflichen Vereisung im (ästhetischen) System zu entscheiden hat. Anders: Der vorphilosophische Verbund zwischen sinnlicher Erfahrung und Ordnung der Seele, den Heraklit meinte - ,,Schlimme Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, sofern sie Barbarenseelen haben" (B 107) - ist trotz Kant nicht aufzulösen; noch in Hegels spekulativer Intensität, die zwischen der Geschichte des Bewußtseins und der Geschichte von Schönheit in Kunst und sinnlicher Realität nicht trennen mag, ist der heraklitische Zusammenhang von Psyche und Sinnlichkeit entfernt bewahrt. Vischer hingegen vermag jenen Verbund nidit mehr in der Strenge herzustellen, die Hegels Denken prägte 4 7. Sein Verzicht auf den riskanten Nachvollzug Hegelsdier Meditation bereitet vielmehr das ehedem mystische Symbol ,Bildung' zum beliebigen Allerweltsbegriff auf. ,Bildung' bedeutet jetzt die Einheit von ,Geist' und Natur; die Einheit selbst verdankt sich der Illusion des Schönen. ,,Das Schöne zieht seinen Saft aus dem ganzen Leben; seine Nahrung ist die beste Substanz des Volkstums", versichert der alternde Ästhetiker im positivistisch-materialistischen Jargon der Zeit seinen Zuhörern. ,,Nur aus Kraft kann Kunst erwachsen [... ]. Nicht überflüssig ist das Schöne; wir können ihm nicht entfliehen; [... ] es ist eine große Wahrheit, eine Macht. Sie ruft: Du mußt mich haben, du Mensch, denn ich will dich bilden! Wahrhafte Bildung bringt nur das Schöne, weil es allein den sonst verstümmelten, nach Natur- und Geistseite zerrissenen Menschen einigt. " 48. Mit der hier besdiriebenen Sinnveränderung des Symbols ,Bildung' ist freilich noch nicht die Leichtigkeit geklärt, mit der das deutsche Bildungsbiirgertum, für das jener neue Begriff von ,Bildung' in seiner Versdiwommenheit verbindlich wurde, den bequemen Weg in angepaßte Subordination unter den preußischen 46

Machstaat und die Verhältnisse des Kapitalismus abschritt: Auch Vischer, der lange Zeit einer großdeutschen Lösung das Wort geredet hatte und Preußens militanten Habitus beklagte, bildete nach 1870/71 keine Ausnahme. Zu erinnern ist hier an die erwähnte ziviltheologische Funktion von ,Bildung'. Sie überlebt offensichtlich jene Sinnverschiebung - nicht jedoch zufällig; denn gerade die Ästhetik Vischers entwickelte als Bildungstheorie eine Apologie des Gehorsams, die als ,Theorie' der heroischen Akkomodation an's Notwendige, den Staat nämlich, in dem Augenblick nützlich wird, da 1848/49 die revolutionäre Beseitigung von Herrschaft durch den Bildungsbürger mißglückt. Diese Apologie - als besondere ziviltheologische Variante des idealistischen Bildungstheorems - ist bereits in Schellings Ästhetik der Tragödie angelegt. Das Selbstverständnis der meisten Liberalen des 19. Jahrhunderts nach 1849, Opfer einer historischen Tragödie zu sein, hat bis heute ihre Stellung im Geschichtsbild mitbestimmt49. Um dieses Selbstverständnis in seiner folgenschweren Fülle zu begreifen, sei daran erinnert, daß Schiller, Schelling, Schlegel und Hegel die Tragödie als Konflikt von Notwendigkeit und Freiheit interpretierten. Schelling: ,,Das Wesentliche der Tragödie ist also ein wirklicher Streit der Freiheit im Subjekt und der Notwendigkeit als objektiver, welcher Streit sich nicht damit endet, daß der eine oder andere unterliegt, sondern daß beide siegend und besiegt zugleich in der vollkommenen Indifferenz erscheinen [... ]. Daß aber der Schuldige, der doch nur der übermacht des Schicksals unterlag, dennoch bestraft wurde, war nöthig, um den Triumph der Freiheit zu zeigen, war Anerkennung der Freiheit, Ehre, die ihr gebührte [... ]. Es ist der größte Gedanke und der höchste Sieg der Freiheit, willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen, um so im Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen, und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen." Erhaben sei die Tragöde, wo sich solche Freiheit zur „höchsten Identität mit der Notwendigkeit" verklärt 50 • Im Zentrum seiner Theorie des Handelns, und um nichts weniger geht es hier, schildert Schelling einen schwermütigen Zustand, in dem freie, politische Handlung ihren Triumph der Sinnerfüllung in der Gewißheit erlittener Unterdrückung erlebt. Vergleichbar ist dieser Zustand mit der Verzückung eines Opfers, das im Untergang sich selbst als Gott, dem es sich opfert, zu erkennen glaubt. Das Opfer-Motiv weist über die Tragödie zurück auf archaischen Mythos. Vischer hat jene Theorie Schellings, die die Aufforderung und 47

Folgen der Französischen Revolution ästhetisch-dramatisch verinnerlichte, cum grano salis übernommen. In seiner Habilitationsschrift vertritt Antigone die Freiheit und Kreon die Notwendigkeit, den Staat. Die langfristige Verbindlichkeit, die Schellings Theorie des Tragischen behielt, verrät noch Vischers Erinnerung an die letzten Tage des Stuttgarter Rumpfparlaments: ,,Und wirklich, nachdem die Dinge lagen, wie sie lagen, haben die letzten Männer des Parlaments besser getan, es dahin zu führen, daß sie konstatieren konnten: wir weichen nur der Gewalt. Einfach weglaufen wäre ein unwürdiges Ende gewesen, dies war immer noch ein Ende mit Ehren [... ]. Ich meinestheils gestehe, daß ich, wenn ich mich in zwei Personen hätte trennen können, wenn ich im Zug gegangen und zugleich Minister gewesen wäre, gegen mich selbst als im Zug Befindlichen, das Militär aufgeboten hätte, so gewiß, als ich mit den piemontesischen Truppen gegen Garibaldi geschossen haben würde, als er, der edelste der blinden Demokraten, [... ]", usw.5 t. In dieser Posse tragieren die Minister der deutschen Reaktion von 1849 die Schellingsche Notwendigkeit. Vischer hingegen chargiert die tragische Rolle des freien bürgerlichen Subjekts, des ,,eventuellen Republikaners" 52 , der, indem er nach mehr Freiheit noch verlangt, sich schuldig macht und (a) der Macht des Schicksals, das als politische Notwendigkeit maskiert Geschichte spielt, unterliegt, sowie (b) ein gleichsam ödipales Ende in Ehren erlebt, die ihm laut Schellings Definition auch gebührten. (So geschmiert funktionieren gewisse Verdrängungsmechanismen des ästhetischen Bewußtseins, indem, was ödipal am tragischen Ende war, Blindheit nämlich, anderen angeschwatzt wird: den Demokraten.) Doppelt vermittelt ist also das Verhältnis des Bildungsbürgers zum Staat und dessen Realisierung im preußischen Kaiserreich: Zum einen ästhetisch-tragisch, da er seine niederschmetternden Erfahrungen der Revolution von 1848/49 ins Reich des Schönen verklärend erhebt; der ,politische' Plausibilitätspunkt seines Lebens ist und bleibt das Schöne. ,,Das Schöne ist das in sich gespiegelte, im Spiegel verklärte Leben." 53 Zum anderen bildungstheoretisch und staatsmetaphysisch: Der Staat als Bildungsprodukt ist zugleich Inbegriff der Freiheit in Gehorsam. Die bildungsbürgerlichen Anpassungen an's Bestehende sind das Thema dieser Untersuchung geblieben. Sie ist kompliziert, weil die vielen Versuche, derlei Akkomodationen im schönen Raster privater Existenzauslegung unauffällig einzubetten, gerade nicht offen zutage liegen. Das Gemütliche der Anpassung ist hier eine 48

Sache des Gemüts, selten des Verstandes, der sich noch klare Rechenschaft abgäbe über die Ursachen seiner politischen Niederlagen. Insofern ist F. Th. Vischer, folgt man Ulrich Sonnemanns immer zutreffenderen Analysen des deutschen Sozialmilieus der Nachkriegszeit, repräsentativ geblieben: ,,Der Generalnenner des Mehrheitsverhaltens in Deutschland heißt Trägheit der Seelen, aber was heißt das denn selbst, offenbar doch, daß es den Seelen an Richtung, an einer eigenen Ordnung fehlt: hätten sie eine, so wären sie nicht unentwegt bereit, jeden Anschein von Ordnung [... ] zu übernehmen, [den] die je gegebenen Verhältnisse, in die sie geraten, ihnen auf eine suggestive Art zumuten." 54 Die Psyche des Ästhetikers Vischer, die sich von Anfang an entschließt, die Erfahrung von Gottverlassenheit zum Zentrum allgemein verbindlicher Realitätserfahrung zu erheben, verzichtet gerade in ihrer richtungslosen, aber starren Haltung, das heißt in ihrer Trägheit, auf das höchst Menschliche ihrer selbst: Der ,Ort' der möglichen Erfahrung eines transzendenten Seinsgrundes zu sein, lehnt sie dogmatisch ab und vermag so - im Netzwerk dialektischer Begrifflichkeit - keinen ordnenden Sinn ihrer selbst mehr zu finden 55 • ,,Zufälligkeit" entwickelt sich darum folgerichtig zum Inbegriff von Vischers Realitätserfahrung; als „Tücke des Objekts" wird sie das neckisch-wesentliche Thema seines konfusen, fahrigen Altersromans Auch Einer, laut Lukacs einer „Art Volksbuch der liberalen Bourgeoisie" 56 • Im Begriff des „Zufalls" erklärt sich nach 1850 Vischers Abwendung vom klassischen Idealismus zum zeitgenössischen Irrationalismus, der dem zufallüberwindenden System Hegels einerseits seine Ohnmacht entgegenhält, sich in Wirklichkeit zu bewähren - ,,alle Begriffe führen ja eben ins Ratlose", heißt es im Roman Auch Einers1 - und der, indem er sich als angebliches Bedürfnis nach lebendiger Wirklichkeit und Tatsachenfülle akademisch-professionell einrichtet, seinen heimlichen, schließlich offenen Frieden mit der Fülle des tatsächlich Vorhandenen schließt - auch mit dem Staat, auf den, andererseits, noch ein Ab-Glanz Regelseher Dignität der „Wirklichkeit sittlicher Idee" gelenkt wird. Vischer, der „gutartige, durchaus blonde Ästhetiker" (Richard Wagner), entpuppt sich im Alter als resignierender Ideologe einer bildungsbürgerlichen Dreifaltigkeit, der ,Wahrheit' und ,Schönheit' als beigestellte Bildungskategorien von Empfindung und Illusion weiterschleppt und das ,Gute' als Symbol politischer Ethik nicht zu erfragen weiß 5S. Bismarcks provozierter Krieg gegen Frankreich gerät ihm deshalb nicht zum Augenblick politischen 49

Widerstandes, sondern zum Anlaß ästhetischer Erhöhung von Mord und Totschlag. Der Krieg scheint ihm Selbstrealisation des deutschen Geistes in Aktion; einmal mehr klopft die „übersatte Bildung ans Tor der Wirklichkeit": ,,So hat sich unsere Bildung mit unserer Urkraft und dem Feuer der Leidenschaft in eins zusammengefaßt, der Schatz unseres Wissens, unserer Dichtung, unserer lang gesammelten geistigen Habe ist zum Blitz verdichtet in die Schwerter gefahren und ein Kulturvolk hat bewiesen, daß es auch ein Volk der Tat ist." 59 In Vischers Essay Der Krieg und die Künste wird das Arsenal verlogener Metaphern angelegt, die 1914 erneut mobilisiert werden. Am Schicksal solcher schon längst sinnentleerten Worthülsen, die in einer grotesken Wirklichkeit wieder mit Blut gefüllt werden, bewährte sich das Diktum Karl Kraus', daß eine Kultur dann fertig sei, ,,wenn sie ihre Phrasen noch in einem Zustand mitschleppt, wo sie deren Inhalt schon erlebt. Das ist dann der sichere Beweis dafür, daß sie ihn nicht erlebt" 60. Die wahre Demokratie, so Vischer, sei „das deutsche Heer, das euch unverschämte Nation [der Franzosen, M. N.] noch zusammenschnüren wird, bis euch das Blut aus den Nägeln spritzt"6 1• Am Ende seines Lebens mußte dem ungeordneten Bewußtsein des Ästhetikers die Genauigkeit der Naturwissenschaften wie eine beneidenswerte Gratifikation des allgemeinen Fortschritts erscheinen. Was Wunder, daß in Vischers Kritik meiner Ästhetik (1866) nicht nur das ästhetische System, der scheinbar „wohlgefügte Bau" 62 , zusammenbricht, sondern daß auch der Kritiker ganz unkritisch in den Kategorien einer akademischen Disziplin herumfuchtelt, die von der philosophia zur Universitätsphilosophie heruntergekommen ist, speziell zur beginnenden neokantianischen. Vischer: ,,Die Ästhetik muß den Schein, als gäbe es ein Schönes ohne Zutun [... ] des anschauenden Subjekts schon auf ihrem ersten Schritt vernichten [... ]. Das Schöne wird erst im Anschauen [... ]."6 3 Der späte Rekurs auf Kants Kategorie der ,Anschauung' versprach der sinnlichen Rezeptionsfähigkeit, deren psychologische Varianten die zeitgenössische positivistische Ästhetik gerade erforschte, einen neuen Rang in der Konstitution des Schönen. ,Sinnlichkeit' und ,Geist' als hypostasiert-gegensätzliche Qualitäten menschlicher Existenz werden von Vischer als real unvereinbar charakterisiert. Um so leichter kann er sie im Schönen illusionär harmonisieren. Derlei Harmonie sollte sich schließlich als die haltlose Sicherheit 50

des Schlafwandlers herausstellen: ,,Wir haben beim echten Schönen das Gefühl eines großen Entzückens; und wenn wir hinweggehen, ist es uns, als walte nun etwas Fremdes, das wie ein magisches Goldlicht über der Wirklichkeit zittert. Es ist der Traum von einem vollkommenen Leben. "64 Im Traum allein konstituiert sich dem gealterten Ästhetiker die rätselhafte Realität des Schönen. Das private Reich der Schönheit, jenes millenarische Feiertagsland der Bildungsbürger von 1848, öffnet doch noch seine Pforten, wenn auch hier als Traumreich, von dem Vischer 1875 schreibt: Im Traum „wird der sonst bewußte Geist selbst Natur. So führt der Traum mitten in das ewige Rätsel hinein, mitten in das Grundproblem der Spaltung des ewig Einen in die Natur und den Geist [... ]"6 5, So ausweglos versucht der Bildungsbürger die Reste des Idealismus in eine Ästhetik zu retten, die sich schließlich zur ästhetischen Ideologie der Bildungsbürger verflüchtigt, die sich privatistisch vom Politischen absentieren; zur Ideologie jener Menschen, von denen Heraklit treffend sagt: ,,Obgleich da, sind sie doch nicht da" (fr. 34). In diesem Milieu soll die Kunst nur noch die gesellschaftliche Funktion übernehmen, allerlei Sorgen zu vertreiben. Kunst, so fordert Wilhelm II. ganz allgemein und im Sinne Vischers, möge helfen, ,,erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten [... ]. Es bleibt nur das deutsche Volk übrig, das an erster Stelle berufen ist, diese großen Ideen zu hüten, zu pflegen, fortzusetzen, und zu diesen Idealen gehört, daß wir den arbeitenden, sich abmühenden Klassen die Möglichkeit geben, sich an dem Schönen zu erheben und sich aus ihren sonstigen Gedankenkreisen heraus- und emporzuarbeiten"66. Dem wilhelminischen Zeitalter schien der Zauber des „Goldlichtes über der Wirklichkeit", Vischers Traum-Ideal von Schönheit, durchaus geeignet, Herrschaft zu stabilisieren - denn jene sozialdemokratischen Gedankenkreise, die Wilhelm II. fürchtete, waren diejenigen des Bildungsbürgertums und des Adels gerade nicht. Abschaffung von Herrschaft in freiheitlichem Gehorsam - das war das ursprüngliche, widersprüchliche Ziel von idealistischer ,Bildung' in gesellschaftlicher Hinsicht. Ihr politischer Fehlschlag - Herrschaft etablierte sich feudal, kapitalistisch und starr ist im Konkurs des ziviltheologischen Symbols ,Bildung' selbst angelegt. Dieser Fehlschlag als innerste Krise von ,Bildung' konnte vielleicht jenen Anspruch verletzen, den Hegel apropos ,Bildung' ent51

wickelte. Aber der Fehlschlag vermochte im Selbstverständnis der führenden Bildungsbürger nicht jene Kritik zu provozieren, die den Begriff ,Bildung' selbst betroffen hätte. Zur Absage an das dialektische Prinzip von ,Bildung', der romantischen und idealistischen Selbstvergottung, stießen die Bürger vom Schlage Vischers nicht vor. Allzu schwer schienen die diesbezüglichen sozialen Privilegien des Denksystems auf den Seelen zumal der ordinierten Epigonen zu lasten, als daß sie bereit gewesen wären, mit dem Geheimnis des Systems auch sich selbst in Frage zu stellen. Wenn schon nicht Gott - so doch Genie zu sein, konvenierte dem gebildeten Gemüt. Personszentraler Kritiklosigkeit jedoch entsprach die mürrische bis freudige Anpassung an den autoritären Staat Bismarcks und seiner adeligen Nachfolger. Als 1914 Deutschlands ,Griff nach der Weltmacht' (Fritz Fischer) dem expansiven Anspruch nicht nur der Wirtschaft, sondern auch des deutschen Geistes territoriale Realität verschaffen wollte, konnte der Berliner Universitätsprofessor Adolf Lasson, von ,,Deutscher Art und Bildung" redend, die Feinde auffordern: „Macht uns doch erst den deutschen Volksschullehrer nach, den deutschen Oberlehrer, den deutschen Akademieprofessor!"67 Ihre Unnachahmlichkeit war es natürlich, die viele dieser Repräsentanten deutscher Bildung ein Jahrhundert lang auf je eigene Weise behauptet hatten. Auf dem Gipfel der Menschheit und Geschichte stand eine deutsche Universität, stand ihr Absolvent, der Bildungsbürger. Form und Folgen von derlei Realitätsverlassenheit hat der ironische Chronist dieser Gesellschaftsschicht, Robert Musil, kurz nach dem Zusammenbruch der wilhelminischen Ära beschrieben: ,,Wir waren früher betriebsame Bürger, sind dann Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden: und haben doch eigentlich nichts erlebt. "us

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2. Das Gesellschaftsbild der Rechtswissenschaft die soziale Frage 1

und

von Gerhard Dilcher Juristen haben unter den akademischen Berufen dadurch eine besondere Stellung, daß sie dazu ausgebildet werden, als staatliche Funktionäre im Justiz- oder Verwaltungssystem unmittelbar durch verbindliche Entscheidungen in die Gesellschaft hineinzuwirken. Da diese Entscheidungen im modernen liberalen Rechtsstaat begründet und publiziert werden, wirken sie weit über den Einzelfall hinaus gesellschaftsformend. Die Mitglieder der Gesellschaft richten sich nun nach diesen Entscheidungen aus, d. h. sie erkämpfen sich ihnen zustehende Rechte notfalls im Prozeßweg, geben andererseits rechtlich aussichtlose Positionen auf. Bei der Vorklärung dieses Vorganges wirken wiederum Juristen, als Rechtsanwälte, Notare, Syndici, in Rechtsabteilungen von Unternehmen und Verbänden mit. Dem modernen kontinentalen Rechtsstaat entspricht es nun, diese große Macht den Juristen nicht einfach als rechtskundigem Berufsstand anzuvertrauen (wie dem römischen, dem mittelalterlichen, noch z. T. dem englischen Juristen), auch nicht, ihn in Abhängigkeit vom staatlichen Machthaber zu belassen (wie im Absolutismus oder in modernen Diktaturen), sondern in Durchführung der Gewaltenteilung dem Richter persönliche Unabhängigkeit institutionell zu garantieren, Verwaltungsentscheidungen gerichtlicher Kontrolle zu unterwerfen, den Richter aber (und damit alle juristische Tätigkeit) an Gesetze als abstrakte, allgemeingültige Normen zu binden. Der Rechtsstaat wird demokratisch legitimiert, wenn diese Gesetze von einem Parlament, einer aus allgemeinen gleichen Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung beschlossen werden. Wendet man diese allgemeine Überlegung auf unser Thema, so bedeutet dies: DieJuri~ten cl~r_wilheltninisch,_enÄra besaßen, im Gegensatz zu den übrigen Schichten des Bildungsbürgertums, ~ine sehr unmittelbare, nicht erst über ,Kultur' (Literatur, Publizistik, Unterricht) oder ,Politik' (Parteien, Parlament) laufende ~facht zur Gestaltung der gesellschaftlicllep. Realität, waren hierbei durch die Bindung an die vorgegebene Rechtsordnung aber in deren Ausgestaltung unfreier, in eine objektivierte, dienende Rolle verwiesen. Doch wird durch diesen Verweis auf die Rechtsordnung der Jurist 53

als Glied der bildungsbürgerlichen Schicht für die Erforschung des Wechselverhältnisses von ,Ideen und sozialer Realität keineswegs unwichtig: Schon die Rechtsordnung selbst wird auch bei parlamentarischer Verabschiedung der Gesetze maßgebend durch Juristen geprägt: durch der Gesetzgebung vorausgehende wissenschaftliche Diskussion, durch Juristen in gesetzgebenden Kommissionen und in der Ministerialbürokratie, durch den von der Jurisprudenz zur Verfügung gestellten Begriffsapparat. Jedes Gesetz gibt außerdem in seiner Anwendung der Auslegung notwendigerweise vielfältige Spielräume. Bei der Ausfüllung dieser Spielräume, bei der Konkretisierung der abstrakten Gesetzesordnung zu einer realen, vom Recht geformten Sozialordnung, werden bewußte oder unbewußte Wertvorstellungen der beteiligten Juristen eine entscheidende Rolle spielen. Diese Wertvorstellungen werden übermittelt durch soziale Herkunft, durch das Studium an der Universität (und von Universitätslehrern verfaßte Lehrbücher usw.), durch die praktische Ausbildung im staatlichen Referendardienst und einen eventuellen 'Corpsgeist' in der Richterschaft oder der Verwaltungsbehörde. Der sozialen Herkunft der Juristen, auch nur der Universitätslehrer, kann hier nicht im einzelnen nachgegangen werden. Sie sind typische Vertreter des akademischen Bildungsbürgertums, viele von ihnen aus Familien mit Tradition im Richter-, Verwaltungs- oder Anwaltsberuf stammend; ein überproportional hoher Anteil besteht aus Akademikerkindern. Neben der Prägung durch die Rechtswissenschaft der Zeit, der hier das besondere Augenmerk gelten soll, werden die Juristen in starkem Maße durch die praktische Ausbildung im Referendariat geformt und in eine staatliche bürokratische Organisation integriert. Einen besonderen Sektor stellt hier der Verwaltungsdienst dar, in dem Juristen unmittelbar gestaltende, nicht nur kontrollierende Staatstätigkeit wahrnehmen. Er war im wilhelminischen Preußen besonderen Zugangsvoraussetzungen unterworfen: Es gab ein eigenes, vom Justizdienst getrenntes Verwaltungsreferendariat, in welchem eine Auslese nach konservativer Gesinnung stattfand. Angehörige des ostelbischen junkerlichen Adels stellten einen erheblichen Teil der Verwaltungsjuristen. Im Justizdienst, der weniger Ansehen als der Verwaltungsdienst genoß, dürfte nationalliberale, auch freisinnig-liberale Einstellung stärker vertreten gewesen sein. Doch auch hier führte in Preußen unter dem Innenminister von Puttkamer nach 1881 ein Bündel verwaltungstechnischer Maßnahmen zu einem Ausscheiden altliberaler Richter aus dem Justizdienst und Abwandern jüngerer nichtkonformistischer Juristen in die Anwaltschaft - nämlich die Straffung der Justizbürokratie nach 54

den Reichsjustizgesetzen von 1879, vorzeitige Pensionierung älterer Richter, Fehlen jeder Stellenvermehrung, dafür überlange unbezahlte Assessorenzeit für Anwärter des Justizdienstes, gleichzeitige Öffnung der Anwaltschaft, Laufbahn des Reserveoffiziers mit prägender und selektierender Wirkung als inoffizielle Voraussetzung für den Akademiker im Staatsdienst. Durch das tatsächliche und auch in der Verfassung angelegte Übergewicht des nun weitgehend reaktionär gewordenen Preußen bekommen die weitergeführten bürgerlich-liberalen Traditionen der Justiz der nichtpreußischen deutschen Staaten im Gesamtrahmen des Deutschen Reiches kein rechtes Gewicht. Durch die vorgenannten Faktoren ist bei den deutschen Juristen die Tendenz zu einer gewissen Konformität des Denkens und der Meinungen größer als bei Vertretern anderer akademischer Fachgebiete. Neben der Gefahr mangelnder Innovationsfähigkeit im Rechtssystem hat diese Haltung die positive Bedeutung, Gleichheitlichkeit der Entscheidungen als eines Kriteriums der Gerechtigkeit und Vorausberechenbarkeit als Voraussetzung der Rechtssicherheit in hohem Maße zu garantieren. Gerade die Periode des klassischen liberalen Rechtsstaates, der wir die zu behandelnde Zeit zurechnen können, sah in abstrakter Rechtsgleichheit und vorausberechenbarer Rechtssicherheit weitgehend schon die hinreichenden Bedingungen für Gerechtigkeit, während das weniger rationale, auf differenzierten Wertungen beruhende Kriterium sozialer Angemessenheit, das sowohl in der älteren, vorliberalen Epoche wie im modernen Sozialstaat das Gerechtigkeitsgefühl mitbestimmt, aus dem Rechtsbegriff weitgehend ausgeblendet war. Die Ausklammerung der Frage der konkreten sozialen Gerechtigkeit mußte aber von besonderer Bedeutung für den Charakter der Rechtsordnung sein in einer Gesellschaft, die wie die des späten 19. Jahrhunderts von starken Klassengegensätzen, von politischsozialen Spannungen beherrscht war. Doch darauf wird zurückzukommen sein. Aus dem Gesagten wird deutlich, daß es lohnend ist, zunächst einen Blick auf den geschichtlichen Stand der Rechtsordnung in der wilhelminischen Ära zu werfen - bestimmt sie doch in starkem Maße sozialen Status, Entscheidungsraum, Ausbildungsstoff und damit auch Mentalität der Juristen. Hier bietet sich das knappe Vierteljahrhundert zwischen dem Rücktritt Bismarcks und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges als das juristisch wohl ruhigste, ereignisloseste des bürgerlichen Jahrhunderts dar. Die Unabhängigkeit des Richters ist gesicherter Verfassungsbestand, hart erkämpft in der ersten Jahrhunderthälfte; 55

letzte massive Beeinflussungsversuche sind im preußischen Landtag noch vor der Reichsgründung durch parlamentarische Debatte aufgedeckt und abgewehrt. Rechtsstaatliches Verfahrensrecht und ein mehrstufiges Gerichtssystem in Zivil- und Strafsachen bis hin zum Reichsgericht ist in den großen Reichsjustizgesetzen seit 1879 fixiert. Die für den Bürger wichtigsten Rechtsakte der Verwaltung, des Kernbereichs staatlichen Handelns, sind nun auch vor Verwaltungsgerichten nachprüfbar. Das Strafrecht ist kodifiziert, genaue Tatbestände schützen den Bürger vor polizeistaatlicher Willkür, die aus dem reaktionären politischen System des Deutschen Bundes dem Bürger nicht ganz ferne Vergangenheit ist. Eine Krönung der Entwicklung zum liberalen Rechtsstaat jedoch bringt die wilhelminische Ära: Die nationale Einheitlichkeit des Privatrechts mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1.1.1900. Doch auch hier liegen die Entscheidungen früher; im Kampf der liberal-bürgerlichen Parteien im Reichstag 1871-73 um eine Gesamtkodifikation des Privatrechts, in den die Grundentscheidungen fällenden Arbeiten der Kommission für den Ersten Entwurf bis 1890. Die zweite Kommission milderte nach der z. T. heftigen Kritik nur vorsichtig den abstrakt-wissenschaftlichen Charakter des Werkes und fügte einige Vorschriften sozialen Schutzcharakters, etwa im Dienstvertrags- und Mietrecht, und auf die Sozialethik verweisende Generalklauseln ein. Man konnte stolz an die Versöhnung der celebren juristischen Kontroverse des Jahrhundertbeginns über die Kodifikationsfrage glauben: Der damals unterlegene Thibaut hatte nun doch mit der Forderung nach einer nationalen Gesetzgebung gesiegt, eine Forderung der Paulskirche war damit erfüllt, der große Savigny, der die Gestaltung des Privatrechts der Wissenschaft zugesprochen hatte, hatte ebenfalls Recht behalten, indem die von ihm begründete, historisch-kritisch am römischen Recht orientierte Pandektenwissenschaft das BGB maßgebend geformt hatte - nach dem Verfasser des letzten großen Lehrbuches dieser Tradition, der den Ersten Entwurf auch als Mitglied der Kommission mitgestaltet hatte, wurde es ein in Paragraphen gegossener Windseheid genannt. Also bedeutete die wilhelministe Ära auch hier mehr ruhigen Abschluß denn Umbruch. Im Staatsrecht hatte sich auf der Grundlage der Reichsverfassung von 1871, die den monarchisch-bürgerlichen Kompromiß der Reichsgründung kodifizierte, eine anerkannte Staatsrechtswissenschaft gebildet, die auf der Grundlage streng legalistischer, begrifflich-positivistischer Methode zu fest fixierten Ergebnissen gekommen war. Hier fehlte allerdings, nicht ohne Grund, die rechtsstaatliche Absicherung durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, so

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daß das Handeln der Reichsorgane im staats rechtlichen Raum rechtlich nicht überprüfbar war. Nicht ohne Grund, weil der monarchisch-bürgerliche Kompromiß Bism arckscher Prägung bewußt Lücken in der Verfassung offenließ, die dann vom Machtträger ausgefüllt werden konnten. Das zeigt sich in der Reichsverfassung etwa an dem Fehlen von Grundrech ten; aber auch die Konzeption des Reiches insgesamt als Bund souveräner Fürsten, nicht als Ausdruck der Volkssouveränität, war mit der Unterwerfung der Reichsorgane unter eine Verfa ssungsgerichtsbarkeit schwer in Einklang zu bringen. Die kontrollier ende Funktion der bürgerlichen Öffentlichkeit in Reichstag und Publizistik war zwar in vielen Fällen wirksam, aber eben nicht mit rechtlicher Zwangsgewalt ausgestattet, also letztlich doch ohnm ächtig. Auch die bewegende, die soziale Frage, das Problem der wachsenden, in den Staat nicht integrierten Industriear beiterschaft, hatte bis 1890 eine vorläufige Lösung, was die Rech tsordnung betrifft, gefunden. Die Koalitionsfreiheit der Gewerksch aften war seit der Gewerbeordnung von 1869 grundsätzlich anerk annt. Bismarck und seine Ministerialbürokratie hatten in zähem Ringen um wechselnde Mehrheiten im Reichstag einerseits durch die Sozialistengesetze eine begrenzte Repression der revol utionären Strömungen der Sozialdemokratie erreicht, ohne die sozialdemokratische Reichstagsfraktion oder die Gewerkschaften verbieten zu müssen, andererseits in den großen, später in der Reich sversicherungsordnung zusammengefaßten Gesetzen (Kranken-, Unfalls-, Altersund Invaliditätsversicherung) entscheidende Grundlagen des Sozialstaates geschaffen. Im Jahre 1890 war nun die Verlängerung der Sozialistengesetze, die immer nur befris tete Maßnahmegesetze waren, im Reichstag gescheitert. Die Sozia ldemokratie war eine legale, an Mandaten ständig wachsende, doch inner mend mit dem Staat versöhnende Partei gewo lich sich zunehrden. - Was den weiteren Ausbau des Sozialstaates betrifft, so stagnierte er, nachdem die ersten ungeduldigen Anläufe Wilhelms II. len Kaisertum ohne schnellen Erfolg geblieben zu einem soziawaren. Doch gab es auch hier außerhalb gesetzlicher Maßnahme n Erfolge der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung durch große , aber nicht staatserschütternde Streikaktionen und Anfänge eines, allerdings noch nicht gesetzlich abgesicherten, Tarifvertragswe sens. Die soziale Frage war nicht gelöst, aber man konnte die Lösung vielleicht mit Optimismus der vom Fortschrittsglauben bewegten Zeit anvertrauen. Der überblick über die Rechtsordnung verm ag einen wesentlichen Aspekt der Mentalität der Juristen des wilhe lminischen Zeitalters 57

die Rechtsentwickverständlich zu machen: die Befriedigung über n der bürgerrunge Forde lung im Reiche, die die rechtspolitischen richterlicher von tes tsstaa Rech des au lichen Bewegung, den Ausb , eralen nationalen Unabhängigkeit bis zu einer gleichheitlich-lib e erfüllt hatte. Weis ener Privatrechtskodifikation in fast vollkomm gleichzeitig und alen -liber itlich freihe Die Oberzeugung, in einem durch die rn steige sich e mußt , leben zu t tsstaa gefestigten Rech wie des stag, Reich im Ablehnung freiheitseinschränkender Gesetze thausZuch teten gerich s Streik Sozialistengesetzes 1890, der gegen Litera und er Theat von g icklun Entw freie die vorlage 1899, der g eugun Überz Die tur bedrohenden Form der Lex Heinze 1900. deten, in Fachwelt der Juristen, mit den vom Reichstag verabschie Normen für gezen Geset n tierte disku r vorhe und Öffentlichkeit men, war in bekom . rechte Sachentscheidung an die Hand zu Die AusZeit. r diese in wie prägt Deutschland sicher nie so ausge das Erauf g richti folge sich te ntrier konze en bildung der Jurist r Systeseine und s lernen und Beherrschen des gesetzlichen Stoffe daund hen verste zu tem ffssys matik wie der Kunst, sein Begri ng, Haltu Diese gen. gelan zu gung Ausle gen durch zu einer richti tiert, meint der die am positiven, in Gesetzen gefaßten Recht orien mus. sitivis zespo Periode kennzeichnende Begriff Geset g begleiteten ildun Ausb ische jurist die r Andere Fächer, die vorhe eine Studienum n Ringe e heutig das ng ziehu Einbe (und um deren ndung des Verbi alte Die k: reform wieder geht), traten ganz zurüc Politikeine sich, löste ften nscha wisse Staatsrechts mit den Staats chland Deuts in wissenschaft moderner Prägung entwickelte sich nalNatio die ehr vielm en nicht, als ,Staatswissenschaften' wurd und ie osoph tsphil Rech faßt, aufge ge ökonomie und ihre Zwei tiefer ohne inen Rechtsgeschichte wurden spezialisierte Fachdiszipl tsRech der ein wußts gehende Einwirkung auf das Problembe den Fakultäten wissenschaft selber, vom Jurastudenten wie von der Teilhabe eis Ausw und nat ngsor Bildu als ätzt gesch allerdings odologie -meth rie, tstheo Rech der Juristen an der Gesamtkultur. hervorihren in nicht r Fäche als n bliebe und Rechtssoziologie g. ennun ragenden Vertretern - ohne akademische Anerk sche Ära hinaus Ein Ausgreifen des Blicks über die wilhelmini innerhalb der Ruhe und g enzun tbegr Selbs erst zeigt, daß die es auf das Stolz n Rechtswissenschaft nicht eine Periode berechtigte rn gesonde , chnet bezei s holen Erreichte und des ruhigen Atem Zusam dem Nach war: voll ngnis verhä ja schichtlich gefährlich, hoch einen blik Repu menbruch der Monarchie konnte die Weimarer s- und Justizqualifizierten, sachbezogen arbeitenden Verwaltung Gesetze des der auch ug Vollz im loyal der n, apparat übernehme 58

neuen Staates war. Doch in politischen Entscheidu ngssituationen stand er nicht zu diesem Staate: Er gewährte den Politikern des neuen Staates wie dem Namen und Zeichen der Repu hinreichenden strafrechtlichen Schutz. Extreme Ungle blik nicht ichheit in der Beurteilung politisch motivierter Straftaten gegen über rechts und links mußten auch Vertreter der äußersten Rech ten - und schließlich sogar den Nationalsozialismus - als respektierl ich, als Fortsetzer der alten, bismarcldsch-wilhelminischen Staatstradition erscheinen lassen, die Vertreter der Arbeiterbewegung bis hin zum Reichspräsidenten Ebert, zu der die Weimarer Republik wesentlich mittragenden Sozialdemokratie dagegen als noch immer staatsfremd, suspekt. Ein später bedeutender Politologe, Ernst Fraenkel, konnte den marxistischen, polemischen Begri ff der Klassenjustiz aufgreifen und in detaillierter Analyse dem Weimarer Justizwesen vorwerfen. Das Reichsgericht als Grem ium der obersten deutschen Richterschaft kam in der aus der Inflat ion rührenden Aufwertungsfrage zu einer den Gesetzespositivis mus überwindenden Billigkeitsrechtsprechung im Konflikt mit der demokratisch legitimierten Reichsregierung - ein neues, weite res Rechtsverständnis artikuliert sich also in einem Verfassung skonflikt, den das höchste Gericht gegenüber einem kaiserliche n Kanzler nie eingegangen war. Im Staatsrecht war der Positivismus, wie auf jede Rechtsordnung, auch auf die neue Verfassung anwendbar. Ansc hütz als maßgebender Kommentator dieser Verfassung war methodisch weitgehend Fortsetzer der alten Schule. Doch konnt e hieraus keine Staatslehre erwachsen, die den neuen Staat auf der Grundlage einer Demokratietheorie als ein lebendiges politi sches Gebilde Juristen wie Staatsbürgern verständlich machte. Ansätze, etwa bei R. Smend und H. Heller, fanden nicht die Zeit zur Entfaltung. Vor der Aufgabe, die endlich Verfassung sbestandteil gewordenen Grundrechte zu konkretisieren und an Einzelfragen in Rechtswirklichkeit umzusetzen, stand eine positi vistische Staatsrechtswissenschaft ohne geeigneten methodischen Ansatz. - Erst in dieser Situation ist es verständlich, wie ein weite r ausgreifender Staatsrechtler, Carl Schmitt, mit einer hochpolitisc hen, aber antidemokratischen Staatslehre zur faszinierendsten Figur der späten Weimarer und frühen nationalsozialistischen Jahre werden, wie er und andere bedeutende Köpfe des öffentlichen Rechts unter Verleugnung der gesamten liberalen und rechtsstaatl ichen deutschen und europäischen Tradition zu Kündern des irratio nalen Führerstaates werden konnten. Blickt man unter diesen Aspekten in die Rech tswissenschaft vor

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das Epigonender wilhelminischen Zeit, so fällt ein anderes auf: aber auch 1848, vor Zeit Die Zeit. nden ssiere tum der hier intere Juristen: tenden bedeu noch vor der Reichsgründung ist reich an im Rahng Prägu tlicher chrech Begründern des Privatrechts römis g und Jherin a, Pucht ny, Savig wie e Schul men der historischen k, Rottec wie schließlich Windseheid; liberale Staatsrechtler en chtlich tschre h-deu nistisc germa Welcker, Mohl; die Juristen des verbundenen Zweiges der historischen Schule (und die ihnen eng exponierten ch politis Historiker), die sich für ihre Überzeugung n. Erinnert wirkte mlung versam und engagiert in der Paulskirchen die Brüder cht, Albre an Sieben ger Göttin sei etwa unter den sie gutder her, Grimm und Dahlmann und den Tübinger Reysc r von Lehre den r, Besele an achtlich unterstützte, schließlich sein. men zukom zurück r rliche ausfüh wird Gierke; auf letzteren ssungskonVerfa ischen preuß am noch n nehme ihnen von Viele ngnahme aktiflikt 1861-66 mit politischer und juristischer Stellu stag: Aber Reich den in rdnete Abgeo als ziehen ven Anteil, einige poliicher, rechtl die große Verbindung gesellschaftlicher und privat herzumehr nicht ist n Frage tischer und verfassungsrechtlicher zu nennen: stellen. Zwei noch zu betrachtende Ausnahmen wären e mit letzter der nur Rudolph Jhering und Otto Gierke, von denen Recht Zu fällt. Ära he minisc seinen Lebensdaten in die wilhel sdenker für beschließt darum wohl Erik Wolf seine Großen Recht (1817eheid Winds das 19. Jahrhundert mit Jhering (1818-1892), schon eheid Winds über er wobei 1892) und Gierke (1841-1921), e Epoch einer röte Abend der Licht ierte ganz das milde, resign leuchten läßt. ft, alle poliDie größten Geister innerhalb der Rechtswissenscha positiven der von sich n wende iert, engag tisch leidenschaftlich wirkt in ) -1903 Rechtswissenschaft ab: Theodor Mommsen (1817 1890 nach sich zieht e Gierk der antiken Rechtsgeschichte, Otto f Rudol , zurück Werk es orisch h-hist nistisc stärker auf sein germa Max t, enrech Kirch Sohm (1841-1917) ist am originellsten im zur Soziologie, Weber (1864-1920) kommt von der Jurisprudenz e bleiben Ander rie. ftstheo nscha Wisse , Politik der Wissenschaft von Freiene getrag n Außenseiter: Die von südwestdeutschen Juriste en istisch positiv einer System das gegen rechtsbewegung rebelliert rklichung Verwi e telbar unmit auf die legt und nz prude Begriffsjuris der juristischen des Gerechtigkeitsempfindens zielende Grundlage r bemühen Lotma und eimer Sinzh n Juriste Entscheidung bloß; die ndung Begrü liche schaft wissen um rsität Unive der alb sich außerh rieIndust en hängig lohnab der des Arbeitsrechts als des Rechts arbeiterschaft. 60

Der Mangel an wirklich bedeutenden Juristen in der wilhelminischen Zeit - und damit ihres Wirkens auf das Denken des Juristenstandes - ist somit wohl nicht auf das Fehlen einer historischen Herausforderung zurückzuführen, sondern darauf, daß das etablierte gesellschaftliche und akademische System die Behandlung der großen Frage der Zeit ausgeklammert hat: die der Gerechtigkeit in einer entwickelten Industriegesellschaft. Eine genauere Betrachtung der in der positivistisch-begrifflichen Methode involvierten Wertentscheidung kann das belegen. Die Pandektenwissenschaft ging in ihrem Weg von Savigny bis Windscheid und damit zur Prägung des BGB von einer Gerechtigkeitsvorstellung aus, die ganz stark von der Humanitätsidee und dem Gesellschaftsbild Kants und Wilhelm von Humboldts geformt war. Das Individuum sollte in einer möglichst weitgehend staatsfreien Gesellschaft (dies war damals gegen den Absolutismus gerichtet) die Möglichkeit autonomer Selbstentfaltung erhalten. Recht wurde deshalb als subjektive Berechtigung am Individuum angeknüpft. Zentrales Rechtsgebiet wurde ein individualistisches Privatrecht, aufgebaut auf den Pfeilern freier vertraglicher Gestaltung der Rechtsbeziehungen, Schutz des erworbenen Eigentums und der Testierfreiheit. Recht (und staatliche Durchsetzung des Rechts) hatte nur die beschränkte Aufgabe, die Grenze der Bereiche der einzelnen Persönlichkeiten zu sanktionieren, im übrigen die Entfaltung der Sittlichkeit des einzelnen zu ermöglichen, aber nicht zu erzwingen (da dies dem Charakter als Sittlichkeit widersprochen hätte). Einern solchen Rechtsverständnis kam das individualistische römische Recht schon weitgehend entgegen, der vollen Durchformung des Privatrechts nach diesen Prinzipien diente die Arbeit der Juristengenerationen von Savigny bis Windseheid. Der ursprünglich humanistische und gesellschaftspolitische Hintergrund dieses Privatrechts wurde dabei zunehmend ausgeblendet, so daß schließlich im begriffsjuristischen Positivismus die Konstruktion des Privatrechts als eines Geflechts subjektiver Rechte autonomer Individuen als die juristische, exakt wissenschaftliche Methode schlechthin erscheinen mußte. Diese im Privatrecht entwickelte Methode wurde dann über C. F. Gerber (1823-1891) mit Laband (1838-1918) auf das Staatsrecht übertragen. In der wilhelminischen Ara gipfelt diese Richtung in dem Staatsrecht und der Staatsrechtslehre von Georg Jellinek (1851-1911). Der Staat konnte darum auch nicht als politischer Verband, als politische Verfassung des deutschen Volkes, sondern nur als Verhältnis von Machtträgern - etwa Kaiser, Regierung, Verwaltung, Reichstag erfaßt werden. 61

Indem man so eine in Abwehr des Spätabsolutismus entwickelte Gesellschaftstheorie in die juristische Methode umsetzte, immunisierte sich die Jurisprudenz gegen alle anderen Wertungen. Die entwickelte Industriegesellschaft der wilhelminischen Ära war aber in ihren Macht- und Massenphänomenen mit dem gezeichneten frühliberalen Gesellschaftsbild nicht mehr zu erfassen: Technische Entwicklung und Kapitalkonzentration hatten zu großen Unternehmenseinheiten und Bankenwesen, aber auch Organisationen der Industriearbeiterschaft geführt, Massenproduktion und Massenkonsum trugen die Volkswirtschaft. Ein bloß liberales, auf Privatautonomie gegründetes Privatrecht bot durch seine Anpassungsfähigkeit auch einer solchen Gesellschaft ein sehr verwendbares Instrument, konnte jedoch vor allem von dem wirtschaftlich und sozial Stärkeren zu seinen Gunsten genutzt werden. Der Rechtsgedanke des sozialen Schutzes, in der ehemaligen altständischen Gesellschaft stark verankert, jetzt in der Industriegesellschaft von neuer Bedeutung, war über die positivistisch-juristische Methode weitgehend aus dem Rechtssystem und dem durch die Ausbildung vermittelten Bewußtsein der Juristen verbannt. Selbst wo schon sozialstaatliches, diese Schutzfunktion ausübendes Recht gesetzlich oder gewohnheitsrechtlich geschaffen war (Koalitionsfreiheit, Tarifverträge, Arbeitsschutz, Versicherungssystem, Schutz des Abzahlungskäufers, Grundsatz von Treu und Glauben, Sittenwidrigkeits- und Schikaneverbot), da stand es für den normal ausgebildeten Juristen am Rande seines Rechtsverständnisses, vermochte über die Einzelregelung hinaus sich nicht zum wichtigen Wertungsgesichtspunkt zu entfalten. Die beanspruchte Neutralität der Justiz und Bürokratie war also schon von dieser Formung der Mentalität her nicht einlösbar. Eine Erweiterung der Rechtswissenschaft wäre in dieser Situation durch die Verbindung zweier Gesichtspunkte vorangetrieben worden: durch die Einbeziehung der die Gegenwart bestimmenden sozialen Realität einerseits, durch Fortführung der alten, in der Aufklärungs- und Vemunftsrechtsepoche des 18. Jahrhunderts auf das Recht so einflußreichen Gesellschafts- und Staatstheorie andererseits. Beides fand nicht statt. Die Abdrängung der jungen Rechtssoziologie aus dem Bereich der Rechtswissenschaft ist schon angeklungen. Im Bereich von Rechtsphilosophie, verstanden als Gesellschafts-, Staats- und Rechtstheorie, war Hegel der letzte Fortführer der klassischen bürgerlichen Tradition. Im bürgerlichen Lager versandet die Linie, der Neukantianismus, in der Rechtswissenschaft etwa durch Rudolf Stammler (1856-1938) vertreten, wird gerade nicht Gesellschafts-, sondern bleibt formale Erkennt-

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nistheorie. Marx dagegen wandte die Hegelsche Dialektik radikal gegen jedes bürgerliche Recht, indem er dieses als Überbau einer Klassengesellschaft denunzierte. Von seinem Ansatz her hätte die Rechtswissenschaft keine eigene Berechtigung, könnte vielmehr nur noch als Gesellschaftswissenschaft betrieben werden. Die deutsche Rechtswissenschaft besaß ihrerseits aber durchaus Ansätze, den Durchbruch zur gesellschaftlichen Realität zu vollziehen und auch zu deren theoretischer Verarbeitung zu gelangen. Sie sind bezeichnet durch die Namen Jhering und Gierke. Jhering war in seiner ersten Epoche, bis um 1860, glänzender Vertreter einer dogmatischen Begriffsjurisprudenz in der Spielart der ,naturhistorischen Methode'. Ihm sind in dem juristischen Begriffssystem, wie in naturwissenschaftlichen Gesetzen und Systemen, alle Lösungen juristischer Fälle im voraus vorhanden. In einer scharfen Wende stößt er danach in z. T. sarkastisch-ironischen Verspottungen dieser Methode zu einem Rechtsverständnis vor, das den einzelnen Rechtssatz ganz eng mit sozialen Zwecken und Interessen verbindet. Die gläserne Wand zwischen juristischem Begriffssystem und sozialer Wirklichkeit ist damit durchstoßen. So ist für Jhering das Recht, in Anlehnung an Darwin, in den Kampf ums Dasein gestellt. Die Parallele, die hier zum Marxschen materialistischen Rechtsbegriff liegt, wird aber wieder neutralisiert durch Jherings naives, theorieloses Bejahen der Durchsetzung des jeweils stärksten Interesses oder Zweckes. - Jedenfalls hätte Jherings Ansatz schon im letzten Drittel des Jahrhunderts auf die Entwicklung einer positivistisch-empirischen Rechtssoziologie und ihrer Verbindung mit einer Methodologie der Rechtsanwendung drängen müssen. Sie kam aber akademisch nicht zur Entfaltung; erst nach der Jahrhundertwende wurde sie von einzelnen, zu nennen sind vor allem der Österreicher Bugen Ehrlich (1913) und Arthur Nußbaum (1914), und eben auf breiterer theoretischer Grundlage von Max Weber begründet. Eine auf Interessenbewertung beruhende Rechtsmethodik kam nach dem Vorspiel der Freirechtsbewegung erst in der Weimarer Zeit als Schule der Interessenjurisprudenz zu breiterer Wirkung. Allein im Strafrecht gelang die Begründung einer bedeutenden soziologisch-kriminologischen Schule durch Franz von Liszt (1851-1919). Es stellt sich die Frage, ob dies ein Zufall war, oder ob nicht von einem soziologisch betriebenen Strafrecht weniger gefährdende Wirkung auf das politische Kompromißsystem der Bismarckverfassung ausging als vom Staatsrecht oder einem zum Arbeits- und Wirtschaftsrecht erweiterten Privatrecht - Gebiete, bei denen der Durchgriff in die 63

Realität die Fundamente des jeweiligen Rechtssystems in Frage stellen mußte. Otto Gierke seinerseits versuchte, die politisch-juristische Linie der germanistischen Schule in der Verbindung von Rechtsgeschichte und Rechtspolitik fortzusetzen. Er kommt dabei, allerdings oft in seltsam historisierender Verkleidung, zu einem gesellschaftstheoretischen Ansatz, mit Hilfe dessen er in Staatsrecht wie Privatrecht methodisch und rechtspolitisch scharf gegen die Ergebnisse der individualistisch-positivistischen Rechtswissenschaft Stellung nehmen kann, einen kollektivrechtlichen Ansatz zur Erfassung vieler Rechtserscheinungen gewinnt und damit Rechtsgedanken entwickelt, die im Sozialstaat der Gegenwart weitgehend Wirklichkeit geworden sind. Aus der Offenlegung der Genossenschaft als immer wiederkehrender Form der germanisch-deutschen Gegeschichte gewinnt er die Erkentnis, daß auch für die Gegenwart nicht abstrakt-formaler Individualismus, sondern nur Formen des Zusammenschlusses Freiheit wie soziale und politische Teilhabe für alle Bevölkerungsgruppen in angemessenem, sozial gerechtem Maße sichern können. Er zielt in Kritik am staatsrechtlichen Positivismus auf Einbeziehung des Volkes als Genossenschaft, des Staates als lebendige Organisationseinheit in das Staatsrecht, in heftiger Kritik am Entwurf des BGB auf ein volkstümliches, soziales Privatrecht, ja, auf eine Schicht von ,Sozialrecht', das die Probleme umfaßt, die weder allein beim Individuum noch beim Staat zu verankern sind. In heutigen Begriffen würde man große Teile des Wirtschafts- wie des Arbeitsrechts und das System der sozialen Sicherung hierzu zählen können. Ähnlich wie Jhering erhält Gierke höchste akademische Anerkennung und Erhebung in den Adelsstand, die Wirkung gerade der zukunftsweisenden wissenschaftlichen Ansätze bleibt ihm aber versagt oder wird von akademischen Außenseitern aufgenommen. In der Schülerschaft Gierkes steht so der Staatsrechtler Hugo Preuß (1860-1925), der erst im Entwurf der Weimarer Reichsverfassung 1918/19 voll wirken kann, und der Rechtsanwalt Hugo Sinzheimer (1875-1945), der seine noch in der wilhelminischen Ära entwickelten arbeitsrechtlichen Gedanken, vor allem den der Tarifautonomie von Arbeitgebern und Gewerkschaften, erst als „Begründer des modernen deutschen Arbeitsrechts" in der Weimarer Epoche verwirklicht. Beide waren Sozialdemokraten, Gierke selbst aber vollzog, nachdem die großen Auseinandersetzungen mit Labands Positivismus und um den Entwurf des BGB um 1890 abgeklungen waren, eine schon seinerzeit (etwa in zustimmender Weise von dem Volkswirtschaftler Schmoller) registrierte Wen64

dung seiner Genossenschaftstheorie zum Konservatismus. Die von ihm lange durchgehaltene Linie der bürgerlichen Bewegung der Paulskirche, die die Prinzipien von Freiheit und Einheit als aufeinander bezogene, dynamische Forderungen sah, gerät nun auch bei ihm in die Ruhelage des bürgerlich-monarchischen Kompromisses: Das Prinzip der Einheit meint immer weniger das Volk, sondern wendet sich auch bei Gierke in einen teils pathetischen, teils - im Ersten Weltkrieg - aggressiven Nationalismus; bei dem Prinzip der Freiheit beläßt man es bei den Errungenschaften des liberal-individualistischen Rechtsstaates; auch Gierke drängt nach 1890 nicht mehr darauf (wie im ersten Band seines Genossenschaftsrechts 1867 und in der Auseinandersetzung mit Laband 1883, aber auch noch 1889 über seine Konzeption des Privatrechts), Freiheit als genossenschaftliche Teilhabe des Volkes am Staate zu verstehen, sondern wendet sich von dieser großen Frage ab, mehr detaillierten, teils dogmatischen, teils historischen Problemen zu. Die Verbindung zur politischen Lage ist deutlich zu sehen: Nachdem Bismarck von der politischen Bühne abgetreten ist, findet sich das Bürgertum in seiner politischen Vertretung in Parteien, Reichstagsfraktionen, Publizistik nicht bereit, zu einem neuen Kampf um die Durchsetzung seiner politischen Ziele, vor allem um eine Bildung der Regierung aus dem Parlament nach westlichem Muster, anzutreten. Wirtschaftliche Saturiertheit, Akzeptieren des gewohnten Zustandes, aber auch die Befürchtung, die politische Macht sodann bald mit der wachsenden Sozialdemokratie teilen zu müssen, sind sicher die wirkungsstärksten Ursachen. Was aber politisch nicht mehr erstrebt wurde, darum wurde auch wissenschaftlich nicht mehr gerungen. Die Rechtswissenschaft wendet sich von den großen Fragen der Gesellschafts- und Staatsgestaltung in Privat- und Verfassungsrecht dogmatischen Detailproblemen zu. Das System der gesellschaftlichen Kontrolle des Zugangs zu akademischen Positionen, das gegenüber Gelehrten jüdischer Herkunft ein bemerkenswertes Maß an Liberalität zeigt, reserviert das Lehramt in der Rechtswissenschaft auf das mit dem bestehenden Staat nun voll versöhnte Bürgertum: die politisch und gewerkschaftlich schon sehr starke Arbeiterbewegung hat an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten keine Stimme, auch nicht durch bildungsbürgerliche ,Kathedersozialisten'. Der Wiener Sozialist Menger (1841-1906), wie Gierke Kritiker des BGB, hat keine Entsprechung in Deutschland, Lujo v. Brentano (1844-1931) lehrt typischerweise Nationalökonomie, nicht Recht. Der deutsche Wilhelminismus hat also ohne rechtliche Zwänge eine weit größere 65

Ausblendung aller kritischen oder gar oppositionellen Stimmen aus der deutschen Rechtswissenschaft erreicht, als es dem Metternichschen System der Karlsbader Beschlüsse in den Universitäten des vormärzlichen Deutschland gelang. Als das wilhelminische System in der Niederlage des Ersten Weltkrieges zusammenbrach, konnten die bislang oppositionellen politischen Kräfte der ,Weimarer Koalition' den Aufbau des neuen Staates in die Hand nehmen. Es erscheint nun deutlich, warum für ein Verständnis, eine innere Unterstützung dieses neuen, nicht nur liberalen, sondern auch parlamentarisch-demokratischen und sozialen Staates durch Rechtswissenschaft, Justiz- und Verwaltungssystem zu wenig Grundlagen gelegt waren.

