Das Werden der Kirche: Eine Geschichte der Kirche auf deutschem Boden [Reprint 2020 ed.] 9783112332825, 9783112332818

De Gruyter Book Archive (1933-1945) This title from the De Gruyter Book Archive has been digitized in order to make it

145 88 42MB

German Pages 549 [556] Year 1941

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das Werden der Kirche: Eine Geschichte der Kirche auf deutschem Boden [Reprint 2020 ed.]
 9783112332825, 9783112332818

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
Die apostolische Zeit
Die alte Kirche
Die Begründung des Christentums in der germanischen Welt
Deutschland und die Kirche im Mittelalter
Reformation und Gegenreformation
Das Zeitalter der Aufklärung
Die Neuzeit
Aus dem Schrifttum
Namen- und Sachregister

Citation preview

H. Schuster

Das Werden der Kirche

DAS WERDEN DER KIRCHE EineGeschichte derKirche auf deutschem Boden

Bon

HERMANN SCHUSTER Mit Beiträgen von

HANSFRH. VON CAMPENHAUSEN UND HERMANN DÖRRIES

VERLAG ALFRED TÖPELMANN, BERLIN 19 4 1

Printed in Germany Druck von Walter de Gruyter L Co., Berlin W 35

Dem Andenken der Freunde:

Wilhelm Bousset Wilhelm Heitmüller

Friedrich Landwehr

Vorwort Diese Kirchengeschichte will keine bloße Herzählung von Namen und Daten eMhalten — sie will das Wesentliche bringen. Sie möchte die großen Linien sichtbar machen/ die durch die ganze Kirchengeschichte bis zum heutigen Tage führen; sie möchte die bleibenden Probleme aufweisen, die auch uns noch be­ lasten, aber auch die unvergänglichen Kräfte, die bis heute voll lebendig sind. Sie verzichtet bewußt auf Vollständigkeit der Tatsachen und nennt mög­ lichst keinen Namen, der nicht irgendwie anschaulich gemacht wird. Sie be­ schränkt sich deshalb auf das Bedeutsame und Typische, schildert die entschei­ denden Persönlichkeiten und die maßgeblichen Epochen verhältnismäßig aus­ führlich, während alles Nebensächliche ausgeschieden und minder Wichtiges kurz abgemacht wird. DaS Buch möchte seine Leser nicht etwa mehr oder minder geistreich unter­ hallen, sondern sie zu einer ernsthaften Deutung des Sinnes der Kirchen­ geschichte anleiten. Deshalb steht hinter dem Ganzen als der Maßstab, an dem alles gemessen wird, bas Evangelium von Jesus Christus, wie es durch Martin Luther neu geschaut und verkündigt ist. Luther ist für mich von so entscheibungSvoller Bedeutung für die Geschichte der christlichen Kirche, baß er ganz von selbst in chren Mittelpunkt rückte. Er wird bei weüem am ausführ­ lichsten gewürdigt, alles Vorhergehende zielt auf ihn hin, und alles Folgende ist von ihm abhängig oder muß sich mit ihm auseinandersetzen. —Die einge­ streuten Quellenstücke wollen nicht nur der Veranschaulichung bienen, sondern auch die Bildung eines eigenen Urteils erleichtern. Die Darstellung beschränkt sich nicht auf den eigentlich theologischen und kirchlichen Stoss, sondern zieht mit Bewußtsein auch die Grenzgebiete heran, um hier den Auswirkungen von Christentum und Kirche nachzugehen; deshalb nicht nur die Abschnitte über die bildende Kunst, sondern auch über Musik, Dichtung und Philosophie. Dichtung und Philosophie deS deutschen Idealismus sind verhältnismäßig ausführlich behandelt, weil „Christentum und Idealismus" ein Problem von höchster Gegenwartsbedeutung enthält und nur eine etwas eingehende Schilderung ein gerechtes Urteil ermöglicht. Der Blick der Leser wird aber immer wieder von der Peripherie auf das Zentrum geführt, und das Buch trägt so mit gutem Grund seinen Tüel: „Das Werden der Kirche." Eine Geschichte des Christentums zu schreiben, geht, wenn man die Aufgabe ernst nimmt, über menschliches Vermögen hinaus; eine Geschichte der Kirche ist eine mögliche

VIII

Vorwort

und sinnvolle Aufgabe. Dabei wird die sichtbare Kirche keineswegs mit der Una Sancta deS Glaubens verwechselt; von den Sünden der Kirche in ihrer Geschichte ist auf diesen Blättern genügend die Rebe. Aber sie ist daS von Gott gewollte Werkzeug im Dienst der Una Sancta; ohne die geordnete Tätigkeit einer verfaßten Kirche kommt der Geist Jesu Christi nicht zu ge­ schichtlicher Gestalt und Wirksamkeit. Diese Kirche ist freilich immer im Werden; das liegt im Wesen der Sache. Alles Lebendige ist im Werben, und nur eine lebendige Kirche kann ihren Beruf erfüllen — wenn anders sie nicht vergißt, daß sie im Dienst deS Ewigen und feiner Botschaft steht. (Ps. 102, 27f.; Hebr. 13, 8.) Die Rücksicht auf den Raum und auf den Preis deS BucheS hat mich ge­ nötigt, mich je länger je mehr, vorzüglich für die letzten hundert Jahre, auf die deutsche Kirche zu beschränken. Ich hätte gern kirchliches Leben und Theologie in England und Amerika, in Frankreich, Holland und Skandinavien geschildert; hätte gern auch die Kirche deS Ostens bis in die Gegenwart begleitet, hat sie doch gerade in unsern Tagen den Beweis ihrer verborgenen Lebenskraft von neuem erbracht. Doch wird die Beschränkung auf die deutsche Kirche wohl dadurch gerechtfertigt, daß in ihr heute wieder die Probleme von Christentum und Kirche am eindringlichsten inS Bewußtsein treten und hier anscheinend wieder stellvertretend um die letzte Entscheidung gerungen wird. Diese Kirchengeschichte will nicht in Wettbewerb treten mit ausführ­ lichen gelehrten Darstellungen, wie den Meisterwerken von Karl Müller oder Albert Hauck, auch nicht mit dem Handbuch der Kirchengeschichte von Gustav Krüger. Sie verfolgt keine fachgelehrten Zwecke, so gewiß sie in der Darbietung der Tatsachen verläßlich sein will. AlS Leser denken die Verfasser sich vor allem ReligionSlehrcr und Pfarrer, die den Wunsch haben, in einer nicht gar zu umfangreichen Darstellung eine klare und anschauliche Übersicht über die Geschichte der Kirche zu bekommen, um die Probleme und Aufgaben der Gegenwart im Spiegel der Geschichte kennenzulernen. Ferner dürfte daS Buch geeignet sein, dem Theologiestudenten als erste Einführung und als Grundlage für weitergehendes Studium zu dienen. Schließlich rechnet es auch auf einen weiteren Kreis gebildeter Leser, die, voll innerer Teilnahme für die heutigen Nöte und Aufgaben der Kirche, nach einer geschichtlichen Grundlegung zum Verständnis der Kirche suchen. Im Blick auf diese Leser sind alle Quellenstücke in deutscher Übersetzung geboten, fremdsprachliche Zitate oder ungeläufige fachwissenschaftliche Ausdrücke verdeutscht ober er­ läutert. Auch die Literaturauswahl am Ende des Buches will den Bedürf­ nissen dieser Leserkreise dienen. Dies Vorwort habe ich zu beschließen mit einem herzlichen Dank an meine Helfer und Mitarbeiter. Dieser Dank gebührt vor allem den beiden Männern, deren Namen als Mitverfasser auf dem Titelblatt stehen, Hans Frh. v. Campenhausen und Hermann DörrieS. Jener hat die Geschichte der

Vorwort

IX

alten Kirche (§ 5—17) sowie die beiden Abschnitte über die kirchliche Kunst des Mittelalters (§ 40 und 46) beigesteuert, dieser die Darstellung der Ger­ manenreligion, der Germanenbekehrung und der christlichen Kirche int frühen Mittelalter (§ 18—32). Zu danken habe ich weiter Herrn Dr Gerhard Bergmann. Er hat, damals Professor an der Hochschule für Lehrerinnenbildung in Hannover, mit uns drei anderen in wiederholten Besprechungen das Programm des Buches festgelegt, für das er die Bearbeitung der neuesten Zeit (nach Schleiermacher) übernommen hatte. Diese Arbeit zu beenden, wurde er durch seinen Weggang von Hannover verhindert. Er hat mir deshalb sein Manuskript zur Ergänzung und Überarbeitung anvertraut, so daß ich für die jetzige Gestalt allein die Verantwortung trage. Die beiden Abschnitte über die Kunst int Zeitalter der Reformation und in der Zeit des Barock (§ 68 und 74) stammen von meinem Freunde Dr. Ernst Lippelt in Jena. Ihm habe ich auch zu danken für die Ausarbeitung des Registers und für seine wertvolle Hilfe bei der Korrektur des ganzen Werkes. Endlich möchte ich nicht unterlassen, dem Verlag, der unsere Arbeit unter seine Hut genommen und unter sehr erschwerten Verhältnissen mit freundlichem Entgegenkommen betreut hat, unsern aufrichtigen Dank zu sagen.

Hannover-Kleefeld, im November 1940

Hermann Schuster

Inhaltsübersicht Vorwort

VII

Die apostolische Zeit $ 1. Die Urgemeinbe...................................................................................... 1. Auferstehung und Pfingsten S. 1 —2. Stephanus und die Helleni­ sten S. 2 — 3. Ausbreitung und Mission S. 3 — 4. Verengung und Ende S. 3 — 5. Die Bedeutung der Urgemeinbe S. 4

1

$ 2. Di« Religionen im Römischen Imperium........................................... 1. Die griechischen Götter S. 5 — 2. Zersetzung und künstliche Er­ neuerung S. 6—3. Die stoische Philosophie S. 7 — 4. Die Mysterien­ kulte S.9 — 5. Synkretismus und Gnosis S.10 — 6. Der Kaiser­ kult S. 11

5

$ 3. Die Weltmission des Paulus................................................................. 1. Die Bekehrung und die Befreiung vom Gesetz S. 12 — 2. Das LebenSwerk der Weltmission S. 14

12

$ 4. Die paulinischen Gemeinden und ihr Christentum.............................. 1. Umfang und Organisation S. 17 — 2. Gottesdienst S. 18 — 3. Die Kirche als der Leib Christi S. 20 — 4. Heilsglaub« und Gericht S. 22 — 5. Der Geist Jesu als Lebenskraft der Gemeinde S.23

17

Die alte Kirche

l. Die Entstehung der altkatholischen Kirche.................................. § 5. Die Ausbreitung und die innere Entwicklung der Kirche im römi­ schen Weltreich (etwa 70—140)............................................... 1. Ausbreitung S. 25 — 2. Kultus S. 26 — 3. Erziehungsarbeit S.26

25 25

§ 6. Die Gefahr einer fälschenden Umdeutung des Christentums: Die Gnosis und Mwckion..................................................................... 1. Die Gnosis S. 27 — 2. Markion S. 29

27

§7. Die Gefahr einer fälschenden Reaktion in der Kirche: Der MontanismuS.......................................................................................... 1. Die neue Prophetie S. 31 — 2. Die Abwehr S. 32

31

$ 8. Die Anfänge der katholischen Theologie und Kirche...................... 1. Die Überlieferung und die ersten Theologen S. 33 — 2. Der Aufbau der Kirche S. 35 — 3. Das kirchliche Leben S. 37

33

Inhaltsübersicht II. Der Kampf der Kirche mit dem römischen Staat unb der heidnischen Gesellschaft........................................................

$ 9. Ursachen und Anfänge der Christenverfolgung..............................

XI

38 38

L Die Religion des Reiches S. 38 — 2. Die Stellung der Christen -um Staat S. 39 — 3. Die ersten Verfolgungen S. 40

$ 10. Die geistige Auseinandersetzung -wischen Christen und Heiden und die Entstehung einer christlichen Bildung..................................

42

1. Die Apologeten S. 42 — 2. Kelsos und Origenes S. 43 — 3. Neuplatoniker und Manichäer S. 44

$ 11. Die großen Verfolgungen und der Sieg der Kirche.........................

46

1. Die planmäßigen Christenverfolgungen S. 46 — 2. Der Sieg unter Konstantin S. 48

HL Die Reichskirche und das byzantinische Christentum ....

49

$12. Die Begründung der katholischen Staatskirche im 4. Jahrhundert

49

1. Konstantins Söhne S. 49 — 2. Reaktion unter Julian S. 50 — 3. Der trinitarische Streit S. 51 — 4. Die orthodoxe Kirche (Am­ brosius und Chrysostomos) S. 53 $ 13. Die Frömmigkeit der griechischen Kirche...........................................

55

1. Der christologische Streit. DaS praktische Christentum S. 55 — 2. Kultus und Kunst S. 57 — 3. Das sittliche Leben unb das Mönchtum S. 58 $ 14. Die Entstehung des Islam und der Zusammenbruch der östlichen Reichskirche .................................................................................

60

1. Mohammed S. 60 — 2. Der Islam S.61 — 3. DaS Gericht über die Ostkirche S. 63

IV. Die Ausbildung des römischen Katholizismus in der abend­ ländischen Welt .

$ 15. Augustin..............................................................................................

64

64

1. Sein Leben S. 64 — 2. Lehre von der Gnade S. 65 — 3. Lehre von der Kirche S. 66

§ 16. Die Entwicklung der Hierarchie und des Papsttums.....................

67

1. Die Anfänge beS Papsttums S. 67 — 2. Die römische Kirche unb Papst Gregor S. 68 $ 17. Der Ertrag der altkirchlichen Entwicklung .

69

Die Begründung des Christentums

in der germanischen Welt I. Die germanische Religion $ 18. Der bodenständige Glaube

71 71

XII

Inhaltsübersicht

1. 4. 6. 8.

Steinzeit S. 71 — 2. Bronzezeit S. 72 — 3. Eisenzeit S. 73 — Die hohen Götter S. 74 — 5. Götter und Dämonen S. 76 — Tempel und Bilder S. 77 — 7. Opfer und Feste S. 78.— Religion als Dolkssache S. 81 — 9. Orakel und Zauber S. 82

§ 19. Beginnende Auflösung................................................................... 1. Lokale- und Familiengottheiten S. 83 — 2. Beginnende Zweifel 5. 84 — 3. Schicksalsglaube S. 85 — 4. Blutrache S. 87 — 5. Endvorstellungen S. 88

83

§ 20. Wesen, Echtheit und Grenze der germanischen Religion .... 1. Furcht und Ehrfurcht S. 89 — 2. Grenze und Versagen S. 90 — 3. Weiterleben in christlicher Zeit S. 91

89

11. Die Germanenbekehrung .

92

§ 21. Die arianischen Germanen................................................................ 92 1. Gewinnung der Westgoten S. 92 — 2. Die arianischen Volks­ kirchen S. 94 — 3. Die Eigenart des germanischen Arianismus S. 96 111.

Die katholischen Germanenkirchen

§ 22. Die Burgunder und die Franken................................................... 1. Die Burgunder S. 98 — 2. Chlodwig und die Franken S. 98 — 3. Die fränkische Kirche S. 100

98 98

§ 23. Die Angelsachsen................................................................... 1. Ihre Bekehrung S. 101 — 2. Ihr Kirchenwesen S. 102

101

§ 24. Die mittel- und süddeutschen Stämme............................

103

§ 25. Die angelsächsische Mission und das Werk des Bonifatius . . . 104 1. Bonifatius als Missionar S. 104 — 2. Seine Kirchenreform S.105 § 26. Die Friesen und die Sachsen............................................................ 107 1. Die Friesenmission und die Sachsen S. 107 — 2. Die Sachsen­ kriege Karls b. Gr. S. 108 — 3. Die sächsische Kirche S. 109 § 27. DaS christliche Imperium Karls des Großen..................................... 111 1. Die Ausdehnung der Reichskirche S. 111 — 2. Karls Kirchen­ regiment S. 112 — 3. Würdigung und Ausblick S. 114 — 4. Zer­ fall S. 115 §28. Der Heliand................................ 115 § 29. Gottschalk, der erste sächsische Theologe — Über die göttliche Vor­ herbestimmung — Religiöse Lieber............................ 118

§ 30. Die Begründung der deutschen ReichSkirche durch die Ottonen . . 1. Der König und die deutsche Kirche S. 121 — 2. Kaiser und Papst S. 122 — 3. Mission im Osten, die ottonische Kirche S. 123

121

§31. Die Bekehrung der Norbgermanen.....................................................124 1. Die Dänen S. 124 — 2. Norwegen S. 125 — 3. Island S. 129 — 4. Schweden S. 131 § 32. Das Ergebnis der Germanenbekehrung 132

XIII

Inhaltsübersicht

Deutschland und die Kirche im Mittelalter I. Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche . .

134

§33. Die kirchliche Reform.........................................................................134

1. Eigenkirche S. 134 — 2. Mißbrauch S. 135 — 3. Das neue Mönchtum (die kluniazensische Reform) S. 136 — 4. Das neue Kirchenrecht (Pseudoisidor) S. 137 — 5. Deutsche Könige im Dienst der Reform (Heinrich III.) S. 138

§ 34. Der Kampf um die Herrschaft............................

139

1. Umbildung des Papsttums S. 139 — 2. Gregor und Heinrich S. 141 — 3. Das Wormser Konkordat S. 143 — 4. Der Sieg des Papsttums S. 144 — 5. Die Papstidee S. 145 — 6. Die Kirchen­ trennung S. 147 $35. Die Kreuzzüge . .

...

....................................148

1. Die Verschriftlichung des Kriegsdienstes S. 148 — 2. Militia Christi oder Militia Sancti Petri? S. 149 — 3. Die Kreuzzugs­ bewegung S. 150 — 4. Ergebnis und Gesamturteil S. 152

$ 36. Die neuen Orden................................................................................ 153

1. Der heilige Bernhard S. 153 — 2. Zisterzienser und Prämonstratenser S. 155 — 3. Die Christianisierung der Wenden S. 156 — 4. Die Ritterorden S. 157 — 5. Das christliche Rittertum S. 158 II. Die urschriftliche Reform

160

$ 37. Der Angriff der Armut........................................................................ 160 1. Arnold von Brescia und Petrus Baldes S. 160 — 2. Die Katharer S. 161 $38. Die Bettelorden........................... 1. Franz von Assisi S. 162 — 2. Die Franziskaner S. 164 — 3. Die Dominikaner S. 166 — 4. Halbmönchische Bruderschaften S. 167

162

$39. Die kirchliche Wissenschaft (Scholastik)............................................ 167 1. Franziskus und Aristoteles S. 167 — 2. Wesen und Entwicklung der Scholastik S. 168 — 3. Die Sakramente S. 170 — 4. Die Scho­ lastik in Deutschland S. 172 $40. Die Kunst des Mittelalters.......................................................

172

1. Die Frühzeit S. 172 — 2. Kunst unter Karl d. Gr. S. 172 — 3. Die Basilika S. 173 — 4. Das Kruzifix S. 173 — 5. Otto­ nische Basiliken S. 174 — 6. Cluniazenserbauten S. 175 — 7. Hochromanik S. 176 — 8. Gotik S. 177 — 9. Die Plastik 5. 178 HL Das Suchen nach neuen Wegen

179

$41. Die Krise des kirchlichen Systems.................................................... 179 1. Bonifaz VIII. S. 179 — 2. Exil in Avignon, Kirchenspaltung S.180

XIV

Inhaltsübersicht

$42. Die parlamentarisch« Reform..................................................................181 Dir Konzilien von Konstanz und Basel $43. Gesetzlich-prophetische Reformen............................................................. 182 1. Wiclif S. 182 — 2. Hus S. 183 — 3. Savonarola S. 184

$44. Die deutsche Mystck...................................................................................185

1. Mechthild von Magdeburg S. 185 — 2. Meister Eckehart S. 186 —3. Würdigung und Nachwirkung S. 189—4. Johann Tauler— Theologia deutsch S. 192 — 5. Thomas von Kempen und di« Brüder vom gemeinsamen Leben S. 194 — 6. Bedeutung der Spätmnstik S. 195 $ 45. Reform durch Wissenschaft (Humanismus)........................................ 196

l.Dte Renaissance S. 196 — 2. Der deutsche Humanismus S. 197 — 3. Reuchlin S. 197 — 4. EraSmuS S. 198 — 5. DaS Versagen der humanistischen Reform S. 199

$ 46. Die Kunst des SpätmittelalterS............................................................. 200 1. Hallenkirchen, Backsteinbauten S. 200 — 2. Malerei und Plastik S. 201 $ 47. Am Vorabend der Reformation..................................................................202 1. Spannungen und Gegensätze S. 202 — 2. Die Verwestlichung der Kirche S. 202 — 3. DaS religiöse Suchen der Jett S. 204 — 4. Dom Mittelalter zur Reformation S. 207

Reformation und Gegenreformation I

Die deutsche Reformation: Martin Luther........................................208 $ 48. Der Gang seines Lebens bis zum Thesenanschlag............................... 208 1. Ahnen und Eltern. S. 208 — 2. Schule und Universität S.208 — 3. Sm Kloster S. 209 §49. Die 95 Thesen............................................................................................... 210 1. Der Ablaßhandel S. 210 — 2. Der Thesenanschlag S. 211 — 3. Die Bedeutung der Thesen S. 212

§ 50. Luthers Kampf um den gnädigen Gott.....................................................213 1. Sn der Hölle der Verzweiflung S. 213 — 2. Erlöst durch ein PauluSwort S. 213 — 3. Theologie des Kreuzes S. 215 — 4. HeilSgewiHheit S. 217 — 5. WirklichkeitSsinn und WahrheitSmut S.218 §51. Von den Thesen bis zur Bannbulle.....................................................219 1. Der Streit um die Thesen S. 219 — 2. Die Leipziger Dispu­

tation S. 219 — 3. Die Bannbulle S. 220

§ 52. Luthers Lehre von der Kirche......................................................................221 1. Der Gewinn der Leipziger Disputation S. 221 — 2. Die Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen S. 222 — 3. Äußere Kennzeichen

der Kirche S. 222

Jnhaltsüberskht

LV

$53. Wort Gottes und Sakrament................................................................. 223 1. Das Wort Gottes S. 223 — 2. Das Wesen der Sakrament« S. 224 — 3. Laufe und Abendmahl S. 224 — 4. Kett« an der katholischen Lehre S. 226

$ 54. Glaube und Werke...................................................................................... 227 1. Glaube und Rechtfertigung S. 227 — 2. DaS Wesen deS Glau­ bens S. 228 — 3. Die Auswirkung des Glaubens S. 229 — 4. Die christliche Lebenshaltung S. 229 — 5. Erfüllung der Idee vom Übermenschen S. 230 §55. Das Bekenntnis von Worms................................................................. 231 1. Die Verhandlungen S. 231—2. Das Ergebnis S. 233

Z 56. Auf der Wartburg: Gottes Wort und die Schwärmer...........................234 1. Luther auf der Wartburg S. 234 — 2. Bibelübersetzung S. 234 — 3. Der Sinn der Bibel S. 236 — 4. Wort Gottes und heüige Schrift S. 237 — 5. Die Wittenberger Unruhen S. 238 — 6. Gesetz und Evangelium S. 239 — 7. Luther und baS Alte TestameM S.241 § 57. Reformation oder Revolution................................................................. 244 1. Schwärmer und Täufer S. 244—2. Der Bauernkrieg S. 244 — 3. Luthers Stellung zum Staat S. 245 — 4. Gegensatz zur römischkatholischen Auffassung S. 247 § 58. Zwingli............................................................................................................247 1. Werdegang S. 248 — 2. Grunbzüge seiner Lehre S. 248 — 3. Die praktische kirchliche Wirksamkeit S. 249

§ 59. Reformation und Humanismus............................................................. 250 1. Luther und die Humanisten S. 250 — 2. Philipp Melanchthon S. 251 — 3. Die Auseinandersetzung mit ErasmuS S. 252 — 4. Das Geheimnis der Prädestination S. 254 § 60. Kirchenlied und Gottesdienst......................................................................255 1. Kirchenlied im Mittelalter S. 255 — 2. Luthers Liederdichtung 5. 256 — 3. Luther als Dichter S. 258 — 4. Die Kirchenvisitation S. 260 — 5. Regelung des Gottesdienstes, die Katechismen S. 260 — 6. Schulwesen S. 261 § 61. Kirchenregierung und Staatsgewalt........................................................ 262 1. Die Kirchenregierung S. 262—2. Staatsgewalt und Gewissens­ freiheit S. 263

§ 62. Das Augsburger B^enntniS..................................................................... 264 1. Äußere Ausbreitung der Reformation S. 264 — 2. Der Protest von Speyer S. 264—3. Das Marburger ReligtonSgespräch S. 265 — 4. Der Augsburger Reichstag S. 265 — 5. Das Augsburger Bekenntnis S. 266 — 6. Luther auf der Koburg S. 267

§63. Lmher und Wittenberg..............................................................................268 1. Ehe und Häuslichkeit S. 268 — 2. Die letzten Lebensjahre S. 269 — 3. Die Lutherstadt Wittenberg S. 270

Inhaltsübersicht

XVI

§ 64. Der Mann und sein Werk

271

1. Luther, der ewige Deutsche S. 271 — 2. Sein Werk und dessen Zukunft S. 273 — 3. Katholische Reste S. 275

§ 65. Vom Reichstag zum Religionsfrieden.................................................276 1. Fortschritt und Verhandlungen S. 276 — 2. Der Schmalkaldische Krieg S. 277 — 3. Der Augsburger ReligionSfriede S. 278 II. Die außerdeutsche Reformation

§66. Calvin

278

....................................................................................278

1. Sein Werden S. 278 — 2. Erste Wirksamkeit S. 279 — 3. Grund­ züge seiner Lehre S. 280 — 4. Begründung der Theokratie in Genf S. 281 — 5. Seine Weltwirkung S. 282 Texte aus Calvin (Quellenstücke): Nicht äußerer Betrieb, sondern ehrliche Buße — Unbedingte Ergebung — Die Verworfenen

§ 67. Ausbreitung der Reformation in Europa.............................................285 Die Schweiz / Frankreich / Die Niederlande / England / Schottland / Skandinavien / Die östlichen Länder / Italien und Spanien §68. Die Kunst im Zeitalter der Reformation......................................... 287

1. Neue Bahnen S. 287 — 2. Die italien. Renaissance S. 290 — 3. Holbein S. 241 — 4. Dürer S. 291 — 5. Protest. Kixchen S. 293 III. Im Zeichen der Gegenreformation §69. Der Jesuitenorden

294

294

1. Ignatius S. 294 — 2. Der Jesuitenorden (Verfassung und Eigenart) S. 294 — 3. Ausbreitung und Tätigkeit S. 296 — 4. Die Jesuitenmoral S. 296 § 70. DaS Konzil von Trient

298

1. Der äußere Verlauf S. 298 — 2. Die dogmatischen Beschlüsse S. 298 — 3. Kirchenreform und Gesamtergebnis S. 299 — Texte: Die wichtigsten dogmatischen Beschlüsse S. 300

§71. Die Gegenreformation.........................................................................301

1. Die erneuerte katholische Kirche S. 301 — 2. DaS Luthertum in Deutschland S. 302 — 3. Die Gegenreformation in Deutschland S.3O2 — 4. Der Westfälische Friede S. 303 — 5. Die Religions­ kämpfe außerhalb Deusschlands S. 303 §72. Zwischen den Konfessionen................................................................. 304 1. Protestantisch und katholisch S. 304 — 2. Lutherisch und calvinisch S. 308 § 73. Vom inneren Leben der lutherischen Kirche......................................... 309

1. Die Orthodoxie S. 309 — 2. DaS Kirchenlied — Paul Gerhardt S. 311 — 3. Die Kirchenmusik — I. S. Bach S. 312

xvn

Inhaltsübersicht

$74. Die kirchliche Kunst im Zeitalter des Barock..................................... 313 1. Charakter des Barock S. 313 — 2. Die Barockkirche. Plastik und Malerei. P. P. Rubens S. 314 — 3. Protestantischer Barock S. 317 — 4. Rembrandt S. 318

Das Zeitalter der Aufklärung

Auflockerung und drohende Auflösung der Kirche

$ 75. Der Umbruch in England..................................................................... 319 1. Anglikaner u. Puritaner S. 320 — 2. Cromwell S. 321 — 3. Die glorreiche Revolution S. 322 — 4. Die Quäker S. 323 1. Neue Bewegung in der deutschen evangelischen Kirche (Der Pietismus) .

§ 76. Die Vorbereitung

...

324 324

....

1. Mystik im Luthertum (Seb. Frank) S. 324 — 2. Johann Arndt 5. 324 — 3. Jakob Böhme S. 325 — 4. Holländische und eng­ lische Einflüsse S. 326 — 5. Katholische Mystik S. 327 — 6. Jansenismus (Pascal) S. 328

$ 77. Die Väter des Pietismus . . -

329

1. Philipp Jakob Spener S. 329 — 2. August Hermann Francke S.33O

$ 78. Iinzenborf und die Brübergemeine................................ 1. Iinzendorf S. 332 — 2. Die Brübergemeine S. 333

332

$ 79. Der Ertrag der Bewegung..................................................................334 1. Fruchtbare Anregungen S. 334 — 2. Bedenkliche Erscheinungen S. 335 — 3. Wirkung in die Welt S. 335 §80. Die Erweckung unter dm Angelsachsen: Der Methodismus - 1. Der Ursprung der Bewegung S. 336 — 2. Wesen und Leistung S.337

II. Die Aufklärung..................................................................................... §81. Der Umschwung des geistigen Lebens

336

338

.................... 338

1. Die neue Naturwissenschaft S. 339 — 2. Die neue Philosophie (DeScarteS, Spinoza) S. 339 — 3. Der englische Empirismus S. 341 — 4. Der neue StaatSbegriff S. 341 — 5. Das allge­ meine LebenSgefühl S. 342

§ 82. Die westeuropäische Aufklärung in Theologie und Kirche .... 1. Der englische Deismus S. 342 — 2. Die radikale Aufklärung in Frankreich S. 343

342

§ 83. Die Aufklärung in der beusschen evangelsschm Kirche..................... 345 1. Die führenden Männer S. 345 — 2. Der Rationalismus in Theologie und Kirche S. 347 — 3. Würdigung der Aufklärung (Pestalozzi) S. 348 b

Schaster, tUrchea-eschlcht«

xvm

Inhaltsübersicht

§ 84. Gott und der König.............................................................................351 1. Friedrichs des Großen persönlicher Glaube S. 351 — 2. Fried­ richs Religionö- und Kirchenpolitik S. 352 § 85. Die katholische Kirche unter dem Einfluß der Aufllärung . 1. Die Aufhebung des Jesuitenordens S. 354 — 2. Josephinismus S. 354 — 3. Nationalkirchliche Versuche in Deutschland S. 355 — 4. Die französische Revolution S. 356 — 5. Napoleon Bonaparte 5. 357

III. Idealismus und Romantik .

§ 86. Der Frühidealismus............................ 1. Idealismus und Aufklärung S. 357 — 2. Lessing S. 359 — 3. Hamann und Herder S. 359 § 87. Der Philosoph des Protestantismus (I. Kant)

354

357 357

360

1. Vernunftkritik S. 361 — 2. Der kategorische Imperativ S. 362 — 3. Wissen und Glauben S. 363 — 4. Die moralischen Postulate S. 364 — 5. Religion und Christentum S. 365 § 88. Der Prophet des Idealismus (Schiller) . . .................... 1. Christlicher Gehalt? S. 366 — 2. Verkennung des Christen­ tums S. 367 — 3. Lösung des Widerspruchs S. 369

366

§ 89. Der Weise von Weimar (Goethe)............................................ 1. Wandel der Anschauung in den Epochen seines Lebens S. 370 — 2. Grundzüge seiner Frömmigkeit S. 370 — 3. Bibel und Christus 5. 373 § 90. Romantik und spekulativer Idealismus.................................... 1. Die Romantik (Novalis) S. 374—2. Kants Nachfolger S. 376 — 3.1. G. Fichte S. 376 — 4. Schelling S. 381 — 5. Hegel S. 384 — 6. Bedeutung und Gefahr des spekulativen Idealismus S. 388

370

§ 91. Schleiermacher................................................................................ 1. Lebensgang S. 388 — 2. Das Wesen der Religion S. 390 — 3. Wesen des Christentums S. 392 — 4. Zusammenfassung S. 393 — 5. Würdigung und Ausblick S. 394

388

374

Die Neuzeit Erneuerung der Kirche. Neue Nöte und Aufgaben

1. Die katholische Kirche im 19. Jahrhundert

396

§ 92. Das Erstarken der Papstkirche................................ 1. Im Schatten der Heiligen Allianz S. 397 — 2. Ultramontanismus in Frankreich S. 399 — 3. Gerres und die Anfänge des deut­ schen Ulttamontanismus S. 400 — 4. Der päpstliche Absolutis­ mus auf seiner Höhe (Vatikanum) S. 400

397

$ 93. Der Kampf der Kurie um den preußisch-deutschen Staat . 1. Der Kölner Kirchenstreit (1837/40) S. 402 — 2. Der Kultur­ kampf S. 403

402

Inhaltsübersicht

XIX

§ 94. Die katholische Kirche im Zweiten Reich 1. Der Altkacholizismus S. 405 — 2. Die Niederwerfung des Modernismus S. 405 — 3. Neuer AuSgriff S. 407

404

§ 95. Katholizismus und soziale Frage 1. Die Caritas der Orden und Vereine. S. 407 — 2. Die Anfänge einer katholischen Sozialpolitik S. 408

407

II. Die evangelische Kirche des 19. Jahrhunderts

§96. Neues Leben und neue Fragen 1. Freiheitskriege und evangelischer Glaube S. 411 — 2. Die Erweckung: das Bündnis des Pietismus mit der Orthodoxie S. 413 — 3. „Positiv" und „Liberal" S. 415

§ 97. Die Neuordnung der evangelischen Kirchen Deutschlands im 19. Jahrhundert 1. Die Union 1817 S. 415 — 2. Zwischen StaatSkirche und VolkSkirche S. 416 — 3. Jnnerkirchliche Kärnpfe und Parteiungen S. 417 § 98. Das Christentum im Weltanschauungskampf des 19. Jahrhunderts

410

411

415

418

1. Die geistige Bewegung des Jahrhunderts S. 418 — 2. Angriff der religionS-psychologischen (S. 421) und 3. der geschichtlichen Kritik S. 423 — 4. Angriff des naturwissenschaftlichen Materialis­ mus S.424 — 5. Die GeschichtSschau beS historischen Materialismus S. 426 — 6. Schopenhauers Pessimismus als Gegenspieler des Christentums S. 427 — 7. Nietzsches „Umwertung aller Werte" und sein Kampf gegen das Christentum S. 428 — 8. Die Gegen­ wehr protestantischer Wissenschaft S. 431 § 99. Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert

433

1. Die Rationalisten S. 433 — 2. SchleiermacherS Nachwir­ kung S. 435 — 3. Theologie der Erweckung S. 435 — 4. Kon­ fessionelle, freie, VermittlungStheologie S. 438 — 5. Albrecht Ritschl S. 442 — 6. RitschlS Wirkung — Bibeltheologen S. 444 — 7. Historisch-kritische und religionS-geschichtliche Bibel­ wissenschaft, Kirchengeschichte, systematische Theologie S. 445 5 100. Der deutsche Protestantismus und das künstlerische Schaffen im 19. Jahrhundert l.Die bildende Kunst S. 450 — 2. Die Dichtung S. 452 — 3. Die Musik S. 454

HI. Dienst am Volk aus der Kraft evangelischen Glaubens

§ 101. Die Innere Mission . 1. Wichern und die Begründung der Inneren Mission S. 456 — 2. Der Anteil der Frauen S. 459 — 3. DaS Werk Friedrich von BodelschwinghS und der Ausbau der Inneren Mission S. 460 § 102. Die evangelische Kirche im Ringen um die soziale Frage 1. Stoecker S. 463 — 2. Naumann S. 464

450

456

456

XX

SrchaltSLbersicht $ 103. Soldaten und Staatsmänner................................................................. 466 I.Roon unbMoltke S.466 — 2.Wllhelm I. und Bismarck S. 469

§ 104. Die Arbeit an der Diaspora..................................................................... 473 1. Die Begründung S. 473 — 2. Der heutige Stand S. 474

§ 105. Das Tatchristentum der äußeren Mission............................................476 1. AuS der Geschichte S. 477—2. Die Eigenart der protestantischen Mission S. 477 — 3. Schwierigkeiten, Aufgaben und Erfolge heute S. 478 — 4. Mission und Kultur S. 480 — 5. Die Lage der Kirche vor dem Weltkriege S. 480 IV. Nach dem Weltkriege.

482

§ 106. Zeichen einer GeisteSwenbe......................................................................482 1. Jugendbewegung S. 482 — 2. Revolution der Wissenschaft S.483 § 107. Wege und Abwege religiösen Suchens................................................ 487 1.—4. Religionsersatz S.487 — 5. Völkische Weltanschauung und Religion S. 488 § 108. Christentum und Kirche nach dem Weltkrieg................................... 489 1. Bankrott des Christentums? S. 489 — 2. Neue Festigung der Kirche S. 490 — 3. ökumenische Bewegung S. 491

§ 109. Der römische Katholizismus nach 1918...................... 1. Sn bet Welt S. 493 — 2. Sn Deutschland S. 494

493

§ HO. Die Ostkirche unter dem Kreuz............................................................. 496 1. Terror der Gottlosen S. 496 — 2. Die Kirche im Gewissen S.496 § 111. Der deutsche Protestantismus nach dem Weltkrieg...................... 497 1. Neubau btt protestantischen Kirche S. 497 — 2. Umbruch in der Theologie S. 498 — 3. Neues Leben S. 502 — 4. Deutsch­ evangelisch im Auslande S. 505 — 5. Dienst am Volke S. 505

Aus dem Schrifttum ....

508

Namen- und Sachregister. .

514

Die apostolische Zeit § 1. Die Urgemeinde. 1. Mit dem Tode Jesu am Kreuz aus Golgatha schien die von ihm geweckte Bewegung erstickt zu sein. „Wir aber hofften, er sollte Israel erlösen" klagen wehmütig resigniert die EmmauSjünger (Luk. 24,21). Es geschah aber das Gegenteil von dem, was Freund und Feind erwartet hatten. Die Bewegung war so wenig am Ende, baß sie vielmehr jetzt erst ihren eigentlichen Anfang nahm. Wenn wir nicht von Kindesbeinen daran gewöhnt wären zu wissen, daß von dem Kreuz auf Golgatha die größte geistige Bewegung ausgegangen ist, von der die Weltgeschichte zu berichten hat, so würde uns dieser Umschwung als das Wunder aller Wunder erscheinen. Nur die Gewohnheit hat den Blick für diese Einsicht abgestumpft. Es handelt sich in der Tat um ein schlechthin unbegreifliches Wunder, wenn der von der geistlichen Führung des Volkes Verfluchte, von seinen eigenen Jüngern Verlassene, von dem Vertreter der römischen Weltmacht als gemeiner Verbrecher an den Galgen Gehenkte einen Siegeslauf antritt, mit dem nichts in der Geschichte der Menschheit zu vergleichen ist. Dieses Wunder ist durch die Erscheinungen des Auferstandenen bewirkt. So widerspruchsvoll auch die Berichterstattung über diese Erscheinungen ist, die wir bei Paulus I. Kor. 15 und in den Schlußkapiteln der vier Evangelien finden, die Tassache steht unverrückbar fest. Sie ist freilich nicht ein Vorgang der empirisch-sinnlichen Welt, der durch Zeugenaussagen der Profange­ schichte zu entscheiden wäre und den Gesetzen der exakten Naturwissenschaft unterläge; es handelt sich um Erfahrungen und Zeugnisse des Glaubens, die der übersinnlichen Wirklichkeit angehören, aber die sinnlich sichtbare Welt in Bewegung setzen. Mögen auch vielleicht die grundlegenden Erscheinungen des Auserstandenen in Galiläa stattgesunden haben (wofür die älteste evangelische Überlieferung bei Markus und Matthäus zu sprechen scheint), die christliche Kirche hat ihre Begründung beim Pfingstfest in Jerusalem gefunden, in dem Mittel­ punkt des jüdischen Gemeinwesens, an dem Orte, wo Jesus die letzten ent­ scheidenden Kämpfe durchgefochten hatte und am Kreuz erhöht war. Hier ist das „Wort vom Kreuz" zum ersten Male öffentlich verkündigt worden, um den Gehorsam des Glaubens zu wecken. i

Schuster, Kirchengeschichte

2

Die apostolische Zeit

Diese jerusalemische Urgemeinde hat nach dem übereinstimmenden Zeugnis des Paulus und der Apostelgeschichte sich noch zur jüdischen Re­ ligionsgemeinschaft gehalten. Sie hat das „Gesetz" mit Brauch und Sitte treu beobachtet. Sie hat sich noch nicht als eine neue geschichtliche Schöpfung gewußt, sondern als den prophettschen „Rest", als die Kerngemeinde Israels, von Gott mit der Erkenntnis begnadet, daß ihr Meister als Knecht Gottes (nach Jes. 53) sein Leben zum Opfer gegeben habe und durch die Auferstehung zu Gott erhöht sei, um dereinst als Messias, als königlicher Richter Israels und der Menschheit, wiederzukommen (Apg. 2,36 und 3,20f.). In dieser Hoffnung versammelten sie sich im Tempel oder in ihren Häusern zu gemeinsamen Gottesdiensten und feierten dabei in freudiger Zuversicht und inniger Liebesgemeinschaft daS Abendmahl, anscheinend in dem Be­ wußtsein, mit dieser Feier daS Freudenmahl der messianischen Zeit im voraus zu erleben (Apg. 2,46, vgl. Luk. 22,16). Durch die Taufe auf den Namen Jesu nahmen sie neue Glieder in ihre Gemeinschaft auf (2,38) und unter­ wiesen sie in den mündlich überlieferten Motten Jesu, vor allem aber in der Geschichte seines Lebens, Sterbens und AuferstehenS. AuS diesen Worten sprach zu ihnen der Geist deS Meisters. Er machte sie zu neuen Menschen und gestaltete ihre Gemeinde zu der Werkstätte einer großartigen selbstver­ leugnenden Bruderliebe (2,44). Wenn marxistische GeschichtSbttrachtung von einem Kommunismus im modernen Sinn deS Wortes redet, der in der Urgemeinde geherrscht habe, so ist daS eine falsche Ausdeutung der Überlieferung. Der völlige Verzicht

auf Eigentum war die heroische Leistung Einzelner, wie z. B. deS Barnabas (4,36f.). Freiwilligkeit wurde überall selbstverständlich vorausgesetzt. Die Schuld deS Ehepaares AnaniaS und Saphira liegt nicht in der Zurückhaltung eines Teiles ihres Eigentums, sondern in der frechen Lüge, mit der sie den abgelieferten Teil als Ganzes auSgeben und somit, ohne daS wirkliche Opfer, den Ruhm der Opferfreudigkeit einheimsen wollen (Apg. 5,1—10). Immer­ hin zeigt diese Erzählung, daß der Geist der Bruderliebe im Einzelnen nicht ohne Flecken war. Sie macht unS auch begreiflich, daß die hochgespannten Erwartungen auf daS unmittelbar bevorstehende Ende aller Dinge zu einer Geringschätzung wirtschaftlicher Notwendigkeiten verleiteten und schließlich zur Verarmung der Gemeinde fühtten, war sie doch später auf Unterstützung von auSwättS angewiesen, so daß Paulus in seinen makedonischen und griechischen Gemeinden für sie eine Liebesgabe sammelte (Gal. 2,10; I. Kor. 16,1; 2. Kor. 8,2 ff.). 2. Die Gemeinde der Messiasgläubigen lebte zunächst mit ihren jüdischen Volksgenossen in Frieden; nur in einzelnen Fällen erlitten sie Verfolgung. So wurden PettuS und Johannes wegen deS Aussehens, das die Heilung deS Lahmen erregt hatte, verhafttt und mißhandelt (Apg. 4 u. 5). Eine neue Bewegung kam aber in die Gemeinde durch das Auftreten der Helle-

Di« Urgemetnbe

3

nisten, d. h. der griechisch redenden Juden, die nach langjährigem Aufent­ halt in der Diaspora nach Jerusalem übergesiedelt waren, wo sie sich zu landsmannschaftlichen Synagogenverbänden zusammenschlossen. Nicht we­ nige von ihnen traten der Gemeinde bei. Ihr glaubenseifriger und geistesmächtiger Führer war Stephanus. Er beschränkte sich nicht auf das ihm und seinen Freunden übertragene Amt der Armenpflege, sondern predigte mit großem Freimut in den Diaspora­ gemeinden Jerusalems von dem Namen Jesu Christi. Dabei hat er den Tempelkult wie die jüdischen Reinigungsvorschriften gering geachtet und die Religion deS Alten Testaments als Gehorsam des Glaubens an Gottes gnädige Verheißung gedeutet. Mit beibem stellte er sich in Gegensatz zu der rabbinisch geleiteten jüdischen Religionsgemeinschaft. Er wurde deshalb vor dem Hohen Rat verklagt, verurteilt und gesteinigt. Über seine Freunde

und Gesinnungsgenossen brach eine schwere Verfolgung herein. Sie mußten auS der Stadt weichen und zerstreuten sich über Äudäa und Samaria, wäh­ rend die Apostel und die Urgemeinbe anscheinend unbehelligt blieben (Apg. 6 u. 7). 3. Aber hier zum erstenmal wurde die Wahrheit offenbar, die später ein Kirchenlehrer ausgesprochen hat: DaS Blut der Märtyrer wurde der Same der Kirche. Die zerstreuten Jünger predigten nicht nur im jüdischen Lande und den halbheidnischen Küstenstädten, so daß in Lydda, Joppe und Cäsarea Gemeinden entstanden, sondern auch in Samaria und in Syrien (Damas­ kus!). Sie gewannen nicht nur gelegentlich einzelne Heiden wie den äthio­ pischen Kämmerer, der als „Gottesfürchtiger", d. h. als Gast des Juden­ tums die heiligen Stätten in Jerusalem besucht hatte, sondern sie wandten sich in Antiochia, der reichen und üppigen syrischen Weltstadt, grund­ sätzlich auch an die Heiden und hatten mit ihrer Predigt auffallenden Erfolg: Die Gemeinde der ChriftuSgläubigen trat jetzt von den Juden deutlich ge­ sondert an die Öffentlichkeit. Ihre Glieder wurden deshalb mit dem Kennwort „Christianer" (ursprünglich wohl Spottname) als Christusverehrer von den Juden unterschieden (Apg. 8 u. 11, 19—26).

4. Die gesetzestreuen Urapostel blieben auch fernerhin mit ihren An­ hängern im wesentlichen unangefochten. An der Mission bei Samaritern und Heiden haben sie sich nicht ausübend beteiligt, sie haben aber die Mission der Hellenisten, in Samaria sowohl wie in Antiochia, durch Abgesandte geprüft und bestätigt (Apg. 8,14ff.; 11,22f.). An der Spitze der Gemeinde stehen jetzt PettuS und Jakobus, der Bruder deS Herrn, mit dem Unterschiede (soweit die Quellen erkennen lassen), daß Petrus die Mission auch unter Nichtjuden fördert und öfter auf MissionSreisen abwesend ist, während JakobuS in Jerusalem bleibt und immer mehr die Leitung der Urgemeinde in seine Hände bekommt.

4

Die apostolische Zeit

Durch die Willkür des Königs Herodes Agrippa I., der sich bei den Juden beliebt machen wollte, wurde der Zebedäussohn Jakobus, der Bruder des Johannes, verhaftet und getötet. Auch Petrus wurde gefangen gesetzt, entkam aber dann aus dem Gefängnis (Apg. 12). Er hat, wie es scheint, nach seiner Befteiung Jerusalem verlassen und nur selten wieder aufgesucht. Wir hören aus dem I. Korintherbrief des Paulus, daß er in Begleitung seiner Frau auf Missionsreisen geht (1. Kor. 9,5). In Antiochia hat er wegen des Gesetzes einen Zusammenstoß mit Paulus (Gal. 2 s. u.). Ob er sich später von dem Recht der gesetzesfteien Heidenmission des Paulus überzeugt und ihr angeschlofsen hat, ist leider aus den Quellen nicht mit Sicherheit zu ent­ nehmen. Es darf als wahrscheinlich gelten, daß er in Rom den Märtyrertod gestorben ist. Die Behauptung der Römischen Kirche, Petrus habe die römische Gemeinde gegründet und sei ihr erster Bischof geworden, beruht nicht auf alter Überlieferung und ist durch das Zeugnis sowohl des Römerbriefs wie

der Apostelgeschichte völlig ausgeschlossen, da beide kein Wort auch nur über die Anwesenheit des Petrus in Rom berichten (s. u. S. 17). Der Zebe­ däussohn Johannes wird im Galaterbrief von Paulus noch unter die „Säulen" der Urgemeinbe gerechnet. Die Apostelgeschichte weiß später nichts mehr von ihm zu berichten. Ob er wie sein Bruder Jakobus ftüh den Mär­ tyrertod erlitten (Mk. 10,39), ob er oder ein anderer „Johannes" bis ins hohe Greisenalter in Kleinasien gelebt habe unb Verfasser oder Gewährs­ mann der johanneischen Schriften sei, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Der Führer der Gemeinde, der Herrenbruder Jakobus, ist ein Muster gesetzlicher Frömmigkeit nach dem Herzen der Pharisäer, er hat die Ge­ meinde immer mehr in ein gesetzlich verengtes Judenchristentum hineingleiten lassen: „Bruder, du siehst, wieviel tausend Juden gläubig geworden sind und sind alle Eiferer für das Gesetz", — so wird dem Paulus gesagt, als er, (etwa im Jahre 57) zu seinem letzten Besuch nach Jerusalem kommt (Apg. 21, 20). Dieser Jakobus wurde im Jahre 62 (?) zum Unwillen des phari­ säisch gesinnten Volkes, das ihn den „Gerechten" nannte, von dem sadduzäischen Hohenpriester gesteinigt. Bei Beginn des jüdischen Aufstandes (67) flüchtete die Gemeinde ins Ost­ jordanland. Sie verlor ihre führende Stellung in der Christenheit, weil sie nicht mit Paulus den Schritt zur Gesetzesfreiheit in die Welt hinaus gewagt hatte, und erstarrte zur judenchriftlichen Sekte. In Jerusalem ent­ stand später eine neue heidenchristliche Gemeinde. 5. Die Bedeutung der Urgemeinde wird leicht unterschätzt, weil sie an jüdischer Gesetzlichkeit festhielt und sich der christlichen Freiheit, die Paulus verkündete, nicht erschließen wollte (vgl. u. S. 15). Man darf aber nicht vergessen, daß sie die Worte Jesu mit hingebender Treue gesammelt und überliefert hat. Aus ihrem Schoße sind die Evangelien hervorgegangen, zum mindesten die Redenquelle des Matthäus und die Pettinische Grund-

§2

Die Religionen im Römischen Imperium

5

läge deS Markusevangeliums. Damit hat sie den Felsengrunb gelegt für die ganze Entwicklung des Christentums. Schon in bet. Urgemeinde ist aus dem Evangelium Jesu vom Reiche GotteS daS Evangelium von Jesus Christus geworden. Die ungeheuere Erschütterung durch Tod und Auferstehung des Meisters hatte den Jüngern zum Bewußtsein gebracht, wie einzigartig das von ihm verkündigte Reich Gottes an seine Person gebunden sei. Sie erlebten in den Gottesdiensten, im Gebet und Abendmahl seine lebendige, machwolle Gegenwart als den Anbruch der messianischen Zeit.

§2. Die Religionen im Römischen Imperium. 1. Ein alter Spruch sagt, Homer habe den Griechen ihre Götter gegeben. Diesen Gedanken hat Schiller poetisch gestaltet in seinem Gedicht „Die Götter Griechenlands". Die griechische Religion erscheint hier als eine von Schönheit strahlende Lebensdeutung. Aber diese Betrachtung ist einseitig und irreführend. Homers Schilderung der glänzenden und leichtfertigen Ge­ stalten der Olympier ist weniger wirkliche Religion als poetische Darstellung einer übermütigen ritterlichen Gesellschaft im erhöhten Bilde des Götter­ staates; sie hat den frommen Glauben unterwühlt, da sie die Kritik heraus­ forderte. Die wirklich gelebte Volksreligion wußte auch von der grauen­ vollen Wirklichkeit und ihren unheimlichen Mächten: Hekate, die Spuk- und Zaubergöttin, und ihre bösen Geister, die unterirdischen Rachedämonen der Erinyen, Gestalten, gegen deren gefährliche Kräfte man sich mit abergläu­ bischen Gebräuchen zu schützen suchte (Röm. 8,15). Die wirklich erlebten Götter sind mehr ein Gegenstand der Angst als des VerttauenS. Sonst würde nicht der weise Lebensdeuter und Lebenskünstler Epi kur seine Jünger mit der Versicherung gettöstet haben, die Götter lebten in fernen Welten und kümmerten sich nicht um die Menschen (Gegenbild: das Schicksal des Ödipus, besten Leben durch das göttliche Orakel in Ver­

wirrung und Unheil gestürzt wird: „Ihr laßt den Armen schuldig werden; dann überlaßt ihr ihn der Pein"). Es besteht also von alters her eine Kluft zwischen der von Dichtern und Künstlern verklärt bargestellten Staats­ religion und dem wirklichen Volksglauben. Der Siegeszug Alexanders des Großen hat auch die griechischen Götter nach dem Osten getragen. In Kleinasien besonders entstehen neue großartige Göttertempel. Zeus, Athene und Dionysos wohnen auf der Burg von Per­ gamon. Dem Zeus gewidmet ist der Riesenaltar, den König Eumenes um 180 v. Chr. aufführen ließ. Der Sieg der olympischen Götter über die Giganten soll die Erinnerung an den Sieg dieses hellenistischen Königs über die barbarischen Kelten (Galater) festhalten. In der Offenbarung Jo­ hannes (2,13) ist dieser Altar wohl als Thron des Satans gemeint. (Die

6

Die apostolische Zeit

reichen Überreste seines großartigen plastischen Schmucks heute im PergamonMuseum zu Berlin.) In derselben Stabt Pergamon haben außerdem Demeter und Hera ein Heiligtum auf halber BergeShöhe und Asklepios einen großen Tempel im Tale. Wenn schon die junge Stadt Pergamon so reich mit Heiligtümern auögestattet war, so begreift man, daß die Fülle der Tempel und Altäre zu Athen die Verwunderung beS Apostels Paulus erweckte (Apg. 17, 16). Die Artemis freilich, deren Tempel zu EphesuS zu den Wundern der Alten Welt zählte und deren Kult durch die MissionSprebigt des Paulus be­ einträchtigt wurde (Apg. 19), ist nicht die griechische Jagbgöttin, die jungftäuliche Schwester Apolls, sondern eine nur leicht hellenisierte kleinasiatische Fruchtbarkeitsgottheit. An der Grenze der griechischen und der asiatischen Welt mischen sich die Gottheiten beider Gebiete. Aber die griechische Religion verbreitet sich auch nach Westen. Ihre Götter kommen schon bei Beginn der Republik nach Rom (um 500) und erobern den Staat zur Zeit deS 2. panischen Krieges. Die phantasielose, nüchterne römische Religion, ganz abgestellt auf den praktischen Nutzen für Familie, Wirtschaft und Staat, wird im hellenistischen Geiste umgebildet. 2. Der Geist griechischer Wissenschaft protestiert schon früh durch den Mund der Philosophen gegen die Leichtfertigkeit der homerischen Götter­ mythen. LenophaneS(500) klagt: „Alles, was dem Menschen als schimpflich und unsittlich gilt, haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, Diebstahl, Ehebruch und Bettug". Ihre menschenartige Gestaltung der Götter lehnt er ab: „Hätten Rinder, Rosse und Löwen Hände und könnten sie Bilder machen, sie würben die Götter als Rinder, Rosse und Löwen dar­ stellen". Ähnlich Heraflit von EphesuS: Bilderanbetung ist ihm nichts anderes, als ob man „mit Mauern schwatzen wollte". Der naive, sinnenfteudige Anthropomorphismus der öffentlichen Religion wirb von beiden radikal abgelehnt und durch einen rein geistigen, unanschaulichen GotteSgedanken ersetzt. Die Sophisten verbreiten mit ihrer Aufklärung den Geist der religiösen Unsicherheit und Skepsis (Zweifelsucht). SokrateS hat fteilich den Götterglauben nicht direkt angegriffen, aber seine Lehre von dem Daimünion, der inneren göttlichen Stimme, wurde doch als eine Entwertung der alten Götter verstanden; daher die Anklage, baß er die Jugend verderbe und „nicht an die Götter glaube, an die der Staat glaube". Die heiter gelassene Sicherheit seines tapferen Sterbens aber wirkte durch die Jahrhunderte symbolhaft als ein Gericht über die ganze alte Götterreligion. Diese Wirkung wurde verstärkt durch die platonische Philosophie, die den Menschen anleitete, nicht nach den Göttern deS Staates oder der Volksreligion zu schauen, sondern auf die Reinigung und Läuterung seiner Seele bedacht zu sein und sie zur Heimkehr aus dieser ver­ gänglichen Zeitlichkeit in die ewige Welt der Ideen vorzubereiten. Anderer­ seits ist nicht zu verkennen, daß der bei SokrateS vorwiegende Glaube an

§ 2

Die Religionen im Römischen Imperium

7

die Macht der wissenschaftlichen Vernunft (Tugend ist Wissen) und sein naiver Optimismus von echter Religion wegführen: Der Einzelmensch löst sich im Vertrauen auf seine selbsterworbene Tugend von den Bindungen der Re­ ligion : die selbftgewisse Sittlichkeit und der an Gott gebundene Glaube treten auseinander. Daher der Angriff des Aristophanes auf ihn (in den „Wolken"). Diese innere Zersetzung des alten Götterglaubens wurde unterstützt durch die von Osten eindringenden orientalischen Religionen, die mit dem Geheimnis ihrer Kulte und Göttermythen auf die Phantasie auch der grie­ chisch-römischen Menschen einen starken Einfluß auSübten. In der Bedrängnis des hannibalischen Krieges wurde die kleinasiatische große Göttermutter in Rom begierig ausgenommen. Ihr folgten noch in vorchristlicher Zeit die äygptische Isis, der iranische Mithras und auch die chaldäische Astrologie, b. h. der an die Sterne geknüpfte Schicksalsglaube. Die alte Tierverehrung der Ägypter (erklärlich wohl aus dem Grauen, das der naive Mensch vor den übermächtigen, unheimlichen Tieren empfindet) wurde durch die Be­ rührung mit der hellenistischen Aufklärung merkwürdigerweise nicht zurück­ gedrängt, sondern noch gesteigert. Sie erweckte freilich den hochmütigen Spott der gebildeten Griechen, andererseits aber auch durch den Reiz der Fremd­ artigkeit starkes Aufsehen (vgl. Röm. 1,23). DaS durch die philosophische Aufklärung nicht gesättigte religiöse Verlangen auch der griechischen Men­ schen suchte Befriedigung in den Kulten des Ostens und verschmähte dabei keineswegs auch niedrigen Ersatz. Als Augustus durch die Schlacht bei Aktium die Weltherrschaft gewonnen hatte, versuchte er aus staatsmännischen Überlegungen die alte römische (römisch-griechische) Religion wieberherzustellen, indem er die zerfallenen Tempel neu aufbaute und durch kultische Feierlichkeiten die Teilnahme der zuschauenden Massen anlockte. Doch diese religiöse Restauration des Kaisers blieb eine staatliche Repräsentation, und die Teilnahme an ihr war politischer, vielleicht auch ästhetischer Art, aber nicht ein Beweis echten neuen Glaubens. Denn eine Religion kann nur mit religiösen Kräften, aber nicht auf dem Wege politischer Empfehlung erneuert werden. Ebenso mißlang der Versuch, den 250 Jahre später, zur Feier deö 1000jährigen Bestehens der Stadt Rom, der Kaiser Decius unternahm. Diese romantische Restauration führte freilich zur Christenverfolgung (s. u. S. 46), aber nicht zur Neubelebung deS erstorbenen Götterglaubens. Die Abwehr Roms gegen daS Christentum (wie einst gegen die orientalischen Kulte) scheitert zuletzt daran, daß dieser Staatskult nur das irdisch Gegebene, das die politische Gesellschaft schon hat, darstellt und verklätt, aber nichts Neues, Weltüberlegenes bringt, keine Ge­ meinden schafft und keine Glaubenszeugen hervorbringt. 3. Die griechische Philosophie hat nicht nur an der überlieferten Götterlehre Kritik geübt, sondern sich je länger je mehr bemüht, durch HerauSarbeitung einer eigenen Weltanschauung und Lebensdeutung für die zerstörte Volks-

8

Die apostolische Zeit

religion einen Ersatz zu bieten; den größten Einfluß als Ersatzreligion hat allmählich die stoische Philosophie gewonnen. Die ursprüngliche stoische Weltanschauung ist freilich ein noch stark ma­ terialistisch gedachter Pantheismus: „Alle Kräfte der Welt sind Ausflüsse einer Urkraft, die einerseits vollkommenster Stoff, nämlich feuriger Hauch, belebendes und gestaltendes Feuer ist, andererseits zugleich vollkommene Vernunft (Logos), Seele, Geist, Vorsehung, Gesetz der Welt". Dieser Logos ist also gewissermaßen die Weltseele (als Weltregent erscheint der Logos schon bei Heraklit von Ephesus). Unter dem Einfluß des Platonismus entwickelt sich aber diese stoische Philosophie immer mehr zu einer Art Religion, und der bange Schicksalsglaube wandelt sich zum tröstlichen Vorsehungsglauben. Der starke religiöse Ton ist auch auf den orientalischen Einfluß zurückzuführen. Der gefeiertste Lehrer der Stoiker im Anfang des 1. Jahrhundert v. Chr. war Poseidonios aus der syrischen Stadt Apamea. Bei ihm hat Cicero in Rhodos studiert; und die von ihm geschaffene lateinische philosophische Literatur geht wesentlich auf Anregungen des Poseidonios zurück (vgl. Cicero: De natura deorum). Diese Philosophie Ciceros aber lehrt einen durch die Vernunft geklärten, auf sittliche Ziele eingestellten, frommen Vorsehungsglauben. Hier wird auch der „kosmologische" Gottesbeweis ausgebildet, der aus der Schönheit und Zweckmäßigkeit des Kosmos (der geordneten Welt) auf die Weisheit ihres Schöpfers schließt: „Aus unendlichem Schütteln der Buch­ staben entsteht nie eine Ilias!" Bei Seneka, dem Erzieher Neros, finden wir eine auffallend dualistische und pessimistische Grundlage dieses Glaubens: „Wozu über Einzelnes weinen? Das ganze Leben ist zu beweinen! Was ist der Mensch? Ein gebrechliches, jedem Stoß preisgegebenes Gefäß, ein schwächlicher Körper, nackt, wehrlos, fremder Hilfe bedürftig, jeder Unbill des Schicksals preisgegeben!" „Dieser Leib ist der Seele Last und Sttafe. Unter seinem Druck fühlt sie sich bedrängt und in Fesseln, wenn nicht die Philosophie hinzutritt und sie vom Irdischen zum Göttlichen erhebt."

Ungefähr gleichzeitig hat ein Unbekannter unter dem Namen des Aristo­ teles ein Buch „Von der Welt" verfaßt, in dem der Pantheismus der alten stoischen Schule aufgegeben wird. Dieser Mann erblickt Gott nicht in, sondern über der Welt: Wie der Steuermann das Schiff, der Lenker den Wagen, so regiert Gott die Welt. Seneka sowohl wie der etwas jüngere Epiktet (ein freigelassener phrygischer Sklave) nähern sich in manchen ihrer sittlichen An­ weisungen der christlichen Verkündigung. Seneka schreibt: „Willst du den Göttern nachahmen, so gib auch den Undank­ baren; denn auch den Gottlosen geht die Sonne auf, und den Seeräubern stehen die Meere offen; der Wind weht nicht nur den Guten günstig, und der Regen fällt auch auf die Äcker der Gottlosen" (vgl. Mt. 5,45). Epiktet bemüht sich vor allem, seine Jünger zu innerer Freiheit und Unabhängigkeit zu erziehen; sie sollen lernen zu erkennen, was in unserer Macht steht (nämlich unsere innere Stellung zur

§2

Die Religionen im Römischen Imperium

9

Außenwelt) und was nicht in unserer Macht steht (nämlich die Berührung mit den Einwirkungen der Außenwelt). Der Weise soll deshalb lernen, zu verzichten und zu ertragen, um über Unglück, Leib und Kränkung sich zu erheben.

Diese heroische Freiheit sieht der von JesuS und Paulus gepredigten Freiheit der GotteSkinber nur äußerlich ähnlich, sie ist im Wesen etwas anderes als die christliche Agape, denn ihr Ziel bleibt in den Schranken feiner Selbst­ sucht: die unerschütterte Gemütsruhe des Weisen, aber nicht die selbstver­ gessene Hingabe an baS Wohl des Nächsten. Den Seneka aber nennt Nietzsche wegen seiner Neigung zu Rhetorik und Pathos den „Toreador der Tugend". So konnte die stoische Philosophie wohl eine Vorbereitung auf baS Christen­ tum (Röm. 2,14 f.) ober sein Konkurrent, aber niemals sein Ersatz werben.

Die sittliche Grundformel der Stoa lautet: „In Übereinstimmung mit der Natur leben". Man darf die Frömmigkeü der Stoa aber deshalb nicht als „Naturfrömmigkeit" bewachten (weder im Sinne des biblischen SchöpfungSglaubenS noch der Goetheschen Naturbeseelung). Denn unter der „Natur" verstehen die Stoiker die Denkkraft der Vernunft, die nach ihrer Meinung den Kern der menschlichen Natur auSmacht. Diese Vernunft erscheint gleich­ zeitig auch als Grundkraft des ganzen KoSmoS (Welwernunft); deshalb neigen die Anhänger der Stoa immer wieder zum Pantheismus. Die natür­ liche Religion der Stoa ist also eine idealistische ober rationalistische Geist­ religion. Sie zieht sich, in mannigfachen Umbildungen, als ein Unterstrom durch die ganze christliche Kirchengeschichte, beeinflußt erheblich die scholastische Theologie beö Mittelalters, findet in der Reformationszeit ihren Vertreter in EraSmuS und seinen Geistesverwandten, verbreitet sich in der Zeit der Aufklärung und lebt bis in die Gegenwart als „Geheimreligion der Ge­ bildeten". 4. Es hat in Griechenland von alters her neben der öffentlichen DolkSunb Staatsreligion Geheimkulte gegeben, die, wenn auch staatlich anerkannt und geschützt/ nur den Eingeweihten, den Mysten, zugänglich waren: Die Mysterien. Ihr berühmtes Beispiel sind die Mysterien von EleusiS. Die alte Demeterlegenbe, die von dem Schicksal der zum HadeS geraubten Tochter Persephone berichtet und zunächst die Fruchtbarkeit der Erbe, baS Sterben und Auferstehen deS Saatkorns, symbolisch barstellt, wird jetzt neu gebeutet und auf daS Schicksal der Seele bezogen, die wie Persephone aus dem Hades wieberkehren soll. Hier bezieht sich also ganz deutlich der religiöse Glaube auf ein Leben nach dem Tobe. „Selig der Mensch, der die heilige Handlung geschaut hat. Wer aber ungeweiht ist und nicht teilhaftig der heiligen Weihen, der wird nach seinem Tobe nicht baS gleiche LoS haben im Dunkel deS HadeS." — Die Dionysosmysterien erregen ihre Teilnehmer (die Bacchanten und Mänaben) zu wilder Raserei, baß sie im Taumel der Ekstase den geweihtm Sfier zerreißen und daS rohe Fleisch verschlingen, in der Meinung, so der Gottheit körperlich teilhaft zu werden.

10

Die apostolische Zeit

Diese Mysterien wurden mit den griechischen Gottheiten auch nach dem Osten, nach Kleinasien übertragen. Sehr viel bedeutsamer aber ist der um­ gekehrte Vorgang, daß nämlich orientalische Mysterienkulte in die griechischrömische Welt eingeführt werden; so zuerst der ägyptische Mythos von Isis und Osiris. Das Sterben des Osiris, deS Gemahls der Himmelsgöttin Isis, und seine Auferstehung in Gestalt deS jungen HoruS ist ursprünglich ein Mythus für einen Naturvorgang, für das Ersterben der Natur unter dem ausdörrenden Wüstenwind und für ihre Auferstehung unter der neuen Nilüberschwemmung. Dieser Mythos ist aber von alterS her schon auf daS Schicksal der Seele gedeutet. Die Weihe bedeutet ein Sterben und Wieder­ auferstehen durch gnädige Errettung (vgl. Röm. 6,3 ff., die Taufe bedeutet: mit Christus begraben werden und mit ihm auferstehen). In Vorderasien wirkten in ähnlichem Sinne die Mysterien des Attis: Die Gläubigen beklagen mit Kybele, der großen Göttermutter, den Tob ihres geliebten Attis, eines schönen AünglingS, der die blühende Natur verkörpert, und begehen wenige Tage später mit lärmender Freude daS Fest seiner Auferstehung. Nur den Männern zugänglich waren die Mysterien deS MithraS. MithraS ist der alte persische Sonnengott (den Zarathustra bei seiner Reform beiseite schob). Seine Gestalt hat auf der Wanderung nach Westen babylonische und phrygische Vorstellungen an sich gezogen, aber doch von seinem persischen (also arischen!) Ursprung den entscheidenden WesenSzug deS tapferen Kämp­ fers gegen alles Böse bewahrt. Seine Mysten mußten verschiedene harte Proben bestehen und stiegen durch sieben Grade zur höchsten Würde deS „VaterS" empor. Der feierlich geheimnisvolle Gottesdienst wurde in unter­ irdischen Kapellen abgehalten, in deren Hintergrund daS bekannte Bild deS MithraS als deS StiertöterS aufgestellt war. Diese Religion kannte eine Art Taufe und Kommunion mit Brot und Wein. Sie war besonders bei den Soldaten beliebt und wurde durch sie über das ganze Reich bis nach Germanien und Britannien getragen. AttiS- und MithraSdienst verlangten eine rohe „Reinigungszeremonie": Der Myste stieg in eine tiefe Grube, über der ein Stier geschlachtet wurde, so daß dessen Blut ihn überströmte und „reinigte". 5. In diesen Mysterienreligionen vermischen sich die Elemente der ver­ schiedensten alten Religionen und Weltanschauungen: Persischer Dualis­ mus, babylonische Weltentstehungslehre und Astrologie, feierliche ägyptische Liturgie, syrischer Sonnendienst, hellenistische Philosophie und Kunst. Doch lassen sich in dieser Religionsmischung bei aller bunten Mannigfaltigkeit der einzelnen Kulte gewisse gemeinsame Grundzüge beobachten. ES herrscht eine dualistische und pessimistische Grundstimmung: Gegensatz von Gott und Welt, Geist und Stoff, Seele und Leib; daher Sehnsucht nach einem erhöhten Leben in einem jenseitigen Lichtreich, Neigung zur Askese, Bedürfnis nach Erlösung durch einen Gottheiland. In den Mysterienkulten

§2

Die Religionen im Römischen Imperium

11

soll der Myste eine geheimnisvolle Einigung mit der Kultgottheit erleben (unio mystica), mit ihr sterben und auferstehen: „Seid getrost, ihr Mysten! Da der Gott gerettet ist, wird auch euch aus Leiden Rettung werden". Die Mysten rühmen sich einer höheren Erkenntnis, von der daS Heil abhängt; doch diese „Gnosis" beruht nicht aus wisienschaftlicher Forschung, sondern aus geheimnisvoller „Offenbarung" und ist mit allerlei wüstem Aberglauben verbunden (Mitteilung von Geisternamen und Beschwörungs­ formeln, die der Seele auf ihrer Himmelsreise hilfreich sind). Die „Reini­ gungen" in diesen Kulten sind ursprünglich äußerlicher und ritueller Art; doch kommen unter dem Einfluß der griechischen Philosophie auch ernsthafte und sinnvolle Moralgebote zur Gelmng. In verschiedener Weise ist hier dem Christentum der Weg geebnet: 1. Die nationalen Schranken fallen. 2. Der Individualismus setzt sich durch: man wirb in diese Religion nicht hincingeboren, sondern schließt sich ihr freiwillig an. 3. Deutlich ist die Erlösungssehnsucht. 4. Der Glaube richtet sich auf ein ewiges Leben im Jenseits. 5. Merklich ist eine gewisse Versittlichung der Religion: Verständnis für Sünde und Sühne, wenn auch getrübt durch Überschätzung äußerlicher Riten und magisch wirkender Sakramente. 6. Überall ein starker Zug zum Monotheismus (die verschiedenen Namen

und Gestaltet: nur Erscheinungen Einer Gottheit). 6. Mit dem römischen Regiment kam in die griechische Welt der Kult der Göttin Roma, alö des personifizierten Genius der zur Weltmacht gewordene^ Stadt. Das Volksempfinden aber, vor allem der Länder des Ostens, brachte dem Oktavian Augustus, der dem Greuel der Bürgerkriege ein Ende setzte und statt des unablässigen Bluwergießens wieder Frieden und Ordnung, Recht und Sitte aufrichtete, aus tiefer Dankbarkeit göttliche Verehrung entgegen. In Kleinasien zuerst wurden dem Kaiser Tempel und Altäre errich­ tet. Der zur Gottheit erhobene Kaiser wurde das höchste Symbol der neu­ gewonnenen Einheit und Macht des Reiches. Der Kaiserkult wurde die Religion oder der Religionsersatz der Spätantike. In den großen Reichen des Ostens, bei den Ägyptern und Persern, waren

die Könige von alters her göttlich verehrt. Nach ihrem Vorbild hatte auch Alexander der Große sich als Gottheit verehren lassen. Das war den Griechen nicht unerhört, da ihr Heroenglaube die Grenzen zwischen Göttern und Men­ schen verwischte (Lysander, Plato). Von Alexander übernahmen es die Diadochen in Ägypten, Syrien und Kleinasien. Schon ihre Beinamen, EpiphaneS (der Erscheinende), Soter (Heiland), verraten den göttlichen Anspruch. Die Friedenssehnsucht des Ostens hatte schon in Pompejus und in Caesar, zu früh, den göttlichen Friedebringer begrüßt. Erst in Augustus erfüllte sich die große Hoffnung. Eine kleinasiafische Inschrift verkündet die frohe Botschaft (Evangelion) von seiner göttlichen Heilandswürde. Von nun an werden in Kleinasien

12

Die apostolische Zeit

nur noch dem Kaiser Tempel gebaut, nicht mehr den alten Göttern. Augustus ließ dort den Kult der Dea Roma mit dem seiner Person verbinden. Seinen Adoptivvater Caesar ließ er unter die Götter erheben. Im Westen wird offiziell nicht der lebende Kaiser, sondern sein Genius, d. h. sein und seines Hauses Schutzgott, göttlich verehrt; der Kaiser selbst erst nach seinem Tode, wenn er durch Senatsbeschluß unter die Götter erhoben ist. Wie stark aber auch im Westen religiöser Glaube den Kaiserkult erfüllt, beweist Vergils berühmte 4. Ekloge: sie verkündet die Geburt eines göttlichen Kindes, das die Sünden der Vergangenheit tilgen und ein goldenes Zeitalter heraufführen wird (vgl. Mt. 2). Alle alten Religionen nahmen, entsprechend ihrer synkretistischen Haltung, den Kaiserkult willig auf. Die Juden wurden, mit Rücksicht auf die völkische Begrenzung ihrer Religion, im ganzen geschont. Das Christentum mußte den Kaiserkult schroff ablehnen (Off. Joh.); es kannte nur den Einen himmlischen Herrn (Phil. 2,9 ff.). Hier entsprang ein Kampf auf Leben und Tod.

§ 3. Die Weltmission des Paulus. 1. Durch die Wirksamkeit der hellenistischen Missionare (vgl. oben S. 3), insbesondere durch die Gründung der heidenchristlichen Gemeinde in Anti­ ochia, war der Ansatz für eine gesetzesfreie Weltmission im Dienst des Evan­ geliums gegeben. Daß dies Reis nicht verkümmerte, sondern überraschend schnell zu einem mächtigen Baum heranwuchs, ist, wenn auch nicht aus­ schließlich, so doch in allererster Linie dem hellenistischen Juden Paulus von Tarsus zu verdanken. Er ist freilich nicht der Stifter des Christentums; aber als den Gründer, zum mindesten als den Wegbahner der christlichen Weltkirche muß man ihn wohl bezeichnen. In der bekannten Aufzählung der Zeugnisse für die Auferstehung Christi nennt Paulus mit bescheidenem Stolz an letzter Stelle auch die ihm zuteil gewordene Erscheinung (1. Kor. 15, 3—8). Auf sie beruft er sich in dem­ selben Brief (9,1), um die Vollmacht seines Apostelamtes gegenüber den Korinthern feftzustellen. Aus dem Galaterbrief (1, 15—17) und aus der Apostelgeschichte (9,1 ff.) wissen wir, daß diese grundlegende Erscheinung vor den Toren von Damaskus stattgefunden hat, als Saulus mit Ermäch­ tigung des Hohen Rates ausgezogen war, hier die Gemeinde Jesu Christi zu bekämpfen. Paulus hat sich nicht darin getäuscht, wenn er die Berufung zur Heiden­ mission mit der Offenbarung vor Damaskus verknüpft. Es mag sein, daß die letzte bewußte Klarheit über die Auswirkung dieses grundlegenden Erleb­ nisses ihm erst später zuteil geworden ist. Daß er aber grundsätzlich den Beruf des Heidenmissionars aus dem Damaskuserlebnis ableitet, ist innerlich durchaus überzeugend und trägt den Stempel echter Erinnerung.