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3. Sozioökonomische und psychische Hintergründe der bildungsbürgerlichen lmperialbegeisterung 1 von Peter Hampe Was könnte die Thematik dieses Beitrags besser illustrieren als die Tatsache, daß es ein Bildungsbürger war, Max Weber nämlich, der im Mai 1895 mit seiner Mahnung, die Reichseinigung von 1870 nicht als den Abschluß, sondern als den Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik zu verstehen, geradezu das Startzeichen für die zweite Phase des deutschen Imperialismus gab2! Zuvor schon hatte sich Deutschland unter Bismarck, der erst nach jahrelangem Zögern bereit war, kolonialpolitische Aktivitäten zu unterstützen, als imperialer Habenichts gerade noch rechtzeitig an der Aufteilung Afrikas und Ozeaniens beteiligt. Die wirtschaftlichen Enttäuschungen, die diese in den Jahren 1883-85 erworbenen ,Schutzgebiete' bereiteten, und veränderte außenpolitische Konstellationen trugen dazu bei, daß der erste Reichskanzler weitere Expansionsprojekte verwarf und sich nurmehr bereit fand, das bestehende Kolonialreich zu konsolidieren 3 • Erst Mitte der 90er Jahre, unter Wilhelm II., entwickelte das deutsche Kaiserreich erneuten imperialen Ehrgeiz. Die ,Weltpolitik', von der man nunmehr gern in Absetzung vom ,Imperialismus' der konkurrierenden Großmächte sprach, erhielt in etlichen Kaiserreden ihre programmatischen Konturen und im Aufbau einer Schlachtflotte ihr machtpolitisches Instrument. Gemessen an den hochfliegenden Plänen blieben die konkreten Erfolge des imperialen Strebens allerdings bescheiden: Statt sich im Zuge der britisch-burischen Krise zum Schutzherrn der Buren aufspielen und Transvaal zum deutschen Protektorat ausrufen zu können, mußte sich der Kaiser mit einem Glückwunschtelegramm zufrieden geben (Krüger-Depesche von 1896); die mehrfachen Versuche, in Abstimmung mit England auf Kosten Portugals ein deutsches zentralafrikanisches Großreich zu schaffen, mißglückten; die beiden Marokkokrisen (1905/06 und 1911) brachten Deutschland lediglich eine in ihrem Wert umstrittene Vergrößerung Kameruns ein. Erfolgreicher waren zwar die Expansionsversuche im Osten, doch gelang es nur, auf dem Balkan und in der Türkei neben anderen Großmächten Fuß zu fassen, nicht aber, jene zu verdrängen (dafür erwies sich nicht zuletzt die deutsche Kapitaldecke als zu dünn). Darüber hinaus konnte von China die Verpachtung Kiautschous erpreßt werden. Der Besitz an Südseeinseln wurde etwas vergrößert. Die Mittel67

europapläne schließlich, die - seit Ende der 70er Jahre gelegentlich diskutiert - in den Kriegszielprogrammen hegemoniale Dimensionen annahmen, konnten erst im Zuge der anfänglichen Kriegserfolge partiell realisiert werden. Der Ausgang des 1. Weltkrieges aber ließ das ganze imperiale Kartenhaus zusammenbrechen 4 • Die gängigsten Interpretationsmodelle für die Expansionsphänomene der industriell-kapitalistischen Nationalstaaten, die der Epoche von 1870/80 bis 1914 das Etikett ,Zeitalter des Imperialismus' eingebracht haben, rekurrieren letztlich auf ,ökonomische Notwendigkeiten' jener industriell-kapitalistischen Systeme bzw. auf wirtschaftliche Gruppeninteressen5, Wie verträgt sich aber mit derartigen Denkmustern - den deutschen Fall betreffend - die Tatsache, daß sich gerade eine nicht kapitalwirtschaftlich gebundene soziale Gruppe, das wilhelminische Bildungsbürgertum nämlich, nachhaltig mit der ,Weltpolitik' identifizierte? Denn daß Max Weber nur einer von vielen Vertretern der gebildeten Schicht war, die sich dezidiert für die deutsche Weltmachtpolitik verwandten, läßt sich unschwer aufzeigen, besonders deutlich an der starken bildungsbürgerlichen Beteiligung an den spezifischen imperialistischen Interessenverbänden, in denen sich die unmittelbar am Imperialismus Interessierten - und nur diese - zusammenfanden: Die ,Deutsche Kolonialgesellschaft' z. B., die 1887 durch Fusion der beiden bedeutendsten älteren deutschen Kolonialvereine gegründet worden war und mit völkischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Argumenten für den Erwerb neuer Kolonien und den Ausbau der alten, sowie um der ,deutschen Seeinteressen' willen für die Flottenpolitik eintrat, zählte 1893 bei einem gesamten Mitgliederbestand von ca. 18 000 Personen u. a. annähernd 3000 Angehörige freier Berufe, Lehrer und Geistliche, 2300 Regierungsbeamte und 210 Gelehrte, Schriftsteller und Künstler zu ihren Mitgliedern6. Der Propagierung der Schlachtflotte widmete sich darüber hinaus seit 1898 ein Spezialverein, der von Anfang an immensen Zulauf fand: Schon wenige Monate nach der Gründung zählte der ,Deutsche Flottenverein' 14000 Einzel- und 64000 Korporativmitglieder (aus 51 Vereinigungen); bis 1913 erhöhte sich die Mitgliederzahl auf über 1 Million (334 000 Einzel- und 790 000 Korporativmitglieder). In seiner sozialen Struktur ähnelte der Verein der DKG, allerdings war der Einfluß der Schwerindustrie, des Militärs und der Bürokratie größer. ,,Gefördert in den preußischen Provinzen von den Oberpräsidenten, in den Bundesstaaten von den Fürsten, war der Flottenverein mit seiner Mitgliedschaft aus der 68

hohen Bürokratie, den mittleren Beamten (Lehrern usw.), durchgegliedert über den Land- und Schulrat bis in jedes Dorf [... ], ein ,Staatsverein', in dem sich Industrie und Verwaltung an dem gleichen nationalen Ziel begeisterten."1 Besonders taten sich daneben - sowohl was die Mitwirkung in den verschiedenen Vorstandsgremien, als auch die Beteiligung an der Agitation betraf etliche Gymnasialprofessoren und Universitätslehrer hervor. Noch stärker engagierte sich aber die Professorenschaft für die Flottenpolitik außerhalb des Flottenvereins, stand doch dieser unter dem Verdacht, eine eigensüchtige „Interessenvertretung von Konservativen, Großindustriellen und Finanziers" zu sein. Konsequent wurde auf Initiative Berliner Professoren 1899 unter dem Motto „Für eine starke deutsche Flotte!" die ,Freie Vereinigung für Flottenvorträge' gegründet, um unabhängige und wissenschaftlich fundierte Argumente den „bezahlten Phrasenagitatoren des Deutschen Flottenvereins" entgegenzustellens. Insgesamt haben sich - nach einer namentlichen Aufstellung Marienfelds - 270 deutsche Hochschullehrer aus allen deutschen Fakultäten unter Führung prominenter Nationalökonomen durch eigene Beiträge in der Flottenagitation hervorgetan und damit bereitwillig den Vorstellungen des lnszenators der Flottenpolitik, des Staatssekretärs im Reichsmarineamt, von Tirpitz, entsprochen, die gesamte Nation mit den Ideen der Flotten- und Weltpolitik zu infizieren9. Der Erfolg blieb nicht aus. ,,Eine bürgerliche Stimme von Gewicht, die die Existenz der Flotte als überflüssig ansah, war kaum zu finden." 10 Besonders zu denken gibt aber die starke Beteiligung von ,Gebildeten' an der aggressivsten imperialistischen Interessenorganisation, dem ,Alldeutschen Verband', dessen außenpolitisches Programm einen deutschen Weltmachtsanspruch auf der Grundlage der „Führerqualitäten der deutschen Edelrasse" und des „Landhungers" formulierte. Entsprechend forderte der Verein in Publikationen, Versammlungen und Eingaben den Ausbau des deutschen Kolonialreichs und der Kriegsflotte, das Zusammengehen mit Österreich und die Errichtung einer mitteleuropäischen Zollunion als Vorstufe für ein von Deutschland dominiertes Wirtschaftsgebiet von „Helgoland bis zum Indischen Ozean". Als schließlich der Krieg ausbrach, waren die Alldeutschen die erste pressuregroup, die ein - besonders extremes - Gesamtprogramm für die deutschen Kriegsziele in Europa und Übersee vorlegte 11• Was die Zusammensetzung der Mitgliedschaft betrifft, die zahlenmäßig von der Verbandsgründung im Jahre 1891 bis zum Ende des 1. Weltkriegs auf 35 000 ordentliche Mitglieder anwuchs (daneben

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schlossen sich eine Vielzahl anderer Vereine korporativ an: für 1905 z. B. ist ihre Zahl mit 101 Gruppen bzw. 130 000 Mitgliedern bekannt), so scheint die Aufschlüsselung von Wertheimer für das Jahr 1901 repräsentativ zu sein. Danach waren von knapp 20 000 Mitgliedern 5900 Akademiker, 4000 Künstler, Beamte und Lehrer 12• Wie läßt sich diese starke Identifizierung von Bildungsbürgern mit der deutschen Imperialpolitik deuten? Welche Erfahrungen und Vorstellungen, welche Interessen und Motivationen lagen ihr zugrunde? Was leisten diesbezüglich die Interpretationsmodelle speziell der ,ökonomischen Imperialismustheorie'? Dem Versuch, diese Fragen präzis zu beantworten, stellen sich natürlich erhebliche methodische und materialbedingte Schwierigkeiten entgegen. Zunächst ist ganz allgemein zu konstatieren, daß den spezifischen Hintergründen der bildungsbürgerlichen Imperialbegeisterung in den verschiedenen Versionen der Imperialismusinterpretation wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Soweit dieses Phänomen analytisch überhaupt berücksichtigt wurde, läßt wiederum in den meisten Fällen das theoretische Niveau zu wünschen übrig. Die Analyse wird auch dadurch erschwert, daß die von den Bildungsbürgern selbst vorgetragenen pro-imperialistischen Argumentationen nicht unbedingt ausreichende Erklärungsmuster bieten. So muß insbesondere zusätzlich überprüft werden, inwieweit die verschiedenen Argumente realitätsadäquat waren, ob sie vielleicht nur der Rationalisierung anderer Interessen dienten, welche psychischen Motivationen diese Interessen fundierten und welchen Stellenwert sie hatten 13. Eine derartige theoretische Aufhellung, die Interpretationsmethoden aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu Hilfe nehmen muß, soll nicht zuletzt angesichts ihrer Bedeutung für die Imperialismustheorie im folgenden ansatzweise versucht werden 14 • Es übersteigt allerdings die Möglichkeiten dieses Beitrags, die zahlreichen Publikationen und Nachlässe der einzelnen mehr oder weniger prominenten Bildungsbürger unter den genannten Aspekten aufzuarbeiten. Doch zielt die umrissene Fragestellung ohnehin weniger auf die Spezifika der imperialen Begeisterung von Einzelpersonen, als vielmehr auf die generelle Interessenlage und die gemeinsamen Motivationskonturen einer ganzen Gesellschaftsschicht, deren Denkmuster sich überdies über die verschiedenen kulturpolitischen Institutionen (Universitäten, Schulen, Kirchen etc.) weiter verbreiteten. Diese bewußtseinsmäßigen Anpassungsprozesse sind wiederum in Zusammenhang zu sehen mit den Erfahrungen und Problemen, denen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam ausgesetzt sahen 70

und für die sie partiell auch - teils auf breiterer, teils auf schmalerer sozialer Basis - gemeinsame Handlungsrezepte entwarfen. Ein derartiges gemeinsames Handlungsrezept suchte und fand die große Mehrheit der sich als die eigentliche Nation empfindenden, nicht-proletarischen Gesellschaftsschichten gerade in der Politik des forcierten Imperialismus. Verwurzelt war diese bourgeoisfeudale Solidarität nicht zuletzt in der gemeinsamen Sorge vor dem „staatsgefährlichen Anwachsen der Sozialdemokratischen Partei" (Claß)15.Die Sozialpolitik hatte „nicht den erhofften Effekt gehabt, statt dessen waren die Klassengegensätze verschärft, die Spaltung der Nation vertieft worden, kurz: die überlieferte Ordnung schien auf das äußerste gefährdet"ts. Nun sollte die ,Weltpolitik' helfen, und zwar in doppelter Weise: Einerseits sollte sie die infolge vielfältiger Interessenkonflikte zerstrittenen herrschenden Schichten besser integrieren, sollte also als „Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie" fungieren - eine Strategie, die ihren größten Erfolg bei den ,Hottentottenwahlen' von 1907, die ganz im Zeichen der Kolonialpolitik standen, verzeichnen konnte, wurde doch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion annähernd halbiert; anderseits wurde aber auch versucht, ,,die Arbeiterschaft für die Kolonial- und Flottenpolitik zu gewinnen und an den Staat heranzuführen", gleichsam um deren Gefährlichkeit zu vermindern, ohne Konzessionen machen zu müssen, die den überkommenen ökonomischen und politischen Status quo angetastet hätten17. Daß derartige integrationspolitische Vorstellungen auch in bildungsbürgerlichen Kreisen vertreten wurden, läßt sich durchaus belegen, nicht zuletzt am Beispiel der Flottenagitation. ,,Das ist das Größte und Erfreulichste der gegenwärtigen Flottenbewegung, daß sie die Blicke aller Deutsdien einmal wieder abzieht von den engen Verhältnissen des täglichen Getriebes, von allen den überflüssigen Reibungen, den Zänkereien, die uns nur das Leben verbittern, - hinaus, auf das eine weite Weltmeer. Schon dieser gemeinsame Blick in einer Riditung ist unschätzbarer Gewinn." 18 Für zahlreiche Wissenschaftler allerdings sah das Verhältnis von gesellschaftlicher Integration und lmperialpolitik etwas anders aus. Francke, Halle, Naumann, Rathgen, Schmoller, Schulze-Gaevernitz u. a. hofften weniger aus Sorge vor den Sozialdemokraten auf einen einheitsstiftenden Effekt der ,Weltpolitik'; sie strebten vielmehr auf dem Wege der sozialen Reform nach der Einheit der Nation, die sie wiederum als conditio sine qua non für eine erfolgreiche ,Weltpolitik' betrachteten. ,,Eine Weltpolitik ist heute nur möglich, wenn sie von der Zustimmung des ganzen Volkes ge71

tragen wird." 19 „Kein Staat kann eine kräftigere Politik machen, als derjenige, in dem jeder einzelne Bürger sich vollkommen mit der Gesamtheit identifiziert."2o Die Frage nach der Repräsentativität dieser ,liberalimperialistischen' Vorstellungen für das gesamte Bildungsbürgertum läßt sich zwar nicht - zumindest nicht im Rahmen dieses Beitrags - genau beantworten, schon deren Existenz macht aber klar, daß dem bildungsbürgerlichen Willen zur ,Weltpolitik' noch andere Motivationen zugrunde lagen als nur die Angst vor der sozialen Desintegration. Mit großer Intensität hat vor allem Hans-Ulrich Wehler in den letzten Jahren die These von der engen Verknüpfung insbesondere des deutschen Imperialismus mit den konjunkturellen Wachstumsstörungen der kapitalistischen Wirtschaft vertreten 21 • Nach diesem, aus dem Bereich der ,ökonomischen Imperialismustheorie' stammenden Interpretationsmodell erscheint die imperialistische Expansionspolitik als die Folge der periodisch wiederkehrenden Wirtschaftskrisen. Sie resultiert also - das ist in unserem Zusammenhang der entscheidende Aspekt - aus einer die Existenz bedrohenden Notlage, ,,an deren Überwindung nicht nur eine kleine Gruppe von Monopolisten und auch nicht nur die Kapitalistenklasse, sondern die Allgemeinheit interessiert ist"22. Untersuchen wir daher als nächstes, ob das Interesse der ,Gebildeten' an der deutschen ,Weltpolitik' mit Hilfe dieses Erklärungsmusters weiter erhellt werden kann. Bei einer kritischen Überprüfung der WehlerschenArgumentationslinien finden sich mehrere Anhaltspunkte, die bereits für die Bismarcksche Kolonialpolitik den Zusammenhang mit den konjunkturellen Absatzstockungen weniger eng erscheinen lassen, als Wehler postuliert 23 • Für die wilhelminische ,Weltpolitik' aber ist die These eines solchen Zusammenhangs von vornherein mit grossen Fragezeichen zu versehen: Einerseits hatten inzwischen die harten Fakten des wirtschaftlichen Mißerfolgs der Bismarckschen Kolonialerwerbungen wohl auch den kühnsten Optimisten ernüchtert24, andererseits war eine spürbare positive Veränderung des wirtschaftlichen Klimas eingetreten. Hatte schon der wirtschaftliche Aufschwung in der 2. Hälfte der 80er Jahre die „traumatischen Erfahrungen" (Wehler) der ,Großen Depression' etwas zurückgedrängt, so setzte um 1895 eine Prosperitätsperiode ein, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. Sie wurde nur um die Jahrhundertwende und in der 2. Hälfte des ersten Jahrzehnts konjunkturell unterbrochen. So umfaßte die Periode zwischen 1895 und 1913 nach der zeitgenössischen Konjunkturperiodisierung Spiethoffs 15 Aufschwungs- und nur 4 Stockungsjahrc; demgegen72

über waren zwischen 1874 und 1894 15 Stockungs-, aber nur 6 Aufschwungsjahre gezählt worden2s. Gleichzeitig kam es zu einer Umkehr der längerfristigen Preisniveautendenz, die seit der Gründerkrise trotz kurzzeitiger Preissteigerungsphasen nach unten gerichtet war; selbst die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise begannen, verstärkt ab 1905, wieder anzusteigen2s. Im Vergleich mit anderen führenden Industrieländern brachte dieses ,goldene Zeitalter der Weltwirtschaft' für Deutschland sogar besonderen Glanz: Die Wachstumsrate des realen Sozialprodukts z.B. lag deutlich über dem britischen und französischen Wert, lediglich das amerikanische Wirtschaftswachstum war noch stärker. Ähnlich, teilweise sogar noch imposanter, fielen die Wachstumsvergleiche bei der Kohle-, Roheisen- und Stahlproduktion als exemplarischen Indikatoren fortschreitender Industrialisierung aus. Ins Blickfeld rückten aber vor allem auch die Erfolge der jungen deutschen ,wissenschaftlichen Industrien', gelang es doch insbesondere der chemischen, der elektrotechnischen, der optischen und der feinmechanischen Industrie, sogar die internationalen Märkte zu dominieren. überhaupt schob sich die deutsche Außenwirtschaft in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkrieg immer näher an die führende Welthandelsposition Großbritanniens heran. Neben der Wirtschaftsexpansion zog schließlich auch das starke Bevölkerungswachstum, das Deutschland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zur volkreichsten europäischen Industriemacht aufsteigen ließ, die zeitgenössische Aufmerksamkeit auf sich. Allein zwischen 1900 und 1910 nahm die deutsche Bevölkerung um 8 Mill. zu, wohingegen sich die britische Ziffer nur um 4 Mill., die französische sogar lediglich um 800000 erhöhte 27. Auf dem Hintergrund dieser Entwicklungstendenzen nimmt es nicht wunder, daß die früheren, von den Konjunkturkrisen provozierten Sorgen offenkundig allmählich von einem Gefühl der Kraft und Stärke verdrängt wurden, von dem Bewußtsein, ,,das volkreichste, reichste und handelsmächtigste" Land Europas geworden zu sein2s. Entsprechend trat das Argument der konjunkturellen Krisenbewältigung in den Debatten um die ,Weltpolitik' in den Hintergrund, im wesentlichen tauchte es nur noch im Rahmen der Flottenagitation während des konjunkturellen Rückschlags um die Jahrhundertwende auf, machte aber allem Anschein nach selbst da keinen nachhaltigen Eindruck mehr 29. Die wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen wurden dennoch nicht ohne Sorge registriert. Prominente Nationalökonomen wie Adolph Wagner, Gerhard Hildebrand und Karl Oldenberg z. B. sahen die fortschreitende Industrialisierung und die außenwirtschaftliche 73

Expansion primär unter dem Aspekt einer abnehmenden Autarkie auf dem Ernährungssektor, die sich in wachsenden Importbedürfnissen an Nahrungsmitteln und Rohstoffen äußerte, deren Bezahlung wiederum vermehrte (industrielle) Exporte erforderte. Die damit verbundene Zunahme der Auslandsabhängigkeit er• schien ihnen aber insbesondere deshalb bedrohlich, weil sie die industrielle Emanzipation der bisherigen Agrarländer prognostizierten, die ihrer Ansicht nach sowohl deren Überschüsse an Agrar- und Rohstoffprodukten, als auch deren Importbedarf an Industriegütern vermindern mußte. Auf lange Sicht wäre mit einer ,,willenlosen Abhängigkeit" Westeuropas von den „Nahrungsstaaten", ja mit einem „dauernden Versiegen der Nahrungsquelle" zu rechnen 30 • Wenn sich auch nur wenige der bildungsbürgerlichen Fachleute dieser spezifischen Argumentation anschlossen, so herrschte doch unter ihnen zumindest mehr und mehr Einigkeit darüber, daß das reibungslose Funktionieren bzw. die künftige Weiterentwicklung der außenwirtschaftlichen Beziehungen für Deutschland inzwischen zu einer Existenzfrage geworden war, deren Lösung sich mannigfache Faktoren entgegenstellten: Während das eigene Kolonialimperium ökonomisch weitgehend unergiebig blieb, stießen die deutschen Händler und Investoren bei ihrem Vordringen speziell in überseeische Märkte nicht in ein Vakuum, ,,sondern in einen Raum, in dem vor allem England bereits Fuß gefaßt hatte", so daß „Zusammenstöße mit britischen Interessen schon von der Sache her unvermeidlich" waren 31 • Gleichzeitig schien die wirtschaftspolitische Strategie anderer Großmächte, wie man schon an ihrer zunehmend restriktiven Schutzzollpolitik ablesen konnte, mehr und mehr darauf gerichtet zu sein, die ausländische Konkurrenz von den eigenen Märkten auszuschließen. Selbst in England gab es Anzeichen für eine Abkehr von den geheiligten freihändlerischen Prinzipien, angefangen vom britischen Handelszeichengesetz von 1887 bis zur Idee einer nicht zuletzt zollpolitisch abgesicherten ,Imperial Federation' des britischen Empire, die mit der Berufung Chamberlains zum Kolonialminister (1895) neuen Auftrieb erhielt 32 • Würde der ,Handelsneid' die Konkurrenzmächte zu noch aggressiveren Aktionen verleiten? Der Nationalökonom und Soziologe Schäffle war nicht der einzige, der diese Frage sorgenvoll bejahte: ,,Die Fortschritte unseres Seehandels seit 25, namentlich seit 10 Jahren sind so gewaltig, unsere weltwirtschaftliche Bedeutung ist rasch so groß geworden, daß Deutschland von seiten der Rivalen her auf alles gefaßt sein muß. Man gebe sich darüber keiner Täuschung hin, daß die Engländer, wenn sie es

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nur irgend wagen können, bei erster Gelegenheit unserem Überseehandel und unserer Exportindustrie den Todesstoß zu geben suchen werden. "33 Für all diese vielschichtigen Ängste und Sorgen, die nicht zuletzt deshalb so eskalierten, weil „die Deutschen von ihrem Gegenüber immer gerade das erwarteten, was sie selber bereits mit Erfolg praktiziert hatten, oder was sie getan hätten, wenn die Machtmittel dazu vorhanden gewesen wären"34 , gab es aber offenkundig unter den Zeitgenossen nur ein allseits anerkanntes, wirksames Gegengift: eine kraftvolle Flotten- und Weltpolitik. Sie sollte die deutschen Absatz- und Bezugsmärkte, aber auch die ,Schutzgebiete' absichern und deren Zugangswege offenhalten, im Kriegsfalle darüber hinaus die Blockade der deutschen Küste verhindern; sie sollte die weitere außenwirtschaftliche Expansion ermöglichen, gleichzeitig aber auch dem ,Handelsneid' der Konkurrenz unüberwindbare Schranken setzen; sie sollte neuen Siedlungsraum für die wachsende deutsche Bevölkerung schaffen helfen und schließlich die deutsche Ausgangsposition bei einer kolonialen Neuverteilung der Welt verbessernss. zweifellos kann den referierten Argumentationen eine gewisse Plausibilität nicht abgesprochen werden. Läßt sich aber die Intensität der bildungsbürgerlichen Imperialbegeisterung auf diesem Hintergrund hinreichend erklären? Schließlich waren etliche Thesen sichtlich oberflächlich, ließen Gegenargumente und die - letztlich selbstzerstörerischen - Risiken der aggressiven Imperialismusstrategie außer acht. Was z. B. die Forderung nach mehr Sicherheit in der Nahrungsmittelversorgung für die wachsende Bevölkerung betraf, so gab es, abgesehen von der Möglichkeit, das Bevölkerungswachstum abzubremsen, gegenüber der imperialistischen Strategie noch die Alternative einer verstärkten binnenwirtschaftlichen Autarkiepolitik, wie sie auch von den „ideologischen Agrariern" (Kehr), an ihrer Spitze Adolph Wagner, angeregt wurde 36. Im übrigen kam ein wesentlicher Teil der deutschen Nahrungsmittelimporte aus europäischen Märkten, zu deren Sicherung die ,Flottenpolitik' kaum geeignet war. Völlig unbegründet war überdies die Sorge vor einer künftigen Verengung der Absatzmärkte für Industrieprodukte im Hinblick auf die Industrialisierungstendenzen bisheriger Agrar- und Rohstoffländer. Man machte ja schon damals die Erfahrung, worauf auch Max Weber und andere ausdrücklich hinwiesen, daß gerade die Industrieländer gegenseitig die besten Kunden wurden37 , Kein Wunder, daß allein die europäischen Länder (ohne die Türkei und die anderen Halbkolonien Deutschlands auf dem Balkan) und die Vereinigten Staa-

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ten 1890/91 (1910/13) 87 ¼ (80 ¼) des deutschen Warenexports aufnahmen, während umgekehrt 83 °/o (70 °/o) der deutschen Importe aus jenen Märkten stammten. Auch die regionale Verteilung der deutschen Kapitalanlagen im Ausland zeigte ein ähnliches Bild, wobei der deutsche Kapitalexport überdies seit den 90er Jahren infolge des Kapitalbedarfs der Binnenwirtschaft tendenziell an Gewicht verlorss. Wollte man demnach die relevanten Märkte sichern, hätte man sich primär um eine - sicherlich machtpolitisch fundierte - Politik der Verständigung und der guten Beziehungen, insbesondere mit den übrigen Großmächten, bemühen müssen39 , nicht aber eine Strategie der imperialen Konfrontation betreiben dürfen, zumal man ja nicht einfach via Flotten- und Weltpolitik eine außenwirtschaftliche Kursänderung der anderen Großmächte herbeiführen konnte. Die Befürchtung wiederum, daß Deutschlands wichtigster Handelspartner, England, von seinen traditionellen Prinzipien des ,equal favour and open competition' abweichen würde, erwies sich als unbegründet. Den Ideen Chamberlains und der ,Tariff Reformers' blieb der politische Erfolg versagt4°. Unberechtigt war auch die Sorge vor dem britischen ,Handelsneid', die sich in der Überfallthese am extremsten artikulierte. Sie übersah, daß die wenigen britischen Publikationen, auf die sie sich stützte, für die britische Politik keineswegs repräsentativ waren - die Zerstörung der intensiven deutsch-britischen Wirtschaftsbeziehungen hätte ja auch britischen Wirtschaftsinteressen erheblichen Schaden zugefügt. So kommentierten die meisten englischen Presseorgane selbst die deutsche Flottenpolitik bis zur Jahrhundertwende maßvoll bis wohlwollend. Erst später, als das deutsche Flottenwachstum den britischen ,Two Power Standard' zu unterminieren drohte, schlug die Stimmung um. England nahm die Herausforderung an, sicherte sich durch forcierte Flottenrüstung und weitgespannte Bündnisstrategien. Die Tirpitzschen Flottendoktrinen, seine ,Risiko- und Allianzwertideen', zerplatzten wie Seifenblasen41 • Im deutsch-britischen Verhältnis läßt sich trotzdem eine wesentliche, vermutlich sogar die wesentliche Wurzel für den imperialen Willen des deutschen Bürgertums schlechthin ausmachen. Diese Wurzel war allerdings verästelter und tiefer reichend, als es die bisher angesprochenen wirtschaftlichen Ängste erkennen lassen. Die starke Fixierung des deutschen Bürgertums auf England begann im 18. Jahrhundert. Aber erst nach den Befreiungskriegen erhielt sie ihre eigentliche Ausprägung. Sie kam in der Obernahme des industriell-kapitalistischen Entwicklungsmodells und damit verbunden im Import britischen Kapitals, britischer Waren 76

und britischer Arbeit (Unternehmer und Vorarbeiter), darüber hinaus aber auch in der Imitierung britischer Kultur und in mehrfachen Verständigungsversuchen ebenso zum Ausdruck wie in Verachtung, Neid, Angst und Haß 42. Mit der Zeit gewann dabei die Anglophobie das Übergewicht über die anglophilen Tendenzen. So konnte zwar der Zentrumspolitiker Spahn 1912 im Tag aus der Publizistik der Zeit vor 1866 belegen, daß man schon damals in England Deutschlands einzigen ernsten Nebenbuhler erkannt hatte 43. Aber die Forderung nach ,Gleichheit mit England' geriet erst in der wilhelminischen Ära zu einer lautstarken Losung, als nach der politischen Einigung nun auch durch die wirtschaftliche Erstarkung Deutschlands die Minderwertigkeitsgefühle England gegenüber vom Bewußtsein der eigenen Fähigkeiten abgelöst wurden. Jetzt gab es keinen Grund mehr, die „demütigende Vormundschaft Englands" (Bergbahn) noch länger hinzunehmen, die man nicht zuletzt darin gegeben sah, daß die politische und außenwirtschaftliche Entfaltung vom ,good will' Englands abzuhängen schien44 • Entsprechend rechtfertigten auch etliche zeitgenössische deutsche Historiker das deutsche Imperialstreben mit unterschiedlichen Argumenten primär als den Versuch, England aus seiner ,Suprematie' zu verdrängen45. Um den Stellenwert dieses vornehmlich an England orientierten Emanzipationsstrebens abschätzen zu können, muß noch tiefer gelotet werden. Warum richtete sich der bürgerliche, speziell aber der bildungsbürgerliche Bewährungsdrang überhaupt so stark auf die wirtschaftliche Expansion, warum zielte er in der wilhelminischen Periode trotz der Prosperität der Binnen- und Außenwirtschaft, die kaum als Produkt der deutschen lmperialismuspolitik angesehen werden konnte, verstärkt auf die ,Weltpolitik'? Worin war das ambivalente Verhältnis England gegenüber letztlich begründet? Um auf diese Fragen Antworten zu finden, lohnt es, die generelle Situation des Bürgertums in der wilhelminischen Gesellschaft kurz zu reflektieren. In Deutschland stand am Beginn der industriell-kapitalistischen Entwicklung ein politisch bevormundetes Bürgertum, das sich im 18. Jahrhundert, sieht man einmal von der spezifischen Schicht der Geld-Bourgeoisie ab, über seine Repräsentanten durch ,Denken und Dichten', durch den Rückzug in die Innerlichkeit zu verwirklichen versucht hatte 46. Selbst 1848 ließ das Bürgertum die Chance der machtpolitischen Emanzipation ungenützt verstreichen. Statt die alten Mächte abzulösen, suchte es in der Folge in panischer Angst vor dem Vierten Stand bei ihnen Schutz 47 • Zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls bot sich jedoch im ökonomisch-technischen Sektor ein zu77

nehmend breiter werdendes Betätigungsfeld. In der wirtschaftlichtechnischen Entwicklung als Beitrag zum Fortschritt und zur nationalen Größe fand man einen geeigneten Weg, der eigenen Existenz Sinn zu geben 4s. Während die Unternehmerschaft aber die Partizipation am Fortschritt unmittelbar im Bereich ihrer Fabrikanlagen und Bilanzziffern erfahren konnte, benötigte das Bildungsbürgertum den Umweg über die Identifikation mit den Interessen des expandierenden Wirtschaftsbereichs. Konsequent wurden wirtschaftliche Einzelinteressen, wie sie z. B. die Schwerindustrie und die Werften an der Flottenrüstung hatten, häufig gar nicht als solche, sondern als ,nationale' verstanden. ,,Daß unsere großen Eisenindustriellen gerne Bestellungen für Schiffsbauten haben wollen, ist an sich kein Vorwurf für sie. Eine blühende Eisen- und Schiffsbauindustrie ist nicht bloß ihr Interesse, sondern das der Nation." 49 Solche Identifikationen fielen den Bildungsbürgern insbesondere deshalb nicht sonderlich schwer, weil ihnen die wirtschaftlich-technischen Erfolge als das Produkt deutscher Bildung und Kultur, als der Form gewordene deutsche ,Volksgeist' erschienen50. Die Emanzipation des deutschen Bürgertums durch Bewährung auf dem industriell-kapitalistischen Sektor konnte allerdings nicht isoliert, sondern nur im erfolgreichen Wettbewerb mit England, der industriellen Lehrer-, ja Vaterfigur, gelingen - eine Aufgabe, die sich auch im individualpsychischen Bereich als zentrales und schwieriges, von Ambivalenzkonflikten geprägtes Selbstverwirklichungsproblem darstellt 51. Zu den Attributen der britischen Vater- und Lehrerfigur zählte aber in besonderem Maße die internationale Machtposition, verkörpert durch das imperiale Großreich und die machtvolle Flotte. Entsprechend hing die Lösung des bürgerlichen Identitätsproblems in Deutschland nicht allein von der wirtschaftlichen Expansion ab, sondern ebenso von einer erfolgreichen Flotten- und Weltpolitik52. Der imperiale Machtwille des Bildungsbürgertums erhielt schließlich noch aus anderen Quellen kräftige Nahrung, insbesondere aus dem sozialdarwinistischen Gedankengut, das vor allem in der Spätphase der wilhelminischen Ära, partiell schon rassistisch verengt, nicht nur in alldeutschen Kreisen populär wurde 5 3. Diese Entwicklungsideologie mußte die Bereitschaft zu einer aggressiven Imperialpolitik vehement verstärken, glaubte man doch, das von der Geschichte oder von Gott ,auserwählte Volk' bzw. die ,auserwählte Edelrasse' zu sein54. Mit der Expansion deutscher Herrschaft wurde folglich eine historisch-kulturelle Missionsaufgabe erfüllt55. Derartige Vorstellungen, die nicht zuletzt durch eine leichtfertige Extrapolation der früheren spektakulären Erfolge 78

preußisch-deutscher Waffen, durch das rasche Bevölkerungswachstum und durch die imposanten wirtschaftlich-technischen, als Ausdruck der führenden Stellung des deutschen Geistes interpretierten Erfolge zustande kamen 56, trugen natürlich dazu bei, daß die Risiken der ,Weltpolitik' realitätsblind unterschätzt wurden. Ausprägungen sozialdarwinistischen Denkens lassen sich sogar in der damals in Deutschland herrschenden positivistischen Staatsrechtslehre nachweisen - und über die juristische Ausbildung führt ein gerader Weg zu den Denkschemata der bürokratischen Führungselite: Wie Holubek herausgearbeitet hat, liegt z.B. Georg Jellineks Al/gemeiner Staatslehre aus dem Jahre 1900 die Auffassung zugrunde, daß auch Politik, Recht und Staat vom „Kampf ums Dasein" bestimmt werdens 1 - eine folgenschwere These, machte sie doch das Faustrecht zum Regulativ der internationalen Beziehungen: ,,Wer die Macht hat, hat das Recht." 58 Auf diesem geistigen Nährboden schmolzen die politischen Handlungsalternativen zusammen. Schon in einem Stillstand der Expansion sah man einen Rückschritt, eine Gefahr, zumal in einer Zeit, deren Signum der imperialistische Konkurrenzkampf der Großmächte war. ,,Wir haben nur eine Wahl: zu wachsen oder zu verkümmern!"09 Konsequent erschien der Krieg als höchster Ausdruck des natürlichen Existenzkampfes der Völker „biologisch notwendig" und unvermeidlich, eine Niederlage gar als Hemmschuh für „den Gesamtfortschritt der Menschheit [... ], für die ein starkes Deutschtum eine Notwendigkeit ist" 60 •

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II. POSITIONEN UND EXPONENTEN 1. Zwischen Rationalismus und Resignation: Max Weber von Peter J. Opitz

Max Weber ein Repräsentant des ,Bildungsbürgertums'? Was immer der Begriff ,Bildungsbürgertum' an Vorstellungen enthalten haben mag, als er irgendwann im 19. Jahrhundert zur Bezeichnung jener Teile der deutschen Bourgeoisie geprägt wurde, die sich weniger durch Besitz als durch Bildung auszeichneten - inzwischen ist seine Bedeutung schillernd geworden, mehrdeutig, eher mit negativen, verächtlichen Assoziationen belastet, mit Bildern verbunden, in denen politische Ignoranz mit humanistischer Bildung verschmilzt, nationalistisches Bramarbasieren mit idealistischer Schwärmerei, kulturelle Überheblichkeit mit quietistischer Verinnerlichung. Läßt man sich von diesem Bilde leiten, so fällt es schwer, in Max Weber einen Repräsentanten des deutschen Bildungsbürgertums zu sehen. Denn so widersprüchlich das Bild seiner Persönlichkeit in vielen Einzelheiten auch sein mag, so wenig entspricht es doch jenen zahlreichen cliches, die der Begriff im Laufe der letzten Jahrzehnte angesetzt hat. Die Widerstände schwinden freilich, wenn man sich statt dessen den nüchternen Fakten zuwendet. Daß Weber selbst sich, trotz der harten Kritik, die er immer wieder an ihnen übte, als ein ,,Mitglied der bürgerlichen Klassen" 1 empfand - als ein „ziemlich reiner Bourgeois" 2 , wie er gelegentlich schrieb -, ist bekannt und angesichts seiner Herkunft auch nicht weiter verwunderlich. Sein Vater, nach Marianne Weber „ein typischer Bourgeois, mit sich und der Welt zufrieden"3, entstammte einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die aus Glaubensgründen von Salzburg nach Bielefeld emigriert war. Während sein ältester Bruder die väterliche Leinwandfabrik übernommen und die Produktion durch die Einführung moderner kapitalistischer Methoden ausgeweitet hatte, studierte Max Weber sen. Jura, war dann zuerst in Erfurt und Berlin als Kommunalpolitiker tätig und avancierte

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später sogar zum Mitglied der preußischen Landtagsfraktion der Nationalliberalen Partei sowie vorübergehend des Reichstags. Seine Stellung in Partei und Politik brachte es mit sich, daß im Hause Weber nicht nur zahlreiche prominente Politiker verkehrten, sondern auch Professoren von Rang, wie etwa Dilthey, Mommsen und Treitschke. Noch eindeutiger bildungsbürgerlich geprägt war das Milieu, in das die mütterliche Linie zurückführt. So entstammte G. H. FallensteiJ.1,der Vater von Helene Fallenstein, nicht nur einem Geschlecht von Schullehrern, auch er selbst pflegte Zeit seines Lebens, vor allem nach seinem Rückzug aus dem öffentlichen Dienst, enge Beziehungen mit Professoren der Heidelberger Universität, vornehmlich mit dem Historiker Gervinus. Zur weiteren Verflechtung mit akademischen Kreisen trug bei, daß Ida, die Schwester der Mutter Max Webers, den Berlmer Historiker Hermann Baumgarten geheiratet hatte, zu dem Max Weber selbst später enge persönliche Beziehungen haben sollte und dessen geistiger Emfluß seme eigenen politischen Vorstellungen nicht unwesentlich prägte. Selbst diese tiefe verwandtschaftliche Verwurzelung im bildungsbürgerlichen Milieu erklärt freilich nur unzureichend die starke, schon in früher Jugend einsetzende und erst mit semem Tode endende Ausemandersetzung mit kulturellen, politischen und ökonomischen Phänomenen und Problemen. So ist seine schon mit zwölf Jahren beginnende Beschäftigung mit Machiavellis Principe, mit Herder, Luther und karolmgischen Genealogien ebenso bekannt geworden wie seine fast zur selben Zeit einsetzende Korrespondenz mit seinem Vetter Fritz Baumgarten, in der er sich ebenso kompetent wie kritisch zu Herodot, Livius und Cicero äußerte. Die Breite seiner geistigen Interessen und die Leichtigkeit, mit der er sich immer neue komplizierte Wissensgebiete erschloß, waren es, die Weber zu einem der geistreichsten und gebildetsten Männer seiner Zeit machten - zu emem ,Bildungsbürger'. Obwohl kaum jemandem mit mehr Berechtigung ein enzyklopädisches Wissen zuerkannt werden kann als ihm, ist es jedoch weniger die Breite und Tiefe dieser Bildung, die Aufmerksamkeit verdient, als ihre Zielsetzung. Es ist weniger eine Bildung, die der geistigen und sittlichen Kultivierung des Individuums dienen sollte, semer mdividuellen Veredelung und idealistischen Erhebung hin zum Guten und Schönen. Und es ist auch nicht eme Bildung, die einer antiquarischen Neugier am Vergangenen oder emem wert- und zweckfreien Interesse am Bestehenden entwuchs. Ob81

wohl Weber, vielleicht etwas verlegen, einmal bekannte, daß „die Tatsachen selbst eben doch so interessant" 4 sind, folgte er bei der Wahl der Gegenstände seines Forschens doch nicht den willkürlichen Eingebungen des Augenblicks oder den Moden und Mäandern des Zeitgeistes, sondern ließ sich von seinem Blick für das Wesentliche leiten und von seinem noch stärker ausgeprägten Gefühl für „Verantwortung", das ihm jenen Blick noch schärfte. Verantwortung ist der zentrale Wert, der immer wieder in seinen Briefen und Gesprächen auftaucht; Verantwortung - gegenüber sich selbst, der Nation, der Geschichte, gegenüber den Nachkommen. Verantwortung ist die Kategorie, die Webers theoretische und praktische Arbeiten begründet und zugleich das Band, das sie miteinander verknüpft. Ebenso wie alle seine wissenschaftlichen Arbeiten im „Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge" 5 standen und damit im Dienst jener „Verantwortungsethik", von der er in seinen Reden über Wissenschaft und Politik als Beruf so eindringlich Zeugnis ablegte, ebenso sah er auch seine publizistische und politische Tätigkeit vornehmlich im Zeichen der Verantwortung für die Nation. Schon 1895 in seiner Freiburger Antrittsvorlesung Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik bekannte er offen, daß es ,,keine ernstere Pflicht" gebe als die politische Erziehung des deutschen Volkes, und dieser Pflicht widmete er sich auch dann noch mit aller Kraft, als seine Gesundheit sein Ausscheiden aus der Universität erzwungen und seinen Eintritt in die aktive Politik verhindert hatte. Während seine umfassenden wissenschaftlichen Studien unter universalhistorischer Perspektive den Prozeß zu erhellen suchten, in dem sich die westliche Zivilisation in ihrer Eigenständigkeit entwickelt hatte, sowie die Richtung anzudeuten, in die sie sich weiterzuentwickeln schien, wiesen seine zahlreichen, zumeist kritischen Analysen der Kriegs- und Außenpolitik, vor allem aber über „Deuschlands künftige Staatsform" illusionslos die Konsequenzen, die sich daraus für die konkrete deutsche Politik ergaben. Beschränkt man sich auf diese Daten zur Person Webers - auf seine Herkunft, auf das Milieu, in dem er aufwuchs, auf seine eigene Tätigkeit als Professor, Publizist und Politiker -, so kommt man nicht umhin, ihn dem deutschen Bildungsbürgertum zuzurechnen. Aber reichen diese äußeren Daten zur Person aus, um in ihm sogar einen Repräsentanten dieser Schicht zu sehen? Wie repräsentativ war Weber denn für das Bildungsbürgertum, für dessen Interessen und Ideale? So wichtig diese Frage auch sein mag - solange ein Sozio- und Psychogramm dieser Schicht aus82

steht, ist ihre Beantwortung kaum möglich. Der Versuch einer Antwort kann daher nur umgekehrt verlaufen: Statt die Frage nach Webers Repräsentativität in Hinblick auf einen bildungsbürgerlichen ,Idealtypus' zu beantworten, kann nur versucht werden, durch die Darstellung seiner Vorstellungen und Aktivitäten Material zur genaueren Bestimmung des deutschen Bildungsbürgertums zu liefern.

II Die Konturen seines politischen Denkens wurden in den von Weber mitbearbeiteten Enqueten über die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland zum ersten Mal sichtbar. Ausgelöst durch die Abwanderung deutscher Landarbeiter in die Industriegebiete des Westens - ein Prozeß, der durch die Zerstörung der alten patriarchalischen Strukturen im Zuge des vordringenden Kapitalismus eingeleitet worden war -, stellte sich das Problem, ob die billigen polnischen Landarbeiter, die nachdrängten, permanente Siedlungserlaubnis erhalten sollten. Weber riet dringend von dieser Ansiedlung ab: diese entsprach zwar den Interessen der inzwischen kapitalisierten landwirtschaftlichen Großbetriebe und wurde aus diesem Grunde auch vom ostelbischen Adel angestrebt; die durch sie verursachte Überfremdung der deutschen Ostgebiete kollidierte seiner Ansicht nach jedoch zutiefst mit den „Lebensinteressen der Nation". Seine Empfehlung an den Staat, die Grenzen für polnische Kontraktarbeiter zu schließen und das Land der Gutsbesitzer mit deutschen Kleinbauern zu besiedeln, um so der gefährlichen „Denationalisierung" Einhalt zu gebieten, orientierte sich ausschließlich am Gesamtinteresse der Nation, das bis zu seinem Tode im Zentrum seines Wertsystems und, wie er es einmal ausdrückte, ,,himmelhoch über allen Gefühlen" 6 stehen sollte. Das allgemeine Prinzip, das Weber nach der Erstellung der Enqueten dazu veranlaßt hatte, für eine radikale Strukturveränderung der ostelbischen Gebiete einzutreten und bei aller Anerkennung der historischen Verdienste des alten Adels dessen rein ökonomische Interessen politischen und kulturellen Gesamtinteressen unterzuordnen, entwickelte Weber in aller Radikalität und mit einer seine Hörer bestürzenden „Brutalität" 7 in seiner Freiburger Antrittsvorlesung: ,,Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, 83

sondern für das Maß des Ellenbogenraumes, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen. Machtkämpfe sind in letzter Linie auch die ökonomischen Entwicklungsprozesse. Die Machtinteressen der Nation sind, wo sie in Frage gestellt sind, die letzten und entscheidenden Interessen, in deren Dienst ihre Wirtschaftspolitik sich zu stellen hat. Die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft. Sie ist eine Dienerin der Politik, nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation. Und der Nationalstaat ist uns nicht ein unbestimmtes Etwas, welches man um so höher zu stellen glaubt, je mehr man sein Wesen in mystisches Dunkel hüllt, sondern die weltliche Machtorganisation der Nation, und in diesem Nationalstaat ist für uns der letzte Wertmaßstab auch der volkswirtschaftlichen Betrachtung die ,Staatsraison'."S Zwar hüllte Max Weber, im Gegensatz zu nicht wenigen seiner Zeitgenossen, den Nationalstaat und die Nation weder in ein „mystisches Dunkel" noch hob er sie in metaphysische Höhen, doch stellte er die Nation auch nie ins Zentrum einer seiner größeren wissenschaftlichen Arbeiten. Ebenso ließ er auch die Frage, ob und inwieweit sie als oberster Wert seines politischen Handelns Geltung und Gefolgschaft beanspruchen könne, unerörtert. Das hatte verschiedene Gründe: Es mag daran gelegen haben, daß seine Leidenschaft für die Nation, wie Marianne Weber schrieb, „einem angeborenen, durch keine Reflexion antastbaren Instinkt" 9 entsprang. Es mag jedoch auch darauf zurückzuführen sein, daß die Nation in seiner Zeit, vor allem in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, noch immer ein so unersetzbarer und elementarer Grundstein der politischen Welt war, daß die Bedingungen und Grenzen ihrer Existenz noch nicht fragwürdig geworden waren. Vor allem ein Phänomen begründete für Weber ihre Notwendigkeit: die generelle Friedlosigkeit der Welt, die sich trotz aller Hoffnungen auch in der Zukunft nicht aufheben lassen würde und die den „unabwendbaren, ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen" 10 zu einer „fundamentalen Tatsache", um nicht zu sagen zu einer Bedingung menschlicher Existenz machte. Dieser mehr defensive Charakter des Nationalstaates als notwendige und natürliche Organisation zur Führung dieses Kampfes wurde ergänzt und überhöht von seiner Vorstellung von der Nation als Trägerin und Wahrerin von ,Kulturgütern'. Es mag nicht zuletzt eine Folge seiner Theorie der Wertfreiheit gewesen sein, daß sich Weber - und auch hierin unterschied er sich erheblich vom Kulturchauvinismus großer Teile des deutschen Bildungs84

bürgertums - zum Phänomen der nationalen Kultur nur zögernd und zurückhaltend äußerte. Seine scharfe Geißelung des „schlechthin hohlen und leeren rein zoologischen Nationalismus", der seiner Ansicht nach „mit Notwendigkeit zu einer Gesinnungslosigkeit allen großen Kulturproblemen gegenüber" 11 führe wie auch seine Warnungen vor der zunehmenden ,Ägyptisierung' der modernen Welt und der damit einherschreitenden individuellen Einengung, lassen jedoch erkennen, daß er sich dieses Problems durchaus bewußt war. Ebenso wie Weber sich, bei allen „pathetischen Empfindungen" 12 gegenüber der deutschen Nation, von ihrer chauvinistischen Verklärung fernhielt, ebenso war er auch, wie Wolfgang J. Mommsen bemerkte, ,,von der sterilen Ideologie bloßer Machtpolitik, wie sie Teile der deutschen Bildungsschicht und insbesondere der Alldeutsche Verband bis in den Ersten Weltkrieg hinein vertraten, durch einen tiefen Graben geschieden"13. Daß Weber angesichts einer Welt des „ewigen Kampfes" Macht als ein notwendiges Mittel des Überlebens betrachtete, und damit als das wichtigste Requisit des Nationalstaates, daß er deshalb konsequent für ihren Erwerb eintrat und den „Willen zur Macht" als die zentrale Qualität einer herrschenden Klasse hielt, kann daher nicht weiter überraschen14. Doch trotz dieser Affinität zur Macht und zum Machtstaat war er sich der Gefahren des reinen „Machtprestiges" ebenso bewußt wie der Sinnlosigkeit einer um ihrer selbst willen angestrebten Macht 15. Macht mußte für ihn nicht nur im Dienste übergeordneter „Werte" stehen, sondern auch mit „Augenmaß" verwendet werden, und das hieß nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Realität und des Rechts anderer Macht- und Wertordnungen. Letzteres war um so wichtiger, als Deutschland, wollte es seinen Rang als Großmacht im sich ständig verschärfenden Konkurrenzkampf der kapitalistischen Mächte behaupten, Weltpolitik bzw. ,Weltmachtpolitik' betreiben mußte. Da gerade dem deutschen Bildungsbürgertum eine besondere Affinität zur imperialen Politik nachgesagt werden kann16, erscheint es sinnvoll, diesem Aspekt des Weberschen Denkens etwas genauere Aufmerksamkeit zu widmen. Ersten programmatischen Ausdruck fand Webers Eintreten für deutsche „Weltmachtspolitik" schon in seiner Freiburger Rede, als er feststellte: ,,Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtspolitik sein sollte." 17 So fraglich es ist, ob man 85

diese Rede als „Initialzündung für die Entstehung eines liberalen Imperialismus im wilhelminischen Deutschland" 18 ansehen kann, so fraglos ist, daß sie wesentlich zur Rehabilitierung der imperialistischen Politik beitrug. Wenn Weber „Weltmachtspolitik" forderte, so folgte er allerdings auch hiermit weniger den Ambitionen eines irrationalen nationalen „Machtprestiges" - obwohl auch er dagegen nicht immun war -, sondern vor allem den Konsequenzen, die sich aus seiner Analyse der weltpolitischen Gesamtentwicklung ergaben. Denn ähnlich wie einige Jahre später Lenin erkannte auch Weber schon früh, daß bei gleichbleibender imperialer Expansion der kapitalistischen Mächte der scheinbar friedliche ökonomische Konkurrenzkampf früher oder später in blanke militärische Auseinandersetzungen umschlagen würde, den nur jene Nationen siegreich überstehen würden, die sich rechtzeitig und energisch auf ihn vorbereiteten. Während Lenin jedoch die Arbeiterschaft vor jeder Teilnahme am imperialen Wettlaut warnte, wies Weber sie, in Hinblick auf das bei wachsender Bevölkerungszunahme immer dringlicher werdende Beschäftigungs- und Ernährungsproblem, auf ihr Eigeninteresse hin, ja sah in der Haltung der Arbeiterschaft der Weltmachtpolitik Deutschlands gegenüber sogar ein wichtiges Indiz politischer Reife, die durch mehr politische Rechte honoriert werden solltetD. Die Frage nach der politischen Mündigkeit der deutschen Arbeiterschaft war für Weber nicht nur im Hinblick auf die innere Einheit des Reiches von Bedeutung, sondern auch unter dem Aspekt, daß er an der Reife und Fähigkeit des deutschen Bürgertums, die politische Führung zu übernehmen, erhebliche Zweifel hegte. ,,Wie man die politische Zukunft des Landes sich denken soll ohne die Hoffnung auf das Entstehen einer politisch gereiften und positiv an Deutschlands Größe mitarbeitenden Arbeiterbewegung, vermag ich nicht zu sehen" 20 , schrieb er 1894 und unterschied sich mit dieser Nüchternheit, mit der er die Notwendigkeit der politischen Integration der Arbeiter überdachte, erheblich von der hysterischen Angst großer Teile der Bougeoisie ,vor dem roten Gespenst'. Eine Gefahr von der Übernahme politischer Macht durch die Sozialdemokraten sah Weber schon deshalb nicht, weil er voraussah, daß gerade die Übernahme politischer Verantwortung den revolutionär-ideologischen Enthusiasmus schwächen und somit nicht die Partei den Staat, sondern der Staat die Partei erobern würde. Wenngleich auch Weber diesen Zeitpunkt noch in weiter Feme sah und noch 1894 bei der deutschen Arbeiterklasse ,,die großen Machtinstinkte einer zur politischen Führung berufenen Klasse" 21 vermißte, hielt er eine zukünftige Zusammen86

arbeit von Bourgeoisie und Arbeiterschaft für prinzipiell möglich und bekämpfte alles, was eine Heranführung der Arbeiterschaft und der Sozialdemokratie an den Staat zu erschweren schien. Daß eine solche Heranführung nicht zuletzt an der Angst des deutschen Bürgertums scheiterte, erschien ihm nicht nur in Hinblick auf die politische Entwicklung Deutschlands für bedauerlich, sondern wohl auch als ein weiteres Indiz für die Richtigkeit seiner These, derzufolge die Politik Bismarcks der deutschen Bourgeoisie „die langsam sich entwickelnde politische Urteilsfähigkeit ausgebrannt" habe 22• Ebenso bedenklich erschien Weber freilich der Mangel des deutschen Bürgertums an ideellem und standesgemäßem Selbstbewußtsein, den er an der Tendenz diagnostizierte, pseudo-aristokratische Attitüden zu kultivieren und sich auf diese Weise einem Stand anzupassen, der seiner Ansicht nach ökonomisch wie politisch abgewirtschaftet hatte. Abgesehen von einer Aufwertung des Adels, der ohnehin noch alle wichtigen politischen Positionen besetzt hielt, befürchtete er, daß die Abwanderung bzw. die Abwerbung von Teilen des Großbürgertums mittels Adelsprädikaten die längst überfällige politische Machtübernahme der Bourgeoisie noch weiter verzögern würde. Es würde zu weit führen, seine Kritik an der opportunistischen Borniertheit des deutschen Bürgertums, am lauten Bramarbasieren des deutschen Kaisers, am hohlen Pathos der Studentenverbindungen, an der selbstgefälligen Arroganz der Beamtenschaft oder der eitlen Selbstüberschätzung der Militärs im einzelnen darzustellen. Es gab viele Mängel, an denen Deutschland litt und nur wenige entgingen dem scharfen Blick Webers. Die Mischung von Leidenschaftlichkeit und Nüchternheit, die alle seine Äußerungen prägt, die Sachkenntnis, mit der er Stellung bezog, und das hohe Maß an Zivilcourage, das ihm die Kraft gab, sie zu beziehen und zu verteidigen, heben ihn weit aus dem Milieu seiner Zeit und seines Standes heraus.

III Nach Darstellung der politischen Positionen, die Weber vertrat und verteidigte, bleibt ein weiterer Bereich seines Denkens, der noch zu erhellen ist: jene Dimension nämlich, in der die ,Werte' beheimatet sind, die jenen Positionen zugrunde liegen. Es ist bekannt, daß Weber die Werte, denen sich der Einzelne verschreibt und an denen er sein Handeln orientiert, zwar nicht dessen Willkür, letztlich aber doch seiner Wahl überläßt. Diese Wahl sollte

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seiner Ansicht nach zwar von dem besten Wissen über die Folgen geleitet sein, die sich aus jener letzten Entscheidung ergeben können; wie immer diese Folgen aber auch aussehen mögen, sofern sie der Handelnde akzeptiert, steht es ihm frei, sich für sie zu entscheiden. Daß die ,Nation', ,intellektuelle Redlichkeit', ,Verantwortungsgefühl' zu den Werten gehörten, denen Weber selbst sich verschrieben hatte, wurde schon gezeigt. Es soll hier nicht weiter untersucht werden, an welchen anderen Werten er sich persönlich noch orientierte und wie er diese Wahl für sich selbst traf. Wichtiger erscheint es, noch kurz die Grundlagen der ,Weltanschauung' zu skizzieren, in der jene Wertvorstellungen eingebettet sind, und von der sie ihre letzte Begründung erhalten. Freizulegen sind vornehmlich zwei Aspekte der Weberschen Weltanschauung: eine Art ontologischer Grundstruktur der Welt, die sich nicht ändert und der sich der Mensch anzupassen hat sowie eine zeitliche Struktur, in der eine Reihe von materiellen und geistigen Veränderungen eintreten, die zwar nicht das Wesen der menschlichen Existenz tangieren, wohl aber ihre Bedingungen und das Bewußtsein von ihr. Wenden wir uns zuerst diesem zeitlichen Aspekt zu, der besonders deutlich in den beiden Reden über Wissenschaft und Politik als Beruf angesprochen wurde, die Weber nur wenige Jahre vor seinem Tode vor Studenten der Münchener Universität hielt. ,,Es ist das Schicksal unserer Zeit", rief er ihnen zu, ,,mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander." 23 • Ursache dieser „Entzauberung" ist für Weber genau jenes besondere Merkmal der Gegenwart, dessen Entstehung und Entwicklung er in den meisten seiner wissenschaftlichen Arbeiten zu analysieren versucht hatte: die Rationalisierung und Intellektualisierung. Sie hatte den Glauben an jene Mächte zersetzt, die der Mensch durch magische Operationen zu beeinflussen suchte, und hatte an dessen Stelle das Wissen von Kausalitäten und Korrelationen gesetzt, das ihn, in Form der Wissenschaft, in die Lage versetzte, ,,alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnung [zu] beherrschen". Webers Genugtuung über diese Zunahme menschlicher Macht ist jedoch gedämpft. Denn sie ist gekoppelt mit der Einsicht, daß der Wert dieses ,Intellektualisierungsprozesses' begrenzt ist, da die Erfolge, die er brachte, nicht die Erwartungen erfüllte, die er in

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seinen Anfängen geweckt hatte. Weber stellt die Frage selbst nüchtern zur Debatte: ,,Hat denn aber nun dieser in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzte Entzauberungsprozeß und überhaupt: dieser ,Fortschritt', dem die Wissenschaft als Glied und Triebkraft mit angehört, irgendeinen über dies rein Praktische und Technische hinausgehenden Sinn?" Seine eigene Antwort auf diese Frage ist ebenso eindeutig wie illusionslos: Wer - wie etwa Tolstoi - gehofft hatte, von der Wissenschaft als der Frucht dieses Prozesses Antwort auf die Frage zu erhalten, wie man leben soll, wartete vergebens. Denn: ,,Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar." Damit wird Wissenschaft für Weber freilich nicht ,sinnlos'. Im Gegenteil. Abgesehen von ihrem praktischen Nutzen bei der Berechnung und Beherrschung der natürlichen Welt ist sie insofern sogar sinngebend, als sie den „Einzelnen nötigen, oder wenigstens dabei helfen [kann], sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns". Schon an anderer Stelle hatte Weber dieser Einsicht Ausdruck verliehen, als er feststellte: ,,Die aller menschlichen Bequemlichkeit unwillkommene, aber durchaus unvermeidliche Frucht vom Baume der Erkenntnis ist gar keine andere, als eben die [... ] sehen zu müssen, daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal: - den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das - wählt. " 24 Der Hinweis Webers auf Platon ist von Interesse - weniger freilich, weil er auch Webers Verwurzelung in jenem humanistischen Bildungsgut bezeugt, als dessen geistiger Hüter das Bildungsbürgertum sich betrachtete, sondern mehr, weil er zu dem zentralen Punkt hinführt, an dem nicht nur Webers Weltanschauung sichtbar wird, sondern an dem auch gezeigt werden kann, wodurch sie sich radikal von der klassischen Ontologie - etwa eines Platon - unterscheidet. Während Platon im Pamphylischen Mythos2s, auf den Weber sich hier bezieht, die Erfahrung zu artikulieren suchte, daß der Mensch in der Wahl und Gestaltung seines Lebens weitgehend frei ist, daß ihm bei der Wahl selbst jedoch die Philosophie wichtige Hilfe leistet, ja daß darin sogar der eigentliche Wert der Philosophie besteht, mißt Weber der Wissenschaft bei der Wahl der letzten Werte zwar eine ähnliche Funktion zu, doch ist die Wahl letztlich nicht frei. Denn der Einzelne wählt nicht - wie bei Platon die Seele - seinen „Dämon", sondern erkennt bestenfalls den Dämon, ,,der seines Lebens Fäden hält" 26.

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Hat er ihn gefunden, so hat er ihm zu gehorchen und bezieht in diesem Gehorsam bewußt die ihm zukommende Position in jenem ,,ewigen Kampf" der „Götter", der für Weber ein „Grundsachverhalt" der Welt und damit zugleich die Grundursache ihrer „ethischen Irrationalität" 27 ist. Denn ebenso wie die platonische Ontologie eines geordneten, harmonischen Kosmos rationales Handeln ermöglichte, ebenso folgte aus Webers Annahme einer irrationalen, mit Widersprüchen behafteten und einer harmonischen Ordnung ermangelnden Welt, daß rationales, tragische Konflikte vermeidendes menschliches Handeln nicht möglich ist. ,,Je nach der letzten Stellungnahme ist für den Einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist." 28 Den Zwang zur Entscheidung sah Weber eine Zeitlang gemildert durch das Christentum, das die Werte in eine klar abgegrenzte Hierarchie gestellt und der Diktatur eines Gottes unterstellt hatte, dessen Geboten sich der Mensch fügen und dessen Führung er sich gläubig anvertrauen konnte. Doch die Zeit dieser Herrschaft war für Weber inzwischen abgelaufen. Zwar erklärte er Gott nicht für tot, wie es Nietzsche getan hatte, doch entging es ihm nicht, daß das christliche Ordnungsgefüge immer mehr zerbrach und die Zahl derer zunahm, die sich, der Geborgenheit jener Ordnung beraubt, in eine Freiheit entlassen sahen, deren Einsamkeit die meisten schaudern und in den Schutz der alten oder einer neuen Glaubensgemeinschaft zurücksehnen ließ. Ähnlich wie die Menschen im platonischen Mythos nach dem Zeitalter des Kronosie der göttlichen Fürsorge verlustig gingen und auf sich gestellt nach neuen Führern suchten, die sie beschützten und behüteten, ähnlich sah Weber vor allem viele junge Menschen seiner Zeit auf der Suche nach neuen Propheten, die sie von der Last eigener Entscheidung und Verantwortung befreiten und dem Schutz neuer ,Götter' und damit neuer Gewißheiten zuführten. Weber bedauerte diese Flucht aus der entzauberten Welt in die „weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen" und in die brüderlichen Gemeinschaften, in denen allein, wie er zugibt, allerdings auch dort nur „im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte"3o. Doch er verstand den Menschen, der diese Flucht beging und bereit war, dafür mit dem - allerdings unvermeidlichen - ,,Opfer des Intellekts" zu bezahlen. ,,Wir werden ihn darum nicht schelten, wenn er es wirklich vermag. Denn ein so!-

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ches Opfer des Intellekts zugunsten einer bedingungslosen religiösen Hingabe ist sittlich immerhin doch etwas anderes als jene Umgehung der schlichten intellektuellen Rechenschaftspflicht, die eintritt, wenn man sich selbst nicht klar zu werden den Mut hat über die eigene letzte Stellungnahme, sondern diese Pflicht durch schwächliche Relativierung sich erleichtert." Weder war Weber selbst willens, das „Opfer des Intellekts" zu bringen, noch fehlte ihm der Mut zur eigenen „letzten Stellungnahme". Er akzeptierte die „Grundtatsache, daß er in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal" hatte und bemühte sich, die „Realitäten des Lebens" zu ertragen mit jener ,,schlichten intellektuellen Rechtschaffenheit", der er sich verpflichtet fühlte und die ihn bei der Wahl jener Positionen leitete, die er als die seinen akzeptieren konnte. Während viele andere Mitglieder des Bildungsbürgertums angesichts des gewaltigen sozialen und politischen Umbruchs, den das 20. Jahrhundert einleitete, verzweifelt in die Häfen einer scheinbar glücklichen und intakten Vergangenheit zurückzukehren suchten oder gar „mystische Weltflucht" begingen, während andere stumpf die Gegenwart hinnahmen oder in blinden Idealismus in eine neue Zukunft weiterstürmen wollten, bewahrte sich Weber den Blick für das Mögliche und Notwendige.

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2. Zwischen Kulturkritik und Machtverherrlichung: Kurt Riezler von Eike-Wolfgang Kornhass

Person und Werk Kurt Riezlers (1882-1955) haben im Rahmen der in den sechziger Jahren erneut entfachten Diskussion um die deutsche Politik unmittelbar vor und nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Riezler fungierte als Berater und engster Vertrauter des Kanzlers Bethmann Hollweg und war bis zu dessen Rücktritt für die Politik des Reiches mitverantwortlich. Das Interesse an dem lange Zeit hindurch nahezu vergessenen Riezler erwachte in dem Augenblick, als mit dem Erscheinen eines Aufsatzes von Karl Dietrich Erdmann im September 1964 einige Fragmente seiner bis dahin unzugänglichen Kriegstagebücher bekannt wurden 1. Daraufhin setzte eine mitunter hitzige Debatte ein, die teilweise über die fachlichen Grenzen hinaus in Presse und Fernsehen fortgesetzt wurde 2 • Im wesentlichen ging es darum, ob die mitgeteilten Notizen im Sinne einer Bestätigung oder Einschränkung der von Fritz Fischer aufgestellten These vom hegemonialen Charakter der deutschen Politik während des Ersten Weltkrieges3 zu beurteilen seien. Mit der 1972 von Erdmann veranstalteten Publikation der Tagebücher von 1910-18 4 liegt inzwischen eine historische Quelle von solcher Ergiebigkeit vor, daß Imanuel Geiss von einer „Konsolidierung der modernen Weltkriegsforschung durch Riezler" spricht 5 • Die Aufzeichnungen des Bethmann-Beraters haben der Forschung insofern neue Perspektiven eröffnet, als sie eine Reihe von internen Vorgängen innerhalb der Reichsleitung transparenter gemacht haben. Vor allem aber erscheint die bis zur Veröffentlichung des Dokuments hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung erheblich unterschätzte Person Riezlers in einem neuen Licht. Obwohl jener nicht unmittelbar am politischen Entscheidungsprozeß beteiligt war und daher nur als „ein Mann des zweiten Gliedes" galt6, beweisen die Tagebücher doch seinen beträchtlichen Einfluß auf Bethmann und damit auf die deutsche Politik. überdies belegen die privaten Notizen die oft bemerkenswerten analytischen Fähigkeiten Riezlers als zeitgenössischer Beobachter und Kritiker der Machtträger des kaiserlichen Deutschland. Unter diesem Eindruck kommt Geiss zu dem Ergebnis, Riezler erweise sich „als der stärkste politische Kopf der herrschenden Klasse im wilhelminischen Reich"7. 92

Riezlers Position innerhalb der deutschen Machtelite legt die Vermutung seiner Zugehörigkeit zur traditionellen preußischen Führungsschicht nahe. Diese Annahme trifft nicht zu. Er entstammte vielmehr einer angesehenen Münchner Familie des Besitz- und Bildungsbürgertums 8 • Das Studium der klassischen Philologie an der Universität seiner Heimatstadt schloß er mit einer Dissertation über die antike griechische Stadtwirtschaft ab, die von der Philosophischen Fakultät als Preisschrift für würdig befunden wurde. Obwohl es sich angesichts dieses wissenschaftlichen Erfolgs angeboten hätte, die Universitätslaufbahn einzuschlagen, wandte sich Riezler der politischen Publizistik zu, die er für ein halbes Jahr als Redaktionsmitglied der offiziösen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung betrieb. Im Oktober 1906 trat er dann in den Dienst des Auswärtigen Amts, wo er im Pressereferat tätig zu werden begann. Aus dieser Zeit stammen Zeitschriftenbeiträge zu aktuellen innen- und außenpolitischen Themen, deren regierungstreue Tendenz sogar die ausdrückliche Zustimmung des Kaisers fand 9 • Riezler volontierte zunächst unter Bülow. Nach dessen Ausscheiden übertrug der junge Pressereferent, wie sich Bülow erinnert, die einstmals „lebhaft zur Schau getragene Bewunderung" für ihn auf seinen Nachfolger Bethmann Hollweg 10 • Riezlers Tätigkeitsbereich unter dem neuen Dienstherrn war nicht klar abgegrenzt. Zu seinen vielfältigen Aufgaben gehörte es etwa, Bethmanns Reichstagsreden zu entwerfen, geheime Missionen zu übernehmen oder die Politik des Kanzlers gegenüber Trägern der öffentlichen Meinung zu interpretieren. über solcherlei praktische Aspekte seines Wirkens hinaus erfüllte er, wie bereits erwähnt, die Funktion eines politisch-philosophischen Beraters und Vertrauten Bethmanns. Wie groß dessen Wertschätzung für seinen Adlatus war, beweist nicht nur der Umstand, daß die beiden Männer die entscheidenden Wochen der Julikrise 1914 in engstem Kontakt miteinander verbrachten 11, sondern auch die Tatsache, daß Riezler mit dem Entwurf des von Fritz Fischer unter der Bezeichnung „Septemberprogramm" veröffentlichten Katalogs deutscher Kriegsziele des Jahres 191412 betraut wurde 13 • Er hatte damit einen nicht unwesentlichen Anteil an der Konzeption imperialistischer Expansionsbestrebungen. Nach dem Urteil von Geiss gab Riezler „der amtlichen deutschen Kriegszielpolitik jene Systematik und Geschlossenheit, die erst die Akten enthüllten" 14• Mit dem Rücktritt Bethmanns endete auch für seinen seit 1915 zum Legationsrat avancierten ,ghostwriter' die Karriere als politischer Berater. Wie der kurze, die wilhelminische Periode umfassende biogra93

phische Abriß zeigt, war Riezler hinsichtlich Herkunft und Ausbildung keineswegs repräsentativ für einen einflußreichen Regierungsbeamten des kaiserlichen Deutschland. Auf eine griffige Formel gebracht war er statt preußisch, protestantisch und adelig vielmehr bayerisch, katholisch und (bildungs)bürgerlich. Hervorzuheben bleibt vor allem das bildungsbürgerliche Erbe, dem sich Riezler nachhaltig verpflichtet fühlte. Denn auch in der Position des aktiven Politikers verspürte er noch das Bedürfnis, sich in verschiedenen Zeitungsartikeln, Zeitschriftenbeiträgen und Büchern der Öffentlichkeit mitzuteilen. Darunter verdienen unsere Aufmerksamkeit besonders die beiden Vorkriegsschriften Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Politik und zu anderen Theorien (im folgenden kurz: Erforderlichkeit) aus dem Jahre 1913 und die 1914 erschienenen Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart (kurz: Grundzüge). Wie noch zu zeigen sein wird, präsentierte Riezler namentlich mit der ersten der genannten Publikationen einen neoidealistisch inspirierten philosophisch-politischen Ordnungsentwurf ,weltanschaulicher' Observanz, welcher eine streng fachwissenschaftliche Terminologie vermied und offensichtlich auf eine breitere Leserschaft gebildeter Laien zugeschnitten war. Damit reihte sich Riezler ein in jenen nicht eben kleinen Kreis bürgerlicher deutscher Intellektueller, dessen Mitglieder - von Lagarde und Langbehn über Haeckel und Eucken bis hin zu Kautsky - als ,Ideenproduzenten' charakterisiert werden können. Diese zeichneten sich ungeachtet der Verschiedenheit des jeweiligen geistigen und politisd.len Standorts gemeinsam dadurch aus, daß sie als Kultur- bzw. Gesellschaftskritiker auftraten. Sie taten dies in der erklärten Absicht, das im Rahmen ihrer mehr oder weniger populärwissenschaftlich abgefaßten Schriften entworfene persönliche Weltbild der als krisenhaft angesehenen Gesellschaft des zweiten deutschen Kaiserreichs zu therapeutischen Zwecken anzudienen. Riezlers Zugehörigkeit zur Gruppe ideenproduzierender Repräsentanten des bildungsbürgerlichen Milieus, bei gleichzeitiger Ausübung seiner Pflichten als einflußreicher Beamter der wilhelminischen Administration, macht ihn sowohl aus soziologischer Perspektive als auch im Zusammenhang einer Sozialgeschichte der Ideen zu einem Sonderfall innerhalb seiner Generation. Obwohl er als landsmannschaftlich, konfessionell und herkunftsmäßig atypischer Aufsteiger eigentlich allen Grund gehabt hätte, sich durch möglichst weitgehende Angleichung an die Verhaltensnormen der politisch bestimmenden Schicht des Kaiserreichs um Integration zu bemühen, mochte er nicht auf eines der wesent94

Iichsten gruppenspezifischen Merkmale der bürgerlichen Intelligenz seiner Zeit verzichten: den Anspruch nämlich, für die Interpretation, Korrektur oder gar Revolutionierung der bestehenden „symbolischen Sinnwelt" 15 der Gesellschaft zuständig zu sein. Mit der zumindest mittelbaren Partizipation am politischen Planungsund Entscheidungsprozeß einerseits und der Attitüde des philosophisch-politischen Schriftstellers andererseits kommt Riezler im Verhältnis zu den im Deutschland der Vorkriegszeit noch relativ homogenen Schichten des Bildungsbürgertums und des politisch dominierenden preußischen Adels eine Zwischenstellung zu, für die es meines Wissens keine zeitgenössische Parallele gibt. Bevor ich mich der Behandlung der bereits erwähnten Vorkriegsschriften Riezlers zuwende, gilt es zunächst die Frage nach dem Anlaß zu klären, der ihn zur Konzipierung seiner Bücher bewog. Es war dies die Erfahrung einer zunehmenden Diskrepanz innerhalb der spätwilhelminischen Gesellschaft von machtstaatlicher Potenz und intellektueller Defizienz. Angesichts des umfangreichen Flottenbauprogramms, eines bis dahin beispiellosen „imperialen Aufschwungs" der Wirtschaft seit der Jahrhundertwende1Gund im Zeichen der zwecks Systemstabilisierung inaugurierten „Weltpolitik" 17 hatte eine bis in die Reihen der Sozialdemokratie hineinreichende Großmacht-Euphorie 18 um sich gegriffen, welche die Verwerfungen der „vulkanischen Gesellschaft" 19 vorübergehend in einem milderen Lichte erscheinen ließ. Demgegenüber hatte sich jedoch jener von Nietzsche frühzeitig diagnostizierte Prozeß der „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ,deutschen Reiches'" zumindest in den politisch und ökonomisch führenden Schichten eher noch beschleunigt. Dieses Mißverhältnis von Macht und Geist ist gemeint, wenn Riezler in den Grundzügen zu der Einsicht kommt, daß im Vergleich mit „der kulturellen Blüte des deutschen Geistes und der deutschen Empfindung in früheren Zeiten" die gegenwärtige Epoche zwar die „eines ungeheuren Aufschwungs auf wirtschaftlichem Gebiete", ebenso aber auch „einer kulturellen Verflachung" oder einer Verflachung des „deutschen Wesens" sei2 0. Die konstatierte Dekulturationstendenz geht für Riezler einher mit einem in seinen Erscheinungsformen nicht näher spezifizierten „Materialismus des Genusses" 2 1, einem „flachen Materialismus" 22 bzw. einem „materialistischen Rationalismus". Für diese „Weltanschauung des modernen Durchschnittsmenschen", so heißt es generalisierend weiter, gebe es keine „ewigen und absoluten Werte, für die zu arbeiten, zu leiden und eventuell auch zu sterben sich 95

lohnt", Ziel allen Strebens sei vielmehr Genuß und Geld 23 • Solche Aspekte eines virulenten Hedonismus werden auf den „skeptische[n) Zweifel gegen alle Ideale" sowie eine „allgemeine Erschlaffung des Idealismus überhaupt" zurückgeführt 24. Damit ist das entscheidende Stichwort gefallen. Die Erkenntnis der Ursache legt auch die Therapie nahe. Idealismus lautet die Devise, unter der es gilt, ,,kulturelle Verflachung" und Materialismus zu bekämpfen. Dieses Mittel mag geeignet erscheinen, die, wie Riezler am Schluß der Erforderlichkeit schreibt, ,,im Spiegel der Unendlichkeit größte Aufgabe" zu bewältigen: ,,zu verhüten nämlich, daß die politische Form, die Deutschland endlich gefunden, mit ihren eigenen Bedürfnissen und ihren wirtschaftlichen Folgen das tiefere Wesen des Volkes, das in einer unpolitischen Kultur sich geprägt hat, nicht nur umbilde, sondern unterbinde und langsam zerstöre, an seine Stelle aber nichts als eine äußerlich tüchtige Mittelmäßigkeit zu setzen vermöge: damit trotz Weltpolitik und Reichtum auch der Deutsche der Zukunft den unendlichen Drang sich bewahre [... )" 2•. Der Terminus „unendlicher Drang" wird im folgenden noch zu erläutern sein. Welche Bedeutung Riezler der Notwendigkeit einer Wiedergeburt der Nation aus idealistischem Geiste zugemessen hat, geht aus seinem drohend geäußerten Diktum hervor, das Schicksal Deutschlands hänge an der Frage, ,,ob der alte Idealismus in der neuen Gestaltung der äußeren Dinge sich wird halten und eine neue Form wird finden können" 26 • Der skizzierte kulturkritische Ansatz nebst der empfohlenen Heilmethode ist keineswegs originell. Er entspricht einem im wilhelminischen Deutschland sowohl in der bürgerlichen Intelligenz als auch in Teilen der politischen Führungsschicht geläufigen dichotomischen Weltbild, welches sich auf den Gegensatz von Materialismus und Idealismus reduzierte. So schlug beispielsweise der Philosoph Rudolf Eucken zur Überwindung von „geistigem Notstand"27 und„ Verflachung" einen neuen Idealismus vor 2s. Aber auch Wilhelm II. hatte schon 1898 in einer Ansprache an das Kunstpersonal der königlichen Schauspiele die Losung ausgegeben, ,,im festen Gottvertrauen dem Geiste des Idealismus zu dienen und den Kampf gegen den Materialismus und das undeutsche Wesen fortzuführen" 29 • Halten wir zur Klärung der hinter den Vorkriegsbüchern Riezlers stehenden Motivation fest: Die Erfahrung geistiger Defizienz war der Anlaß, eine Erneuerung der deutschen Gesellschaft unter idealistischem Vorzeichen zu postulieren. Da immerhin das Schicksal des Vaterlandes auf dem Spiel stand, erbot sich Riezler selbst, 96

das benötigte Regenerationsmittel in Gestalt seiner Schriften bereitzustellen. Der besondere Reiz hierbei lag in dem zu erwartenden Erfolg des therapeutischen Unternehmens: Mußte es doch als ein verlockendes Ziel erscheinen, weit über die Möglichkeiten etwa eines Eucken hinaus unter Ausnutzung der einflußreichen Position eines wilhelminischen Hof-Philosophen die Wirkung seines Denkens potenzieren und solchermaßen die moralische Wiederaufrüstung der Nation in die Wege leiten zu können. Als zentrale Instanz der Kritik und Erneuerung der symbolischen Sinnwelt der Gesellschaft betrachtete Riezler die Philosophie. Sie stellte für ihn die gesellschaftliche Grundwissenschaft kat' exochen dar und erfüllte damit gleichzeitig die Funktion einer - laut Untertitel der Erforderlichkeit - ,,Theorie der Politik" oder auch ,,Wissenschaft der Politik"so. Nachhaltig distanziert er sich demzufolge von den Naturwissenschaften, denen er die Unfähigkeit bescheinigt, auf „die großen und ewigen Fragen des Lebens" eine Antwort geben zu können 31 • Die selbst stark naturwissenschaftlich beeinflußte deutsche Philosophie der Jahrhundertwende war freilich kaum geeignet, der Forderung Riezlers zu genügen, umfassende Gesellschaftswissenschaft zu sein. Besonders die universitäre Schulphilosophie wies eine Tendenz zur entpolitisierten, sterilen Methodendiskussion auf, welche speziell bei den Neukantianern sichtbar zutage getreten war, aber auch auf andere Richtungen übergegriffen hatte 32 • Auf diesen Sachverhalt zielt Riezler, wenn er im Vorwort der Erforderlichkeit generell „die Unerquicklichkeit des Streites um die ersten Schritte, welche einen großen Teil der heutigen Philosophie nicht nur in den Augen der unphilosophischen Menge entwertet hat" 33, anprangert. Die epigonale Verkarstung zumindest der an den Hochschulen etablierten deutschen Philosophie um 1900 und ihr Versagen als gesellschaftsbezogene Disziplin scheint für Riezler ein derartig schwerwiegendes Problem gewesen zu sein, daß er noch im Jahre 1923 mit Nachdruck „die öde der damaligen Universitätsphilosophie mit ihrem Messen und Belauschen von Empfindungen, Vorstellungen und Assoziationen" in Erinnerung ruft3 4 • Angesichts dieses bedenklichen Zustandes der zentralen Humanwissenschaft kam es darauf an, den Entwurf einer Alternativkonzeption vorzulegen. Es ist bezeichnend für Riezler, daß er sich hierbei aus dem Bannkreis des intellektuellen Milieus der spätwilhelminischen Ära nicht zu lösen vermochte. Unter - wie noch darzustellen sein wird - vehementer Ablehnung rationaler westlicher Grundvorstellungen von sozialer Ordnung griff er nämlich

97

auf den nicht eben schmalen Fundus der um 1910 kuranten ,Ismen' zurück, um Bestandteile derselben in bunter Mischung seiner „Theorie der Politik" zu inkorporieren. Das Spektrum reicht dabei von neukantianischen Anleihen über Elemente der Lebensphilosophie bis hin zum Sprachschutt organologischer Spekulationen teils romantischer Herkunft, teils Spencerscher Machart, welche sich wiederum mit einem rigiden Sozialdarwinismus verbinden. überlagert wird das Ganze schließlich von einem spezifisch deutschen völkischen Nationalismus. Was den Aufbau des infolge der Einbeziehung solch disparater Ingredienzien synkretistischen Modells betrifft, so orientiert sich Riezler unverkennbar am Vorbild der geschlossenen idealistischen Systemkonstruktion. Bei der folgenden, notwendigerweise sehr gedrängten Behandlung seiner beiden Vorkriegsbücher kann auf eine ins Detail gehende Analyse verzichtet werden, da diese in ausführlicher Form bereits an anderer Stelle vorgenommen worden ist35 • Ziel der Riezlerschen Philosophie ist es, die „Gesetzlichkeit des Weltgeschehens" 36 aufzudecken bzw. die „Darstellung eines möglichen synthetischen Zusammenhanges aller Probleme unter Einer [sie!] Idee"37 zu leisten. Die wesentlichen Merkmale jener „Einen Idee" stellen sich zusammengefaßt folgendermaßen dar: Der Bereich des „Organischen", auf den sich Riezlers Erkenntnisinteresse ausschließlich konzentriert, zerfällt in eine Reihe von Entelechien oder „Zweckeinheiten", welche - jede für sich - nach „Ganzheit'· streben. Letztere erscheint nicht als unteilbar, sondern es wird absurderweise unterschieden zwischen einer mehr oder minder „erfüllten" Ganzheit. Je umfassender nämlich eine Entelechie ist, ein desto höheres Maß an „Erfüllung" der Ganzheit kommt ihr zu. Als oberste, allerdings nicht erreichbare Stufe der Erfüllung gilt die „Allheit" oder „höchste Ganzheit". Demnach existiert eine ,,Stufenfolge von Erfüllungen" der Ganzheit, ,,die wir im Kleinsten beginnen und in einem unendlichen All können enden lassen"ss. Aus dieser Stufenfolge resultiert eine entsprechend gegliederte Hierarchie der einzelnen Zweckeinheiten, welche nicht statischen, sondern dynamischen Charakter besitzt. Die verschiedenen Zweckeinheiten weisen nämlich eine immanente Tendenz zur Ausdehnung in Richtung auf die jeweils „höhere Ganzheit" auf, so daß innerhalb der Skala von Zweckeinheiten eine permanente Aufstiegsbewegung stattfindet. Der Zweck des skizzierten Ansatzes wird erst nach einer inhaltlichen Füllung plausibel. Zunächst definiert Riezler den Menschen im Sinne des Entelechiebegriffs als „Synthesis eines Mannigfaltigen"39, welche Erfüllung ihres Entfaltungsbedürfnisses in der 98

,,Synthesis des Paares" 40 , vulgo der Ehe, findet. Diese als „höhere" Zweckeinheit verstandene Verbindung dehnt sich wiederum aus zur Familie, jene zum Familienverband, der sich über den Stamm schließlich zum Volk erweitert 41 • Der Mensch wird im Rahmen dieses Schemas nicht etwa auf seine dif]erentia specifica, sein Bewußtsein hin untersucht, sondern kurzerhand reduziert auf eine periphere „Figur im Reigen der Ansätze" zur „höchsten Ganzheit" oder auf die „flüchtige Erfüllung einer überindividuellen Lebensform", d. h. einer übergeordneten Zweckeinheit wie beispielsweise der des Volkes42. Mit der inhaltlichen Bestimmung der formalen Konstruktion einer dynamischen Rangordnung von Entelechien ist der spekulative „Weltenwurf" 43Riezlers vollendet. Im weiteren brauchen nur noch die Konsequenzen aus dem vorliegenden System gezogen zu werden. Der Entdecker der „Gesetzlichkeit des Weltgeschehens" erachtet es denn auch im Hauptabschnitt der Er/ orderlichkeit als überflüssig, sich mit der vergleichsweise unbedeutenden Zweckeinheit Mensch näher zu befassen und wendet lieber sein Augenmerk auf die als „überindividuelle Individualität" apostrophierte Entelechie des Volkes. Auch für diese Zweckeinheit, welcher die ,,innere Gesetzlichkeit eines Organischen"44 eignet, gilt das spezifische Merkmal des Strebens nach höherer Ganzheit. In welcher Form solchem Entfaltungsdrang Genüge getan wird, illustriert Riezler eindrucksvoll in der folgenden Formulierung: ,,Der Idee nach aber will jedes Volk wachsen, sich ausdehnen, herrschen und unterwerfen ohne Ende, will immer fester sich zusammenfügen und immer Weiteres sich einordnen, immer höhere Ganzheit werden, bis das All unter seiner Herrschaft ein Organisches geworden. "45 Diese Aussage ist gleichzeitig als Erläuterung der Forderung nach „unendlichem Drang" zu verstehen, den Riezler, wie bereits angedeutet, den Deutschen als Palliativ gegen „äußerlich tüchtige Mittelmäßigkeit" so dringend empfiehlt. Daß es sich hierbei keineswegs um eine ins Unverbindlich-Allgemeine entrückte Spekulation handelt, sondern um eine speziell auf deutsche Verhältnisse anwendbare Formel, beweisen nicht nur Riezlers Rechtfertigungsversuche der Annexionspolitik Preußens gegenüber Polen unter dem Gesichtspunkt völkischen Expansionsstrebens 46, sondern auch die kurz nach Erscheinen der Er/ orderlichkeit in Gestalt des „Septemberprogramms" konkretisierten und in Gesprächen mit Bethmann während der Jahre 1915-16 ventilierten Pläne der Errichtung einer „deutschen Vorherrschaft über Mitteleuropa"47. Darüber hinaus ist aus Riezlers Tagebuchnotizen von 1914-16 zu ersehen, daß er ernsthaft die Möglichkeiten eines „deut99

sehen Aufstiegs zur Weltherrschaft" 48 oder auch das „Problem der deutschen Weltbezwingung" erörterte 49. Die Definition der Völker als ständig in Ausdehnung begriffener Organismen impliziert, daß angesichts der Existenz mehrerer derartiger Zweckeinheiten früher oder später eine Konfrontation derselben stattfinden muß. Die Wege der Völker, so erklärt Riezler, müßten sich „irgendwann einmal" kreuzen „und die Völker, wenn sie immerzu fortschreiten, sich schließlich feindlich begegnen". So sei jegliche internationale Freundschaft, sofern nicht Ansatz zur Bildung neuer Völker, nur „Aufschub der Feindschaft" 5 o. Riezlers Darlegungen kulminieren schließlich in der apodiktischen Feststellung: ,,Da also den Beziehungen der Völker der Idee nach Feindschaft zugrunde liegt, und alle Freundschaft immer nur Folge der Konstellation ist, die Staaten aber der Idee nach auf die Völker eingestellt sind [Riezler betrachtet den Staat als „Körperlichkeit" des Volkes, E.-W. K.], ist Feindschaft auch für die Beziehungen der Staaten untereinander erstes und unterstes Gesetz."51 Diese These entstammt dem terminologischen Arsenal des Sozialdarwinismus. Speziell das „Gesetz der Feindschaft", aber auch die organologische Bestimmung des Menschen hat Riezler bis in Einzelheiten der Formulierung hinein von dem Gumplowicz-Schüler Gustav Ratzenhofer übernommen 52. Folgen wir der Klassifikation des Sozialdarwinismus durch Richard Hofstadter in eine dynamische, d. h. auf militärisch-ökonomische Expansion zielende Stoßrichtung auf der einen und eine statische, zum Zwecke ungehinderter äußerer Machtentfaltung auf die Erhaltung des innenpolitischen status quo gerichtete Erscheinungsform auf der anderen Seitess, so sind die oben zitierten Passagen der ersteren zuzurechnen. In der Er/ orderlichkeit findet sich jedoch auch die zweite Variante. Sie ergibt sich schon aus der immanenten Logik des Systems. Da die Zweckeinheit des Volkes als „höhere Ganzheit" dem Individuum übergeordnet ist, resultiert aus dieser Staffelung eine entsprechend abgestufte Ethik. Das „überindividuelle Gute" rangiert vor dem „individuell Guten"54 oder in der Diktion Riezlers: ,,Das Ethos des Volkes zeigt dem Individuum den im tieferen Sinne richtigen Weg, und in vielfachen Irrungen findet das Individuum am Wesen seines Volkes sich am besten zurecht." 55 Die Folge dieses genuin Riezlerschen ethischen Relativismus für den innenpolitischen Sektor besteht darin, daß der Staat „im Namen des Volkes" unbegrenzte Forderungen an den einzelnen Bürger stellen darf. Gemäß dem ,,Gesetz der Feindschaft" finden die staatlichen Ansprüche gegenüber dem auf den Status des Befehlsempfängers reduzierten Un100

tertan ihren „Rechtsgrund" in der „äußeren Notwendigkeit des Kampfes" 56 • Letztere dient als Legitimationsbasis für die ungehinderte Entfaltung der denkbar größten Machtfülle eines staatlichen Leviathan, welchem allgemein die Tendenz eignet, ,,alles zu verschlingen", speziell aber eine solche „zur Nivellierung, zur Züchtung eines für den äußeren Kampf brauchbarsten Typus"57 und der zwecks „Erzeugung" des besagten „Typus" bereit ist, ,,um seinetwillen den bunten Reichtum gegenwärtiger und künftiger Individuen zum Opfer" zu bringen 58 • Riezlers vom Selektionsprinzip geprägtes Gesellschaftsmodell ist nicht nur sozialdarwinistisch inspiriert, sondern es finden sich darin auch vulgarisierte Elemente der idealistischen Staatslehre Fichtes. Das läßt sich anhand einer längeren Tagebucheintragung vom 4. 12. 1915 demonstrieren, in welcher sich im Zusammenhang mit der nachdrücklich betonten Ablehnung westlicher sozialer Ordnungsvorstellungen und der Skizzierung der entgegengesetzten eigenen Position manche Anklänge an die oben dargestellte Auffassung finden: ,,Nachdenken über die enormen ideellen Gegensätze zwischen uns und Westeuropa. Wir sind thatsächlich ein fremdes, der ganzen übrigen Welt entgegengesetztes, für sie unverständliches Princip. Man sieht ganz ehrlich in uns die Quelle der Unfreiheit. Wir mit ebensolcher Ehrlichkeit uns als den Hort der wahren Freiheit. Zwei verschiedene Freiheitsbegriffe: Der Westen, praktische Freiheit ohne Reglementierung, mit möglichst wenig faktischen Concessionen des Individuums an den Staat, Freiheit des Individuums vom Staat, Freiheit durch Gleichheit, Formel der französischen Revolution. Unsere Freiheit etwas ganz anderes. Schwierigkeit, eine der Formel von 1789 entgegenzusetzende zu finden. Am besten die Fichtes: Verwirklichung der Freiheit durch den Staat. In allem praktischen zu jeder Concession an den Staat bereit, dessen Stärke die Grundlage einer Freiheit sein soll, in der jeder nach seinen Kräften, aber nicht gleich, gewertet und verwandt werden soll. Freiheit durch Ordnung. Staat als ein überindividuell organisches. Das organische an ihm auf die Organisation gestellt, nicht so wie in Frankreich und England, auf die Gemeinsamkeit der Gesinnung."•9 Die durch die kuriose Kombination von Sozialdarwinismus und epigonalem Idealismus gekennzeichnete ,Staatslehre' Riezlers ist von ihrem Schöpfer im Mai 1916 in einem anonymen Beitrag zur seinerzeit angesehenen Europäischen Staats- und WirtschaftsZeitung unter dem Titel Deutsche Mission schließlich zum Programm erhoben worden, das es zumindest gegenüber den europäischen Staaten auch gewaltsam zu verwirklichen galt. In diesem 101

Artikel gibt Riezler seiner Hoffnung Ausdruck, daß Deutschland mit seinen „Auffassungen von der geistigen Persönlichkeit, von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation und seiner Lehre vom Staat, der rücksichtslos seine Lebensnotwendigkeiten verfolgen darf, weil er die Verkörperung und die Vollendung der sittlich vernünftigen Zwecke darstellt", zur europäischen Führungsmacht aufsteigen werde 6 o. Das Gesellschaftsmodell Riezlers liegt hiermit in seinen wesentlichen Zügen vor. Auch mit den Grundzügen der Weltpolitik in der Gegenwart, welche übrigens im Gegensatz zur Erforderlichkeit des Unmöglichen schon ihrer aktuellen Thematik wegen eine große Resonanz in der deutschen Öffentlichkeit fanden 61, eröffnen sich keine grundsätzlich neuen Perspektiven gegenüber dem bisher Dargestellten. Daher braucht auf dieses Werk nur kurz eingegangen zu werden. Riezler übernimmt expressis verbis den gesamten ,theoretischen' Ansatz der Erforderlichkeit und beschränkt sich auf lediglich graduelle Modifikationen des bekannten Paradigmas. So präsentiert sich der völkische Expansionsdrang nunmehr im Gewand eines nicht minder aggressiven Nationalismus, womit Riezler seinem eklektizistischen System eine weitere, seinerzeit aktuelle Ideologie inkorporiert hat. Gerade am Beispiel des nach 1900 in ganz Europa virulenten Nationalismus zeigt sich in wünschenswerter Deutlichkeit die unkritische Position Riezlers. In Ermangelung substantiell vernünftiger, d. h. über den Bereich zweckrationaler Kriterien hinausgehender Maßstäbe zur Beurteilung geistiger Phänomene zog er den Fehlschluß von der Geschichtsmächtigkeit einer Idee auf deren Realitätsgehalt. Er selbst hat sein beschränktes analytisches Vermögen in diesem Punkte mit dem entlarvenden Ausspruch dokumentiert: ,,Was auf der einen Seite ein Streit um die Wahrheit von Ideen ist, ist auf der anderen die Frage nach der Mächtigkeit von Kräften. Im Grunde ist es aber ein und dieselbe Frage: je mächtiger die Kraft ist, als deren Richtungspunkt die Idee erscheint, desto wahrer wird die Idee sein."62 Riezler hat in den Grundzügen unterschieden zwischen einem sogenannten extensiven Wachstumsbedürfnis der Nationen und einem „Streben nach Intensität" bzw. dem „Wachstum in die Breite" ein „Wachstum in die Tiefe" entgegengestellt. In diesem Zusammenhang bezieht er wiederum die Warte des Kulturkritikers, wenn er feststellt: ,,Man spricht und schreibt viel mehr von einer Ausdehnung der deutschen Macht als von einer Vertiefung und inneren Bereicherung des deutschen Wesens. Man mißt mit 102

Zahlen die wirtschaftliche Expansion und vergißt, sich zu fragen, ob diesem Wachstum in die Breite auch ein Wachstum in die Tiefe entspreche, ob sich das deutsche Wesen vertieft oder nicht etwa verflacht habe. " 63 Der Schein, hier handle es sich um eine rationale Kritik geistiger Verfallserscheinungen, trügt. Das zeigt sich alsbald, wenn man untersucht, was mit dem „Streben nach Intensität" gemeint ist. Riezler paraphrasiert diesen Begriff mit der Forderung nach einer „Stärkung des inneren organischen Zusammenhangs"64 der Nation und kommt in einer resümierenden Charakterisierung von „extensivem" und „intensivem" nationalen Wachstumsbedürfnis als den konstitutiven Antriebskräften der „nationalen Tendenz" zu der Einsicht, der Zusammenhang beider Komponenten lasse sich „als die Steigerung des Organischen selbst" betrachten: ,,Immer organischer, in immer höherem Sinne Organismus zu werden, scheint das Ziel."&s Mit solchen Formulierungen kehrt Riezler zum bereits bekannten organologischen Modell des totalen, durch Expansion ( = ,,extensives Wachstum") und Repression ( = ,,intensives Wachstum") gekennzeichneten Staates zurück, welches er nicht nur für das Reich als richtungsweisend propagierte, sondern auch anderen Nationen zu oktroyieren gedachte. Den auf Geibel zurückgehenden, aber von Wilhelm II. umformulierten Ausspruch, am deutschen Wesen werde die Welt genesen, schätzte er denn auch als „überaus präzise und glückliche Wendung" und fügte emphatisch hinzu: ,,In der Taf: diese wenigen Worte geben das Tiefste des nationalen Willens wieder. Traurig die Nation, die nicht mehr glaubt, daß an ihrem Wesen die Welt genesen werde." 66 Abschließend bleibt noch zu prüfen, in welchem Verhältnis das Ergebnis dieser in ihren wichtigsten Zügen umrissenen „Theorie der Politik" zum Anspruch steht, der ihrer Konzeption zugrunde lag. Riezler war unter dem Eindruck der Erfahrung der für die wilhelminische Gesellschaft charakteristischen Diskrepanz von Macht und Geist angetreten, der diagnostizierten Dekulturationstendenz entgegenzuwirken und eine intellektuelle Erneuerung unter idealistischem Vorzeichen zu inaugurieren. Er hoffte, mit der eigenen Lehre den Anstoß für die gewünschte Wende geben zu können. Es galt, die in den Augen Riezlers für das weitere Schicksal der Nation entscheidende Aufgabe zu lösen, ,,das tiefere Wesen des Volkes" vor dem Abgleiten in eine „äußerlich tüchtige Mittelmäßigkeit" zu bewahren und das von „flachem Materialismus" deformierte Bewußtsein der Deutschen mit dem Inhalt „ewiger und absoluter Werte" zu erfüllen. Bei diesem Unternehmen 103

sollte die gegebene und von Riezler nicht zur„ Disposition gestellte Herrschaftsstruktur des Reiches unangetastet bleiben. Es kam also darauf an, eine Symbiose von imperialistischem Machtstreben und neoidealistischem Geist herbeizuführen. Das Resultat derartiger Bemühungen besteht im weltanschaulich ,begründeten' Entwurf einer durch Expansion auf außenpolitischer und Repression auf innenpolitischer Ebene gekennzeichneten Sozialordnung, welche sich deutlich am Vorbild des autoritären wilhelminischen Obrigkeitsstaates orientiert. Damit hat sich Riezler jedoch in eine aussichtslose Lage manövriert: Die Konservierung, ja Recht/ ertigung bestehender, geistfeindlicher gesellschaftlicher Verhältnisse, auf die der vorgelegte „Weltentwurf" tatsächlich hinausläuft, schließt nämlich die Möglichkeit einer gleichzeitigen Erneuerung derselben aus. Eine echte intellektuelle Renovatio wäre nur dann möglich gewesen, wenn das für das herrschende System konstitutive Verständnis von politischer und sozialer Ordnung prinzipiell in Frage gestellt worden wäre und somit auch jenes System selbst. Um eine derart fundamentale Kritik üben zu können, hätte es jedoch des externen Standorts eines unabhängigen Beobachters bedurft, den Riezler weder innehatte noch einzunehmen bereit war. Wir sind hiermit schon in die Erörterung der Frage eingetreten, warum die ehrgeizigen Pläne Riezlers zum Scheitern verurteilt waren. Die Antwort ist auf zwei Ebenen zu suchen. Zum einen ist aus soziologischer Perspektive der Umstand von entscheidender Bedeutung, daß der Berater Bethmanns als Aufsteiger in die politische Führungsschicht das reaktionäre Selbstverständnis ihrer Repräsentanten nicht gut öffentlich hätte zur Diskussion stellen können, ohne seine eigene Position aufs Spiel zu setzen. Er war demnach zu weitgehendem Konformismus verdammt. So gereichte ihm zum Verhängnis, was er als Chance gesehen hat: Er glaubte, aus exponierter Stellung heraus die Wirkung seines Denkens potenzieren zu können, wurde aber durch eben jene Stellung daran gehindert, substantielle Kritik zu üben, welche erst die Voraussetzung für eine Neuorientierung geboten hätte. Der zweite Grund für das Mißverhältnis zwischen Anspruch und Realisierung besteht darin, daß Riezlers Schriften keine Alternative zu den Bewußtseinsmustern darstellten, welche um 1900 in Deutschland dominierten. Vielmehr vermochte sich ihr Autor nicht aus der Verstrickung des deutschen intellektuellen Milieus der Vorkriegszeit zu lösen. Mit seiner explizit ausgesprochenen Ablehnung westlichen politischen Denkens, die einem in der wilhelminischen Intelligenz weitverbreiteten Vorurteil entsprach 67 , be104

raubte er sich selbst der Möglichkeit zu rationaler Analyse der beklagten Phänomene kultureller Dekomposition. Erst eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme jedoch hätte die Prämisse für die angestrebte Bewußtseinsänderung der Deutschen bilden können. So aber meinte Riezler, der „allgemeinen Erschlaffung des Idealismus" entgegenwirken zu müssen, wo es in Wahrheit einen Fehlbestand an Vernunft zu beheben gegolten hätte. Als Ergebnis dieser Fehleinschätzung bleibt eine politische Konzeption, welche nach dem Urteil W. J. Mommsens „in den weiteren Umkreis der präfaschistischen Ideologie gehört und den Ideen der sog. ,Konservativen Revolution' der 20er Jahre durchaus nahesteht"6 8 •

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3. Durdlbruch zur Welt: Thomas Mann von Thomas Hollweck

„Denn das Deutsche und das Bürgerliche, das ist eins; wenn ,der Geist' überhaupt bürgerlicher Herkunft ist, so ist der deutsche Geist bürgerlich auf eine besondere Weise, die deutsche Bildung ist bürgerlich, die deutsche Bürgerlichkeit human - woraus folgt, daß sie nicht, wie die westliche, politisch ist, es wenigstens bis gestern nicht war und es nur auf dem Weg ihrer Enthumanisierung wird .. ." 1 Diese Stelle findet sich im zentralen Kapitel der von Thomas Mann während des Ersten Weltkriegs geschriebenen Betrachtungen eines Unpolitischen, im Kapitel ,Bürgerlichkeit'. Ein wenig später steht dort zu lesen: ,,Ist nicht deutsches Wesen die Mitte, das Mittlere und Vermittelnde und der Deutsche der mittlere Mensch im großen Stile? Wenn es schon deutsch ist, Bürger zu sein, so ist es vielleicht noch deutscher, etwas zwischen Bürger und Künstler, auch etwas zwischen einem Patrioten und Europäer, zwischen einem Protestler und Westler, einem Konservativen und einem Nihilisten zu sein [... ]" 2 Beide Passagen verdienen zu Beginn dieser Studie über Thomas Mann als eines Exponenten des deutschen Bildungsbürgertums zitiert zu werden, weil sie schlagartig einen Sachverhalt beleuchten, der die Entwicklung des deutschen Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert kennzeichnet: Die Maskerade einer politischen Klasse. Denn das hervorstechende Element in den beiden Äußerungen Thomas Manns ist die Plastizität, die der politische Standes- und Klassenbegriff Bürgertum dort annimmt, so daß er unter der Hand zu einer Substanz wird, welche in bereits bestehende wirtschaftliche, politische und geistige Herrschaftsformen hineingegossen werden kann. Diese plastische Substanz, bei Thomas Mann nicht Bürgertum, sondern Bürgerlichkeit genannt, besitzt eine Empfänglichkeit für Formen, die ihr nicht wesenseigen sind, und kann daher mit Realitätsbereichen wie ,Geist', ,Humanität', ,Bildung' und ,Deutschland' identifiziert werden, wie dies in den Betrachtungen geschieht. Sie kann überdies ein Eigenleben als Scheingegenstand von Erfahrungen führen, wie denen, die Mann dazu veranlassen, ein Zwischenreich der Vermittlung zwischen politischen Gegensätzen spekulativ hervorzudenken und dieses Zwischenreich endlich gar ,dem Deutschen' als Daseinsbereich zuzuweisen. Was liegt diesem Sachverhalt zugrunde? Wir wissen, daß Mann die Betrachtungen eines Unpolitischen zu einem Zeitpunkt schrieb, 106

als der Eroberungskrieg sich in einen zermürbenden Stellungskrieg verfestigt hatte, und die Betrachtungen lesen sich in der Tat als Versuch, aus den Stellungen herauszukommen, die Initiative zu ergreifen, was auch immer der Ausgang der Aktion sei. Das Buch ist der Versuch eines Durchbruchs. Bei einem militärischen Durchbruch ist es wichtig, daß man die relativen Positionen der eigenen und der gegnerischen Stellungen genau kennt, damit man sein taktisches Ziel erreicht und nicht von den eigenen Linien abgeschnitten wird. Um die Bestimmung von Positionen ging es auch Thomas Mann in den Betrachtungen; mehr jedoch als die Stellung des Gegners kümmerte ihn die eigene, und gerade hier herrschte Verwirrung. Denn es verhielt sich so, ,,daß kein Unterschied mehr erkenntlich war zwischen dem, was den einzelnen anging und nicht anging; alles war aufgeregt, aufgewühlt, die Probleme brausten ineinander und waren nicht mehr zu trennen"a, und die einstige Position des Künstlers Thomas Mann mit ihrer sorgfältigen Trennung des Kunstwerks vom ,Leben' hatte bereits mit dem Ausbruch des Krieges ihren Sinn verloren. Das ,Leben', das Thomas Mann, der Künstler, meint, ist nun aber nicht das soziale, politische Leben der Nation, es ist etwas anderes, etwas Innerliches: ,,Nie wird [der deutsche Mensch] unter dem ,Leben' die Gesellschaft verstehen, nie das soziale Problem dem moralischen, dem inneren Erlebnis überordnen. Wir sind kein Gesellschaftsvolk und keine Fundgrube für Bummelpsychologen. Das Ich und die Welt sind die Gegenstände unseres Denkens und Dichtens, nicht die Rolle, welches ein Ich sich in der Gesellschaft spielen sieht, und nicht die mathematisch-rationalisierte Gesellschaftswelt, die den Gegenstand des französischen Romans und Theaters bildet - oder bis vorgestern bildete. " 4 Die Verwischung dessen, was den einzelnen angeht und nicht angeht, führt also den Künstler und ,den Deutschen' nicht etwa zur sozialen Kritik, zur Bestimmung seiner Rolle in der Gesellschaft, zur kritischen Analyse der Rollen anderer in der Gesellschaft, sondern vielmehr zur Reflexion über Ich und Welt. Damit ist ein entscheidendes Grundproblem der geistig-politischen Ordnungsvorstellung Thomas Manns in jener Zeit ausgesprochen, welches keineswegs kriegsbedingt ist. Denn bereits vor dem Krieg ist es voll entwickelt und findet sich als Eintragung in den Notizen zu Geist und Kunst (1909), wo es heißt: ,,Zeitkritik im Grunde Selbstkritik. Viele der kritisierten Tendenzen auch in mir. Damit, daß man sie darstellt, verneint man sie noch nicht, und doch bringt die Reizung u[nd] Irritation durch die Erkenntnis, die Schärfe des Wortes einen polemischen, scheinbar feindseligen Ton

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mit sich. Bosheit gegen das Unbewußte." 5 Die Realität, die in Ich und Welt zerfällt, ist unzureichend differenziert. Es fehlt die Dimension der Gesellschaft. Der Unordnungszustand der Gesellschaft entzieht sich daher dem analytischen Griff des Autors. Das Ich, welches die Welt kritisch darzustellen vermeint, hat sich in den Dienst einer Erkenntnis gestellt, die gar nicht Differenzierung der Wirklichkeit sucht, sondern Sympathie mit dem Erkannten will und dabei zum Ressentiment gegen jenen Teil des Ich führt, in dem die ,Tendenzen' der Zeit auf kritischen Widerstand stoßen. Der Zusammenbruch der Trennung von Ich und Welt - im Falle Manns, des leidenden und werbenden Interesses an dem als ,Welt' verstandenen wilhelminischen Bürgertum - erfolgt gleich bei Ausbruch des Weltkriegs. Ich und ,Welt' fallen in jenem Augenblick zusammen, und ,Reizung' und ,Irritation' begleiten jetzt die Erkenntnis einer ,Welt' jenseits der zur Einheit verschmolzenen Pole von dichterischem Ich und Deutschland. Mann ist sich dabei im Grunde bewußt, daß sich die beiden Bereiche nicht decken. Stets wünscht er sich eine ,Welt', die sich wie er der Selbstkritik unterzogen hat, und erst nach 1918 merkt er, daß dies weder in Deutschland noch in der Welt der Gegner Deutschlands geschehen ist. Sein Denkfehler aber liegt in der Polarisierung der Wirklichkeit in Ich und Welt, wobei das Ich sich durch Selbstkritik bildet und die Welt Grund und Gegenstand einer Sehnsucht ist, die zu immer neuen Durchbruchsversuchen anreizt. Die Gesellschaft aber ist die Gesamtheit all derer, die „Ich" sagen, wie es in den Buddenbrooks heißt, und Schockerlebnisse wie der Erste Weltkrieg harmonisieren diese Gesamtheit der Ich-sagenden soweit, daß Identifizierungen wie die eingangs zitierten zwischen ,Bürgerlichkeit', ,Humanität', ,Bildung', ,Mitte' und ,deutschem Wesen' durchaus nicht mehr als Tautologien eines vagen Denkens mißverstanden werden können. Sie haben ihren Ursprung vielmehr in der Erscheinung des deutschen Bürgertums selbst und in einer Entwicklung, die im folgenden näher bestimmt werden soll. Die Mineralogie kennt eine Erscheinung, die sie Pseudomorphose nennt. Kristalle, die in einer geologischen Schicht gelagert sind, können sich aufgrund vulkanischer Eruptionen und anderer Erdbewegungen auflösen. Das freigewordene Formbett im Gestein kann dann von einer neuen kristallinen Substanz ausgefüllt werden, die, sich dem Formbett anpassend, die Form des ursprünglichen Kristalls annimmt, obwohl diese der neuen kristallinen Substanz ihrer chemischen Zusammensetzung nach nicht zukommt. Der Betrachter des Kristalls könnte es daher ohne chemische Analyse für ein Exemplar des ursprünglichen Typs halten. Im 108

Untergang des Abendlandes hat Spengler diese mineralogisdle Täuschungserscheinung in die Kulturgeschidlte übertragen und die Pseudomorphose als jene historischen Prozesse bestimmt, in denen eine aufsteigende Kultur unter dem Druck einer bereits bestehenden, fremden Kultur nicht zur vollen Entfaltung ihres gesellsdlaftlichen Selbstbewußtseins gelangt, d. h. ihr fremde Ausdrucksformen annimmt. Als Beispiele führt Spengler u. a. die Begegnung zwisdlen Hellenismus und den nahöstlichen Kulturen, sowie die Überlagerung des moskovitischen Altrussentums durch die von Peter dem Großen eingeführte westliche Kultur an6. Die Entwicklung des deutschen Bürgertums im Rahmen der Fürstentümer des deutschen Reimes erwähnt er nicht. Dodl gerade hier läßt sich ein ausgezeichnetes Beispiel für die Erscheinung der Pseudomorphose erblicken.