§3

Die Weltmission des Paulus

13

Das Gesetz hatte Paulus gehindert, Jesum von Nazareth als den Christus zu erkennen. Aus dem Gesetz, in seiner rabbinischen Auslegung, hatte er die verderbliche Irrlehre empfangen, Gott, der gerechte Richter, vergelte jedem hier auf Erden sinnlich sichtbar, was er mit seinen Taten verdient habe; woraus dann umgekehrt folgte, daß man aus dem Schicksal, mindestens auS dem Endschicksal, ablesen könne, ob er ein Frommer ober ein Gottloser gewesen sei: Wer von Gott verlassen, am Galgen endet, wer den Verbrecher­ tod stirbt, der muß auch ein von Gott verdammter Verbrecher gewesen sein: „Verflucht ist, wer am Holze hängt!" (Gal. 3,13). Diesen offensichtlich von Gott Verfluchten als Messias anzubeten, ist dann die schlimmste Gottes­ lästerung, diese Gotteslästerer zu verfolgen, heiligste Pflicht. Wenn nun aber dieser Gekreuzigte sich seinem Verfolger als der Christus siegreich kund­ tut, dann gibt es eine revolutionierende „Umwertung aller Werte"; bann hat der Nazarener das Gesetz besiegt und abgetan. Damit ist dann auch die Schranke zwischen Juden und Heiden gefallen. Die Heidenmission des Paulus ist also auS dem Damaskus-Erlebnis genau so hervorgewachsen, wie Luthers Kampf gegen das verweltlichte Papsttum auS seinem be­ rühmten „Turmerlebnis", der Entdeckung der erlösenden Wahrheit von der Rechtfertigung aus Gnaden allein. Der Vergleich zwischen den beiden großen Gottesmännern führt auch sonst zu einem tieferen Verständnis für die entscheidende Bedeutung deS Apostels Paulus in der Heilsgeschichte des Evangeliums. Der große Umbruch in der Geschichte der christlichen Kirche, den wir als „Reformation" zu bezeichnen pflegen, ist nicht hervorgerufen durch den Humanisten EraSmus oder den Erasmusschüler Zwingli, auch nicht durch einen der mystischen Vorreforma­ toren, selbst nicht durch den großen Biblizisten Wiclef, sondern einzig durch Martin Luther, durch den Mann, der nicht nur die scholastische Theologie von Grund aus studiert hatte, sondern der in der eigenen Person den spe­ zifisch mittelalterlichen Heilsweg, den des Mönches, des homo religiosus, mit unvergleichlichem Todesernst beschritten hatte und auf ihm gescheitert war. Die katholische Kirche im Kern zu überwinden, wurde nur dem geschenkt, der daS katholische Heilssystem in eigener Person durchlebt und durchlitten hatte. Nur mit dem restlosen Einsatz des ganzen Menschen konnte diese erlösende Entdeckung erobert werden. Luther hat damit, ohne es zu ahnen, in neuer Form das Erlebnis und die Tat des Paulus wiederholt. Die Be­ freiung vom Judaismus konnte nicht durch die galiläischen Jünger des Meisters errungen werden. Denn in ihrem von Jerusalem weit entfernten „Bezirk der Heiden" hatten sie von gelehrter Gesetzesauslegung wenig kennen gelernt und sicherlich auch in den einfachen ländlichen Verhältnissen an den Grenzen des Heidentums an der Last des Gesetzes nicht so schwer zu wagen gehabt. Überwindung des Judentums konnte nur bringen, wer in

eigener Person dieö Judentum gründlichst erfahren und erlitten und den

14

Die apostolische Zeit

Aberwitz der Gesetzlichkeit bis zum Letzten durchgekostet hatte, also nicht ein Laie aus Galüäa, sondern ein Pharisäer und Rabbinenschüler. ES zeugt auch von schlechtem Verständnis, wenn moderne Kritiker meinen, dem Paulus einen Dorwurs daraus machen zu sollen, daß er nach dem Er­ lebnis von Damaskus drei Jahre lang sich von Jerusalem und der Ur­ gemeinde fern hielt und auch dann nur für vierzehn Tage Petrus und Jakobus aufsuchte, um sie persönlich kennen zu lernen. Ihn hat, menschlich geredet, der unfehlbare Instinkt des Genies richtig geleitet, wenn er sich nicht in die Schule der Urapostel begab. Was sollte er Entscheidendes von ihnen lernen? Sie konnten ihn mit ihrer unklaren Halbheit gegenüber dem jüdischen Gesetz, daS sie für die Juden streng behaupten und auch für die Heiden ungern fahren lassen wollten, doch nur beirren und aufhalten auf dem Wege zu der erlösenden Erkenntnis: Christus ist des Gesetzes Ende! 2. Über die ersten anderthalb Jahrzehnte nach der Bekehrung des Apostels sind wir leider nur sehr unvollkommen unterrichtet. ES scheint, baß Paulus nach dem entscheidenden Erlebnis von Damaskus einige Zeit zu innerer Sammlung und Klärung in die Einsamkeit der arabischen Wüste südlich von Damaskus gegangen ist, um hernach in Damaskus mit der Predigt für den Herrn Christus, den er bisher verfolgt hatte, zu beginnen. Dieser Wirksamkeit wurde durch jüdische Nachstellung ein Ende bereitet (Apg. 9,22ff.; 2. Kor. 11, 32f.). Den Verfolgern entronnen, reiste Paulus zu kurzem Besuch nach Jerusalem und kehrte dann in seine Heimatstadt Tarsus zurück. Don hier hat ihn Barnabas (s. o. S. 2) als Mitarbeiter in die auf­ blühende christliche Gemeinde zu Antiochia geholt, und von dort hat ein Befehl des heiligen Geistes die beiden Freunde zu ihrer ersten Missionsfahrt nach Cypern und Kleinasien getrieben (Apg. 13f.). Nach der Darstellung der Apostelgeschichte folgt auf diese erste Missionsreise ein bedeutsamer Besuch des Paulus zu Jerusalem, um in persönlicher Aussprache mit den Uraposteln die Stellung des Heidenchristentums zum Gesetz zu klären (Apg. 15; Gal. 2). Nach dem Galaterbrief liegt dieser Apostelkonvent 14 (oder gar 17) Jahre nach Damaskus (Gal. 1,18 u. 2,1). Dieser lange Zeit­ raum wird durch die Überlieferung völlig unzureichend ausgefüllt. Wir können uns unmöglich vorstellen, daß eine Feuernatur wie Paulus jahrelang untätig in Tarsus gesessen habe. Die sogenannte erste Missionsreise (Apg. 13 f.) kann aber nur einige Monate in Anspruch genommen haben. Wir müssen uns mit unserem mangelnden Wissen bescheiden. 3m hellen Licht der Geschichte liegen nur etwa 9 Jahre aus dem Leben des Apostels. Sie führen unS vom Apostelkonvent bis in die Welthauptstadt Rom. In diesen wenigen Jahren aber ist eine weltgeschichtliche Leistung voll­ bracht. Die christliche Botschaft ist aus dem jüdisch-syrischen Orient in das griechisch-römische Imperium hinausgetragen, ist auf den Boden Europas in die arische Völkerwelt verpflanzt worden, um dort bis zum heutigen Tag

$3

Die Weltmission des PauluS

15

ihre Heimat und wesentliche Wirkungsstätte zu behalten. Damit ist eine Leistung vollbracht, die den Wendepunkt der Weltgeschichte bedeutet, so daß wir ihre Jahre nicht mehr von der Gründung der Stabt Rom, sondern von der Geburt Christi zählen. Den Ausgangspunkt für diesen geistigen EroberungSzug bildet der Apostelkonvent. Hier hat Paulus durch den Hinweis auf die Früchte seiner Predigt unter den Heiden (es muß also eine beachtliche Heidenmission schon vorangegangen sein) den Uraposteln daS Zugeständnis abgerungen, daß die heidenchristlichen Gemeinden mit dem (jüdischen) Gesetz nicht beschwert werden sollten. Was unS jetzt nachttäglich als beinahe selbstverständlich erscheint, war damals für die Urapostel ein ungeheures, fast unbegreiflich großes Zugeständnis; zerfiel ihnen die Menschheit doch immer noch in Juden und Nichtjuden, nicht aber in Christen und Nichtchristen. Die Ur­ apostel und die Urgemeinde leisteten also eine fast übermenschliche Selbst­ überwindung, wenn sie dem Paulus die Gesetzesfreiheit für die Heiden­ christen zugestanden. Damit traten sie, ohne es recht zu merken, auf den überjüdischen Boden der Unterscheidung von Christen und Nichtchristen (Gal. 2,1—10). Aus diesem Zugeständnis mit klarer Entschlossenheit die nötigen Folge­ rungen zu ziehen, ging über ihre Kraft; sogar über die des weitherzigsten von ihnen, deS Petrus. Bei einem Besuch in Antiochia schloß er sich zunächst dem Brauch der dorttgen Christengemeinde an, indem er, unbekümmert um das Verbot des jüdischen Gesetzes, mit den Heidenchristen Tischgemeinschaft hielt, d. h. vor allem an der gemeinsamen Feier des Herrenmahles tellnahm. Aber Abgesandte des Jakobus machten ihn und sogar den alten Arbeits­ und Kampfgenosien des Paulus, den Barnabas, wieder irre, so daß beide sich um des jüdischen Gesetzes willen von der heidenchristlichen Mehrheit der Gemeinde absonderten und jene damit als Christen zweiter Klasie ver­ ächtlich machten (Gal. 2,11 ff.). Es stellte sich jetzt heraus, daß die Ab­ machung des Apostelkonvents mit ihrer schiedlich-friedlichen Trennung der Arbeitsgebiete (das Heidentum für Paulus, das Judentum für die Urapostel) in der Praxis nicht leicht durchführbar war, weil an den Grenzen der jüdischen Welt, vor allen Dingen in Syrien, Heiden und Juden neben­ einander wohnten und deshalb christliche Gemeinden, in denen ehemalige Juden und Heiden sich mischten, unvermeidbar waren. Vielleicht hat dieser ärgerliche Vorfall in Antiochia dem Apostel den letzten Anstoß gegeben, seine Mission aus dem jüdisch-heidnischen Mischgebiet, auf dem er sich bisher bewegt hatte, in die hellenische oder hellenisierte Welt des Westens zu verlegen, so daß jenes Ärgernis der Welt zum Heil geworden ist. Das übliche Schema der drei Missionsreisen (1. Apg. 13f.; 2. Apg. 16—18,22; 3. Apg. 18, 23—21, 16) ist in Wirklichkeit nicht recht geeignet, ein deutliches Bild von der Missionsarbeit des Apostels zu geben. Als

16

Die apostolische Zeit

„Missionsreise" könnte wohl die Fahrt von Apg. 13 u. 14 bezeichnet werden; denn hier ist Antiochia als dauernder Wohnsitz vorausgesetzt/ von dem die Reise ausgeht und zu dem sie zurückführt. Aber nach dem Apostelkonvent verlegt Paulus seine Tätigkeit ganz nach dem Westen, nach den Ländern, die das Ägäische Meer umgrenzen. Sie bilden freilich nicht seinen Wohnsitz, denn der wandernde Missionar hat keinen festen Wohnsitz, aber doch sein Arbeitsfeld. Von hier aus ist er einmal zu einem kurzen Besuch (dessen eigent­ liche Absicht undeutlich bleibt) nach Jerusalem und Antiochia zurückgekehrt (Apg. 18,21 ff.); später hat er eine zweite Reise nach Jerusalem unternommen, um die bei den hellenischen Gemeinden gesammelte Kollekte persönlich zu überbringen (1. Kor. 16,3f. u. Apg. 21,15 ff.).

Dieser Aufenthalt in den Ländern des Ägäischen Meeres kann zeitlich

einigermaßen sicher festgelegt werden. Durch eine zu Anfang dieses Jahr­ hunderts in Delphi gefundene Inschrift läßt sich die Amtszeit des Prokonsuls Gallio, vor dessen Richterstuhl Paulus (nach Apg. 18) gezogen wurde, auf das Jahr Juli 51'—52 n. Chr. bestimmen. Danach ist zu berechnen, daß Paulus im Laufe des Jahres 50 in Korinth eingetroffen ist und es im Spät­ herbst 51 verlassen hat, um über Ephesus zum Osterfest nach Jerusalem zu reisen. Da er später, nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte, für etwa drei Jahre seinen Aufenthalt in Ephesus genommen hat, um in dieser Stadt und ihrer Umgebung Christus zu verkündigen, da er weiter von Ephesus aus über Makedonien nach Korinth gereist ist, um hier zu überwintern, und endlich auf demselben Umwege über Makedonien-Kleinasien nach Jeru­ salem, um dort die Kollekte abzuliefern: so läßt sich mit ziemlicher Sicherheit ausmachen, daß er etwa 6 Jahre in diesem alten hellenischen Kerngebiet gearbeitet hat. Das sind die ensscheidenden Jahre, auf ihnen beruht sein Lebenswerk. In dieser Zeit sind auch seine grundlegenden Briefe geschrieben: Galater, beide Korinther und Römer (als erste vorher die Briefe an die Thessalonicher). Dauerhafte Gemeinden sind gegründet in Makedonien (Philippi, Thessalonich, vielleicht Beröa), in Achaja (in Korinth und Umgebung, noch nicht in Athen), in Kleinasien (sicher in Ephesus, Kolossä und Laodicea, wahr­ scheinlich auch in Milet, Troas und anderen Orten). Der Galaterbrief endlich und eine zerstreute Nachricht der Apostelgeschichte bezeugen eine trotz juda­ istischer Gegenwirkung schließlich doch erfolgreiche Mission bei den Galatern, den Nachkommen der alten Kelten, die im Herzen von Kleinasien zur Seß­ haftigkeit gebracht waren. Wenn, wie aus den Nachrichten der kirchlichen Schriftsteller des 2. Jahrhunderts (vgl. auch den Brief des Plinius an Kaiser Trajan) hervorgeht, die griechischen Landschaften in Kleinasien ein hochbedeussames Zentrum des Christentums bildeten, so ist das eine bleibende Frucht der Wirksamkeit des Apostels.

§4

Die paulinischen Gemeinden und ihr Christentum

17

Im Römerbrief schreibt Paulus, er habe von Jerusalem auS bis nach Jllyricum die Verkündigung deS Evangeliums von JesuS Christus auSgerichtet (15,19). Ob der Ausdruck „Jllyricum" (Dalmatien und Albanien) wörtlich zu verstehen sei, ist nicht sicher zu entscheiden, ist aber durchaus mög­ lich; denn der Bericht der Apostelgeschichte, so werwoll er ist, erweist sich an den PauluSbriefen wiederholt als ergänzungsbedürftig. Der Ausblick auf daS nahe bevorstehende Ende und die Wiederkunft Christi, die der Apostel zu erleben meinte (1. Kor. 15,51f.), hat ihn gedrängt und beflügelt, die Botschaft von Christus möglichst in der ganzen Welt, d. h. in der „Hkumene", dem römischen Reich, zu verbreiten. Dann mußte er sich natürlich damit begnügen, in den großen Mittelpunkten die Flamme des Glaubens zu entzünden, in der Hoffnung, daS heilige Feuer werde sich von dort aus weiter verbreiten. AuS dem Römerbrief wissen wir, daß er sich als letztes, kühnstes Ziel die Christuspredigt in Spanien gesteckt hatte. Ob er diesen spanischen Plan hat auSführen können, vermögen wir leider auf Grund der bisher bekannten Überlieferung nicht zu ensscheiden.

Die römische Gemeinde selbst ist nicht von ihm begründet; und diese Tatsache allein, daß etwa i. I. 56 schon in Rom eine zahlreiche und ange­ sehene griechisch redende Christengemeinde besteht, deren Mehrheit offenbar nicht aus dem Judentum stammt, ist höchst lehrreich. Sie nötigt unö anzu­ nehmen, daß auch andernorts unbekannte Missionare neben den Aposteln erfolgreich für den Namen Christi gearbeitet haben. Wenn Paulus auch offenbar daS Hochziel verfolgte, die ganze bewohnte Welt vor dem Ende aller Dinge mit der Predigt für Christus zu erfüllen, so ist eS doch bedeutsam, daß er in Wirklichkeit sich auf die hellenische oder hellenisierte Nordseite deS MittelmeerS beschränkt hat. Wir hören nichts davon, daß er sein Augenmerk auf Ägypten oder Afrika oder gar auf Ost­ syrien und daS Zweiströmeland gerichtet hätte. Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche beschreibt er 1. Kor. 9,20 f. seine Aufgabe und Methode. Da die Juden ihn aber ablehnten, mußte er sie seiner Hoffnung und der Gnade GotteS überlassen (Röm. 9—11) und wurde zum Zeugen deS Hei­ landes bei den Griechen, d. h. den arisch-europäischen Völkern, und da­ durch mittelbar auch bei den Germanen und später den Deutschen. ES war schon deshalb kein Zufall, wenn Martin Luther, der Reformator der Deut­ schen, sich auf Pauluö und sein Zeugnis stützte.

$4. Die paulinischen Gemeinden und ihr Christentum.

1. Über die Größe der paulinischen Gemeinden vermögen wir irgendeine Zahlenangabe nicht zu machen. Wenn in Thessalonich nach dem Zeugnis deö ersten Briefes, der nur wenige Monate nach Gründung der Gemeinde verfaßt ist, schon mehrere Mitglieder gestorben sind, so dürfen wir unS diese 2

Schuster, Ktrchengefchichte

18

Die apostolische Zeit

Gemeinde nicht gar zu klein vorstellen. Sie muß mehr als bloß eine erweiterte Hausgemeinde gewesen sein. Wir dürfen annehmen, daß in Thefsalonich unter dem Eindruck der Missionspredigt des Apostels so etwas wie eine Erweckung stattgefunden hat, in deren Auswirkung vielleicht einige Hundert Menschen sich in der Erwartung der nahe bevorstehenden großen Entscheidung zu­ sammengeschlossen haben. Erst recht ist für Korinth eine stattliche Anzahl zu vermuten. Denn in dieser Gemeinde gab es ja vier verschiedene Gruppen, Anhänger des Paulus, des Apollos, des Petrus und neben ihnen noch eine Christuspartei. Außerdem hören wir von starken sozialen Spannungen und Unterschieden. Die große Masse bestand aus kleinen Leuten, abhängigen Lohn­ arbeitern und Sklaven; aber vornehme, wohlhabende und gelehrte Leute haben nicht gefehlt (1. Kor. 1). Wenn wir annehmen müssen, daß das 16. Kap. des Römerbriefs in Wirklichkeit ein nach Ephesus gerichtetes Schriftstück ist, so ist die dortige Gemeinde so zahlreich gewesen, daß in Ermangelung eines genügend großen Versammlungsraumes verschiedene Hausgemeinden gebildet werden mußten. Je größer diese Christengemeinden wurden, um so mehr stellte sich das Be­ dürfnis nach einer gewissen äußeren Ordnung heraus. Von Anfang an mußten naturgemäß bestimmte Verrichtungen wie Festsetzung der gottes­ dienstlichen Versammlungen, Bereitstellung des geeigneten Raumes, Vor­ bereitung der Abenbmahlsfeier, Beschaffung der nötigen Mittel für Armenund Krankenpflege, Empfang und Beantwortung apostolischer Briefe, durch bestimmte Persönlichkeiten, die sich dauernd damit befaßten, angcordnet und ausgeführt werden. Nach den Andeutungen der paulinischen Briefe dürfen wir annehmen, daß solche Aufgaben häufig den Erstbekehrten, wenn sie nur einigermaßen dazu geeignet waren, zufielen, oder auch einem ange­ sehenen Mitgliede, das selbst den Raum für die Gemeindefeier zur Ver­ fügung stellen konnte. Paulus rechnet derartige Dienstleistungen mit zu fccti „Gnadengaben", d. h. zu den Auswirkungen des Geistes Christi, der die ganze Gemeinde erfüllt, und ermahnt wiederholt die Gemeinden, solche Männer um ihres Dienstes willen (der unscheinbar, aber doch unentbehrlich ist) in Ehren zu halten und ihnen folgsam 311 sein. Erst allmählich stellt sich das Bedürfnis heraus, durch apostolische Ernennung oder Gemeinde wähl die bestgeeigneten Persönlichkeiten für diese Ehrenämter zu gewinnen Im Philipperbrief (1,1) zuerst finden sich hierfür die festen Bezeichnungen „Episkopen" und „Diakonen", etwa so viel wie Gemeindevorsteher un Gemeindehelfer. 2. Die erbauliche Versorgung der Gemeinde in den Gottesdiensten lieg zu dieser Zeit noch ganz in den Händen frei handelnder Geistesträger denen die entsprechenden Gnadengaben der Predigt und der Lehre, der „Weio sagung" und der Dichtung zuteil geworden sind. Unter ihnen sind am bc deutsamsten die „Propheten", und die „Lebrer", die sich offensichtlich so unter

§4

Die paulinischen Gemeinden und ihr Christentum

19

scheiden, daß die Lehrer eine an Einsicht und sittlichen Willen sich wendende Belehrung und Ermahnung vortragen, die man auS ihrem eigenen ver­ ständigen Nachdenken ableitet, während die Propheten, unmittelbar von der Kraft Gottes getrieben, baS aussprechen, was der Geist ihnen eingibt. Ihr „Weissagen" brauchte sich dabei durchaus nicht auf die Zukunft zu be­ ziehen, sondern enthielt jede Form von geistlicher Erbauung der Gemeinde. Von ihnen unterscheiden sich die „Zungenrebner" dadurch, baß sie in besinnungsloser Verzückung unartikulierte Laute stammeln, die als Engel­ sprache angestaunt wurden, aber völlig unverständlich blieben, wenn nicht ein vom Geist Berührter sie auSzulegen imstande war. Deshalb urteilt PauluS: „Der Zungenredner erbaut nur sich selbst, der Prophet erbaut die Gemeinde" (1. Kor. 14,4). Wir dürfen annehmen, daß die Aufgabe deS Lehrers auS dem jüdischen SynagogengotteSbienste herübergenommen ist, während die Tätigkeit der Propheten und gar baS Jungenreden auf Einflüsse und Vorbilder griechischer Mysterienreligionen zurückgeht. Nach der höchst anschaulichen Schilderung von 1. Kor. 14 müssen diese Gottesdienste, die durch bas unmittelbare Wirken der GeisteSttäger geprägt wurden, im hohen Maße anregend, oft aber auch aufregend und von der Gefahr der Zuchtlosigkeit bedroht gewesen sein. Daher die Anordnung, eS dürfe immer nur Einer zur Zeit reden, und ein „Zungenrebner" nur, wenn auch ein Aus­ leger da sei. Für diese äußere Zucht und Ordnung zu sorgen, war die gewiesene Aufgabe der Gemeindevorsteher. Erst sehr viel später, als der Geist im Er­ löschen war, fiel den Bischöfen die Aufgabe zu, durch Ansprache und Predigt für die Erbauung der Gemeinde zu sorgen. Die Aufnahme in die Gemeinde erfolgt durch die Taufe auf den Namen Jesu. Von ihr sagt Paulus daS denkbar Größte. Sie bedeutet Abwaschung (Reinigung von Sünden), Heiligung, Gerechtmachung; alles dies durch die Kraft des göttlichen Geistes, der mit der Anrufung deS Namens Jesu den Täufling überkommt (1. Kor. 6,11). Sie bedeutet eine wunderbare, über­ natürliche, nicht bloß symbolhaft vorgestellte, sondern wesentlich erfahrene Einigung mit JesuS Christus, ein „Mit-ihm-sterben und -auferstehen", so daß der alte, sündige, dem Tode verfallene Mensch stirbt und ein neuer, reiner, dem Leben Geweihter ausersteht (Röm. 6). Von ihm heißt eS bann: „Ist Jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; bas Alte ist ver­ gangen, siehe, eS ist alles neu geworden" (2. Kor. 5,17). Diese Taufe kann naturgemäß nur Sache der Erwachsenen sein. Daß die paulinischen Gemeinden keine Kindertaufe kennen, wird 1. Kor. 7,14 aus­ drücklich bezeugt: Die Kinder christlicher Eltern sind heilig und rein durch ihre Gemeinschaft mit den geheiligten Eltem. In der korinthischen Gemeinde freilich hängen sich an die heilige Handlung abergläubische Vorstellungen und Bräuche: die Getauften sind mit dem Täufer durch ein mystisches Band verbunden (1. Kor. 1,13 ff.); die Taufe ist eine unentbehrliche, magisch wir2*

20

Die apostolische Zeit

kenbe Reinigung/ sie kann und muß nötigenfalls zugunsten vorzeitig Ver­ storbener an Lebenden vollzogen werden (1. Kor. 15,29). Hier hat offenbar der Geist hellenistischer Mysterienreligionen bedenklich abgefärbt. Ähnlich ist zu urteilen über den von Paulus (1. Kor. 11) scharf gerügten

Mißbrauch deS Herrenmahles zu zuchtloser, die hellige Scheu und die brüderliche Liebe verletzender, roher Schlemmerei. Die Unart heidnischer Opfer­ gelage und Myfierienfeste wird hier ungeläutert in die Feier deS Herrenmahles übertragen: für den Apostel ein dringlicher Anlaß, seiner Gemeinde den un­ erbittlichen Gerichtssinn der heiligen Feier, in der Christi blutiger Opfertod immer aufs neue verkündet wird, mit höchstem Ernst vor die Seele zu stellen. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit, daß die heilige Feier in Form einer wirklichen Mahlzeit, offenbar der abendlichen Hauptmahlzeit, begangen wurde; auch sollte sie gleichzeitig eine feine und vornehme Art brüderlicher LiebeStätigkeit darstellen, indem die Wohlhabenden für die gemeinsame Mahlzeit zum Ausgleich mit den Bedürftigen reichliche Vorräte mitbrachten. Von dem Wortgottesdienst (f. o.) war diese Feier offenbar völlig getrennt. 3. Der Mißbrauch des Abendmahls bedeutet ebenso eine Mißachtung deS Herrn wie der Gemeinde, ist sie doch der Leib deS Herrn, ein Leib, an dem alle Glieder gleiche Würde und Ehre haben; denn als unentbehrliche Glieder dieses LeibeS Christi und nicht in ihrer Einzelstellung und angemaßten Eitelkeit sind sie zu betrachten (1. Kor. 12). Deshalb ist eS für Paulus auch ein Frevel, wenn jemand durch Gruppen und Parteien die Einheit der Ge­ meinde stören wollte. DaS wäre nichts anderes, als wenn man den Leib Christi zerteüen wollte (1. Kor. 1,13). Auch weiß Paulus nichts von einer Theologie, die zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche unterscheidet und diesen Unterschied dazu mißbraucht, um die auS der sichtbaren Gemeinschaft AuSgestoßenen, seien sie Juden oder Griechen, damit zu trösten, daß sie ja der unsichtbaren Kirche, dem ewigen GotteSreich, unabtrennbar angehörten. Er hat auch nie daran gedacht, etwa die Sklaven in einer besonderen Ge­ meinde zu sammeln. Er rät ihnen freilich ab, nach Freilassung zu streben (1. Kor. 7,20 ff.). Die christliche Freiheit soll nicht mit Sklavenemanzipation verwechselt werden. Sie ist etwas unvergleichlich Größeres: die getauften Sklaven sind ja „Freigelassene Christi". DaS sind sie durch die Taufe und ihre Zugehörigkeit zu der Einen Gemeinde Christi. Än der Gemeinde der auf Christum Getauften und mit seiner Gestalt Überkleideten gibt eS nicht mehr den Wertmaßstab: Jude oder Grieche, Sklave oder Freier, Mann oder Weib. In JesuS Christus sind sie alle eins geworden (Gal. 3,28). Diese Gemeinde hat ein sehr einfaches, aber unendlich gehaltreiches Be­ kenntnis gehabt: Niemand kann Jesum einen Herrn heißen außer in der Kraft deS heiligen Geistes (1. Kor. 12,3). „Jesus der Herr" — ist Pauli Bekenntnis. Christ ist, wer den Namen des Herrn Jesus anruft (1. Kor. 1,2). Paulus hat also nicht etwa, wie heute bisweilen behauptet wird, den jüdischen

§4

Die paulinischen Gemeinden und ihr Christentum

21

Messiastitel für den Propheten von Nazareth aufgebracht. DaS Gegenteil ist richtig: er hat diesen Messiasnamen vorgefunden, als die den Jüngern und der Urgemeinde geläufige Bezeichnung. In seinem eigenen Gebrauch aber erscheint das Wort „Christos", die griechische Übersetzung für das he­ bräische „Messias" (Gesalbter), kaum mehr als Titel und Würdename, sondern ist durchgängig zum Eigennamen geworden. Unsere Gewohnheit, von JesuS Christus statt von JesuS, dem Christus, zu sprechen, ist von PauluS begründet. Als Titel und Würdenamen gebraucht er durchgehend den seinen griechischen Zeitgenossen aus dem Kaiserkult geläufigen Ausdruck: KyrioS, Dominus, der Herr. Klassische Beweisstelle: Phil. 2,9—11: „Deshalb hat ihn Gott um so mehr erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, damit beim Namen Jesu sich alle Knie beugen derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erde sind, und jede Zunge bekenne: Herr ist Jesus Christus, zur Ehre Gottes, des Vaters". Diese Stelle (93. 6 ff.) zeigt deutlich, daß Paulus den Herm Christus als ein übermenschliches, vorzeitliches, mit göttlicher Herrlichkeit ausgestattetes Wesen verehrt hat. „Er ist auf Erden kommen arm, daß er unser sich erbarm. In unser armes Fleisch und Blut, verkleidet sich das ewige Gut." Wenn wir ferner 1. Kor. 8,6 lesen: „Wir haben Einen Herrn Jesus Christus, durch den alle Dinge geworden sind und wir durch ihn", oder Röm. 8,32: „Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht verschont hat", oder 1. Kor. 15,27: „Gott hat ihm (nämlich Christus) alles unter seine Füße getan", so sehen wir deutlich, daß seine Glaubensgedanken über Christus in die Richtung des Prologs zum Johannesveangclium und der Theologie des Athanasius führen. Aber doch nur in die Richtung! Den Namen „Gott" auf Christus anzu­ wenden, hat Paulus (ttotz der umstrittenen Auslegung von Römer 9,5) sich offensichtlich gescheut. Phil. 2,6 heißt es: „Er betrachtete es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein"; d. h. er wollte nicht die gleiche Würde­ stellung für sich erraffen; und 1. Kor. 15,28: „Zuletzt wird auch der Sohn sich dem unterordnen, der ihm alles untergeordnet hat, auf daß Gott sei alles in allem". Es scheint, daß Paulus seinen Glaubensgedanken über Christus am zutteffendsten bezeichnet habe mit dem Bilde des „zweiten Adam", des „himmlischen Menschen" (Röm. 5,12ff.; 1. Kor. 15,45ff.). Dazu stimmt dann bas lobpreisende Bekenntnis von Röm. 8,29: „Gott hat uns dazu bestimmt, daß wir gleich sein sollen dem Ebenbilde seines Sohnes, auf daß er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern". Dazu stimmt endlich, daß Paulus lebt und webt in der Erfahrung und im Gedanken der Christusmystik, wie er denn die Christen gern kurzweg bezeichnet als die „in Christus", d. b. als die Menschen, die in Christus ihr Leben und Wesen haben. Von einer Gottesmystik zu reden, wird ihm durch das von den Pro­ pheten des Alten Bundes überkommene Gefühl unseres Abstandes von dem Dreimalheiligen schlechterdings verwehrt.

22

Die apostolische Zeit

4. In den Kirchen der Reformation lebt Paulus mit gutem Grund weiter als der Schöpfer der Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben allein ohne Werke des Gesetzes, und damit auch als der Mann, der uns die Heils­ gewißheit des Glaubens geschenkt hat. Wenn wir uns dazu erinnern an Pauli Lehre von der Taufe (s. o.), so liegt der Gedanke nahe, er habe den getauften, mit dem Geiste Gottes ausgestatteten Christen als heilig und sündlos betrachtet — in dem Sinne, wie gewisse schwärmerische Sekten zu allen Zeiten ihre geisterfüllten Glieder für vollkommen heilig und der Sünde entnommen erklärt haben. Das ist in der Tat die logische Konsequenz der Lehre von der Taufe und der hiermit geschenkten Christusgemeinschaft. Aber schon im Blick auf seine eigene Person (Phil. 3,13) bekennt Paulus, daß er sich nicht für vollendet und am Ziel befindlich schätze, und 1. Kor. 9,26 beschreibt er das Christenleben als harten Kampf mit Fleisch und Blut; erst recht blieben die zahlreichen und schweren, an die Wurzeln des sittlichen Lebens rührenden Mängel aller seiner Gemeinden ihm nicht unbekannt und wurden von ihm wahrlich nicht leicht genommen. Er rechnet sie (2. Kor. 11,28) zu den schwersten Belastungen seines apostolischen Amtes. Man hat mit Recht gesagt, seine Briefe zerfielen, zum Teil ganz offen­ sichtlich, in zwei Hauptteile, einen dogmatischen, der die uns geschenkte Erlösung und Rechtfertigung rühmt, und einen ethischen, der die uns auf­ getragene Selbsterziehung und Heiligung fordert. Auch finden wir überall in den Briefen des Paulus den Imperativ unmittelbar neben dem In­ dikativ: „Wenn wir durch den Geist das Leben haben, so lasset uns auch im Geiste wandeln" Gal. 5,25. „Wir haben ein Osterlamm, Christus, für uns geopfert; darum lasset uns Ostern halten, nicht im Sauerteig der Bos­ heit, sondern im Süßteig der Lauterkeit!" 1. Kor. 5, 8. Mag auch eine zu­ treffende theologische Formulierung für dieses Nebeneinander bei Paulus fehlen (welcher Theologe will sich vermessen, sie zu finden!), der Tatbestand liegt fest und wird auch unübertrefflich klar beschrieben: die unentbehrliche Dialektik nämlich, die lebensnotwendige Spannung zwischen der göttlichen Gabe und der menschlichen Aufgabe, zwischen dem Glauben und der Hoff­ nung, zwischen dem Haben und dem Sollen; handelt es sich doch nicht um einen Besitz, auf dem wir träge ausruhen dürfen, sondern um ein Geschenk, das immer neu zu erwerben ist, das uns nicht zu falscher Sicherheit verleiten darf, sondern uns in das Bewußtsein höchster Verantwortung stellt. Es ist also nicht etwa ein abzustoßender jüdischer Rest, sondern unveräußerliche christliche Substanz, wenn Paulus selber im Blick auf die letzte Verant­ wortung lebt, die er beim Endgericht vor dem Richterstuhl Christi abzulegen hat (2. Kor. 5,10), und wenn er immer wieder seine Gemeinden durch den Ausblick auf diese letzte Verantwortung aus träger Sicherheit aufschreckt und zu höchster Kraftanstrengung anspornt. Die berühmte lutherische Formel „Gerecht und Sünder zugleich" findet sich freilich bei Paulus nicht, aber die

§4

Die paulinischen Gemeinden und ihr Christentum

23

Sache ist hier gegeben. Diese Antinomie entspricht auch dem tiefsten Gehalt der Botschaft Jesu, zu der nicht nur die Seligpreisung der Armen gehört, sondern auch der Ausblick auf den jüngsten Tag, an dem der ewige Richter die Böcke von den Schafen scheidet (Mt. 25). Ebensowenig ist es ein jüdisches Erbteil, wenn Paulus das Evangelium Jesu als die Botschaft von Sünde und Gnade ausprägt. Damit bringt er die Predigt Jesu, die mit dem Bußruf beginnt und im Gleichnis von dem verlorenen Sohn ihre Höhe findet, auf eine theologische Formulierung, deren Gehalt so unjüdisch ist, daß er heute wie damals vom Judentum abgelehnt wird. (Jüdische Gelehrte sind bis heute immer wieder bereit, Jesus als großen Lehrer gelten zu lassen, während ihnen Paulus fremd und ärgerlich bleibt.) Die Lehre von der freien, dem Sünder umsonst geschenkten Gnade ist so wenig jüdisch, daß noch Markion um ihretwillen das ganze Alte Testa­ ment meinte verwerfen zu müssen. Und wenn Paulus mit den Symbolen von Opfer, Blussühne und Loskauf das Geheimnis der Erlösung durch Christus seinen Lesern verdeutlicht, so entsprechen auch diese Bilder mindestens ebensosehr dem Gedankenkreis und der Übung heidnischer Religiosität als

dem Judentum, das sich immer mehr auf das Gesetz und die menschliche Leistung versteifte. Paulus läßt aber keinen Zweifel daran, daß dieses Opfer Christi nicht so zu verstehen ist, als sei dadurch der zornige, unbarmherzige, bloß streng gerechte Gott umgestimmt und zur Versöhnung mit dem Menschen genötigt. Er lehrt im Gegenteil dieses Opfer als einen ewigen Heils­ ratschluß Gottes und verkündet die frohe Botschaft: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst" (2. Kor. 5,19). Hinter seinen theo­ logischen Formulierungen leuchtet unverkennbar das Gnadenantlitz des Vaters Jesu Christi. 5. Wenn endlich Lagarde gegen Paulus den Vorwurf erhebt, er habe durch die Betonung der Heilstatsache von Tod und Auferstehung Jesu „das jüdische Prinzip" aufgebracht, „einmal Geschehenes statt des immer von neuem Geschehenden, Vergangenes statt des Gegenwärtigen als Objekt religiösen Gefühls anzusehen", so ist dazu folgendes zu sagen: Die Theologie des Paulus ist freilich nicht geschichtslose Mystik, wie man sie heute vielfach liebt und lobt, sondern beruft sich auf eine geschichtliche Offenbarung Gottes. Geschichtliche Tatsache ist aber, daß die Verkündigung des Paulus von Tod und Auferstehung Christi eben deshalb den ähnlich klingenden Kult­ legenden der Mysterienreligionen überlegen war, weil hier nicht von einer Erdichtung menschlicher Phantasie, sondern von einer in die Geschichte ein­ gegangenen göttlichen Wirklichkeit die Rede ist. 2lber deshalb ist für Paulus die Religion keineswegs ein Bericht von vergangenem Geschehen, sondern ein Zeugnis von gegenwärtig wirksamer Macht, von der Macht nämlich des Geistes Christi, der die Gemeinde leitet. Taufe, Abendmahl und Gottes­ dienst sind von diesem Geist erfüllt. Das ganze Gemeinschaftsleben wird durch

24

Die apostolische Zeit

ihn gestaltet; und unverkennbar ist eS der echte Geist des Meisters, der hier am Werke ist. Von den hellenistischen Mysterienreligionen her drohte ein Geist deS Taumels, der zügellose Verzückung an Stelle heiliger Zucht setzte, die Gemeinden zu überfluten. Diese Gefahr hat der Apostel klar erkannt und mit Aufbietung aller Kraft bekämpft. Für ihn ist der heilige Geist nicht ekstatisches Hochgefühl, daS man wie süßen Wein schlürft oder wie sinnliche Leidenschaft genießt, sondern die Wunder wirkende Kraft, die den Menschen befähigt, sich in die Gesamtheit einzuordnen und den andern, den Schwachen und Geringen voran, in unermüdlicher Liebe zu dienen. Das berühmte Hohe­ lied von 1. Kor. 13, das seither immer als bas Höchste gegolten hat, was je ein menschlicher Griffel von der Liebe zu schreiben vermochte, feiert die stille, unermüdliche, unauffällige, selbstverleugnenbe Hingabe als den „könig­ lichen Weg" der Geistesgaben, ganz nach dem Vorbild beS Passionswortes Jesu: „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, baß er sich dienen lasse, sondern baß er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für viele" (Mk. 10, 45). Wenn Paulus in solchen Lehren die Verkündigung beS Meisters sinngetreu wiederholte, bisweilen mit wörtlichen Anklängen an die Bergpredigt (1. Kor. 4,12; Röm. 12,14), so folgt er auch in seinem Leben dem Passionsweg des Meisters. Wer die Aufzählung seiner Leiden und Schicksale (2. Kor. 11,16 ff.) liest, die gerade in ihrer sachlichen Knappheit so erschütternd wirkt, der begreift, baß er wohl den Galatern schreiben durfte (6,17), er trage die Malzeichen (Stigmata) deS Herrn Jesus an seinem Leibe, und den Kolossern (1,24), er erstatte an seinem Fleische, was noch mangele an den Trübsalen Christi. Wie sehr der Geist Christi in seinem Leiden neue Gestalt gewonnen hat, dafür ist daS ergreifendste Zeugnis der zwefle Brief nach Korinth. Nicht nur die Hymnen Kap. 4,7—18; 6,4—10, die mit der Sprachkraft eines Dichters den Gegensatz zwischen der unscheinbaren Gestalt des aufgeopferten LeibeS und der unbesieglichen Kraft der glaubenden Seele ergreifend schildern, sondern vor allem auch der knappe, sachliche Bericht über daS nichterhörte Gebet (2. Kor. 12,7—10). Die schwere Krankheit, an der Paulus litt, deren Belastung er bei seinem Missionswerk mit täglicher und stündlicher äußerster Anstrengung zu überwinden hatte, wurde für sein natürlich-menschliches Empfinden dadurch so unerträglich bitter, daß sie nach der Volksmeinung als Angriff eines Satansengels (eines bösen Dämons) galt. Trotzdem beschieb er sich in sein Schicksal, von dieser Last nicht erlöst zu werben, und sand aus bitterster Erfahrung den wunderbaren Satz, der seither ungezählte Men­ schen getröstet und aufgerichtet hat: „Laß Dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig". In des Apostels Gebet und der scheinbaren Nichterhörung wiederholt sich die Erfahrung des Meisters im Garten von Gethsemane. Aus diesem Geiste Jesu und seines größten Apostels ist auch die KreuzeStheologie des deutschen Reformators geboren.

§ 5

Ausbreitung u. innere Entwicklung der Kirche im römischen Weltreich

25

Die alte Kirche I. Sie Entstehung der altkatholischen Kirche. §5. Die Ausbreitung und die innere Entwicklung der Kirche im römischen Weltreich (etwa 70—140).