Es gibt zwei Quellen des deutschen Bürgertums. Die eine liegt in den freien Reichsstädten des Spätmittelalters und führt in einigermaßen geradliniger Entwicklung in das 19. Jahrhundert. Die andere liegt in den deutschen Fürstentümern und ist sozial, wirtschaftlich und politisch ein Produkt des Absolutismus. Beide Stränge vereinigen sidl im 19. Jahrhundert mit dem Ende des alten Reiches, und eine neue bürgerliche Klasse beginnt ihre Entwicklung unter anfangs ungünstigen wirtsdlaftlichen Bedingungen, die mit der verspäteten Industrialisierung Deutschlands zusammenhängen. Das aufkeimende Selbstverständnis dieser Klasse orientiert sich vorwiegend am anti-absolutistischen, revolutionäraufklärerischen Selbstverständnis der französischen Bourgeoisie - besonders im Westen und Südwesten Deutschlands -, paßt sich aber in dem Maße, in dem das Bürgertum wirtschaftliche Bedeutung erlangt, dem Ordnungsdenken des Staates an, in dem die wirtschaftliche Entwicklung am dynamischsten ist, nämlich demjenigen Preußens. Im preußischen Staat, mit seiner Hierarchie von Militär, Beamtentum und Großgrundbesitz, wird das Bürgertum wirtsdlaftlidl so gestärkt, daß es glaubt, sich den Kampf um die politische Vormacht ersparen zu können, da sein Wadlstum direkt aus den politischen und militärischen Erfolgen Preußens hervorzugehen scheint. Damit gibt das Bürgertum aber nicht nur den Kampf um die Macht auf, sondern vor allem den inneren Prozeß der Entwicklung eines Selbstverständnisses, der sidl erst mit der Transformation eines sozialen Standes in eine politische Klasse aktualisiert. Statt dessen sieht sich das Bürgertum als einen unter den staatstragenden Ständen, deren bereits festgelegte Ordnungsvorstellungen es damit übernimmt. Mit der Reidlsgründung spä-

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testens wird das preußische Modell überwiegend verbindlich für das Bürgertum im restlichen Deutschland. Diesen Prozeß der fehlenden politischen Artikulation bei gleichzeitigem wirtschaftlichen Machtzuwachs und das Eingehen einer dynamischen Gesellschaftsklasse in eine bestehende politische Ordnung, die ohne diese Klasse entstanden war, sehen wir als die Pseudomorphose des deutschen Bürgertums. Wenn man die Lage des deutschen Bürgertums im Licht der Pseudomorphose sieht, dann erhält die besondere Situation des sogenannten Bildungsbürgertums, also der Schicht der Akademiker und der Künstler, einen zusätzlichen Grad von Komplexität. Denn die revolutionäre Dynamik der Bourgeoisie entstand prinzipiell - so in Frankreich, aber auch in England - aus dem Zusammenwirken von Industrialisierung und einer intellektuellen Avantgarde, deren geistige Ordnungskonzeptionen in den Sozial- und Naturwissenschaften ihren Ausdruck fanden und die durch ihr erfolgreiches Zusammenwirken mit der unternehmenden Mittelklasse zum politischen Selbstverständnis der Gesamtgesellschaft entscheidend beitrug. Dies war in Deutschland nicht der Fall. Die strikte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften, die den Geisteswissenschaften einen höheren Rang zuwies, bewirkte, daß die Naturwissenschaften sich mit dem Bereich des Pragmatisch-Nützlichen zu begnügen hatten, während die Fragen des Sinnes, also die Dimension der gesellschaftlichen Selbstinterpretation, die Domäne der Geisteswissenschaften blieben. Andererseits schloß die Allianz des Nutzens zwischen industriellem Bürgertum und den alten Ständen der Macht Geisteswisenschaftler und Künstler aus, und diese befanden sich folglich in einer ambivalenten Stellung gegenüber der bestehenden Ordnung, deren offizielle Deuter sie sein wollten und als deren Opfer sie sich gleichzeitig fühlten. Dieser Grunderfahrung der Ortslosigkeit entspricht der Pluralismus der ,Ismen' und Stile, von dem Jost Hermand in seinen Darstellungen der Literatur und Kunst der Jahrhundertwende spricht7. Das Streben der Geisteswissenschaftler und Künstler jener Zeit ging dahin, eine unzureichend plausible politische Ordnung entweder nachträglich zu legitimieren oder durch die Schöpfung von Gegenbildern zu sakralisieren. Der literarische Naturalismus, der einzige größere Versuch der Gebildeten, den Anschluß an die gesamteuropäische Erfahrung der Industrialisierung zu gewinnen und darauf ein ihr entsprechendes Selbstverständnis zu gründen, verlief mit dem Ende der wirtschaftlichen Krise in den neunziger Jahren im Sande. Gegen diesen Hintergrund ist nun das Werk Thomas Manns zu 110

sehen, in dem das Phänomen der Pseudomorphose der Erfahrungsgrund nachdrücklichen und zähen Fragens wird, das sich in der symbolischen Form des Verhältnisses von Bürger und Künstler niederschlägt. Stärker als viele seiner Zeitgenossen fühlte Mann, daß die künstlerische Existenz nicht als simple menschliche Grundform gegeben ist, sondern daß die unmittelbaren Erfahrungen des Künstlers aus seiner biographischen Situation in Gesellschaft und Geschichte hervorkommen. Diese Einsicht war jedoch nicht das Ende einer erfolgreichen politischen Selbstreflexion, sondern vielmehr der problematische Anfangspunkt, an dem Beobachtung und Reflexion einsetzen mußten. Denn es handelte sich bei Thomas Manns Erfahrung um eine Gleichung mit zwei Unbekannten. Bekannt war nur der biographische Komplex: Der Sohn des Lübekker Getreidekaufmanns und Senators, der das väterliche Unternehmen zu leiten bestimmt war, fand, daß ihn das Schreiben von Gedichten und Erzählungen mehr befriedigte als die Aussicht, eines Tages die Geschäfte des Vaters führen zu dürfen. Besonders die erzieherischen Methoden, mit denen die Schule ihn auf seine kaufmännische Laufbahn in den Jahren der Gründerzeit vorbereitete, ließen den Jungen daran zweifeln, daß es sich bei dem väterlichen Leben um etwas Erstrebenswertes handelte. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1891 stellte sich dann heraus, daß die wirtschaftliche Stellung der Familie Mann in den vorangegangenen Jahren geschwächt worden war. Immerhin reichte aber das verbleibende Vermögen aus, den Brüdern Mann ihre Unabhängigkeit als freie Schriftsteller zu sichern. Manns künstlerisches Selbstverständnis ist von Grund auf durch seine Stellung als Lübecker ,Patriziersohn', als Verweser des Erbes seiner Vorfahren bestimmt. Seine Rebellion gegen dieses Erbe hatte darin bestanden, es nicht anzutreten, zumindest nicht in der Form, in der er es hatte antreten sollen, in der Rolle des Großkaufmanns. Die Rebellion war soweit erfolgreich gewesen. Gleichzeitig aber schien es, als ob das, wogegen er rebelliert hatte, ohnehin schon im Niedergang begriffen sei und auch ohne seine Rebellion sein Ende gefunden hätte. Eben dies gibt nun dem Selbstverständnis Thomas Manns seine entscheidende Richtung. Denn hier hatte nicht der Sproß eines wirtschaftlich und politisch starken Großbürgertums gegen erdrückende väterliche Autorität gekämpft und gesiegt. Die Geschichte stellte sich Mann anders dar: Ein einstmals blühendes hanseatisches Familienunternehmen, das dieser Familie im engen Rahmen der Hansestadt Lübeck die Stellung gesellschaftlicher und 111

politischer Autorität verschafft hatte, war von außen durch die Entwicklung Deutschlands unter preußischer Hegemonie geschwächt worden. Diese Schwächung manifestierte sich im Inneren in einer Art Desorientierung, verbunden mit einer Fehleinschätzung des eigenen Selbst, die sich in schlechten wirtschaftlichen Verbindungen mit der Welt außerhalb Lübecks niederschlug, gleichzeitig aber auch zu einer Überschätzung des eigenen Potentials führte. Die Rebellion Manns war also keine Revolte gegen eine etablierte Macht, sondern ein Akt der Resignation. Die Verwandlung des alten hanseatischen Bürgers in den Künstler war daher keine Emanzipation, sondern Verzicht auf Macht. Was hier als Thomas Manns biographische Erfahrung geschildert wird, ist ,in Wirklichkeit' die symbolische Handlung von Manns erstem Roman, Buddenbrooks (1901). Der Roman ist eben darum kein Tatsachenbericht, sondern Auslegung der Erfahrung eines Bürgersohns, der seine dichterische Existenz auf ihren Grund hin untersucht. Dieser Grund wird in Buddenbrooks in die Vergangenheit verlegt, und es wird gezeigt, daß der Dichter am Ende der Entwicklung zum Machtverzicht des Bürgers steht. Diese Entwicklung folgt einer internen Gesetzmäßigkeit, deren Ursachen im Bürger und nicht in der Gesellschaft im Ganzen oder in der Geschichte liegen. Der Roman nimmt von der deutschen Gesellschaft und ihrer Geschichte im 19. Jahrhundert wenig Notiz. Denn die Geschichte des Bürgers in Buddenbrooks ist eben die Geschichte seines Abfalls, seines Herausfallens aus Gesellschaft und Geschichte. Lübeck und die Familie Buddenbrook sind die Realitätsbereiche, die allein der Darstellung zugänglich sind. Außerhalb ihrer befindet sich die ,Welt'. Geschichte in Buddenbrooks ist die Geschichte der fortschreitenden Isolierung der Familie, zuerst von der Welt außerhalb Lübecks, dann von Lübeck, bis schließlich eine Verengung der Wirklichkeit auf das einsame Ich des letzten Chefs des Hauses Buddenbrook, Thomas, sich vollendet. In diesem Ich bäumt sich der Wille zur Rückgewinnung von Welt und Geschichte in einem Moment dionysischen Rausches noch einmal auf und verkündet die innere Zusammengehörigkeit Schopenhauerscher Weltverneinung und Nietzscheschen Willens zur Macht als den Sieg des Ichs über die Realität. Der Lübecker Patrizier, der weder westfälischer Industrieller noch ostelbischer Großgrundbesitzer ist, verwirklicht seinen Willen zur Macht im Traum vom reinen und grausamen Knaben, der „irgendwo in der Welt" aufwächst, und auf den seine Individualität, von den Fesseln ihrer Bürgerlichkeit befreit, übergehen wird 8• Der Bürger Thomas Buddenbrook, der die Grenzen seiner Individualität sprengen will, der nicht mehr 112

sein will, was er ist, sondern was er „nicht ist, nicht kann und nicht hat" 9, wird zum Sprecher der bürgerlichen Pseudomorphose. Wie gut diese damals erst intuitiv richtige Auslegung der Mannsehen Erfahrung der kritischen Analyse standgehalten hat, zeigt sich in den bekannten Sätzen über Richard Wagner, die Mann 1933 schrieb: ,,Die Teilnahme an den revolutionären Umtrieben von 1848, die ihn ein zwölfjähriges Exil kostete, hat er später, als er sich des ,ruchlosen' Optimismus schämte und die gegebene Tatsache von Bismarcks Reich, so gut es gehen wollte, mit der Verwirklichung seiner Träume verwechselte, nach Möglichkeit verkleinert und verleugnet. Er ist den Weg des deutschen Bürgertums gegangen: von der Revolution zur Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, machtgeschützten Innerlichkeit. " 10 Thomas Buddenbrook, der Kaufmann, und Richard Wagner, der Künstler, gehören mit ihrer ,Großmannssucht' zum ,zarten Geschlecht von 1870'11, dem Geschlecht derer, die sein wollen, was sie nicht sind, haben und können. Die einzige Existenzform, in der sich so leben läßt, scheint die des Künstlers zu sein. Und so lesen wir im Tonio Kröger (1903): ,,Fragte man ihn, was in aller Welt er zu werden gedachte, so erteilte er wechselnde Auskunft, denn er pflegte zu sagen (und hatte es auch bereits aufgeschrieben), daß er die Möglichkeiten zu tausend Daseinsformen in sich trage, zusammen mit dem heimlichen Bewußtsein, daß es im Grunde lauter Unmöglichkeiten seien." 12 Über Möglichkeiten zu tausend Daseinsformen läßt sich eben nur schreiben, man kann sie nicht verwirklichen. Man kann nur ein ,verirrter Bürger' sein, wie es in der Erzählung heißt. So ist Tonio Kröger „ein Bürger, der sich in die Kunst verirrte, ein Bohemien mit Heimweh nach der guten Kinderstube, ein Künstler mit schlechtem Gewissen" 13 . Die beiden zentralen Symbole der Erfahrung des Künstlers im Tonio Kröger, der Hochstaplerverdacht und die Sehnsucht nach den ,Wonnen der Gewöhnlichkeit', erschließen sich nun der Analyse. Denn als Tonio bei einem Besuch seiner Vaterstadt von den Polizeibehörden unter dem Verdacht, ein Hochstapler zu sein, zur Vernehmung gebracht wird, lüftet er sein Inkognito nicht, weil er innerlich den Staatsautoritäten, der Macht, recht gibt. ,,Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolgedessen ein wenig schwer. Ihr Künstler nennt mich einen Bürger, und die Bürger sind versucht, mich zu verhaften ... " 14 Der Hochstapler ist nicht das, was er zu sein vorgibt, aber er ist auch kein gemeiner Betrüger. Er beherrscht die Kunst, etwas anderes zu sein, etwas, das er insgeheim liebt. Der Künstler Thomas Mann, 113

der die letzte Stufe der bürgerlichen Pseudomorphose ist, ihr feinstes Kritall, er sehnt sich nach dem, was er hätte sein können, wenn die Pseudomorphose nicht stattgefunden hätte. Das ,Gewöhnliche' und die ,Welt' sind die Objekte seiner Sehnsucht. Nur will er es sich nicht eingestehen, daß das ,Gewöhnliche' und die ,Welt' als Gegenstände der Sehnsucht nur in seiner Vorstellung existieren. In Wirklichkeit sind sie die Gesellschaft, die aus dem Bund zwischen Nutzen und Macht hervorgegangen ist. Hier zeigt sich deutlich, warum die Gegenstände künstlerischen Denkens ,das Ich und die Welt' sind, wie es in den Betrachtungen heißt. Manns Behauptung artikuliert die Erfahrung der Pseudomorphose als Sehnsucht des Hochstaplers, nicht mehr Ich zu sein. Diese Sehnsucht des Hochstaplers, nicht mehr Ich zu sein, ist es zuletzt auch, was Thomas Mann und seine bildungsbürgerlichen Zeitgenossen 1914 dazu bringt, sich total mit ihrer Nation zu identifizieren. Bei Mann geht dies soweit, daß er in den Betrachtungen zum Deutschen schlechthin zu werden vermeint, dessen Wesen er in kettenartiger Symbolik durch analoge Begriffe und Namen charakterisiert: ,Unpolitischer', ,Bürger', ,Einsam-öffentlicher', ,Taugenichts'. Daraus spricht die totale Auflösung realer gesellschaftlicher Beziehungen; sie ist die letzte Konsequenz der Pseudomorphose. Später, in der anamnetischen Reflexion auf die psychologischen Hintergründe des Ersten Weltkriegs weitet Mann im Doktor Faustus das Problem des Bürgers auf die gesamte deutsche Gesellschaft aus, deren Nicht-mehr-Ich-sein-Wollen vom Humanisten Zeitblom nun zur Kriegsursache erklärt wird: „Bei einem Volk von der Art des unsrigen [... ] ist das Seelische immer das Primäre und eigentlich Motivierende; die politische Aktion ist zweiter Ordnung, Reflex, Ausdruck, Instrument. Was mit dem Durchbruch zur Weltmacht, zu dem das Schicksal uns beruft, im tiefsten gemeint ist, das ist der Durchbruch zur Welt - aus einer Einsamkeit, deren wir uns leidend bewußt sind, und die durch keine robuste Verflechtung ins Welt-Wirtschaftliche seit der Reichsgründung hat gesprengt werden können. Das Bittere ist, daß die empirische Erscheinung des Kriegszuges annimmt, was in Wahrheit Sehnsucht ist, Durst nach Vereinigung ... " 15 Was da vom ,Seelischen' als dem ,Primären' gesagt wird und ohne Zögern auf ,das Volk' bezogen wird, ist der Mythos des deutschen Bildungsbürgers. Die Sehnsucht derer, die in einer Form gefangen sind, in die sie nicht hineingehören. Diese Sehnsucht bemächtigte sich des Krieges zuerst als des Instrumentes der Befreiung aus der Pseudomorphose. Auch dies ist in Zeitbloms Gedanken beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs ausgedrückt: ,,Die Kultur war 114

frei gewesen, sie hatte auf ansehnlicher Höhe gestanden, und war sie von langer Hand an ihre völlige Bezugslosigkeit zur Staatsmacht gewöhnt, so mochten ihre jugendlichen Träger gerade in einem großen Volkskrieg, wie er nun ausbrach, das Mittel sehen zum Durchbruch in eine Lebensform, in der Staat und Kultur eines sein würden. Hier waltete nun freilich, wie immer bei uns, eine eigentümliche Selbstbefangenheit, ein völlig naiver Egoismus, dem es nicht darauf ankommt, ja, der es für ganz selbstverständlich ansieht, daß für die deutschen Werdeprozesse (und wir werden ja immer) eine ganze, schon fertigere und keineswegs auf Katastrophendynamik versessene Welt mit uns ihr Blut zu vergießen hat. " 16 Manns Analyse der spezifischen Dynamik einer Gesellschaftsschicht im Schatten der Macht, wie des deutschen Bildungsbürgertums, ist vorzüglich. Der Egoismus der verkapselten Mittelklasse ließe sich unschwer bis in die Zeit des Idealismus zurückverfolgen. Seine politische Dynamik erhält dieser Egoismus aber erst, als er aus der politischen Institutionalisierung und Verhärtung ausbrechen will, in die er sich hineinmanövriert hat. Der idealistische Egoismus, aus dem antisozialen Pietismus kommend, kennt die Liebe als gesellschaftliche Tugend nicht. Seine epigonale Spätform, das deutsche Bildungsbürgertum, steht danach ausgeschlossen vor einer wirtschaftlichen und sozialen Situation, die politische Zweckmäßigkeit in Bismarcks Reich diktiert hatte. Nun möchte es dabei sein und macht am Ende den Weltkrieg, die Ausgeburt wirtschaftlicher und politischer Egoismen, zu seinem heiligen Durchbruchsversuch, zum Liebesfest mit der eigenen Gesellschaft und der Welt. Sind diese Analysen des deutschen Bildungsbürgertums verspätete Einsichten eines alten Mannes im Exil, oder waren sie in ihrem Kern bereits vor und während des Ersten Weltkrieges vorhanden? Die Lektüre der Werke Thomas Manns läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß der Autor des Doktor Faustus derselbe ist, der Fiorenza, den Tod in Venedig, die Kriegsschriften Friedrich und die Große Koalition und die Betrachtungen eines Unpolitischen und schließlich den Zauberberg geschrieben hat. Thomas Manns Identität ist aber nicht dadurch hergestellt, daß man sagt: er war eben auch ein Bürger und ein Gebildeter überdies. Damit macht man es sich zu einfach. Denn Mann war kein beamteter Akademiker, kein Pastor, kein künstlerischer Episodiker, kein Historienerzähler. Was er mit den Bildungsbürgern, ja dem Bürgertum überhaupt gemein hatte, war die Suche nach einer neuen Form, von Georg Lukacs allzu vereinfachend als die ,Suche nach dem 115

Bürger' bezeichnet 17 • Denn die Zeit von Thomas Manns Suche nach einer neuen Form des alten Bürgers ist ja die Zeit, in der auch der Bourgeois, Lukacs' ,citoyen' der französischen Revolution, eine neue Form im modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaat fand. Der Bildungsbürger in Thomas Mann ist das dynamische Element, das Manns künstlerischem Spiel mit der Form immer den Charakter des Schlüpfrigen, ja beinahe des Unehrlichen gibt, wenn nicht bemerkt wird, daß die Form nicht im Sein des deutschen Bürgers, sondern in seinem Schein liegt. Der einzige bedeutende Zeitgenosse Thomas Manns, der nicht selbst Bildungsbürger war, Stefan George, sprach 1916 ein hartes Urteil über Mann, wie der George-Jünger Ernst Glöckner berichtete: ,,Auf Thomas Mann ist er schlecht zu sprechen, angeboren unehrlich. Dagegen hält er Wedekind für echt. Er ist ganz der er ist: ein Schwein."18 Georges Worte kommen aus dem Geist Nietzsches, der in der ,zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung' schreibt: ,,Etwas recht wird der Ausländer immer behalten, wenn er uns vorwirft, daß unser Inneres zu schwach und ungeordnet ist, um nach außen zu wirken und sich eine Form zu geben. Dabei kann es sich in seltenem Grade zart empfänglich, ernst, mächtig, innig, gut erweisen und vielleicht reicher als das Innere anderer Völker sein: aber als Ganzes bleibt es schwach, weil alle die schönen Fasern nicht in einem kräftigen Knoten geschlungen sind: so daß die sichtbare Tat nicht die Gesamttat und Selbstoffenbarung eines Inneren ist, sondern nur ein schwächlicher oder roher Versuch irgendeiner Faser, zum Schein einmal für das Ganze gelten zu wollen."19 Die Faser, die zum Schein einmal für das Ganze gelten will, dies ist die Unehrlichkeit, die George bei Mann sieht, und der er die Echtheit des ,Schweins' Wedekind entgegenhält. Die platonische Unerbittlichkeit Nietzsches und Georges hat für die Scheinrepräsentation des deutschen Inneren durch Bildungsbürger wenig übrig, gleichgültig, ob sie sich als Staatsbeamte, Künstler oder ,Einsam-öffentliche', wie Thomas Mann in den Betrachtungen, geben. Die wahre Repräsentation liegt im radikalen Bruch mit der sich als Öffentlichkeit aufspielenden deutschen Innerlichkeit, im Durchbruch zum Äußeren, zur Form als Inhaltsquelle. Ob diese Form nun Demokratie, oder Geist, oder Kunst heißt, Thomas Mann kannte den Wirklichkeitsanspruch der Form doch besser, als George glaubte. Seine Helden kämpfen um die Form. Gustav Aschenbach im Tod in Venedig geht an der Wirklichkeit der Form, der Schönheit des Knaben Tadzio zugrunde. Joachim Ziemßen im Zauberberg, diese ,rein formale Existenz', erliegt dem Ernst seiner Neigung zur soldatischen Existenzform, 116

das Gesicht des Toten aber wird „zu reinster, schweigender Form" 2 0 gefestigt. Endlich ist da Adrian Leverkühn, dem es so ernst mit der Form ist, daß er ihretwillen den Bund mit dem Teufel eingeht. ,,Es gibt im Grunde nur ein Problem in der Welt", sagt er im Gespräch mit den Freunden beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ,,und es hat diesen Namen: Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling? Die Gesamtsituation ist beherrscht von der Frage." 21 Der Autor dieser Helden zerbrach nicht. Er starb friedlich im Alter von achtzig Jahren. Er hatte die wilhelminische Ära, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, Amerika und den Kalten Krieg überdauert. Das offenbare Geheimnis dieses überdauerns liegt nicht in simpler Anpassungsfähigkeit oder schnödem Opportunismus. Es liegt in der bewußten, stets durchgehaltenen Trennung von Innen und Außen, Inhalt und Form, Ich und Welt, die sich in der Doppelexistenz als Künstler und Bürger verwirklichte. Die Auflösung der realen gesellschaftlichen Beziehungen wurde damit symbolisch adäquat artikuliert. Der Dichter ,hob' sie nicht magisch ,auf', sondern hob seine Erfahrung von ihr soweit ins Bewußtsein, daß ihn dies vor irrationalen Durchbrüchen in mythische Volksgemeinschaften schützte. Der Durchbruch wurde im Inneren gemacht, seine Helden sprengen die Puppe der Pseudomorphose und werden zu Schmetterlingen mit kurzer Lebensdauer. Thomas Mann bewahrte nach außen die Form in der Konvention ererbter hanseatischer Bürgerlichkeit, voll gesunden Geschäftssinnes und unanfällig gegen die praktischen Durchbrüche, die als Massenideologien wüteten. Ist aber nicht doch das vieldeutige Schillern des Mannschen Werkes ein Zeichen dafür, daß auch sein Autor den Weg aus der Pseudomorphose nicht gefunden hatte? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Die gaukelnde Nachahmung des Pflanzlichen durch die Eisblumen, von der im Doktor Faustus gesprochen wird, die Hermes- und Hochstaplergestalten, von denen Manns Werke überfließen, dies alles deutet darauf hin, daß der Durchbruch zur Welt auf Täuschung und Identitätsverlust beruht. Nur in der Form des alten reichsstädtischen Bürgertums stellte sich so etwas wie wahre Identität her. Es war die einzige Form, mit der Mann nicht spielte, sondern die er, wie sein Held Hans Castorp im Zauberberg, mit Ernst und ,Pietät' betrachtete. Jener Großvater Hans Castorps, der Hamburger Ratsherr, der eine ,alltägliche' und eine ,eigentliche und wirkliche Erscheinung' besitzt, ist das Symbol von Manns Suche nach einer Form, die dem Leben 117

in der Gesellschaft Sinn gibt. Wie jener Großvater im alltäglichen Umgang ein ,Interimsgroßvater', ein ,behelfsweise und nur unvollkommen angepaßter' ist, wenn man ihn mit seiner ,reinen und wahren Gestalt' in der Amtstracht des Hamburger Ratsherrn vergleicht22, so ist für Mann die deutsche bürgerliche Gesellschaft am Ende eine Interimsgestalt. Das hat er auch in den Betrachtungen nicht verleugnet, wenn er nach seinem bürgerlichen Ursprung fragte. Und wenn der Großvater im Tod, in der Amtstracht aufgebahrt, ,,der Interimsanpassung nun feierlich überhoben und in seine eigentliche und angemessene Gestalt endgültig eingekehrt" 23 ist, so kann man die Frage daran anknüpfen, ob nicht für Thomas Mann der Tod der Interimsgestalt des wilhelminischen Bürgertums die Sicht auf die eigentliche Gestalt der Gesellschaft, die Geschichte, freigab. Geschichte darf nicht bei „Scheinhalten" beginnen, sagt Mann im Vorspiel zum Joseph, denn sie ist die Suche nach dem Grund von Mensch und Gesellschaft. Eben damals begann sich die Interimsgestalt des wilhelminischen Bürgers noch einmal als absoluter Anfang und Zweck der Gesellschaft totalitär der Geschichte zu bemächtigen. Für Mann blieb nur der Exodus.

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III. WIDERSTANDSPHÄNOMENE

1. Die Jugendkulturbewegung von Ulrich Linse a) Die Gebildeten-Revolte Die deutsche ,Jugendkulturbewegung' verdient im Lichte der kontemporären wissenschaftlichen Debatte um die amerikanische Jugend-Opposition eine erneute Untersuchung. Lassen sich doch hier an einem bereits historisch gewordenen Fall die Zusammenhänge zwischen der Jugend (als sozialer Gruppe), einer von dieser Jugend mitgetragenen ,Gegenkultur' und dem umfassenderen sozialen Wandel aufzeigen. Ebenso wie im Amerika der späten sechziger Jahre 1 bestand auch im wilhelminischen Deutschland eine enge Verbindung zwischen dem ,knowledge sector' der Gesellschaft und der Jugendbewegung. Diese Korrelation findet sid.1 nicht nur bei der sozialen Herkunft der Jugendbewegten und in ihrer Opposition gegen den Lebensstil der Eltern; vielmehr partizipierten diese Jugendlichen auch an einem Verhaltensmodus der bildungsbürgerlichen Vätergeneration, den wir im folgenden als Gebildeten-Revolte bezeichnen. Die Jugend-Revolte wird damit zu einem Teilaspekt der Revolte des wilhelminisd.1en ,knowledge sector' selbst. Es war Jost Hermand, der bei der Analyse der Sprach- und Bildsymbole des zweiten deutschen Kaiserreiches um 1900 Hinweise auf eine „bürgerliche ,Revolte"' zu finden glaubte 2, allerdings zu Unrecht annahm, daß diese nid.1t vom traditionellen Bildungsbürgertum, sondern von sozial erst jetzt aufsteigenden mittelständisd.1en Sd.1ichten getragen worden sei. Zuzustimmen ist dagegen Hermands Hinweisen auf die Vehemenz des hinter dieser geistigen Revolte stehenden kulturellen und politischen Machtanspruches; seine soziale Sprengkraft - politisch noch integriert in einem aggressiven imperialistischen Sendungsbewußtsein (Kulturimperialismus) - kommt vor allem im Symbol des ,Neuen Reiches' zum Vorschein: ,,Das wilhelminische Reich erschien allen diesen Autoren wie eine Übergangslösung. " 3 Die präzisere sozio119

logische Ortung wird durch eine Fallstudie von Gerhard Kratzsch möglich. Sie beschäftigt sich ihrem Untertitel nach in verharmlosender Weise mit einer „Gebildeten-Reformbewegung" im Zeitalter des Imperialismus; der Autor verdeutlicht aber selbst, daß diese „auf die Regeneration der Gesellschaft, auf eine neue Renaissance abzielenden Reformvorstellungen" durchaus „revolutionär" waren 4 • Getragen wurden sie vom unteren bis oberen Bildungsbürgertum - also von Personen, welche wenigstens die Untersekundareife, das ,Einjährige', bzw. das Abitur erworben oder eine akademische Staats-, Diplom- oder Doktorprüfung absolviert hatten. Wenn auch der gesamte wilhelminische ,knowledge sector' in der von Kratzsch untersuchten „Reformbewegung" vertreten ist, so liegt das Schwergewicht doch bei den Lehrberufen (mit einer Dominanz der Volksschullehrer), bei der Geistlichkeit, der Verwaltung (insbesondere der höheren) und den Studenten. Diese Verteilung braucht nicht unbedingt für alle Unternehmungen der wilhelminischen Gebildeten-Revolte repräsentativ zu sein; die geringe Anwesenheit von wirtschaftenden und technischen Berufen ist aber wohl mehr als zufällig. Dies weist vielmehr auf die Tatsache, daß die Vertreter der Hochindustrialisierung und Technisierung des Reiches nicht an der Gebildeten-Revolte partizipierten. Bei der Gebildeten-Revolte handelte es sich also um die Kulturoder Geist-Revolution der sozial und wertmäßig verunsicherten Teile des wilhelminischen Bildungsbürgertums. Gleichgültig ob sie soziale Abstiegsängste hatten oder in ihrem sozialen Aufstieg blockiert waren: diese Personen waren sich ihrer prekären Lage zwischen dem ,Mammonismus' des Organisierten Kapitalismus und dem ,Materialismus' der Organisierten Arbeiterschaft bewußt - ebenso wie andere mittelständische Gruppen. Anders aber als etwa der gewerbliche Mittelstand reagierten sie auf diese Situation nicht primär mit der Gründung von politischen Parteien und Interessenverbänden 5 , sondern mit der Symbolschöpfung einer Gegenkultur, die sich gegen den ,Materialismus' der hochindustrialisierten technischen Zivilisation des Reiches richtete, und mit der aktivistischen Gründung von Weltanschauungsbewegungen. Diese Gebildeten-Revolte war eine soziale, politische und spirituelle Irredenta-Bewegung, welche das wilhelminische Reich als geistige und politische Ordnungsform radikal in Frage stellte, ohne daß sich allerdings schon eine generell akzeptierte erlösende Führerfigur als politische Identifikationsgestalt für die unbefriedigten Sehnsüchte anbot. Vielmehr artikulierte sich das spirituelle und politische Erneue120

rungsstreben des gebildeten Mittelstandes in einer Vielzahl von miteinander rivalisierenden gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen mit Absolutheitsanspruch, welche von Weltanschauungs-,Bünden' und -,Gemeinschaften' propagiert wurden 8 • Gemeinsam war ihnen jedoch der Wunsch, eine neue Gesellschaftsordnung unter Führung der jeweiligen Geist-Besitzer jenseits von Kapitalismus und SozialismusfKommunismus zu schaffen. Dieses Ziel kleideten sie auch in das Sprachsymbol des ,dritten Wegs': Darin kommen nicht nur die den Status quo negierenden und transzendierenden politischen Implikationen der Gebildeten-Revolte zum Ausdruck, sondern auch die Eigenständigkeit der bildungsbürgerlichen Reaktionsweise auf die soziale Statusverunsicherung (der Gebildete steht nun in Konkurrenz zum Wirtschafts- und Arbeiterfunktionär). Die Betonung des „bündisch-kreishaften" war eine Reaktion auf die „mechanischen Zweckverbände" des Organisierten Kapitalismus und Proletariats und auf die Anonymität des Wirtschaftsgeschehens in der Massengesellschaft7. Die von den WeltanschauungsBünden geforderte ,Kultur-Politik' (in Form etwa einer „Ausdruckskultur" bei Ferdinand Avenarius, eines „Kultur-Sozialismus" bei Gustav Landauer oder einer „Jugend-Kultur" bei Gustav Wyneken) war das Gegenbild zum wirtschaftlichen Erfolgsstreben einer prosperierenden, wenn auch den Konjunkturzyklen unterworfenen hochindustrialisierten Gesellschaft. Die ,Kultur-Politik' wurde jedoch nicht als Beeinflussung des Kulturlebens als eines gesellschaftlichen Teilsektors aufgefaßt, sondern war Drang zur Totaltransformation der politischen und sozioökonomischen Realität unterFührung der ,Kultur-Träger'. Der,Bund', der ,Lebenskreis' symbolisierten so den Exodus aus der bestehenden Gesellschaft ebenso wie den keimhaften Beginn neuer Gemeinschaftsformen. Die reale Machtlosigkeit des gebildeten Mittelstandes fand damit einen kompensatorischen Ausgleich in einem „Tatidealismus"s, der den gesellschaftlichen Führungsanspruch der Gebildeten in einer Kultur-Revolution artikulierte. Liberal-demokratische und reaktionär-elitäre, aufklärerische und irrationale Inhalte lagen bei diesen Weltanschauungen in einer merkwürdigen Gemengelage. Für dieses brisant-revolutionäre, wenn auch keine bürgerliche Revolution herbeiführende Weltanschauungs-Konglomerat wurde, in treffender Kennzeichnung der inneren Widersprüchlichkeit, die Bezeichnung „fortschrittliche Reaktion"D und für ihre nachwilhelminische Phase „konservative Revolution" 10 vorgeschlagen. Die Gebildeten-Revolte blieb aber nicht auf WeltanschauungsZirkel beschränkt, sondern ergriff auch die Institutionen, welche in 121

Deutschland die Bildung vermittelten: die Universität und das Gymnasium. Denn auch sie unterlagen im Gefolge der Hodlindustrialisierung einem Deformationsprozeß, der den GebildetenProtest freisetzte: Die Hochschulen entwickelten sich in der wilhelminischen Ära zu großbetrieblichen Formen. Der Staat als Geldgeber und Subventionär, vor allem für die medizinischen und naturwissenschaftlichen Institute, übte auf sie einen wachsenden Einfluß aus; ebenso nahm die Abhängigkeit vom Organisierten Kapitalismus und die Einflußnahme einzelner Interessengruppen zu 11• Diese Situation führte sowohl zu einer Problematisierung des Begriffes ,Freiheit der Wissenschaft' wie zur Klage über die Verdrängung der humanistischen durdl die realistischen Bildungsinhalte und den ,Utilitarismus'. Rein quantitativ betrachtet resultierten die Schwierigkeiten der Universitäten aus den gewaltig ansteigenden Studentenzahlen; die damit wachsende Lehrbelastung der Universitätslehrer wurde vor allem auf Kosten der Privatdozenten ,gelöst', die sich ab der Jahrhundertwende zur Wahrung ihrer wirtsdlaftlichen Interessen in der Nichtordinarienbewegung organisierten. Die Studentenmassen rekrutierten sich aus den Söhnen und Töchtern des bürgerlichen Mittelstandes (der meist nodl nicht, wie das Großbürgertum, einer ,Aristokratisierung' der Lebensform erlegen war): Sie schufen sich zur Vertretung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen an den Universitäten und als Gegengewicht zur ,feudalen' korporativen Studentenschaft im Jahre 1900 die Freie Studentenschaft. Freistudenten und Privatdozenten waren deshalb auch die Träger der - im Rahmen der umfassenderen Gebildeten-Revolte zu sehenden Universitätsreformbestrebungen, die mit zunehmender Radikalisierung schließlich den Charakter einer Hochschul-Revolution annahmen12. Wie die Universität befand sich in der wilhelminischen Ära auch das humanistische Gymnasium in der Krise 13: Staat und Vertreter des Organisierten Kapitalismus tradlteten danach, die humanistischen Lehrinhalte zugunsten der lebenspraktischen ,Realien' zurückzudrängen; dieser bürgerliche Realismus wiederum verstand sich als Instrument eines sozialdarwinistisch untermauerten Imperialismus. Das alte Gymnasium und die technisch industriellen Bedürfnisse einer imperialen Großmacht gerieten in Widerspruch: der ,Idealismus' des Oberlehrers wurde der Lebensferne verdächtigt und konnte sich nur noch dadurch rechtfertigen, daß er ,,Kriegsschiffen und Industriekombinaten" eine pseudohumanistische „ästhetische Verklärung" angedeihen ließ 14 • Die Krise der höheren Schule widerspiegelte sich auch in den - ebenfalls als 122

Teilaspekt der Gebildeten-Revolte zu verstehenden - pädagogischen Reformbestrebungen 15, die ab der Jahrhundertwende in vielfältiger Ausformung (etwa als Landerziehungsheim-Bewegung, Kunsterziehungs-Bewegung, Kulturpädagogik) kulturkritisches Gedankengut aufgriffen. Ein zentraler Ort, an dem sich die unzufriedenen Geister unter den deutschen Oberlehrern sammelten, war das Landerziehungsheim. Diese Heime „stellten sich die Aufgabe, einen ganzen, vollwertigen Menschen zu bilden, dem es gelingt, die Kulturkrise zu überwinden" 16• Die Jahre zwischen 1900 und 1910 waren für die führenden Männer der Landerziehungsheim-Bewegung (Hermann Lietz, Paul Geheeb, Martin Luserke, Gustav Wyneken) eine Zeit der Richtungskämpfe, Sezessionen und persönlichen Konflikte: ,,Hier trafen sich Männer, die ursprünglich keine spezifisch erzieherische Berufung empfunden hatten. Wenn ihnen schließlich unter mehreren möglichen Tätigkeiten die des Erziehers zugefallen war, so verbanden sie damit Absichten, die über das Pädagogische im engeren Sinne hinauswiesen." Persönliches Machtstreben vermischte sich bei diesen Personen mit unterschiedlichen erzieherischen und weltanschaulichen Konzeptionen zu einem „explosiven Gemisch" 17• Das Landerziehungsheim wurde so zu einem Mittelpunkt der auf die Jugend einwirkenden Gebildeten-Revolte. Die Krise des Gymnasiums äußerte sich aber auch in der Schülerschaft selbst. Ausdruck der Identitätskrise der bürgerlichen Jugend war die Jugendbewegung als typisch bildungsbürgerliches Phänomen: ,,Man konnte in der Anfangszeit der [Jugend-]Bewegung, in den Glanzjahren des ,Wandervogel' einen Kampf in der Jugend des Mittelstandes selbst beobachten. Mit grenzenloser Verachtung sonderten sich die ,Wandervögel', als die Vertreter der eigentlich ,gebildeten', traditionsreichen Familien innerhalb des Mittelstandes ab von der großen Mehrzahl der Altersgenossen, die, teils aus ähnlichen Kreisen, teils aus denen des ,neuen Reichtums' stammend, sich früh in den Künsten des modernen bürgerlichen Lebens übten und auf eine erfolgreiche Anteilnahme an der [... ] Ausbeutertätigkeit ihrer Väter vorbereiteten. " 18 Die GebildetenRevolte der Vätergeneration setzte sich also bei der studentischen Jugend in Form des Freistudententums und bei der höheren Schuljugend im Wandervogel als generationsübergreifende Erscheinung fort.

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b) Gustav Wynekens Jugendkultur Die Jugendkulturbewegung ist eine von dem Oberlehrer Gustav Wyneken (1875-1964) ins Leben gerufene Spielart der GebildetenRevolte. Ein eigenständiges Jugendleben in der Wandergruppe gab es, ehe Gustav Wyneken vor das Forum der bildungsbürgerIichen Jugend trat. Im Gegensatz zur Arbeiterjugend spielten sich jedoch die Aktivitäten dieser bürgerlichen Jugendbewegung in Distanz zur Politik ab. Die Söhne und Töchter des mittleren und gehobenen protestantischen Bildungsbürgertums waren materiell soweit abgesichert und befanden sich durch das Moratorium der gymnasialen Schulbildung in so großem Abstand zur Arbeitswelt, daß sie sich vorrangig der eigenen pupertär-emotionalen Problematik in der gleichgesinnten jugendlichen Bezugsgruppe zuwandten, damit aber im Vorerwachsensein steckenblieben: ,,Das Wirkungsfeld der Jugendbewegung war [... ] die menschliche Seele und nicht Staat und Politik." 19 Diese bildungsbürgerliche Jugend, welche in ihrem Fühlen und Denken die politisch-gesellschaftliche Ebene noch nicht erreicht hatte, wurde erst durch den Weltkrieg mit der Realität des imperialistischen Deutschland und des Klassenkampfes konfrontiert. Sie war aber auch 1918 noch politisch unfertig und trat in eine „überstürzte Politisierung" ein, ,,welche sich in (noch) nicht selbst entwickelten politisch-sozialen Formen vollzog" 20. So blieb bei der bürgerlichen Jugendbewegung der wilhelminischen Ara - abgesehen von einer „noch ,vorpolitischen' Grundhaltung des liberalen und sozial aufgeschlossenen Neukonservatismus" vor 1914 und einer Aufspaltung dieser Einstellung während des Weltkrieges und der Novemberrevolution in eine ebenfalls noch vorpolitische „progressiv-revolutionäre" und ,,konservativ-evolutionäre" Grundtendenz2 1 - ein Beitrag zur politischen Bewältigung der Krise des Bildungsbürgertums aus, ja, lag nicht einmal in der Absicht der Jugend. So ist es nicht die bürgerliche Jugend selbst gewesen, welche eine neue, um die Jugend kreisende Ordnungskonzeption entwickelte, sondern Gustav Wyneken mit seinem Einfall einer von einer angeblich bestehenden ,Jugendbewegung' zu erkämpfenden ,Jugendkultur'. Das Neue war also Wynekens Anspruch, daß der bildungsbürgerlichen Jugend ein gesamtgesellschaftlicher Führungsanspruch zukomme und er der Jugend diesen Weg weisen könne. Die Entstehung einer solchen Konzeption muß sowohl biographisch wie soziologisch erklärt werden. Denn ihr Entstehungsrahmen war die deutsche wilhelminische Gesellschaft, das Bi!124

dungsbürgertum und das Landerziehungsheim (diese beiden Aspekte wurden bereits behandelt) und die Kindheits- und Jugenderfahrungen Wynekens. Wynekens Glorifizierung der Jugend-Revolte findet ein Gegenstück in der Hochschätzung, welche die Jugend selbst in der wilhelminischen Gesellschaft genoß. Ein Blick in das Statistische Jahrbuch des Deutschen Reiches zeigt drei Schwerpunkte bei der quantitativen Erfassung und damit Bewertung der Jugendlichen im Reich: den Jugendlichen als Fabrikarbeiter, als Schüler und Student, als Rekrut. Weitere Quellen - die Reden des Kaisers Wilhelm II., die Gesetze und Verordnungen zur Geburten-, Jugendfürsorge- und Schulpolitik des Reiches - bestätigen, daß die drei genannten Aspekte zusammenliefen in der Erkenntnis von der Bedeutung einer loyalen Jugend für den militärisch abgesicherten innenpolitischen Status quo und die auf fortschrittlichen Technologien beruhende imperialistische Weltmachtstellung Deutschlands. Deshalb läßt sich auch im wilhelminischen Reich ein „Jugendkult im Sinne der Glorifizierung der Jugend als eines gesellschaftlichen Leitbildes" feststellen: ,Jugend' wird hier zum Abbild des Selbstverständnisses der Gesellschaft des jungen Kaiserreiches im Sinne eines Fortschritt und Dynamik ausdrückenden Symbols22. Die Erkenntnis vom politischen Stellenwert der Jugend führt zur realen Organisierung der Jugendlichen - Jugend wird zum Objekt der Politik: Sozial- und nationalpolitische Motive bringen ab 1900 die Beeinflussung und Erfassung der Jugend durch Staat (Schule, Militär, Jugendpflege), Konfessionen, Gewerkschaften und Parteien 23, Die Jugendkulturbewegung nimmt den ,Jugendkult' auf - andererseits stellt sie den genannten Versuchen zur sozialen Integration der Jugend deren Revolutionierung entgegen. Wyneken selbst hat bereits in seinen biographischen Aufzeichnungen24 versucht, die psychologischen Aspekte seiner ,Jugendkultur' anzudeuten: Seine Kindheit und Jugend waren geprägt vom Gefühl des Nichtverstandenwerdens und der Einsamkeit. Acht Generationen lang waren seine Vorfahren protestantische Pastoren. Er selbst lernte das Christentum als ,Ware' bereits im elterlichen Pfarrhaus hassen und kritisierte insbesondere, daß die Eltern nicht Verständnis für das Kind gezeigt, sondern es durch Gewissensdruck überfordert hätten!?5,Trotzdem studierte Wyneken auf Wunsch der Eltern zunächst Theologie, brach dann nach dem Examen aber mit der evangelisch-lutherischen Kirche, machte das Oberlehrerexamen und versuchte als Oberlehrer, Schriftsteller und Wanderredner auf die deutsche Gesellschaft und ihre Jugend ein-

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zuwirken. Doch Revolte und Identifikation bezogen sich nicht nur auf die eigenen Vorväter, sondern auch auf die Lehrer an der Klosterschule Ilfeld im Harz, die weder „Freund" noch „Führer" gewesen seien, da „die Trägheit des Herzens, die humanistische Inhumanität, die philologisch-spießige Berufsauffassung" dies vereitelt hätten2s. Der Oberlehrer Wyneken revoltierte später durch die Betonung des Gemeinschaftslebens zwischen Schülern und Lehrern in der ,Freien Schulgemeinde', das bei ihm persönlich homosexuelle Annäherungen nicht ausschloß. Und schließlich war da die Erfahrung des Ilfelder Internats als einer ,Standessdmle', an der sich die (zahlenden) Söhne des Adels und die (zum Teil Freistellen innehabenden) Pfarrer- und Beamtensöhne in zwei Parteiungen gegenüberstanden: ,,[... ] so setzte sich die Schülerschaft aus zwei scharf getrennten sozialen Schichten zusammen, einer feudal-aristokratischen und einer kleinbürgerlichen. Selbstverständlich hatte die obere Schicht, wiewohl zahlenmäßig eine Minderheit, durchaus die Führung. Sie bestimmte die Denk- und Urteilsformen, die Werte und Maßstäbe, die Urteile und Konvenienzen, das Gut und Böse der Schülerschaft. Die Unterschicht fügte sich, ahmte nach, suchte mitzumachen, oder führte ein unbeachtetes, dumpfes Dasein ohne eigenen Stil und Willen. "2 7 Der Primus Wyneken organisierte als erster an der Schule den bürgerlichen Widerstand (er und seine Anhänger erhielten dafür von den Aristokratensöhnen den Spitznamen ,Sozialdemokraten'!). Diese bildungsbürgerliche Revolte nahm Wyneken später in der Jugendkulturbewegung mit ihrer merkwürdigen Mischung von aristokratischen und bürgerlichen Idealen wieder auf. Ein Moment des Zufälligen ist freilich auch nicht zu übersehen: 1910 wurde Wyneken von der staatlichen Behörde aus seiner ,Freien Schulgemeinde Wickersdorf' vertrieben und suchte verzweifelt nach einem öffentlichen Wirkungsfeld. Da bekam er 1912 das von dem ehemaligen Wandervogel Hans Blüher verfaßte Werk Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung in die Hände, in welchem nicht nur die angebliche Existenz einer ,Jugendbewegung' festgestellt, sondern auch als deren Spezifikum der ,,Jugendaufstand" gegen die Sozialisationsinstanzen der bürgerlichen Gesellschaft erfunden wurde. Ohne daß Wyneken je zuvor ein Fest oder eine Fahrt des Wandervogels mitgemacht hatte, erhielt er aus dem Buch den Eindruck, ,,die Wandervögel [seienl naturhafte, aber noch führer- und richtungslose Revolutionäre, denen er mit seiner Weltanschauung, vor allem aber auch mit seiner Person selbst Richtung und Ziel geben wollte" 2S. 1913 schließlich schien es so, als würden sich der 38jährige Wyneken 126

und die Jugendbewegung auf der Hohen-Meißner-Feier zu einer ,Jugendkulturbewegung' vereinigen, als sich die zur Feier einladenden Verbände zur „Erarbeitung einer neuen, edlen deutschen Jugendkultur" bekannten 2 0. Die weltanschaulichen Inhalte der ,Jugendkultur'so führen den Gedanken der Jugend-Revolte weiter aus: Jugend ist bei Wyneken weniger Lebensalter als Lebensideal; seine beißende Kritik gerade am W andervoge/ zeigt den utopischen Charakter seines JugendBildes. Bewegung der Jugend ist der drängende Wunsch nach dem neuen Menschen und der neuen Gesellschaftsordnung; das aktivistische Bewegungsprinzip findet seinen Höhepunkt in der Permanenz der Jugend-(kultur-)Revolution: Die unsterbliche ,Jugend' soll für alle künftige Generationen die Quelle ständiger gesellschaftlicher Erneuerung sein. Die Jugendkultur3 1 ist die Bezeichnung für die neue, jedoch von Wyneken nicht weiter rational zu begründende oder darzustellende Ordnung als radikalem Bruch mit den bestehenden Denk- und Handlungsweisen. Wegen der wirklichkeitstransformierenden Radikalität der Jugendkultur kann diese nicht bloße Lebens- oder Sozialreform (also etwa Antialkoholismus, Nikotinverzicht oder Bodenreform) sein, sondern eine in der potentiellen Geistigkeit der bildungsbürgerlichen Jugend wurzelnde „neue Gesamtorientierung der Gesellschaft"3 2 • Wyneken selbst versucht den völligen Mangel konkreter Inhalte der ,Jugendkultur' dadurch zu verdecken, daß er auf die ,Freie Schulgemeinde' als erste Konkretisierung verweistas; damit wird der Zusammenhang der Entstehung eines ,antiautoritären' Schultyps mit der Gebildeten-Revolte offenkundig. Für Wyneken ist es deutlich, daß eine ,Jugendkultur' unmöglich sei ohne eine „Eroberung der Schule" 34 • Es wäre jedoch falsch, Wyneken verharmlosend als ,Reformpädagogen' zu bezeichnen; vielmehr erhält bei ihm die Schule erst durch die heilsgeschichtliche Funktion der Jugend ihre besondere Weihe: Die neue Schule in der von ihm konzipierten Form der ,Freien Schulgemeinde' wird zur neuen Kirche eines rein weltimmanent verstandenen Menschengeistes, eben der ,Kultur'. Diese Konzeption der Bildung als Instrument der Selbsterlösung der Menschheit zeigt den durchaus epigonalen Charakter der Jugendkulturbewegung, welche in der Krise des deutschen Bildungsbürgertums auf die Ideologeme des deutschen Idealismus, unter anderem auf den von Wyneken besonders geschätzen Fichte zurückgriff. Dabei ist freilich nicht zu verkennen, daß Wynekens Kritik an den dominanten Erziehungszielen seiner Zeit den ,fortschrittlichen' Charakter seiner Gebildeten-Revolte zeigt. Seine Betonung der Tatsache, daß die neue Schule „einzig

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und allein im Dienst des Geistes" 3;;, des reinen „Kulturwillens" 36 stehen müsse, richtet sich ebenso gegen den „Philologismus" des humanistischen Gymnasiums 37 wie gegen die Dominanz der ,Realien' im Dienste imperialistischer Zwecksetzungen. Ja, die ,Jugendkultur' könnte man geradezu als Widerstandsformel gegen eine Reduzierung der Bildung auf eine Vorbereitung zum wirtschaftlichen Daseinskampf und imperialistischen Hurra-Patriotismus verstehen. Ebenso durchdringend ist Wynekens Kritik an der bürgerlichen Familienerziehung, deren Ungeist er in einer blendenden Analyse der deutschen „Gemütlichkeit" bloßlegt 38 und deren Hilflosigkeit gegenüber den seelischen Nöten der Jugend er anprangert39, Eigene Kindheits- und Jugenderfahrungen erweiterte Wyneken so in seiner ,Jugendkultur' zu einer Diagnose des Krankheitsbildes der bürgerlichen Sozialisationsinstanzen; freilich sind auch die literarischen Einflüsse Nietzsches in Wynekens Kampf gegen den ,Philister' nicht zu übersehen. Welche Chancen hatte nun Wynekens ,fortschrittliche' GebildetenRevolte in der Realität? Die Jugendkulturbewegung besaß nur ein konkretes politisches Ziel: ,,Eine Tat und ein Kampf müssen gefordert werden: nämlich die Eroberung der Schule."40 Mit dem Wunsch nach einer Schul-Revolution stand aber Wyneken im politischen Feld auf verlorenem Posten: 1910 entzog ihm das Herzogliche Ministerium des Inneren des Staates Sachsen-Meiningen seine Konzession für die ,Freie Schulgemeinde' Wickersdorf4 1 ; 1914 zeigte es sich beim Zusammenprall der klerikal-autoritären Erziehungsideale mit den Gedanken der ,Jugendkultur' in Wynekens „Bayerischem Krieg" 42, daß das liberale Bürgertum nicht hinter ihm stand 43. Aber auch von der Sozialdemokratie distanzierte er sich, da der Klassenkampf als „Egoismus sozialer Gruppen"44 im Sinne des Hegelschen Geschichtsbildes von ihm als nichtgeistig und irrational verurteilt und der „eudämonistische Sozialismus" als materialistisch und unsozial abgelehnt wurden 40. So blieb Wyneken im politischen Feld heimatlos und erhob die politische Abseitsstellung bei seiner Interpretation der HohenMeißner-Formel zum Prinzip der ,Jugendkultur'46, Die neue Schule und die ,Jugendkultur' konnten deshalb nur von der Jugend allein unter Führung Wynekens geschaffen werden. Als mögliche Bundesgenossen kamen nur Schüler und Studenten in Frage. Im Zentrum der Wyneken-Anhänger standen die Berliner und Wiener Studenten, welche die Schülerzeitung Der Anfang41 als „Tribüne der Jugend" im „Jugendkulturkampf"4s herausgaben; massenwirksam wurde das 800-Abonnentenblatt 49 nie; lediglich in Wien diente die Wynekensche Jugendkulturbewegung 128

um Siegfried Bernfeld als Vehikel zur Emanzipation der jüdischen Jugendlichen4Da. Da sich der Wandervogel und die Freideutsche Jugend der Führerschaft Wynekens weitgehend entzogen, konnte er mit seiner Schulrevolution lediglich noch auf die Sympathie der Freistudenten um Hans Reichenbach mit ihrem Ideal einer „Eroberung der Hochschule" zählen 50. Wyneken versuchte allerdings den Freistudenten klarzumachen, daß er einzig auf eine „starke pädagogische Studentenbewegung" seine Hoffnung setze51, die für seine neue Schule eintrete, daß aber die Studierenden einen „ehrlichen und tapferen V erzieht" aus der Einsicht bejahen müßten, ,,daß sie das verheißene Land selbst nicht mehr erblicken werden, daß ihre Jugend verfließen wird, ohne der Träger der neuen Jugendkultur zu sein"52 • War der Ausschluß vom Gelobten Land und die darin ausgesprochene Überbetonung der heilsgeschichtIichen Rolle der Schul-Jugend für seine studentischen Anhänger bereits eine Zumutung, so kam es dann 1915 zum Bruch der Reichenbach-Gruppe mit Wyneken über dessen kulturimperialistischer Haltungsa - diese studentische Jugend konnte Wynekens Verklärung der ,alten Kultur' nicht akzeptieren. Insgesamt hatte es sich also bereits vor der Novemberrevolution erwiesen, daß die ,Jugendkultur' kein Kristallisationskern für eine in den politischsozialen Raum ausstrahlende Jugend-Opposition werden konnte Ursache dafür war ebenso Wynekens selbstgerechter Charakter wie die politische Bezugslosigkeit seiner ,Weltanschauung'.

c) Der ,Jugendsozialismus' der Wyneken-Schüler Durch die merkwürdige Verbindung des Jugendwanderns mit dem Ordnungsentwurf einer ,Jugendkultur' hatte Wyneken der Jugend eine soteriologische Rolle zugewiesen, welche die KriegsstudentenGeneration im Ersten Weltkrieg eigenständig weiterinterpretierte. Erst in dieser Entwicklungsphase zeigte die bildungsbürgerliche Jugend-Revolte voll ihre politischen und sozialen Implikationen. Die Revolte sprengt hier den Rahmen von Familie und Schule, auf den sie Wyneken beschränken wollte, und bezieht sich auf Politik und Gesellschaft. Dementsprechend ändert sich auch der psychische Hintergrund im Vergleich mit dem Familien- und Schul-Rebellentum, das Blüher und Wyneken angesprochen hatten. Als exemplarisch für die Erfahrung dieser neuen Generation von Wyneken-Anhängern mag eine Erklärung von Alfred Kurella54 gelten: Dieser verfaßte 1914 auf die Frage hin, wieso auch er Anhänger der neuen „Jugendrevolution" Wynekens geworden

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sei, da er „doch eine so großartige Erziehung genossen habe" (er war Sohn eines bekannten bürgerlichen Gelehrten), einen kleinen Aufsatz Ober die Trennung von Heimstätte der Jugend und Elternhausss. Die Überschrift zeigt bereits die Essenz: Kurella übernimmt Wynekens Gedanken von der Notwendigkeit einer Ablösung des Jugendlichen von der Familie und von der Bedeutung der Erziehung in einer Gesellschaft von Gleichaltrigen. Kein Wort dagegen von der heilsgeschichtlichen Rolle der Schuljugend, der ,Jugendkultur' und der ,Freien Schulgemeinde' als Ersatzkirche; kein Wort auch von einer Revolte gegen Schule und Elternhaus - Kurella betont vielmehr, daß er eine mustergültige Erziehung in der Familie genossen habe 56 ; mit Beginn der Pubertät habe er aber den Wunsch verspürt, sich von der Familie zu trennen. Da ihm die Eltern den Weg in die Kadettenanstalt versperrten, habe sich als Surrogat die Wandervogelgruppe angeboten. Bei der weiteren Beschreibung des psychischen Ablösungsprozesses eines sensiblen Jugendlichen vom Elternhaus liegt das Schwergewicht auf den damit verbundenen Schuldgefühlen - Wynekens Ideologie vermochte diese aufzulösen, da Kurellas Verhalten durch sie eine nachträgliche Rechtfertigung erfuhr. Für diese Jugend wurde erst der Weltkrieg zur Wende. Die unter Wynekens Einfluß stehende Kriegsstudenten-Generation zeigte sich keineswegs bereit, auf die Kultur-Revolution der Schüler zu warten. Vielmehr verwandelte sie, unter dem Druck des Kriegs- und Klassenkampferlebnisses - und sicher nicht ohne Beeinflussung durch die von Wyneken selbst nach Kriegsbeginn artikulierten Volksgemeinschaftsphantasien 57 - die ,Jugendkultur' in eine neue Sozialutopie. Diese trug der starken Statusverunsicherung der bürgerlichen Studenten in den Jahren 1914-1919 Rechnung und zielte auf ein den Klassenkampf eliminierendes, sozialintegratives Gesellschaftmodell, in welchem die jugendlichen Geistbesitzer auch die politische und soziale Führungselite stellen sollten. Schritt für Schritt wurde in den der freistudentischen Wurzel entwachsenen Schriften dieser Richtung 0s die neue heilsgeschichtliche Rolle der Jugend in aktivistischem Sinne ausgemalt (,,Klassenkampf der Jugend" 59 ) und Wynekens leere Geist-Hülse mit dem Inhalt einer sozialintegrativen Ideologie gefüllt, die sich als neuer ,Sozialismus' verstand und eine Antwort auf die „Krise der deutschen Ideologie" (George L. Mosse) und die Probleme der sich polarisierenden „Klassengesellschaft im Krieg 1914-1918" (Jürgen Kocka) offerierte. Der typisch mittelständische Charakter dieser Antwort ist deutlich: Der Sozialangst, im ,egoistischen' und ,materiellen' Interessenkampf von Kapital und Arbeiterschaft zer130

rieben zu werden, wird der Traum von der ,ideellen Volksgemeinschaft' entgegengesetzt. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß dieser ,Jugendsozialismus' der Kriegsjahre die freistudentische Vorkriegstradition einer sozialreformerisch motivierten Öffnung gegenüber der Arbeiterschaft fortführte; der im folgenden beschriebene ,Jugendsozialismus' der engsten Wyneken-Anhänger ist somit nur Teil eines aus dem gemeinsamen freistudentischen Erbe erwachsenen umfassenderen ,Jugendsozialismus' - erinnert sei nur an Namen wie Walter Benjamin, Karl Korsch und Karl August Wittfogel -, der einen Teil der mittelständisch-bürgerlichen Akademikerelite ins Lager des Sozialismus und der Arbeiterklasse übergehen ließ. Erste Ansätze zur Verwirklichung des ,Jugendsozialismus' lagen 1915 in dem von Ernst Joel - in einer Transformation des angelsächsischen Settlementgedankens in das Medium der jugendlichen Geist-Revolution - begründeten ,Siedlungsheim' im Arbeiterviertel Berlin-Charlottenburg vor6o, In diesem Moment äußerte sich auch Wyneken öffentlich zu dem unter seinem „unmittelbaren Einfluß" entstandenen „Sozialismus der Jugend" 61 : Er hob das Ziel dieses ,,Verwirklichungs-Sozialismus" (ein Gedanke von Gustav Landauer) als „innere Erneuerung, Verjüngung oder Vergeistigung des Sozialismus" scharf vom „mechanistischen Sozialismus" der Sozialdemokratie ab und reklamierte ihn nicht als Partei-Sozialismus, sondern als „Lebensform" und als „Zweig der Jugendbewegung". Wyneken sah deutlich, daß dieser Geist-Sozialismus auf den Widerstand der Sozialdemokratie stoßen würde, erhob aber auch schon den Anspruch, daß dieser „ethische Sozialismus" sich den „ökonomischen und soziologischen" Sozialismus „unter- und einordnen" werde. Damit wurde sichtbar - und die literarischen Nachfolgeprodukte aus dem Kreis der (bürgerlichen!) ,sozialistischen' Studentengruppen der Revolutionszeit konzentrierten sich auf dieses Argument 62 -, daß hinter der Konkurrenzhaltung des ,Jugendsozialismus' zum proletarischen Sozialismus der Anspruch stand, die Arbeiterschaft müsse sich der Führung der bildungsbürgerlichen, akademischen Jugend unterwerfen, wolle sie nicht den Kulturverfall heraufbeschwören. Festzuhalten ist gegenüber anderslautenden Behauptungen 63 , daß Wyneken diesen ,Jugendsozialismus' durchaus mit der Geist-Revolution seiner ,Jugendkultur' für vereinbar hielt und ihn sogar rechtfertigte: ,,Die Aufgabe der Jugend ist es, den neuen Menschen hineinzustellen in die alte Welt und ihn dort sich auswirken zu lassen [... ]." 64 Eine Politisierung seiner Anhänger in dem Sinne, daß sie als neue (jugendbewegte) Elite die gesellschaftliche 131

Wirklichkeit transformieren, zeigt ja gerade die volle Konsequenz der Wynekenschen Geist-Revolte, die - wie alle anderen zeitgenössischen Formen der aufs ,Neue Reich' abzielenden Gebildeten-Revolte - eben nicht das wilhelminische Reich als politische Ordnungsform bejahte, sondern an Stelle des feudal-großbürgerlichen Regiments eine Ordnung unter Führung der bildungsbürgerlichen Geist-Aristokratie anstrebte! Der Marxismus und die sozialdemokratische Partei als zweite revolutionäre Alternative zum wilhelminischen System mußten dabei notwendig den bürgerlichen Rebellen als Konkurrenten erscheinen, deren intellektueller Führung es sich zu bemächtigen galt. Für Wyneken war der letzte Schritt eher ein Gedankenspiel. In der Realität verwies er die Jugendsozialisten auf die Freideutsche Bewegung als Wirkungsfeld; und nachdem Wynekens Versuche einer öffentlichen Wirksamkeit sowohl in der Novemberrevolution 1918 als auch nach der Machtergreifung Hitlers gescheitert waren, verblieb ihm bis zu seinem endgültigen Verzicht auf eine öffentliche Einflußnahme im Jahre 1949 allein dieses Forum. In der Tat waren die Jugendsozialisten in der Berliner Gruppe um Hans Koch und Alfred Kurella (identisch mit dem Zentrum des in der Literatur immer wieder apostrophierten ,linken' Flügels der Freideutschen) in den Jahren 1916/17 aktiv innerhalb der Freideutsehen Jugend für eine Rehabilitierung Wynekens und eine Verwirklichung seiner jugendkulturellen Ziele (etwa seine Wiedereinsetzung in Wickersdorf und die Errichtung einer ,Jugendburg') tätig65_ Doch ab dem Herbst 1917 zeigte es sich, daß den Jugendsozialisten - meist vom Militär verwundet entlassene Studenten, welche im Schützengraben mit dem Proletarier menschliche Fühlung gewonnen hatten - mehr wollten, als Wynekens Führerschaft in der Jugendbewegung zu untermauern. Der ,Jugendsozialismus' drängte zur pazifistischen Aktion66, und diese wiederum führte zu Kontakten mit Vertretern der revolutionären Arbeiterjugend auf einem Treffen in Berlin-Westend im August 191767 • Die Jugendkulturbewegung erhielt in diesem Augenblick eine neue Dimension: der weitgehend literarische ,Jugendsozialismus' der bildungsbürgerlichen Offiziers-Studenten öffnete sich gegenüber der proletarischen Arbeiterbewegung: Zum erstenmal in der Geschichte der deutschen bürgerlichen Jugendbewegung kam es zu einer Begegnung mit Vertretern der (revolutionären) Arbeiterjugend! Diese Begegnung mit dem „Bruder Arbeiter", in der Frontgemeinschaft vorbereitet, brachte eine Art von Konversionserlebnisss, aus welchem sich der Wille nach einer neuen Form der Kooperation zwi132

sehen bildungsbürgerlicher Jugend und Arbeiterschaft entwickelte. Die ,Neue Gemeinschaft', das war die Einsicht, konnte nur zusammen mit dem Proletariat realisiert werden; die Öffnungspolitik gegenüber der Arbeiterschaft wurde die unabdingbare Voraussetzung für eine das wilhelminische System überwindende politische Wirksamkeit der Jugend-Revolte. Zwei Folgen hatte diese Begegnung in den Jahren 1918 und 1919 für die Jugendsozialisten: Zum einen rückten sie von einer rein bürgerlichen Jugendbewegung, wie sie das Freideutschtum darstellte, ab. Die Offenheit gegenüber den Nöten der proletarischen Jugend wurde zum Kennzeichen all der Gruppen, welche einmal mit Wyneken, seinen freistudentischen Anhängern oder den Jugendsozialisten in Kontakt gekommen waren: Diese Bewegung68a reichte von den ,sozialistischen' Studentengruppen der Revolutionszeit über die von Karl Bitte! in seinen Politischen Rundbriefen vertretene freideutsche Richtung bis zu der das Programm vom ,Klassenkampf der Jugend' wieder aufnehmenden ,Entschiedenen Jugend' und der sich um den Neuen Anfang scharenden Gymnasialschüler-Bewegung. Der Jugendsozialist Hans Koch formulierte das Credo: ,,Freideutsche Jugend? Tot! Liquidieren wir schleunigst!"&9 Zum anderen mauserte sich der ,Jugendsozialismus' zum Jugendkommunismus. Doch seine realen Inhalte nahmen bei den ehemaligen Wyneken-Anhängern unterschiedliche Gestalt an - die Alternativen dieser Endphase der wilhelminischen Jugend-Revolte lassen sich exemplarisch an den Lösungen von Hans Koch und Alfred Kurella demonstrieren. Koch führte den Gedanken der ,Volksgemeinschaft' weiter und entdeckte als sozialen Kristallisationspunkt einer neuen, den Klassenantagonismus überwindenden Gesellschaftsordnung, als seinen „Weg zum Bolschewismus"10 die ländliche ,kommunistische Siedlung', in der sich Jugendliebe aus dem Bildungsbürgertum und dem Proletariat zu neuem Gemeinschaftsleben vereinigen sollten. Er gründete eine solche rurale Kommune im Frühjahr 1919 in Blankenburg bei Donauwörth 7 t. Ähnlich wie die gleichzeitigen - und ebenfalls auf das in der wilhelminischen Zeit von Theodor Hertzka, Franz Oppenheimer und Gustav Landauer literarisch formulierte sozialintegrative Siedlungs-Modell zurückgreifenden - ,kommunistischen Siedlungen' von Heinrich Vogeler auf dem Barkenhoff bei Worpswede und von Hugo Hertwig auf dem Lindenhof bei Itzehoe, erwies sich dieser Versuch als nicht lebensfähig. Hinzugefügt werden muß allerdings, daß es der aus den gleichen geistigen Quellen schöpfenden jüdischen Jugendbewegung bei andersartigen ökonomi-

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sehen und herrschaftlichen Bedingungen gelang, über die ländliche (und ebenfalls sozialintegrativ und anti-klassenkämpferisch verstandene und auf eine neue Gesellschaftsform abzielende) Siedlungsform der Kibbuzim sich einen maßgebenden Platz bei der Staatswerdung Israels zu verschaffen12. Kurella dagegen wollte nicht mehr die Überwindung des Klassenkampfes in einer sozialharmonischen Gemeinschaft, sondern die Fortführung des Klassenantagonismus bis zur Revolution des Proletariats. Er wurde Mitglied der proletarischen ,Freien sozialistischen Jugend' und vertrat in ihr den Flügel, der die kommunistische Partei unterstützte. Sein ,Weg zum Bolschewismus' führte ihn zu Lenin73. Dadurch wurde für ihn nicht nur der Gedanke der ,Jugendkultur' obsolet, sondern er befürwortete auch den psychischen Suizid der bildungsbürgerlichen, geist-idealistischen Jugend selbst. Die ehemaligen freideutschen Kameraden stellte er vor die Entscheidung 74 : ,,Wir sind Bürger und wenn wir das nicht klar sehen und uns bis in die letzten Tiefen klar davon lossagen, so fällt jedes unserer Worte in die Waagschale der Gegenrevolution." Der alte bildungsbürgerliche Mensch muß aufgegeben werden, damit der neue kommunistische Mensch geboren werden kann: ,,Wir alle aber, Du und Ich [... ] sind Bürger, vom Mutterleib an. Unsere Daseinsformen und -äußerungen alle bis tief hinab, fast bis an die Quellen unseres Lebens, sind die der bürgerlichen Welt [... ]. Aufgabe unserer ganzen Welt mit Haut und Haar, wahrscheinlich auch unserer selbst, das ist, was wir Bürgerliche zu tun haben. Auch unserer selbst: denn wenn es uns auch gelingt, uns ganz der Welt, deren Träger jetzt das Proletariat ist, zu öffnen, so bekommen wir dadurch doch einen Knick in unser Leben. Und dafür werden wir büßen müssen, so oder so." Die Jugend-Revolte drohte so in der proletarischen Revolution ihre Identität zu verlieren. Hatte Wyneken den ,Jugendsozialismus· unterstützt, so erhob er gegen die Selbstzerstörung der bildungsbürgerlichen Jugendbewegung im Jugendkommunismus seine warnende Stimme 75 : ,,Mir scheint, daß es jetzt in der bürgerlichen Jugend ein gewisses Parvenütum nach unten gibt, daß eine Umschmeichelung der proletarischen Jugend als solcher stattfindet, daß man sich daran gefällt zu betonen, daß das, was man früher als sogenannte bürgerliche Jugendbewegung, also etwa als freideutsche oder Jugendkulturbewegung. oder Bewegung für Freie Schulgemeinden gewollt hat, Halbheit, Irrwege oder Bürgerlichkeit sei und daß man jetzt erst durch Anschluß an das Proletariat den Lebenssinn entdecke. Das mache ich nicht mit. In der freideutschen Jugend und erst recht in 134

der Freien Schulgemeinde stecken viele Elemente, die viel revolutionärer sind als die gesamte geistige Haltung, deren bis jetzt die proletarische Kulturbewegung (auch die Jugendbewegung) fähig ist." Damit war der Trennungsstrich zwischen der GebildetenRevolte Wynekens und der proletarischen Revolution, zwischen Jugendkultur und Proletkult gezogen; die Gebildeten-Revolte entließ ihre Kinder. Recht hatte Wyneken, als er in diesem Zusammenhang auf die jugendbewegte „Revolution im Geistigen" und die „praktische Revolution gegen das bürgerliche Familienleben und die Schulallmacht" als Zentrum seines Verständnisses der Jugend-Revolte verwies; denn eine Jugendbewegung als ,Lebensform', als ,Stil' war nur von der bürgerlichen Jugend ausgegangen und konnte von der proletarischen Jugend (von der sozialdemokratischen bis zur anarchistischen Spielart), wollte sie nicht bloße Parteinachwuchs-Organisation bleiben, nur imitativ übernommen werden. Richtig war aber auch Kurellas Hinweis 76, daß sich in der Weimarer Welt der Klassengegensätze, also in der sozioökonomischen Realität, die jugendbewegte ,Lebensform' als politisch ebenso unfruchtbar erwies wie die ehemals von ihm selbst geteilte Volksgemeinschaftsideologie: ,,Was werdet Ihr tun, ihr Freideutschen, die Ihr immer noch zwischen Papieren, Träumen, Künstlereindrücken, Bauerngeschirren und Hausmusik nach der Idee der deutschen Volksgemeinschaft sucht? Was Ihr, Ihr Pseudorevolutionäre, die ihr bestrebt seid, auf Krautäckern und Obstgärten Euch ein Stückchen ,wahren Kommunismus' zu erstehlen [... ]? Der Traum der Jugend ist verflogen, der Nebel, der um unseren Horizont lag, ist zerrissen." Die geist-revolutionäre ,Jugendbewegung' im Sinne Wynekens schrumpfte unter diesem Blickwinkel zu einem soziologisch klassifizierbaren Phänomen; Wynekens Verdienst reduzierte sich darauf, auf das Studium der Gesellschaftskunde (Wyneken hatte selbst Nationalökonomie studiert und insbesondere auf Franz Müller-Lyer in seinen Schriften verwiesen) und auf die Bedeutung Hegels aufmerksam gemacht und einige brauchbare schulreformerische Vorschläge für die Gestaltung von Internatsschulen entwickelt zu haben 77. Die Ironie des Schicksals bestand allerdings darin, daß es Kurella als einzigem aus dem Wynekenkreis vergönnt war, den bildungsbürgerlichen Geist-Primat auch in einer ,sozialistischen' Gesellschaft dadurch zu bewahren, daß er als Mitglied des Zentralkomitees der SED maßgeblichen Einfluß auf das ,Kulturleben' (was der Stalinismus unter ,Kultur' verstehen mochte) in der DDR gewann. Freilich erhellt der Fall Kurella auch den psychischen und 135

spirituellen Preis, der für die versuchte Selbstzerstörung des humanistisch-bildungsbürgerlichen Erbes im Dienste der kommunistischen Partei bezahlt werden mußte 78 • Der biographische Einzelfall verweist jedenfalls auf eine historisch bedeutsam gewordene Realisierung der wilhelminischen Gebildeten-Revolte: Sie führte über den ,Jugendsozialismus' zum Parteikommunismus. Der Weg Kurellas und vieler Altersgenossen zur Organisierten Arbeiterschaft illustriert das Scheitern der generationsmäßig jüngsten Spielart der wilhelminischen Gebildeten-Revolte. Die ,Neue Linke' der Jugendsozialisten fiel (sofern sie nicht resignierte) in die Ideologie der ,Alten Linken' zurück. Jedenfalls macht das Schicksal der deutschen Jugendkulturbewegung deutlich, wie gering das gesellschaftlich-politische Innovationspotential dieser Jugend-Opposition war; dies scheint all denen rechtzugeben, welche es als unverantwortlich bezeichnen, ,,wenn man Kinder und Jugendliche ganz prinzipiell zum Kampf gegen eine Gesellschaft [... ] auffordert, deren Funktionieren die Voraussetzung für die ihnen eingeräumten Möglichkeiten der Bildung und der Freizeitgestaltung darstellt" 79. Ein Widerstand der Jugend gegen die Gesellschaft wäre dann selbstmörderisch. Solche vorschnelle Verallgemeinerung übersieht aber die in den psychischen Bedingungen des Jugend-Alters vorhandenen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Erneuerungso ebenso wie den schon von Platon in der Politeia gegebenen Hinweis, daß der Jugend als Opfer einer korrupten (Polis-)Gesellschaft der Aufbau einer besseren Ordnung obliege, wobei ihr der Widerstand gegen die Ungerechtigkeit und die Neuordnung der Gesellschaft durch das Paradigma der gerechten Seele des reifen Sokrates möglich werde. Freilich besteht eine himmelweite Kluft zwischen einem solchen Heilmittel und der Vorstellung des ,Seelenführers' Wyneken, die Koppelung seines revolutionär-aktivistischen „Welterlösungsmythos"B1 mit einem jugendlich-pubertären Vehikel sei eine adäquate Antwort auf die wilhelminische Krise der ,Kultur' (d. h. der gesellschaftlichen Führungsfunktion der Gebildeten). Denn Wynekens Erziehungsbegriff war reduziert - ganz im Sinne der bildungsbürgerlichen deutschen Tradition seit dem Idealismus - und klammerte die politischen Tugenden der klassischen Tradition aus. übrig blieb eine Individual-Ethik, welche für· die Jugend in der HohenMeißner-Formel verpflichtenden Gehalt gewann. Dagegen gelang weder Wyneken noch den Jugendsozialisten die Erneuerung einer politischen Ethik in Deutschland. Der eigentliche Grund für das Scheitern des wilhelminischen Jugend-Widerstandes lag so im Versagen aller erwachsenen Erzieher. Erst wo die Erziehung ihrer 136

Führungsrolle nicht mehr gerecht werden kann, wird ,Jugend' als ursprüngliches Synonym für ,Unreife' plötzlich zum „Wert an sich selbst. Von ihr wird geradezu erwartet, was in der Welt schon verloren ist." Damit erweist sich die Jugend(kultur)bewegung selbst als Zeichen der „Auflösung"s2. Denn für die deutsche Jugend-Opposition gab es keine Tradition der Väter, welche ihrem Widerstand den Weg zur Erneuerung gewiesen hätte. Hierin unterscheidet sie sich radikal von der kontemporären amerikanischen Jugendbewegung 83 • Freilich ist auch diese der Gefahr einer symbolischen Gleichsetzung von ,Jugend' und ,Unsterblichkeit' nicht immer entronnen - Wyneken erhob jedoch dieses Entgleisungsphänomen eines „generational totalism"B4 zum spirituellen Zentrum seiner Vision. Die ,Jugendkultur' als Symbol „revolutionärer Unsterblichkeit" (Lifton) erhellt so einen wesentlichen psycho-sozialen Aspekt der Gebildeten-Revolte.

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2. Die Lebensreformbewegung von Janos Frecot

Die Lebensreformbewegung gehört zu den am wenigsten erforschten psychosozialen Phänomenen der jüngsten Vergangenheit!. Warum eine kritische Darstellung der Lebensreformbewegung im Rahmen eines Sammelbandes zu Problemen des wilhelminischen Bildungsbürgertums vorgenommen wird, bedarf einiger Erläuterungen. Denn die Lebensreformbewegung ist weder zeitlich auf die wilhelminische Ära noch soziologisch auf die bildungsbürgerliche Schicht beschränkt. Sie nahm im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren Anfang, überdauerte das Kaiserreich und reicht bis in die Gegenwart. Einer bestimmten sozialen Schicht lassen sich die Träger dieser Bewegung nur schwer zuordnen; zu ihren Anhängern zählten Angehörige aller Bevölkerungsschichten, Proletarier wie Großgrundbesitzer, kleinstädtische Handwerker wie mittelständische Industrielle, wenn auch die bürgerlichen Berufe überwogen. Dennoch ist die Behandlung der Lebensreformbewegung im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen gerechtfertigt, denn ihre breiteste Entfaltung erreichte sie während der wilhelminischen Ära - um die Jahrhundertwende wurde auch der Begriff ,Lebensreform' eingeführt -, und ihre Wortführer entstammten überwiegend dem Bildungsbürgertum. Eine Analyse der Lebensreformbewegung ist sogar besonders aufschlußreich, weil deren radikalere Antworten auf die Probleme des Bildungsbürgertums wie der hochindustriellen Gesellschaft insgesamt zur wilhelminischen Zeit diese Probleme schärfer herauspräparieren als die Antworten des angepaßten Bürgertums. Denn einerseits stammten die theoretischen Ansätze der Lebensreformbewegung aus der bildungsbürgerlichen Vorstellungswelt und blieben ihr in mancher Hinsicht verhaftet, andererseits trennten sie sich in der praktischen Durchführung von ihr und suchten zwischen dem etablierten bildungsbürgerlichen Idealismus und dem proletarischen Sozialismus einen ,Dritten Weg' zur Reform der Gesellschaft. Dieser Weg verwirklichte sich allerdings nicht als politische Bewegung, da die Lebensreformbewegung weder eine einheitliche Theorie noch eine geschlossene Organisationsform hervorbrachte. Lebensreform bedeutete vielmehr eine spezifische Lebensauffassung und Lebensweise, die sich als Subkultur aktualisierte und sektenhaft organisierte. 138

Lebensreformerisches Denken und mehr noch Empfinden war mit unterschiedlichsten politischen und ideologischen Positionen vereinbar2 und konnte daher in divergierende Richtungen ausstrahlen, in sozialistische, anarchistische und pazifistische ebenso wie in spiritistisch-okkultistische und völkisch-antisemitische. Mit all diesen Richtungen hatte die Lebensreformbewegung eine tiefgreifende Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen gemeinsam. Ihre Kritik war allerdings spezifischer und sehr grundsätzlicher Art: Sie richtete sich nicht nur gegen aktuelle Probleme der technischen Zivilisation, sondern gegen deren Bedingungen - Technisierung, Industrialisierung, Urbanisierung - überhaupt. Demgegenüber setzte sie die Forderung nach Rückkehr zu einer ,natürlichen' oder ,naturgemäßen Lebensweise', in welcher sich das Ideal der Harmonie zwischen Individuum und All in Natürlichkeit und Gesundheit verwirklichen sollte. Insofern kann der ,Dritte Weg' der Lebensreformbewegung als ,rückwärtsgewandte Utopie' bezeichnet werden. Denn einerseits zeigte sie mit ihrem Rückgriff auf das Ideal eines naturhaften Lebens regressive Züge, andererseits entwickelte sie gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ein zukunftsbezogenes Alternativmodell, das zugleich als Phänomen des Widerstandes gegen Struktur und Ordnung der gegenwärtigen Gesellschaft angesehen werden kann. Diese Ambivalenz von regressiven und utopisch-revolutionären Zügen teilt die Lebensreformbewegung mit anderen Bestrebungen aus dem Bildungsbürgertum und rückt sie in die Nähe der ,Konservativen Revolution'; das Besondere an der Lebensreformbewegung ist jedoch, daß die ambivalente Haltung nicht nur in ihren theoretischen Modellen, sondern auch an ihrer Praxis sichtbar gemacht werden kann. Die historische Entwicklung der Lebensreformbewegung vollzog sich etwa seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in mehreren Schüben, denen jeweils andersgeartete Motivationen zugrunde lagen und die auf politisch-gesellschaftliche Zustände wie auf Veränderungen im wissenschaftlich-technischen Bereich antworteten. Zur Lehre von der ,natürlichen Lebensweise' kamen weitere Bestrebungen hinzu, die immer neue Bereiche des täglichen Lebens umfaßten; sie führten, ohne sich gegenseitig aufzuheben oder abzulösen, sondern sich verbindend und überlagernd, zu dem komplizierten Gebilde ,Lebensreform', zu dem es sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in all seinen Richtungen und Schattierungen ausgeformt hatte. Insofern die Geschichte der Lebensreformbewegung bereits zu einem Zeitpunkt einsetzte, da die Industrialisierung, Technisierung und Urbanisierung Deutschlands 139

noch kaum richtig begonnen hatte, läßt sie im übrigen auch die Bedeutung subkultureller Phänomene als Seismographen kommender Entwicklungen erkennen. Im folgenden sollen nun die wichtigsten Strömungen und Gruppierungen der Lebensreformbewegung dargestellt und dabei die heterogenen Elemente ihrer ,Weltanschauungen' und deren praktische Umsetzung herausgearbeitet werden. Die Geschichte der Lebensreformbewegung beginnt mit der Entwicklung der Naturheilkunde. Diese formte die erste, medizinischhygienisch bestimmte Periode, mit der die Lebensreformbewegung auf die Anfänge der modernen, naturwissenschaftlich orientierten Medizin reagierte. Waren die Ursprünge lebensreformerischer Praxis in dem bis in die Antike und das frühe Christentum zurückgehenden Vegetarismus mit seiner religiös-philosophischen Begründung eine Angelegenheit privater Lebenshaltung gewesen, so begann mit der Naturheilkunde, insbesondere der Wassertherapie, eine Phase öffentlicher Wirksamkeit. Kaltes Wasser als wohl schärfste Absage an die moderne Zivilisation und ihre Bequemlichkeiten wie an die offizielle Medizin, die den Kranken in zu kurierende Einzelteile zerlegt, wurde zum universellen Heilmittel erklärt. Der Naturheilkundige sah den Kranken in seiner Ganzheit und erkannte in seinen Leiden die Folgen falscher Lebensweise in einer falschen Gesellschaft. Er stellte sich dem Kranken mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit zur Seite. Der ,Heilkünstler' setzte damit die alte Tradition des Priester-Arztes fort, die in der Naturheilkunde in Gestalten wie Kneipp oder Felke weiterlebte. Den Naturheilkundigen ging es um körperliche und geistige Heilung zugleich. ,,Besonders in der Großstadt, wo sich der Einfluß der Kirche und des Geistlichen auf die einzelnen Menschen nicht so auswirken kann, wie in den engeren Verhältnissen auf dem Lande, ist der Arzt oft zugleich der seelische Berater und Helfer seiner Kranken."s In der Geschichte der Naturheilkunde war es oft umgekehrt: der Priester wurde zum Heiler. Um wirksame hygienische Aufklärung leisten zu können, bildeten sich schon bald Interessenverbände 4, die in Vorträgen, Flugblättern und Zeitschriften auf eine ,naturgemäße' Veränderung der Ernährungs- und Trinksitten, der Kleidung, des Wohnens, der Kindererziehung und des sexuellen Verhaltens hinwirkten. Der freireligiöse Eduard Baltzer und der Jurist und republikanische Politiker von 1848 Gustav Struve, die Bauern Vincenz Prießnitz und Johann Schroth, der Zoologe Gustav Jäger, der Priester 140

Sebastian Kneipp wurden zu Wortführern und, mit ihren auch heute immer wieder neu aufgelegten Schriften, gewissermaßen zu ,Kirchenvätern' der Lebensreformbewegung. In den Bereich der Naturheilstätten, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts allenthalben entstanden, fallen auch die Anfänge der Licht-Luft-Therapie als der Vorform der späteren Freikörperkultur. Den nackten Körper dem kalten Wasser, der frischen Luft und dem Licht der Sonne auszusetzen, wurde zu einem Reinigungsprozeß, der sich zum naturreligiösen Ritual steigerte: Der Mensch vermählte sich hier neu der Natur, d. h. er gewann seine eigene Natürlichkeit zurück, indem er die Fesseln zivilisatorischer Annehmlichkeiten abwarf, und verband sich dadurch gleichzeitig mit der Natur um ihn. Da die Naturheilkunde jede Form von medikamentösem Eingriff ablehnte und vielmehr anstrebte, die Widerstands- und Heilkraft im Kranken selbst zu wecken, lehnten ihre Anhänger auch die staatlich verordneten Impfungen ab. Der Kampf gegen den Impfzwang gehörte seitdem zur Lebensreform ebenso wie der Kampf gegen die Vivisektion, der die Verbindung zwischen Lebensreform, insbesondere dem Vegetarismus, und dem Tierschutz vertiefte. Bestätigt und zugleich in ihrem hygienischen Kampf bestärkt wurde die Lebensreformbewegung durch die Folgen der Hochindustrialisierung, die mit der Gründerzeit anbrach. Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung sowie Lärmbelästigung durch Industrie und Verkehr wurden als Gefahren erkannt, deren Folgen für die kommenden Generationen nicht abzusehen waren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt klangen bereits alle technologischen, sozialen und ökonomischen Probleme der heutigen Umweltdiskussion in der Lebensreformbewegung an. Damit begann die zweite Periode der Lebensreformbewegung, die durch die sozialen Probleme des technischen Zeitalters geprägt wurde. Das soziale und physische Elend des Proletariats in den Industriegebieten führte - abseits der sozialistischen Arbeiterbewegung zur Entwicklung baden- und wirtschaftsreformerischer Theorien5, in denen auch die Lebensreformer Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen erkennen konnten. Der Gedanke der Siedlungsgenossenschaft6 als Kern des ,Dritten Wegs' zwischen Sozialismus und Kapitalismus versprach nicht nur dem einzelnen ein Leben abseits von Industrie und Großstadt, mit optimalen Möglichkeiten zu kultureller Selbständigkeit, individueller Entfaltung eines Lebens in Licht, Luft und Sonne, sondern auch wirt141

schaftliche Autarkie, eine ökonomische Basis durch genossenschaftliches Arbeiten und Wirtschaften, sei es auf handwerklid:J.em, gärtnerischem oder landwirtschaftlichem Gebiet. Dabei bot sich der Land- und Obstbau als das gegebene Mittel zur Erreichung wirtschaftlicher Unabhängigkeit von der Stadt an: Die ersten Reformwarenhäuser7 existierten bereits, die als Abnehmer und Verteiler von Reformwaren - wie z.B. kunstdüngerfrei angebaute und durch keine chemischen Zusätze verunreinigte Naturprodukte (Obst, Gemüse, Säfte) sowie deren Nachfolgeerzeugnisse (Pflanzenmargarine, Vollkornbrot usw.) - zur Verfügung standen. Der erste großangelegte und erfolgreiche Siedlungsversuch aus dem Geist der Lebensreform entstand aus einer Gruppe von Vegetariern und Bodenreformern: die Obstbausiedlung Eden bei Oranienburgs. Das Proletariat hatte hiervon keinen Nutzen. Die Lebensreformbewegung beschränkte sich auf literarische Anprangerung der sozialen Mißstände. Waren in den Schrebergartenvereinen als den Vorläufern lebensreformerischer Siedlung noch die volkshygienischen Anliegen der Lebensreformbewegung eine Koalition mit der Arbeiterbewegung eingegangen, so wurde die Siedlungsbewegung, wie sie mit Eden ihr erstes Zeichen setzte, zu einer Angelegenheit des Bildungsbürgertums. Schon im äußeren Erscheinungsbild hatte Eden mehr mit einer Villenkolonie oder Gartenstadt gemeinsam als mit einer Laubenkolonie. Die erste Generation der Edener kam fast durchweg aus bürgerlichen Berufen. Gärtner, die man dringend gebraucht hätte, waren in der Minderzahl. Entsprechend schwer waren die ersten Jahre: Mißwirtschaft und personelle Fluktuation stellten sich ein. Diese Art der ,Stadtmüdensiedlung' hat es in der Geschichte der Lebensreformbewegung immer wieder gegeben. Zunehmend bereiteten sich allerdings Siedlungswillige in eigens dafür eingerichteten Siedlerschulen auf die neue Lebensweise vor. Nicht zuletzt in der Siedlungsgeschichte der Lebensreformbewegung wird das Motiv der Aufhebung der Trennung von Kopfund Handarbeit sichtbar. Aber auch dieser Versuch zur Überwindung der Entfremdung blieb im privaten Bereich und zugänglich nur für die, die sich zumindest aufgrund besserer Reflexionsmöglichkeiten ein solches Experiment leisten konnten. Eine dritte Periode in der Geschichte der Lebensreformbewegung setzte um die Jahrhundertwende mit der Entdeckung der Schönheit des menschlichen Leibes ein. Die Anfänge dieser Entdeckung lagen bereits einige Zeit zurück. Die Licht-Luft-Therapie als Teil des Naturheilprozesses regte Ende der achtziger Jahre den kran142

ken Maler Karl Wilhelm Diefenbach und seinen Schüler Hugo Höppener, der unter dem Künstlernamen Fidus berühmt wurde, zum Nacktbaden in der Wildnis des Isartales an9. Den beiden Künstlern offenbarte sich die ästhetische Dimension der Nacktheit. Emphatischer noch feierte der junge Heinrich Pudor seine Entdeckung der Nacktheit in einigen kleinen Schriften10, die zu den interessantesten literarischen Dokumenten einer Verbindung aus Nietzschescher Lebensphilosophie, lebensreformerischer Gesundheitsschwärmerei und jugendstilhafter Naturseligkeit gehören. Fortan trieb man ,Körperkultur' nicht nur um gesund, sondern auch um schön zu werden. Um die Jahrhundertwende trat die neue Richtung ins Stadium der Organisation. Die ersten Vereine für Körperkultur 11 wurden gegründet, in denen man zwar noch nicht unbedingte Nacktheit forderte, aber doch Sport und Gymnastik in Luft und Sonne bei geringstmöglicher Bekleidung trieb. Zugleich steigerten sich Jugendstil und Schönheitsbewegung lebensreformerischer Herkunft in einen Natürlichkeitstaumel, der seinen künstlerischen Ausdruck etwa in den Bildern Ludwig von Hofmanns und im Tanz Isadora Duncans fand. Den Vereinsgründungen der Lebensreformer folgte die Gründung der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze 12 in Hellerau bei Dresden, den Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst benachbart und mit ihnen den geistigen Mittelpunkt der ersten deutschen Gartenstadt bildend. Eine neue Antike, als ,Deutsch-Hellas' von einigen Schönheitsfreunden emphatisch begrüßt, schien sich hier anzukündigen. Fidus hat diesem Traum in seinen ,Ringelreif'-Projekten architektonisch und literarisch Ausdruck verliehen 13. Die Diskussion um Ehe- und Sexualreform, seit den neunziger Jahren bereits Bestandteil der Lebensreformpublizistik, erhielt ebenso wie die Frage der Freien Liebe und der Homoerotik neuen Auftrieb durch diese spontanen Befreiungstendenzen von der Prüderie der wilhelminischen Gesellschaft. Als 1901 Schultze-Naumburgs Buch Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung den Kampf gegen Korsett und Schnürschuh einleitete, waren die Lebensreformer unter den ersten, die nun auch die ästhetische Botschaft der Kleiderreform aufnahmen - auf die hygienische Seite einer naturgemäßen Kleidung waren sie schon Jahre vorher durch Gustav Jäger und Heinrich Lahmann 14 hingewiesen worden. Innerhalb der kunstgewerblichen Bewegung gab es ebenfalls Versuche, eine Reformkleidung durchzusetzen 15• Hygienische und ästhetische Motive waren in beiden Gruppen kaum mehr unterscheidbar. Die 143

Kulturreformbewegung begann, sich der lebensreformerischen Tendenzen zu bemächtigen und sie in ihr angepaßteres Vokabular umzuschmelzen. Allen bisher dargestellten Hauptrichtungen der Lebensreform war eines gemeinsam: Sie setzten den Hebel jeweils im körperlichen Bereich an, meinten aber immer den ganzen Menschen, seine leibseelische Reinigung und Harmonisierung. Auch wo es innerhalb des lebensreformerischen Schrifttums Ansätze zu einem eigenen Welt- und Gesellschaftsbild im Geiste des ,Zurück zur Natur' gab, blieben die hygienischen Belange im Vordergrund. Die Lebensreformbewegung bildete, noch bevor es eine staatliche Sozialarbeit gab, eine streng individualistische Form der Sozialarbeit aus: Durch Selbstreform sollte die Veränderung der Gesellschaft, die Lösung der sozialen und politischen Probleme bewirkt werden. Dem Postulat der arzneilosen Heilweise korrespondierte der Appell an die guten Kräfte und Instinkte im Menschen, an seine Einsicht in die Vernünftigkeit einer naturgemäßen Lebensweise. Politik, Parteiwesen, gar Revolutionen mußten dagegen wie Pharmaka, Impfzwang und Operationen wirken. Daher nahmen sich die Lebensreformer in ihrer antipolitischen Haltung neben den herkömmlichen Konservativen, mit denen sie doch sonst manche Züge der ,Reichsverdrossenheit' gemeinsam hatten, wie Anarchisten aus. Ihre Forderung nach Rückkehr der Menschheit zu einem ursprünglichen Zustand ließ sie auf unzeitgemäße Organisationsformen zurückgreifen; den Parteien, Industriellenverbänden und Gewerkschaften, deren Organisation der Durchsetzung materieller Interessen diente, stellten sie die Gemeinschaft des ,Bundes' entgegen, die durch gleiche Ideale zusammengehalten wurde. Inhaltliche Zersplitterung und spontanistischer Umgang mit Organisationsfragen verhinderten, trotz mancher Versuche, den Zusammenschluß zu einem politisch relevanten ,Bund der Bünde' 16. Die organisatorische wie theoretische Labilität der Lebensreformbewegung erleichterte hingegen das Zusammenfließen mit Tendenzen, denen das soziale und kulturelle Erscheinungsbild des kapitalistisch-imperialistischen wilhelminischen Staates als fortgeschrittenes Stadium einer tiefwurzelnden Krankheit des Deutschtums galt. Der physiologischen Entgiftungskampagne entsprachen die religiösen und weltanschaulichen Erneuerungsbewegungen, die, Zerfallsprodukte der fortschreitenden Säkularisierung, als individualistische und politische Ersatzreligionen entstanden. Schon Eduard Baltzer hatte die Konsequenz aus der Diskrepanz zwischen dem überlieferten Christentum und der Realität seiner

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kirchlichen Repräsentanz gezogen und der Landeskirche den Rükken gekehrt. Eine solche auf konkrete Verwirklichung des Evangeliums gerichtete Haltung kam der lebensreformerischen Forderung nach der TAT nach, aus der allein das Neue, Erlösung und Reinigung der Welt, kommen würde. Die Gruppen, die, ähnlich Baltzers ,Freier Gemeinde', mit ihrer christlichen Überzeugung Ernst machten, wie etwa die Anhänger Moritz von Egidys, der das Schlagwort „Religion statt Konfession" prägte, standen noch durchaus auf dem Boden des Christentums, wenn auch in Frontstellung zur Kirche. Von ihnen über die ,Freireligiösen Gemeinden' und die Monisten bis hin zu den proletarischen Freidenkern gab es zahlreiche Grade der Emanzipation von Glauben und Kirche. Während Egidy ein ,Einiges Christentum' forderte, um damit die Konfessionen zu überwinden und die Reformation zu vollenden, strebten andere Gruppen einer deutschchristlichen Kirche zu. Angeregt durch die Schriften von Lagarde, Langbehn und Lange 17 entstanden Bestrebungen zur Konstituierung einer deutscher Religion, aus der allmählich die christlichen Elemente verschwinden und durch nordisch-germanische Mythen ersetzt werden sollten. In diese Richtung flossen deutschvölkische und antisemitische Gedankengänge mit ein, die unter der Parole „Los von Rom" oder ,,Gegen Papst und Juda" alles bekämpften, was ihnen als undeutsch, jüdisch, materialistisch und internationalistisch erschien. Neben den genannten Schriftstellern darf der Einfluß des Werkes von Richard Wagner sowie die publizistische Aktivität seiner Bayreuther Jünger auf die religiöse und kulturelle Gestimmtheit des Bildungsbürgertums nicht unterschätzt werden 18. Um die Jahrhundertwende begannen neue religiöse Richtungen Gestalt anzunehmen, die auf eine Ersetzung des Christentums überhaupt hinausliefen und an seiner Stelle eine arteigene germanische Religion forderten. Angeregt durch die ariosophischen Schriften der Österreicher Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels wurden eine Reihe ordensähnlicher Glaubensgemeinschaften gegründet, wie der ,Neutemplerorden' des Lanz von Liebenfels, die ,Germanische Glaubens-Gemeinschaft' des Malers und Schriftstellers Ludwig Fahrenkrog, der ,Deutsche Orden' des Otto Sigfrid Reuter u. a. Am Rande dieser bis in die dreißiger Jahre noch wachsenden Bewegung gedieh eine mystisch-okkultistische Literatur voller abenteuerlicher Spekulationen, ,,verstärkt durch den Einstrom der vielen durch den Rückzug des Christentums freigewordenen ,Geheimlehren', welche die vom Christentum verlassenen und vom Fortschritt umgangenen ,unerschlosse145

nen Welten' zu erschließen" trachteten 19 - Spekulationen über die Lage des Paradieses, Atlantis-Helgoland-Theorien bis hin zu Hörbigers Hohlwelttheorie und Fauths Welteislehre, die, obwohl nur bedingt dem völkischen Lebenskreis zugehörig, hier doch erwähnt seien, da sie in ihrer kosmischen Katastrophenphilosophie den Tiefpunkt einer fatalistischen und irrationalistischen Geschichtsauffassung darstellten. Dazu kam das Wiederaufleben des Okkultismus, der Parapsychologie, der Theosophie und die Begründung der Anthroposophie. Eine neue gnostische Zeit schien über Deutschland, ja über alle industrialisierten Länder hereingebrochen zu sein. Die Menschheitsgeschichte erschien mehr und mehr als Mysteriendrama, in dessen Verlauf sich Völker und Rassen emporläuterten oder ins Nichts zurücksanken. Den Lebens-Selbstreformern kam insbesondere die Reinkarnationslehre entgegen, forderte sie doch vom einzelnen strenge Selbstdisziplin und Konzentration auf die Verwirklichung der ewigen Gesetze, seien diese nun göttlich oder von der Natur gegebene. Während die Aktivitäten der Okkultisten, Spiritisten, Theosophen und Reinkarnisten, die sich zu einem ,Verband deutscher Okkultisten' zusammengeschlossen hatten, auf subkulturelle Gruppen beschränkt blieben, formierten sich innerhalb des Bürgertums breitere Kreise in kulturpolitischen Bünden, deren höchstes Ideal der Wiederaufstieg Deutschlands aus dem Geist des Germanentums war. Angeregt durch Nietzsches einseitig gedeutetes Wort vom „Herrenmenschen" 20 und ausgehend von den Rassentheorien, wie sie von Gobineau und seinem deutschen Herold Ludwig Schemann sowie von Chamberlain vorgetragen wurden, fanden die Anhänger etwa des ,Deutschbundes' Friedrich Langes oder der ,Deutschsozialen Reformpartei' 21 , einem Konglomerat aus agrar- und sozialreformerischem, religiösem und parteipolitischem Antisemitismus, zunehmend ,wissenschaftlichen' Boden für ihre bisher mehr gefühlsmäßig gewonnenen Ansichten. Die Lehre von der Ungleichheit der Rassen, die als Zuschlag der Herrscherrolle an die arische Rasse verstanden wurde, traf sich mit dem Antisemitismus verschiedenster Motivation. Eine Schlüsselrolle für unseren Zusammenhang fiel dabei Bugen Dührings 1881 erschienenem Buch Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage zu, da es für die wirtschafts-, rechts- und bodenreformerischen Kreise um Theodor Fritsch22 zu einer wesentlichen Quelle für deren antisemitische Propaganda wurde. Fritsch aber war der Mann, dessen sozialreformerische Theorien in den Reihen 146

der Lebensreformer aufgenommen wurden. Rückkehr zum germanischen Recht, Brechung der Zinsknechtschaft und Rückführung des Bodens in Gemeinbesitz - das waren Parolen, die auch vielen keineswegs völkisch denkenden Lebensreformern, wie etwa den Anhängern der FFF-Bewegung Silvio Gesens2a, durchaus einleuchteten. Eine geradezu religiöse Dimension nahm die boden- und wirtschaftsreformerische Ideologie der Lebensreformbewegung an, als sie unter dem Eindruck der immer sichtbarer werdenden Folgen der Urbanisierung begann, rassenhygienische Siedlungsprojekte zu entwerfen. Die Klassenfrage sollte durch die Rassenfrage gelöst werden. Aus der rassenhygienischen Literatur, soweit sie direkte Wirkungen in die Lebensreformbewegung hinein hatte, ragt die Gestalt des sächsischen Fabrikanten und Chemikers Willibald Hentschel heraus. Schon in seinem 1901 erschienenen Hauptwerk Varuna. Eine Welt- und Geschichtsbetrachtung vom Standpunkt des Ariers trat er für „Rasse- und Normenzüchtung" ein. Um das Jahr 1905 gründete er den ,Mittgart-Bund', dessen Ziel es war, „von der theoretischen Hochhaltung germanischer Art zu deren planmäßiger Pflege fortzuschreiten"H. Noch deutlicher wurde er in der Schrift Vom aufsteigenden Leben. Ziele der RassenHygiene, in der er das Programm des Mittgart-Bundes erläutert: ,,So geht der Mittgart-Bund auf die Errichtung umhegter Zuchtstätten (Mittgart-Dörfer) aus, in denen unserem Volke neue germanische Reserven heranwachsen sollten."25 Verwirklichen konnte Hentschel diesen Plan erst nach dem Ersten Weltkrieg, als er mit den Resten seines durch Kriegsanleihen zusammengeschmolzenen Vermögens ein Stück Land im Hadelner Moor bei Westerwanna kaufte, um dort die Keimzelle des ,Artamanenbundes' zu bilden 26 • Wie sehr derartige Pläne auch in der Lebensreformbewegung Fuß fassen konnten, zeigt das Beispiel des Edener Arztes und Ernährungsreformers Friedrich Landmann. Er forderte die Schaffung ländlicher Siedlungen aus dem Geiste der Lebensreform und der Jugendbewegung als Mittel der „Absonderung von den Stätten der Unkultur"21. Unter der Devise: ,,Die Geschicke der Völker entscheiden sich weder auf dem Schlachtfeld, noch am grünen Tisch der Diplomaten, sondern im Bett" 2 s, plädierte er „für die dauernde Absonderung des Gesunden vom Kranken". ,,Man versetze die gesunderen Menschen, soweit sie sich freiwillig dazu erbieten, in eine neue, günstigere Umwelt, dann werden sie ganz gesunden, sich stärker vermehren und schon nach wenigen Generationen diejenigen Gebiete wieder besiedeln, die durch das