1. In der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts beginnt die erste Ge­ neration der Kirche langsam zu verschwinden. Die Apostel, die JesuS selbst gesehen und zuerst seine Botschaft verkündigt hatten, sterben einer nach dem anderen. Aber die Ausbreitung des Christentums kommt darüber nicht zum Stillstand, sondern setzt sich kräftig fort. Die alte Kirche war Missionökirche in einem schlechthin nicht zu über­ bietenden Sinn und Ausmaß. Sie hat wirklich im Lauf von dreihundert Jahren die Welt erobert; denn das römische Reich war damals die Welt. Und sie hat baS getan unter keineswegs günstigen Umständen, ausgehend vom kleinen, verachteten und gehaßten Judenvolk, im Wettbewerb mit unge­ zählten alten und neuen Religionen, Kulten und Philosophien, die durchaus nicht abgestorben waren, sondern auch ihrerseits erfolgreich Mission trieben, gegen den politischen Druck der Regierung und der öffentlichen Meinung, unter ständig erneuerten Verfolgungen durch Obrigkeit und Pöbel, schließ­ lich gegen wahre AuSrottungSkriege der gesamten Staatsgewalt, mit der die Kulturmächte im Bunde standen. Die Kirche hat sich über dem allen nicht bloß behauptet, sondern sie ist ständig gewachsen und hat so schließlich gesiegt. Zunächst gewinnt die Kirche besonders in den Städten ihre Anhänger. Ähnlich wie in der Reformationszeit kommen hier mancherlei religiöse Be­ wegungen und Anregungen miteinander in Berührung und Austausch und wecken eine aufgeschlossene Bereitschaft, Neues zu hören und zu glauben. Im Westen ragt vor allem die Gemeinde der reichen Welthauptstadt Rom hervor und wird für ihre Hilfsbereitschaft von anderen Gemeinden gerühmt. Aber das Schwergewicht des Christentums liegt doch noch ganz im Osten, besonders in den kleinasiatischen und syrischen Gebieten (Antiochien). ES gibt jetzt keinen besonderen Stand von Missionaren mehr, die in plan­ mäßiger Arbeit, wie eS Paulus getan, für die Kirche werben. Sie breitet sich von selbst aus, weil jedes ihrer Glieder mit ganzem Herzen bazugehört und von der Wahrheit der christlichen Botschaft durchdrungen ist. Der feste Zu­ sammenhalt der kleinen christlichen Gemeinschaften gibt dem Einzelnen einen starken Halt und macht die Umwelt auf den Ernst, die Freudigkeit und Entschlossenheit ihres Lebens aufmerksam. Besondere Bedeutung haben natürlich die geistig hervorragenden, führenden Persönlichkeiten. ES gibt

26

Die alte Kirche

noch keine gleichmäßigen, ausgeprägten Formen der Kirchenverfassung. Aber überall treffen wir einen Kreis von besonders verantwortlichen Männern, Älteste, Aufseher und Diener der Gemeinde, die den Gottesdienst leiten, die

Neulinge unterweisen und für die Ordnung des Ganzen Sorge tragen. 2. Für den Kultus haben sich schon feste Formen gebildet, die Grundzüge einer — landschaftlich freilich noch verschiedenen — Liturgie. Die Forderung, sie nur durch bestimmte, dafür verordnete Persönlichkeiten ausüben zu lassen, begegnet schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts. Aber die Bezeichnung „Priester" kommt erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts auf. Sie hängt wohl mit der Auffassung des Abendmahls als eines „Opfers" zusammen. Der christliche Sonntagsgottesdienst wird von Justin um die Mitte des 2. Jahrhunderts den Heiden folgendermaßen geschildert: „An dem nach der Sonne benannten Tag wird eine Versammlung aller in den Städten oder auf dem Lande lebenden Christen gehalten. Und es werden die Erinnerungen der Apostel oder die Schriften der Propheten in Abschnitten vorgelesen. Wenn der Vorleser ge­ endet hat, so hält der Vorsteher eine Ansprache, durch welche er zur Nachahmung dieser Vorbilder aufruft und stärkt. Dann erheben wir uns alle gemeinsam und beten. Und nachdem wir das Gebet beendigt haben, wird Brot und Wein und Wasser gebracht. Und der Vorsteher spricht darüber Gebet und Segen, wie er vermag (d.h.„frei"), und die Gemeinde stimmt mit Amen ein. Und bei der Verteilung und dem Genuß der gesegneten Gaben erhält jeder sein Teil, den Abwesenden wird es durch die Diener zugesandt. Die Wohlhabenden und wer sonst geneigt ist, geben freiwillig, soviel jeder will. Die Sammlung wird dem Vorsteher übergeben, und er unterstützt damit Witwen und Waisen, Kranke oder aus anderer Ursache Not­ leidende, Gefangene und Gäste."

3. Vielfach erweist es sich in den jungen christlichen Gemeinden als nötig, in religiöser und sittlicher Hinsicht noch den ersten Grund zu legen und mit einer bescheidenen Erziehungsarbeit im Kleinen zu beginnen. Die Juden­ christen, die in den ersten Gemeinden auch außerhalb Palästinas eine große Rolle gespielt haben, treten jetzt zurück, besonders seit der Zerstörung Jeru­ salems im Jahre 70. Den neugewonnenen Heiden müssen der Monotheismus, die strenge Auffassung der Ehe und viele andere Dinge, die den Juden selbstver­ ständlich waren, erst gelehrt werden; und dazu braucht man feste Vorschriften, Regeln und Überlieferungen. Man schafft sie sich z. T. selbst, z. T. in An­ lehnung an ältere jüdische Katechismen, und man beruft sich vor allem auf einzelne Aussprüche Jesu, die Lehren der Apostel und auf das Alte Testament. Als Beispiel einer christlichen Gemeindeordnung und Lebensregel sei die sog. „Didache" genannt, die sich als „Lehre des Herrn durch die zwölf Apostel an die Heiden" bezeichnet. Hier heißt es u. a. (Kap. 4—6): „Du sollst alle Heuchelei hassen und alles, was dem Herrn nicht gefällig ist. Du sollst die Gebote des Herrn nicht fahren lassen, sondern sollst bewahren, was du empfangen hast, ohne etwas hinzu­ zufügen oder wegzunehmen. In der Gemeinde sollst du deine Sünden bekennen und sollst nicht mit bösem Gewissen an dein Gebet herantteten. Dies ist der Weg

§6

Die Gnosis und Markion

27

LeS Lebens. — Der Weg des TobeS aber ist dieser: allem zuvor ist er schlecht und voll FlucheS: Morde, Ehebrüche, Begierden, Hurereien, Diebstähle, Abgöttereien, Zaubereien, Giftmischereien, Räubereien, falsche Zeugnisse, Heucheleien, Doppel­ sinnigkeit, List, Hochmut, Bosheit, Frechheit, Habsucht, schändliche Reben, Eifer­ sucht, Dreistigkeit, Stolz, Prahlerei, Großtuerei. Auf ihm gehen die Verfolger deS Guten, Hasser der Wahrheit, Freunde der Lüge, die, die den Lohn der Gerechtigkeit nicht kennen, die an Gutes und an gerechtes Gericht sich nicht halten, die da wachen nicht zum Guten, sondern zum Bösen; von denen Milde und Geduld ferne sind, die Nichtiges lieben, nach Lohn jagen, sich deS Armen nicht erbarmen, über den Bedrückten nicht Leid tragen, ihren Schöpfer nicht erkennen, Kindesmörder, Ver­ nichter des Gebildes Gottes im Mutterleibe, den Bedürftigen abweisend, den Bedrückten plagend, Fürsprecher der Reichen, unbarmherzige Richter der Armen, mit allen Sünden beschwert. Mögt ihr, Kinder, vor allen diesen Menschen bewahrt bleiben. — Sieh zu, daß niemand dich von diesem Weg der Lehre abführt, indem er dich fernab von Gott lehrt. Denn wenn du daS ganze Joch deS Herrn tragen kannst, dann wirst du vollkommen fein. Kannst du das aber nicht, dann tu das, waS du kannst. BetteffS der Speise aber trage, was du kannst. Doch vor dem Götzenopferfleisch hüte dich sehr; denn eS ist ein Dienst von toten Göttern." Über dem Einschärfen solcher Regeln gewinnt das Christentum vielfach wieder ein recht gesetzliches Aussehen (vgl. dagegen u. S. 30). Doch geht die ursprüngliche Botschaft vom Gottesreich und der Wiederkunft Christi darüber nicht verloren. Die Gewißheit, im Bekenntnis seines Namens das Heil zu besitzen, bleibt lebendig, auch wenn das erwartete Ende zeitlich immer weiter hinausgeschoben werden muß (vgl. u. S. 33). § 6. Die Gefahr einer fälschenden Umdeutung des Christentums: die Gnosis und Markion.

Die Kirche war mit ihrer Mission nicht einfach ins Leere gestoßen. Überall

kamen ihr Vorstellungen und Hoffnungen entgegen, die sich mit ihrer Heilands­ botschaft, ihrem Erlösungs- und Auferstehungsglauben berührten (s. o. § 2,5). Darum war es einerseits leicht möglich, mit ihrer Verkündigung Gehör zu finden und sich verständlich zu machen. Aber andererseits drohte mit dem Eindringen ftemder Vorstellungen auch die Verweltlichung und eine religiöse Überfremdung.

1. Der entschiedenste Versuch, daS Christentum im Sinn der hellenistischen Welt umzuformen, ging von den sogenannten Gnostikern aus. Das grie­ chische Wort „Gnosis" heißt „Erkenntnis" und wird im zweiten Jahrhundert ganz allgemein zur Bezeichnung der christlichen Offenbarung gebraucht. Heute nennt man aber „Gnostiker" eine theologische Richtung und Bewegung, deren besondere Schulen und Gemeinschaften z. T. unter sich recht verschieden sind, aber im Laufe des zweiten Jahrhunderts immer entschiedener von der Großkirche abgelehnt und aus ihr herausgedrängt werden. Die Gnostiker suhlen sich in besonderer Weise mit „Erkenntnis" begabt. Das Christentum

28

Die alte Kirche

genügt ihnen nicht in der schlichten, sittlichen und jedermann verständlichen Form der Heilspredigt. Sie suchen darin, ähnlich wie in neuerer Zeit die

Anthroposophen, eine Erkenntnis höherer Welten, die freilich nur dem Aus­ erwählten zuteil wird. Damit heben sie sich mit aristokratischem Stolz über die Masse der bloß „Gläubigen" empor und wissen sich auch von den engen sittlichen Vorschriften befreit, die diese haben. Manche Gnostiker setzen einen Stolz darein, innerhalb der Kirche ein heidnisches Leben zu führen; sie fühlen sich als Übermenschen, die weiter sehen als die schlichten Gemeindechristen.

Während diese sich in einem harten Kampf mit ihrer Umwelt zu behaupten suchen und damit das Beste für den Sieg des Christentums leisten, schwelgen die Gnostiker in wunderbaren Geheimnissen, die die „natürlichen Menschen" nicht zu verstehen brauchen (vgl. dagegen schon 1. Kor. 14), und wissen sich ihres Gottes und ihres besonderen Lohnes im Jenseits auf alle Fälle gewiß. In ihren höheren Lehren lehnen sich die Gnostiker vielfach an die Begriffe und Methoden der antiken, griechischen Philosophie an. Aber sie selbst sind keine Griechen, sondern stammen sämtlich aus dem vorderasiatisch-syrischen Völkergemisch des römischen Ostens. Auch ihre Auffassung des Christen­ tums ist durchaus nicht griechisch im Sinne der großen Denker aus der klassi­ schen Zeit. Eine entschiedene Mißachtung der ganzen diesseitigen Welt, des Leiblichen und Natürlichen überhaupt, ist allen Gnostikern gemeinsam. Heute empfindet man es vielfach als einen Mangel des Christentums, daß sein Gott als Herr und Schöpfer über unserer Welt und über unserem Leben steht, statt selbst dazuzugehören und mit ihren Kräften zu verschmelzen. Die Gnostiker sahen umgekehrt in der Tatsache der Schöpfung schon eine unwürdige Bindung Gottes an die Sinnlichkeit und Diesseitigkeit unserer Erde. Der wahre Gott, den Jesus verkündigt haben sollte, hat ihrer Mei­ nung nach nichts mit dieser erbärmlichen „Welt der Frösche und Läuse" zu tun. Vielmehr geht die Entstehung der Welt auf eine böse, gottfeindliche Macht zurück, oder sie ist durch einen großen Sündenfall der Engelwelt vor unserer

Zeit und zu unserem Unglück entstanden. Der Gnostiker sieht in ihr ein Jammertal, aus dem er sich zurücksehnt, und empfindet seinen eigenen Leib nur als ein „Gefängnis". Der Weltschmerz und die Erlösungssehnsucht des Gnostikers kommt z. B. im Naassenerhymnus zu ergreifendem dichterischen Ausdruck: Die Seele, heißt es hier, ist ein zwiespältiges Geschöpf, aus göttlichem Geist und niederem Chaoö zu­ gleich gebildet. „Und sie gleicht dem scheuen Wilde, / das gehetzt wird auf der Erde / von dem Tod, der seine Kräfte / unentwegt an ihr erprobet. / Ist sie heut im Reich des Lichtes, / morgen ist sie schon im Elend, / tief versenkt in Schmerz und Tränen — / der Freude folgt die Träne, / der Träne folgt der Richter, / dem Richter folgt der Tod — / und im Labyrinthe irrend / sucht vergebens sie den Aus­ weg. // Da sprach Jesus: Schau, o Vater, / auf dies heimgesuchte Wesen, / wie es fern von deinem Hauche / kummervoll auf Erden irret, / will entfliehn dem

§6

Die Gnosis und Markion

29

bittern ChaoS, / aber weiß nicht, wo der Aufstieg. / Ihm zum Heile sende, Vater, / mich, baß ich herniebersteige / mit den Siegeln in den Händen, / die Äonen all durchschreite, / die Mysterien all eröffne, / Götterwesen ihm entschleire / und beS Heilgen WegS Geheimnis — / Gnosis nenn ich'S — ihm verkünde."

Um den Abstand zwischen Gott und Welt so stark wie möglich zu betonen, schieben die Gnostiker eine ganze Stufenleiter von halb göttlichen, halb bösen Mittelwesen ein (vgl. 1. Tim. 1,4), die den unnahbar fernen höchsten Gott von der Erbe und den Menschen trennen. So gewinnt baö Christentum wieder ein einigermaßen polytheistisches Aussehen. Jesus ist ein vorzeit­ licher Ausfluß des göttlichen Urgeistes und geht darum auch niemals wirklich in unser Leben und unsere Geschichte ein. Er ist nicht geboren, sondern hat nur einen Scheinleib angenommen, ohne wahres Fleisch und Blut. Er gehört auch keinem bestimmten Volkstum an und ist seiner ganzen Natur nach nicht Träger irdischer, menschlicher Art. Er enthüllt auf der Erde lediglich seine göttlichen Offenbarungen und kehrt dann unberührt wieder in die himmlische Ferne zurück. Sein vermeintliches Leiden und Sterben am Kreuz war nur ein Schein. So wird die geschichtliche Persönlichkeit Jesu in einen phantastischen Mythos aufgelöst. Mer auch die Lehren, die ihm die Gnostiker zuschreiben, kümmern sich nicht mehr um das geschichtliche Dasein und die irdische Ver­ antwortung der Menschen. Der wirkliche JesuS hatte die Menschen mit der Botschaft vom kommenden Gericht und vom GotteSreich einst zur Umkehr und zu einem neuen Leben gerufen. 2n der Hoffnung auf diese Zukunft und im Gehorsam unter sein Wort hatte sich die christliche Gemeinde in dieser Welt zu treuem AuSharren und Dienen zusammengefunben. Der gnostische JesuS forderte jetzt dazu auf, diese Welt vielmehr zu verachten und im Glauben einfach hinter sich liegen zu lassen (vgl. schon Kol. 2,21 ff.; 1. Tim. 4,3 f.). Die eigentliche Not der Menschen soll nicht in ihrem Mangel an Gehorsam und Liebe bestehen, sondern darin, daß sie sich an diese Welt und insbesondere an ihre Sinnlichkeit verloren haben. Sie sollen durch die Gnosis lernen, baß es nur auf daS Innerliche, Geistige ihrer Person und ihres Glau­ bens ankommt. Damit ist bann der Weg frei gemacht, um sich im wirklichen Leben der menschlichen und kirchlichen Gemeinschaft, daS immer auch ein „äußerliches" ist, nach Belieben treiben zu lasien, anstatt eS in Zucht zu nehmen und feine Forderungen und Aufgaben gehorsam zu erfüllen. 2. Persönlich ragen manche Gnostiker durch Ernst, Bildung und Begabung hervor. Aber bei ihrer Grundeinstellung zu Erlösung und Welt mußten sie doch mit der ursprünglichen christlichen Verkündigung in einen unver­ söhnlichen Gegensatz geraten. Sie fühlen sich zwar auch als Jünger Jesu und der Apostel. Aber sie berufen sich dabei auf ihre eigenen, gefälschten Überlieferungen, die den neutestamentlichen Schriften widersprechen und als Geheimlehre für die Erwählten ausgegeben werden. Wo man neutesta-

30

Die alte Kirche

mentliche Worte festhält, deutet man sie um und schiebt ihnen mit Hilfe der willkürlichen „allegorischen" Auslegung einen oft ganz fremden Sinn unter. Eigene Wege ging hier nur der größte und bedeutendste Gnostiker, Markion, der auch sonst entschieden eine Sonderstellung einnimmt. Markion stammte aus dem nördlichen Kleinasien und war ursprünglich ein reicher Schiffsreeder gewesen. Gegen die Mitte des zweiten Jahrhunderts ließ er sich in Rom nieder, und hier kam es zwischen ihm und der Großkirche zum Bruch. Markion behauptete, die katholische Kirche hätte das neue Kleid der Lehre Jesu mit alten Lappen judaistischen Irrtums geflickt (Luk. 5, 36) und müsse von der Erstarrung in gesetzlichem Pharisäismus gereinigt und zu ihren Ursprüngen zurückgeführt werden. Markion erhob sich also mit dem Anspruch eines evangelischen Reformators, und dazu paßte es, daß er sich nicht etwa auf neue Offenbarungen ober geheime Überlieferungen berief. Vielmehr suchte er an die Überlieferung der Kirche selbst anzuknüpfen und die ursprüng­

liche Lehre Jesu und seines einzigen wahren Apostels Paulus wiederherzu­ stellen. In dem Lukasevangelium und in den Paülusbriefen (ohne die Pasto­ ralbriefe) glaubte er sie zu finden, aber nicht so, wie sie in der katholischen Kirche seiner Zeit gelesen wurden. Markion glaubte, daß die Texte von den Ju­ daisten in der Kirche völlig entstellt worden seien, und gewann ihren vermeint­ lich ursprünglichen Sinn dadurch zurück, daß er rücksichtslos alles als Fäl­ schung strich oder korrigierte, was seiner eigenen theologischen Überzeugung nicht

paßte. Im Einzelnen ging er bei der Herstellung seines Neuen Testaments vielfach sehr scharfsinnig und gewissenhaft vor. Aber er traf mit seinen will­ kürlichen Verbesserungen doch nur in den seltensten Fällen das Richtige. Denn entscheidend für seine Textkritik war die vorgefaßte und falsche Mei­ nung, daß Jesus als der Gesandte des fremden, der Welt unbekannten Gottes nichts mit dem Alten Testament und seinem Gott zu tun haben könnte. Im Gegensatz zu den übrigen Gnostikern kannte Markion neben dein Gott des Alten Testaments, der die Welt geschaffen haben soll, weitere Zwischenwesen nicht an. Er ließ auch das Alte Testament als Offenbarung des Judengottes unangetastet und glaubte an die Richtigkeit seiner irdischen Verheißungen. Die Christen kennen aber seiner Meinung nach einen anderen, höheren Gott und eine andere, überirdische Seligkeit, die Jesus verkündigt hat, und die dem Judengott völlig fremd geblieben sind. In diesem Sinne korrigierte Markion z. B. Eph. 3,9 das Wort vom „Geheimnis, das von Ewigkeit her in Gott verborgen war, der alles durch Christus geschaffen hat" in ein „Geheimnis, das dem Gott verborgen war, der alles — ge­ schaffen hat." Markion stellte seinen Gott und den Gott des Alten Testaments nicht bloß in einen kosmischen, sondern auch in einen sittlichen und religiösen Gegensatz, und gerade dieser Gesichtspunkt war für ihn wesentlich. Der Judengott fordert vom Menschen Gerechtigkeit; der Gott Jesu fordert von

§7

Der Montanismus

31

ihm überhaupt nichts, sondern läßt reine Güte und Nachsicht walten. Gerade dies glaubte Markion von Paulus gelernt zu haben. Alle Stellen, die bei Paulus Gottes Gerechtigkeit rühmen und das Gesetz heilig, recht und gut nennen, strich er als judaistischen Einschub. Hätte sich sein Neues Testament in der Kirche durchgesetzt, so wäre die ganze urchristliche Überlieferung völlig entstellt und uns gerade von Paulus nur ein phantastisches Zerrbild über­ liefert worden. Markion hatte nicht verstanden, daß Paulus mit seiner Kritik der Ge­ setzesfrömmigkeit nur die jüdische Selbstgerechtigkeit treffen wollte, die Gottes Forderung aus eigener Kraft erfüllen und das Heil sich selbst ver­ dienen möchte. Dadurch wurde das Judentum „pharisäisch", aber nicht durch den Ernst, mit dem es Gottes Forderung und Gesetz bejahte. Diese Seite hat auch Jesus nie bekämpft, sondern in der Bergpredigt vielmehr noch unterstrichen und Überboten. Und nur von hier aus versteht man die Ver­ gebung, die er brachte. Sie ist Begnadigung, die wie jede Begnadigung das Recht, das damit ausnahmsweise durchbrochen wird, nicht aufhebt, sondern es vielmehr gerade bestätigt. „Gesetz und Evangelium" lassen sich im Neuen Testament nicht auseinanderreißen. Darum konnten schon die altkirchlichen Gegner Markions den Nachweis führen, daß selbst das markionitische Testa­ ment bei aller Verstümmelung und Verfälschung immer noch gegen den markionitischen Irrtum und für das Recht des einen, alt- und neutestamentlichen Gottes zu zeugen vermag. Die markionitische Kirche breitete sich schnell durch das ganze Reich aus und trat überall mit den katholischen Gemeinden in einen scharfen Wett­ bewerb. Wenn sie dann doch zurückbleiben mußte und schließlich ganz aus­ starb, so hat das z. T. darin seinen Grund, daß ihr eine natürliche Vermehrung versagt war. Markion hatte von seinen Anhängern Askese gefordert und die Ehe und Fortpflanzung verboten, weil sie die Christen seiner Meinung nach nur von neuem an die verächtliche Welt des Judengottes geknüpft hätte.

§ 7. Die Gefahr einer fälschenden Reaktion der Montanismus.

in

der

Kirche:

Die Gnostiker hatten sich vielfach ganz in die heidnische Umwelt verloren und neue Spekulationen eingeführt, von denen das Urchristentum noch nichts wußte. Im Gegensatz dazu suchte der Montanismus die alten Ideale und Lebensformen noch einmal zu erwecken und ohne Rücksicht auf die ver­ änderte Zeitlage so entschieden wie möglich festzuhalten. 1. Um 170 trat in Phrygien in Kleinasien ein christlicher Prophet namens Montanus auf, um den sich ein Kreis von Prophetinnen scharte, und dieser verkündigte, daß das erwartete Weitende jetzt wirklich unmittelbar bevor­ stehe. Die Ankündigung erregte ungeheures Aufsehen und weckte den erkal-

32

Die alt« Kirche

teten Enthusiasmus in den Gemeinden zu neuem Leben: seltsames Zungen­ reden, Verzückungen, Weissagungen im Namen deS Geistes sanden statt. Gleichzeitig drängten die Anhänger der „neuen Prophetie" mit Ernst auf eine strenge, sittliche Lebensführung, verschärften die Fasten, verboten die zweite Ehe und verweigerten den reuigen Sündern unter den Christen die Vergebung: „Die Kirche kann die Sünden vergeben", lautet ein mon­ tanistischer Prophetenspruch, „aber ich will es nicht tun, damit die andern nicht auch sündigen". Als eine Art Erweckungsbewegung drang die „neue Prophette" bis in den äußersten Westen vor und belebte zunächst auch die katholischen Gemein­ den. Mit neuem Stolz fühlte man, daß das Christentum eine gegenwärtige Macht und nicht bloß eine heilige Erinnerung und Tradition bedeute: „Oder haben die jetzigen Taten etwa nicht die gleiche Kraft, mag das Alte immerhin ehrwürdiger sein?" „Die Leute mögen sich vorsehen, die die eine Kraft deS einen, heiligen Geistes je nach dem Zeitalter verschieden einschätzen! Vielmehr soll man gerade die neueren Krafttaten als die Erweise der letzten Zeit für größer achten nach der Verheißung, die eine überschwängliche Ausgießung der Gnade gegen daS Ende der Zeiten verheißt" (Apg. 2,17; Joel 3,1—5). Allmählich wurden die Montanisten aber doch zu einer besonderen Sekte gestempelt und auS der katholischen Gemeinschaft herausgedrängt. Be­ sonders ketzerisch erschien ihr Glaube, baß in den großen Propheten ihrer Be­ wegung eine neue Offenbarung aufgebrochcn sei, die über das Neue Testa­ ment hinausführe. Damit entfernten sie sich in der Tat von dem Neuen Testament und der einmaligen, abschließenden Bedeutung, die der Person Jesu für den Glauben zukommt. Sie beriefen sich zur Rechtfertigung ihres Standpunkts auf Joh. 14—16, da Jesus seinen Jüngern einen „Parakleten" (Fürsprecher; Luther: Tröster) für die Zukunft verheißt: diese Weissagung sollte sich in ihrem Propheten erfüllt haben. Ihre Gegner hatten aber ohne Zweifel Recht, wenn sie in dem Parakleten nur eine andere Bezeichnung des Geistes Jesu sahen, der der Kirche schon seit Pfingsten geschenkt war. 2. Wichtiger als der direkte Einfluß der montanistischen Bewegung wurden für die Zukunft der Kirche die Sätze, die zu seiner Abwehr festgelegt und ausgebildet wurden. Erstens steht es von jetzt an fest, daß der Sinn des heiligen Geistes vor allem darin besteht, daß er in der Kirche Glauben, Liebe und Zucht weckt und erhält. Besonderen Wirkungen verrückender und prophetischer Art steht man künftig mit Mißttauen gegenüber. Frauen, die in der mon­ tanistischen Prophetie eine große Rolle gespielt hatten, treten im katholischen Gottesdienst nicht mehr hervor. Zweitens lehnte es die katholische Kirche von nun an entschieden ab, eine streng askefische Lebensführung in der Art der Montanisten allen Christen zur Pflicht zu machen. Vielmehr betont« sie die Notwendigkeit einer geordneten Erziehung, die die Schwachen nicht über Gebühr belastet, und die auch den Gefallenen die Hilfe und Gemeinschaft

§8

Die Anfänge der katholischen Theologie und Kirche

33

nicht für immer entzieht (vgl. u. S. 36). Drittens rechnete man in der katho­ lischen Kirche nicht mehr mit einem unmittelbar bevorstehenden Weltende. Die Wiederkehr Christi, das Gericht über die Welt und das neue Gottesreich werden einmal am Ende der Zeiten kommen; wie lange es bis dahin noch dauern wird, läßt sich nicht sicher abschätzen. Das Urchristentum hatte die baldige Wiederkehr Christi mit Bestimmtheit erwartet; aber den Versuch, deren Zeitpunkt genau festzulegen und z. B. aus den Sternen oder aus der Bibel zu errechnen, hatte hier niemand gemacht. Insofern blieb die Kirche ihren Anfängen treu. Aber die Frage verliert jetzt überhaupt an Interesse und Dringlichkeit. Der Ernst des Gerichtes und des Todes, der einst jedem Christen drohend und verheißend vor der Seele stand, beginnt einem unbekümmerten Gefühl kirchlicher Geborgenheit zu weichen. Es droht mehr und mehr eine gewisse Bequemlichkeit und Sicherheit der Lebensführung aufzukommen, die mit der Aussicht auf das Ende auch die letzten Entscheidungen hinausschiebt und vertagt.

§8. Die Anfänge der katholischen Theologie und Kirche.

1. Die Anfänge der katholischen Theologie und Kirche sind in kämpferischer 'Abwehr fremder Einflüsie, erst der Juden und Heiden, dann besonders der Gnostiker zur Ausbildung gelangt. Gegen die gnostischen Christusmythen und die markionitische Verfälschung der neutestamentlichen Schriften sucht man zunächst den ursprünglichen Bestand der Überlieferung von Jesus festzuhalten. Man sammelt im zweiten Jahrhundert die Evangelien, die paulinischen Briefe und andere Urkunden, die allmählich zu unserem heutigen Neuen Testa­ ment zusammenwachsen. An manchen Stellen bleibt die Abgrenzung bis in das vierte Jahrhundert hinein unsicher. Vor allem die Offenbarung des Johannes ist unter den „kanonischen" Schriften umstritten. Andererseits wird eine Reihe von Stücken, die heute im Neuen Testament fehlen, viel­ fach noch hinzugezählt (die sog. neutestamentlichen Apokryphen). Im All­ gemeinen muß man urteilen, daß die Auswahl mit merkwürdig sicherem und richtigem Gefühl für das Echte und Ursprüngliche vollzogen worden ist. Es ist kaum anzunehmen, daß wichtige Urkunden der ältesten Zeit, die die neutestamentlichen Schriften ergänzen könnten, im zweiten Jahrhundert noch vorhanden waren und verworfen wurden. Die erhaltenen apokryphen Evangelien und Apostelakten bringen uns über Jesus und die Apostel jedenfalls kaum irgendeine Nachricht, die geschichtlich zuverlässig wäre. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts äußert sich der Kirchenhistoriker Eusebioö von Caesarea folgendermaßen über den neutestamentlichen Kanon: „An die Spitze muß die heilige Vierzahl der Evangelien gestellt werden. Diesen folgt die Apostel­ geschichte. Nach dieser sind die (13) Briefe des Paulus einzureihen, und an diese sind der sogenannte erste Brief des Johannes und ebenso der Brief des Petrus 3

Schuster, Kirchengerichte

34

Die alte Kirche

anzuschließen. Zu diesen kann man noch, wenn man es für richtig halt, die Offen­ barung des Johannes hinzufügen, über die verschiedene Meinungen bestehen ... Diese Schriften gehören zu den allgemein als echt anerkannten. Zu den bestrittenen, aber gleichwohl überall wohl bekannten gehört der Brief, der Jakobus, und der, der Jubas zugeschrieben wird, der zweite Petrusbrief und der sogenannte zweite und dritte Brief des Johannes, mögen diese nun von dem Evangelisten ober von einem anderen Mann des gleichen Namens herrühren. Unter die unechten soll man die „Taten des Paulus", den sogenannten Hirten, die Offenbarung des Petrus rechnen und außerdem den Brief, welcher den Namen des Barnabas trägt, und die sogenannte Lehre der Apostel (vgl. o. § 5,3). Auch kann, wie gesagt, wenn man will, die Offenbarung des Johannes hierher gesetzt werben, welche, wie ich sagte, einige verwerfen, andere aber zu den anerkannten Schriften rechnen."

Die heutige katholische Bibel geht in der Auswahl und im Text auf die lateinische Übersetzung des hl. Hieronymus (t 420) zurück, die sog. „Vul­

gata" (b. h. „die allgemein Verbreitete"). Über bas Neue Testament hinaus biente ein kurzes Glaubensbekenntnis zur Sicherung der kirchlichen Lehre. Es war vor allem für die Täuflinge be­ rechnet, die für die Kirche gewonnen waren. Hier sind die Hauptstücke des Glaubens, in dem man sie unterwiesen hatte, und zu dem sie sich bekennen sollten, stichwortartig zusammengestellt.. In Rom führte man das Bekenntnis irrtümlich bis auf die Apostel selbst zurück. Mit der entschiedenen Hervor­ hebung der Geburt und des wirklichen Leidens und Sterbens Jesu war dies „apostolische Glaubensbekenntnis" vor allem zur Abgrenzung gegen die Gnostiker geeignet, die beides leugneten (vgl. o. S. 27 ff.). Dieses alte Apostolikum oder „Romanum" läßt sich schon für die Mitte des zweiten Jahrhunderts nachweisen. Es ist kürzer als das heutige, sogenannte „jün­ gere Apostolikum", das in Luthers Katechismus steht und erst im 5. Jahrhundert formuliert worden ist. ES lautet: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater; und an Christus Jesus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, der geboren ist aus dem heiligen Geist und der Jungftau Maria, unter Pontius Pilatus gekreuzigt und begraben, am dritten Tage von den Toten auferstanden, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten des Vaters, von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten; und an einen heiligen Geist, eine heilige Kirche, Ver­ gebung der Sünden ( Taufe), Auferstehung des Fleisches. Amen."

Dieses Bekenntnis ist im Wesentlichen noch ohne Rücksicht auf die gnosti­ schen Irrlehren geprägt worden. Eine Ausnahme bildet nur das letzte Glied des dritten Artikels: eine Betonung der fleischlichen Auferstehung fehlt im Neuen Testament. Sie soll hier die gnostische Verachtung des Leiblichen und den stolzen Glauben an die Unvergänglichkeit des „Geistigen" im Menschen zurückweisen: nicht von Natur, sondern nur als Geschenk Gottes gibt es für uns ein ewiges Leben (Joh. 17,3). Unter den Theologen, die im engsten Anschluß an bas Neue Testament die Gnostiker zu bekämpfen suchen, ragt um die Wende des zweiten zum

58

Der Aufbau der Kirche

35

dritten Jahrhundert Tertullian hervor. Er ist zugleich der erste kirchliche Schriftsteller, der von der griechischen zur lateinischen Sprache übergeht. Tertullian scheint von Haus aus Äechtsanwalt gewesen zu sein. Er liebt eS, in seiner Polemik scharf geprägte, juristische Begriffe zu gebrauchen, wenn er die Überlieferung der Kirche verteidigt. Eins seiner Bücher nennt er z. B.

„die Prozeßeinrede wider die Ketzer". Hier entwickelt er den Gedanken, daß man auch ohne Widerlegung im Einzelnen auf Ketzer niemals zu hören brauche. Denn sie sind später gekommen als die katholische Kirche. Dort, wo sie von deren Lehre abweichen, können sie die ursprüngliche Offenbarung folglich nur verdorben und verlassen haben. Der Glaube an den Besitz der wahren Tradition gilt so als dritte Sicherung der kirchlichen Unfehl­ barkeit. Danach ist eS scheinbar leicht zu entscheiden, wo die Wahrheit zu finden ist. Ein katholischer Schriftsteller des 5. Jahrhunderts, Vinzenz von Lerinum, stellt folgende Regel auf: man muß „baS festhaften, was überall, zu allen Zeiten und von allen (Christen) geglaubt worden ist; denn baS ist im wahren und besonderen Sinn — das Katholische". In Wirklichkeit beruht der Glaube an die katholische Tradition auf einer gefährlichen Selbsttäuschung. Keine geistige Überlieferung, die sich mündlich fortpflanzt, bleibt im Strom der Entwicklung unverändert. So hat die katholische Kirche immer wieder unter Berufung auf die Trabifion offenbare Neuerungen als ursprünglichen Lehrbesitz auögegeben, so z. B. noch in neuerer Zeit bas Mariendogma und die päpstliche Unfehlbarkeit, überhaupt führt

die Erwartung, durch den bloßen Anschluß an eine bestimmte Kirche und durch die widerspruchslose Übernahme ihrer Glaubensformeln der Wahrheit ein für alle Male sicher zu sein, leicht zu einer Veräußerlichung des Glaubenöbegriffs und zu einer bequemen und hochmüfigen Verachtung jeder anders gerichteten Meinung und Persönlichkeit. 2. Der katholische Christ unterwirft sich aber nicht bloß theoretisch den Lehren der Schrift, deS Bekenntnisses und der kirchlichen Tradition. Er unter­ steht als Laie der unmittelbaren Leitung durch die zuständigen Kleriker. Die Geistlichen fühlen sich jetzt als ein eigener Stand über der „Menge" des Laienvolks. Sie lasten sich nur noch durch Standesgenosten einsetzen und richten. Seit dem Anfang des zweiten Jahrhunderts wirb es üblich, daß die höchste Leitungsgewalt in einer Gemeinde bei einer einzigen Person liegt, dem monarchischen Bischof (daS Wort vom griechischen episkopos = Aufseher). Unter ihm stehen die Presbyter (— „Älteste") für den Altardienst, die Diakonen (— „Diener") als Gehilfen im Gottesdienst und für die prakttsche und wirtschaftliche Verwaltung und in größeren Gemeinden noch mehrere „niedere" geistliche Ämter. Im dritten Jahrhundert beginnen die

Bischöfe der führenden Städte ihren Herrschaftsbereich über die eigene Ge­ meinde hinaus zu erweitern und erheben sich damit auch über die gewöhn­ lichen Bischöfe kleinerer Ortschaften. Gleichzeittg bildet sich die Vorstellung,

36

Die alte Kirche

daß nur die Bischöfe die geistlichen Rechte der Kirchenleitung empfangen hätten und zwar von den Aposteln als ihren „Vorgängern". Ihre apostolischen Rechte werden zugleich mit der wahren katholischen Lehrüberlieferung von einem Bischof zum anderen in unzerreißbarer Kette weiter geleitet („Aposto­ lische Sukzession"). Die schweren Kämpfe nach innen und außen, die die Kirche zu bestehen hatte, begünstigten die Ausbildung eines derartig gesicher­ ten, geistlich unabhängigen Führertums. Die Macht und Bedeutung des Bischofs zeigt sich besonders in der Ver­ waltung der kirchlichen Buß zücht. Eine gewisse Zuchtübung war in den Gemeinden unumgänglich, wollte man ihre einzelnen Glieder in den Ge­ fahren der heidnischen Umgebung nicht ganz sich selbst überlassen. War ein Christ in schwere Verfehlungen gefallen, so wurde er von der Gemeinschaft der Kirche, besonders vom Genuß des Abendmahls, so lange ausgeschlossen, bis er sich wieder bekehrt hatte. Den Ernst seiner Besserung mußte ein „Büßer" aber immer erst durch eine strenge Lebensführung und demütiges Bitten be­ wiesen haben, ehe man ihn von neuem zuließ. Das war eine unvermeidliche Maßnahme der Kontrolle. Aber bald sah man darin noch mehr. Die Buße wurde als eine Art Rechtsverfahren angesehen, das zwischen dem Sünder und Gott selbst spielte. Die Bußleistungen (wie z. B. strenge Fasten) galten darin als der Preis, mit dem sich der Büßer die göttliche Vergebung durch eigene Leistung wieder verdienen mußte. Da die Vergebung Gottes mit der Wiederaufnahme in die kirchliche Gemeinschaft in eins gesetzt wurde (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23), fiel dem Priester somit die Aufgabe zu, als Stell­ vertreter Christi darüber zu entscheiden, wann die Bußleistung und die innere Besserung des Sünders soweit vorgeschritten seien, daß man seine Aufnahme wirklich verantworten könne. Eine solche Fassung seines Auftrags legt dem Priester eine übermensch­ liche Verantwortung auf und mußte zu Stteitigkeiten führen. Im dritten Jahrhundert standen neben den Montanisten (s. o. S. 31) auch weite Kreise innerhalb der katholischen Kirche auf dem Standpunkt, eine Vergebung schwerer Verbrechen, die nach der Taufe begangen wären, sei in der Kirche unmöglich. Man müsse die Entscheidung über solche Sünder Gott über­ lassen; die Kirche könne ihnen ihre Tore nicht mehr auftun. Die Frage wurde besonders dort brennend, wo während einer Verfolgung zahlreiche Christen abgefallen waren, die ihre Schwäche nachher bereuten und nun für ewig ausgeschieden und vielleicht verloren sein sollten. Es ist in erster Linie das Werk des Bischofs und Märtyrers Cyprian von Karthago, daß ihnen gegenüber eine mildere Auffassung zum Siege kam. In harten Kämpfen setzte Cyprian durch, daß der Bischof — und er allein! — befugt sein sollte, gegebenenfalls auch die „Abgefallenen" wieder zu voller kirchlicher Gemein­ schaft zuzulassen. Gleichzeitig begann er aber zwischen der kirchlichen Wieder­ aufnahme und Gottes Urteil zu scheiden, das erst am jüngsten Tage offenbar

§8

Das kirchliche Leben

37

wird. Das heißt, man bleibt nach wie vor der Meinung, daß „außerhalb der Kirche kein Heil" ist, und daß „Gott niemand zum Vater haben kann, der die Kirche nicht zur Mutter hat"; aber innerhalb der Kirche gibt es wahre und falsche Christen, Glieder, die gerettet werden, und solche, die verloren gehen. Es beginnt die von Augustin weitergeführte Unterscheidung zwischen einer „sichtbaren" und einer wahren, „unsichtbaren" Kirche" (vgl. u. S. 49; S. 65 f.). 3. Es liegt nahe, in der verschiedenen Ausprägung, die die Kirche und ihre Lehre im Laufe des zweiten und dritten Jahrhunderts im Osten und Westen des Reiches erfährt, einen Einfluß der jeweiligen Rasse und Umwelt zu entdecken, in der sie lebt. Die bestimmte juristische Fassung der Gedanken bei Tertullian, die straffe, praktische Ausgestaltung des Bußwesens bei Cyprian scheinen dem römischen Wesen ganz besonders zu entsprechen (vgl. hierzu noch u. S. 53 f.). Cyprian vergleicht das Verdienst der Bischöfe mit dem Ruhm der römischen Consuln und betont mit politischem Instinkt die Größe und den Ernst ihrer Führerverantwortung. Im Osten bleibt alles freier, unbe­ stimmter und individueller. Aber im Ganzen bewährt die katholische Kirche auch hier ein hohes Maß von organisatorischem und praktischem Geschick und Vermögen. Hier zuerst treten, wenn wichtige Fragen des Glaubens oder der kirchlichen Ordnung zur Entscheidung stehen, Geistliche bestimmter Ge­ biete zu Synoden zusammen, auf denen Beschlüsse gefaßt werden, die nach­ her allgemeine Geltung beanspruchen. Einen großartigen Ausbau erfährt überall die Liebestätigkeit der Kirche, die unter der Leitung des Klerus steht. Man nimmt sich in einer planmäßigen Fürsorge der Armen, der Kranken und in Verfolgungszeiten besonders der Gefangenen und Verbannten an (vgl. o. S. 26 Justin). Gleich­ zeitig sichert man die wirtschaftlichen Grundlagen der kirchlichen Arbeit und des Klerus. Allein die römische Gemeinde zählte in der Mitte des dritten Jahrhunderts 1500 Witwen und Hilfsbedürftige, „welche alle die Gnade und Menschenliebe des Herrn ernährt". Bei den großen Seuchen des dritten Jahrhunderts nahmen sich die Christen vielfach auch der Heiden an und sorgten für ihre Pflege und Bestattung. Die Kirche hat unter ihren Gliedern Vertreter aus allen Ständen. Schon im ersten Jahrhundert ist das Christentum, wie wir aus Rom wissen, bis in die kaiserliche Familie selbst eingedrungen. Trotzdem dulden die Christen in ihrer Mitte grundsätzlich keine soziale Überheblichkeit und schärfen

insbesondere das Recht und die Pflicht zur Arbeit jedermann ein. Damit wird ihre Fürsorge auf eine gesunde Grundlage gestellt und die Voraus­ setzung für eine neue Kultur geschaffen. Die antike Ethik billigt fast überall den scharfen Gegensatz zwischen der breiten, verachteten Schicht der Sklaven, die alle niedere Arbeit ausführen mußten, und den freien Bürgern, die das Lebensideal eines ,,otium cum dignitate“, einer vornehmen Muße, pflegten.

Die alte Kirche

38

Als ein sichtbares Denkmal des ältesten Christentums bestehen noch heute, besonders in der Umgebung Roms, die Katakomben. ES sind unter­ irdische FriedhofSanlagen, die ausschließlich der christlichen Gemeinde bienen, deren Glieder sich auch im Tobe nicht scheiden wollen. Ihre Stollen und Grab­ kammern werden von besonderen Arbeitern, den „Fossoren", auSgehoben und liegen oft viele Stockwerke tief untereinander. Hier finden sich schon im dritten Jahrhundert deutliche Spuren des GrabkulteS und der Heiligen­ verehrung, z. B. für Petrus und Paulus. (Über die Anfänge der christlichen

Kunst f. u. S. 57 f.).

II. Der Kampf der Kirche mit dem römischen Staat und der heidnischen Gesellschaft.

§9. Ursachen und Anfänge der Christenverfolgung. 1. Die Grundlagen des römischen Reiches waren wie in jedem lebendigen Staatswesen durch die Religion gesichert. Der Kult der Götter war grund­ sätzlich nicht Privatsache, sondern eine politische Pflicht, der sich kein römischer Bürger und kein Untertan entziehen durfte. In früherer Zeit hatte sich die politische Führung wiederholt gegen das Eindringen fremder, namentlich orientalischer Kulte gewehrt, die dem Glauben und Wesen der Römer zu­ wider waren. Mit der Ausdehnung deS Staates zu einem Weltreich waren diese Hemmungen allmählich gefallen. Die altrömische Religion konnte ja längst ein tieferes religiöses Bedürfnis nicht mehr befriedigen. Dennoch hielt man an ihrer offiziellen Geltung nach wie vor fest: die römischen Götter waren zu einem religiösen Symbol der unantastbaren römischen Ordnung und Weltherrschaft geworden. Ihr Kult hatte einen weltanschaulich-poli­ tischen Sinn. Dieselbe Verehrung und Vergötterung der politischen Wirklich­ keit drückt sich daneben noch besonders im Kaiserkult auS und im Kult der dea Roma, der das Reich verkörpernden, vermeintlich heiligen und ewigen Stadt (vgl. zu diesem ganzen Abschnitt o. § 2). Die Anbetung der irdischen Gewalt wurde innerhalb deS römischen Reiches nur von den Juden grundsätzlich verweigert. Für sie war ebenso wie für die Christen Gott allein heilig, ewig und anbetungswürdig. Alle natürlichen und politischen Ordnungen erkannten sie dagegen nur als GotteS Schöpfung und Gaben an, ohne sie selbst für göttlich zu halten. Da die Juden im Reich nur eine kleine, national begrenzte Gruppe darstellten, war eS möglich, für sie eine Ausnahme zu machen, ohne das Gefüge deS Reiches zu zerstören. Der Kult beö Kaisers und der StaatSgötter war ihnen erlassen, wofür sie ihrer­ seits in den Gottesdiensten die Fürbitte für die Regierung leisteten. Die Christen schlossen sich darin an das jüdische Vorbild an. Mer sie genossen daS polittsche Ausnahmerecht der Juden dabei doch nur so lange, als sie selbst

§ 9

Ursachen und Anfänge der Christenverfolgung

39

noch für eine jüdische Sekte galten und um ihrer geringen Zahl willen über­ sehen werben konnten. 2. Gerade die Juden mühten sich aber eifrig, einen scharfen Trennungsstrich gegen die Christen zu ziehen, und zeigten sie oft selbst bei den römischen Behörden an. Andererseits waren die Christen auch in der heidnischen Be­ völkerung unbeliebt. Ihre Absonderung vom heidnischen Glauben und Leben erschien als Hochmut, ihre sittliche Sttenge als Sittenrichterei; ihre Drohung mit dem kommenden Gericht Gottes verdarb den Genuß des Lasters und des Lebens. Hinzu kam, baß die Christen vielfach aus kleinen Leuten be­ standen, die arm und ungebildet waren. Auch aus diesem Grunde waren sie in den Augen der satten Bilbungsphilister und Sklavenhalter verächtlich (vgl. u. S. 43 f.). Man pflegte daher an jedem Unglück, daö sich ereignete, den Christen die Schuld zuzuschreiben und verbreitete über das Leben der Christen und über ihre den Heiden nicht zugänglichen Gottesdienste allerlei Greuelmärchen. So sagt Tertullian (S. 35): „Sie wähnen, an jedem öffentlichen Unglück, an jedem das Volk betteffenden Ungemach seien die Christen die Ursache. Wenn der Tiber bis an die Stadtmauern steigt, und wenn der Nil nicht über die Felder steigt, wenn das Wetter sich ständig gleich bleibt, und wenn die Erbe plötzlich erbebt, wenn es eine Hungersnot, wenn eS eine Seuche gibt, sogleich erhebt sich das Geschrei: ,Dor den Löwen mit den Christen!'" (im Tierkampf). Minucius Felix, ein Zeitgenosse Tertullianö, läßt uns in dem Dialog zwischen einem Heiden und einem Christen die Klagen der Heiden unmittelbar vernehmen. Der geistige, bild- und opferlose Kult der Christen erscheint ihnen als „Gottlosigkeit": „Weshalb hätten sie sonst keine Altäre, keine Tempel, keine bekannten Götterbilder, warum reden sie nicht öffentlich, versammeln sie sich nicht ungescheut? Eben weil der Gegenstand ihrer Verehrung und Verheimlichung strafbar oder schändlich ist ... Die Christen sind Leute, welche aus der untersten Hefe des Volkes unwissende und leichtgläubige Weiber sammeln, die ja schon wegen der Schwäche ihres Ge­ schlechts leicht zu gewinnen sind, und bilden eine ruchlose Verschwörerbande. Sie verbrüdern sich in nächtlichen Zusammenkünften, bei feierlichem Fasten wie bei unmenschlichen Gelagen, nicht etwa durch heilige Zeremonien, sondern durch ein unsühnbares Verbrechen — ein duckmäuseriges und lichtscheues Volk, stumm in der Öffentlichkeit, nur in den Winkeln gesprächig. Die Tempel verachten sie als Grabmäler, die Götter verfemen sie, über die Opfer lachen sie. Sie bemitleiden, selbst bemitleidenswert, wenn man so sagen darf, die Priester und verschmähen Ehrenstetten und Purpurkleider, obwohl sie selbst fast nicht fähig sind, ihre Blöße zu decken. Höre ich doch, baß sie den Kopf eines Esels, dieses verächtlichen Tieres, weihen und — ich weiß nicht, in welchem Wahn verehren, ein Kult, würdig solcher Sitten und aus ihnen entsprungen." Man warf den Christen besonders blutschänderischen Umgang vor. Der Verdacht mag dadurch gestützt worden sein, baß sie sich untereinander als „Brüder" und „Schwestern" bezeichneten und im Gottesdienst mit dem Friedenskuffe grüßten. Außerdem hieß es, daß sie zu rituellen Zwecken kleine Kinder schlachteten. Minucius Felix läßt den Heiden fottfahren:

40

Die alte Kirche

„Nun gar die Geschichte von der Weihe neuer Mitglieder! Sie ist ebenso abscheu­ lich wie bekannt. Ein Kind, mit Teigmasse bedeckt, um die Arglosen zu täuschen, wird dem ELnzuweihenden vorgesetzt. Dieses Kind wird von dem Neuling durch Verwundungen getötet, die sich dem Auge völlig entziehen. Er selbst hält, durch die Teigmasse getäuscht, die Stiche für unschädlich. Das Blut des Kindes — ein grauenhafter Vorgang! — schlürfen sie gierig, seine Gliedmaßen verteilen sie in einem wahren Wetteifer. Durch dieses Opfer verbrüdern sie sich, durch die Mit­ wisserschaft um ein solches Verbrechen verbürgen sie sich gegenseitiges Still­ schweigen ..." Diese Verleumdung wurzelt im volkstümlichen Glauben an die magische Wirkung des Blutes und taucht immer wieder auf. Was man von dem Essen und Trinken von Fleisch und Blut (Christi beim Abendmahl) hörte, schien jene Verleumdung zu bestätigen. Später haben die Katholiken von den Ketzern das Gleiche behauptet.

3. Der Haß gegen die Christen führte öfters zu tumultuarischen Ver­ folgungen. Dann griff gewöhnlich auch die Polizei ein, und wenn die Christen von ihrem Bekenntnis nicht lassen wollten, wurden sie hingerichtet. Diese Opfer wurden in der Kirche „Märtyrer" (d. h. Zeugen, nämlich Blut­ zeugen Christi) genannt und hoch verehrt. Die erste sogenannte Christenverfolgung unter Nero erfolgte unter be­ sonderen Umständen. Man beschuldigte den verhaßten Kaiser, den Brand Roms veranlaßt zu haben. Er suchte daraufhin den Verdacht auf die Christen abzuwälzen und ließ viele von ihnen als Brandstifter grausam hinrichten („Fackeln des Nero"). Don einem geordneten Verfahren gegen die Christen als solche hören wir zum erstenmal im Brief des (jüngeren) Plinius Secundus, des Statthalters von Bithynien, an den Kaiser Trajan (etwa 112). Der Brief lautet: „Ich habe noch niemals dein Verhör von Christen beigewohnt und weiß deshalb auch nicht, was und auf welche Weise dabei gestraft und unter­ sucht zu werden pflegt. Auch bin ich einigermaßen in Ungewißheit, ob nicht ein Unter­ schied hinsichtlich des Alters bei ihnen gemacht werden soll, ob zarte Jugend und kräftiges Alter gleichmäßig zu behandeln ist, ob man dem Reuigen Verzeihung ge­ währen soll, oder ob dem, der einmal'Christ gewesen ist, auch der Rücktritt vom Christentum nichts nützt; endlich ob schon der bloße Christenname strafbar ist, ohne daß Verbrechen nachgewiesen werden, oder ob nur die Verbrechen strafbar sind, die mit dem Christennamen gegeben sind. Einstweilen habe ich bei denen, die mir als Christen genannt wurden, folgendes Verfahren beobachtet. Ich fragte sie, ob sie Christen seien. Gestanden sie das, so fragte ich unter Androhung der Todesstrafe zum zweiten und zum drittenmal. Beharrten sie nun darauf, dann ließ ich sie hinrichten. Denn offenbar verdiente ihr Eigensinn und ihre unbeugsame Widerspenstigkeit auf jeden Fall die Bestrafung, einerlei worin ihr Verbrechen sonst bestanden haben mochte. Andere, ebenso ver­ rückte Leute habe ich zur Bestrafung in Rom vorgemerkt, weil sie römische Bürger waren. Im Lauf des Prozesses ergab sich bald, wie es gewöhnlich geht, die ganze Ausdehnung des Verbrechens, und es stellten sich mehrere Stufen desselben heraus.

§9

Ursachen und Anfänge der Christenverfolgung

41

Mir wurde nämlich eine anonyme Liste vorgelegt, die die Namen zahlreicher Per­ sonen enthielt. Diese leugneten aber, daß sie Christen wären oder jemals gewesen seien. Da sie nun nach meinem Vorgang die Götter anriefen und deinem Bildnis, daS ich hierzu mit den Götterbildern herbeifchaffen ließ, Weihrauch und Wein opferten und außerdem noch Christus verfluchten, wozu sich wirkliche Christen niemals zwingen lassen, so glaubte ich, sie entlasten zu sollen. Andere von einem Denunzianten bezeichnete Personen sagten zwar, sie seien Christen, leugneten eS aber bald darauf wieder ab: sie seien eS wohl gewesen, wären aber wieder zurückgetteten, einige vor drei Jahren, andere vor mehr, einer sogar schon vor zwanzig Jahren. Auch diese beteten alle dein Bild und die Götterbilder an und verwünschten Christus. Sie versicherten aber, ihre ganze Schuld, ihre ganze Verfehlung habe darin bestanden, daß sie an einem bestimmten Tag vor Sonnenaufgang zusammen­ gekommen seien und ein Lied zu Ehren Christi als eines Gottes miteinander ge­ sungen hätten. Dann hätten sie sich durch ein feierliches Gelübde verpflichtet, nicht etwa irgendetwas BöseS zu tun, sondern keinen Diebstahl, keinen Raub, keinen Ehe­ bruch zu begehen, ihr Wort nicht zu brechen und anverttauteS Gut, daS zurück­ gefordert wird, nicht zu verleugnen. Darauf feien sie meist auSeinandergegangen, bald aber wieder zusammengekommen, um gemeinsam unschuldige Speisen zu genießen. Sie hätten dies jedoch bleiben lasten auf Grund meiner Verordnung, in der ich deinen Befehl gegen die Geheimverbände bekannt gab. Um so notwendiger schien eS mir, aus zwei Mädchen, die Diakonissen genannt wurden, unter Anwen­ dung der Folter die Wahrheit herauSzubringen. Ich habe aber weiter nichts gefunden als einen verschrobenen und maßlosen Aberglauben.

Daher habe ich die weitere Untersuchung eingestellt, um zuvor deine Weisung einzuholen. Die Angelegenheit schien mir der Überlegung wert zu sein, vor allem

wegen der großen Zahl derer, die dabei Gefahr laufen. Viele jedes Alters, Standes und Geschlechts sind gefährdet oder werden noch in Gefahr kommen. Denn nicht bloß auf die Städte, sondern auch in Flecken und Dörfern hat sich dieser ansteckende Aberglaube verbreitet. ES scheint mir aber noch möglich zu sein, Einhalt zu gebieten und die Sache abzustellen. Soviel steht jedenfalls fest, daß die schon fast verlassenen Tempel von neuem besucht werden, daß die schon seit langem nicht mehr gepflegten Bräuche wieder ausgenommen und Opferttere wieder verkauft werden, für die sich bisher kaum mehr ein Käufer finden wollte. Man sieht daraus, daß viele noch ge­ bessert werden können, wenn man ihnen dazu Gelegenheit gibt." Die Antwort des Kaisers auf diesen Brief lautete: „Du hast, lieber SecunduS, in Sachen der vor dir verklagten Christen bei der Untersuchung völlig den richfigen Weg eingeschlagen. ES läßt sich eben keine für alle Fälle gültige Regel aufstellen. Ausspüren soll man sie nicht; werden sie aber angeklagt und überwiesen, dann sind sie zu bestrafen, jedoch so, daß jeder um seiner Reue willen Verzeihung erhält, wenn er leugnet, Christ zu sein und dies auch durch die Tat beweist, nämlich durch Anbetung unserer Götter, mag auch auS früherer Zeit ein Verdacht auf ihm lasten. Dagegen dürfen anonyme Klageschriften bei keinem Prozeß beachtet werden; denn daS gäbe ein schlechtes Vorbild und paßt nicht in unsere Zeit."

Über die späteren Christenverfolgungen s. u. § 11.

42

Di« alte Kirche

§ 10. Die geistige Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden und die Entstehung einer christlichen Bildung. 1. Seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts beginnen einzelne Männer der Kirche sich in besonderen Schriften gegen die heidnischen Vorwürfe zu ver­ teidigen. Man nennt sie darum die „Apologeten". Zu ihnen gehören z. B. Justin und MinuciuS Felix (vgl. o. S. 26; 39). Meist sind sie selbst noch als Heiden geboren, aber sie bekennen mit Stolz, daß sie nur im Christentum die Wahrheit gefunden hätten, die ihnen jetzt^iewißheit und Kraft für ein neues sittliches Leben geschenkt habe. Die gegen die Christen erhobenen Vor­ würfe sind unwahr; eö ist ungerecht und unsinnig, diese unschuldigen Men­ schen zu verfolgen. Aber die Apologeten bleiben nicht bei der Verteidigung stehen; sie gehen sofort dazu über, die heidnische Religion und Sittlichkeit nun ihrerseits anzugreifen. Der Götzendienst, erklären sie, ist eine große Tor­ heit, wenn man ihn neben den Glauben an den einen, allmächtigen, geistigen Gott stellt, der keiner Tempel und keiner irdischen Gaben bedarf. Viele Mythen, die von den Göttern erzählt werden, sind sehr anstößig, und die Art, wie man die Götter verehrt, ist dementsprechend unwürdig und unsittlich. Vielfach beruft man sich bei diesen Angriffen auf das Zeugnis der antiken Philosophen. Auch diese haben schon eine reinere Gottesanschauung vertreten, vorab Sokrates, der für seine Überzeugung wie ein Christ gestorben ist.

Es finden sich also auch im Heidentum schon Spuren einer höheren, göttlichen Erkenntnis. In Christus ist sie aber erst vollkommen erschienen. Vor ihm muß daher aller Irr- und Aberglaube verfliegen. Denn recht verstanden ist, wie Tertullian sagt, die menschliche Seele schon von Natur eine Christin. Hier meldet sich der Glaube an eine natürliche Religion der Wahrheit, die allen Menschen angeboren ist. Der Begriff stammt aus der spätantiken Philosophie, besonders der Stoa (vgl. o. S. 9). Er ist später besonders in der Aufklärung wieder gelehrt worden, und man hat daraus gefolgert, daß nicht nur das Christentum den rechten Weg zu Gott zu zeigen vermöge. Der Glaube an die „natürliche Religion" begnügt sich gewöhnlich mit äußerst blassen und allgemeinen Vorstellungen von einem höchsten Gott und dem Guten. Für die Christen handelt eS sich aber nicht um derartiges, sondern eS geht um die Frage, wie der in Schuld und Not verstrickte Mensch der Vergebung und Gemeinschaft mit dem wahren Gott gewiß werden und von hier auS die Kraft zu einem neuen Leben gewinnen kann. Die Schriftsteller der alten Kirche wollten mit ihren Darlegungen nicht den alleinigen Heilsweg in Christus preiSgeben, sondern sie wollten den Heiden zum Bewußtsein bringen, daß sie im Grunde vor ihrem eigenen Gewissen nicht bestehen könnten, wenn sie die christliche Lehre gottlos oder schlecht nennten. Den Bildungshochmut der formgewandten spätantikcn Philosophie weist man dabei ruhig in seine Schranken. Der christliche Redner äußert sich im Dialog des

$10

Geistige Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden

43

Minueius Felix darüber folgendermaßen: „Mein Bruder hat Verstimmung und Unwillen darüber laut werben lassen, daß ungebildete, arme, unwissende Leute über himmlische Dinge reden. Tiber er sollte doch wissen, daß alle Menschen ohne Unterschied des Alters, Geschlechtes und Ranges mit Vernunft und Bewußtsein begabt und dafür fähig geschaffen worden sind. Sie haben die Weisheit nicht durch einen Glückszufall gewonnen, sondern von Natur aus mitbekommen. Ja, auch die Philosophen oder andere Leute, die als Erfinder in der Wissenschaft sich ein An­ denken bei der Nachwelt bewahrt haben, galten für Plebejer, für ungelehrt und bettelarm, ehe sie sich durch ihre Findigkeit einen berühmten Namen machten. Man braucht sich also gar nicht aufzuregen oder darüber zu entrüsten, wenn ein gewöhn­ licher Mensch über göttliche Dinge forscht, sich darüber eine Ansicht bildet und sie auch zum Ausdruck bringt. Es kommt eben nicht so sehr auf die angesehene Stellung des Sprechers als auf die Richtigkeit des Gesprochenen an. Ja, der Sinn ist sogar desto klarer, je schmuckloser die Ausdrucksweise ist; so ist er nämlich nicht mit dem Aufputz wohltönender Phrasen geschminkt, sondern bleibt durch die Richt­ schnur der Wahrheit in seiner Einfachheit erhalten." Wenn die Apologeten gegen die Verfolgungen protestieren, betonen sie gleichzeitig ausdrücklich, daß die Christen nicht staatsfeindlich gesinnt wären. Sie erkennten vielmehr auch die ihnen feindliche Obrigkeit als Gottes Ordnung an. Sie müßten ihr gehorsam bleiben und besonders jeden gewaltsamen Widerstand unterlassen. Aber ihren Glauben könnten sie nicht preisgeben. Die Apologeten berufen sich hier gerne auf die Gewissens- und Kultusfreiheit als ein unveräußerliches Menschenrecht. „Religio cogi non potest“, die Gottesverehrung läßt sich weder erzwingen noch unterdrücken. In feierlichen Motten umschreibt der sog. Diognetbrief die Lage der Christen im damaligen römischen Reich: „Sie werden geschmäht — und sie segnen; man verhöhnt sie — und sie erweisen Ehre. Die Wohltäter werden wie Übeltäter bestraft; die Sttäflinge fteuen sich, als schenkte man ihnen das Leben. Die Juden bekämpfen sie als ein ftemdes Volk, und die Heiden verfolgen sie; und ttotz ihrer Wut können sie nicht sagen, warum sie sie hassen."

2. Mit der Zeit begnügt sich die heidnische Welt aber nicht mehr mit der Verleumdung und mit der rohen Gewalt. Sie geht dazu über, das Christen­ tum in eigenen Kampfschriften geistig anzugreifen. Zum größten Teil noch heute erhalten ist das „Wahre Wort", das der platonische Philosoph Kelsos gegen die Christen verfaßt hat (etwa 180 n. Chr.).

Kelsos wirft den Christen vor, daß ihr Glaube an Christus höchst will­ kürlich und ungesichert sei: die Auferstehungsberichte sind unzuverlässig und können nichts beweisen. Es ist völlig unglaublich, daß ein Gott sich an bas Kreuz schlagen läßt. Eine solche Annahme beleidigt die göttliche Würbe und Hoheit. Aber auch die Botschaft von einer Vergebung, die ohne Verdienste den Gerechten wie den Sündern geschenkt wird, ist entschieden abzulehnen. Sie widerspricht allem Rechtsempfinden und ist der natürlichen Ordnung der Dinge zuwider. Die Christen sollten lieber die Größe und Schönheit der

44

Die alte Kirche

klassischen Kultur und Philosophie ohne Vorbehalte bejahen, statt sich darauf zu versteifen, baß ein gekreuzigter Verbrecher ihr Heiland sei. — Kelsos spricht im Namen der natürlichen Vernunft und deS natürlichen sittlichen Empfindens. Seine Vorwürfe sind seitdem ungezählte Male wiederholt worden. Sie zeigen, baß der allgemeine Gedanke an einen allmächtigen, gütigen Gott und sein sittliches Gebot für gewöhnlich keinen Anstoß erregt. Aber daß dieser Gott uns in der Niedrigkeit unseres Lebens wirklich begegnen kann und baß er nicht unsere Verdienste loben, sondern unsere Schuld ver­ zeihen will, das beleidigt die menschliche Selbstgerechtigkeit. KelsoS hatte den Christen Barbarei vorgeworfen. 2lber dieser Vorwurf paßte je länger, um so weniger. Von einer unbefangenen Teilnahme am heidnischen Leben waren die Christen allerdings ausgesperrt, weil es überall mit Götzendienst und vielfach auch mit Unsittlichkeit durchdrungen war. Aber bis zu einem gewissen Grabe vermochten sie dennoch, die Schätze der antiken Bildung sich anzueignen, und machten sie im Dienst der Kirche von neuem fruchtbar. Besonders in Alexandrien entstand eine Theologen­ schule, die die antike Philosophie und Wissenschaft mit Eifer studierte. Origenes (f 254) stellte die Lehre deS Christentums in einem großen systema­ tischen Werk in philosophischer Weise einheitlich bar. Außerdem verfaßte er eine eingehende Widerlegung deS Kelsos. Die Bibel erläuterte er in umfang­ reichen Schriften sehr sorgfältig und bemühte sich auch um einen zuverlässigen Bibeltext. Die Reste seiner Ausgabe sind noch heute bedeutsam. Die umfang­ reiche Bibliothek, die er gesammelt hatte, blieb nach seinem Tode in Palästina. Hier leistete sie zwei Menschenalter später dem Bischof Eusebios von Cae­ sarea bei der Abfassung der ersten Kirchengeschichte wesentliche Dienste. 3. Während die Kirche so langsam in die antike Bildungswelt hineinwuchS und sie mit neuen Inhalten füllte, begann für diese selbst bereits der langsame Rückgang und Verfall. Der außenpolitische Druck im Norden und Osten deS Reiches nahm ständig zu. Die häufigen Thronwirren schwächten die Ordnung auch im Inneren. DaS Wirtschaftsleben ging zurück (Verschwinden der Edelmetalle). Vor allem pflanzten sich die alten, kulturtragenden Schichten des Adels und deS Bürgertums nicht mehr in der früheren Weise fort und starben aus. Orientalisches Blut und orientalischer Geist strömt ein und macht sich auf allen Lebensgebieten bemerkbar. Die Abkehr von der exakten Wissenschaft, vom klassischen Schönheitsideal und vom sozialen Leben ist nicht etwa erst eine Folge christlicher Einflüsse. Sie kennzeichnet das Wesen auch deS spät­ antiken Heidentums weithin. Die letzte, große philosophische Bewegung der Antike ist der Neupla­ tonismus, der sich im dritten und vierten nachchristlichen Jahrhundert verbreitet. Er erinnert in mancher Hinsicht merkwürdig an die gleichzeitige Entwicklung innerhalb der christlichen Theologie. Auch im Neuplatonismus

§ 10

Neuplatonismus und ManichäiSmuS

45

steht der Gedanke an den einen, weltenfernen Gott, der ganz Geist ist, im Mittelpunkt. Ihm sucht sich der gläubige Philosoph zu nahen, indem er diese Welt nach Möglichkeit hinter sich zurückläßt. DaS macht auch die Neuplatoniker vielfach zu Asketen. Neben der strengen Denkarbeit ergeben sie sich der mystischen Kontemplation, d. h. sie versuchen, durch eine planmäßige Versenkung in daS eigene Innere die Seele zur unaussprechlichen Gottheit zurückzuführen und mit ihr zu einen. Ähnlich wie die Gnostiker (S. 30) schieben auch die Neuplatoniker zwischen Gott und die Welt eine Fülle geistiger Stufen und Mittelwesen ein, die alle doch noch irgendwie daS eine, höchste Gut spiegeln. Mit dieser Annahme rechtfertigen sie die ganze Welt deS volkstüm­ lichen Götterglaubens. Ihr Monotheismus ändert nichts an dem, waS die Masse wirklich glaubt. Im Christentum, daS nur ein klares Entweder-Oder kennt, sehen die Neuplatoniker ihren ärgsten Feind. Sie unterstützen die staatlichen Ver­ folgungen, gleichzeitig aber auch alle Versuche, in der heidnischen Welt ein neues religiöses Leben zu wecken. Nicht als Bildungsbewegung der oberen Zehntausend, sondern als Aus­ druck eines echten, leidenschaftlichen Erlösungsstrebens entsteht um die gleiche Zeit jenseits der Reichsgrenzen eine neue Religion: der ManichäiSmuS. Ihr Schöpfer, der Perser Mani, hatte ähnlich wie später Mohammed (S. 60 f.) den Versuch gemacht, einheimische und fremde, hier vor allem christliche Vor­ stellungen miteinander zu verbinden, und erschien als der letzte göttliche Ge­ sandte nach Zarathustra, Buddha und Jesus selbst (vgl. auch S. 31s.). In seiner Heimat hatte sich Mani nicht durchsetzen können, und war hier 276/77 gekreuzigt worden. Aber die manichäische Glaubensgemeinschaft, die eine auSgebaute Hierarchie und einen festen Kultus besaß, breitete sich schnell weiter aus und war im vierten Jahrhundert auch im Abendland ein gefähr­ licher Nebenbuhler des Christentums (vgl. S. 64 f.). Mit ihrer Weltflucht und ihren phantastischen synkretistischen Spekulationen spielte sie neben der katholischen Kirche eine ähnliche Rolle wie manche gnostische Gruppen in der früheren Zeit (§ 6). Aber als das eigentliche Ziel, dem man in strenger Askese dient, erscheint im ManichäiSmuS nicht so sehr der Aufstieg der einzelnen Seele, als vielmehr ein großer kosmischer Prozeß, an dem sie mit be­ teiligt ist: die Entmischung und Befreiung der himmlischen Lichtelemente, die, durch ein schuldhaftes Verhängnis mit Finsternis vermengt, in dieser Welt gefangen gehalten werden, die große Scheidung der Reiche deS Lichtes und der Finsternis. Der schroffe Dualismus ist hier radikaler und z. T. auch sinnlich-massiver und wunderlicher entwickelt als in den entsprechenden älteren Systemen der griechischen Gnosis. Sell Beginn des 4. Jahrhunderts brestet sich der ManichäiSmuS auch in Norbafrika aus, wo Augustin mit ihm zusammenttifft (s. u. S. 64 f.).

46

Die alte Kirche

§ 11. Die großen Verfolgungen und der Sieg der Kirche. 1. Je brüchiger das soziale und politische Gefüge deS Reiches wurde, um so mehr bemühte man sich, seine weltanschauliche und religiöse Ein­ heit politisch zu betonen und zu erzwingen. Der Kaiserkult gewinnt erhöhte Bedeutung; die altrömische Religion soll wieder belebt werben; und gleich­ zeitig sucht man nach neuen Göttern und neuen gottesdienstlichen Formen, die den Glauben deS Reiches einheitlich zusammenfasien sollen. Dabei wurde eS mit der Zeit immer unerttäglicher, daß die ständig wachsende Zahl der Christen hier nicht mitmachen wollte, sondern nach wie vor abseits stand und jede Teilnahme am staatlichen Kultus verweigerte. Darum beginnen jetzt die großen, planmäßigen Christenverfolgungen. ES handelt sich nicht mehr um vereinzelte polizeiliche Aktionen, sondern um einen bewußten, von oben her organisierten Vernichtungskampf. Den Anfang macht im Jahre 250 der tüchtige, römisch gesinnte Kaiser DeciuS. Er befiehlt, sämtliche Christen, Männer, Frauen und Kinder, in Stadt und Land amtlich vorzulaben und zu einem Götteropfer zu zwingen. Wer sich weigert, soll gefoltert, verbannt, seines Vermögens beraubt werben, bis er nachgibt; wenn alles vergeblich bleibt, droht ihm die Hinrichtung. Viele Christen gaben erschreckt nach und verleugneten ihren Glauben. Aber eS fehlte auch nicht an mutigen Märtyrern, die Gefängnis, Folterung und Tod unbeugsam auf sich nahmen. An ihrem Widerstand und Vorbild brach sich schließlich die Gewalt deS staatlichen Angriffs.

Die Männer der Kirche standen auf dem Standpunkt, daß kein Christ sich selbst zum Martyrium drängen und melden sollte. Wer aber gefaßt und befragt wurde, durfte unter gar keinen Umständen verleugnen. Schwierig zu beurteilen waren die zahlreichen Grenzfälle. Viele retteten sich z. B. da­ durch, daß sie die heidnischen Beamten bestachen und sich von ihnen, ohne ein Opfer zu vollziehen, die Bescheinigung eines Opfers aushändigen ließen. Ein solches Verhalten wurde milder beurteilt als ein offener Abfall und konnte in verhältnismäßig kurzer Bußzest gesühnt werben. Don entscheidender Be­ deutung für den Bestand der Kirche wurde, daß man die „Gefallenen" keineswegs ganz auSstieß (vgl. o. S. 36). Dadurch wurden sie von neuem gesammelt, und viele von denen, die beim ersten Angriff versagt hatten, wur­ den später selbst standhafte Märtyrer. ES haben sich noch mehrere der Opferbescheinigungen auS der decischen Ver­ folgung bis heute erhalten. Ein Papyrus aus dem Faijum (Ägypten), datiert vom

16. Juni 250, lautet beispielsweise: „An die Opferkommission von Aurelia Charis auS dem Dorfe Theabelpheia. Beständig hab« ich den Göttern geopfert und immer fromme Gesinnung bewiesen, und jetzt habe ich in eurer Gegenwart dem Edikt gemäß Trankopfer und Blutopfer bargrbracht und vom Opferfleischr gekostet, und ich ersuche euch, mir dies durch Unterschrift zu bescheinigen. Gehabt euch wohl."

$11

Die großen Verfolgungen und der Sieg der Kirche

47

Es folgen die Unterschriften der Beamten (in verschiedener Handschrift): „Wir die Aurelier SerenoS und HermaS haben dich opfern sehen". „Ich HermaS habe unter­ zeichnet." Ein zweüer Borstoß im Jahre 257/58 zeigte, daß die heidnische Regierung auS dem Mißerfolg des DeciuS gelernt hatte: man schlug in der Bekämpfung

der Kirche einen anderen Weg ein. Statt möglichst alle Christen sofort und ohne Unterschiede zum Abfall zu drängen, suchte man sie jetzt zuerst einzu­ schüchtern. Nicht daS christliche Bekenntnis als solches, sondern nur der christliche Gottesdienst wurde mit dem Tode bedroht. Gleichzeitig suchte man den Gemeinden ihre Geistlichen und damit ihre Führer zu rauben. Damals wurde z. B. Cyprian von Karthago (oben S. 36) als Bischof verbannt und später hingerichtet. Es erwies sich aber auch auf diesem Wege als unmöglich, den Bekennermut und Zusammenhalt der christlichen Gemeinden ganz zu zerstören und durch Terror und Gewalt ihre Widerstandskraft zu brechen. Die Verfolgungen mußten schließlich eingestellt werden, und es begann eine Friedenszeü von etwa 40 Jahren. Den letzten und schwersten Angriff unternahm im Jahre 303 der Kaiser Diokletian. Dieser stand damals am Ende einer langen und erfolgreichen Regierung. Nur widerstrebend und zögernd ließ er sich zu diesem Schritt

drängen; denn er kannte die Christen als ruhige und zuverlässige Untertanen. Aber ihre VernichMng erschien ihm schließlich ttotzdem alö polittsche Not­ wendigkeit.

Besonders gefährlich war daS Anwachsen der Christen für den Bestand der römischen Armee. Die Christen weigerten sich oft, den Fahneneid unter Anrufung der heidnischen Götter zu leisten, und nahmen an den militärisch befohlenen Opferhandlungen grundsätzlich nicht teil. DaS erschien als

Gehorsamsverweigerung und erschütterte die Disziplin. Die Ursache lag auch hier in' der religiösen Fasiung der bestehenden staatlichen Ordnungen und Bindungen. Gewisiensmäßige Ablehnung des Heeresdienstes an sich macht sich in dieser Zeit noch nicht bemerkbar. Während der diokletianischen Verfolgung begnügte man sich nicht mit der unmittelbaren Bestrafung der Christen, sondern suchte auch ihre Ver­ sammlungsräume und ihr religiöses Schrifttum zu vernichten. Die Ab­ lieferung aller heiligen Bücher wurde befohlen. Man fühlte richtig, daß eine Kirche ohne Bibel und ohne gemeinsamen Gottesdienst ihre Lebenskraft verlieren würbe.

Über die Zahl der christlichen Märtyrer in den ersten drei Jahrhunderten

der Kirche sind nur unsichere Schätzungen möglich. Ein Verzeichnis aus der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts, das ältere Listen zusammenarbeitet, führt über 4000 namentlich an. Es läßt sich aber, zeigen, daß die Gesamtzahl der Märtyrer sehr viel größer gewesen sein muß.

48

Die alte Kirche

2. Diokletian hatte die Verwaltung des Reiches unter mehrere Herrscher geteilt. Diese setzten in den nächsten Jahren die Verfolgung zum Teil nur noch mit halbem Eifer fort. Den ersten grundsätzlich bedeutsamen Schritt tat schon im Jahr 311 im Osten Kaiser Galerius, indem er den Christen das offizielle Opfer erließ und durch eine Fürbitte für das Wohl des Herrschers ersetzte. Aber die volle Wendung zur Toleranz vollzog doch erst Konstantin, der eine freundlichere Beurteilung und Behandlung der Christen schon von feinem Vater her überkommen hatte. Der Text der entscheidenden Erklärung aus dem Jahre 313 lautet: „Wir ... haben alles, was zu Nutz und Frommen des Staates dient, erwogen und haben be­ schlossen, den Christen ebenso wie allen anderen freie Wahl zu lassen, der Gottes­ verehrung zu folgen, welcher sie folgen wollen, damit die Gottheit, was sie auch sein mag, uns und allen, die unter unserer Herrschaft leben, gnädig und gewogen sei. Dies geschieht für den Frieden unserer Zeit. Außerdem verfügen wir betteffs der Christen, daß man ihnen die Stätten, an denen sie sich früher zu versammeln pflegten, unentgeltlich und unverzüglich zurückgebe. Auch wenn jemand diese Stätten zum Geschenk bekommen hat, soll er sie so schnell wie möglich den Christen herausgeben. Jedoch mögen die Leute, die diese Stätten gekauft oder geschenkt bekommen haben [gemeint sind Heiden, die man von Staats wegen damit belohnt hattet, sich an den Statthalter der betteffenden Provinz wenden, damit auch sie durch unsere Güte Berücksichtigung finden."

Im Jahre 324 wird Konstantin Alleinherrscher des ganzen Reiches. Seitdem beginnt er die katholische Kirche in steigendem Maße zu be­ günstigen und das Heidentum und die Sekten zurückzudrängen. Konstantin glaubte an die Macht des Christengottes, der auch ihm zum Siege verhalfen hatte. Mer er behielt das religionspolitische Ziel seiner Vorgänger bei und suchte es nur in einer anderen Weise zu verwirklichen. Die weltanschauliche Einheit des Reiches hatte sich gegen die Kirche nicht begründen lassen. Nun sollte sie im Bunde mit der Kirche Wirklichkeit werden. Die persönliche Frömmigkeit des Kaisers ist nicht leicht zu beurteilen. Er selbst gab später als Grund seiner ersten Wendung zum Christentum an, daß vor einer entscheidenden Schlacht ihm und dem ganzen Heere das christ­ liche Kreuz in den Wolken als Siegeszeichen erschienen und später von Christus im Traume noch besonders empfohlen worden sei („In diesem Zeichen wirst du siegen")« Es läßt sich aber zeigen, daß die Geschichte von der Kreuzesvision in dieser Form nicht richtig sein kann. Richtig dürfte aber sein, daß das (mit dem Christusmonogramm verschmolzene) Kreuzes­ amulett, das auch auf dem Helm und den Standarten Konstantins erscheint, bei seinen ersten Siegen eine Rolle gespielt hat. Konstantin hatte sich, wie er meinte, von der Macht und dem Recht des Christengottes und des Christen­ glaubens überzeugt und bewunderte aufrichtig den sittlichen Geist des Christentums, so unvollkommen und roh sein Verständnis, am Neuen Testa­ ment gemessen, auch blieb. Ein abschließendes Bekenntnis legte er erst auf

§ 12

Die Begründung der katholischen Staatskirche im 4. Jahrhundert

49

dem Totenbett ab, wo er sich taufen ließ. Doch hatte er sich schon längst als Christ gefühlt und seine Söhne christlich erziehen lassen.