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Aussterben der übrigen, einer Gesundung nicht mehr fähigen und ihrer Vermehrung abgeneigten Volksmasse freigeworden sind!" 29 Gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Freiland-Siedlung Donnershag bei Sontra in Hessen mit ihrer Monatsschrift Neues Leben. Zeitschrift für deutsche Wiedergeburt zum Ausstrahlungspunkt rassenhygienischer Siedlungspläne. So wurde dort 1918 aus deutschgläubigen, lebensreformerischen und völkischen Teilen der Jugendbewegung, wie sie etwa vom Jungdeutschen Bund repräsentiert wurden, ein ,Bund für rassische Siedlungen' gegründet 30. Aber nicht nur in derartige sektenhafte Randgruppen strahlte lebensreformerisches Denken aus, sondern auch in die großen, vom etablierten Bildungsbürgertum getragenen kulturreformerischen Bünde. Aus dem Mitarbeiterkreis des Kunstwart, der im Bildungsbürgertum der Zeit zwischen 1900 und 1914 wohl verbreitetsten Kulturzeitschrift, ging 1902 unter Führung von Ferdinand Avenarius der ,Dürerbund' hervor. Er wollte eine „Partei der Sachlichen" sein und vertrat, sorgfältig sich von allen Radikalismen und Schrulligkeiten der Lebensreformer distanzierend, deren Anliegen auf breitester Basis. Die Reinigung des öffentlichen Lebens von Materialismus und Überfremdung in Politik, Religion und Kultur war eine Allgemeinformel der Kulturreformbewegungen der Zeit. Damit allein begnügte sich der Dürerbund nicht, sondern gab, ebenso wie der Kunstwart in regelmäßigen Artikelserien, in seinen Flugschriften zur Ausdruckskultur, seinen Literarischen Ratgebern und vielen anderen Veröffentlichungen praktische Anleitungen zur Lebenskunst, die von philosophischen, religiösen, pädagogischen und medizinischen Fragen bis zu Heimat- und Naturschutz, Wohnungseinrichtung und Friedhofsgestaltung alle Fragen der Alltagskultur anschnitten. Die Harmonisierung der Persönlichkeit sollte in einer harmonischen Umwelt stattfinden. Praktischere Ziele noch verfolgte der 1907 durch Architekten, Kunstgewerbler und Industrielle gegründete ,Deutsche Werkbund', der sich die „Durchgeistigung der deutschen Arbeit" zum Ziel gesetzt hatte. Seine Forderungen nach Wertarbeit im Namen des guten Geschmacks (und der Exportfähigkeit der deutschen Industrie) wie die Erziehung des Käufers waren praktische Folgerungen aus der jahrelangen theoretischen Aufklärungsarbeit von Kunstwart und ,Dürerbund'. Damit hatte die Lebensreform einen zunehmend umfassenden Anspruch auf Erneuerung aller Bereiche des privaten Lebens mit dem Ziel einer allmählichen Umgestaltung der Gesellschaft erhoben. Andererseits blieben aber auch die Aktivitäten der kultur148

reformerischen Gruppen nicht ohne Echo in der Lebensreformbewegung. Mit welcher Ausführlichkeit etwa die Bemühungen von ,Dürerbund' und ,Deutschem Werkbund' um eine neue Alltagskultur in der Lebensreformbewegung diskutiert wurden, zeigt ein Aufsatz Fritz Paudlers, Schriftleiter des Wiener Alkoholgegner, mit dem Titel Der neue Stil31 ; Der neue Stil als der moderne Stil schlechthin sei zum erstenmal im deutschen Beitrag zur Weltausstellung Brüssel 1910 zutage getreten, schrieb Paudler, und er sei kein „Oberschicht-Stil" mehr, sondern gehöre als „Gesamtheitsstil" dem „Alltag der Masse" 32 ; darin sei er Ausdruck der sozialreformerischen Zeit Die Möglichkeiten zur Überwindung der „zwei Nationen" im Staate sah Paudler nicht im „Gegengift des Sozialismus" 83 , sondern, um im Sinne der Kulturreform auch die ästhetische Lebensführung in die neue Gesellschaft hinüberzuretten, im ,Dritten Weg' Damaschkes und seiner Bodenreformlehre, die den „Frieden zwischen Sozialismus und lndividualismus"34 garantiere. Das Ziel: ,,Ein Leben freier Bürger in freier Arbeit [... ] der Einzelnen auf freiem Boden der Gesellschaft in subjektiver und objektiver Harmonie von Natur und Zivilisation: die Gartenstadt!"as Nachdem so die Klassenfrage gelöst schien, wurde die Rassenfrage gestellt, und Paudler kam zu dem Ergebnis, daß der neue Stil „trotz all jener gegenwirkenden Umstände, so man mit einem Wort als ,Preußentum' bezeichnen kann", ein „reines Werk der nordischen Rasse" ist, ,,und zwar aus ihrer Seele und Umwelt heraus"S6 • Die deutsche Seele habe sich darin nicht nur vom Christentum befreit, sondern auch von dem Glauben, nur durch die Antike den Bann des Christentums brechen zu können. Der neue Stil führt im Zeichen einer „nordischen Renaissance" das „Wiederaufleuchten der durch das beirrende ex oriente lux so lange verdunkelten ruhig strahlenden Mitternachtssonne"37 herauf. Damit sei keinem Kulturimperialismus das Wort geredet, beteuerte Paudler, sondern „gerade sein [des neuen Stils, d. Verf.] Prinzip der Sachlichkeit läßt einen unvergleichlich größern, den größtmöglichen Spielraum für das besondere Wesen auch jedes andern Volkes - wohlgemerkt jedes, das zur Sachlichkeit grundsätzlich fähig und von Milieu tatsächlich reif ist!"Ss Während sich für Paudler der ,,(natur-)wissenschaftlich-demokratisch-sozialreformerische Stil" in der Gartenstadt lokalisieren sollte, schlug Heinrich Driesmans zunächst eine mehr politisch aussehende Lösung zur Gesundung und Harmonisierung von Individuum, Volk und Staat vor. Nachdem er bereits früher „die vielfachen Bünde und Verbände zum Zwecke dieser oder jener Kultur- oder Reformbestrebung" als „Surrogate zur Beschwich149

tigung des Kulturgewissens" 39 als untauglich erklärt hatte, kam er in seinem Referat auf dem 1. Kongreß für biologische Hygiene in Hamburg zur Sache. So abstruse Kuriositäten wie „die ,Neue Gemeinschaft' in Schlachtensee bei Berlin, welche sich in einem süchtigen Ästhetizismus ergingen und schließlich in einem wilden Orgasmus endeten", lehnte er ebenso ab wie „germanophile Tierparks [... ] wie das ,Mittgart' des Rassetheoretikers Willibald Hentschel"4o. Ähnlich Landmann schlug er „Naturparks für die Jugend"4t vor, in denen eine Generation „wild" aufwachsen sollte. Gleichzeitig sollte sich, um den biologischen Erneuerungsprozeß zu steuern und auf höchster, politischer Ebene durchzusetzen, ein ,,Kulturparlament" bilden, das als außerparlamentarische Opposition „über seine gesamte Regierung und Volksvertretung einfach zur Tagesordnung übergehen" sollte, um „seine eigensten und dringendsten Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen"42. Während bei Driesmans das Kulturparlament noch als moralische Forderung schemenhaft blieb, drängte Adalbert Luntowski in Anlehnung an Driesmans zu Taten. Im Gegensatz zu Carlyle, der in eine „bestmögliche Organisation der Schriftsteller vielleicht die Armut als wichtigsten Faktor" aufgenommen wissen wollte, schlug Luntowski für die Schöpferischen einen gewissen Besitzstand vor: ,,Die Schöpferischen als der neue Adel haben die Lebenshaltung für das kommende Geschlecht, das Formantlitz der kommenden Kultur zu schaffen." 43 Dabei sollte der Schöpferische von einer Gemeinde unterstützt werden. ,,Meine Forderung geht dahin, daß der Kulturrat die Gemeinschaft der Schöpferischen und der Kulturmenschen zu Gemeinden, zu Werkgemeinden formt. [... ]Genießende und Schaffende würden gemeinsam Werk und Lebenshaltung formen. [... ] Es bilden sich heute überall Gartenstädte und Neulandsiedlungen fern von den Städten. Dorthin gehört der Schaffende."44 Luntowskis Vorschläge zielten auf seine eigene Situation ab: er lebte zur Zeit der Niederschrift dieser Forderungen in Schönblick bei Woltersdorf, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fidushaus. Dort hatte sich 1912 der ,St-Georgs-Bund' gebildet, auf Initiative des Malers Fidus und der Schriftstellerin Gertrud Prellwitz. Beide wollten das Fidushaus zum Kristallisationspunkt des ,neuen Stils' in Leben und Kunst machen. Dazu bedurfte es der tragenden ,Gemeinde', die im Bund heranwachsen sollte. Die Gemeinde trat hier als letzte, sinnbildlich höchste Organisationstufe innerhalb der Lebensreformbewegung auf. Ihr Ort war die Siedlung, ihr Ziel der Tempelbau 4s. Hier sollten sich Lebens150

reform, Kulturreform und religiöse Erneuerung vollenden, indem das Leben der Gemeinde und ihrer einzelnen Mitglieder zum Gesamtkunstwerk stilisiert wurde, damit symbolisch dem noch in materiellem Denken verhafteten Volk die wahre ,neue Gemeinschaft' als Keimzelle des ,neuen Reiches' vorführend. Der historische Abriß der Lebensreformbewegung hat diese als Ergebnis der Unzufriedenheit mit den jeweils herrschenden Zuständen vor Augen geführt, einer sozialen, psychischen, religiösen und kulturellen Unzufriedenheit, die viel weitere Kreise des wilhelminischen Bürgertums erfaßt hatte, als die Lebensreformbewegung in ihren Gruppen repräsentierte. Die Alternativen zum angepaßten bürgerlichen Dasein, wie sie von der Lebensreform zur Verfügung gestellt wurden, betrafen den individuellen, lebenspraktischen Bereich. Sie wurden außerhalb der Parteien, der wirtschaftlichen Interessengruppen, der Universitäten und der publizistischen Öffentlichkeit propagiert. Die Lebensreformbewegung wurde eingangs als subkulturelles Phänomen charakterisiert. Ihr subkultureller Charakter ergab sich jedoch nur zum Teil durch ihren Rückzug aus der Öffentlichkeit und ihre sektenhaften Organisationsformen. Ein wichtigeres Charakteristikum ist, daß hier offiziell verdrängte Probleme, öffentlich nicht zugelassene Kritikansätze aufgenommen und unterhalb der Schwelle des öffentlichen Bewußtseins ausgebildet wurden. Die Forderung nach Umkehr aus der wachsenden Entfremdung des gesamten Lebens- und Arbeitsbereichs wurde zum totalen Erneuerungsanspruch an die technologische Gesellschaft. Obwohl diese Forderung so umfassend und geradezu revolutionär war, zog sie auf der an sich einzig angemessenen Ebene, der politischen, keine Konsequenzen nach sich. Dieser Sachverhalt zeigt, daß die Lebensreformbewegung als Widerstandsphänomenen innerhalb des Bildungsbürgertums verblieb; es gelang ihr nicht, den letzten Schritt zu tun, nämlich die bildungsbürgerliche Vorstellungswelt und Mentalität zu durchbrechen. Statt dessen fand eine Vermarktung einzelner lebensreformerischer Teilbereiche statt, die zur allmählichen Veränderung nicht nur der öffentlichen Einstellung, sondern auch zu Veränderungen innerhalb der Lebensreform selbst führte. Obwohl sich praktische Forderungen, etwa auf dem Gebiet der Ernährung, Kleidung und Hygiene, durchsetzten, veränderten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse keineswegs so, wie die Lebensreformer es vorausgesagt und erwartet hatten. Die Selbstreform hatte nicht zur Gesellschaftsreform geführt. So ging der konse151

quente Lebensreformer weiterhin abseits der politischen Bewegung seinen eigenen ,Dritten Weg', der durch die Individualisierung der sozialen Probleme zum Kult der Innerlichkeit führen mußte. St. Georg wurde zum Symbol des lebensreformerischen Einzelkämpfers gegen die Schlange ,Materialismus'. In der Praxis bedeutete dieser Kampf allerdings eher Verweigerung und ,passiven Widerstand'; der Exodus aus Gesellschaft und Geschichte trieb den Lebensreformer in letzter Konsequenz als Siedler in die ,innere Emigration'. Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß eine technisierte und durchorganisierte Gesellschaft über ein bestimmtes Potential nicht anpassungswilliger Menschen verfügt, die trotz Verwirklichung mancher ihrer Forderungen auf dem ,Ganzen' beharren und ihrem idealen Ziel einer Rückkehr des Menschen zur Natürlichkeit treu bleiben, auch wenn sie dadurch als gesellschaftliche Außenseiter und irrationale Schwärmer angesehen werden. War die kultische Gemeinde, wie sie um 1912 entstand, noch auf ökonomischen und kulturellen Austausch mit der sie umgebenden Öffentlichkeit angelegt, so triumphierte in den Notjahren nach den Kriegen die Lebensreform als privatistische Lebenskunst im autarken Siedler. Einzig hier konnte sich vorübergehend die vom Bildungsbürgertum angestrebte ,Herrschaft des Geistes' praktisch verwirklichen - im Versuch, unter Verzicht auf die Errungenschaften der technischen Zivilisation zu überleben.

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3. Deutsche Apokalypse 1914 von Klaus V ondung Die patriotische Begeisterung, die der Kriegsausbruch 1914 in Deutschland hervorrief, ergriff zweifellos den überwiegenden Teil der Bevölkerung, doch in Worte gefaßt und publizistisch verbreitet wurde die nationale Euphorie in erster Linie durch Angehörige des Bildungsbürgertums. Diese Tatsache findet ihre naheliegende Erklärung darin, daß Schriftsteller und Pfarrer, Universitätsprofessoren und Gymnasiallehrer die Voraussetzungen besaßen und sich in ihrem Selbstverständnis als geistige Repräsentanten der Nation auch berufen fühlten, die allgemeine Stimmung zum Ausdruck zu bringen. Der besondere Eifer aber, mit dem sie vaterländische Bekenntnisse und Kriegsbegeisterung verbreiteten, könnte damit erklärt werden, daß sie sich - als integrierte Mitglieder des gesellschaftlichen ,Establishments' oder gar als Beamte - mit dem ,Staat' identifizierten und bereitwillig unterstützten, was den politischen Zielen der Staatsführung dienlich sein mußte. Auch diese Erklärung klingt durchaus plausibel, bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß sie allzu sehr an der Oberfläche eines wesentlich komplizierteren Sachverhalts bleibt. Hinter der exuberanten patriotischen Rhetorik, die den Ton der meisten Stellungnahmen zum Krieg bestimmte, steckte mehr als nationalistische Leidenschaft oder bloße Propaganda, sei diese nun bewußt oder ,verinnerlicht' gewesen. Die Aufsätze und Vorträge, Gedichte und Predigten, die sich mit dem Krieg befaßten, kreisten immer wieder um die Frage nach dessen Sinn, und die Antworten, die gegeben wurden, bezogen sich nicht nur auf deutsche Kriegsziele und die Bedeutung des Kriegs für Deutschlands machtpolitische Stellung in der Welt, sondern versuchten auch den Sinn zu bestimmen, den der Krieg der deutschen Gesellschaft vermitteln konnte und sollte: Die Kriegsdeutungen offerierten gesamtgesellschaftliche Ordnungsmaßstäbe für Denken und Handeln, sie wollten Sinn stiften für die Nation. Den Sinnentwürfen, die der Krieg provozierte, lagen verschiedenartige Motive zugrunde: Einerseits entsprachen sie einem Bedürfnis, das ganz natürlich der Unruhe, Sorge und Unsicherheit entsprang, die das Kriegsgeschehen mit sich brachte, andererseits gingen sie aber über ihren unmittelbaren Anlaß hinaus, wenn sie gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen allgemeiner Art entwickelten: Offenbar bezogen sie sich dann auch auf Probleme, welche

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die wilhelminische Gesellschaft schon vor Ausbruch des Kriegs bewegten. Abgesehen von diesen Motiven, die ein jedes Mitglied der Gesellschaft veranlassen konnten, Sinnfragen zu stellen, gab es jedoch für die Gebildeten noch zusätzliche, spezifische Gründe, sich mit Sinnproblemen zu beschäftigen: Der Krieg, dessen gewaltsame Gesetze die individuelle wie gesellschaftliche Existenzproblematik bestimmen und auch das Reich des Geistes dominieren, ist für Intellektuelle stets ein dringlicher Anlaß, nach dem Sinn ihrer Existenz und sozialen Funktion zu fragen. Doch abgesehen von der kriegsbedingten Verschärfung der Lage bestand auch dieses Problem, nämlich die unsicher gewordene Position und Rolle der Gebildeten im gesellschaftlichen Gesamtgefüge, wie die allgemeine Problematik der wilhelminischen Gesellschaft schon vor 1914. Der beschriebene Tatbestand gibt somit zu zwei verschiedenen Fragen Anlaß. Erstens: Waren die Ordnungsentwürfe der Professoren, Pastoren und Schriftsteller, obwohl sie durchaus für die ganze Gesellschaft gelten sollten, nicht zugleich auch Antworten auf eine schichtspezifischeFrage nach Sinn und Bedeutung der gesellschaftlichen Existenz des Bildungsbürgertums? Zweitens: Warum provozierte der Erste Weltkrieg Sinnentwürfe solcher Dimensionen, nachdem ein großer Teil der zugrundeliegenden Motive schon vorher gegeben wart? Um die genannten Fragen beantworten zu können, müssen sowohl die Inhalte der bildungsbürgerlichen Sinnentwürfe, als auch deren psychosozialer Hintergrund analysiert werden. Zuvor ist jedoch noch etwas näher auf die Autoren der Kriegsdeutungen und deren Publizität einzugehen. Unter den zahllosen, oft auch unbekannten Verfassern von Kriegsdeutungen heben sich diejenigen besonders heraus, die als hervorragende Repräsentanten der bildungsbürgerlichen Schicht gelten können: Universitätsprofessoren und Gymnasiallehrer als die vornehmsten Lehrer der Nation, Pfarrer als die geistlichen Erzieher des Volks, bekannte Schriftsteller als öffentlich akzeptierte Vertreter der deutschen Kultur. Angehörige dieser Berufsgruppen besitzen nicht nur hohes soziales Prestige, sondern auch die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Breitenwirkung, die sie mittels Erziehung und Ausbildung wie durch publizistische Tätigkeit erzielen. Von den schriftlich verbreiteten Kriegsdeutungen erlangten Kriegsgedichte und Kriegslieder durch das staunenswerte Ausmaß ihrer Produktion und Distribution besondere Publizität 2 • Einer zeitgenössischen Schätzung zufolge entstanden allein im August 1914 154

eineinhalb Millionen Kriegsgedichte, also 50 000 im Tagesdurchschnitt. Diese Flut ging allerdings mit der Fortdauer des Kriegs wieder zurück, vor allem nachdem sich ab 1916 die Aussichten auf eine baldige und siegreiche Beendigung des Kriegs sichtlich verschlechterten und seine Auswirkungen auch auf die Zivilbevölkerung immer drückender wurden. Das Gros der Kriegsgedichte stammte von unbekannten Verfassern, ,,von jäh begnadeten Dilettanten"3, unter denen man jedoch in erster Linie ebenfalls Bildungsbürger vermuten darf und zum Teil auch nachweisen kann - Gymnasiasten, Studenten, Lehrer, Pfarrer oder gebildete Hausfrauen; gleichwohl beherrschten die „eigentlichen Lyriker, die geborenen Dichter der Nation"4, die Szene. Es waren vor allem die Gedichte von Richard Dehmel, Cäsar Flaischlen, Walter Flex, Ludwig Ganghofer, Gerhart und Carl Hauptmann, Rudolf Herzog, Ernst Lissauer, Rudolf Alexander Schröder, Ina Seidel, Eduard Stucken etc., die in zahllosen Anthologien mit oft mehreren Auflagen und hohen Auflageziffern sowie in Tageszeitungen und Zeitschriften jeglicher Art immer wieder abgedruckt wurden. Eine ebenso umfangreiche publizistische Tätigkeit entfalteten die Geistlichen. Während der ersten beiden Kriegsjahre wurden über tausend Predigten und andere Erbauungsschriften zum Krieg veröffentlicht; einzelne Publikationen erreichten Auflagen von mehreren Hunderttausend. Die Veröffentlichungen der Universitätsprofessoren konnten mit solchen Zahlen nicht ganz mithalten, obwohl die Kriegsreden und Vorträge von Berühmtheiten wie Eucken, Gierke, Harnack, Roethe oder Wilamowitz-Moellendorff in Einzel- und Sammelausgaben wie in besonderen, auflagenstarken ,Feldpost'- und ,Schützengraben-Ausgaben' durchaus beträchtliche Verbreitung erfuhren. Die Publikumswirkung der Professoren erhöhte sich allerdings noch durch die Vortragstätigkeit selbst, die nicht auf das akademische Milieu beschränkt blieb. Der Philosoph Rudolf Eucken zum Beispiel, Nobelpreisträger von 1908 und eine internationale Zelebrität, hielt während des ersten Kriegsjahres mindestens zwei Vorträge pro Woche, in deutschen Städten wie vor den Soldaten im Feld. Auch die Publizität von Kriegs- und Feldpredigten beruhte nicht nur auf Veröffentlichungen, sondern mehr noch auf dem mündlichen Vortrag, der in all diesen Fällen - so auch bei Festreden in den Schulen - die primäre, wenn nicht die einzige Art der Kommunikation war. Die Publikationstätigkeit der Professoren und Geistlichen ging im übrigen - wie die der Verfasser von Kriegsgedichten, und aus denselben Gründen - ab 1916 stark zurück.

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Wie sahen nun diese so wirkungsvoll in die Öffentlichkeit getragenen Interpretationen des Kriegsgeschehens aus? Die Antwort, die die genannten Kreise des Bildungsbürgertums auf die Frage nach dem Sinn des Krieges gaben, kleidete sich in die Form einer Geschichtsapokalypse 5 , die in Schema und Struktur weitgehend den Vorbildern der jüdisch-christlichen Apokalyptik folgte. Die Symbolik dieser Deutungen war synkretistisch, die zentralen Symbole entstammten jedoch der jüdisch-christlichen Tradition; solche aus anderen Traditionszusammenhängen, wie dem der germanischen Mythologie, wurden in das apokalyptische Deutungsschema integriert. Es gibt zwar nur wenige Zeugnisse, meist Gedichte, in denen sich dieses Schema als vollständiges apokalyptisches Drama entfaltet, doch seine wichtigsten Elemente und Symbole treten in Vorträgen, Predigten und Gedichten mit solcher Häufigkeit auf, daß es gerechtfertigt erscheint, sie als Bestandteile einer allgemeinen und lebendigen ,symbolischen Sinnwelt'6 zu betrachten und diese in ihrem Gesamtgefüge darzustellen. Im Zentrum der ,deutschen Apokalypse' von 1914 steht die Deutung des Kriegs als ,Weltgericht', das Gott über Deutschlands Feinde verhängt hat. Die Kriegsgegner des Deutschen Reichs werden mittels klassischer apokalyptischer Symbole als Vertreter des schlechthin Bösen gezeichnet und mit dem Satan und Antichrist identifiziert. Die Deutschen, von diesem Feind seit langem bedrängt, erscheinen als ,Gottes Volk', das berufen ist, im Auftrag Gottes das ,Weltgericht' zu vollstrecken. Da Deutschland als ,Werkzeug Gottes' kämpft, gilt sein Sieg als ausgemacht. Als Schlußakt eines apokalyptischen Dramas erhält der erwartete Sieg die Qualität eines ,metastatischen' Ereignisses7, das nicht nur Deutschland, sondern der ganzen Welt ,Erlösung' bringen wird. Diese Geschichtsapokalypse unterscheidet sich in wesentlichen inhaltlichen Punkten von ihren spätjüdischen und christlichen Vorbildern, obwohl sie deren Handlungsschemata und Symbole verwendet. Bezeichnet in der Daniel- oder Johannes-Apokalypse das ,Gericht'-Symbol ein unmittelbares Eingreifen Gottes in die Geschichte, wodurch diese beendet und die Welt in einen Zustand der Vollkommenheit außerhalb der bisherigen Geschichte verwandelt wird, so steht in den Kriegsdeutungen von 1914 das Symbol des ,Weltgerichts' für einen metastatischen Akt, der sich innerhalb des Geschichtsprozesses ereignet. Das ,Weltgericht' wird nicht durch Gott vollstreckt, sondern von den Deutschen selbst. Die damit vollzogene Sinnerfüllung ist weltimmanent und besteht unter anderem in der erwarteten Herrschaftsausdehnung des Deut-

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sehen Reichs und in der Erlösung der Welt durch das ,deutsche Wesen'. Die Apokalypse in ihrer immanentisierten Form fügt sich in den Rahmen einer Geschichtstheologie, die hauptsächlich von protestantischen Theologieprofessoren und Pastoren vorgetragen wurde und deren Essenz in einem Offenbarungsverständnis zu fassen ist, das sich vom christlichen deutlich entfernt hat. Grundlegend wird die Auffassung, die Weltgeschichte selbst sei „Offenbarung des lebendigen Gottes" 8 , was die Folgerung erlaubt, daß auch historische Ereignisse in ihrer bloßen Faktizität Offenbarungscharakter haben und in der Geschichte handelnde Menschen oder Völker Träger der Offenbarung sein können. Für die theologischen Exegeten der Geschichte wird so der Erste Weltkrieg zum Heilsereignis, das Sinn und Ziel der Weltgeschichte erfüllen wird, und zwar durch das deutsche Volk und in ihm selbst, denn in ihren Augen ist „das deutsche Volk und deutscher Geist die Offenbarung der Ewigkeit" 9 • Die heilsgeschichtlichen Interpretationen des Ersten Weltkriegs dominierten in der evangelischen Theologie der Zeit, die katholischen Theologen waren in dieser Hinsicht zurückhaltender. Zwar standen im allgemeinen die katholischen Geistlichen ihren protestantischen Kollegen an Vaterlands- und Kriegsbegeisterung nicht nach, doch sollte ihr Patriotismus wohl in erster Linie - nach dem inzwischen Geschichte gewordenen Kulturkampf - katholische Staatstreue gegenüber dem protestantisch beherrschten Reich bezeugen. Geschichtstheologische Spekulationen und apokalyptische Deutungen des Kriegs wurden von ihnen in der Regel nicht entwickelt. Der Grund hierfür liegt hauptsächlich im traditionellen Mißtrauen der katholischen Kirche gegen apokalyptische Entwürfe und ähnliche, der Häresie verdächtige Spekulationen. Die deutsche Apokalypse von 1914 war also in erster Linie ein protestantisches Phänomen, dessen Dimensionen durchaus auch über den engeren Rahmen der evangelischen Theologie und Kirche hinausreichten. Denn apokalyptische Kriegsdeutungen wurden nicht nur von evangelischen Theologen und Pastoren verkündet, sondern auch von Universitätsprofessoren und Schriftstellern, welche fast ohne Ausnahme Protestanten waren, soweit dies bei den bekannteren von ihnen festgestellt werden kann. Die Prädominanz von Protestanten unter den Autoren apokalyptischer Entwürfe ist auffallend; zunächst erklärt sie sich einfach daraus, daß die Schicht der Gebildeten im wilhelminischen Reich ohnehin überwiegend protestantisch war und infolgedessen auch die meisten Veröffentlichungen zum Krieg von Protestanten stammten 10 • 157

Doch der apokalyptische Ausbruch selbst ist damit keineswegs erklärt. Die eingangs aufgeworfenen Fragen lassen sich noch nicht beantworten, aber sie können inzwischen präziser formuliert werden: Warum deutete das protestantische und ,etablierte' Bildungsbürgertum der Professoren, Pastoren und Schriftsteller den Ersten Weltkrieg als apokalyptisches Drama? Kulturelles Sendungsbewußtsein und machtpolitische Ziele müssen nicht notwendigerweise so formuliert werden, auch deren Legitimation läßt sich in andere Termini fassen. Zur Rechtfertigung des deutschen Weltmachstrebens konnte man ebenso auf die Überlegenheit deutscher Kultur und Technik wie auf die Notwendigkeit territorialer und wirtschaftspolitischer Expansion zur Sicherstellung des künftigen Wohlgedeihens der Nation verweisen, wie das ja auch noch zusätzlich geschah. Selbst sakrale Überhöhung machtpolitischer Ziele durch religiöses Vokabular - ein ebenfalls übliches Mittel, zudem mit Tradition - zieht keineswegs zwangsläufig eine apokalyptische Geschichtsspekulation nach sich. Wo lagen also die Motive für deren Entwicklung? Welcher Sinn wurde durch sie dem Krieg beigelegt? Welche Interessen verfolgte das Bildungsbürgertum mit ihrer publizistischen Verbreitung? Um diesen Fragen nachgehen zu können, müssen einerseits die spezifischen Charakteristika der Deutungen selbst beachtet werden - wobei außerdem zu fragen ist, ob eine eventuell vorhandene Tradition solcher Geschichtsspekulationen zur weiteren Klärung ihrer Bedeutung beiträgt -, andererseits die spezifische soziale Situation ihrer Autoren bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs - wobei ebenfalls die Geschichte dieser Gesellschaftsschicht vor 1914 ins Auge gefaßt werden muß. Beide Bereiche werden freilich nicht um ihrer selbst willen zur Untersuchung herangezogen, sondern mit der Absicht, sie miteinander in Korrelation zu bringen, um dadurch auf die zugrundeliegenden Erfahrungen durchzustoßen und die Kriegsdeutungen unter den genannten Fragestellungen als Erfahrungsauslegungen zu erhellen. Zunächst zur Symbolebene und ihrer Tradition: Apokalyptische Interpretationsschemata und Symbole boten sich offenbar 1914 so selbstverständlich zur Sinndeutung des Krieges an, daß die Vermutung nahe liegt, sie seien nicht erst aus Anlaß des Kriegs entstanden. In der Tat waren sie schon während des ganzen 19. Jahrhunderts geläufig, bereitgestellt wurden sie von Schiller, Hegel, Fichte und Schelling, Friedrich Schlegel, Arndt und Jahn, die ihrerseits an eine die ganze abendländische Geschichte durch-

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ziehende apokalyptische Tradition anknüpften, jedoch als erste Geschichtsspekulationen in der spezifischen Form einer ,deutschen Apokalypse' entwickelten 11• Insbesondere Fichte war es, der mit seiner Wissenschafts/ehre und den Reden an die deutsche Nation auf ein Jahrhundert hinaus - direkt oder über vielfältige Stationen der Vermittlung - die Denkkategorien des gebildeten Bürgertums prägte, in denen politische und soziale Verhaltensmuster ihre geistige Begründung und Bestätigung fanden. Im Zentrum des Fichteschen Programms stand eine an die Stelle politischer Emanzipation gesetzte ,Revolution des Geistes', die Fichte für die eigentliche und zur wahren Freiheit führende Revolution erachtete, insofern auch für wesentlicher und umfassender als politische Revolutionen. Das bedeutete eine Verlagerung emanzipatorischer Bestrebungen in den Bereich der Innerlichkeit, in dem das Ich sich durch Entwicklung seiner autonomen Vernunft selbst befreien und erlösen sollte. In einem weiteren Schritt wandte sich die Spekulation wieder nach außen: Das sich selbst befreiende Bewußtsein wurde zum ,Volksgeist' der deutschen Nation hypostasiert, die Selbsterlösung des individuellen Bewußtseins wandelte sich zur Geschichtsapokalypse12. Die Pflege privater Geisteskultur einerseits und die Tradition apokalyptischer Geschichtsdeutungen andererseits blieben während des ganzen 19. Jahrhunderts bestimmend für das geistige Milieu eines wesentlichen Teils des deutschen Bildungsbürgertums. Die entsprechenden Vorstellungen wurden hauptsächlich durch Universität, Kirche und Schule verbreitet und popularisiert. Repräsentative Gestalten unter den vielen einflußreichen und erfolgreichen Mediatoren waren Universitätslehrer wie Heinrich v. Treitschke, der sein machtstaatliches Geschichtskonzept auf Hegel und Fichte aufbaute, Theologen wie Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl, die ihr Offenbarungsverständnis mit deren Geschichtsspekulationen vermengten, und Schulmänner wie Friedrich Kohlrausch, ein leidenschaftlicher Anhänger Fichtes, der Arndt und Jahn nahestand und um die Mitte des 19. Jahrhunderts maßgeblich dazu beitrug, das Geschichtsverständnis dieser Männer in den Schulen Norddeutschlands zu verbreiten 1a. Nie war Fichte populärer als 1914, seine Schriften erschienen in zahllosen Neuauflagen 14, in Reden und Predigten wurden sein Name und seine Ideen - neben denen Arndts und Jahns - fortwährend zitiert. Daß Kategorien und Symbole apokalyptischer Geschichtsspekulationen auch schon vor 1914 zur Interpretation historischer Ereignisse benutzt worden waren und daß sich insofern bestimmte 159

Deutungsverfahren eingeübt hatten, kann an einem eher speziellen Ausschnitt aus jenem Traditionszusammenhang gezeigt werden, nämlich anhand der Geschichte des ,Weltgericht'-Symbols 15, das sich in den Kriegsdeutungen von 1914 als Symbol- und Bedeutungszentrum hervorhob. Der erste, der dieses Symbol auf ein konkretes historisches und zudem kriegerisches Ereignis anwandte, war wohl Ernst Moritz Arndt. Er griff den berühmten Satz Schillers: ,,Die Weltgeschichte ist das Weltgericht", mit dem dieser die Bedeutung des christlichen Symbols immanentisiert hatte, 1813 auf und interpretierte mit seiner Hilfe den Befreiungskrieg gegen Napoleon als Ereignis weltgeschichtlicher Sinngebung. Wenige Jahre später leitete Hegel in der Rechtsphilosophie seine Ausführungen über die Weltgeschichte mit demselben Symbol ein. In seinem geschichtsspekulativen System traten zwar apokalyptische Komponenten zurück, doch mit der Verlagerung welthistorischer Sinnerfüllung in den Geschichtsprozeß selbst und mit der Bestimmung der ,Volksgeister' als deren Träger wies er künftigen Interpretationen die Richtung, zumal er die Vollendung des Geschichtsprozesses dem ,germanischen Reich' übertrug. Ganz im Sinne dieses Konzepts argumentierte Arndt, als er 1848 erneut das ,Weltgericht'-Symbol benutzte, um unter diesem Stichwort die Polenfrage zu diskutieren und die Minderwertigkeit aller Slawen gegenüber den Deutschen und ihrer weltgeschichtlichen Sendung nachzuweisen. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 gab dann wieder die Möglichkeit, eine kriegerische Auseinandersetzung apokalyptisch zu deuten, wobei vor allem Emanuel Geibel das ,Weltgericht'-Symbol in Gedichten verwandte. Die Geschichtsapokalypse des 19. Jahrhunderts war, wie die apokalyptischen Kriegsdeutungen von 1914, ein protestantisches Phänomen. Sämtliche zuletzt genannten Personen waren nicht nur der Konfession nach Protestanten, sie waren auch im geistigen Milieu des Protestantismus zuhause; mehrere von ihnen waren Söhne von Geistlichen oder hatten Theologie studiert. Die spirituellen Wurzeln jenes Spekulationstyps liegen in den gnostischen und apokalyptischen Unterströmungen des Protestantismus und entsprechenden Sektiererbewegungen, die in den J ahrhunderten nach der Reformation durch den Druck der Orthodoxie niedergehalten worden waren. Unter dem Eindruck der französischen Aufklärung und der Revolution von 1789 jedoch durchlief der eschatologische Spiritualismus eine umfassende Transformation. Das Streben der schwärmerischen Frommen nach religiöser Selbsterlösung wandelte sich zum Programm der Selbstbefreiung durch individuelle Bildung, und die religiöse Apokalypse wurde 160

zur immanentistischen Geschichtsspekulation. In dieser Fassung trat die ,deutsche Apokalypse' ihren Siegeszug durch das 19. Jahrhundert anto. Daß 1914 zur Deutung des Kriegs apokalyptische Interpretationsschemata und Symbole nahe lagen, läßt sich demnach aus der lebendigen Kontinuität jener Tradition erklären. Damit wird jedoch nicht restlos aufgeklärt, warum das Bildungsbürgertum auch tatsächlich diese Deutungsmöglichkeiten realisierte. Was noch weniger allein aus der geistesgeschichtlichen Tradition erklärt werden kann, ist die Brisanz der apokalyptischen Deutungen von 1914, hinter der ältere Versuche - etwa die von 1870 - weit zurückblieben; das gleiche gilt für deren umfassende Publizität, die ebenfalls ohne Beispiel war. Offenbar spitzte sich 1914 die ,deutsche Apokalypse' zu. Warum? Die Antwort auf diese Frage ist in den Erfahrungen zu suchen, die Angehörige des Bildungsbürgertums während der wilhelminischen Zeit bis hin zum Kriegsausbruch machten. Innerhalb des historischen Kontexts aber waren die krisenhafte Entwicklung der wilhelminischen Gesamtgesellschaft und - für die Gebildeten die kritische Lage der bildungsbürgerlichen Schicht, wie sie in der Einführung und in mehreren Beiträgen dieses Bandes skizziert wurden, bestimmende Faktoren. Es liegt daher nahe, diese Krisenphänomene als maßgebliche Erfahrungsanlässe zu betrachten. Damit die Interpretation nicht unzulässig verkürzt wird, muß allerdings beachtet werden, daß die Situation der Zeit von den Partizipanten nicht notwendigerweise so erfahren wurde, wie sie ein heutiger Historiker erfaßt. Um Erfahrungen erschließen und Erfahrungsauslegungen beurteilen zu können, müssen unsere Kenntnisse der historischen Gegebenheiten mit den Deutungen der Zeitgenossen korreliert werden. Hierbei ist außerdem in Rechnung zu stellen, daß der ,Erfahrungskontext' nicht nur durch Fakten und Ereignisse im Leben des Einzelnen wie im Bereich von Staat und Gesellschaft hergestellt wird, sondern daß zu ihm auch geistige Traditionen wie z. B. die eben vorgestellte einer ,deutschen Apokalypse' gehören. Einerseits haben überkommene Interpretationsschemata und Symbole zwar lediglich instrumentellen und kategorialen Charakter, insofern sie etwa zur Artikulation ansonsten neuer Erfahrungsauslegungen eingesetzt werden, andererseits können sie aber selbst zum Erfahrungsanlaß werden, insofern sie ,Sinn' transportieren, der grundsätzlich jederzeit neu erfahrbar ist. Es ist nicht zu erwarten, daß sich Erfahrungen stets unmittelbar aussprechen; vor allem negative Erfahrungen lassen sich in den 161

Kriegsdeutungen oft nur mittelbar dadurch erschließen, daß besonders lauter Jubel über bestimmte Sachverhalte als hoffnungsvolle oder erleichterte Reaktion auf zuvor gemachte Defizienzerfahrungen zurückgeführt werden kann. Unter diesen nur selten expressis verbis ausgesprochenen und noch seltener präzis benannten Erfahrungen sind zunächst solche von Interesse, die sich auf die zentrale Krise der wilhelminischen Gesamtgesellschaft - deren zunehmende Desintegration in die ,zwei Nationen' des Adels und Bürgertums einerseits und der Arbeiterschaft andererseits - bezogen. Daß hier Erfahrungen der Angst und Defizienz vorlagen, zeigt nur allzu deutlich die große Erleichterung, mit der bildungsbürgerliche Redner und Autoren nach Ausbruch des Kriegs registrierten, daß die „Arbeiterheere Deutschlands" sich „in unvergeßlicher Stunde einmütig für ihr Vaterland einsetzten, als sie zum ersten Male ihre oppositionelle Sonderstellung aufgaben und im gleichen Schritt und Tritt mit der Gesamtnation marschierten"17. Der Sachverhalt scheint soweit klar zu sein: Vom Krieg wurde erhofft, er werde als gesellschaftlicher Integrationsfaktor wirken, und anfänglich schien sich diese Hoffnung auch zu bestätigen. Sieht man jedoch die Hoffnung auf Integration vor dem Hintergrund der spezifischen Lage der Gebildeten, so erheben sich begründete Zweifel daran, daß die bildungsbürgerlichen Autoren ausschließlich vom Geschick der Gesamtnation bewegt waren. Denn die soziale und politische Polarisierung der Vorkriegszeit wirkte sich für den gebildeten Mittelstand besonders ungünstig aus; er sah sich gegenüber der aufsteigenden industriellen Bourgeoisie absinken und von den unteren Schichten der Gesellschaft zunehmend bedroht. Da aber das Bildungsbürgertum an einseitigen ,Aufhebungen' der Polarisierung kein Interesse haben konnte - von einer sozialistischen Revolution hatte es nichts, von einer ,Revolution von oben' jedoch auch nicht viel zu erwarten -, mußte ihm das Aufgehen der zerspaltenen Gesellschaft in eine neue „Gemeinschaft" 18, die Rekonstitution einer „inneren Einheit der Nation" 19, besonders wünschenswert erscheinen. Wie sehr sich die Professoren, Geistlichen und Schriftsteller in der Tat von ureigenen Problemen bedrängt fühlten, zeigen Äußerungen, die direkter auf Defizienzerfahrungen schließen lassen. Gemeint sind Äußerungen, die auf eine offenkundig vorliegende psychosoziale Krise abhoben. So betonte z. B. Eucken, rückschauend auf die Vorkriegszeit, das Mißliche, ja Gefährliche der „seelischen Lage" 20 , Natorp die „Verarmung und Verödung der edleren Gemütskräfte" 21; Schriftsteller beklagten die innere ,Zer-

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splitterung' der Menschen wie ihre ,Fremdheit' und ,Feindschaft' untereinander, tadelten die ,Trägheit' der Vorkriegszeit und den ,seichten Troß' jener Tage 22 • Diese psychosoziale Krise wurde zwar auf die Gesamtgesellschaft projiziert, doch in Wirklichkeit ging es um spezifische Probleme der bildungsbürgerlichen Sprecher: Unternehmer wie Industriearbeiter dürften weder in den ,edleren Gemütskräften' ihre primäre Sorge gesehen, noch unter Gefühlen der ,Trägheit' gelitten haben. Hier sprachen sich vielmehr Erfahrungen aus, die in der krisenhaften Lage des Bildungsbürgertums wurzelten. Die Klagen lassen erkennen, wie sich der generelle ,Erfahrungskontext' - Absinken des sozialen Standes, Einschränkung der politischen Wirkungsmöglichkeiten, Rollenund Prestigeverlust - in existentiellen Erfahrungen konkretisierte: in Erfahrungen des Identitätsverlusts, der inneren Leere, der Isolation und des mangelnden Sinns der Existenz. So wurde denn vom Krieg vor allem auch die Beseitigung jener krisenhaften Erscheinungen erwartet, die unmittelbar den traditionellen Kern des Bildungsbürgertums betrafen: des Substanz- und Prestigeverlusts humanistisch-akademischer Bildung, den Industrialisierung und Technisierung mit sich gebracht hatten und dessen Ursachen demzufolge in ,materialistischer Verflachung' gesehen wurden, sowie des inneren und äußeren Verfalls der evangelischen Kirche, der sich in schwindendem Kirchenbesuch und im Auftreten vieler ,deutschgläubiger' Sekten äußerte. Wieder kann man die negativen Erfahrungen ,ex positivo' schließen: Die Universitätslehrer glaubten nach Kriegsbeginn feststellen zu können, daß der Krieg geistige Güter restituierte, die verlorenzugehen drohtents. Theologen und Pastoren verzeichneten mit Genugtuung, daß sich die Kirchen wieder füllten, und sie beobachteten eine neue „religiöse Erweckung" 24 • Selbst die Welt der Technik, der so oft die Schuld am Verlust innerer Werte gegeben worden war, schien nun von der neu erwachten Frömmigkeit durchdrungen und mit der Welt des Geists versöhnt zu werden; nach Ansicht des Pfarrers Karl König „blies der ungeheure Sturm des Kriegswetters in die Kirchen und in die moderne Welt zugleich", und er hoffte, ,,er weht nun für immer gerade die beiden feindlichsten Brüder, Technik und Religion, zu einem herrlichen, großen Bruderbund zusammen" 2 s. Wem in diesem Bund die Führung zufallen sollte, blieb nicht zweifelhaft26. Die beiden eingangs gestellten Fragen können nun beantwortet werden. Erstens: Die Sinndeutungen und Ordnungsvorstellungen der Professoren, Pastoren und Schriftsteller wurden von ureigenen Erfahrungen ausgelöst und reagierten in erster Linie auf die 163

schichtspezifische Krise dieser bildungsbürgerlichen Kreise. Allerdings wurden die Deutungen so vorgetragen, als beantworteten sie zugleich oder sogar ausschließlich die Probleme der Gesamtgesellschaft. zweitens: Der Krieg provozierte die Deutungen, weil von ihm die Lösung all dieser Probleme erwartet wurde. Die Frage freilich, warum eigentlich solche Hoffnungen in den Krieg gesetzt wurden, ist noch offen; sie hängt mit der ebenfalls noch unbeantworteten Frage zusammen, warum die Sinndeutungen auf eine apokalyptische Spekulation hinausliefen. Es muß zunächst wieder auf die Erfahrungsebene rekurriert werden, und zwar erneut auf die vielfältigen Negativerfahrungen, die das Bildungsbürgertum während der wilhelminischen Zeit sammeln konnte. Derartige Erfahrungen, wie sie oben im einzelnen kurz umschrieben wurden, erzeugen leicht eine Haltung des Widerstands gegen die als Bedrohung und Beeinträchtigung der eigenen Existenz empfundene Umwelt, eventuell sogar gegen die gesamte Realität, wenn diese Erfahrungen prädominant werden. Nun ist jedoch in den Kriegsdeutungen auf den ersten Blick nichts von Widerstand zu merken. Im Gegenteil, das Bildungsbürgertum propagierte offenbar mit seinen Deutungen des Kriegs als ,Weltgericht', vollzogen an Deutschlands Feinden, die imperialistischen Ziele der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Führungsschichten des Reichs, befand sich mit diesen Kreisen - wie Fritz Fischer es formulierte - im „Bündnis", dem es, insbesondere in der Kriegstheologie, ,,sakrale Überhöhung" verliehZ7 , und verhielt sich insofern gegenüber der bestehenden Herrschafts- und Gesellschaftsordnung affirmativ. Ohne Zweifel wirkten die meisten Kriegsdeutungen vordergründig als Propaganda für die offizielle Politik des Reichs, und zweifellos leisteten die hier behandelten Kreise des Bildungsbürgertums keinen Widerstand im Sinne einer offenen politischen Opposition, geschweige denn Revolte, oder entwickelten auch nur Formen des Widerstands, wie man sie etwa in der Jugendkulturbewegung und Lebensreformbewegung finden kann. Es gibt jedoch auch Widerstandsphänomene, die nicht so offen zutage liegen, weil ihr spiritueller Antrieb sich nicht unmittelbar in Aktionen umsetzt; dies bedeutet im übrigen nicht, daß sie unter bestimmten Umständen nicht auch sozialwirksam werden könnten. Solch spiritueller Widerstand läßt sich bei den Autoren der Kriegsdeutungen unter der Oberfläche genereller Affirmation und ungeachtet der propagandistischen Funktion ihrer Verlautbarungen feststellen. Wichtigstes Indiz dafür ist eben die Tatsache, daß die Erfahrungs-

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auslegungen und Spekulationen mittels apokalyptischer Interpretationsschemata und Symbole artikuliert wurden. Denn die Apokalypse ist seit ihrer Entstehung in spätjüdischer Zeit eine Symbolik des Widerstands spiritueller und sozialer Minoritäten gegen eine als unbefriedigend empfundene gesellschaftliche Ordnung gewesen, sie enthielt schon immer eine spirituelle revolutionäre Komponente, die mitunter auch sozialrelevant werden konnte2s. Zwar können sich Symbole von der Funktion lösen, die sie im kulturellen Kontext ihres Ursprungs besaßen, und ihre Bedeutung ändern, aber ihre Zuordnung zu der generellen existentiellen Problematik, aus der sie hervorgingen, bleibt fast immer erhalten, selbst wenn sie diese anders interpretieren. Aufgrund der ununterbrochenen Tradition apokalyptischer Spekulationen als Symboliken des Widerstands und andererseits aufgrund der Tatsache, daß die Lage des Bildungsbürgertums in der wilhelminischen Zeit für Reaktionen des Widerstands prädisponierte, drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß auch 1914 die ,deutsche Apokalypse' symbolischer Ausdruck eines spirituellen Widerstandsphänomens war. Die gewichtigen Indizien dafür, daß ein Konnex zwischen apokalyptischer Symbolform und der existentiellen Haltung des Widerstands vorhanden war, lassen sich freilich inhaltlich noch weiter erhärten. Bot die Lage des Bildungsbürgertums potentiell Anlaß zu Widerstand, so erklärt sich dessen Aktualisierung als apokalyptischer Ausbruch einmal aus dem ,Erfahrungskontext', in dem sich jene ,Lage' für die Zeitgenossen konkretisierte, nämlich aus der Verengung des Erfahrungshorizonts auf Defizienzphänomene und Bedrohungen, die als psychosoziale oder ausschließlich spirituelle Probleme fundamentaler Art ausgelegt wurden. Eine Lösung dieser Probleme wurde vom alltäglichen Gang der Dinge in Politik und Gesellschaft nicht mehr erwartet - er lief immer deutlicher den eigenen Vorstellungen und Wünschen entgegen und wurde als äußerlich und sekundär gewertet; vielmehr fixierten sich die Hoffnungen auf eine umfassende spirituelle Lösung nach Art eines ,metastatischen' Umschlags, wie ihn dann das außergewöhnliche und welterschütternde Ereignis des großen Kriegs mit sich zu bringen schien. Dieser plötzlich ausbrechende „Weltenbrand" 29 stellte einen weiteren wesentlichen Erfahrungsimpuls dar; er stürzte die bedrängten Bildungsbürger in eine hochgradige Erregung, von dem Theologen Adolf Deißmann sehr aufschlußreich als „religiöse Erregung"ao beschrieben, oder - noch präziser - als „enthusiastische Spannung, daß Gottes starke Hand eingreift in das Rad der Zeit 165

und bald eingreift"31• Das psychische Phänomen, das sich hier artikulierte, kann als ,apokalyptische Erregung' im strengen Sinn bestimmt werden und erklärt aus der übermächtig gewordenen Hoffnung auf die nun einsetzende Metastase. Diese Hoffnung, bzw. die Gewißheit, daß sich die Hoffnung erfüllt habe, faßte Gierke - ähnlich vielen anderen - in folgende Worte: ,,Nun kam gleich einem herrlichen Wunder der über alles Ahnen und Hoffen großartige Aufschwung der deutschen Volksseele .. Nun fand das deutsche Volk in plötzlicher Selbstbesinnung sich selbst wieder." 32 Deißmann beschrieb den seelischen ,Aufschwung' in einem Vokabular, das seine Herkunft aus der Tradition schwärmerisch-apokalyptischer Sektenbewegungen verriet; allerdings wurde die heilbringende Metastase nun nicht mehr in der kleinen Sektengemeinde gesucht, sondern in der ,Volksgemeinde': ,,Aber der einzelne, dem die Erweckung zuteil geworden war, drängte zur Gemeinschaft; die individuelle Frömmigkeit ergoß sich mächtiger als je zuvor in die Volksgemeinde und, von Millionen ergriffener Seelen gespeist, ward die heimliche seelische Bewegung zu einem mächtigen Strom vaterländischer Religion. "33 Die ,seelische Bewegung' wurde als psychische bzw. spirituelle Transformation ausgelegt, welche die einzelnen Menschen zu einem „einzigen Element"34 zusammenschweißte. Der dadurch konstituierten ,neuen Gemeinschaft' eröffnete sich, so glaubten viele, ein „neues Leben "ss, ein qualitativ „höheres Leben"as, kurz: ein „göttliches Dasein"s1. Die als sekundär angesehenen Probleme der alten Existenzform schienen mit dem metastatischen Umschlag von selbst zu verschwinden. Einen dritten potentiellen Erfahrungsbereich stellten schließlich die tradierten apokalyptischen Geschichtsspekulationen dar, auch dann, wenn nur deren Degradationen und Popularisierungen rezipiert wurden: Sie boten nicht nur Interpretationsmittel in formaler Hinsicht, sondern vermittelten selbst ,Sinn', durch dessen Erfahrung die Erfahrung des Kriegs erhellt zu werden schien. Sub specie dieser Sinnentwürfe konnte der Krieg als deren inhaltliche Erfüllung ausgelegt werden, sie gaben den Hoffnungen, die in den Krieg gesetzt wurden, den Impuls. Nachdem die Motive des spirituellen Widerstands und der apokalyptischen Reaktion - soweit möglich - geklärt sind, müssen die Ziele, die aus dem Widerstand heraus angestrebt und in den apokalyptischen Kriegsdeutungen zum Ausdruck gebracht wurden, noch etwas genauer betrachtet werden. Abgesehen von der bereits festgehaltenen Hoffnung auf eine allgemeine Lösung aller Krisen

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und Konflikte in der metastatischen ,neuen Gemeinschaft' scheint das höchste Ziel der apokalyptischen Visionen die ,Erlösung der Welt'as gewesen zu sein. Dieses Ziel wurde offenbar zunächst wieder im Namen und zugunsten der Nation propagiert, es war ein Sendungsanspruch, den die Gebildeten für Deutschland erhoben, allerdings - entsprechend dem Charakter ihrer Erfahrungsauslegungen - ein Sendungsanspruch spiritueller Natur. So interpretierte z. B. selbst ein Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Johann Plenge, den Krieg als „Kreuzzug im Dienste des Weltgeistes", dessen höchste Entwicklungsstufe - wie jedem Hegelianer der Zeit geläufig - durch den deutschen, wenn nicht preußischen ,Volksgeist' repräsentiert wurde; der deutsche Kreuzzug mußte daher ,,der Welt zum Heile" gereichense. Der spirituelle Sendungsanspruch, nach dem die Welt durch Bekehrung zum ,deutschen Wesen', zur deutschen Bildung und Geisteskultur erlöst werden sollte, war mehr als bloßer ,Kultur-Imperialismus'. Er wandte sich nicht nur nach außen, sondern richtete sich auch auf die deutsche Gesellschaft, deren neue Ordnung ebenfalls vom Geist beherrscht sein sollte. Leistungen und Fortschritte im Bereich der materiellen Kultur wurden zwar einerseits mit einem gewissen Stolz registriert, aber andererseits, da sie der bildungsbürgerlichen Geisteskultur den Rang abgelaufen hatten, als bloße Ausflüsse des Geistes wieder auf die unteren Ränge der Güterhierarchie verwiesen. Der Pfarrer König applaudierte wohl dem neuen ,Bruderbund' zwischen Technik und Religion, stellte jedoch klar, daß „auch alles Technische und Organisatorische geistgeboren und des Geistes Selbstdarstellung ist" 40. Die Kriegsmaschinerie, mit deren Hilfe die apokalyptische Wende zur neuen spirituellen Ordnung Deutschlands und der Welt herbeigeführt werden sollte, wurde folgerichtig ebenfalls als Emanation des Geistes gesehen. Der Philosoph Adolf Lasson betonte: ,,Geistesmacht ist auch unser Heer und unsere Flotte." 41 Und König konstatierte: ,,Wir haben in diesem unserem Heere eine Verkörperung unseres Volksgeistes."42 Es wäre eine Fehlinterpretation, betrachtete man solche Äußerungen lediglich als idealistische Schwärmereien von Philosophen und Theologen, die in metaphysischen Wolken über der Realität von Macht und Interessen schwebten und diese allenfalls verbrämen halfen. Die spirituellen Ordnungsentwürfe respondierten vielmehr - wenn auch indirekt - auf Erfahrungen, die von der krisenhaften Lage der bildungsbürgerlichen Schicht veranlaßt wurden: Auflösungserscheinungen bzw. Absinken der Schicht, zunehmende Unsicherheit des Status innerhalb der Gesamtgesellschaft und drohender Rollenverlust wurden von den Angehörigen des alten 167

akademischen und ,humanistisch' orientierten Bildungsbürgertums ganz konkret in ihrer Universität, Schule oder Kirche erfahren. Zwar wurden diese Erfahrungen spirituell ausgelegt, doch verloren die äußeren Erscheinungen ihre negative Wirkung natürlich nicht, auch wenn sie als Sekundärphänomene aufgefaßt wurden. So stand der Sendungsanspruch, der für den Geist in Deutschland und der Welt angemeldet wurde, weder ausschließlich im Dienst des Geistes, noch ausschließlich im Dienst der Nation; hinter ihm verbargen sich auch konkrete schichtspezifische Interessen: Mußten nicht in einer erneuerten Gesellschaft, die dergestalt vom Geist beherrscht werden sollte, die Repräsentanten des Geists entsprechende gesellschaftliche Positionen einnehmen? War dieser Anspruch nicht gerechtfertigt, wenn letztlich alle zivilisatorischen Leistungen ,geistgeboren' waren? In einem Kriegsvortrag stellte Gierke eine aufschlußreiche Liste jener Leistungen zusammen, welche die deutsche Nation während der vergangenen Jahrzehnte vollbracht hatte: ,,Ein stets anschwellender Beamtenstand pflanzte die Überlieferungen der gewissenhaften Pflichterfüllung und der unbestechlichen Treue in erfolgreicher Wirksamkeit fort. Die deutsche Wissenschaft behauptete ihren Platz an der Spitze der wissenschaftlichen Forschung aller Länder. Auch die deutsche Kunst schritt [... ] energisch vorwärts. Die deutsche Technik errang ungeahnte Siege über die widerspenstige Natur [... ]. Unsere Verkehrseinrichtungen übertrafen mehr und mehr an Großartigkeit und Betriebssicherheit die der Nachbarländer. Die deutsche Industrie schlug die Konkurrenten auf dem Weltmarkte. Der deutsche Handel breitete sich über den Erdball aus. Die deutsche Arbeiterschaft erhob sich [... ] zur ersten der Welt." 43 Mit diesem Leistungsnachweis versuchte Gierke nicht nur den deutschen Sendungsanspruch nach außen zu legitimieren. Für die deutsche Gesellschaft beschwor er damit eine Einheit von Leistungsträgern der Nation, die in Wirklichkeit und zum besonderen Nachteil des Bildungsbürgertums aufgrund der höchst unterschiedlichen Lage und Interessen jener Schichten und Berufsgruppen nicht bestand. Die Liste hatte den Charakter eines Wunschbilds, wenn nicht den eines Programms. Angeführt wurde sie von Beamten und Wissenschaftlern, den sozialen und intellektuellen Exponenten des Bildungsbürgertums, die anderen Berufe und Tätigkeitsbereiche folgten in absteigender Linie entsprechend ihrem geringer werdenden Anteil am Geist. Die deutsche Apokalypse von 1914 war einer der letzten großen Versuche der spirituell und sozial verunsicherten Kreise des etablierten Bildungsbürgertums, Zielvorstellungen über eine Re-

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konstitution des (bürgerlichen) Geistes in einem visionären Entwurf mit programmatischem Charakter zum Ausdruck zu bringen, wobei das Ziel der spirituellen Rekonstitution konsequenterweise - auch wenn dies unausgesprochen blieb - die gesellschaftliche Rekonstitution der geistigen Träger mit einschloß. Der Phönix, in dessen Gestalt der Dichter den deutschen Geist „aus dieses Weltbrands Flammen" steigen sah«, war sinnfälliges Symbol für die erhoffte Wiedergeburt. Der Versuch, die Hoffnungen zum Programm zu machen, wurde in einer schon fast aussichtslosen Situation unternommen, in der Erwartung, der Krieg werde das Blatt doch noch wenden; vorgetragen wurde er mit allen Möglichkeiten des Einflusses auf die öffentliche Meinung, die jene Kreise des Bildungsbürgertums noch besaßen. Die ,Revolution des Geistes', die Fichte proklamiert hatte, regte sich noch einmal unter der Oberfläche des äußerlich affirmativen Verhaltens, die ,Herrschaft des Geistes', zu der sie führen sollte, umfaßte ein breites Spektrum möglicher Wunsch- und Zielvorstellungen: es reichte von spirituellen Erlösungsvisionen religiöser oder pseudo-religiöser Schwärmer über den spirituellen Herrschaftsanspruch für die überkommenen Bildungsideale und über die Forderung nach deren institutioneller Durchsetzung bis hin zum politischen Anspruch, „die aristokratischen Hüter des Thrones durch akademische zu ersetzen" 4S. Aus dem spirituellen Sendungsanspruch der Gebildeten folgte - hinausgehend über die Hoffnung auf gesellschaftliche Rekonstitution des Standes - in letzter Konsequenz ein soziopolitischer Führungsanspruch. Es bleibt die Frage nach der Realitätsadäquanz der apokalyptischen Entwürfe. Sie muß bei jenem Symbol ansetzen, mit dem die besondere Qualität des metastatischen Umschlags und dessen Ergebnis umschrieben wurden: beim Symbol des ,Geistes'. Die Bedeutung dieses Symbols erschließt sich nicht sofort, denn meist wurde es ohne nähere Bestimmung gebraucht. In anderen Fällen erschöpften sich Versuche, den ,Geist' inhaltlich zu füllen, im Aufzählen von Sekundärtugenden. Diese Tugenden instrumentellen Charakters, die erst von ihrem Zweck her als solche bestimmt werden können, wurden zu absoluten Werten erhoben. Lasson reduzierte den Geist zum „Geist der Pflichttreue, der Gewissenhaftigkeit, der unbedingten Hingebung, Manneszucht, Ordnung"'&; für König waren „Genauigkeit, Pünktlichkeit, Präzision" der „formgewordene Geist der deutschen Treue" 47. Fehlt das rationale letzte Ziel, das Sekundärtugenden erst zu Tugenden macht, oder bleibt dieses Ziel unbestimmt, gibt es keine

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rationale Zweck-Mittel-Relation; die Folge ist, daß der instrumentelle Bereich in die Irrationalität gerät: die Zwecke, die ihn eigentlich bestimmen sollten, werden in ihm selbst gesucht. So wurde durch die Auffassung, die genannten Sekundärtugenden und ähnliche sekundäre Qualitäten seien Verkörperungen des Geists, dessen Zweckbestimmung vom Erfolg der instrumentellen Tugenden abhängig gemacht; und durch die Erwartung, der - notwendigerweise siegreiche - Krieg werde eine Wiedergeburt des Geistes im Sinne einer ,Erlösung' bringenden spirituellen Sinnerfüllung herbeiführen, wurde diese generell mit dem instrumentellen Vorgang der Expansion verkoppelt. Die Hegelsche Spekulation, der Geist werde durch sukzessive Aufhebung seiner eigenen Objektivationen - d. h. der Welt - zu sich selbst kommen und damit in den Zustand vollständiger Erfüllung münden, wiederholte sich auf der Degradationsstufe grober Verdinglichung: Durch Expansion des deutschen Geistes mittels deutscher Waffen sollte der Geist Identität mit sich selbst gewinnen und insofern den Sinn der Weltgeschichte erfüllen; der existentielle Kern dieses Entwurfs war die Hoffnung der Träger des Geists, auf diese Weise ihre eigene Identität und damit den Sinn ihrer Existenz zu finden. Der Erfolg der Identitätssuche und die letztliche Sinnerfüllung des Geists - als existentielle wie historische Sinnerfüllung - wurden dadurch an äußere Erfolge geknüpft; eine Niederlage Deutschlands im Krieg konnte so nicht als Möglichkeit betrachtet werden, die, abhängig von Bedingungen der Außenwelt, in erster Linie politische, soziale und wirtschaftliche Konsequenzen haben würde, sondern mußte als globale spirituelle Katastrophe erscheinen, welche „die Weltgeschichte ihres tiefsten Sinnes berauben" 4B bzw. ,,den Niedergang der Menschheitsgeschichte bedeuten würde"49. Daß der Geist und das Ziel seiner Verwirklichung damit in Abhängigkeit von instrumentellen Sachverhalten und Gegebenheiten der materiellen Realität gerieten, durchschauten die Vertreter des Geists offenbar nicht. Weder vermochten sie spirituelle Qualitäten rational zu bestimmen, noch wollten sie das Eigengewicht materieller Wirklichkeit anerkennen. Die Verdammung des ,Materialismus' und die Herabsetzungen aller Bereiche materieller Kultur zu bloßen Ausflüssen des Geists ließen das Verlangen erkennen, die Wirklichkeit zu entmaterialisieren. Neigungen dieser Art sind typisch für apokalyptischen Spiritualismus: Die Johannes-Apokalypse enthielt die Vision einer Transfiguration des Kosmos in eine entmaterialisierte Realität unter Gott; die deutsche Apokalypse von 1914 gipfelte im Wunschbild einer Welt, in der materielle

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Sachverhalte von sekundärer Bedeutung sind, unter der Geistesherrschaft der Gebildeten. Der Nichtachtung der materiellen Realität entsprach die Fehleinschätzung gesellschaftlicher Sachverhalte. Die Ursachen für die sozialen Spannungen in der wilhelminischen Gesellschaft wurden einseitig in der mangelnden „seelischen Übereinstimmung" der Gesellschaft gesucht50 • Andere Probleme wurden übersehen oder ebenfalls auf psychische bzw. spirituelle Defizienz hin ausgelegt; so verengte sich die Perspektive auf eine erhoffte psychische bzw. spirituelle Transformation der Gesellschaft. Der Glaube an das ,Wunder' des ,Aufschwungs der deutschen Volksseele', an die religiöse ,Erweckung' der Individuen und ihren Zusammenschluß zur einigen ,Volksgemeinde' 5 t hatte magischen Charakter; er artikulierte die Überzeugung, durch psychische bzw. spirituelle Kräfte auch alle Probleme der äußeren Wirklichkeit aus der Welt schaffen zu könnens 2 • Doch durch autosuggestive Manipulationen des Bewußtseins ändert sich die Wirklichkeit nicht, und ihre Probleme werden dadurch nicht erledigt. Andererseits sind auch inadäquate Erfahrungsauslegungen und realitätsfremde Spekulationen Realität, sie bleiben nicht ohne Wirkung: Die apokalyptischen Wunschträume hatten sich bei vielen Vertretern des Bildungsbürgertums so festgesetzt, daß auch die Niederlage von 1918 den Traum nicht zerstörte. Im Gegenteil, der verlorene Krieg verstärkte häufig den Widerstand gegen die Realität, zumal in seiner Folge die soziale Situation der Gebildeten noch prekärer wurde. Die Revolution des Geistes setzte sich fort in den elitären Ansprüchen der ,Konservativen Revolution' wie in den vulgärer artikulierten Revolten sozial deklassierter und auch intellektuell heruntergekommener Akademiker; beide mündeten in den Nationalsozialismus oder wurden von ihm eingeholt.