Die Taufe galt damals als ein sicheres Mittel der Sündenvergebung. Darum war es vielfach üblich geworden, sie bis zum letzten Augenblick aufzuschieben. Von keiner unvergebenen Sünde mehr beschwert, glaubte man dann im Augen­ blick des Todes der ewigen Seligkeit völlig gewiß zu sein. Doch hatte sich daneben schon seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts die Kindettaufe in der Kirche mehr und mehr durchgesetzt. Sie wird in der Reichskirche der folgenden Jahrhunderte zur normalen Form der Taufe.

III. Die Reichskirche und das byzantinische Christentum. § 12. Die Begründung der katholischen Staatskirche im vierten Jahrhundert. 1. Die Söhne Konstantins setzten die Religionspolitik ihres Vaters fort. Die Kirche wurde mit zahlreichen Stiftungen bedacht, der Sonntag als staat­ licher Feiertag eingeführt. Ihre Priester wurden von den öffentlichen Lasten und Abgaben befreit; ihre Schiedsgerichte wurden bestätigt, und neue kirch­ liche Rechte hinzugefügt. Gegen die Willkür der staatlichen Beamten wurden die Bischöfe oft genug zu Fürsprechern des Rechts und der Armen. Für ihre soziale Arbeit und Fürsorge standen ihnen jetzt auch erhöhte Mittel zur Verfügung. Aber mit den neuen Möglichkeiten drohten der Kirche nun auch neue Gefahren. Solange sie verfolgt war, hatten sich ihr im allgemeinen nur solche Persönlichkeiten angeschlossen, die von der Wahrheit ihrer Botschaft innerlich überzeugt und zu einem neuen Leben entschlossen waren, und ihre geistlichen Stellen verhießen deren Inhabern meist nur erhöhte Gefahr, Arbeit und Verantwortung. Das wird jetzt anders. Die staatliche Bevorzugung macht die Bischöfe zu reichen, einflußreichen und hochangesehenen Würdenttägcrn, und namentlich in den Hauptstädten drängt sich jedermann zu dieser Stellung. Auch im bürgerlichen Leben erscheint es vorteilhaft, lieber Christ zu werden als Heide zu bleiben. Massenüberttitte und Massentaufen werden üblich. Die Kirche wird Volkskirche und Jedermannskirche. Auch die Halben und Lauen, die Trägen, Gedanken­ losen und Ungläubigen gehören ihr an. Unter diesen Umständen ließ sich die Vorstellung einer in all ihren Gliedern „heiligen", sichtbaren Kirche auch grundsätzlich nicht mehr wie früher fcsthalten. Im vierten Jahrhundert suchte die afrikanische Sekte der Donatisten das Ideal der Heiligkeit und „Rein­ heit" wenigstens für den Klerus noch zu behaupten. Nur die Sakramente, die unsträfliche Geistliche austeilen, sind nach donatiftischer Auffassung gültig und wirksam zum Heil. Aber die katholische Kirche hat diese Auffassung entschieden abgelehnt und die Kraft der Sakramente demgegenüber nur noch an den korrekten Vollzug des Ritus in der Kirche gebunden. Sie hat damit 4

Schuster, Kirchengeschichte

50

Die alte Kirche

verhindert, daß der Empfang der göttlichen Gaben an menschliche Voraus­ setzungen gebunden wurde, über deren Zutreffen doch niemals eine völlige Sicherheit gewonnen werden kann; aber sie vermehrte damit freilich auch die Gefahr einer rein magischen und äußerlichen Schätzung der Gnadenmittel und der priesterlichen Amtsgewalt und hat so das sittliche und religiöse Ver­ antwortungsbewußtsein bei Geistlichen und Laien weiter vermindert. 2. Der staatliche Druck auf die Heiden nimmt schnell zu. Zwar ist die private Überzeugung und ihr Bekenntnis niemandem verwehrt; insofern

besteht noch „Gewissensfreiheit". Aber die heidnischen Tempel werden ge­ schlossen, und die blutigen Opfer bei Todesstrafe verboten. Alle einfluß­ reichen Stellen werden mehr und mehr mit Christen besetzt. Vor allem gewinnt der kaiserliche Hof selbst einen betont christlichen Charakter. Noch einmal kam ein heidnischer Kaiser mit Julian „dem Abtrünnigen" (Apostata) auf den Thron (361). Dieser machte einen letzten Versuch, bas Rad der Geschichte rückwärts zu drehen und das Heidentum wieder zur Staatsreligion zu erheben. Julian war ein Stiefneffe Konstantins d. Gr. Seine christlichen Vettern weihten ihren Regierungsanttitt dadurch ein, daß sie ihre männlichen Ver­ wandten, die als Konkurrenten hätten gefährlich werden können, hinmetzeln ließen. Julian, der noch zu jung war, wurde verschont, aber überall zurück­ gedrängt. Die Kirche lernte er nur in ihren übelsten Verttetern kennen, die sich bei Hof in Gunst zu setzen suchten und dabei allen Wünschen der Herrscher gefügig zeigten. Julian begeisterte sich für die Schönheit und die geistige Kultur des alten Heidentums, die die Kirche verfehmt hatte. Er verfaßte selbst philosophische Schriften in neuplatonischem Geist (vgl. § 10,4). Daneben war er ein tüchtiger Feldherr und Regent. Julians Versuch, das Heidentum zu erneuern, zeigt am deutlichsten, wie sehr sich dessen Lebenskraft erschöpft hatte. Er lehnte sich bei seinen Reform­ versuchen auf Schritt und Tritt an das christliche Vorbild an, das er damit bekämpfen wollte. Er wünschte heidnische Predigten einzuführen, die Armen­ pflege nach dem Vorbild der Kirche allgemein zu organisieren, ein persönliches Glaubensleben mit dem Kult der alten Götter zu verbinden. Aber es fehlten die lebendigen Gemeinden; Julian sah sich bald nur ebenso von heidnischen Schmeichlern umgeben wie vordem von christlichen. Seine Bemühungen führten nirgends zu einer Erweckung unmittelbarer heidnischer Frömmigkeit, sondern wirkten nur durch die staatliche Unterstützung und lebten vom Gegensatz gegen das Christentum. Alles nachchristliche Heidentum ist wesent­ lich Antichristentum und damit vom ursprünglichen Heidentum durchaus verschieden. Der ftühe Tod Julians im Kampf gegen die Perser (363) machte dieser kurzen Reaktionsperiode ein Ende. Auf dem flachen Lande und in kleinen, hochgebildeten Kreisen der alten Gesellschaft hielt sich das Heidentum noch lange. Erst im Jahre 529 schloß

s 12

Der trinitarische Streit

51

Kaiser Justinian die Philosophenschule von Athen. Damit verschwand dann die letzte Spur des Heidentums aus der Öffentlichkeit.

3. Gleichzeitig mit der Bekämpfung des Heidentums hatten die christ­ lichen Kaiser damit angefangen, auch die verschiedenen Ketzer im Reich zu benachteiligen und zu unterdrücken. Bald zeigte eS sich aber, daß sie daS gar nicht tun konnten, ohne sich auch in die inneren Angelegenhesten und Glaubens­ fragen der katholischen Kstche mit einzumischen. Dabei gingen sie in erster Linie nicht nach religiösen Gesichtspunkten vor, sondern nach ihren politischen Rücksichten und Interessen. An diesem Punkt erwachte der Widerstand der Kstche. Der Kampf um die Freiheit der Kstche und ihrer Lehre von staatlicher Bevormundung durchzieht daS ganze vierte Jahrhundert. Er entzündet und verwickelt sich durch einen großen theologischen Gegensatz, der gleichzeitig geklärt werden mußte, im sogenannten trinitarischen Streit (d.h. Streit um bst Dreieinigkeit). Die Christen waren von Anfang an davon überzeugt gewesen, daß sie eS in Christus mit Gott selber zu tun hätten. Eben darum galt Christus als Heiland und Herr, der das Recht und die Macht hat, der Welt wstklich die Vergebung und daS Leben Gottes zu bringen (vgl. Matth. 28,18; Joh. 20,28; Apg. 4,12; 2. Kor. 5,19; Hebr. 1,1 ff.). Die weitere Frage, wie man sich daS Verhältnis von Vater und Sohn an und für sich vorstellen sollte, trat darüber zurück. ES handelt sich hierbei um eine Frage, die sich dem menschlichen Urteils­ vermögen notwendigerweise entzieht, und auf deren Beantwortung auch nichts Entscheidendes ankommt. „Wir sollen die Geheimnisse der Gottheit lieber anbeten, als sie zu erforschen suchen ... Christus erkennen heißt, daS erkennen, was er unS schenkt, nicht seine Naturen (s. u. S. 55) und die Mög­ lichkeiten seiner Menschwerdung" (Melanchthon). Aber nachdem die Frage schon im zweiten und dritten Jahrhundert in dieser Form aufgeworfen und lebhaft verhandelt worden war, war eS doch nicht gstichgültig, wie man sie beantwortete. ES drohte die Gefahr, daß man, um einer scheinbar einleuch­ tenden Erklärung willen, Christus und Gottvater auSeinanberriß und damit die Voraussetzung zerstörte, auf der der ganze christliche Glaube ruht. Der alexandrinische Presbyter AriuS verttat den Standpunkt, in Christus sei nicht Gott selbst, sondern nur eine göttliche Kraft, der „Logos" (d. h. die Vernunft Gottes) Mensch geworden. Christus gilt ihm weniger als Bringer der Vergebung und des unbedingten Heils denn als moralisches Vorbild und als weiser Lehrer, als wunderbarer Heros oder Halbgott im Sinne der antiken Frömmigkeit. Der Bischof von Alexandrien schloß AriuS vom Predigt­ amt auS; andere Bischöfe ergriffen für ihn Partei. Um diesen Zwiespalt zu beheben, berief Konstantin d. Gr. daS erste ökumenische (d. h. Welt-)Konzil nach Nicäa 325. Hier wurde AriuS verurteilt und ein Glaubensbekenntnis angenommen, das (in abgeänderter Form, f. u.) heute noch in der katholischen 4*

52

Die alte Kirche

und evangelischen Kirche gilt. Danach ist Christus kein bloßes Geschöpf und kein Halbgott; sondern er ist mit Gottvater eines Wesens (homoüsios) und als sein Sohn vor aller Zeit aus ihm hervorgegangen. Konstantin hatte diese Entscheidung herbeigesührt. In welcher Absicht er das getan hatte, zeigt der Brief, den er vor dem Konzil persönlich an Anus und dessen Bischof gerichtet hatte. Er lautet: „Zwei Gründe hatte ich für meine Handlungsweise. Erstens wollte ich alle Völker zu einerlei Gottesvorstellung und Gottesverehrung zusammen­ schließen; zweitens wollte ich den gesamten Staatskörper, der gewissermaßen an einer schweren Krankheit barniederliegt, erneuern. Jenes Ziel wollte ich durch innerliche Erkenntnis, dieses durch ein starkes Heer erreichen. Wenn diese Über­ einstimmung zustande käme, so würde, hoffte ich, auch die Staatsverwaltung eine günstige, dem frommen Sinn entsprechende Veränderung erfahren. Nun höre ich, daß infolge eures Streites die Gemeinschaft aufgehoben und das heilige Volk (der Christen) gespalten ist. Man hätte solche Fragen von vornherein gar nicht auf­ werfen und sie jedenfalls nicht vor den Ohren des Volkes zur Verhandlung bringen dürfen. Denn wie wenige sind dazu imstande, ihre Tragweite zu ermessen und sie würdig zu behandeln! Darum verwahrt eure spitzfindigen Ansichten im geheimen Winkel eures Geistes und kehrt zu gegenseitiger Freundschaft und Liebe zurück! Gebt dem ganzen Volk den Frieden wieder! Gebt mir meine ruhigen Tage und meine sorglosen Nächte zurück!"

Konstantin glaubte nicht an einen ernsthaften Sinn des ausgebrochenen Kampfes, sondern hielt ihn für ein Schulgezänk. Ihm lag bei seinem Vorgehen nicht an der christlichen Wahrheit als solcher, sondern daran, daß die katho­ lische Kirche, die sein Reich weltanschaulich zusammenhalten sollte, einig und ruhig bliebe. Darum wünschte er, den Meinungs- und Glaubenskampf in der Kirche möglichst zu beschneiden. Bald nach dem Konzil änderte Konstantin unter dem Einfluß gleich­ gesinnter Theologen seinen Kurs und versuchte, um alle Teile zu befriedigen, sogar Arius, der eben erst verurteilt worden war, wieder in seine Gemeinde zurückzuführen. Dieser Versuch, die Klarheit der christlichen Lehre und das Gewicht der kirchlichen Lehrentscheidung zugunsten eines äußerlichen Friedens preiszugeben, scheiterte am Widerstand des neuen Bischofs von Alexandrien, Athanasios. Ein Mann von gewaltiger Kraft und Leidenschaft, nicht immer rein in seinen Mitteln, aber frei von jeder kleinlichen Eitelkeit und Rechthaberei, hat er ein Leben unausgesetzten Kämpfens und Leidens daran gesetzt, den Glauben an die volle Gottheit Christi, an die wirkliche Erlösung der Menschheit durch ihn allein festzuhalten und zum Siege zu führen. In dem Bekenntnis zur Gottheit Christi duldet Athanasios keine Abschwächung und keinen Vorbehalt: „In ihm ist das Menschengeschlecht vollendet und seinem ursprünglichen Zustand gemäß wiedererneuert worden, ja in einen Zustand noch reicherer Begnadung versetzt (als vor dem Fall): denn von den Toten auferstanden, fürchten wir den Tod nicht mehr, sondern werden in Christo ewig herrschen im

§ 12

Athanasios und Ambrosius

53

Himmelreich. Das ist aber darum Wirklichkeit geworden, weil der eigene Logos Gottes, der aus dem Vater stammt, Fleisch angezogen hat und Mensch geworden ist. Wäre er als Geschöpf Mensch geworden, so wäre er auch Mensch geblieben wie zuvor und nicht mit Gott verbunden worden. Denn wie wäre es möglich gewesen, daß ein Geschöpf durch ein anderes Geschöpf mit dem Schöpfer in Verbindung tritt? Welche Hilfe hätte einem solchen Wesen die Hilfe eines gleichartigen Wesens bedeutet, das selber der Hilfe bedarf? Wie hätte ein geschaffener Logos Gottes Urteil lösen und die Sünde vergeben können?"

Einen besonderen Nachdruck legt Athanasios, wie die meisten Christen seiner Zeit, auf den Gedanken, daß der Mensch in der Erlösung leiblich vergottet und der Tod dadurch um seine Macht gebracht werde. Soweit die Befreiung von Sünde und Schuld darüber zurücktritt, droht dem Gedanken der Seligkeit dadurch eine einseitige Verkürzung und Vergröberung. Um den Widerspruch gegen die Anerkennung der Arianer auszuschalten, warf man Athanasios politische Unzuverlässigkeit vor und suchte ihn damit kirchlich zu erledigen. Sein theologischer Protest wurde als Beleidigung des Kaisers ausgegeben, weil dessen kirchliches Friedenswerk damit gefährdet würde. In der Tat verlor die Kirche durch Athanasios und seine Glaubens­ genossen auf lange Zeit ihre äußere Bequemlichkeit und Ruhe. Aber sie rettete dafür den Ernst ihres Verkündigungsauftrags und ihres Glaubens, der sich nicht nach Belieben modeln, verkürzen oder verschweigen läßt. Immer wieder, im ganzen fünfmal, wurde Athanasios in die Verbannung geschickt; immer wieder kehrte er ungebeugt zurück, und die Zahl seiner über­ zeugten Anhänger wuchs. Dor allem stellte sich die ganze lateinisch redende Welt des Westens gegen seine orientalischen Gegner zu ihm. Der Umschwung erfolgte unter Kaiser Theodosius d. Gr. Dieser nahm das nicänische Bekenntnis wieder für das ganze Reichsgebiet als verbindlich an und ließ es von dem zweiten ökumenischen Konzil von Konstantinopel 381 feier­ lich bestätigen.

Diesem Konzil wird vielleicht mit Recht ein Glaubensbekenntnis, das NicaenoConstantinopolitanum, zugeschrieben, das besonders an hohen Feiertagen in unseren evangelischen Kirchen vielerorts zur Verlesung kommt. 4. Bei der engen Verflochtenheit der politischen und kirchlichen Aufgaben bleibt das Verhältnis der Kirche zur kaiserlichen Gewalt schwierig, und bringt namentlich die Bischöfe der großen Hauptstädte, wenn sie sich nicht einfach unterwerfen wollen, oft genug in gefährliche und verantwortungsreiche Konflikte. Ein abendländisches Beispiel hierfür ist die Gestalt des Bischofs Ambrosius, der aus der Stellung eines hohen römischen Staatsbeamten durch die Wahl des Volkes unmittelbar zum Bischof der kaiserlichen Residenz­ stadt Mailand berufen wird. Die Kirche zeigt seinem ernsten Tätigkeitsdrang höhere und freiere Wirkungsmöglichkeiten als die bürokratische Laufbahn im alternden römischen Reich. Ihr wünscht er jetzt als Prediger, theologischer

54

Die alte Kirche

Schriftsteller und Seelsorger seiner Gemeinde und seiner Geistlichen mit ganzer Kraft zu bienen. Aber gleichzeitig steht er zwei schwachen Kaisern auch politisch mit seinem Rat zur Selle, übernimmt für sie diplomatische Missionen und halt ihnen gegen Aufrührer und äußere Feinde erfolgreich die Treue. Nur dort, wo er die Sache seines Glaubens bedroht sicht, schreckt er auch vor einem offenen Widerspruch gegen die Herrscher nicht zurück und bringt sie dadurch nicht selten in peinliche Verlegenheit. Ambrosius fordert, daß sie die katholische Kllche mit allem staatlichen Nachdruck gegen Heiden, Juden und Ketzer fördern. „Alle Menschen", meint er, „die unter römischer Gewalt stehen, dienen euch, ihr Herrscher und Kaiser der Welt. Ihr selbst bient aber dem allmächtigen Gotte und dem heiligen Glauben." Das heißt aber, baß die kaiserliche Allmacht nicht bloß der Kirche bienen, sondern vor ihren Mauern gleichzeitig auch Halt machen muß, und daß sie Halt machen muß an den Grenzen des RechtS: „Man sagt wohl, dem Kaiser sei alles erlaubt, und chm gehörten all« Dinge. Darauf antworte ich: Hüte dich, mein Kaiser, dein Gewissen zu belasten und zu meinen, du hättest über baS, waS Gottes ist, llgenbein kaiserliches Recht. ES steht geschrieben: Gott, was GotteS, und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Dem Kaiser sind die Paläste zugewiesen, den Priestern die Kirchen." „ES gibt kein Recht, nach dem du einem Privatmann sein HauS entwenden kannst; glaubst Du, daß du das HauS GotteS an dich reißen darfst?"

Hier bereiten sich schon die Fragen der mittelalterlichen Kllche und ihr Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium vor. Der Kaiser ist, wie Am­ brosius zum erstenmal ausspricht, ein „Sohn der Kirche" und nicht ihr Herr. WaS das heißt, zeigte sich in großartiger Weise gegenüber dem mächtigen Kaiser TheodosiuS. Um einen Tumult zu rächen, hatte dieser viele tausend unschuldiger Bürger in einem Theater ahnungslos versammeln und dann wahllos durch Soldaten niedermachen lassen. Ambrosius forderte, daß für diese Untat, wie eS die kllchliche Ordnung verlangte, eine öffentliche Kirchen­ buße geleistet würde, und der Kaiser konnte sich dieser Forderung zuletzt nicht entziehen. Er erschließt sich auch innerlich den neuen Idealen und be­ weist damit, daß er als christlicher Imperator „in der Kllche steht und nicht über ihr". DaS ttagische Gegenstück zur Gestalt deS Ambrosius bietet im Osten Johannes Chrysostomos (d. h. „Goldmund"). Ein eifriger Theologe und Asket wurde er bald zum Kleriker und dann wider feinen Willen zum Bischof der kaiserlichen Hauptstadt Konstanttnopel gemacht. Hier entfaltete er als Prediger eine unvergleichliche Wirksamkeit, indem er ganze Bücher der Bibel fortlaufend auSlegt. Aber so groß die rednerische Kunst seines Vortrags ist, will Chrysostomos doch niemals bloß den literarischen Geschmack ent­ zücken, er will die Zuhörer moralisch fassen, aufrütteln und bessern. Sn einem besonderen Buch stellt er die Würde und Verantwortung deS Priester-

13

Die Frömmigkeit der griechischen Kirche

55

lichen Amtes eindringlich dar und warnt zugleich ohne alle Schönfärberei vor geistlichem Hochmut und geistlicher Feigheit. Der Priester muß imstande sein, „das schwer zu treffende, nicht zu bezwingende

und nicht zu bezähmende Tier, das Belieben der großen Masse, zu Boden zu treten,

die zahllosen Köpfe (dieser Hydra) abzuschlagen, ja dafür zu sorgen, daß sie gar nicht erst wachsen können." Es ist ein rechtes „Wunder, wenn ein Priester die Selig­ keit gewinnt."

Es wurde Chrysostomos zum Verhängnis, daß er in seiner Arbeit auch die Eitelkeit der vornehmen Damenwelt nicht geschont hatte, indem er sich öffent­ lich gegen den maßlosen Luxus und die Putzsucht wandte. Damit machte er sich die Kaiserin selbst zur Feindin, und diese verband sich mit seinen kirch­ lichen Feinden, vor allem mit dem eifersüchtigen Patriarchen von Alexandrien. Auf einer Synode, deren Vorgehen allem Rechtsempfinden Hohn sprach, wurde Chrysostomos in unwürdigem Zusammenspiel der Interessen politisch, moralisch und theologisch verurteilt. Ungebeugt ging er zweimal in die Verbannung. Schließlich erlag er auf dem Weg nach Kleinarmenien, „nach der ödesten Örtlichkeit der ganzen Erde", den Unbilden der Gefangen­ schaft (407). „Für alles sei Gott gelobt!" waren seine letzten Worte. Ein Menschenalter später wurden seine Gebeine von Volk und Kaiser im Triumphe eingeholt und als heilige Reliquien in der Apostelkirche beigesetzt. Das Schicksal des Chrysostomos ist bezeichnend für die geringe politische Widerstandskraft, die die griechische Kirche gegen die übermächtige politische Gewalt zu ent­ wickeln vermochte, aber zugleich auch für den unbesieglichen Märtyrergeist, den sie bis zum heutigen Tage immer von neuem bewährt.

§ 13. Die Frömmigkeit der griechischen Kirche. 1. 3m fünften und sechsten Jahrhundert gehen die dogmatischen Streitigkeiten in der Kirche, besonders im Osten, weiter fort. Das Abendland kommt größtenteils unter die Herrschaft der Germanen und beginnt jetzt auch kirchlich seine eigenen Wege zu gehen (s. u. Abschn. IV). Viel verhandelt wirb die Frage, wie sich die göttliche und die menschliche Natur Christi zue nanber verhalten. Auf dem vierten ökumenischen Konzil von Chalzedon 451 wird aus­ drücklich festgesetzt, daß Jesus Christus sowohl ganz Mensch wie ganz Gott gewesen sei, daß man seine beiden gettennten „Naturen" aber auch nicht auseinanberreißen dürfe. Auch hier stand hinter der seltsamen begrifflichen Formulierung ein lebendiges religiöses Anliegen. Schon Athanasios hat eS richtig gesehen: „Wären die Werke der Gottheit nicht

durch den Leib geschehen, so wäre die Menschheit nicht vergöttlicht worden; und wie­ derum, würde man das, was dem Fleische eignet, nicht zugleich dem Logos beilegen,

so wäre der Mensch nicht gänzlich davon befreit worden ..."

Das Heil der Menschen hängt davon ab, daß Gott und Mensch sich nicht bloß in Christus, sondern durch Christus auch in der Christenheit wirklich

56

Die alte Kirche

und wahrhaftig begegnen können. Allein der Versuch, die Verschiedenheit der Naturen und die Einheit der Person Christi, wie man es wünschte, be­ grifflich klar zu fassen, mußte doch in immer neue Schwierigkeiten hinein­ führen. Wer den Gedanken der Unvermischtheit der Naturen zu sehr betonte, gehörte auf die Seite der Nestorianer (nach dem 431 in Ephesos verurteilten Patriarchen Nestorios von Konstantinopel). Wer.ihre Vereinigung in der Person Christi zu stark hervorhob, wurde zum Monophysiten (mone physis, griechisch = eine einzige Natur). In immer neuen Kämpfen versuchten die Kaiser, vor allem der große Justinian (527—65), in ihrer Kirchen- und Reichspolitik gegenüber diesen Extremen eine mittlere Linie zu finden und deren Anerkennung allgemein durchzusetzen. Aber gerade die Verbindung der Großkirche mit dem byzantinischen Reich und der griechischen Kultur ver­ steifte auch wieder die Gegensätze und bereitete die Ablösung von ganzen Provinzen wie Syrien und Ägypten mit ihren national bestimmten Frei­ kirchen vor. Besondere Ausdehnung und Bedeutung gewann die Kirche der Nestorianer in Persien, wo sie zur Herrschaft gelangte und zum Ausgangs­ punkt einer weitausgreifenden christlichen Mission wurde (China, Java). Die breite Masse nahm an den zugespitzten christologischen Streitig­ keiten, die die Mönche und Theologen entflammten, innerlich kaum mehr Teil. Sie waren ihr in ihrer religiösen Bedeutung nicht mehr verständlich, und ihre Frömmigkeit nährte sich weithin aus anderen Quellen und blieb vielfach überhaupt auf einer unterchristlichen Stufe stehen. Der Glaube an die Herrschaft Christi und des lebendigen Gottes wurde praktisch durch die Ver­ ehrung ungezählter Heiliger abgelöst. In der Verehrung ihrer Stätten, Reliquien und Bilder machte sich jede erdenkliche Form des Aberglaubens breit. Die ersten Heiligen sind die Märtyrer (oben S. 40. 47). Ihnen schloß man nach dem Sieg der Kirche die großen Mönche und Asketen (unten § 13, 3) und bald auch die Bischöfe und Kirchenmänner an. Man war überzeugt, daß sie bei Gott im höchsten Ansehen stünden, und erflehte darum ihre Für­ sprache. Damit traten sie an eine Stelle, die ursprünglich nur Christus inne gehabt hatte. An den Gräbern der Märtyrer wurden kleine Tempel und Gotteshäuser errichtet. Die Ähnlichkeit mit älteren, heidnischen Kulten ist

besonders in der Verehrung der „Gottesmutter" Maria sehr auffallend. Doch braucht man nicht immer an absichtliche und unmittelbare Nachahmung zu denken. — Seit dem vierten Jahrhundert werden Wallfahrten ins heilige Land üblich. In der späteren byzantinischen Kirche (und noch heute bei allen griechisch-orthodoxen Christen) spielt die Verehrung der Christus- und Heiligenbilder (Ikonen) eine besondere Rolle. Im achten Jahrhundert erhob sich dagegen z. T. Widerspruch; aber schließlich wurde die Verehrung der Bilder ausdrücklich gestattet und nur die eigentliche „Anbetung" Gott vorbehalten. Das Volk verstand aber nichts von dieser theologischen

§ 13

Kultus und Kunst

57

Unterscheidung. Es blieb ihm vielfach sogar unklar, daß bas Knien, Küssen, Lichterbrennen und Weihräuchern der dargestellten heiligen Person und nicht einfach dem „heiligen" Bild selber galten. 2. Der menschliche Zusammenhalt und die unmittelbare Gemeinschaft im Glauben und Leben, die die ersten christlichen Gemeinden bestimmt hatten, waren dahin. Das Leben der Christen wird jetzt durch den heiligen Kultus der Kirche verbunden und geweiht, der den Menschen von der Wiege bis zum Grabe begleitet und immer reicher entfaltet wird. Im Mittelpunkt der Gottes­ dienste steht weniger die Predigt als der Genuß des Altarsakraments und ungezählte Weihungen, Segnungen und andere Zeremonien. Die Liturgie wird eine kunstvoll ausgebaute theatralische Vorführung, die Auge und Ohr gefangen nimmt. Nach dem Vorbild des Morgenlandes führt Ambrosius (oben S. 53) gegen Ende des 4. Jahrhunderts auch im Abendland den Ge­ sang von Psalmen und Hymnen ein. Neben der Sonntagsfeier gibt es zahl­ reiche Nebengottesdienste in der Woche, Früh- und Abendandachten. Das ganze Kirchenjahr gliedert sich in große Festkreise. Erst in der Mitte des 4. Jahrhunderts ist das Weihnachtsfest in der Stabt Rom aufgekommen. Es trat an die Stelle eines älteren, heidnischen Festes. Die Feier der Adventszeit beginnt im 6. Jahrhundert und zwar als einer Weihnachten vorbereitenden Bußzeit. Ostern wurde schon im 2. Jahr­ hundert der Kirche allgemein gefeiert. Nur die Festsetzung des Termins machte erhebliche Schwierigkeiten. Seit dem 4. Jahrhundert schob sich zwi­ schen Ostern und Pfingsten das Himmelfahrtsfest ein. 3m Zeitalter der Reichskirche beginnt auch die bildende Kunst im Leben der Kirche eine stärkere Rolle zu spielen. Die Spuren älterer christlicher Kunstübung sind meist unbedeutend und zeigen starke Abhängigkeit von den heidnischen Vorbildern. Die Malerei der Katakomben sucht aus der biblischen Geschichte einige Szenen und Zeichen mit handwerklichen Mitteln schlicht darzustellen. Sie ist überwiegend wohl nur Dekoration. Eine Zlbbildung Christi wurde von der Kirche ursprünglich ganz abgelehnt, kam aber doch schon im 2. Jahrhundert gelegentlich vor. Die ersten Darstellungen der Passionsgeschichte stammen aus dem 4. Jahr­ hundert. Die ersten christlichen Gottesdienste fanden in Privathäusern statt. Als man im 3. Jahrhundert eigene Kirchen errichtete, waren es schlichte Ver­ sammlungsbauten ohne sakralen Charakter. 3m 4. Jahrhundert finden wir verschiedene Typen der sogenannten Basilika (d. h. „die königliche", ursprüng­ lich zu ergänzen: „Halle"). Die Basilika besteht aus einem rechteckigen Längsbau mit Apsis (halbrundem Ausbau) für die Kleriker, in deren Mitte auf erhöhtem Sitz der Bischof Platz nahm. Bei größeren Ausmaßen wurde der Raum durch Säulenreihen in drei oder fünf Schiffe gegliedert. Ein größerer Hof oder eine Vorhalle war ihm vorgelagert. 3n der byzantinischen Kunst ent-

58

Dic alte Kirche

wickelt sich spater daneben noch der Zentralbau. Sein berühmtestes Beispiel ist die Hagia Sophia in Konstantinopel, die unter türkischer Herrschaft in eine Moschee verwandelt wurde und heute ein Museum ist. Ein besonderer Schmuck der altchristlichen Kirchen ist das Mosaik, das oft ganze Wände, besonders die Apsis und den Triumphbogen, überzieht und ihrer Schwere zu berauben scheint. Hier erscheinen Christus, Engel, Heilige und die biblischen Geschichten. Die blau oder golden mosaizierte Kuppel schwebt wie ein geöffneter Himmel darüber. 3. Die Kirche bildet in der Welt einen geweihten Raum. Hier kommt daS Heilige dem Menschen im Kultus sinnlich nahe und wird in hingebender Andacht genossen. Aber die sittliche Durchdringung deS Lebens kommt daneben zu kurz. Eine gewisse Ergänzung bedeutet das Mönchtum, das starke moralische Kräfte entbindet und z. T. auch auf seine Umwelt erziehe­ risch einwirkt. Aber seiner Grundrichtung nach bleibt es der Welt abgewanbt. Außerdem sucht eS nur einzelne Menschen zu ergreifen und hebt sie über die anderen Christen empor. Die Annahme einer doppelten Sittlichkeit, eines leichteren unh eines schwereren WegeS zu Gott, ist gemeinkatholisch, fehlt aber im Neuen Testament. Sie widerspricht der Unbedingtheit der evangelischen Forderung, die nur einen ganzen und keinen halben Gehorsam kennt. Insofern sie zu­ gleich Werkgerechtigkeit ist, die für die besondere Leistung deS Menschen eine enssprechcnde Auszeichnung und Belohnung durch Gott erwartet, wider­ spricht sie auch der Erlösung durch Christus, die alles menschliche Verdienst ausschließt. DaS erste Zeugnis für die doppelte Sittlichkeit findet sich schon in der Dibache (vgl. o. S. 26). Der Lohngedanke kommt besonders kraß bei Cyprian (oben S. 36) zum Vorschein: „Die Mittel, Gott zu versöhnen, sind durch Gottes eigene Worte gegeben; was die Sünder tun sollen, haben die göttlichen Weisungen gelehrt: Gott wird genuggetan durch gerechte Werke, und die Sünden werden abgewaschen durch Verdienste der Barmherzigkeit". Die religiösen Ideale, auf denen das Mönchtum ruht, sind in der Kirche sehr alt. Fromme, die sich durch Ehelosigkeit, Fasten und Beten Gott ganz hinzugeben suchten, gab eS seit der frühesten Zeit. Diese Asketen werden zu „Mönchen" (monachoi, griechisch = Einsame), als sie anfangen, auch die christliche Gemeinde als „Welt" zu meiden und ganz in die Einsamkeit zu gehen. Dies geschah schon in der langen FriedenSzett zwischen den Ver­ folgungen des DeciuS und Diokletian (S. 46). Als dann in der neuen Reichskirche die Bischöfe vielfach in Hoffart und Üppigkett verfielen und

der weltliche Sinn in den schnell wachsenden Gemeinden überhand nahm (S. 49), erlebte das Mönchtum einen ungeheuren Aufschwung. Besonders zahlreich waren seine Vertreter in Ägypten, dann auch in Syrien und im

übrigen Osten. Als der älteste Eremit (griech. — Bewohner von Einöden) gilt der Kopte

§13

Anfänge des Mönchtums

59

Antonius, dessen Leben Athanasios (S. 52) beschrieben bat. Das Evange­ lium von dem reichen Jüngling (Matth. 19,21), das Antonius eines TageS in der Kirche hörte, soll ihn zu seinem Ensschluß gebracht haben, die Welt zu ver­ lassen. Er verteilte sein ganzes Vermögen an die Armen und widmete sich, erst noch in der Nähe seiner Heimat, dann immer tiefer in die Wüste vor­ dringend, ganz der schärfsten Askese und dem Kampf mit den „Dämonen". Unzählige suchten bei ihm Rat und Hilfe. AuS dem Leben der ältesten ägyptischen Mönche sind unS noch zahlreiche Anekdoten und glaubwürdige Aussprüche überliefert. Sie geben z. T. ein erschütterndes Bild von der Größe und der Qual ihres einsamen Ringens um den Frieden mit Gott und mit sich selbst. Ein Eremit klagt, daß er schon acht Jahre Mönch sei und immer noch von Anfechtungen geplagt würde. Darauf antwortet ihm ein anderer: „Ich lebe seit 70 Jahren in diesem Stand, und ich habe auch noch keinen Tag lang die Möglichkeit gehabt, aufzuatmen. Und du willst nach acht Jahren Ruhe finden!" DaS Ziel der mönchischen Kasteiung muß ihr immer unerreichbar bleiben. „WaS ich in dieser Ein­ samkeit Tag und Nacht tue", schreibt BasileioS in einem Brief, „ja, das schäme ich mich zu sagen. Zwar habe ich die Stadt verlassen, die eine Quelle von tausend Übeln war. Mich selbst aber habe ich nicht verlassen". Um 320 gründet Pachomius, gleichfalls in Ägypten, das erste Kloster (claustrum, lateinisch = abgeschlossener Raum), in dem sich eine große An­ zahl von Mönchen unter der Zucht einer strengen Regel zusammenfand. Hier werden schon Unterordnung unter den Abt, gleiche Tracht, gemeinsame Mahlzeiten, Handarbeit und Verzicht auf jeden Privatbesitz gefordert. Doch fehlt noch das Noviziat sowie daS lebenslänglich bindende Gelübde. Unter PachomS Leitung entstand auch daS erste Nonnenkloster. Noch bedcussamer wurden die Regeln, die BasileioS von Caesarea in der zweiten Hälfte deS Jahrhunderts verfaßte. Er sucht das Klosterleben von dem Gedanken der Gemeinschaft auS zu rechtfertigen und sieht darin eine Erneuerung deS urchristlichen Gemeindelebens. Gleichzeitig verbindet er die Mönche durch die Forderung der Armen- und Krankenpflege enger mit der Kirche. Im allgemeinen galt im griechischen Osten daS Eremitentum aber doch als die höhere Form der mönchischen Frömmigkeit. Im Abendland fand daS Mönchtum erst seit dem Anfang des 5. Jahr­ hunderts stärkere Verbreitung. 529 gründete Benedikt von Nursia auf dem Berge Casinum zwischen Rom und Neapel über den Trümmern eines Apollo­ tempels daS Kloster Montecassino. Seine „Benedikfinerregel" gewann für die Entwicklung deS abendländischen Mönchtums grundlegende Bedeutung. Hier findet sich auch Noviziat und Gelübde. Als Beschäftigung empfiehlt auch Benedikt den Mönchen Handarbeit und Ackerbau. Don einer Pflege der Wissenschaft ist noch nicht die Rede; sie wurde aber bald ein besonders ftuchtbareS Feld mönchischer Arbeit.

60

Die alte Kirche

In der bedingungslosen Hingabe des persönlichen Wollens nach Gottes Befehl bleibt das Mönchtum ein großartiger Ausdruck für den Ernst der damaligen Christenheit. Es hat auch später die Kirche immer wieder vor völliger Verweltlichung bewahrt und namentlich im Abendland viel wert­ volle Kulturarbeit geleistet. Trotzdem ist es eine Verzerrung des wahren christlichen Gehorsams und ein unmöglicher Versuch des Menschen, aus eigener Kraft mit sich fertig zu werden. Darum kommt der Mönch auch in dem, was er Nützliches tut, niemals von dem Gedanken an sich selbst und feine eigene Seligkeit los. Die „guten Werke", die er sich aussucht, sind wie alle selbstgewählten Werke oft unfruchtbar und zerstören die natürlichen Pflichten und Aufgaben, die Gott den Menschen in ihrem Zusammenleben gestellt hat. Vgl. Luthers Kritik am Mönchtum (u. § 56, 5).