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Anmerkungen zu Seite 6-11

ANMERKUNGEN

Probleme einer Sozialgeschichte der Ideen Unter dem Titel ,Wege und Irrwege. Vom Geist des deutschen Bürgertums'. 2 Unter dem Titel ,Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland'. 3 Die erste deutsche Ausgabe erschien schon 1954 im Aufbau-Verlag, Ost-Berlin, gleichzeitig mit der Budapester ungarischen Ausgabe. In der Bundesrepublik fand das Werk entsprechende Resonanz jedoch erst mit der Ausgabe des Luchterhand-Verlags von 1962 und einem Auswahlband, der 1966 unter dem Titel ,Von Nietzsche zu Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik' als Taschenbuch veröffentlicht wurde. 4 Vgl. hierzu Klaus Vondung, Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, München 1973, S. 7 ff., 138, 194 f. 5 Martin Broszat, Der Nationalsozialismus. Weltanschauung, Programm, Wirklichkeit, Stuttgart 1960, S. 22. 8 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, Sonderausgabe, München 1968, S. 17. 7 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973, s. 14 f. 8 Dahrendorf, S. 17. 9 Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970, S.320. 10 Dahrendorf, S. 114. 11 Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Göttingen 1973, S. 139. 12 Ebd., S. 107. 13 Ebd., S. 118 f. 14 Ebd., S. 140. 15 Ebd., S. 65. 16 Jürgen Kuczynski, Zur Soziologie des imperialistischen Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1962, II, S. 48. 17 Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, 3. Bd., Berlin 1962, S. 232 ff. 18 Siehe hierzu die scharfe Kritik von Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur II, Frankfurt 1961, S. 152 f. 19 Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Sammlung Luchterhand, Darmstadt u. Neuwied 1973/74, 2. Bd., S. 9. 1

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Anmerkungen zu Seite 12 Ebd., S. 89, 91. Zitiert nach Lukacs; ebd., S. 10. 22 Ebd., S. 11 [meine Hervorhebung]. - Ich bin mir bewußt, daß die voraufgegangenen Ausführungen ein äußerst komprimiertes Resümee marxistischer Grundpositionen geben, das zudem - selbst aus mancher marxistischen Perspektive - als Beschreibung der ,orthodoxen' (soll heißen: nicht mehr zeitgemäßen, unkritisch-dogmatischen) Version des Marxismus angesehen werden kann; ich möchte jedoch andererseits darauf hinweisen, daß auch ,unorthodoxe' und ,kritische' Fortentwicklungen marxistischer Positionen, unter stärkerer Betonung der ,relativen Autonomie' des Oberbaus und der ,Wechselwirkungen' zwischen Basis und Oberbau (etwa in der Literatursoziologie), ihre Grenzen haben, und zwar in eben diesem Satz, daß die ökonomische Basis „letzten Endes doch" den Oberbau bestimmt. Das Dilemma, das sich hieraus für nicht wenige westliche Wissenschaftler ergibt, welche sich einerseits zu marxistischen Erklärungsmodellen hingezogen fühlen, sich andererseits aber ungern Dogmen verschreiben wollen, kann kurz am Beispiel Arnold Hausers illustriert werden: Hausers ,Sozialgeschichte der Kunst und Literatur' (2 Bde., München 1953) ist ohne Frage ein kunsthistorisches und kunstsoziologisches Werk von Rang, dessen Qualität hauptsächlich darin liegt, daß eine ungeheure Fülle von Material nicht nur souverän geordnet, sondern auch aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch erhellt wird, d. h. daß die Analysen nicht durch die Zwänge irgendeines dogmatischen, auch nicht eines ,orthodox'-marxistischen Interpretationssystems in ihrer Reichweite beschränkt werden. Bei einem solchen, auf Interpretationen konkreten Materials aufbauenden historischen Werk empfindet man es nicht so sehr als Mangel, wenn eine theoretische Klärung des genannten Dilemmas unterbleibt, doch erwartet man diese Klärung von Hausers ,Soziologie der Kunst' (München 1974), die nach des Verfassers Absicht eine „umfassende" und „systematische" Darstellung der „wesentlichen Fragen der Soziologie der Kunst" sein soll (S. XII). Hauser bekennt sich hier zum ,,Marxismus als Geschichts- und Sozialphilosophie", betont jedoch sogleich, daß die „Grundprinzipien des Marxismus in bezug auf die Theorie des historischen Materialismus" eine „Umdeutung erlitten" (S. XV). Doch trotz dieser Umdeutung vermag er keinen überzeugenden Ausweg aus dem Dilemma zwischen Basis-Oberbau-Determinismus und (relativer) Oberbau-Autonomie anzubieten: Einerseits betont er, ,,die These, daß jede Ideologie und ideologisch bedingte geistige Haltung materiell, das heißt wirtschaftlich und gesellschaftlich begründet ist", bleibe „selbstverständlich aufrechterhalten" (S. XV), andererseits verweist er auf den Raum, ,,den die historisch-materialistische Erklärung der künstlerischen Produktivität leer läßt" (S. 581), wobei jedoch die Qualitäten, die nach seiner Ansicht diesen Raum ausfüllen - z. B. ,,gesteigerte Sensibilität, verfeinerter Geschmack, Wachstum der Schöpferkraft" - wieder einem ideologischen Begriff, dem der ,Bildung', 20

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Anmerkungen zu Seite 12-16 subsumiert werden und ohne theoretische Durchdringung bleiben (S. 581). Schließlich wird sogar fraglich, ob Hausers „Umdeutung" mit den „Grundprinzipien des Marxismus" noch vereinbar ist, wenn er - unter Beibehaltung des Basis-Oberbau-Modells - bemerkt, daß die Basis „auch aus geistigen, bewußtseinsmäßigen und individuellen Konstituentien besteht" (S. XV). Auf eine „letzte Instanz" (S. 205) mag er sich jedenfalls nicht festlegen; der Frage, ob jenes „letzten Endes doch" nun gilt oder nicht, weicht er mit dem bewährten Mittel des Frageverbots aus: Die Frage nach der „arche", erklärt er, muß „als eine unzulässige letzten Endes abgelehnt werden" (S. 203 f.). Statt dessen rekurriert er auf die Deskription und Analyse von „Wechselwirkungen" und „funktionalen Zusammenhängen" (S. 207) - notwendige und zweifellos schwierige Arbeit des Historikers, aber keine Theorie, auch wenn man ihr den Namen ,Dialektik' gibt. (Vgl. zu der hier skizzierten Problematik auch das aufschlußreiche, erst vor kurzem veröffentlichte Rundfunkgespräch: Arnold Hauser - György Lukacs, On Youth, Art an:d Philosophy. A 1969 Radio Meeting, in: The New Hungarian Quarterly, Bd. XVI, Nr. 58, 1975, S. 96-105.) n Lukacs, S. 10. H Arnold Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa, Frankfurt 1972, s. 87. " Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt 6 1972, S.12. 26 Ebd., S. 13. 27 Ebd., S. 14. 18 Ebd., S. 13. 29 Einige ausgewählte, gleichwohl repräsentative Werke seien genannt: Brie Voegelin, Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966; Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt 1968; Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932, Frankfurt 1974; Peter L. Berger u. Thomas Luclonann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1970; Robert Jay Lifton, History and Human Survival. Essays on the Young and Old, Survivors and the Dead, Peace and War, and on Contemporary Psychohistory, New York 1971; Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt 6 1972. so Es sei wenigstens auf zwei Titel hingewiesen, die Zugang zu Literatur eröffnen: Helmut Scheuers eben erschienene Rezension über Roy Pascals 'From Naturalism to Expressionism' (in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1. Bd., Tübingen 1976) - fast eine Art Literaturbericht - vermittelt einen guten überblick über literatursoziologisch und sozialhistorisch orientierte wissenschaftliche Literatur zur Dichtung der wilhelminischen Zeit. Richard Hamanns und Jost Hermands ,Stilkunst um 1900' (Epochen deutscher 174

Anmerkungen zu Seite 20-25 Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, 4 Bd., München 1973) verarbeitet nicht nur selbst reichhaltiges Material aus Literatur, bildender Kunst, Architektur und Gebrauchskunst der wilhelminischen Zeit, sondern verweist auch auf weitere Literatur zu diesen Bereichen.

Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit 1 Die zur Zeit beste Gesamtanalyse dieses Umwandlungsprozesses sowie guten Zugang zu weiterer Literatur bietet Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973. 2 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, Sonderausgabe, München 1968, S. 72, vgl. S. 59 u. passim. 8 Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 71. 4 Theobald Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1916, S. 555 u. 557. 5 Siehe oben S. 9. 8 Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932, S. 81. 7 Neben den bereits genannten Werken von Ziegler, Geiger, Dahrendorf und Wehler sind dies im wesentlichen: Otto Hintze, Der Beamtenstand [1911], in: ders., Soziologie und Geschichte, Hrsg. G. Oestreich, Göttingen 2 1964; Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Leipzig 1911; Ludwig Beutin, Das Bürgertum als Gesellschaftsstand im 19. Jahrhundert [1953], in: ders., Gesammelte Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Hrsg. H. Kellenbenz, Köln 1963; Friedrich C. Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953; Nikolaus v. Preradovich, Die Führungsschichten in Österreich und Preußen, Wiesbaden 1955; Gerhard Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969; Heinrich August Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, Köln 1972; Hansjoachim Henning, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung 1860-1914, Teil I: Das Bildungsbürgertum in den preußischen Westprovinzen, Wiesbaden 1972; HansUlrich Wehler (Hrsg.), Modeme deutsche Sozialgeschichte, Köln 4 1973; Heinz-Joachim Heydom u. Gernot Koneffke, Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung, II: Aspekte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, München 1973; sowie die Artikel ,Bildung' und ,Bürgertum' in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1972. 8 Geiger, S. 78. 9 Ebd., S. 77. 10 Ebd., S 100. 11 Ebd. 12 Hintze, S. 67.

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Anmerkungen zu Seite 25-31 Die der Literatur entstammenden Angaben wurden für die vorliegende Charakteristik durch eine kleine Kontrolluntersuchung ergänzt, auf die im weiteren noch einige Male Bezug genommen werden wird. Sie kann keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben, sondern dient allenfalls der Bekräftigung bereits vorliegender oder der Präzisierung allgemeinerer Ergebnisse. Die Stichprobe erfaßt folgende, im letzten Beitrag dieses Bandes mehr oder weniger zufällig auftretende 19 Schriftsteller: E. Lissauer, W. Flex, R. A Schröder, C. Flaischlen, C. Hauptmann, G. Hauptmann, F. v. Unruh, E. Stucken, M. Grosse, H. Stehr, K. Strecker, L. Ganghofer, A. W. Heymel, F. Lienhard, J. Hart, R. Dehmel, H. Spiero, A. M. Frey, I. Seidel. - Von diesen 19 Schriftstellern besuchten 16 die Universität, einer (Unruh) die Kadettenanstalt, einer (Stehr) ein Seminar für Volksschullehrer. 14 Von den Vätern der genannten 19 Schriftsteller waren 6 höhere Beamte, 2 Offiziere, 1 Arzt, 1 Gutsbesitzer, 1 Volksschullehrer, 1 Handwerker, sowie 7 Kaufleute (in der letzten Gruppe ist der Vater der Brüder Hauptmann doppelt gezählt). 1,Siehe Anm. 14. 18 Hintze, S. 100. 11 Geiger, S. 99. 18 Hintze, S. 73 u. 77. 19 Von den 19 Schriftstellern der erwähnten Stichprobe waren 17 evangelisch, 1 katholisch, 1 jüdischen Glaubens. 20 Vgl. Dahrendorf, S. 308 ff. 21 Geiger, S. 100. 22 Ebd. 23 Vgl. Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln u. Opladen 1961, passim. 24 Brunner, Conze, Koselleck, S. 544. 25 Helmut Kreuzer, Die Boheme, Stuttgart 1971, S.45. 28 So gehörten z. B. von den in Anm. 13 genannten Schriftstellern J. Hart, R. Dehmel und A. W. Heymel zeitweilig Boheme-Zirkeln an. 27 Heinrich v. Sybel, Die Lehren des heutigen Sozialismus und Kommunismus, Bonn 1872, S. 91. 28 Michels, S. 225. 29 Dieser Sachverhalt spricht im übrigen für die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Bildungsbürgertums. 30 Michels, S. 238. 31 Vgl. Hintze, S. 77; Geiger, S. 99 u. 108. 32 Ziegler, S. 551. 33 Ebd., S. 549. 84 Geiger, S.125. 35 Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Hrsg. E. Groß, 7. Bd., München 1959, s. 91. 38 Mildred S. Wertheimer, The Pan German League 1890-1914, New York 1924, S. 65; vgl. auch unten S. 69 f. 13

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Anmerkungen zu Seite 31-40 37

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Beutin, S. 313. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 54. Hintze, S. 99. Michels, S. 10 f.

Bildung und Gehorsam. Zur ästhetischen Ideologie des Bildungsbürgertums Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer, Stuttgart/Berlin 1914, S. 60. Ernst Johann (Hrsg.), Reden des Kaisers, München 1966, S. 124 f. 3 Vgl. Fritz K. Ringer, The Decline of the German Mandarins, Cambridge 1966. 4 Horst Joachim Frank, Geschichte des Deutschunterrichts, München 1973. 5 Immanuel Kant, Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, S. 15-32 (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht). 6 F. Th. Vischer, Ästhetik, München 1922, 5 Bde., 1. Bd. § 12, S. 49. 7 Ilse Schaarschmidt, Der Bedeutungswandel der Worte ,Bildung' und ,bilden', Berlin 1931. 8 R. Fahrner, Wortsinn und Wortschöpfung bei Meister Eckhart, Marburg 1929, S. 67 ff. 9 Ausgezeichnet hierzu Hans Schilling, Bildung als Gottesbildlichkeit, Freiburg i. Br. 1961. 1° Fr. Pfeiffer (Hrsg.), Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Leipzig 1857, 2. Bd., S. 240. 11 Humboldt in einem Brief an Brinkmann: ,,Ich fühle nun [... ], daß ich (auf eine Einheit) getrieben werde [... ]. Diese Einheit Gott zu nennen, finde ich abgeschmackt, weil man sie so ganz unnützerweise aus sich hinauswirft [... ]. Diese Einheit ist die Menschheit, und die Menschheit ist nichts anderes als ich selbst." Nach Manfred Henningsen, Wilhelm von Humboldt, in: Jürgen Gebhardt, Die Revolution des Geistes, München 1968, S. 149. Zum Zusammenhang von Ästhetik und Bildung bei Humboldt: Hans Steffen (Hrsg.), Bildung und Gesellschaft, Göttingen 1972, S. 5 ff. 12 G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt 1970, 3. Bd., s. 363. 13 Ebd., S. 324. 14 Hegel, Werke, 7. Bd., § 187. 15 Ebd. 1s Vgl. Hegel, Werke, 2. Bd., S. 30. 17 Hegel, Werke, 4. Bd., S. 307. 18 F. Th. Vischer, Kritische Gänge, München 1914--1922, 2. Aufl., Bd. 1-6, 3. Bd., S. 14 f. 19 Ebd., S. 497. 20 Willi Oelmüller, Friedrich Theodor Vischer und das Problem der 1

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Anmerkungen zu Seite 40-42 nachhegelschen Ästhetik, Stuttgart 1959, S. 107, Anm. 9. Vgl. auch vom selben Autor die kenntnisreiche Einleitung zu Friedrich Theodor Vischer, Ober das Erhabene und Komische, Frankfurt 1967. (Eine Neuauflage von Vischers Habilitationsschrift nebst anderen Aufsätzen.) 11 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973, S. 128. n Vischer, Kritische Gänge, 6. Bd., S. 439. z3 Ferdinand Christian Baur, Die christliche Gnosis, Tübingen 1835, S.24. 24 Fritz Schlawe, Friedrich Theodor Vischer, Stuttgart 1959, S. 314. (Diese faktenreiche Biographie ist ebenso verdienstvoll wie heiligsprechend.) 15 Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1964, S. 28. 211 Hermann Kinder, Poesie als Synthese, Frankfurt 1973, sieht in der ,,Sittlichkeit überhaupt den Kern des Vischerschen Systems [... ] in seiner metaphysischen, ästhetischen und politischen Entfaltung. Sittlichkeit ist das Testament, das Zeichen, die Konkretion der absoluten Idee samt allen aus ihr abgeleiteten Vorstellungen" (ebd., S. 85). Aber Vischer spricht nicht von der Bildung der Sittlichkeit, sondern von der „sittlichen Bildung" - und insofern ist „Bildung" der „Kern" des Systems. 17 Vischer: ,,Das Volk freilich hat bei seiner groben Arbeit keine Zeit, diese Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Geist zu entwickeln [= Bildung, M. N.]. Seine Innerlichkeit ist nicht so ausgebildet, daß aus Farben, Gestalten, Tönen all' das Tiefe zu ihm spricht, was der Künstler in sie gelegt hat. Nicht daß es dem Volke ganz erspart wäre, aber vor großen Werken wird es mehr oder weniger stumpf dastehen." in: F. Th: Vischer, Das Schöne und die Kunst, Für das deutsche Volk herausgegeben von Robert Vischer, Stuttgart 1898, S. 13 f. !s Vischer, Kritische Gänge, 2. Bd., S. 95. Vgl. dazu: Helmut Hartwig, Literatursoziologie und das Problem der Klassenüberschreitung, in: Autorenkollektiv, Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft 1, Stuttgart 1971, S. 315-337. 29 F. Th. Vischer, über das Erhabene und Komische, Stuttgart 1837, s. 38f. ao Hegel, Werke, 14. Bd., S.128. 31 In Hinblick auf Vischers Habilitationsschrift schreibt D. F. Strauß an seinen Freund: ,,Du hast den alten Herrn gewiß ganz in seinem eigenen Sinne verbessert; er konnte von der geschichts- und religionsphilosophischen Betrachtung zu wenig loskommen." Adolf Rapp (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer, 2 Bde., Stuttgart 1952, 1. Bd., S. 21. 12 Jürgen Gebhardt, Karl Marx und Bruno Bauer, in: Festschrift Erle Voegelin, Hrsg.: A. Dempf, H. Arendt, F. Engel-Janosi, München 1962, s. 205. 33 Vischer in einem Brief an Mörike: ,,Ich schaute mit neuem Blick in

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Anmerkungen zu Seite 42-50 jene grenzenlose Tiefe des Seins, und nun kamen meine wühlenden Gedanken mit der schrecklichen Beute zurück, die ich nicht beschreiben kann [... ], kein Ende, kein Ziel, keine Grenze, kein Sein und Nichtsein, kein Gott, keine Welt - der namenlose Gedanke des Nichts." In: R. Vischer (Hrsg.), F. Th. Vischers Briefwechsel mit Eduard Mörike, München 1926, S. 283. 86 Zit. n. Oelmüller, S. 41. 85 Vischer, Kritische Gänge, 5. Bd., S. 24 f. 38 Vischer, Kritische Gänge, 4. Bd., S. 199. 87 Rudolf Hübner, Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung aus dem Nachlaß von Johann Gustav Droysen, Berlin, Leipzig, Stuttgart 1924, S. 435. 88 Vischer, Ästhetik, 4. Bd., S. 222. 39 Vischer, Ästhetik, 1. Bd., § 10. 40 Schlawe, S. 348. 41 Vischer, Kritische Gänge, 4. Bd., S. 171. 42 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäß e Betrachtungen, Stuttgart 1964. 43 Hegel, Werke, 13. Bd., S. 151. " Jürgen Gebhardt, Politik und Eschatologie, München 1963, S. 43. 45 Ebd. 48 Vischer, Kritische Gänge, 4. Bd., S. 161. 47 Vgl. Manfred Henningsen, Die Wirklichkeit des Common-Sense, in: Politische Studien, München 1975, Nr. 222, S. 385-402. 48 Vischer, Das Schöne, S. 2 f. Zur Krise der Ästhetik nadi Hegel vgl. A. Halder, Kunst und Kult, Freiburg/München 1964, S. 8. 49 Friedrich C. Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953. 60 Schelling, Philosophie der Kunst, Darmstadt 1974, S. 337 ff. u. S.343. 61 Vischer, Kritische Gänge, 2. Bd., S. 389. 52 Vischer, Kritische Gänge, 6. Bd., S. 489. 63 Vischer, Kritische Gänge, 4. Bd., S. 295. 54 Ulrich Sonnemann, Die Einübung des Ungehorsams, Reinbek 1964, s. 78. 56 Vgl. Erle Voegelin, Die neue Wissenschaf t der Politik, München 1959, s. 99 ff. 58 Georg Lucacs, Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer, in: Probleme der Ästhetik, Neuwied und Berlin 1969, S. 299. 57 F. Th. Vischer, Auch Einer, Stuttgart/Berlin 1914, S. 266. ss Vischer, Ober das Erhabene und Komische: ,,Trachtet am ersten nach dem Schönen, so wird euch das Gute von selbst zufallen." S. IV. 59 Vischer, Kritische Gänge, 2. Bd., S. 521. eo Karl Kraus, Beim Wort genommen, München 1955, S. 381. 11 Vischer, Kritische Gänge, 3. Bd., S. 304. ez Vischer, Kritische Gänge, 4. Bd., S. 222. aa Ebd., S. 224. 179

Anmerkungen zu Seite 51-53 " Vischer, Das Schöne, S. 143. (Meine Hervorhebung.) " Vischer, Kritische Gänge, 4. Bd., S. 482. et Johann, Reden, S. 102. 87 Adolf Lasson, Deutsche Art und deutsche Bildung, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, Berlin 1914, S. 38. 88 Robert Musil, Das hilflose Europa, München 1961, S. 5. Das Gesellschaftsbild der Rechtswissenschaft und die soziale Frage Die Entwicklung der Privatrechtswissenschaft, auch in ihrer Verbindung zu sozialen und politischen Bewegungen, ist eingehend geschildert bei Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 2 1967, auch ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, FrankfurtfM. 1974. Meine eigene Stellungnahme ausführlicher in: Gerhard Dilcher, Der rechtswissenschaftliche Positivismus. Wissenschaftliche Methode, Sozialphilosophie, Gesellschaftspolitik. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. LXI/4 (1975), S. 497-528. Die Entwicklung zum staatsrechtlichen Positivismus bis zu Gerber und Laband beschreiben unter bewußter und sehr erhellender Verwendung eines gesellschaftstheoretischen Ansatzes Walter Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, Frankfurt/M. 1958, und: Peter von Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, Frankfurt(M. 1974. (Dort zit. auch dessen Aufsatz zum selben Thema in der Smend-Festschrift 1962.) Eine umfassende Darstellung der Staatsrechtswissenschaft in der wilhelminischen Zeit selber fehlt. Vgl. jedoch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, Berlin 1958, sowie die Artikel zu den führenden Vertretern des Staats- und Verwaltungsrechts Anschütz, Jellinek, Laband, Mayer in: Staatslexikon, hrsg. v. d. Görres-Gesellschaft, 6. Aufl., Freiburg 1957 ff. Zu Jhering, Windseheid, Gierke neben Wieackers Privatrechtsgeschichte (und mehreren neueren Arbeiten Wieackers zu Jhering): Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, •Tübingen 1963. Zu Gierkes geistig-politischer Linie Ernst Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, Berlin 1961, und Gerhard Dilcher, Genossenschaftstheorie und Sozialrecht. Ein „Juristensozialismus" Otto von Gierkes? In: Quaderni Fiorentini, Bd. 3/4, ed. Paolo Grossi, Milano 1974/75, T. 1, S. 319-365. Zur Beziehung Sinzheimers zu Gierke: Hugo Sinzheimer, Otto von Gierkes Bedeutung für das Arbeitsrecht, in: Arbeitsrecht IX (1922) S. 1 ff., und Ernst Fraenkel, Hugo Sinzheimer, Juristenzeitung 1958, S. 457 ff. Die im Text nur kurz angesprochene Freirechtsbewegung findet heute internationales Interesse: Klaus Riebschläger, Die Frei-

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Anmerkungen zu Seite 67-68 rechtsbewegung. Zur Entwicklung einer soziologischen Rechtsschule, Berlin 1968; Luigi Lombardi-Vallauri, Geschichte des Freirechts, FrankfurtjM. 1971 (ital. Milano 1967). Die Selektionsmechanismen zur Heranziehung eines streng konservativen Beamten- und Richtertums hat schon Ende der 20er Jahre Eckart Kehr dargelegt: Das soziale System der Reaktion in Preußen unter dem Ministerium Puttkamer, und: Zur Genesis des Königlich Preußischen Reserveoffiziers, jetzt in: E. K., Der Primat der Innenpolitik, 2. Aufl., Berlin 1970. - Zur Juristenausbildung jetzt aufschlußreich Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, Berlin 1972. Als die grundlegenden Arbeiten der heute sich schnell entfaltenden Juristensoziologie seien genannt Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, Münd:ien 1965, und Wolfgang Kaupen, Die Hüter von Red:it und Ordnung. Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen, Neuwied-Berlin 1969. Sozioökonomische und psychische Hintergründe der bildungsbürgerlichen lmperialbegeisterung 1 Dieser Aufsatz stellt eine Ausarbeitung und Präzisierung eines Teilaspekts meines Bud:ies: Die ,ökonomisd:ie Imperialismustheorie'. Kritische Untersud:iungen, München 1976, dar, auf dessen größere Perspektiven und zusätzliche Einzelbelege ich verweisen darf. 2 Vgl. Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, Hrsg. J. Winckelmann, 3. Aufl., Tübingen 1971, S. 23. Der im folgenden zugrunde gelegte Imperialismusbegriff orientiert sich am zeitgenössischen Verständnis, d. h. es werden unter Imperialismus primär die nationalstaatlichen Expansionsversud:ie im ,Zeitalter des Imperialismus' verstanden, die darauf angelegt waren, Herrschaft über fremde Gebiete bzw. Gesellschaften zu erringen und auszuüben (vgl. dazu auch Hampe). 3 Zu den Einzelheiten und Ursachen der Bismarcksd:ien Kolonialpolitik vgl. vor allem Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, 3. Aufl., Köln/Berlin 1972. ' Speziell zu den deutschen Kriegszielen vgl. vor allem Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, 4. Aufl., Düsseldorf 1971. 5 Zu den einzelnen Versionen und zur Kritik der ,ökonomischen Imperialismustheorie' vgl. u. a. Benjamin J. Cohen, The Question of Imperialism. The Political Economy of Dominance and Dependence, New York 1973, S. 34 ff.; David K. Fieldhouse, The Theory of Capitalist lmperialism, 2. Aufl., London/Harlow 1969; Hampe; Erich Preiser, Die lmperialismusdebatte. Rückschau und Bilanz, in: Wirtsd:iaft, Ge-

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Anmerkungen zu Seite 68-70 schichte und Wirtschaftsgeschichte, Hrsg. W. Abel u. a., Stuttgart 1966, S. 355-370; Hans-Ulrich Webler (Hrsg.), Imperialismus, 2. Aufl., Köln/ Berlin 1972. 6 Unter den übrigen Mitgliedern waren insbesondere 1460 Offiziere, 790 Landwirte und Rentiers und 7100 Gewerbetreibende; die gesamte Mitgliederzahl der DKG stieg von 15 000 bei der Gründung über ca. 35000 im Jahre 1900 bis auf 42000 (1914) an (vgl. Helmut Müller, Deutsche Kolonialgesellschaft, in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Hrsg. D. Pricke u. a., Bd. l, Leipzig 1968, S. 390-398; Wolfgang Marienfeld, Wissenschaft und Schlachtflottenbau in Deutschland 18971906, Frankfurt 1957, S. 87 ff.). 7 Fischer, Griff, S. 33. Zur Mitgliedschaft des Flottenvereins vgl. u. a. Amandus Wulf, Deutscher Flottenverein, in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, S. 432 ff. 8 Vgl. Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930, S. 171; Marienfeld, S. 84 ff.; Jürg Meyer, Die Propaganda der deutschen Flottenbewegung 1897-1900, Bern 1967, S. 176 ff. • Vgl. Marienfeld, S. 7 f. und 110 ff.; zum Gesamtkomplex der Flottenagitation vgl. Volker R. Bergbahn, Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971; Kehr; Meyer. 10 Klaus Wernecke, Der Wille zur Weltgeltung. Außenpolitik und Öffentlichkeit im Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 1970, S. 154. 11 Vgl. Fritz Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969, S. 739 ff.; Jürgen Kuczynski, Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus, Bd. 2: Propagandaorganisationen des Monopolkapitals, Ost-Berlin 1950, S. 25-82; Meyer, S. 166 ff.; Dirk Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Köln/Berlin 1970, s. 51 ff. 11 Von den übrigen Mitgliedern waren 5300 Angestellte und Einzelhändler, 2860 Arbeiter und Handwerker, 440 Landwirte und 1300 Sonstige. Die Zusammensetzung des Führungspersonals bot ein ähnliches Bild: So zählten z.B. 1904 19 Universitätsprofessoren, 61 Lehrer und Geistliche, 62 übrige Intelligenz, 35 Beamte, 10 Offiziere, 61 Geschäftsleute und 28 Sonstige zu den (276) Vorstandsmitgliedern (vgl. Marienfeld, S. 92; Kuczynski, S. 16 ff.). - Zur Frage der Beteiligung von Bildungsbürgern am ,Deutschen Wehrverein', über dessen innere Struktur keine präzisen Angaben vorliegen, vgl. Fischer, Krieg, S. 159 ff. 13 Zur generell inadäquaten Erfassung bildungsbürgerlicher Phänomene im marxistischen Zwei-Klassen-Schema vgl. oben S. 9 ff. Auch die umfangreichen Arbeiten über Probleme des deutschen Imperialismus von Kehr (Schlachtflottenbau), George W. F. Hallgarten (Imperialis182

Anmerkungen zu Seite 70-72 mus vor 1914, 2. Aufl., 2. Bd., München 1963) und - mit Einschränkungen - Fritz Fischer (Griff; Krieg) leiden darunter, daß den materiellen Interessen a priori ein zu hoher Stellenwert zugemessen wird. Beiträge wie die von Meyer beschränken sich wiederum auf die systematische Zusammenstellung bildungsbürgerlicher Argumentationslinien usw. 14 Die starke Resonanz, die das imperialistische Denken nicht zuletzt infolge der bildungsbürgerlichen Aktivitäten bei den ,national' gesinnten Volksschichten fand, stellt einen für die Erklärung des wilhelminischen Imperialismus wesentlichen Faktor dar (vgl. dazu Hampe, Teil 3, 3; Marienfeld, S. 103 ff.). 15 Zit. n. Kuczynski, S. 106. Die Frontstellung gegen die Sozialdemokratie war eine wesentliche Komponente der berühmt-berüchtigten ,Sammlungspolitik', die die Konturen der Innen- und Außenpolitik des Reiches bis 1918 nachhaltig beeinflußt hat (zu den Grundzügen, den konzeptuellen Nuancen und zur Bedeutung der ,Sammlungspolitik' vgl. u. a. Dieter Grob, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/Berlin 1973; Kehr, insbes. S. 259 ff.; Stegmann; HansUlrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973, s. 100 ff.). 11 Helmut Böhme, Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1968, s. 92. Sozial stabilisierend wirkte sich allerdings die Entwicklung der Reallöhne aus, die schon zwischen 1880/81 und 1895 um fast 30 ¼ zugenommen hatten und von 1895 bis 1912/13 um weitere 25 ¼ anstiegen (vgl. Thomas J. Orsagh, Löhne in Deutschland 1871-1913: Neuere Literatur und weitere Ergebnisse, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 125, 1969, S. 481). 17 Hans-Christoph Schröder, Sozialismus und Imperialismus. Die Auseinandersetzungen der deutschen Sozialdemokratie mit dem lmperialismusproblem und der ,Weltpolitik' vor 1914, Teil 1, Hannover 1968, S. 15; vgl. auch Meyer, S. 85 ff.; Stegmann, S. 105 ff. 18 Richard Ehrenberg [Professor der Staatswissenschaften], Die Seefahrt im Leben der Völker, in: Handels- und Machtpolitik. Reden und Aufsätze im Auftrage der ,Freien Vereinigung für Flottenvorträge', Hrsg. G. Schmoller/M. Sering/A. Wagner, Bd. l, Stuttgart 1900, S. 80; vgl. auch Kehr, S. 310, 314 ff. und 432 ff.; Meyer, S. 85 ff. 19 Karl Rathgen [Professor der Volkswirtschaft], Welche sittlichen und sozialen Aufgaben stellt die Entwicklung Deutschlands zur Weltmacht unserem Volke?, in: Die Verhandlungen des XI. evangelisch-sozialen Kongresses, Göttingen 1900, S. 146. 20 Ernst v. Halle [Professor der Volkswirtschaft] ,Weltmachtpolitik und Sozialreform, 1900, zit. n. Kehr, S. 440; für analoge Belege vgl. Kehr, S. 307 bzw. 439 ff.; Marienfeld, S. 56 ff.; Meyer, S. 90. Zu diesem Streben nach ,Ganzheit' vgl. auch unten S. 98 ff.

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Anmerkungen zu Seite 72-75 Vgl. insbes. Wehler, Bismarck; ders., Kaiserreich, S. 171 ff. Preiser, S. 368. 2a Vgl. Hampe, Teil 3, 3/III. des 24 Im Durchschnitt der Jahre 1894--1913 entfielen z.B. nur 0,3 °1o deutschen Warenimports und 0,5 °lo des Warenexports auf die deutschen Kolonien; auf der Kapitalseite waren in den ,Schutzgebieten' bis des zum Jahre 1914 mit annähernd 500 Mill. Mark lediglich etwa 2 °1o deutschen Auslandskapitals investiert worden (Belege und weiteres Zahlenmaterial bei Hampe, S. 177 ff. 25 Vgl. Arthur Spiethoff, Krisen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 6, 1923, S. 60. Nach den neueren Schätzungen Hoffmanns schlug sich die verstärkte wirtschaftliche Aktivität in Deutschland in einem Anstieg des realen Nettosozialprodukts zwischen 1894 und 1913 um 84 °lonieder, während es von 1874 bis 1894 nur um 50 °lozugenommen hatte (vgl. Walter G. Hoffmann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin usw. 1965, S. 454 f. = Tab. 103, Sp. 10). 28 Vgl. Knut Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 1972, S. 43 (Abb. 6); Hampe, Anhang, Graphik 3. 27 Einzelheiten und Quellenangaben für die wirtschaftlichen und demographischen Daten bei Hampe, S. 307 ff. Aufgrund der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung fielen die wirtschaftlichen Zahlenvergleiche bei einer Pro-Kopf-Rechnung für Frankreich und England günstiger aus als bei der Gegenüberstellung der absoluten Daten. 28 Walter Rathenau, zit. n. Böhme, S. 97; vgl. auch Wilhelm Treue, Wirtschaft und Außenpolitik, in: Tradition, Jg. 9, 1964, S. 195 f. 29 Vgl. insbes. den Briefwechsel zwischen dem Präsidenten des Flottenvereins, Fürst zu Salm, und dem Staatssekretär des Marineamts, v. Tirpitz, vom Dez. 1901, abgedruckt und kommentiert von Kehr, s. 457 ff. 30 Vgl. Karl Oldenberg, Deutschland als Industriestaat, Göttingen 1897 (die Zitate auf S. 27 bzw. 29); Einzelheiten dieser Argumentation, auf der die ,systemindifferente Imperialismustheorie' basiert, und weitere Belege bei Rampe, Teil 2, 3/1. 31 Berghahn, S. 174; vgl. auch Meyer, S. 80. 32 Vgl. Marienfeld, S. 23-29; Meyer, S. 45 ff. 33 Albert E. F. Schäffle, 1898 in einem Zeitungsartikel, zit. n. Marienfeld, S. 23 f.; weitere gleichlautende Belege ebd., sowie bei Meyer, S.112 f. 34 Berghahn, S. 175. 35 Vgl. Marienfeld, S. 24 und 30 ff.; Meyer, S. 63 ff., 75 und 80. 36 Vgl. Rampe, S. 190 ff.; Kehr, S. 273. 37 Vgl. Max Webers Diskussionsbeitrag in: Die Verhandlungen des 8. evangelisch-sozialen Kongresses, Göttingen 1897, S. 107; analog argumentierte auch v. Schulze-Gaevemitz (vgl. Marienfeld, S. 37).

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22

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Anmerkungen zu Seite 76-78 Weiteres Zahlenmaterial und Quellenangaben bei Hampe, S. 177 ff., insbes. Tab. 14/15, vgl. auch Tab. 17 u. 18. 39 Trotz zunehmender politischer Spannungen war Großbritannien 1910/13 immer noch Deutschlands wichtigster Absatzmarkt; es folgten in der weiteren Rangordnung Österreich-Ungarn, Rußland, USA und Frankreich; wichtigste Bezugsmärkte waren Rußland, USA, Großbritannien, Österreich-Ungarn und Frankreich (vor Britisch-Indien!). Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1915, S. 257 f. 40 Zur britischen Außenwirtschaftspolitik im Jahrhundert vor dem 1. Weltkrieg vgl. Desmond C. M. Platt, Finance, Trade and Politics in British Foreign Policy 1815-1914, Oxford 1968. Es gab auch schon damals in Deutschland prominente Stimmen, die die Sorgen vor einem zunehmenden Handelsprotektionismus der anderen Großmächte für übertrieben erachteten (vgl. Marienfeld, S. 36 f.). 41 Vgl. Berghahn, insbes. S. 173 ff. und 419 ff.; Meyer, Kap. IV. 42 Vgl. Karl W. Hardach, Anglomanie und Anglophobie während der Industriellen Revolution in Deutschland, in: Schmollers Jahrbuch, Jg. 91, 1971, S. 153 ff.; Bergbahn, S. 173 ff. und 391 ff.; Fischer, Krieg, Kap. VII; Meyer, Kap. IV. 43 Vgl. Wernecke, S. 147. 44 Vgl. Berghahn, S. 173 ff. (das Zitat auf S. 177). 45 Vgl. Ludwig Dehio, Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, Wien 1955, S. 37 ff. und 75 ff.; Willy Schenk, Die deutsch-englische Rivalität vor dem Ersten Weltkrieg in der Sicht deutscher Historiker, Diss. Zürich/Aarau 1967. 1969. 48 Vgl. Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt 47 Vgl. Wolfgang Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Modeme deutsche Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, insbes. S. 422 f.; vgl. auch oben S. 31 ff. 48 Diese Haltung des Bürgertums besaß durchaus ihre eigene Logik. Der Rückzug in die Innerlichkeit ließ intellektuelle Ideale entstehen, die den Menschen u. a. als potentiell vollkommenes Wesen darstellten, dessen ,Persönlichkeit' sich nicht zuletzt durch die Herrschaft über die äußere Natur entfalte (vgl. z.B. Scheidler, Emancipation, in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Hrsg. J. G. Ersch und J. G. Gruber, 1. Sektion, 34. Teil, Leipzig 1840, S. 2 ff.). Kein Wunder, daß auf dem Hintergrund solcher Vorstellungen das Verständnis für die realpolitischen Prozesse bzw. für die Probleme der praktischen Politik unterentwickelt blieb. Auf die merkwürdige Mischung von intellektuellen Herrschaftsansprüchen des Bürgertums einerseits und der anhaltenden Verbeugung vor den aristokratischen Leitbildern andererseits kann hier nicht näher eingegangen werden. Sie läßt sich aber psychoanalytisch durchaus verständlich machen (vgl. z. B. Heinz Kohut, Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung von narzißtischen Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt 1973; Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur 38

185

Anmerkungen zu Seite 78-79 Sozialpsychologie, München 1963; zur ,Feudalisierung des Bürgertums' vgl. u. a. Wolfgang J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt/Hamburg 1969, S. 72; Wehler, Kaiserreich, S. 54). 49 Gustav Schmoller, Die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands und die Flottenvorlage, in: Handels- und Machtpolitik, Bd. 1, S. 30. 60 Diese Interpretation erlaubte es nämlich dem Bildungsbürgertum, seinem geistig-gesellschaftlichen Führungsanspruch gerecht zu werden, ohne der von ihm selbst kritisierten ,materialistischen Verflachung' zu verfallen (vgl. auch unten S. 167 ff.). 51 Zum Problem der Identifikation mit dem Vater im individual- und sozialpsychischen Bereich vgl. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt/Hamburg 1967, Kap. VII ff.; Mitscherlich, Kap. VI-VII. 52 Andeutungsweise macht sich auch Hardach diese Interpretation zu eigen (vgl. ders., S.165 und 170, Anm. 84). 53 Zur Entstehung des Sozialdarwinismus, der nicht nur in Deutschland fruchtbaren Boden fand, und zu seiner Rolle im ,Zeitalter des Imperialismus' vgl. Hannsjoachim W. Koch, Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken, München 1973; Hans-Ulrich Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Hrsg. I. Geiss/B. J. Wendt, Düsseldorf 1973, S. 133 ff.; vgl. auch unten S. 97 f. - Auf ein anderes Substrat stößt man z. B. bei Max Weber, dessen Eintreten für die deutsche Weltmachtpolitik als Ausdruck der Angst vor Identitäts- und Kontinuitätsverlust interpretiert werden kann (vgl. Weber, Nationalstaat; ders., Deutschland unter den europäischen Weltmächten, in: ders., Politische Schriften, S. 177; zur Interpretation vgl. Robert J. Lifton, History and Human Survival, New York 1970). 54 Vgl. oben S. 69 und unten S. 156 f. 65 Vgl. Marienfeld, S. 31 und 46 ff.; Walter Mogk, Paul Rohrbach und das ,Größere Deutschland'. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter, München 1972, insbes. Kap. V und IX; Schenk, insbes. s. 82ff. 56 Vgl. auch unten S. 167. 57 Vgl. Reinhard Holubek, Allgemeine Staatslehre als empirische Wissenschaft. Eine Untersuchung am Beispiel von Georg Jellinek, Bonn 1961, insbes. S. 44 f. und 127; vgl. auch Hedda J. Herwig, Georg Jellinek, in: Martin J. Sattler (Hrsg.), Staat und Recht. Die deutsche Staatslehre im 19. und 20. Jahrhundert, München 1972, S. 72 ff. ss Holubek, S. 45. 59 Arthur Dix [nationalliberaler Publizist], Deutscher Imperialismus, Leipzig 1912, zit. n. Fischer, Krieg, S. 68; vgl. auch Ernst Köhler, Bildungsbürgertum und nationale Politik. Eine Studie zum politischen Denken Otto Hintzes, Bad Homburg v. d. H. usw. 1970, S. 17 ff. 6° Friedrich v. Bemhardi [preuß. General und Militärschriftsteller],

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Anmerkungen zu Seite 80--l19 Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart/Berlin 1912, S. 11 bzw. 172. - Zur spezifisch bildungsbürgerlichen Interpretation des Weltkrieges als ,Weltgericht' Gottes über Deutschlands Feinde, als ,Kreuzzug im Dienste des Weltgeistes' vgl. unten S. 156 f. u. 167. Zwischen Rationalismus und Resignation: Max Weber 1 M. Weber, Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen 3 1971, S. 20. 2 Brief vom 15. 10. 1896. Zit. nach Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, 2. überarb. und erweiterte Auflage, Tübingen 1974, S. 136. 3 Marianne Weber, Max Weber, ein Lebensbild, Tübingen 1962, S. 67. 4 Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, 2., erw. Aufl. neu hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1958, S. 617 (im folgenden PS). 5 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 2 1951, S. 593 (im folgenden WL). 8 PS, S. 437. 7 Brief vom 17.5.1895, zit. bei Mommsen, S. 39. 8 Max Weber. Werk und Person. Dokumente, ausgewählt und kommentiert von Eduard Baumgarten, Tübingen 1964, S. 325 f. 9 Marianne Weber, S. 133. 10 PS, S. 28. 11 Marianne Weber, S. 417. 1! Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, s. revid. Auflage, bes. von Johannes Winckelmann 1972, Tübingen, S. 242. 13 Mommsen, S. 49. 14 S. dazu Wirtschaft und Gesellschaft, S. 520-21. 15 S. dazu vor allem den Aufsatz ,Politik als Beruf' in PS, S. 547. 18 S. dazu den Beitrag von Peter Hampe, oben S. 67 ff. 17 PS, S. 23. 1s Mommsen, S. 70. 19 Zu Webers Imperialismus-Vorstellungen s. im einzelnen Mommsen, s.73-96. 20 Zit. nach Mommsen, S. 90. 21 PS, S. 22. 22 PS, S. 21. 23 Dieses und die folgenden nicht ausgewiesenen Zitate sind dem Aufsatz ,Wissenschaft als Beruf' in Wissenschaftslehre, S. 566-597, entnommen. 24 Wissenschaftslehre, S. 493. 25 Platon, Politeia, 617 d. :s Wissenschaftslehre, S. 597.

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Anmerkungen zu Seite 90-95 117 Max 28

29

mi

Weber, Politik als Beruf, Berlin 6 1968, S. 59. Wissenschaftslehre, S. 588. Platon, Politikos. Wissenschaftslehre, S. 96.

Zwischen Kulturkritik und Machtverherrlichung: Kurt Riezler 1 Karl Dietrich Erdmann, Zur Beurteilung Bethmann Hollwegs, in: GWU, 15. Jg., 1964, S. 525-540. 2 Vgl. lmanuel Geiss, Kurt Riezler und der Erste Weltkrieg, in: Imanuel Geiss/Bernd Jürgen Wendt (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 406. 3 Vgl. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, 3., erg. Aufl., Düsseldorf 1964, s. 109 ff. ' Karl Dietrich Erdmann (Hrsg.), Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Göttingen 1972. 5 Geiss, S. 399. 1 Wolfgang J. Mommsen, Kurt Riezler, ein Intellektueller im Dienste Wilhelminischer Machtpolitik, in: GWU, 25. Jg., 1974, S. 193. 1 Geiss, S. 418. 8 Zur Biographie Riezlers vgl. Erdmann, Kurt Riezler, S. 20 ff. 9 Ebd., S. 28. 10 Bernhard Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten, 3. Bd., Berlin 1931,

s.24.

11

Karl Alexander von Müller, Mars und Venus. Erinnerungen 1914-

1919, Stuttgart 1954, S. 34.

Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 116 ff. Erdmann, Kurt Riezler, S. 57. 14 Geiss, S. 398. 15 Peter BergerfThomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1969, S. 98 ff. 16 Helmut Böhme, Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1968, s. 96 ff. 17 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973, S. 176 ff. 18 Vgl. Fritz Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969, S. 354 ff. 19 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1971, S. 61. 20 J. J. Ruedorffer (Pseudonym für Kurt Riezler), Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart, Stuttgart u. Berlin 1915, S. 113. 21 Ebd., S. 86. 22 Ebd., S. 163. 12

13

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Anmerkungen zu Seite 96-101 Ebd., S. 162. u Ebd., S. 154. 116 Kurt Riezler, Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Politik und zu anderen Theorien, München 1913, S.246. 211 Riezler, Grundzüge, S. 115. 11 Rudolf Euc.ken, Der Sinn und Wert des Lebens, 4., erw. Aufl., Leipzig 1914, S. 175. 28 Rudolf Euc.ken, Geistige Strömungen der Gegenwart, 4., überarb. Aufl., Leipzig 1909, S. 81 ff. 211 Ernst Johann (Hrsg.), Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., München 1966, S. 78. 30 Riezler, Erforderlichkeit, S. 3. 81 Riezler, Grundzüge, S. 164. n Vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel u. Stuttgart 1963, S. 89 ff. 33 Riezler, Erforderlichkeit, S. 6. 34 Zit. bei Erdmann, Kurt Riezler, S. 25. 3ll Vgl. Bike-Wolfgang Kornhass, Kurt Riezlers frühe Schriften vor dem Hintergrund der Ordnungskrise der deutschen Gesellschaft im Wilhelminischen Zeitalter, Diss. München, Bamberg 1973. 38 Riezler, Erforderlichkeit, S. 19. 37 Ebd., S. 3 f. 38 Ebd., S. 54. 38 Ebd., S. 74. 40 Ebd., S. 161. 41 Ebd., S. 166. 42 Ebd., S. 165. u Ebd., S. 230. « Ebd., S. 202. " Ebd., S. 203. '° Ebd., S. 224 f. n Erdmann, Kurt Riezler, S. 253. es Ebd., s. 229. 48 Ebd., S. 274. 50 Riezler, Erforderlichkeit, S. 227. 51 Ebd., S. 228. 52 Vgl. Gustav Ratzenhofer, Wesen und Zweck der Politik. Als Theil der Sociologie und Grundlage der Staatswissenschaften, 1. Bd., Leipzig 1893, s. 59 ff. 53 Vgl. Richard Hofstadter, Social Darwinism in American Thought 1860-1915, 3. Aufl., Philadelphia 1948, S. S f. 54 Riezler, Erforderlichkeit, S. 177. 56 Ebd., S. 240. 58 Ebd., S. 240 f. 57 Ebd., S. 242. 23

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Anmerkungen zu Seite 101-115

Ebd., S. 244. Erdmann, Kurt Riezler, S. 317. 6° Kurt Riezler (anonym unter Pentagramm), Deutsche Mission, in: Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung, Nr. 8, 4.5.1916, S. 411. 81 Vgl. Kornhass, S. 217 ff. 62 Riezler, Grundzüge, S. 25 f. ss Ebd., S. 113. 64 Ebd., S. 12. 65 Ebd., S. 13. 66 Ebd., S. 22. 67 Vgl. Fritz Stern, Die politischen Folgen des unpolitischen Deutschen, in: Michael Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918, Düsseldorf 1970, S. 177 ff. 68 Mommsen, S. 209.

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Durchbruch zur Welt: Thomas Mann 1 Thomas Mann, Gesammelte Werke in zwölf Bänden (GW), 12. Bd., Frankfurt a. M. 1960, S. 107. 2 Ebd., S. 111. 3 Ebd., S. 15. 4 Ebd., S. 35 f. 5 Hans Wysling, ,,Geist und Kunst". Thomas Manns Notizen zu einem ,,Literatur-Essay", in: Paul Scherrer u. Hans Wysling (Hrsg.), Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns, Thomas-Mann-Studien, 1. Bd., Bern u. München 1967, S. 219. 6 Vgl. Oswald Spengler, Welthistorische Perspektiven. Der Untergang des Abendlandes, 2. Bd., München 1922, 227-237. 7 Vgl. Jost Hermand, Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1972, S. 22 ff.; Richard Hamann u. Jost Hermand, Impressionismus. Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, 2. Aufl., 3. Bd., München 1974. 8 Vgl. Mann, GW, 1. Bd., S. 657 f. 9 Ebd., S. 657. 10 Mann, GW, 9. Bd., S. 418 f. 11 Ebd., S. 13. 12 Mann, GW, 8. Bd., S. 288 f. 13 Ebd., S. 337. 14 Ebd. 15 Mann, GW, 6. Bd., S. 408 f. 16 Ebd., S. 400; wichtig ist auch der folgende Satz: ,,Denn moralisch betrachtet sollte das Mittel eines Volkes, zu einer höheren Form seines Gemeinschaftslebens durchzubrechen - wenn es denn blutig dabei zugehen soll -, nicht der Krieg nach außen, sondern der Bürgerkrieg sein."