§ 14. Die Entstehung des Islam und der Zusammenbruch der östlichen Reichskirche. 1. Das Christentum hatte das ganze Reich durchdrungen und fühlte sich berufen, die Herrschaft über alle Welt anzutreten. Im Westen gelang es ihm in der Tat, die schweren politischen Erschütterungen zu überstehen und die jungen germanischen Völker, eines nach dem anderen, zu sich herüberzuziehen. Dagegen erwuchs ihm im Osten plötzlich ein gewaltiger und erfolgreicher Gegner: die Religion Mohammeds, der Islam. Mohammed ist gegen das Jahr 570 geboren. Die Geschichte seiner Jugend ist wie die anderer Religionsstifter und Heiliger ganz von der Legende überwuchert. Wir wissen, daß er aus der achtbaren, aber nicht reichen Sippe der Koreischiten stammte. Früh verwaist, wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf, bis er durch die Ehe mit der reichen, erheblich älteren Witwe Chadidschah, in deren Diensten er in Mekka stand, zu Unabhängigkeit und Wohlstand gelangte. Seine Be­ rufung zum Propheten erlebte er erst im Alter von 40 Jahren. Aus wunder­ baren Stimmen, die er hörte, glaubte er den Erzengel Gabriel zu ver­ nehmen, durch den ihm Gott seinen Willen zu erkennen gab. Diese Visionen schlugen sich in festen, dichterisch geformten Reden nieder. Mohammed ge­ wann die Überzeugung, von Gott zum Werkzeug erwählt zu sein. An der

Ehrlichkeit, mit der er an seine Berufung und seine Offenbarungen glaubte, ist nicht zu zweifeln, auch wenn in seiner späteren Entwicklung die eigentlich religiösen Gedanken zurücktteten und die Gottesoffenbarungen vor allem den praktischen, politischen und oft auch ganz privaten Wünschen Mohammeds entgegenkommen. Ähnlich wie im Urchristentum bildet auch für Mohammed die Ansage eines sofort bevorstehenden göttlichen Gerichts über alle Welt den Ausgangs­ punkt der Verkündigung. Finster und ernst war der Eindruck, den seine ersten Anhänger auf ihre Umwelt machten. Mohammed wandte sich vor allem

§ 14

Mohammcd und feine Lehre

61

gegen die Hartherzigkeit der mekkanischen Bevölkerung, die im wesentlichen aus Handeltreibenden bestand, ihre unsoziale Rücksichtslosigkeit gegen die Armen und Gedrückten. Aber der Erfolg seiner Predigt war in Mekka nur gering. Außer seiner Frau, seinem Vetter Ali und seinem treusten Freunde Abu Bekr schloß sich ihm nur ein kleiner Kreis von Gläubigen an. Zuletzt mußte er die feindselige Stadt fluchtartig verlassen. Die „Hidschra", b. h. die Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina am 16. Dezember 622, bildet das erste feste Datum seines Lebens und zugleich den Beginn der mohammedanischen Zeitrechnung (nach Mondjahren). Von nun an arbeitet Mohammed immer mehr mit politischen und diplo­ matischen Mitteln. Aus dem Bußprediger und sozialen Reformer wird der theokratische Gewaltherrscher, der die Bekehrung und Unterwerfung ganz Arabiens ins Auge faßt. Zunächst gewann Mohammed in Medina die Führung. Es kam ihm dabei zustatten, daß hier verschiedene Araber­ stämme in unfriedlicher Gemeinschaft nebeneinander wohnten. Teils waren sie Heiden, teils aber auch jüdischen Bekenntnisses. Es gelang Mohammed, die Heiden für sich zu gewinnen, während die Juden teils ausgewiesen, teils hingemetzelt wurden. Im Jahre 630 glückte die Einnahme von Mekka. Mohammed ließ in der Stadt alle Götzenbilder zerstören und verlangte von den Einwohnern die Anerkennung seiner Herrschaft und Lehre. Sonst wurden sie schonend behandelt. In derselben Weise wurde bis zu Mohammeds Tode (632) fast ganz Arabien gewonnen und bekehrt. 2. 3m Mittelpunkt von Mohammeds Lehre steht der Glaube an den einen Gott. Kein Wesen darf ihm als göttlich an die Seite gestellt werden. Die christliche Lehre von der Gottheit Jesu gilt den Mohammedanern als Rückfall in den Polytheismus. Gott bestimmt die Geschicke der Menschen bis ins Einzelnste und allein. Es bleibt nichts anderes übrig als die fromme Ergebung in seinen Willen, der „Islam". Aber dieser „fatalistische" Glaube soll die Menschen keinesfalls müde oder untätig machen, sondern vielmehr mit einem blinden Mute wappnen, so daß sie sich Gottes Willen bedingungs­ los und vertrauensvoll unterstellen. Das gilt besonders für die Pflicht einer kriegerischen Ausbreitung des wahren Glaubens. Auf die Gefallenen wartet im Paradiese die reichste Belohnung, die Mohammed mit glühenden, sinn­ lichen Farben auszumalen weiß. Umgekehrt werden die Ungerechten in der Hölle mit den fürchterlichsten Qualen bestraft. Es ist deutlich, daß Mohammed bei dem Ausbau seiner Lehren von dem Vorbild der Christen und noch mehr der Juden abhängig war, obschon er sich von ihrem Glauben im Einzelnen nur höchst unzutreffende und unklare Vorstellungen machte. Er wollte für seine Araber auch eine religiöse Gemein­ schaft und einen Glauben gründen, wie ihn die anderen Völker oder Kirchen schon längst besaßen. Dazu schuf er aus seinen prophetischen Aussprüchen, die er niederschreiben ließ, der Bibel entsprechend, vor allem ein eigenes

62

Die alte Kirche

heiliges Offenbarungsbuch/ den Koran (d. h. „Lesung")- Bon den Juden, die in Arabien ziemlich zahlreich waren, erwartete er anfangs, daß sie ihn ohne weiteres anerkennen und sich ihm anschließen würden. Erst nach der Enttäuschung, die er hier erlebte, suchte er wieder stärker bei den einheimischen Traditionen seines Landes Anlehnung. Nicht Jerusalem, sondern Mekka wird der Mittelpunkt deS neuen Glaubens. Den alten, hochverehrten Stein­ fetisch, die Kaaba von Mekka, behält Mohammed als besonderes Heiligtum bei. DaS bedeutete eine geschickte Anknüpfung an den älteren Glauben der Araber. Gleichzeitig brachte er die Kaaba aber mit dem Erzvater Abraham (Ibrahim) in Verbindung und erklärte den Islam für die Erneuerung der ursprünglichen Religion Abrahams, auS der die mosaische und die christliche Religion später abgeleitet seien. DaS ermöglichte die Ausweitung des Islam zu einer Weltreligion. DaS Leben der Gläubigen wird durch eine Reihe heiliger Vorschriften geregelt. Fünf davon gelten als die „Säulen" deS Islam: 1. DaS treue Fest­ halten am Bekenntnis: „ES gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet". 2. DaS fünfmalige Gebet. ES besteht aus gewissen arabischen Formeln, die unter genau vorgeschriebenen Körperbewegungen wiederholt werden. Man wendet sich dabei gegen Mekka. 3. DaS Fasten im Monat Ramadan, daS täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit größter Strenge gehalten werden muß. 4. Ablieferung von Almosen, der Armensteuer, in eine gemeinsame Kasse. 5. Die Wallfahrt nach Mekka, die jeder Gläubige mindestens einmal im Leben ausführen soll. — Mohammed verbietet ferner in Anlehnung an das Judentum den Genuß von Blut und Schweinefleisch, außerdem auch von berauschendem Gettänk und Glücksspiel. Er schränkt die geschlechtliche Zuchtlosigkeit deS arabischen Heidentums ein. Seine Bestimmungen über die Vielweiberei und Ehescheidung (nur für den Mann) bedeuteten gegen die früheren Zustände bereüS einen wesentlichen Fortschritt. Unter Mohammeds Worten findet sich manche ausdrückliche Anerkennung der Frau. Die spätere Entwicklung deS Islam ist hierin z. T. hinter Mohammed wieder zurückgesunken.

Auch der strenge Monotheismus deS ursprünglichen Islam ließ sich mit der Zeit vielfach nicht aufrecht halten. Der Heiligenglaube und -kult hat sich schnell entwickelt und den Glauben an den einen, weltfernen Allah praktisch verdrängt oder verdeckt. Ganz wie in der katholischen Kirche sucht man sich theoretisch gegen den Vorwurf deS Abfalls dadurch zu sichern, daß nur eine „Anrufung", aber keine „Anbetung" der Heiligen erlaubt wird. Auch der Reliquienglaube entfaltet sich in merkwürdiger Ähnlichkeit mit den katholischen Bräuchen. ES handelt sich hier wie dort um daS gleiche religiöse Bedürfnis, daS zu gleichen Entartungserscheinungen geführt hat. An direkte Beeinflussung ist kaum zu denken.

§ 14

Der Zusammenbruch der östlichen Reichskirche

63

DaS praktisch entscheidende Stück des neuen Glaubens bildete die be­ dingungslose Anerkennung Mohammeds als des gottgesanbten „Pro­ pheten". Als geistlicher Führer ist er damit zugleich ein weltlicher Machthaber. Die Kalifen sind ihm als Beschützer des rechten Glaubens darin nach­ gefolgt. Mohammed erfüllt in seiner Person ungefähr bas volkstümliche Messiasideal beS Spätjudentums, das Jesus von sich gewiesen hatte. Vielleicht ist Mohammed in der Vorstellung, die er von sich hatte, durch be­ stimmte gnostisch-christliche Gedanken beeinflußt, die z. B. auch im Manichäismus (s. o. S. 45) wiederkehren. Jesus erscheint hier nur als ein göttlicher Gesandter unter vielen. Im allgemeinen gilt Mohammed als der letzte, abschließende Prophet. Aber man erwartete schon früh einen „Mahdi" (den „Rechtgeleiteten"), der seine Worte von dem Endgericht wieder in Erinne­ rung bringen sollte. Diese Erwartung hat später von neuem zu einer stark politisch gefärbten Messiashoffnung geführt (der Mahdi von Chartum). 3. Gemessen an der Verkündigung Jesu, aber auch der alttestamentlichen Propheten erscheinen die religiösen und sittlichen Anschauungen des Jflam meist als recht roh und widerspruchsvoll. Aber für bas damalige arabische Hei­ dentum bedeuteten sie einen gewaltigen Fortschritt. In dem bis dahin noch fast geschichtslosen Volke wurden durch Mohammeds Verkündigung ungeahnte Kräfte entbunden, die schon unter seinem Nachfolger Abu Bekr über die arabische Welt hinaus zum Angriff vorstießen. Unter dessen Nachfolger Omar wurde Damaskus (635), Jerusalem, Ägypten, Persien, ganz Syrien

bis zum Taurus erobert. An der vermeintlichen Stelle des salomonischen Tempels erhob sich als größtes Heiligtum die Moschee Omars. Dieser Sieg über die Christen wirkte wie ein Gottesgericht. Kurz zuvor war es dem byzantinischen Reich gelungen, den alten, persischen Erbfeind ent­ scheidend zu schlagen. Gerade im heiligen Lande glaubte man nun für alle Zeiten des göttlichen Schutzes für die Christen gewiß sein zu können und wiegte sich in Sicherheit. Da kam der Angriff des Jflam wie eine Springflut und warf die Herrschaft beS christlichen Kaisers wie ein Kartenhaus zu­ sammen. Es handelte sich aber nicht allein um einen äußeren Erfolg. Ge­ messen an dem Aberglauben, dem polytheistischen Heiligenkult, dem Stteit der Sekten und Theologen und der individualistischen Weltflucht der griechi­ schen Mönche mußte der Jflam in der Tat wie eine Rückführung zu einer ernsteren Form der Frömmigkeit erscheinen, in der ursprüngliche Kräfte des jüdisch-christlichen Glaubens vielfach reiner lebendig geblieben waren als im verweltlichten Christentum der Zeit. Das Christentum wurde in den eroberten Gebieten zwar nicht völlig vernichtet; aber zahlreiche Übertritte zum Islam fanden statt. Später hat auch der Islam sich in Sekten und Schulrichtungen gespalten und mancherlei Wandlungen erlebt. Mit dem Eindringen der persischen Kultur und der hellenistischen Bildung erwachte gegenüber dem Koran und der alten

64

Die alte Kirche

Glaubensüberlieferung die Kritik, und eS entstanden mancherlei Schwierig­ keiten, die gelöst werden mußten. Besonders wichtig wurde der Einfluß deü Aristoteles und der neuplatonischen Philosophie. ES entsteht eine isla­ mische Scholastik und Mystik, die mit der christlichen Entwicklung im Mittel­ alter die erstaunlichsten Parallelen besitzt und z. T. auf sie auch von Einfluß geworden ist (s. u. § 39,1 u. 44,3). In der neuesten Zeit befindet sich der Islam infolge deS Einbringens der europäischen Aufklärung in schwerer Krise. Andererseits gewinnt er, besonders in Afrika, durch den Gegensatz gegen die Europäer auch wieder einen verstärkten Auftrieb und setzt dem Vorbringen der christlichen Mission einen besonders hartnäckigen Widerstand entgegen.

IV. Sie Ausbildung des römischen Katholizismus in der abendländischen Welt. § 15. Augustin. 1. Während die kirchliche Entwicklung im Osten in der einmal einge­ schlagenen Richtung weiterlief und langsam zu erstarren begann, brachen im Abendland durch Augustin tiefe, neue Fragen auf. Seine Entwicklung vollzieht sich im Hellen Licht der Geschichte. Wir können keine Persönlichkeit deS gesamten Altertums in ihrem inneren und äußeren Leben so genau ver­ folgen wie Augustin. AuS seinen zahlreichen, glänzend geschriebenen Werken ragen die Confessiones („Bekenntnisse") hervor, die in betender Hin­ wendung zu Gott daS eigene Leben bis zur Bekehrung überschauen und deuten. Die Zergliederung deS eigenen Seelenlebens und die unbarmherzige Selbstbeurteilung, die sich darin findet, wirken in gewisser Weise „modern". Augustin ist am 13. November 354 in der numidischen Landstadt Thagaste geboren, als Sohn eines heidnischen Vaters und einer eifrig christlichen Mutter. In Karthago fand er seine höhere Ausbildung. Das ungebundene Leben, das er hier führen konnte, verwickelte ihn in mancherlei kleinere und größere Verfehlungen, die er später selbst in den schwärzesten Farben gemalt hat. In Wirklichkeit war er nicht etwa in ein Lasterleben versunken. Eine heute verlorene philosophische Schrift, Ciceroö ,^HortensiuS", weckte in Augustin zuerst daS Bedürfnis nach einem höheren, geistigen Leben. Sein Erkenntnis­ durst führte ihn zum ManichäiSmuS (oben S. 45). Aber feine Erwartung, hier sichere Wahrheit zu finden, wurde eMtäuscht. Augustin wurde zum Skep­ tiker, der an allem zweifelte und verzweifelte. In dieser Stimmung ging er, angewidert von dem leichtsinnigen Studentenleben in Karthago, nach Rom und von da aus als Lehrer der Rhetorik nach Mailand. Hier lernte er in den Predigten deS Ambrosius (oben S. 53), die er anfangs nur aus In­ teresse an dessen schöner Vortragsweise besucht hatte, daß die Worte der

§ 15

Augustin

65

Bibel, recht verstanden, auch für den gebildeten Menschen glaubwürdig seien und die Wahrheit verkündigten. Der Mut, mit dem Ambrosius öffentlich für diese Wahrheit einzutreten wagte, beeindruckte Augustin nicht minder. Den AuSschlag gab die Erzählung eines afrikanischen LanbSmanneS von dem Leben des heiligen AntoniuS und seiner Jünger (S. 59), die eS wirklich fertig­ gebracht hatten, mit dieser Welt zu brechen und ein neues, christliches Leben zu beginnen. Zu Ostern 387 ließ sich Augustin von Ambrosius taufen und begann ein neues, christlich-aSketifcheS Leben. DaS Studium der neupla­ tonischen Philosophie(S.44f.) bestärkte ihn in dem Glauben an die Wahrheit des Geistigen und des Christentums. Später wurde er Bischof von Hippo in Afrika. Hier ist er, durch seine Schriften, Briefe und Predigten weit berühmt, im Jahre 430 gestorben, während die Vandalen schon die Stadt belagerten.

2. Die größte Wirkung übte Augustin auf die Folgezeit durch seine Gnaden­ lehre und durch seine Lehre von der Kirche aus. Der irische Mönch PelagiuS lehrte, daß der Mensch mit einem freien, sittlichen Willen geboren werbe. Die Sünde AbamS habe ihn nur geschwächt; er sei dennoch fähig geblieben, die Sünde zu vermeiden und sich selbst das Himmelreich zu verdienen, wie eS die Mönche versuchten. Auf unsere mora­ lische Anstrengung kommt alles an; die Botschaft Jesu und der Beistand der Kirche können zur Not auch entbehrt werben. Dagegen entwickelt Augustin die Lehre, daß in Adam alle Menschen so schwer gesündigt hätten, baß sie der Kraft, baS Gute zu wollen und zu vollbringen, gänzlich verlustig gegangen seien. Alle, deren sich Gott nicht annimmt, gehen unrettbar verloren. Unser Heil hängt von dem ewigen Ratschluß GotteS ab, der die Menschen für ihr Schicksal vorherbejsimmt („prädestiniert") hat. Seine Gnade kommt all unserem Wollen zuvor, formt unser böses Wesen um und bringt unS so ohne jedes eigene Verdienst zur ewigen Seligkeit. „Der Glaube ist also in seinem Beginn wie in seiner Vollendung ein Geschenk GotteS, und baß dieses Geschenk den einen zuteil wirb, während eS den anderen versagt bleibt, daran kann niemand zweifeln, der die heiligen Schriften kennt. Warum eS aber nicht allen zuteil wirb, diese Frage braucht den Gläubigen nicht zu beun­ ruhigen. Sagt ihm doch der Glaube, baß um beS SünbenfallS willen alle der ge­ rechten Verdammnis verfallen waren und baß man Gott gerechterweise auch dann nicht tadeln könnte, wenn niemand erlöst würbe. Daraus ergibt sich erst die Größe der Gnade, baß sehr viele gerettet werben und an den Nichtgeretteten baS Schicksal erkennen, baS auch ihnen gebührt. Wer sich also rühmen will, der rühme sich nicht seiner Verdienste — denn die sieht er in der gleichen Weise auch an den Verdammten —, sondern beS Herrn. Warum er aber den einen rettet und den anderen nicht, baS ist unS verborgen. Unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege' (Röm. 11,33). Laßt unS hier hören und sprechen: ,O Mensch, wer bist du, baß du mit Gott rechten willst?' (Röm. 9,20). DaS ist besser, als wenn wir eine Erklärung über Dinge wagen, die Gott in Geheimnis hüllen wollte, er, dessen Wille doch keine Ungerechtigkeit enthalten kann." 5

Schuster, Kirchengeschichte

66

Die alte Kirche

Mit dieser Lehre hat Augustin in der katholischen Kirche zu allen Zeiten ein Gegengewicht gegen die um sich greifende Selbstsicherheit und Werkgerechtigkeil gebildet. Luther hat ihn darum als Gesinnungsgenossen empfunden. Aber zwischen ihm und Augustin bestehen doch Unterschiebe. Für Luther steht daS Wort Gottes, so wie eS unS in Christus begegnet, im Mittelpunkt seiner Lehre, auch seiner PräbestinationSlehre. Indem wir aus die Verheißung Christi hören und ihr glauben, wird unS die Gnade GotteS gewiß und ohne Vorbehalt zuteil. Augustin kennt keinen eindeutigen Besitz der Gnade und darum auch keine eindeutige Heilsgewißheit für den Angefochtenen und für den Glaubenden. Darum sucht er stärker bei der Kirche Schutz, die GotteS Gnade verwaltet, und beugt sich, anders als Luther, unter ihre Autorität. „Ich würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegen würde." 3. Augustin lehrte, daß die wahre Kirche GotteS unsichtbar sei. Sie besteht auS den AuSerwählten, welche niemand kennt. Aber sie sind vor allem doch in der katholischen Kirche zu finden. Die katholische Kirche ist allein die wahre Kirche, wie man schon auS ihrer Verbreitung über alle Welt hin erkennen kann. Die eigensinnige Abgeschlossenheit der Winkelkirchen, die nicht in der großen Gemeinschaft aufgehen wollen, erscheint dagegen als Lieblosigkeit und Sünde. Weil das Heil nur durch die katholische Kirche ver­ mittelt wird, billigt Augustin nach anfänglichem Widerstreben schließlich auch ausdrücklich, daß ihr der Staat die Ketzer gewalssam unterwirft; geschieht eS doch zu deren eigenem Heil! Die Worte „Nöfiget sie hereinzu­ kommen" („cogite intrare!“) (Luk. 14,23) auS dem Gleichnis vom großen Abendmahl galten ihm als biblische Bestäfigung dieser verhängnisvollen Stellungnahme. Als Alarich im Jahre 410 Rom erobert hatte, machten viele Heiden für diese Niederlage das Christentum verantwortlich: die alten Götter hätten eine derarfige Katastrophe niemals zugelassen. Dagegen schrieb Augustin sein „riesiges Werk" vom Gottesstaat. Er betont darin, daß kein Reich dieser Welt von ewiger Dauer sei. Die Weltgeschichte erscheint ihm wie ein ständiger Kampf zweier miteinander verflochtener Geistergemeinschaften. Die Bürger der einen kennen in satanischer Selbstüberhebung nichts als diese Welt und ihre Macht und Gewalt. Die der anderen sind Fremdlinge auf Erden. Sie leben nicht in Zwietracht, sondern in Frieden, nicht in Hochmut, sondern in Liebe und setzen all ihr Vertrauen in Demut auf Gott, dessen ewiges Reich sie ersehnen. Diese Menschen werben in der Kirche Christi ge­ sammelt. ES ist nicht Aufgabe der Kirche, den Völkern einen äußeren, polifischen Erfolg zu verbürgen. Sie bereitet sie vielmehr auf die Ewigkeit vor im Namen deS GotteS, der um seiner selbst willen Liebe und Ge­ horsam finden muß. Dennoch ist die Kirche auch auf Erden zum Guten wirksam.

$16

Die Entwicklung der Hierarchie und des Papsttums

67

„Der himmlische Staat tust während seiner irdischen Pilgerschaft Bürger aus allen Völkern zu sich und sammelt eine Fremdlingsgemeinschaft in allen Sprachen, unbekümmert um die Verschiedenheit in Sitten, Gesetzen und Einrichtungen, die den irdischen Frieden begründen und aufrechterhalten. Er beschneidet und zerstört hier nichts; ja, er erhält und schützt die Einrichtungen, die bei aller nationalen Ver­ schiedenheit doch ein und demselben Ziel bienen, dem irdischen Frieden, nur dies vorausgesetzt, baß sie der Religion beS einen und wahren Gottes nicht im Wege stehen." Im Gegensatz zur Kirche erscheint der heidnische Staat der Römer, der in seiner imperialistischen Herrschsucht die Götter nur um ihrer Gaben willen verehrte, von teuflischen Gewalten ewiger Zwietracht durchdrungen. Im Mittelalter ist Augustins Werk viel gelesen und verschieden auSgelegt worden. Die Päpste haben eS so ausgefaßt, als sei der irdische Staat darin seinem Wesen nach für mehr oder weniger böse erklärt und der Kirche die Herrschaft über ihn und die ganze Welt zugestanden. Karl der Große und andere Kaiser haben sich umgekehrt an dem Idealbild deS christlichen Herr­ schers erbaut, daS Augustin ihnen vorhielt, und darauf ihre Pflicht begründet, in dieser Welt nach GotteS Willen selbst für den Frieden zu sorgen. Von irgendwelchen päpstlichen Vorrechten ist in dem ganzen Buch in der Tat nicht die Rede.

§ 16. Die Entwicklung der Hierarchie und deS Papsttums. 1. Die überragende Stellung der römischen Kirche war im Abendland schon längst unbestritten. Rom war hier die einzige Gemeinde, in der noch

zwei Apostel, PettuS und Paulus, persönlich gewirkt hatten, und war durch seine Größe und Bedeutung von jeher berühmt (S. 17). Aber damit ließ sich noch kein bestimmter rechtlicher und religiöser Vorrang begründen. Hierfür beriefen sich die Päpste seit dem 3. Jahrhundert mit wachsender Zuversicht auf eine Reihe von PettuSworten deS Neuen Testaments (Matth.16,18; Luk. 22,32; Joh. 21,15), in denen sie für Petrus einen „Primat" begründet sahen, dessen Rechte dann kraft Sukzession (S. 36) auf die Päpste überge­ gangen sein sollten. Geschichtlich gesehen, ist daS eine unmögliche Voraus­

setzung. ES ist zwar wahrscheinlich richtig, daß Petrus in Rom gewesen ist und hier, etwa in der neronischen Verfolgung (S. 40), sein Ende gefunden hat. Aber die Annahme, daß er Bischof von Rom gewesen sei, ist schon deshalb

auSgeschlosien, weil eS im 1. Jahrhundert in Rom wie allenthalben noch gar kein monarchisches Bischofsamt gab (S. 35 f.). Auch begegnet diese Annahme zunächst nirgends. Außerdem sprechen die betteffenden Bibelftellen nicht von der Begründung einer kirchlichen Instanz, die dauernden Bestand haben soll,

sondern nur von PettuS persönlich. DaS wird zu Beginn deS 3. Jahrhunderts schon von Tertullian richttg hervorgehoben, der gleichzestig die volle Schale

68

Die alte Kirche

seines Hohnes über den „Oberpriester" (pontifex maximus, ein heidnischer Titel) und „Bischof der Bischöfe" auSgießt, der der Meinung ist/ der Kirche Christi Befehle geben zu können. Um die Mitte desselben Jahrhunderts weist auch Cyprian (S. 36) die „Torheit" und „Anmaßung" seines römischen Kollegen mit scharfen Worten zurück. Dann hören wir ein Jahrhundert lang nichts mehr von neuen römischen Vorstößen. Erst seit dem Ende deS 4. Jahrhunderts beginnt die Autorität des römischen Stuhles wieder fühlbar zu wachsen. ES kam ihm zugute, daß sich im Osten die drei Patriarchen von Alexandrien, Antiochien und Konstantinopel um den Vorrang stritten, während der römische Bischof im Abendland keine Nebenbuhler besaß. Auch die Abwesenheit deS Kaisers war auf die Dauer kein Nachteil. Der Papst war an der Grenze deS bedrohten Reiches seinem unmittelbaren Zugriff entzogen und erschien schließlich selbst wie der eigent­ liche Herr der ewigen Stadt. In ihrem vollen Umfang erscheinen die päpstlichen Ansprüche zum erstenmal unter Leo I. d. Gr. Leo fühlt sich als „vicariusChristi“ für die ganze christ­ liche Kirche. Er tritt Attila und Geiserich mit hohem persönlichen Mut in den Weg. Er weiß auch gegen den byzantinischen Kaiser mit großem diplo­ matischen Geschick an seinen kirchlichen Forderungen festzuhalten. 3tn Jahre 445 erreicht er von diesem ein Edikt, daS eine glänzende Anerkennung der päpstlichen Stellung bedeutete. 2. Im 5. und 6. Jahrhundert geht die römische Verwaltung und Rechts­ ordnung in den Stürmen der germanischen Völkerwanderung langsam unter. Die einzige alte Organisation, die nicht fortgespült wird, ist die katholische Kirche. Der ferne Kaiser kann keinen Schutz mehr bieten, und seine Beamten sind als Steuereinnehmer meistens verhaßt. In den Bischöfen sieht die romanische Bevölkerung immer mehr ihre eigentlichen Führer und Beschützer. Sie sorgen für ihre Gemeinden, so gut eS geht, und nötigen vielfach auch den neuen, germanischen Machthabern Achtung ab. Die Rest« deS römischen Nationalgefühls verschmelzen mit dem Glauben an die heilige, römischkatholische Kirche; denn die germanischen Eroberer sind noch Heiden ober Arianer (s. u. § 21). Der Kirche schreibt man, wie eS Augustin gelehrt hatte, den alleinigen Besitz von Wahrheit und Gerechtigkeit zu, die die Bischöfe ver­ walten als die Vertteter der GotteSordnung auf Erden. Auch das, was von klassischer Kultur und Literatur noch lebendig ist, lebt vornehmlich in der Kirche fort. Während die Bildung sonst im allgemeinen Niedergang rasch zurückgeht, findet sie bei den Geistlichen immer noch eine bescheidene Pflege. Typisch für daS alles ist die Gestalt deS Papstes Gregor I. d. Gr. um 600. Gregor stammte auS senatorischem Abel, war erst Stabtpräfekt, dann Mönch und Abt eines benebiktinischen Klosters in Rom. Als Papst gewann er durch die umsichttge Verwaltung deS großen päpstlichen Grundbesitzes innerhalb und außerhalb Italiens die Mittel zu einer ausgedehnten sozialen Arbeit

z 17

Der Ertrag der altkirchlichen Entwicklung

69

und Liebestätigkeit und zur Verteidigung der Stadt gegen die Langobarden. Er leitete die Bekehrung der Angelsachsen in die Wege (s. u. § 23) und ist auch als theologischer Schriftsteller bekannt. Augustins Gedanken werden bei ihm mit allerlei abergläubischen und sakramentalen Vorstellungen ver­ quickt (Fegefeuer), und das Recht der sichtbaren Kirche, die Vorzugsstellung des Klerikers werden überall gutgläubig und grob hervorgehoben. Gegen seinen Rivalen in Konstantinopel hat Gregor auch seine römischen Rechte energisch verteidigt. Es heißt hier u. a.: „Der Primat des apostolischen Stuhles steht fest durch das Verdienst des heiligen Petrus, der der erste ist im Kranze der (römischen) Bischöfe, durch den Rang der Stadt Rom und durch die feierliche Bestätigung eines heiligen Konzils. Darum erlaube sich niemand, in frecher Verletzung des Rechts irgendetwas gegen das Ansehen dieses Stuhles zu unternehmen. Denn dann erst wird der Friede der Kirche allenthalben gewahrt werden, wenn alle Welt ihren Meister anerkennt."

§ 17. Der Ertrag der altkirchlichen Entwicklung.

Das Urchristentum hatte das Ende dieser Welt unmittelbar vor Augen gestellt. Seine Predigt forderte von jedermann, daß er umkehre von seinen bösen Wegen, die Zukunft ins Auge fasse und sein Herz frei mache von den Mächten dieser Welt. Aber gleichzeitig forderte sie den Dienst in dieser Welt, so wie sie ist, im Gehorsam gegen Gottes Gebot und in Liebe und Dienst an dem Nächsten. Am Ende der alten Kirchengeschichte weiß man zwar auch noch, daß diese Welt einmal untergehen wird und daß wir der Umkehr und Erlösung bedürfen. Aber die Hilfe findet man jetzt auf der Erde selbst in der katholischen Kirche, die das Reich Gottes verkörpert. Ihre Ord­ nungen, ihre Priester, ihr Segen und ihr Fluch steht über allen Ordnungen und Gewalten dieser Welt. Die Welt bricht gewissermaßen in zwei Teile auseinander, und wer sich völlig bekehrt, verläßt ihre natürlichen Ordnungen und tritt als Mönch oder Priester in die heiligere Welt der Kirche ein. Indessen sind die Laien, die sich der Kirche unterwerfen und von ihr geistlich versorgen lassen, in gewisser Weise ebenfalls in das Gottesreich einbezogen. Das urchristliche Entweder-Oder hat sich in ein Mehr- oderWeniger der Frömmigkeit und Heiligkeit verwandelt. 3m Urchristentum war die Verheißung Gottes, die sich in Christus erfüllt, entscheidend gewesen. Das persönliche Bekenntnis zu Christus gab dem Einzelnen darum die Ge­ wißheit; in der Christenheit hatte er das Heil gefunden, das jeden Ein­ zelnen zu einem neuen Leben verpflichtet und befähigt. Eine solche Heils­ gewißheit und -Verantwortung gibt es jetzt überhaupt nicht mehr. Es hängt vom Einzelnen ab, wieviel er leisten und gewinnen kann, und die Kirche ist dazu da, ihn bei diesen Bestrebungen zu unterstützen. Man sucht durch wohl­ tätige und asketische Werke seine Aussichten für das Himmelreich nach Mög­ lichkeit zu verbessern, und man greift dabei nach immer neuen Tröstungen

70

Die alte Kirche

und Gnadenmitteln, die die Kirche bereit hält. Ihre Organisation, ihre Sakramente und Reliquien machen ihn rein. Der persönliche Glaube tritt darüber zurück. Die Lehre der Kirche ist eine schwierige Angelegenheit geworben, die der Laie nicht mehr voll verstehen kann, aber blind bejahen muß. Entscheidend ist, baß er in den Umkreis ihrer Weihungen ausgenommen und grundsätzlich

bereit ist, ihrem Gebot zu folgen. Darum scheuen sich die Vertreter der Kirche auch nicht mehr, äußere, weltliche Mittel einzusetzen, um die Menschen zur

UMerwerfung zu zwingen. Die inneren Grenzen zwischen ihrer Arbeit und der politischen Herrschaft und Gewalt sind schon weitgehend verwischt, so streng man auch äußerlich über die Unabhängigkeit der Kirche wacht. Aber diese Kirche ist trotz allem in erster Linie doch eine geistige und sitt­ liche Macht geblieben, die sich auf Glauben gründet, und hierin liegt daS Geheimnis ihrer fortdauernden Kraft und Größe. Die katholischen Priester haben nicht vergessen, baß sie eine ewige Wahrheit verkündigen müssen, von der daS Heil der Menschen abhängt. Sie fühlen sich für die ihnen anverttauten Seelen vor Gott verantwortlich, und in diesem Bewußtsein geben sie sich mit rückhaltlosem Ernst, mit selbstloser Tatkraft und innerer Würde ihrem Berufe hin. Die Wirklichkeit des allmächtigen und gebietenden Gottes, die sittliche Verpflichtung seiner Diener und Geschöpfe, die er zum ewigen Heil berufen hat, die Nichtigkeit und die Verantwortung alles irdischen Lebens stellen sie jedermann eindringlich vor. Die Kirche ist eine Kirche der Ordnung und eine Feindin jeglichen Leichtsinns und träger Gleichgültigkeit. Der Glaube und die sittlichen Grundsätze, die sie vertritt, sind in vieler Hinsicht zweiselloS starr und eng geworben; aber sie werden wirklich geglaubt, und sie werden darum auch wirklich befolgt. Die katholische Kirche deS ausgehenden Altertums ist endlich davon über­ zeugt, daß die vollkommene Belehrung über alle Fragen des Glaubens und des Lebens aus der Bibel zu gewinnen ist, die keineswegs „unter der Bank" liegt. Diese Überzeugung verbindet sich mit einer hohen Schätzung aller Bildungs­

güter der christlichen und der heidnischen Antike. Alles, was in dieser Hin­ sicht demAbenbland aus dem Zusammenbruch deS römischen Reiches und seiner Kultur erhalten geblieben ist, ist durch die christliche Kirche gerettet worden. Durch den sittlichen und religiösen DerantwortungSsinn, durch den festen Halt, den ihr die Bibel bot, und durch die Überlegenheit deS grie­

chisch-römischen GeisteSerbeS ist die Kirche in den folgenden Jahrhun­ derten zur großen Erziehungsmacht für die jungen germanischen Völker geworden. Fürs erste freilich überwiegt der Eindruck einer harten Gesetzlichkeit mehr alt- als neutestamentlicher Prägung. Aber eben diese Sttenge ist nicht ohne Verheißung. Sie versperrt der Kirche den Weg nicht, auf dem sie nach einem Jahrtausend religiösen KämpfenS und Ringens an der Hand der Bibel wieder zurückfinden wird zu einem lebendigen und unver­ kürzten Verständnis ihrer evangelischen Verkündigung.

5 18

Der bodenständige Glaube

71

Die Begründung des Christentums in der germanischen Welt I. Die germanisch« Religion. §18. Der bodenständige Glaube. Die Kirche, die im Innern des Römischen Reichs als eine Macht der Er­ haltung wirksam geblieben war, hat die Nordgrenze des Imperiums zunächst nicht überschritten. Der Missionspflicht an den Germanen hat sie sich erst erinnert, als sie von ihnen gewaltsam ausgerüttelt war; erst als Eroberer sind die Germanen in nahe Berührung mit der christlichen Predigt gekommen. Ehe aber die Wirkung dieses Begegnens geschildert werben kann, müssen wir den religiösen Überzeugungen nachgehen, die die Germanen mstbrachten: woran glaubten sie, aus welche Fragen suchten sie Antwort, was verstanden sie unter Religion, bevor sie Christen wurden? Die Zeugnisse, in denen hie Germanen ihren Glauben aussprachen, sind nicht sehr zahlreich. Nur über die Letztbekehrten, die Nordgermanen, wissen wir mehr; und auch bei ihnen aus einer Zeit, in der ihre alte Religion nicht mehr unerschüttert war. So sind wir vielfach aus die Berichte Außenstehender, Römer und Missionare, angewiesen, die dann an den Bobenfunden gemessen werden müssen. Bon diesen aber sind auch die frühesten mit heranzuziehen, selbst aus vorgermanischer Zeit. Denn es zeigt sich, daß der religiöse Glaube dauerhafter ist als die Rassen und Kulturen, so daß steinzeitlicher Glaube noch unter uns als Aberglaube lebendig ist. 1. Freilich sind die Funde der Steinzeit meist vieldeutig und vermitteln darum nur unsichere Kenntnis. Die unbestatteten verstümmelten Leichname in den Muschelhaufen der mittleren Steinzeit (etwa 5000 v. Chr.) mögen Zeugen sein einer Furcht vor den Toten, sowie der Hoffnung, sie durch Zer­ trümmerung der Schädel unschädlich zu machen. Auffchlußreicher für uns werden erst — nach einer Zeit einfacher Erdbestattung — die Hünengräber und Dolmen (etwa auS der Mitte des 3. Jahrtausends). Die in Asien weitverbreüeten Megalsthgräber finden sich in Europa nur in der Nähe der Küste, so daß man vermutet hat. Brauch und Glaube seien auf dem Seewege zu uns gekommen. Es ist jedoch eine bäuerliche Kultur, die diese Bestattungs­ sitte ausgebildet hat, und der Glaube, der sie trug, schließt Lebende und Tote zusammen. Es müssen Fürstengeschlechter gewesen sein, die zur Bewahrung der verstorbenen Ahnen die Leistungskraft ihrer Völker an die mächfigen Bauten wandten, die mehreren Generationen als Grabstätte dienen konnten. Als „lebender Leichnam" wohnt der Verstorbene in der steinernen Kammer, mit Speise und Trank durch Grabbeigaben versorgt, vielleicht erwärmt durch Feuer, deren Reste übrig sind (wenn diese nicht zu Totenopfern dienten).