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Anmerkungen zu Seite 116-122 17 Vgl. Georg Lukacs, Thomas Mann, in: Faust und Faustus. Vom Drama der Menschengattung zur Tragödie der modernen Kunst, Reinbek 1967, S. 214 ff. 18 Ernst Glöckner, Begegnung mit Stefan George. Auszüge aus Briefen und Tagebüchern 1913-1934, Heidelberg 1972, S. 78. 19 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Werke in drei Bänden, Hrsg. K. Schlechta, 1. Bd., München 1954, S. 235. 2 0 Mann, GW, 3. Bd., S. 744. 21 Mann, GW, 6. Bd., S. 410. u Vgl. Mann, GW, 3. Bd., S. 40 f. 23 Ebd., S. 42. 24 Vgl. Mann, GW, 4. Bd., S. 9 f.

Die Jugendkulturbewegung

Kenneth Keniston, Youth and Dissent, New York 1971, S. 390 ff. Richard Hamann und Jost Hermand, Stilkunst um 1900, München 1973, s. 8. 3 Ebd., S. 46. 4 Gerhard Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund, Göttingen 1969, S. 30. 5 Dirk Stegmann, Die Erben Bismarcks, Köln 1970, S. 46; Heinrich August Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, Köln 1972, S. 44 f.; Kratzsch, S. 27 ff. 8 Es enstanden u. a. die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur (1892 durch Friedrich Wilhelm Förster); die Neue Gemeinschaft, ein ,Orden vom wahren Leben' (1900 durch Heinrich und Julius Hart); der Giordano-Bruno-Bund (1900 durch Bruno Wille); der Dürer-Bund (1902 durch Ferdinand Avenarius); die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft (1902 durch Bernhard Kampffmeyer); das Neuwerk Schloß Mainberg, eine ,Freistatt persönlichen Lebens' (1902/3 durch Johannes Müller); der Bund deutscher Volkserzieher (1905 durch Wilhelm Schwaner); der Deutsche Monistenbund (1906); der Deutsche Werkbund (1907); der Sozialistische Bund (1908 durch Gustav Landauer); der St.-Georgs-Bund (1909 durch Hugo Höppener, gen. Fidus); der Bund für Freie Schulgemeinden (1910 durch Gustav Wyneken). 7 Hamann-Hermand, S. 11. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 23. Zur Beschreibung dieses Phänomens vgl. Georg L. Mosse, The Crisis of German Ideology, New York 1964; Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair, Berkeley-Los Angeles 1961. 10 Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland (19181932), 2. Aufl. Darmstadt 1972. 11 Einzelheiten bei Alexander Busch, Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten, Stuttgart 1959. 1

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Anmerkungen zu Seite 122-127 u Ulrich Linse, Hochschulrevolution, in: Archiv für Sozialgeschichte, 14. Bd. (1974), S. 1-114. 1s Heinz Joachim-Heydom und Gemot Koneffke, Zur Bildungsgeschichte des deutschen Imperialismus, in: dies., Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung, Bd. 2, München 1973, S. 179 ff. u Ebd., S. 211 f. 15 Wilhelm Flitner, Reformpädagogik, in: Walter Rüegg (Hrsg.), Kulturkritik und Jugendkult, Frankfurt a. M. 1974, S. 137 ff. 1968, 18 Willibald Russ, Geschichte der Pädagogik, Bad Heilbronn S. 139f. Vgl. Karl Schwarz, Bibliographie der deutschen Landerziehungsheime, Stuttgart 1970. 17 Heinrich Kupffer, Gustav Wyneken 1875-1964, Stuttgart 1970, S. 46. 18 Alfred Kurella, Noch einmal: Deutsche Volksgemeinschaft, Ein Wort an die bürgerliche Jugendbewegung, Berlin 1923, S. 7 [Hervorhebung von Kurella]; ebenso Friedrich Heer, Werthers Weg in den Underground, München 1973, S. 74. 19 Gerhard Ziemer, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 6. Bd. (1974), S. 89. 20 Jakob Müller, Die Jugendbewegung als deutsche Hauptrichtung neukonservativer Reform, Zürich 1971, S. 234. 21 Ebd., S. 176. 21 Walter Rüegg, Jugend und Gesellschaft um 1900, in: ders. (Hrsg.), Kulturkritik und Jugendkult, S. 55. 23 Thomas Nipperdey, Jugend und Politik um 1900, in: ebd., S. 87 ff. 24 Die „Kritik der Kindheit" zusammengefaßt bei Kupffer, S. 37-39; die "Schulerinnerungen" 1. Teil in: Die Grüne Fahne, Monatsschrift für jugendliche Weltanschauung, Leipzig 1924/5, S. 267-273, 354-361; der 2. Teil zusammengefaßt bei Kupffer, S. 40 f. 25 Kupffer, S. 38. 26 Die Grüne Fahne, S. 271. 27 Ebd., S. 355. :s Erich Eduard Geissler, Der Gedanke der Jugend bei Gustav Wyneken, Frankfurt a. M. 1963, S. 26. 29 Das Einladungsschreiben u. a. abgedruckt in: Der Anfang, 1. Jg. Nr. 5 v. September 1913, S. 129 ff. 30 Darstellungen von Wynekens Ideologie bei Kupffer; Geissler; Ulrich Panter, Gustav Wyneken. Leben und Werk, Weinheim/Bergstraße 1960; Peter R. Hofstätter, Fieber und Heil in der Jugendbewegung, in: Jugend in der Gesellschaft, München 1975, S. 138 ff. 31 Zur Begriffsgeschichte des nicht von Wyneken erfundenen Terminus vgl. Kupffer, S. 183 ff. und Panter S. 98 f. 32 Wyneken, Was ist Jugendkultur? München 1914, S. 22. 33 Die Idee der Freien Schulgemeinde wird dargestellt in Wyneken, Der Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde, Leipzig 1914. Einblicke in die Realität gibt der Schlüsselroman von Erich Ebermayer, Kampf um Odilienberg, Berlin 1929 (vgl. ders., Gustav Wyneken, Chronik

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Anmerkungen zu Seite 127-129

einer großen Freundschaft, Frankfurt a. M. 1969).Ferner Alfred Schröder, Die pädagogischen Ansichten Gustav Wynekens und ihre Verwirklichung in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, (Masch. geschr.) Diss., Leipzig 1964. 34 Wyneken, Was ist Jugendkultur, S. 28. Hervorhebung durch Wyneken. 35 Wyneken, Der Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde, S. 9. 36 Wyneken, Was ist Jugendkultur, S.15 f. 17 Vgl. Wyneken, Wider den altsprachlichen Schulunterricht, Jena 1916. 38 Wyneken, Schule und Jugendkultur, Jena 1913, S. 18. 31 Wyneken, Der Kampf für die Jugend, Jena 1919, S. 103. 48 Wyneken, Was ist Jugendkultur, S. 28. 41 Wyneken, Kabinett gegen Freie Schulgemeinde. Eine Abrechnung mit der Bureaukratie und ein Appell an die Öffentlichkeit, München 1910. 41 Einzelheiten und Literatur bei Willibald Karl, Jugend, Gesellschaft und Politik im Zeitraum des Ersten Weltkrieges, München 1973, S.104ff. 43 Vgl, insbesondere Wynekens Aufsatz ,Liberalismus und Jugendwegung' (1914) in: Wyneken, Der Kampf für die Jugend, S. 173-179. 44 Wyneken, Der Kampf für die Jugend, S. 43. 41 Wyneken, Schule und Jugendkultur, S. 24 und 77. 41 Wyneken, Der Kampf für die Jugend, S. 108. 47 Der Anfang, Zeitschrift der Jugend. Hrsg. v. Georges Barbizon/ Berlin und Siegfried BernfeldfWien; 1. Jg. Mai 1913 - 2. Jg. Juli 1914; zur Geschichte der deutschsprachigen Jugendzeitschriften vgl. Panter, S.103 ff. 48 Georges Barbizon, Die treibenden Kräfte, in: Der Anfang, 1. Jg. Nr. 1 v. Mai 1913. 49 Wyneken, Der Kampf für die Jugend, S.114. Bernfeld schätzte 1914 Wynekens Anhängerschaft auf 3000 (Hofstätter, S. 142). 49a Gerhard Seewann, österreichische Jugendbewegung 1900-1938, Bd. 1, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1974, S. 95-104 und 110 f. 50 Vgl. auch Hans Reichenbach, Von der Schule, in: Der Anfang, 1. Jg. Nr. 11 v. März 1914. 51 Material zur pädagogischen Studentenbewegung: Der Anfang, 1. Jg. Nr. 2, S. 60 f.; Wyneken, Die pädagogische Mission der Studentenschaft, Wien 1913; Panter, S. 95 ff. 52 Wyneken, Was ist Jugendkultur, S. 31; Hervorhebung durch Wyneken. 53 Wyneken, Der Krieg und die Jugend, öffentlicher Vortrag, gehalten am 25. November 1914 in der Münchner Freien Studentenschaft, München 1915. Frau Maria Reichenbach danke ich sehr herzlich für die Möglichkeit, in den unveröffentlichten Briefwechsel des ReichenbachKreises mit Wyneken Einblick nehmen zu können. Hans Koch wies den Verf. brieflich darauf hin, daß Wyncken im Winter 1917/18 von seiner kriegsbegeisterten Haltung völlig abgerückt war. 193

Anmerkungen zu Seite 129-132

Zur Biographie: Hinrieb Jantzen, Namen und Werke, Bd.1, Frankfurt a. M. 1972, S. 175 f. Kurella verstarb am 12.6.1975. 55 In: Der Anfang, 1. Jg. Nr.11 v. März 1914, S. 347-350. 58 Kurella verweist dabei auf die exemplarische Darstellung des Sozialisationsprozesses in einer intakten bürgerlichen Familie bei Toni Meyer (Hrsg.), Aus einer Kinderstube. Tagebuchblätter einer Mutter, LeipzigBerlin 1914. 67 Wyneken, Der Krieg und die Jugend. 58 Ernst Joel, Die Jugend vor der sozialen Frage. Eine Programmschrift der sozialen Jugendbewegung, 1. Aufl. Berlin-Charlottenburg 1914, 2. Aufl. 1915, 3. Aufl. Jena 1919. Friedrich Bauermeister, Vom Klassenkampf der Jugend, in: Der Aufbruch, Nr.1 v. Juli 1915; als selbständige Schrift Jena 1916. Der Aufbruch. Monatsblätter aus der Jugendbewegung, hrsg. v. Ernst Joel, Juli-Oktober 1915. Friedrich Bauermeister, Hans Koch-Dieffenbach, Alfred Kurella, Absage und Beginn. Worte an die Kameraden, Leipzig 1918. Alfred Kurella, Deutsche Volksgemeinschaft Offener Brief an den Führerrat der Freideutschen Jugend, Hamburg 1918. Eine ausführlichere Interpretation dieser Werke bei Ulrich Linse, Die Kommune der deutschen Jugendbewegung, München 1973, S. 62 ff. und 84 ff. 59 Hinweis auf die Vorgeschichte des Begriffs bei Hofstätter, S. 143. so Dazu Linse, Hochschulrevolution, S. 15 und ders., Die Kommune der deutschen Jugendbewegung, S. 64. 81 Wyneken, Der Kampf für die Jugend, S. 139-148. Der Terminus ,Jugendsozialismus' ebd. S. 143. 82 Etwa Walter Hegar, Der Sozialismus und die Kopfarbeiter, Freiburg-Leipzig 1919, und Bugen Ortner, Die Intellektuellen und der Sozialismus, Berlin 1919; vgl. dazu Linse, Hochschulrevolution, S. 40 ff. 63 Kupffer, S. 100. 64 Wyneken, Der Kampf für die Jugend, S. 139. 65 Flugblatt ,Kameraden' v. Dezember 1916. Aufsätze Kurellas in: Der Freistudent v. Januar 1917 und in: Freideutsche Jugend, Nr. 1/2 v. 1917. Das Flugblatt von Hans Koch, Freunde der Jugend [1917]. Friedrich Bauermeister, Hans Koch, Alfred Kurella, Rundbriefe des Berliner Kreises, 1. Rundbrief v. Dezember 1917. Dazu Wyneken: Die Wiedergeburt der Freideutschen Jugend, in: Die freie Schulgemeinde, 8. Jg. (1917), S. 2 ff., und ders., Die Entwicklung der Freideutschen Jugend, in: Der Kampf für die Jugend, S. 112-121. 86 Vgl. Alfred Kurella, Unterwegs zu Lenin, Berlin 1967, S.17 f. 87 Zu den bei Linse, Die Kommune der deutschen Jugendbewegung, S. 79-83, genannten Belegen kommen hinzu: H. K. [Hans Koch], Bruder Arbeiter! In: Der neue Anfang. Zeitschrift der Jugend, 1. Jg. Nr. 2 v. 15.1.1919, S. 17 f.; Alfred Seidel, Die sozialistische Studentenbewegung Deutschlands, in: Die neue Erziehung, 1. Jg. (1919), S. 426 f.; Briefe Hans Kochs, Alfred Kurellas und Walter Zadeks an den Verf. 88 Kurella, Unterwegs zu Lenin, S. 19 f.; Hans Koch, Bruder Arbeiter;

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Anmerkungen zu Seite 133-137 ders., Erläuterungen zu dem Politischen Gespräch ,Der Weg zum Bolschewismus', in: Das Ziel, hrsg. v. Kurt Hiller, 4. Bd. (1920), S. 132-137. 68 a Kritik der bürgerlichen Jugendbewegung am Jugendsozialismus: Hermann M. Popert, Spartakus in der Jugendbewegung, Hamburg 1919 (Vortrupp-Verlag). Ablehnung durch die proletarische Jugend: Walter Sturm, Sozialistische Schüler und Studenten, in: Die junge Garde I, 11 v. 19. 2. 1919; Edwin Hoernle, Klassenkampf der Jugend; ebd. I, 34 v. 16. 8. 1919; Kulturkampf der Jugend; Kultur- oder Klassenkampf; Klassenkampf ist Kulturkampf; in: Junge Anarchisten. Organ der syndikalistisch-anarchistischen Jugend Deutschlands, II, 10 (1925). 69 Hans Koch, Es stirbt das alte Europa, in: 38. Politischer Rundbrief, hrsg. v. Karl Bitte!, v. 18.4.1919, S. 137. 70 Hans Koch, Der Weg zum Bolschewismus, München [1919]. 71 Monographische Darstellung bei Linse, Die Kommune der deutschen Jugendbewegung. 72 Hermann Meier-Cronemeyer, Wirkungen der Jugendbewegung im Staatsaufbau Israels, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 6. Bd. (1974), S. 38-57. 73 Kurella, Unterwegs zu Lenin; ders., Jugendgenossen! Die proletarische Revolution braucht uns! In: 22. Politischer Rundbrief, hrsg. v. Karl Bitte!, v. 16. 1. 1919, S. 78. 74 Alfred Kurella, Offener Brief, in: 27. Politischer Rundbrief, hrsg. v. Karl Bitte!, v. 6. 2. 1919, S. 93 f. 75 Wyneken, Entgegnung, in: Der neue Anfang, 1. Jg. Nr. 7 v. 1. 4. 1919, S.106f. 76 Alfred Kurella, Noch einmal: Deutsche Volksgemeinschaft, S. 38; Hervorhebungen von Kurella. 77 Brief Kurellas an den Verfasser. 78 Vgl. die ausgezeichnete Psychographie Kurellas bei Gerhard Zwerenz, Der Widerspruch, Frankfurt a. M. 1974, S. 128 ff. 79 Hofstätter, S. 140. 8° Keniston, S. 3; er fußt wiederum auf den Untersuchungen von Erik H. Erikson (u. a. ldentity: Youth and Crisis, New York 1968; Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 4. Aufl. 1971, und Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1966, ferner die biographischen Darstellungen von Luthers und Gandhis Jugend). 81 Geissler, S. 40. 82 Zitate bei Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1960, S.102f. 83 Kenneth Keniston, Radicals: Renewal of the Tradition, in: Kcniston, S. 213-229; ferner S. 147-149. 8 4 Robert Jay Lifton, History and Human Survival, New York 1971, s.363.

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Anmerkungen zu Seite 138-143 Die Lebensreformbewegung Zu den Hauptrichtungen der Lebensreformbewegung im 19. Jahrhundert vgl. Wolfgang R. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert, Bd.19, Göttingen 1974. 2 Eine Ausnahme bilden die katholischen Bevölkerungsteile. Eine geographische Zuordnung lebensreformerischer Zentren (Naturheilstätten, Siedlungen, Verlage usw.) ließe Schwerpunkte am Rande der Großstädte, im sächsisch-thüringisch-hessischen Mittelgebirgsraum sowie in norddeutschen Moor- und Heidegegenden erkennen. 3 Curt Wach.tel, Laienärzte und Schulmedizin, Leipzig 1923, S. 6. 4 Seit den dreißiger Jahren gab es immer wieder lokale und regionale Vereinsbildungen der Vegetarier, Naturheilfreunde usw. 1888 bildete sich der ,Deutsche Bund der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise', der sich 1910 in den noch heute bestehenden ,Deutschen Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise (Naturheilkunde) e. V.' umbenannte. 5 Henry George, Fortschritt und Armut, Jena 1880; ders., Soziale Probleme, Jena 1883. Auf deutscher Seite hatte schon Anfang der siebziger Jahre Ottomar Beta (Hauptwerk: Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte des Boden- und Creditrechts, Berlin 1901) auf die Notwendigkeit der Rückkehr zum altdeutschen (germanischen) Bodenrecht hingewiesen. Ebenso widmete sich der völkische Antisemit Theodor Fritsch. der Bodenfrage in dem Buch: Zwei Grund-übel: Boden-Wucher und Börse, Leipzig 1894; und in dem ersten Entwurf einer Gartenstadt: Die Stadt der Zukunft, Leipzig 1896. 6 Das Standardwerk zu diesem Thema stammte von dem Nationalökonomen Franz Oppenheimer, der bei der Gründung Edens Pate stand: Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Oberwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Jena 1896. 7 Der Begriff ,Reformhaus' kam erst später auf. Carl Braun gründete 1887 in Berlin ein ,Kauf- und Versandhaus' für Reformwaren. 8 Vgl. Paul Jurczyk, Die gemeinnützige Obstbausiedlung Eden. Ein Beitrag zum genossenschaftlichen Siedlungswesen, Diss. Berlin 1941. 9 Janos Frecot, Johann Friedrich. Geist, Diethart Kerbs, Fidus 1868-1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972, s. 67 ff. 10 Heinrich. Scham (d. i. Heinrich. Pudor), Nackende Menschen. Jauchzen der Zukunft, Dresden 1893, u. Heinrich Pudor, Jungbrunnen. Offenbarungen der Natur, Leipzig 1894. 11 1901 entstand in Berlin ein Licht-Luft-Sportbad als Obungsstätte des 1

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Anmerkungen zu Seite 143-149

,Deutschen Vereins für vernünftige Leibeszucht', Der Berliner ,Verein für Körperkultur 1901' besteht heute noch. 12 Im Jahre 1909 wurde mit dem Bau der ersten 24 Häuser begonnen. 1911 entstand das von Heinrich Tessenow erbaute Festspielhaus für die ,Schulfeste' der Jaques-Dalcroze-Schule. 13 Janos Frecot u. a., S. 237 ff. 14 Gustav Jäger, Die Normalkleidung als Gesundheitsschutz, Stuttgart 1880, in 4. umgearb. Aufl. als: Mein System, Stuttgart 1884. - Heinrich Lahmann, Die Reform der Kleidung, 3. Aufl., Stuttgart 1889. 15 Die Jugendbewegung kam inzwischen ebenfalls als Abnehmer für Reformtrachten in Frage. 18 Wolfgang R. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, S. 131 f. - Janos Frecot u. a., S. 53 ff. 17 Paul de Lagarde, Deutsche Schriften, 2 Bde., Göttingen 1878-1881. Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen (d. i. Julius Langbehn), Leipzig 1890. - Friedrich Lange, Reines Deutschtum, Berlin 1893. 18 Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, MünsterjWestf. 1971, bes. S. 235 ff. 19 Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 19181932. Ein Handbuch, Darmstadt 1972, S. 133. 20 Klaus von See, Deutsche Germanen-Ideologie, Frankfurt a. M. 1970, s. 53. 21 Zur Entstehungsgeschichte vgl.: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Ein Handbuch, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 36 ff. 22 Vgl. Anm. 5. 23 Die FFF ( = Freiland-Freigeld-Festwährung)-Bewegung stützte sich auf die älteren Bodenreformer, insbesondere aber auf Silvio Gesells ,Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld', 1911. 24 Willibald Hentschel, Mittgart. Ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse, 5. Aufl., Leipzig 1916, S. 32. 25 Ders., Vom aufsteigenden Leben. Ziele der Rassen-Hygiene, hrsg. vom Mittgart-Bunde, Leipzig 1910, Anhang. 28 Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Marburger Abhandlungen zur politischen Wissenschaft, Bd. 20, Meisenheim 1970, s. 249 ff. 27 Friedrich Landmann, Begriff und Aufgabe der Lebensreform. Mit bes. Berücks. der deutschen Jugendbewegung, Hartenstein i. Sa. 1921, S.9. 28 Ders., Reine Mutterschaft. Beiträge zur geschlechtliche n Aufklärung und zur Versittlichung des ehelichen Lebens, 4. Aufl. von ,Grundfragen der Lebensreform', Hartenstein i. Sa. 1921, S. 274. 211 Ebd., S. 273. so Heinrich Tegtmeyer, Rassische Siedlungen, in: Neues Leben, 12. Jg. 1918, s. 122-124. 31 Fritz Paudler, Der neue Stil. Analytisches und Synthetisches, Privat-

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Anmerkungen zu Seite 149-156 druck, Wien 1911. Die Schrift enthält eine Liste von 333 Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur, denen der Autor ein Exemplar zugeschickt hatte und die das Spektrum der Lebens- und Kulturreform in seiner ganzen Buntheit zeigt - sie enthält Namen von bekannten Naturärzten und Vegetariern ebenso wie von Jugendstilkünstlern und völkischen Schriftstellern. 32 Ebd., S. 12 u. 13. 33 Ebd., S. 15. 34 Ebd., S. 16 (Zitat Adolf Damaschke). 35 Ebd., S. 16. 36 Ebd., S. 20. 37 Ebd., S. 22. 3s Ebd., S. 23 u. 24. 39 Heinrich Driesmans, Wege zur Kultur. Grundlinien zur Verinnerlichung und Vertiefung des deutschen Kulturlebens, München 1910, S.13. 49 1. Kongreß für Biologische Hygiene 1912. Vorarbeiten u. Verhandlungen, Hamburg 1913, S. 273. 41 Ebd., S. 281. 42 Ebd., S. 287 u. 288. 43 Adalbert Luntowski, Die Not des schöpferischen Menschen, hrsg. vom ,Tatbund', Schönblick-Woltersdorf bei Erkner 1913, S. 38. 44 Ebd., S. 39. 45 Janos Frecot u. a., S. 231 ff. Deutsche Apokalypse 1914 1 Die Krise der wilhelminischen Gesellschaft provozierte natürlich auch schon vor 1914 alternative Ordnungsmodelle und spekulative Entwürfe verschiedenster Art; gleichwohl waren die Sinnentwürfe, die das etablierte Bildungsbürgertum in seinen Deutungen des Ersten Weltkriegs entwickelte, hinsichtlich ihrer Quantität und spezifischen Inhalte ein besonderes Phänomen. 2 Ausführlichere Angaben und Belege zur Publizität der Kriegsgedichte sowie der Kriegspredigten und der Vorträge von Professoren in: Klaus Vondung, Geschichte als Weltgericht. Genesis und Degradation einer Symbolik, in: Helmut Kreuzer (Hrsg.), Literatur für viele 2. Studien zur Trivialliteratur und Massenkommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1976, S. 147-168. 3 Carl Busse (Hrsg.), Deutsche Kriegslieder 1914/16, Bielefeld u. Leipzig 1 1916, S. Vll. 4 Ebd.,S. VI. 5 Eine eingehende Symbolanalyse der Geschichtsapokalypse des Ersten Weltkriegs enthält mein oben genannter Aufsatz ,Geschichte als Weltgericht'. Im folgenden können nur diejenigen Ergebnisse dieser Studie

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Anmerkungen zu Seite 156-162

zusammengefaßt werden, die für den Gang der vorliegenden Untersuchung mit ihren anderen Fragestellungen von grundlegender Bedeutung sind, ohne daß die jeweiligen Belege im einzelnen wiederholt werden. 8 Der Begriff stammt von Peter L. Berger u. Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1970, vgl. bes. S. 98 ff. 7 Der Terminus ,Metastase' für einen erhofften oder prophezeiten radikalen Strukturwandel der Welt wie für die Wandlung der menschlichen Existenz von einem unvollkommenen in einen perfekten Zustand wurde von Brie Voegelin eingeführt; vgl. Brie Voegelin, Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966, S. 307. 8 Otto Dibelius, Gott und die deutsche Zuversicht. Drei Reden in dunkler Zeit, Berlin 1918, S. 5 ff. 8 Friedrich Gogarten, Volk und Schöpfung, in: Protestantenblatt, 48. Jg., 1915, Sp. 55; vgl. Karl König, Neue Kriegspredigten, Jena 1914, S. 21; Deutsche Reden in schwerer Zeit, gehalten von den Professoren an der Universität Berlin, 1. Bd., Berlin 1915, S. 179 (W. Kahl). 10 Vgl. oben S. 26 f. Selbst bei den Kriegs- und Feldpredigten, bei denen auch katholische Geistliche naturgemäß - und entsprechend dem katholischen Bevölkerungsanteil von 30 ¾ - ein starkes Kontingent stellten, überstieg die Zahl protestantischer Publikationen die der katholischen 1914 um das zehnfache, ab 1915 um das fünffache. 11 Vgl. Nonnan Cohn, Das Ringen um das tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, Bern u. München 1961; Jürgen Gebhardt, Die Revolution des Geistes. Politisches Denken in Deutschland 1770-1830, München 1968; J. L. Talmon, Politischer Messianismus, Köln u. Opladen 1963. 12 Vgl. Gebhardt, S. 69 ff. 13 Die Verbreitung nationalen Sendungsgla ubens durch den Geschichtsunterricht der höheren Schulen im 19. Jahrhundert wurde untersucht von Ernst Weymar, Das Selbstverständnis der Deutschen, Stuttgart 1961. 14 Vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel u. Stuttgart 1963, S. 201 ff. 15 Die Geschichte des ,Weltgericht'-Symbols ist ausführlicher dargestellt und belegt bei Vondung, S. 157 ff. 16 Vgl. Jakob Taubes, Abendländis che Eschatologie, Bern 1947; Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, Freiburg u. München 1959; Gebhardt und Talmon. 17 Busse, S. XI. 18 Deutsche Reden in schwerer Zeit I, S. 292 (A. Deißmann). 19 Ebd., S. 86 (0. v. Gierke). 20 Rudolf Eucken, Deutsche Freiheit, Leipzig 1919, S. 10. 21 Paul Natorp, Der Tag der Deutschen, Hagen 1915, S. 24. 199

Anmerkungen zu Seite 163-171 Reinhard Buchwald (Hrsg.), Der Heilige Krieg. Gedichte aus dem Beginn des Kampfes, Jena 1914, S. 46 r?v. Schulz); Walther Eggert Windegg (Hrsg.), Der deutsche Krieg in Dichtungen, München 1915, S. 5 (H. Spiero); Das Volk in Eisen. Kriegsgedichte der Täglichen Rundschau, Berlin 1914, S. 10 (I. Seidel); Buchwald, S. 4 (H. Krailsheimer). 23 Deutsche Reden in schwerer Zeit I, S. 154 (A. v. Harnack). 24 Ebd., S. 294, vgl. S. 290 ff. (A. Deißmann). 25 König, Neue Kriegspredigten, S. 38. 26 Vgl. unten S. 167. 27 Ernst v. Lynar (Hrsg.), Deutsche Kriegsziele 1914-1918, Berlin 1964, S.110. 28 Vgl. Cohn; sowie H. H. Rowley, Apokalyptik, Einsiedeln 3 1965. 29 Ausführlichere Belege zur Deutung des Kriegs als ,Weltenbrand' bei Vondung, S. 155. 30 Deutsche Reden in schwerer Zeit I, S. 294. 81 Ebd., S. 304. 32 Ebd., S. 88. 33 Ebd., S. 292 f. 84 Windegg, S. 16 (A. J. Winckler). 35 Walther Butler, In Gottes Heerdienst. Fünfzehn Feldpredigten 1917/ 1918, Stuttgart 1918, S. 19. 36 Deutsche Reden in schwerer Zeit I, S. 207 (A. Riehl). 37 Windegg, S. 144 (F. Port). 38 Das zweite Jahr. Kriegsgedichte der Täglichen Rundschau, Berlin 1915, s. 6. 39 Johann Plenge, Der Krieg und die Volkswirtschaft, Münster 1915, s. 200. 4 ° König, Neue Kriegspredigten, S. 25. 41 Deutsche Reden in schwerer Zeit I, S. 142. 42 König, Neue Kriegspredigten, S. 15. 43 Deutsche Reden in schwerer Zeit I, S. 85. 44 • Windegg, S. 36 (K. Strecker). 45 Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Leipzig 1911, S. 11; vgl. auch oben S. 33. 46 Deutsche Reden in schwerer Zeit I, S. 142. 47 König, Neue Kriegspredigten, S. 28 f. 48 Rudolf Eucken, Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes, Stuttgart u. Berlin 1914, S. 22. 49 Karl König, Sechs Kriegspredigten, Jena 1915, S. 5. 50 Deutsche Reden in schwerer Zeit I, S. 86 (0. v. Gierke). 51 Siehe oben S. 166. 52 Vgl. Robert J. Lifton, Die Unsterblichkeit des Revolutionärs, München 1970, S. 50 f. 22

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PERSONENREGISTER In das Register sind auch die Autoren von Veröffentlichungen aufgenommen, die in den Anmerkungen nachgewiesen werden; die entsprechenden Seitenzahlen sind kursiviert. Abel, W. 182 Adorno, Theodor W. 172 Albrecht, Wilhelm Eduard 60 Anschütz, Gerhard 59, 180 Arendt, Hannah 178 Arndt, E. M. 158-160 Avenarius, Ferdinand 121, 148, 191 Baltzer, Eduard 140, 144 f. Barbizon, Georges 193 Bauermeister, Friedrich 194 Baumgarten, Eduard 187 Baumgarten, Fritz 81 Baumgarten, Hermann 81 Baumgarten, Ida 81 Baur, Ferdinand Christian 40 f., 178 Benjamin, Walter 131 Berger, Peter L. 174, 188, 199 Berghahn, Volker R. 77, 182, 184/. Bergmann, Klaus 197 Bernfeld, Siegfried 129, 193 Bernhardi, Friedrich v. 186 Beseler, Georg 60 Beta, Ottomar 196 Bethmann Hollweg, Theobald v. 92 f., 99, 104 Beutin, Ludwig 31, 175, 177 Bismarck, Otto v. 5, 20, 27, 29, 31 f., 39, 49, 52, 55, 57, 65, 67, 72, 87, 113,115,181 Bitte!, Karl 133, 195 Bleek, Wilhelm 181 Blüher, Hans 126,129 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 180 Böhme, Helmut 183 f., 188

Böhme, Jakob 37 Borchardt, Knut 184 Braun, Carl 196 Brentano, Lujo v. 65 Brinkmann, K. G. v. 177 Broszat, Martin 7,172 Brunner, Otto 175 f. Buchwald, Reinhard 200 Buder, Walther 200 Bülow, Bernhard Fst. v. 93, 188 Busch, Alexander 191 Busse, Carl 198 f. Camus, Albert 41, 178 Carlyle, Thomas 150 Chamberlain, Houston Stewart 146 Chamberlain, Joseph 74, 76 Christus - Jesus Christus Cicero 81 Claß, Heinrich 71 Cohen, Benjamin J. 181 Cohn, Norman 199 f. Conze, Werner 175 f. Dahlmann, Friedrich Christoph 60 Dahn, Felix 39 Dahrendorf, Ralf 7-9, 172, 175 f., 181, 188 Damaschke, Adolf 149, 198 Darwin, Charles 63 Dehio, Ludwig 185 Dehmel, Richard 155, 176 Deißmann, Adolf 165 f., 199 f. Dempf, Alois 178 Dibelius, Otto 199 Diefenbach, Karl Wilhelm 143

201

Dilcher, Gerhard 180 Dilthey, Wilhelm 81 Dix, Arthur 186 Driesmans, Heinrich 149 f., 198 Dühring, Bugen 146 Duncan, lsadora 143 Ebermayer, Erich 192 Ebert, Friedrich 59 Eckhart 36 Egidy, Moritz v. 145 Ehrenberg, Richard 183 Ehrlich, Bugen 63 Engel-Janosi, Friedrich 178 Engels, Friedrich 12 Erdmann, Karl Dietrich 92, 188-190 Erikson, Erik H. 195 Ersch, J. G. 185 Eucken, Rudolf 94, 96 f., 155, 162, 189,199 f. Fahrenkrog, Ludwig 145 Fahrner, R. 177 Fallenstein, G. H. 81 Fallenstein, Helene 81 Fauth, Philipp 146 Felke, Emanuel 140 Fichte, J. G. 30, 36, 101, 127, 158 f., 169 Fidus -,. Höppener, Hugo Fieldhouse, David K. 181 Fischer, Fritz 6 f., 52, 92 f., 164, 181-183, 185 f., 188 Flaischlen, Cäsar 155, 176 Flex, Walter 155, 176 Flitner, Wilhelm 192 Förster, Friedrich Wilhelm 191 Fontane, Theodor 31, 176 Fraenkel, Ernst 59, 180 Francke, Ernst 71 Frank, Horst Joachim 177 Frecot, Janos 196-198 Freud, Sigmund 186 Frey, Alexander Moritz 176 Pricke, D. 182 Fritsch, Theodor 146, 196

202

Gandhi, Mahatma 195 Ganghofer, Ludwig 155, 176 Garibaldi, Giuseppe 48 Gebhardt, Jürgen 42, 44, 177-179, 199 Geheeb, Paul 123 Geibel, Emanuel 103, 160 Geiger, Theodor 22-26, 175 f. Geiss, lmanuel 92 f., 186,188 Geissler, Eduard 192,195 Geist, Johann Friedrich 196 George, Henry 196 George, Stefan 116 Gerber, Carl Friedrich v. 32, 61, 180 Gervinus, G. G. 81 Gesell, Silvio 147, 197 Gierke, Otto v. 32, 60, 63--65, 155, 166, 168, 180, 199 f. Glöckner, Ernst 116, 191 Gobineau, J. A. 146 Goethe, J. W. 8, 36 Gogarten, Friedrich 199 Grimm, Jakob 60 Grimm, Wilhelm 60 Groh, Dieter 183 Grosse, Martha 176 Grossi, Paolo 180 Groth, Klaus 39 Gruber, J. G. 185 Gumplowicz, Ludwig 100 Haeckel, Ernst 94 Halder, A. 179 Halle, Ernst v. 71, 183 Hallgarten, George W. F. 182 Hamann, Richard 174, 190 f. Hampe, Peter 181, 183-185, 187 Hanslick, Eduard 40 Hardach, Karl W. 185 f. Harnack, Adolf v. 32, 155, 200 Hart, Heinrich 191 Hart, Julius 176, 191 Hartwig, Helmut 178 Hauptmann, Carl 155, 176 Hauptmann, Gerhart 155, 176 Hauser, Arnold 173 f. Hebbel, Friedrich 39

Heer, Friedrich 192 Hegar, Walter 194 Hegel, G. W. F. 36-40, 42-47, 49, 51, 62 f., 128, 135, 158-160, 170, 177-179 Heller, Hermann 59 Henning, Hansjoachim 175 Henningsen, Manfred 177, 179 Hentschel, Willibald 147, 150,197 Heraklit 46, 51 Herder, J. G. 81 Hermand, Jost 110, 119, 174, 190 f. Herodot 81 Hertwig, Hugo 133 Hertzka, Theodor 133 Herwig, Hedda J. 186 Herzog, Rudolf 155 Heydorn, Heinz-Joachim 175, 192 Heymel, Alfred Walter 176 Hildebrand, Gerhard 73 Hiller, Kurt 195 Hintze, Otto 25 f., 31, 175-177 Hitler, Adolf 132 Hölderlin, Friedrich 40 Höppener, Hugo 143, 150, 191 Hörbiger, Hanns 146 Hoernle, Edwin 195 Hoffmann, Walter G. 184 Hofmann, Ludwig v. 143 Hofstadter, Richard 100,189 Hofstätter, Peter R. 192-195 Holubek, Reinhard 79,186 Hübner, Rudolf 179 Humboldt, Wilhelm v. 36, 61, 177 Jäger, Gustav 140, 143, 197 Jahn, F. L. 158 f. Jantzen, Hinrieb 194 Jaques-Dalcroze, Emile 143, 197 Jaspers, Karl 195 Jellinek, Georg 61, 79, 180 Jesus Christus 41 f., 44 f. Jhering, Rudolph 60, 63 f., 180 Joel, Ernst 131, 194 Johann, Ernst 177,180,189 Jurczyk, Paul 196

Kahl, Wilhelm 199 Kambartel, Friedrich 174 Kampffmeyer, Bernhard 191 Kant, Immanuel 8, 36, 45 f., 50, 61,177 Karl, Willibald 193 Kaupen, Wolfgang 181 Kautsky, Karl 94 Kehr, Eckart 75, 181-184 Kellenbenz, Hermann 175 Keller, Gottfried 39 Keniston, Kenneth 191, 195 Kerbs, Diethart 196 Kinder, Hermann 178 Kneipp, Sebastian 140 f. Koch, Hans 132 f., 193, 195 Koch, Hansjoachim W. 186 Kocka,Jürgen 10,130,172 Köhler, Ernst 186 König, Karl 163, 167, 169, 199 f. Kohlrausch, Friedrich 159 Kohn, Hans 6 f. Kohut, Heinz 185 Koneffke, Gernot 175,192 Kornhass, Bike-Wolfgang 189 f. Korsch, Karl 131 Koselleck, Reinhard 175 f., 199 Krabbe, Wolfgang R. 196 f. Krailsheimer, Hans 200 Kratzsch, Gerhard 120, 175, 191 Kraus, Karl 50, 179 Kreuzer, Helmut 28, 176, 198 Kuczynski, Jürgen 11, 172, 182 f. Kuh, Anton 40 Kuhn, Thomas 37 Kupffer, Heinrich 192,194 Kurella, Alfred 129 f., 132-136, 192,194 f. Laband, Paul 61, 64 f., 180 Lagarde, Paul de 94, 145, 197 Lahmann, Heinrich 143, 197 Laing, Ronald D. 14-16, 174 Landauer, Gustav 121, 131, 133, 191 Landmann, Friedrich 147, 150, 197 Langbehn, Julius 94, 145, 197

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Lange, Friedrich 145 f., 197 Lanz v. Liebenfels, Jörg 145 Lasson, Adolf 52, 167, 169, 180 Lenin, w. I. 86, 134 Lepenies, Wolf 185 Lessing, G. E. 36 Lienhard, Friedrich 176 Lietz, Hermann 123 Lifton, Robert J. 137, 174, 186, 195,200 Linse, Ulrich 192, 194 f. Lissauer, Ernst 155, 176 List, Guido v. 145 Liszt, Franz v. 63 Livius 81 Lombardi-Vallauri, Luigi 181 Lotmar, Philipp 60 Luckmann, Thomas 174,188,199 Lübbe, Hermann 6,189,199 Lukacs, Georg 6 f., 11 f., 49, 115 f., 172-174, 179, 191 Luntowski, Adalbert 150, 198 Luserke, Martin 123 Luther, Martin 45, 81,195 Lynar, Ernst v. 200 Machiavelli, Niccolo 81 Mann, Thomas 18, 106-118, 190 f. Marienfeld, Wolfgang 69, 182-186 Marx, Karl 39, 63 May~r, Otto 180 Meier-Cronemeyer, Hermann 195 Menger, Anton 65 Metternich, K. L. W. Fst. v. 66 Meyer, Conrad Ferdinand 39 Meyer, Jürg 182-185 Meyer, Toni 194 Michels, Robert 28, 33, 175-177, 200 Mitscb.erlicb.,Alexander 185 f. Mörike, Eduard 178 Mogk, Walter 186 Mohl, Robert v. 60 Mohler, Armin 191, 197 Mommsen, Theodor 60, 81 Mommsen, Wolfgang J. 85, 105, 186-188, 190 204

Mosse, George L. 6 f., 130, 191 Müller, Helmut 182 Müller, Jakob 192 Müller, Johannes 191 Müller, Karl Alexander v. 188 Müller-Lyer, Franz 135 Musil, Robert 52,180 Napoleon 160 Natorp, Paul 162, 199 Naumann, Friedrich 32 f., 71 Nietzsche, Friedrich 21, 44, 90, 95, 112, 116, 128, 143, 146, 179, 191 Nipperdey, Thomas 192 Nußbaum, Arthur 63 Oelmüller, Willi 176, 179 Oertzen, Peter v. 180 Oestreich, Gerhard 175 Oldenberg, Karl 73, 184 Oppenheimer, Franz 133, 196 Orsagh, Thomas J. 183 Ortner, Bugen 194 Panter, Ulrich 192 f. Pascal, Roy 174 Paudler, Fritz 149, 197 Peter I. der Große 109 Pfeiffer, Fr. 177 Phidias 42 Platon 89, 136, 187 f. Platt, Desmond C. M. 185 Plenge, Johann 161,200 Popert, Hermann M. 195 Port, Frieda 200 Preiser, Erich 181,184 Prellwitz, Gertrud 150 Preradovich, Nikolaus v. 175 Preuß, Hugo 64 Prießnitz, Vincenz 140 Pucb.ta, Georg Friedrich 60 Pudor, Heinrich 143, 196 Puttkamer, Robert Viktor v. 54 Rapp, Adolf 178 Rathenau, Walter 184 Rathgen, Karl 71,183

Ratzenhofer, Gustav 100,189 Reichenbach, Hans 129, 193 Reichenbach, Maria 193 Reuter, Otto Sigfrid 145 Reyscher, August Ludwig 60 Riebschläger, Klaus 180 Riehl, Alois 200 Riezler, Kurt 18, 27, 92-105, 188-190 Ringer, Fritz K. 177 Ritschl, Albrecht 159 Roethe, Gustav 155 Rotteck, Karl v. 33, 60 Rowley, H. H, 200 Ruedorffer, J. J.-. Riezler, Kurt Rüegg, Walter 192 Russ, Willibald 192 Salm, Fst. zu 184 Sattler, Martin J. 186 Sauer, Wolfgang 185 Savigny, Friedrich Karl v. 56, 60f. Schaarschmidt, Ilse 177 Schäffle, Albert E. F. 74, 184 Scham, Heinrich -. Pudor, Heinrich Scheidler 185 Schelling, F. W. J. 36, 40, 43, 47 f., 158,179 Schemann, Ludwig 146 Schenk, Willy 185 f. Scherrer, Paul 190 Scheuer, Helmut 174 Schieder, Theodor 176 Schiller, Friedrich 36, 47, 158, 160 Schilling, Hans 177 Schlawe, Fritz 178 f. Schlechta, K. 191 Schlegel, Friedrich 34, 47, 158 Schleiermacher, Friedrich 159 Schmitt, Carl 59 Schmoller, Gustav 64, 71, 183, 186 Schopenhauer, Arthur 112 Schröder, Alfred 193 Schröder, Hans-Christoph 183

Schröder, Rudolf Alexander 155, 176 Schroth, Johann 140 Schüler, Winfried 197 Schütz, Alfred 174 Schultze-Naumburg, Paul 143 Schulz, Wilhelm 200 Schulze-Gaevemitz, Gerhart v. 71, 184 Schwaner, Wilhelm 191 Schwarz, Karl 192 See, Klaus v. 197 Seewann, Gerhard 193 Seidel, Alfred 194 Seidel, lna 155, 176, 200 Sell, Friedrich C. 175, 179 Sering, Max 183 Sinzheimer, Hugo 60, 64, 180 Smend, Rudolf 59 Sohm, Rudolf 60 Sokrates 136 Solger, K. W. F. 43 Sonnemann, Ulrich 49, 179 Sophokles 42 Spahn, Martin 77 Spencer, Herbert 98 Spengler, Oswald 109, 190 Spiero, Heinrich 176, 200 Spiethoff, Arthur 72, 184 Stammler, Rudolf 62 Steffen, Hans 177 Stegmann, Dirk 182 f., 191 Stehr, Hermann 176 Stern, Fritz 6 f., 190 f. Strauß, D. F. 41, 178 Strecker, Karl 176, 200 Struve, Gustav 140 Stucken, Eduard 155, 176 Stürmer, Michael 190 Sturm, Walter 195 Sybel, Heinrich v. 28, 176 Talmon, J. L. 199 Taubes, Jakob 199 Tegtmeyer, Heinrich 197 Tessenow, Heinrich 197 Thibaut, A. F. J. 56 Tirpitz, Alfred v. 69, 76, 184

205

Tolstoi, Leo 89 Treitschke, Heinrich v. 39, 81, 159 Treue, Wilhelm 184 Unruh, Fritz v. 176 Vischer, C. F. B. 40 Vischer, Friedrich Theodor 38-52, 177-180 Vischer, Robert 178 f. Voegelin, Brie 174, 179, 199 Vogeler, Heinrich 133 Vondung, Klaus 172, 198-200 Wachtel, Curt 196 Wagner, Adolph 73, 75, 183 Wagner, Richard 49, 113, 145 Weber, Marianne 80, 84, 187 Weber, Max sen. 80 Weber, Max 18, 60, 63, 67 f., 75, 80-91,181, 184,186-188 Wedekind, Frank 116 Wehler, Hans-Ulrich 7, 31, 72, 172, 175, 177 f., 181-186, 188 Welcker, Karl Theodor 60 Wendt, Bernd Jürgen 186,188 Wernecke, Klaus 182,185 Wertheimer, Mildred S. 70, 176

206

Weymar, Ernst 199 Wieacker, Franz 180 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v. 155 Wilhelm 1. 32, 39 Wilhelm II. 20, 32, 34, 51, 57, 67, 96, 103, 125 Wilhelm, Walter 180 Wille, Bruno 191 Winckelmann, Johann Joachim 34 Winckelmann, Johannes 181,187 Winckler, A. J. 200 Windegg, Walther Eggert 200 Windseheid, Bernhard 56, 60 f., 180 Winkler, Heinrich August 175, 191 Wittfogel, Karl August 131 Wolf, Erik 60, 180 Wyneken, Gustav 121, 123-137, 191-195 Wysling, Hans 190 Zadek, Walter 194 Ziegler, Theobald 21, 30, 175 f. Ziemer, Gerhard 192 Zweig, Arnold 14, 174 Zwerenz, Gerhard 195

OBER DIE AUTOREN Gerhard Dilcher, geb. 1932, studierte Rechtswissenschaft in Frankfurt a. M.; 1960 Promotion zum Dr. jur.; 1961-63 Studienaufenthalt am Deutschen Historischen Institut in Rom; 1966 Habilitation; 1967 Berufung auf eine ordentliche Professur an der Freien Universität Berlin; 1972 Berufung auf eine Professur für Deutsche Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Zivilrecht an die Universität Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a.: Paarformeln in der Rechtssprache des frühen Mittelalters, Darmstadt 1961; Die Entstehung der Lombardischen Stadtkommune. Eine rechtsgeschichtlid1e Untersuchung, Aalen 1967. Janos Frecot, geb. 1937, studierte an der Bibliothekar-Fachschule in Berlin; seit 1973 Geschäftsführer des Werkbund-Archivs, Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Fidus 1868-1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen (zus. mit J. F. Geist und D. Kerbs), München 1972; Herausgeber des Jahrbuchs des Werkbund-Archivs. Peter Hampe, geb. 1940, studierte Volkswirtschaft, Politische Wissenschaft und öffentliches Recht in München; 1965 DiplomVolkswirt; 1972 Promotion zum Dr. rer. pol.; seit 1969 Wissenschaftlicher Assistent am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Die ,ökonomische lmperialismustheorie'. Kritische Untersuchungen, München 1976. Thomas Hollweck, geb. 1942, studierte Germanistik, Komparatistik, Amerikanistik und Politische Wissenschaft in München und seit 1967 an der Emory University, Atlanta, Georgia; 1973 Promotion zum Ph. D. mit einer Arbeit über Thomas Mann: The Dream lnterrupted. The Crisis of Germany and the First World War in the Work of Thomas Mann; Lehrtätigkeit als Assistant Professor am Atlanta Unversity Center; z. Zt. Forschungstätigkeit an der University of Califomia, Berkeley, Arbeit am unveröffentlichten Nachlaß Thomas Manns. Veröffentlichungen u. a.: Thomas Mann, München 1975. Bike-Wolfgang Kornhass, geb. 1940, studierte Politische Wissenschaft, Geschichte und Germanistik in Tübingen und München;

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1973 Promotion zum Dr. phil.; lebt in München als wissenschaftlicher Publizist. Veröffentlichungen u. a.: Kurt Riezlers frühe Schriften vor dem Hintergrund der Ordnungskrise der deutschen Gesellschaft im Wilhelminischen Zeitalter, Bamberg 1973. Ulridz Linse, geb. 1939, studierte Geschichte, Politische Wissenschaft und Anglistik in Tübingen und München; 1968 Promotion zum Dr. phil.; seit 1967 im Schuldienst. Veröffentlichungen u. a.: Organisierter Anarchismus im deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin 1970; Die Kommune der deutschen Jugendbewegung: Ein Versuch zur Überwindung des Klassenkampfes aus dem Geiste der bürgerlichen Utopie, München 1973; Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918-1919, Berlin 1974. Michael Naumann, geb. 1941, studierte Philosophie, Geschichte und Politische Wissenschaft in Marburg und München; 1969 Promotion zum Dr. phil.; dreijährige Tätigkeit als Journalist, zuletzt bei der ZEIT, Hamburg; seit 1972 Wissenschaftlicher Assistent für Politische Wissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen u. a.: Der Abbau einer verkehrten Welt. Satire und politische Realität im Werk von Karl Kraus, München 1969. Peter /. Opitz, geb. 1937, studierte Politische Wissenschaft, Sinologie, Philosophie und Soziologie in Freiburg und München; 1966 Promotion zum Dr. phil.; 1966/67 Research Fellow an der University of Califomia, Berkeley; 1971 Habilitation, Universitätsdozent am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Lao-tzu. Die Ordnungsspekulationen im Tao-te-ching, München 1967; Chinesisches Altertum und konfuzianische Klassik (Hrsg.), München 1968; Vom Konfuzianismus zum Kommunismus (Hrsg.), München 1969; Programme und Profile der Dritten Welt (Hrsg.), München 1970; Maoismus (Hrsg.), Stuttgart 1972; Chinas große Wandlung (Hrsg.), München 1972; Die Söhne des Drachen (Hrsg.), München 1974. Klaus Vondung, geb. 1941, studierte Germanistik, Geschichte, Politische Wissenschaft und Philosophie in Tübingen und Miinchen; 1969 Promotion zum Dr. phil.; 1969-1971 Lehrbeauftragter für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität München; 1972-1973 Forschungstätigkeit an der Stanford University, California; seit 1974 Lehrtätigkeit an der Gesamthochschule Siegen. Veröffentlichungen u. a.: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971; Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, München 1973. 208

Klaus Vondung • Magie und Manipulation Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 1971. 256 Seiten, Paperbadt Einen zwar bekannten, aber noch kaum gezielt untersuchten Teilaspekt nationalsozialistischer Propaganda behandelt Klaus Vondung in seiner Studie über den »ideologischen Kult« des Nationalsozialismus , .. Inhalt und Form des nationalsozialistischen Kultes werden auf breiter Quellenbasis umfassend dargestellt. Vondung legt die Vorbilder der nationalsozialistischen Kultfeiern frei, verfolgt die Entwidtlung und Differenzierung der verschiedenen Feiertypen und untersucht die Techniken der Konsekrierung der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die Studie macht eindrudtsvoll deutlich, daß sich die nationalsozialistischen Kultfeiern am Ritual der christlichen Kirchen orientierten. Doch gerade in dieser verbal (zumindest von Hitler selbst) nicht gewollten, doch in der Praxis unvermeidbaren Konkurrenz zu den Kirchen lag auch die statistisch erfaßbare geringe Resonanz der spezifisch nationalsozialistischen Feiern in der nicht der NSDAP angehörenden Bevölkerung begründet. Neue politische Literatur

Henry Ashby Turner jr. Fasd:iismusund Kapitalismusin Deutsd:iland Studien zum Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaft. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gabriele Neitzert. 1972. 185 Seiten, Paperbadt (Sammlung Vandenhoedt) ... Turner will darlegen, daß die bisherige Literatur über das Verhältnis von Wirtschaft und Nationalsozialismus •erstaunlich lüdtenhaft, fehlerhaft und irreführend« ist; daß die Wirklichkeit des Nationalsozialismus durch einen allgemeinen Faschismusbegriff nicht abgededtt wird; daß die Theorien, die im Faschismus eine notwendige Folge des Kapitalismus sehen, historisch durchweg unzureichend fundiert sind. Dieser Versuch ist Turner glänzend gelungen. Dank einer Quellenkenntnis, die einstweilen kein westdeutscher oder ostdeutscher Historiker übertreffen dürfte, vermag er eine Reihe scheinbar gesicherter • Tatsachen« als Legenden zu enthüllen, Die Beziehungen zur Großindustrie und NSDAP vor 1933 sind bisher von niemandem so gründlich durchforscht worden wie von Turner . . . Die Zeit

Harald Sd:ioltz· NationalsozialistischeAuslesesd:iulen Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, 1973. 427 Seiten, Paperbadt Bei den Kontroversen über den Charakter des Nationalsozialismus könnte das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung jene Interpretation am empirisch gewonnenen Material bestätigen, die die Lebensfähigkeit des Regimes anzweifelt. Auch im Bereich der Jugenderziehung und Schule ist die eigenartige Ambivalenz zu beobachten, wie die auf fortschreitende Machtsteigerung gerichtete Instrumentalisierung aller Lebensbereiche in ihrem Vollzug und Erfolg zugleich die Zerstörung aller Ordnungen, aller auf rationale und effektive Weise dem Lebensvollzug dienenden Einrichtungen, ja schließlich der eigenen gesellsdtaftlich-ökonomischen Grundlagen der Macht bewirkte, Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands

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UND ZÜRICH

Das Tagebuchder Baronin Spitzemberg Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreid1es. Ausgewählt und herausgegeben von Rudolf Vierhaus. 4. Auflage 1976. 612 Seiten, Leinen. (Deutsdie Gescliichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 43)

Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914 Ein historischesLesebuch Herausgegeben und eingeleitet von Gerhard A. Ritter. 2. Auflage 1975. 387 Seiten, kartoniert. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1414)

Hans-Ulrich Wehler · Das Deutsche Kaiserreich1871-1918 (Deutsche Gesdiidite, Band 9). 2., durchges. und bibliograph. ergänzte Auflage 1975. 275 Seiten, kartoniert. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1380)

Hans-Ulrich Wehler Krisenherdedes Kaiserreichs 1871 bis 1918 Studien zur deutsdien Sozial- und Verfassungsgescliiclite. 1970. 437 Seiten, Paperback

Liberalismusund imperialistischerStaat Der Imperialismus als Problem liberaler Parteien in Deutscliland 1890-1914. Mit Beiträgen von Lothar Albenin, Lothar Gall, Imanuel Geiss, Karl Holl, Günther List, Peter Menkc-Glückert, Wolfgang J. Mommsen, Peter-Christian Witt, Hans-Günter Zmarzlik. Herausgegeben von Karl Holl und Günther List. 1975. 176 Seiten, kartoniert. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1415)

Jürgen Kocka • Klassengesellschaftim Krieg Deutsche Sozialgescliiclite 1914-1918. Studien zur Gescliiditswissenscliall: 8)

1973. X, 230 Seiten, Paperback. (Kritisclie

Kurt Riezler · Tagebücher,Aufsätze, Dokumente Eingeleitet und herausgegeben von Karl-Dietricli Erdmann. 1972. 766 Seiten, Leinen. (Deutsclie Gescliichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 48)

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