72

Die germanische Religion

Sind von Leben und Glauben jener Zeit fast nur die Denkmäler der Toten­ verehrung auf uns gekommen, so muß diese Seite der Religion damals be­ sondere Bedeutung gehabt haben. Wenn man sich für die Toten um so viel dauerhaftere Wohnungen mühte als für die Lebenden, so wird neben der Hoffnung, hierdurch baS Gedeihen deS Geschlechts zu fördern, gewiß die Besorgnis mitgewirkt haben, durch Vernachlässigung der Toten ihren Zorn auf sich zu ziehen. Tieropfer für Tote galten als heilige Pflicht, müssen sie doch in christlicher Zeit durch kirchliche Verbote abgewehrt werben. Als Opfer für den erschla­ genen BlutSfreunb soll auch dessen Mörder fallen: die Blutrache versöhnt die Seele, die sonst mit Unheil droht. Ist auch der religiöse Ursprung dieses uralten Brauchs später vergessen, so bleibt doch seine verpflichtende Kraft bis tief in die christliche Zeit hinein lebendig. Es hat schwere Anstrengung gekostet, diese schaurige Sitte, die zum wechselseitigen Auömorben ganzer Geschlechter geführt hat, zu überwinden (s. u. S. 87). Die Hünengräber werden bann (um 2000 v. Chr.) durch Steinkisten, diese durch Einzelgräber abgelöst, den Toten werben jetzt Waffen beigegeben. Das mag soziale Gründe haben: nicht Sippen, sondern Familien bauten die kleineren Gräber. ES kann die Scheu mitgesprochen haben, immer wieder zu neuen Bestattungen die Familiengruft zu öffnen. (Von Totenfurcht redet auch die Zunahme der Hockerleichen, die mehrfach Spuren von Fesselung zeigen.) Vielleicht steht hinter dem Sittenwandel auch der Glaube an ein Totenreich, in baS der Tote eine nicht gefahrlose (darum die Waffen!) Reise zurückzulcgen hat. Daß eine Bauernreligion der Mächte gedenkt, die die Saaten reifen lassen oder sie bedrohen, wird man auch ohne Zeugnisse annehmen; Sonnenmagie ist durch kleine Räber, die sich an Grabsteinen finden, angedeutet, Jagdzauber durch Tierzeichnungen. Der religiösen Verehrung diente vermutlich ein Eichenstamm, der, auf einem Steinhaufen aufgerichtet und von Gefäß­ scherben umgeben, in einem dänischen Moore gefunden ist: ein Vorläufer ähn­ licher Stämme, die, z. T. mit menschlichen Zügen versehen, aus jüngeren Perioden auf uns gekommen find! 2. In der Bronzezeit hat zuerst vorübergehend, dann durchweg bei allen Jnbogermanen eine neue Bestattungsart sich burchgesetzt, die Leichen­ verbrennung. Will man nicht Zweckmäßigkeits- ober gar Modegrünbe annehmen, so wird man auf eine vielleicht von neuen Völkern getragene religiöse Welle schließen müssen, die aus Asien zu uns heranflutete und deren Zeugen die Urnengräber sind. Welcher Glaube nötigte dazu, den alten Brauch zu ändern? In historischer Zeit, als man längst wieder zur Erbbestattung übergegangen war, hat man doch die Leichen der Wiebergänger, der Zauberer und Hexen verbrannt, um sich so vor ihrer Schadenömacht zu schützen. Dabei hat man möglichst noch die Asche verstreut, während man sie in der Bronze-

§ 18

Stein- Bronze- Eisenzeit

73

zeit sorgfältig sammelte und mit Waffenbeigaben in Hügeln ober Gräber­ feldern beisetzte. So muß wohl angenommen werben, baß baS alte pietät­ volle Zutrauen zu einer Heilsmacht der Ahnen zwar nicht völlig geschwunden ist, baß aber der Wunsch übermächtig wurde, der Seele die Rückkehr in ihren Körper zu verwehren. Handelt eS sich also bei der Leichenverbrennung um Bannung der abgeschiedenen Seelen, so ist vorauSzusetzen der Glaube an ein Totenreich, in baS sie ihren Weg nehmen soll (vgl. Homer!). Aufschlußreicher als die Gräber sind die schwedischen Felszeichnungen. ES sind Darstellungen von Kulthandlungen: Prozessionen, Schiffsbildern mit Sonnenscheiben, Bäumen, Schlangen; ferner Tänze, Hochzeitsbilder, tiergezogene Pflüge; dazu einige Gestalten von überragender Größe, die als Götter gebeutet werden können. Die wahrscheinliche Bedeutung der Zeich­ nungen ist, daß Szenen von Vegetationskulten mit dem Meißel geschildert sind, um magische Wirkung zu üben: auf die Götter einzuwirken, baß sie Fruchtbarkeit spenden. Ob man in den großen Gestalten den speerschleubernden Himmelsgott, den hammerschwingenden Thor, den FruchtbarkeüSgott Freyr vorgebilbet sehen darf? Die Verehrung der Sonnenmacht (nicht eines Sonnengottes) bekundet sich auch in den Vottvgaben; die schönste ist der Trundholmer Sonnenwagen, wohl die Nachbildung eines Kultwagens, der zu bestimmter Zeit durchs Land gefahren wurde, um die Sonne zum Scheinen anzuregen, — Sonnen­ magie. Auch die jütischen Goldblechschiffchen tragen Sonnensymbole. Das Hakenkreuz findet sich auf Krügen und Knöpfen der jüngeren Bronzezeit, als Spiralornament; in der rechtwinkligen Form setzt eS sich in der Eisenzeit allgemein durch. 3. Die Eisenzeit bringt einen Kulturniebergang, so daß die ärmliche Hinterlafienschaft wenig Aufschlüsse gibt. Der Einfluß der römischen Religion

auf die Germanen, der nun einsetzen konnte, war schwerlich groß. Zwar wurde ein CheruSkersürst Priester an der Ara Ubiorum, dem Heiligtum am Rhein, baS wohl für ein römisches Germanien als religiöser Mittelpunkt geplant war. Aber die römischen Eroberungsabsichten verwirklichten sich nicht, und der breite OdlandSstreifen, der nun das römische vom freien Ger­ manien schieb, trennte auch geistig. Gar an der Verehrung der orientalischen Gottheiten (Mithra!), für die Köln gleichfalls zum Kultzentrum wurde, haben außer den ganz romanisierten Ubiern nur noch Kelten teilgenommen. Die ältesten römischen Berichte über die germanische Religion (Cäsar, TacituS) gehören einer Zeit an, in der die Religion der Germanen jedenfalls noch keine römischen Einflüsse erfahren hatte. Von einer bewußten Herab­ setzung der Religion der Feinde ist nicht zu sprechen. Wo wirklich einmal Tendenz sich spüren läßt, da ist sie idealisierend; will doch TaestuS seinen Landsleuten mit der „Germania" einen Spiegel vorhalten: so viel besser sind die Barbaren!

74

Die germanische Religion

Die ältesten Nachrichten, in Cäsars „Gallischem Krieg", sind karg und nüchtern. Der Feldherr bemüht sich nicht wie ein Forscher um den inneren Zusammenhang seiner Beobachtungen, sondern erfaßt scharf die militärisch wichtigen Züge. So dürfte an seiner kurzen Angabe, die Germanen ver­ ehrten das Sichtbare, Sonne, Mond und Feuer, richtig sein, daß diese drei im germanischen Kult eine Rolle spielen (eS kann auf Sonnenzauber, Mond­ orakel und Reinigungsfeuer (Osterfeuer) gehen); daß dagegen trotz seiner gegenteüigen Behauptung der Glaube an persönliche Götter nicht fehlte, dürfte sicher sein. Ungleich wichtiger ist sein Bericht darüber, welche Bedeu­ tung den Orakeln im germanischen Glauben zukam. Ariovist versäumte die günstige Gelegenheit zum Angriff und ging mit seinem Reich zugrunde, da die Familienmütter, wie es Brauch war, durch Lose und Borzeichen fest­ gestellt hatten, daß die Schlacht noch nicht aussichtsreich sei. Auch die Mond­ konstellation konnte den Ausschlag geben. In der Beobachtung von Vor­ zeichen kommt ein primitiver Schicksalsglaube zum Ausdruck, der bis in die späte Zeit erhalten blieb. 4. Schon Tacitus nennt die drei Götter, die in der Bekehrungszeit als die höchsten erscheinen. Freilich bezeichnet er wie die zahlreich erhaltenen Votiv­ steine sie nicht mit den germanischen Namen, sondern mit den vermeintlich entsprechenden römischen. Wer aber mit Mars, Hercules und Mercurius gemeint ist, geht schon aus der germanischen Übersetzung der römischen

Wochentagsnamen hervor: Ziu, Donar und Wodan (Tuesday, Wednesday). Mars-Ziu war nach den Beiworten der römisch-germanischen Votiv­ steine mit Kampf und Gericht (dem Rechtskampf im Ding) verbunden. Ist er der „Herrschergott", den der sucbische Kernstamm der Semnonen als Ahn­ herrn verehrt, so erfahren wir aus seinem Kult etwas über seinen Charakter: zu bestimmter Zeit kommen die Abgesandten deö Volks in einem uralt­ heiligen Haine zusammen und begehen sein Fest nach grausem Urzettbrauch, zu dem auch das Menschenopfer gehört. So groß ist die ängstliche Scheu vor dem Gott, daß man nur in Feffeln seinen Bereich betritt; und wenn jemand strauchett, so wagt er nicht, sich aufzurichten, sondern muß am Boden kriechend sich entfernen (TacituS, Germania 39). In der Sklavenhaltung seiner Verehrer kommt die harte Unerbittlichkeit dieses Gottes zum Ausdruck, bei dem die dämonischen Züge noch scharf hervortteten und die Erinnerung an alten Totenkult wachrufen. Auch die Goten bringen ihm Menschenopfer dar, und die Hermunduren weihen ihm und Wodan das feindliche Chattenheer. Es scheint, als sei Ziu, der alte indogermanische Himmelsgott, der bei den Germanen zum Kriegsgott geworden ist, erst allmählich durch DonarThor und Wodan überholt worden. Nach den Stammessagen der alten Lieder blieb doch et (= Irmin, daher Erminonen) der Volksgott der mitteldeutschen Hermunduren, Semnonen und Sueben. Ihn und Donar versöhnte man im allgemeinen durch Opfer von „erlaubten Tieren".

$ 18

Die großen Götter

75

Darf man aus den Votiväxten der Stein- und Bronzezeit auf den Kult einer Gewittergottheit schließen, so liegt es nahe, Donar in alte, vielleicht schon vorgermanische Zeit zurückzuführen. Er ist dann der eigentlich volks­ tümliche Gott geworden, der Bauerngott, der mit seinem Hammer die Winterriesen besiegt, der die Flur aus der Todesstarre löst und der verdorren­ den Saat Erquickung bringt. Man erzählt sich von seiner urtümlichen Kraft, seinem derben Humor; rauhe Kriegslieder gelten dem Vorkämpfer, man getröstet sich seiner Freundschaft. Doch es ist zugleich das Jähe und gewaltsam Hereinbrechende, dem der Mensch preisgegeben ist, was sein Wesen kenn­ zeichnet. Wenn er im Gewittersturm einherfährt und seine Stimme über baS Land dröhnt, bann erschrecken auch seine Freunde. Die Menschenopfer, die im Norden auch ihm gebracht sind, beweisen, daß man ihn nicht einfach auf die Freundseite stellen und die dämonischen Züge aus seinem Bilde nicht entfernen darf. In Norwegen und auf Island der meistverehrte Gott, hat er auch bei den Südgermanen überall seinen Kult. Zur Zeit der Römer­ kriege gibt es ein Donarheiligtum bei den Cheruskern auf einem Walbberg östlich der Weser. Ihm mögen die Gefangenen der Varusschlacht geopfert sein; und noch in karolingischer Zeit ist Donar einer der Götter, denen die Sachsen abschwören müssen. Der höchste Gott ist doch, mindestens bei den Westgermanen, schon in römischer Zeit Wodan. Die Stämme, aus denen die Franken entstanden sind, müssen ihn als ihren Ahnherrn genannt haben. Doch auch die angelsächsischen Könige leiten ihr Geschlecht von ihm her. Ihm weiht man die größten Opfer, ihm gllt also die stärkste Hoffnung, die tiefste Furcht. Wie ist sein Wesen? Sein römischer Name sagt nichts Sicheres. Denn „Totenführer" .roar Hermes, nicht Merkur. Schwuren die Kaufleute bei ihm? Vielleicht darf man den gallischen Merkur als Mittelglied rechnen, den „Erfinder aller Künste". Dann wäre ihm ein geistiger Zug von früh an eigen. Die Dotivsteine erinnern bei seinem Namen an Krieg und Tod. Ist es der Totengott, dem neben dem Kriegsgott die Hermunduren das Chattenheer weihten? Die kürzeste Deutung aus späterer Zeit nennt ihn „furor", die Wut. Er ist der Rasende, der im Kampfzorn glüht, der die See aufwühlt, der im Sturme einherfährt. Er ist der Führer des wütenden Heeres der Toten, das in den langen Nächten über die Wälder dahinjagt, der Sturm- und Toten­ gott. So hängt man ihm wohl die Opfer an Bäumen auf, und er holt sie sich im Vorübersausen. Der „Gott der Gehängten" nimmt auch geheime Kunde von den Toten. Er ist der Wissende, der die Zukunft erforscht, der Er­ finder des Zaubers, der Runen. Als der Gewaltige, der Macht hat über Leben und Tod, ist er zum höchsten Gott der Germanen geworden. Zum Himmelsgott aufgestiegen, hat er in der Zeit einer kriegerisch-höfischen Kultur auch das gehobene Dasein unter seinen Schutz genommen, Ruhm und Sieg und Heldenlied, — der Gott der Fürsten und der Dichter.

76

Die germanische Religion

Immer aber bleibt ihm das Unberechenbare und Unheimliche seines Ur­ sprungs. Listig, treulos auch gegen seine Freunde, denen er sonst schön und herrlich erschien, ist er keineswegs ein sittliches Vorbild. So setzt sich auch sein Heer nicht (wie in der dichterischen Umgestaltung) nur aus den gefallenen Helden zusammen, sondern überhaupt den gewaltsam Umgekommenen, auch gerichteten Verbrechern. Der Erbe Wotans im mittelalterlichen Volks­ glauben ist der Wanderer Tod, der im weiten Mantel, mit dem Schlapphut sein unheimliches Antlitz verhüllend, den einäugigen Wanderer noch erkennen läßt, der einst den Vorfahren als der Mächtigste erschien. 5. Die Germanen verehrten in ihren Göttern die Mächte, die bestimmend ins Leben eingreifen. Erfuhr man diese am unmittelbarsten im Tod, in der Schlacht, im Gewitter, so lasten sie sich doch nicht hier allein spüren: überall begegnete man Gewalten, die das Leben fördern oder bedrohen und denen man hingegeben ist. Neben den drei Göttern, die bei den Südger­ manen den höchsten Rang einnehmen, stehen viele andere, größeren oder ge­ ringeren Wirkungsbereiches. Bei einer Reihe von Nordseestämmen beging man alljährlich die festliche Umfahrt der Nerthus, die auf einer Hallig ihr Heiligtum hatte. Ein Priester lenkte den verhüllten, von Kühen gezogenen Wagen. Wohin er kam, herrschten Feierstimmung und Gottesfriede. Nach der Rückkehr wurden Wagen, Tuch und Gottesbild im heiligen See gewaschen und die dabei mitwirkenden Sklaven ertränkt. Andere weibliche Gottheiten begegnen uns schon in den römischen Berichten und auf den Votivsteinen in größerer Zahl; sie werden meist in kleineren Kreisen verehrt, als die Mächte, die der Flur, der Familie Lebenskraft schenken. Aps mancherlei Anzeichen läßt sich schließen, daß Kämpfe und Glau­ benswechsel stattgefunden haben, die doch nicht mehr mit voller Sicherheit beschrieben werden können (so erklärt sich vielleicht das Nebeneinander der Göttergeschlechter der Banen und der Äsen). So ist die Wodanverehrung schwerlich von Anfang an allen Germanen eigen gewesen; wenn er im Norden der Sachsengott hieß (wie Freyr der Schwedengott), so deutet schon der Name auf eine Wanderung des Kultes hin. Vielleicht läßt sich aber daraus, daß schließlich überall Wodan als höchster Gott an­ erkannt wurde, die Richtung erkennen, die die germanische Religion ein­ schlug: nicht nur, daß sie geistiger wurde, sondern auch, daß ihr das Leben rätselhafter und fragwürdiger erschien. Denn es ist ein tiefsinniger und ttagischer Zug, von allen Mächten als gewaltigste die zu begreifen, die nicht nur Wissenskraft und Kriegerehre vergibt, sondern durch jähen Tod dem Dasein selbst die Grenze setzt. Zu den Hochgöttern kommt eine große Anzahl göttlicher Wesenheiten, die überall da geahnt werden, wo übermenschliche Mächte ihr Wirken spüren lassen. Den freundlichen Gewalten stehen dabei die lebensfeindlichen und zerstörenden entgegen, die Feuer- und Winterriesen, die mancherlei unge-

§ 18

Andere Götter, Dämonen — Tempel u. Bilder

77

Heuren Mächte, die in der nordischen Mythologie der lichten Götterwelt gegenüber ein dämonisches Reich bilden, daS, in ständigem Kampf mit den Göttern begriffen, jetzt der Menschenwelt und einst selbst den hohen Äsen den Untergang droht. DaS große Weltgedicht der Wikingerzeit, die VöluSpa, entrollt von diesem Endgeschehen grandiose Bilder, in denen freilich mehr germanische Dichtkunst als germanische Religion einen hinreißenden Aus­ druck findet. Die Vorstellung, daß die Götter mächtige Schützer gegen den Trug und die feindlichen Angriffe der Unholde seien, begleitet auch die ger­ manische Religion. Doch gibt eS vom göttlichen zum riesischen Reiche auch Übergänge, und eS ist verfehlt, die dämonischen Züge im GotteSbilde

der Germanen zu tilgen: rätselhaft SchauervolleS eignet auch den Göttern, und eS gibt keine völlige Gewißheit, wenn man sich ihnen anverttaut. 6. Nach dem berühmten Zeugnis deS TacituS (Germania 9) glaubten die Germanen, die Götter dürften nicht in Wände eingeschlossen werden; auch scheuten sie sich, die Größe der Himmlischen menschlicher Gestalt anzu­ gleichen; sie nannten mit dem Götternamen daS „nur der Ehrfurcht sichtbare Geheimnis" und verehrten eS in Hainen und Wäldern. Verrät die Begrün­ dung die philosophische Religionskritik der römischen Kaiserzeit und trifft sie also gewiß nicht die Meinung der Germanen, so ist doch die Aussage über deren bild- und tempellosen Kult bedeutsam. Zwar gilt sie schwerlich un­ eingeschränkt, sind doch schon auS vorrömischer Zeit einige Götterbilder auf unS gekommen. Aber eine allgemeine Verbreitung dürften Tempel und Statuen erst später erlangt haben, während die Haine vorerst ganz über­ wogen. ES mögen auf umhegten Waldwiesen die Opfersteine gestanden haben, um die sich die Feiernden sammelten, während an den umstehenden Bäumen die Feldzeichen, von denen TacituS erzählt, und die bleichenden Gebeine der mancherlei Opfer hingen. Die Schädel der nach der Varusschlacht ge­ opferten Römer fand man Jahre danach noch in der Nähe deS Schlachtfelds. In den Hainen, die also die Schauer eines düsteren Kults durchwehten, wurden auch die weißen Roste gehegt, die für kultische Umfahrten und den Orakeldienst bestimmt waren. Der Wald erscheint im Sinne eines keines­ wegs romantischen Naturgefühls als Heimstätte auch des Dämonischen, — der Nachtmahre, der Werwölfe, der Hexen (Hänsel und Gretel!). Waren aber damals die Haine die Regel, so sind sie in der nordischen Spätzeit fast ganz durch die Tempel verdrängt. Deren Zahl entspricht der der politischen Bezirke, die ihnen zugeordnet sind (in Island 39). Den politischen Führern, die sie erbauten, liegt auch die Sorge für die Opfer ob. Doch muß jedermann zu den Kosten durch eine Tempelsteuer beittagen. Diese Tempel stellen sich unS als eine längliche Festhalle dar, an deren oberem Ende abgesondert auf erhöhtem Chor im Halbkreis die geschnitzten gold- und silbergeschmückten Götterbilder stehen, — wohl immer mehrere und vielleicht bisweilen bis zu 100 an der Zahl. Vor den Bildern steht der

78

Die germanisch« Religion

Altar. Darauf ein Schwurring, bei dem die Eide geleistet werben; daneben der Blutkestel, aus dem mit dem Blutzweig die Bilder bestrichen und Altar, Wände und Feiernde besprengt werden. Diese sitzen auf den beiden Langseiten der Halle, ein Hochsitz unterbricht hüben und drüben die Reihe. Inmitten des Raumes brennen zur Festzeit die Feuer mit den Fleischkesieln, und tief­ gründige Metkefsel erlauben, im „Minnetrinken" manch guten Spruch auszubringen. Neben den Haupttempeln gibt eS Privattempel, die sich jeder nach eigenem Bedürfnis erbauen und erhalten mochte: eine Vorform des daraus erwachsen­ den Eigenkirchenwesen, das im Pattonat bis heute nachgewirkt hat. Wer sich an einem Heiligtum vergriff, hatte den Zorn der Götter zu gewärtigen. Und bei der Gebundenheü der allgemeinen Wohlfahrt an die Gunst der Himm­ lischen schloß ihn sein Tun aus der Gemeinschaft der anderen aus: Tempel­ schändung galt für schlimmer als Mord. Aber eben diese Zusammenhänge erklären eö, daß man die Tempel der Feinde nicht schonte, auch wenn der eigene Gott dort verehrt wurde. Jarl Hakon, der eifrige Heide, plünderte in Gotland einen großen Thortempel; zur Rache wurden ihm einige nor­ wegische Tempel verbrannt. — Da man den Gott in seinem Tempel trifft, so legt wildes Aufbegehren wohl auch einmal Hand an das sonst sorglich gehütete Gebäude; dem Grimkell, der ein eifriger Opferer war, hatte eine Göttin im Tempel seinen Tod angekündigt; „da ging er weg, und war auf die Götter gewalttg zornig; er ging heim um Feuer und verbrannte den Tempel und alle Götterbilder, und sprach, sie sollten ihm nicht öfter Trauer­ botschaft verkünden"; er starb am gleichen Abend. Welcher Art das bei den Externsteinen im Teutoburgerwald vermutete germanische Heüigtum war, läßt sich nicht sagen. (Die Bildwerke, die sich dort finden und in denen man altgermanische Reste hat sehen wollen, sind christlichen Ursprungs; sie ge­ hören dem 12. Jahrhundert an und stellen eine Nachbildung des heiligen Grabes dar.) Darf man im Sinne ihrer Verehrer die Götter nicht einfach mit chren Bildern gleichsetzen, so doch auch nicht völlig trennen. Es wird vor­ ausgesetzt, daß Gegner den Anblick nicht aushalten. Um die Ohnmacht der Götter zu erweisen, muß man mit ihnen kämpfen. Die Bilder bewegen sich, geraten in Unruhe, verlassen ihren Platz. Und daß wirklich die Götter in ihren Tempeln wohnend geglaubt werben, zeigt sich oft. Als ein Christ seinen alten Tempel abreißt, treiben die Nachbarn ihr Vieh von der Weide: die zornig auSwanbernden Götter würden auf ihrem Wege nichts leben lasten. Doch nicht auf Haine und Tempel allein blieben die Opfer und religiösen Übungen beschränkt. Zu Hause, im Lager, am Seestrand, bei Bäumen,

Quellen und Steinen sind Stätten der Verehrung. 7. Opfert man auch von seinem Besitz, Goldschmuck und Land, so über­ wiegen doch die blutigen Opfer. Unter den opferbaren Tieren (zebar, danach „Ungeziefer", eigentlich — kultisch unreine Tiere), von denen Sttere, Eber

§ 18

Opfer u. Feste

79

(für Frey), Böcke (für Donar), Hunde, Hähne u. a. genannt werden, sind die Pferde besonders hervorgehoben. Darum wird in christlicher Zeit daS Pferdefleischefsen verboten, um die Fortdauer der heidnischen Opfermahl­ zeiten zu unterbinden. Am höchsten, nicht an Zahl, aber an Rang, stehen doch die Menschenopfer. Von ihnen erzählen die ältesten wie die jüngsten Be­ richte, und die Fülle der Nachrichten, die wir gerade darüber haben, auS ger­ manischer wie römischer Feber, läßt keinen Zweifel an der Tatsächlichkeit dieser Opfer zu, — ganz abgesehen von den Funden, die eS erhärten. In Ledra auf Seeland fand, so wird berichtet, alle neun Jahre ein großes Sühnopfer statt, bei dem 99 Menschen, ebensoviel Pferde, Hunde und Hähne geschlachtet wurden. Ebenso alle neun Jahre ein großes Fest zur FrühlingS-Tag- und Nachtgleiche in Upsala. Dort erhebt sich um den Tempel ein heiliger Hain, an dessen Bäumen Menschen und Tiere ausgehängt werden. Neun Tage dauert die Feier, und an jedem Tag wird ein Mensch und mehrere Opfertiere, von denen Pferde und Hunde genannt werben, getötet, im ganzen 72 Lebewesen. Sm allgemeinen opfert man Menschen, die außerhalb der Volksgemeinschaft stehen, Kriegsgefangene, Sklaven, Verbrecher. Doch darf das Opfer nicht als Justiz verstanden werden; denn wenn große Not eintrat ober andere nicht vorhanden waren, ließ man das Los entscheiden ober opferte besonders werwolleS Leben. So ist das SohneSopfer noch auS dem Jahr 986 bezeugt, wo Jarl Hakon seinen dritten Sohn vor der Seeschlacht dar­ bringt, und die schwedische Sage weiß, wie in höchster Bedrängnis das Königs* opfer die Not wenden sollte (vgl. 2. Kön. 3,26f.). Domalbi nahm daS Erbe nach seinem Vater ViSburr und regierte die Lande. In seinen Tagen entstand in Schweben eine große Hungersnot und Elend. Da brachten die Schweben große Opfer zu Upsala. Den ersten Herbst opferten sie Ochsen, und der Jahrgang wurde dadurch nicht bester. Und den andern Herbst begannen sie ein Menschenopfer; aber der Jahrgang war derselbe oder noch schlechter. Und den dritten Herbst kamen die Schweben in großer Zahl nach Upsala, als da Opfer sein sollte; da hielten die Häuptlinge ihren Rat, und sie kamen darüber überein, baß das Mißjahr von ihrem Könige Domalbi Herkommen werbe; und zugleich bcschlosten sie, ihn zu opfern um ein gutes Jahr für sich, ihn anzugreifen und zu töten und mit seinem Blute die Altäre zu bestreichen; und sie taten so (Pnglinga Saga 18).

Die Menschenopfer bedeuten die höchste Steigerung deS OpfergedankenS: Hingabe des Kostbarsten, um den Zorn der Götter zu sühnen, ihre Gunst zu gewinnen. Dank zu bekunden; zugleich aber sind sie Ersatz für das ver­ fallene eigene Leben oder doch der Versuch, dieses zu sichern, indem man fremdes Leben den Göttern ausliefert. Sie sind ein Beweis für den Ernst, der die germanische Religion erfüllte, und auch dafür, daß zu dieser Religion auch die Furcht vor dem Schrecklichen gehörte, das Leben fordert mit Unentrinnbarkeit. Nicht zufällig ist es darum Wodan, der Totengott, zu dessen

80

Di« germanische Religion

Kull diese schwersten Opfer ständig gehörten, mochten sie auch bei den andern keineswegs fehlen. Später hören wir von täglichen Speiseopfern, wie etwa einem norwegi­ schen Thorbild jeden Tag vier Laibe Brot und entsprechend viel Fleisch vorgesetzt werden. Vor dem Bilde neigte man sich, betete knieend oder liegend, die Augen zum Himmel gerichtet oder sie mit den Händen verhüllend, in ehrfürchtiger Scheu. ES fanden drei große JahreSopfer statt, an denen jedermann teil­ zunehmen hatte und die darum zugleich große Volksfeste von allgemeiner Bedeutung waren. DaS erste war ein Herbstfest, an dem für „gutes Jahr" geopfert wurde. DaS zweite war ein Mittwinterfest, wohl mit dem Julfest gleichzusetzen; eS galt der Fruchtbarkeit des neuen Jahres, man wandte sich wohl besonders auch an Wodan und das Heer der Toten, daS in den langen Nächten vorüberfuhr. Mit der Wintersonnenwende hatte cS schwerlich etwas zu tun, wie denn auch ein Sommersonnwendfest alö großes germanisches Fest nicht überliefert ist; Sonnwendfeiern als Hauptfeste gehören den Sonnenreligionen an, stammen also bei unS, durch die Römer vermittelt, aus syrisch-semitischem Bereich. DaS dritte Hauptfest dürfte (der Zeitpunkt schwankt) am Winterende stehen; zu Beginn der sommerlichen Kriegszeit opferte man für den Sieg. Periodische Jahresfeste begegnen schon in den römischen Berichten, wie daö im Semnonenhain oder die jährliche Zusammenkunft der Sachsen in Marklo an der Weser. Hier versammelte man sich am Heiligtum auch zu politischer Beratung, so wie die Cherusker ihre Kriegsbeschlüfse im Donarwald faßten. Doch Opfer und Verehrung beschränken sich nicht auf die großen Feste. Das ganze Leben ist von religiösem Brauch durchzogen; angefangen von der Wasierweihe und Namengebung (von der an das AuSsetzen der Kinder untersagt werden mochte), der Eheschließung, die von Opfern begleitet war, bis hin zur Bestattung und ihrem feierlichen Zeremoniell wird alles wichtigere Beginnen mit religiöser Weihe umkleidet. Beim Erbschaftsantritt hält man ein Opfermahl. Besitznahme von Grund und Boden heißt „sich Land heiligen". Segenssprüche gehören zum Wohnungswechsel, religiöse Formeln zur Rechts­ ordnung, zur Eröffnung der Volksversammlung, der Seefahrt, des Krieges. Die ersten Furchen auf dem Acker, die ersten Fäden auf dem Webstuhl sind geweiht. Und wie die allgemeinen Anliegen, so werden die persönlichen vor die Götter getragen; ihnen wird wie um Erntesegen, Frieden und Sieg, so auch um Heilung, um Strandholz, um Schaden des feindlichen Nachbars geopfert. Bei den römischen und keltischen Nachbarn der Germanen lag die Leitung der Feiern und vor allem der Vollzug der Opfer in den Händen von Priestern, die einen besonderen Stand hohen Ansehens und fester Überlieferung bildeten. Für die Germanen stellt Cäsar das Vorhandensein eines solchen organisierten

$18

Priester — Religion als Volkssache

81

Standes in Abrede. Das schließt nicht aus, und TacituS bestätigt eS aus­ drücklich, daß eS auch bei den Germanen Priester gab, nur nicht wie die gallischen Druiden kastenartig abgeschlossen. TacituS berichtet von Stamm­ priestern, die mit dem Könige die heiligen Pferde geleiten, die LoSorakel deuten, beim Ding Schweigen gebieten, und die allein im Namen der Götter körperlich strafen und fesseln dürfen. Und wie sie die Strafgewalt haben, so werden sie die Gesetzessprecher gewesen sein, die mit den Kult- und Orakel­ bräuchen auch die Rechtsüberlieferung wahren, die Hymnen und Zauber­ formeln kennen, Runen zu schreiben wissen. Wir hören, daß bei den Bur­ gundern ein Oberpriester auf Lebenszeit gewählt wurde, daß eS bei den Angeln einen StaatSpriester gab, daß die Goten ihre Priester und Könige auS den gleichen Geschlechtern nahmen. Sie waren an bestimmte Vorschriften in Tracht und Brauch gebunden. Priesterinnen werden bei den Cimbern, Chatten, Sueben bezeugt und begegnen auch noch in Island. 8. Wie schon bei TacituS die religiösen Funktionen nicht auf die Priester beschränkt werden und z. B. beim häuslichen Orakel der Familienvater die Runenstäbe deutet, die beim Staatsorakel der Priester aufnimmt, so sind auch später die Obliegenheiten nicht so streng geschieden, wie eS in manchen anderen Religionen der Fall ist. Nirgend aber ist bei den Germanen die Re­ ligion „Privatsachc". Vielmehr ist sie Volks- und Staatssache erster Ordnung. DaS gilt in dem Maße, daß anzunehmen ist, die politischen Ver­ bände, Stämme und Völker seien aus den religiösen entstanden (für den religiösen Ursprung auch innervölkischer Ordnungen und Stände vgl. die „Gilden", urspr. — Opfergemeinschaften) oder haben sich doch um ein gemein­ sames Heiligtum und zu gemeinsamen Feiern gesammelt. Die Verantwortung für deren rechten Vollzug liegt deshalb durchweg bei den politischen Führern, auch wo diese nicht selbst die Opfer darbringen. In Island sind die Priester zugleich die Häuptlinge, sie erbauen die Tempel und sorgen für die Opfer. In Norwegen und Schweden hat der König die Leitung der Opferfeier. Und da an deren rechter Übung die Gunst der Götter für Land und Volk hängt, so trägt der König die ganze Verantwortung für Opferdienst und Wohlfahrt des Volkes, die beide in genauer Verbindung stehen. Die Folge aber ist, daß man bei Mißwachs und Seuchen sich an den König hält, den Zorn der Götter ihm und seiner kultischen Nachlässigkeit Schuld gibt und schließlich gar, wie die schwedische Sage in richtiger Erinnerung an alte Vorstellung und Übung erzählt, den König selbst als Sühnopfer barbringt. In der Be­ kehrungszeit führt diese Auffassung dazu, daß man den Christ gewordenen König zwingen will, weiter den Opfern vorzustehen und davon zu kosten; und man droht, den sich Weigernden zu töten oder zu verjagen. So ist denn die Teilnahme an den großen Opferfesten für jedermann Pflicht; mindestens versammeln sich Abgeordnete jedes Bezirks bei den Zentralheiligtümern, und alle, auch die Christen, müssen eine Tempel6

Gchuster, Klrchengefchtchte

82

Die germanische Religion

steuer entrichten, um die Kosten dieser Feiern zu bestreiten. So bedeutet denn die Zugehörigkeit zum Volk auch die zu seinem Kult. Cuius regio, eius religio („wessen Land, dessen Glaube"), dieser mittelalterliche Grundsatz hat auch eine germanische Wurzel. Danach ist denn von Toleranz bei den Germanen nur unter ganz bestimm­ ten Voraussetzungen zu sprechen. Auf dem Kolonialboden Islands, in den Völkerwanderungsreichen auf römischem Boden, wo eine germanische Min­ derheit, die selbst ihre alte Religion nicht festgehalten hatte, über anders­ gläubige Untertanen herrschte — in Zeiten, die ausgesprochen Übergangs­ charakter ttugen, — vertragen sich verschiedene Religionen im gleichen Volk miteinander; die Regel aber ist die religiöse Einheit des Volkes, so daß denn in Grenzgauen der Herrschaftswechsel auch den religiösen nach sich zieht. Nicht wenige Erzählungen berichten von dem Zorn der Götter über das Zu­ lassen der fremden Religion; und öffentliches Unglück, das als Wirkung solchen Ingrimms gedeutet wird, hat nicht selten zum Verbot der christlichen Predigt und zum Verjagen der Missionare geführt. Die These von der religiösen Duldsamkeit der Germanen ist deshalb in ihrer Allgemeinheit irrig. Deutlich kommt der Zusammenhang von Staat und Religion auch darin zum Ausdruck, daß kein Ächter zu den Götteropfern zugelassen wird, und ganz entsprechend trifft den Frevler am Heiligtum die staat­ liche Sttafe (ähnlich wie oft im Mittelalter Acht und Bann verbunden werden). 9. Mit dem Kult in naher Verbindung steht ein Gebiet, das auch unab­ hängig davon eine große Bedeutung besaß, das Orakel- und das Zauber­ wesen. Daß es sich nicht nur um ein Randgebiet handelt, zeigt sich darin, daß die Vorzeichendeutung von Priestern vorgenommen wird und daß man von den Göttern Kunde erwartet. Das tritt schon in den römischen Berichten hervor, wonach das Losorakel mit den Runenstäbchen für öffentliche Fragen von Stammespriestern gehandhabt wird, ebenso wie das Deuten des urger­ manischen Pferdeorakels. Wodan namentlich ist der Gott, dem man Zukunfts­ wissen wie Zauberkunst zuttaut. Orakel haben oft auch im Leben des Volkes wie des einzelnen eine entscheidende Rolle gespielt. Ariovist versäumte, wie erwähnt, den günstigen Zeitpunkt zur Schlacht, weil die Vorzeichen ihn zurückhielten und der Neumond drohte. Später ist die Ansiedlung in Island mehrfach so vor sich gegangen, daß man in der Nähe der Küste die mitge­ nommenen Hochsitzpfeiler mit dem eingeschnitzten Thorbild ins Wasser warf und von ihnen die Hausbaustelle bestimmen ließ, nachdem schon vorher das Thororakel über die Auswanderung entschieden hatte. Die Art der Orakel ist überaus mannigfaltig; vom Rieseln des Blutes und Rauschen des Wassers bis hin zu Tierstimmen und Vogelflug ist eine Fülle der Bräuche und Ver­ richtungen erwähnt, von denen nicht wenige den mittelalterlichen Aber­ glauben bereichert haben und manche noch heute fortleben.

§18f.

Orakel, Zauber u. Hexen — Familiengottheiten

83

Das Zauberwesen, in seiner Schätzung nicht unangefochten, hat ab­ wechselnd oder auch gleichzeitig anziehende wie abstoßende Kraft auSgeübt. Vom Opfer an Frey, damit dieser einem Feinde Schaden zufüge, ist kein weiter Schritt zu den Zauberpraktiken, die auf anderem Wege bad gleiche Ergebnis bezwecken. Dabei zieht man dann Menschen zu Rate, die über geheime Kenntnisse verfügen und den Zugang wissen zu dem dunklen Bereich, der den meisten verschlossen ist. Begreiflich, daß solchen Zauberern und Hexen etwas Unheimliches anhaftete, daß sie nicht nur scheue Achtung, sondern auch Abscheu und Besorgnis weckten und daß man sich ihrer zu erwehren suchte. Hier hat der Hexenglaube seinen Ursprung. Und wie man die „wiedergehenden" Toten bannte, indem man ihre Leiber verbrannte, so verfuhr man auch mit Zauberern und Hexen. Das Hexenverbrennen ist ein weitverbreiteter ger­ manischer Brauch gewesen, der nach der Bekehrung von der Kirche zunächst mit allen Mitteln bekämpft wurde, den eS aber nicht auSzurotten gelang; bis er dann später in die Kirche eindrang, von ihr ausgenommen wurde und zu den furchtbaren Hexenprozesien führte, die heidnischen Wahn und dämo­ nischen Brauch erst recht verbreiteten (vgl. u. S. 203 f.).

§ 19. Beginnende Auflösung.

1. Am Ausgang der germanischen Religion läßt sich bemerken, daß im Norden Lokal- und Familiengotthciten eine Bedeutung erlangt haben, die auf einen Rückgang im Glauben an die Hochgötter schließen läßt. Diese scheinen mit ihrer Macht über die Seelen auch ihre Art nicht unwesent­ lich gewandelt zu haben. Zwar sind alle bisher bekannten Züge auch jetzt noch bezeugt. Aber man weiß sich ihnen nicht mehr so völlig auSgeliefert; daS Entsetzen, daS sie einst auch ihren Verehrern erregten, ist abgemilbert. Minder majestätisch, sind sie zum Freund geworden, wenn auch zum mächsigcn Freund, zu dem man seine Zuflucht nehmen kann und der sich als verläßlich erweist, als „fultrui“. Der „fultrui" ist der Freundgott, besten Beistandes man sich getröstet, der für Wohlstand sorgt, die Zukunft kündet, weisen Rat zu erteilen weiß. Man hält ihm Treue, da man sich auf ihn verkästen kann und ihn in Gefahren erprobt hat wie einen starken menschlichen Gefährten. Und doch ist ein Unterschied von solchem menschlichen Freundschaftsbund. Denn niemals hält daS Band länger als hie Überzeugung von der überlegenen Macht deS Gottes. Sobald man besten Ohnmacht inne wird, alsbald hält man sich jeder Treuepflicht (die man bei einem bedrohten menschlichen Freund jetzt erst recht als gefordert anerkennen würde!) überhoben, ja, man fühlt sich bewogen und deshalb berechtigt, sich mit Enttüstung abzuwenden. Von der Art dieses luItrui-GlaubenS ist nun aber auch die religiöse Be­ ziehung zu den Ahnen und Lokalgottheiten, deren Verehrung im Wachsen ist. 6*

84

Die germanische Religion

In Felsen und Vorgebirgen, in Quellen und Wasserfällen wohnen die Geister, deren nahe Wirkungen spürbarer scheinen mögen als die der fernen

hohen Götter, denen man gewiß nicht untreu werden will, die man aber doch nicht so gut versteht, wie die Mächte der nächsten Umwelt. Diese Mächte, mit denen eS die Bekehrer zu tun haben, sind oft von ganz begrenztem Wir­

kungsbereich. Ein Ahne, ein Hausgeist, eine OrtSgottheit sind bisweilen schwerer zu überwinden als Thor oder Frey. Zu diesen unmittelbar spürbaren Mächten gehören nun aber auch die Schutzgeister deS Geschlechts und der einzelnen Glieder. Wie am AuSgang der antiken Religionen die uralten Wesenheiten an Geltung wieder ge­ winnen, die Hausgötter, Genien und dämonischen Wesen, so wird auch am Ende der germanischen Religion der älteste Glaube, der an die Toten geister, die Ahnen und persönlichen Schutzmächte, neubelebt, und der Glaube an die mannigfalsigcn Dämonen und Gespenster zieht auS dem Verfall der höheren Religion seine Nahrung. Die „Folgegeister", die in allerlei Tierund Menschengestalt nicht selten vor dem Tode deS ihrem Schutze Anver­ trauten sichtbar werden, sichern Glück und Ruhm. Könige und Helden haben glänzende und große „Fylgjen", die dem hellsichtigen Blick schon ftüh die künftige Größe deS Mannes anzcigen, dem sie folgen. 2. Der heimliche Zweifel an der Macht der Götter hat nicht selten zur offenen Absage an ihren Dienst geführt. Für die Erkenntnis deS Wesens der germanischen Religion ist aufschlußreich, zu sehen, welche Lebenserfah­ rungen an ihr irre werden ließen. Der Gode Hrafnkel verehrte die Götter eifriger als andere. Insbesondere war er Freyr so ergeben, daß man ihn den FreySgoden nannte. Die Hälfte seines Besitzes hatte er ihm zugeeignet. Trotzdem geschah eS, daß seine Feinde seiner mächtig wurden, den Tempel verbrannten und daS edle Pferd töteten, das dem Gott zu besonderem Eigentum übergeben war (so daß jeder, der eS bestieg, sterben mußte). DaS aber erscheint dem Goden als Erweis der Ohnmacht der Götter. Er stellt die Opfer ein. — Ebenso erklärt der Ober­ priester der Nordangeln, Coifi, den Kult seiner Götter für nutzlos. Denn vermöchten sie etwas, so müßte er, der ihnen am meisten gedient habe, auch am meisten Glück und Erfolg im Leben haben. In der Bekehrungszeit ist eS die Frage nach der Macht der Götter, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Sobald man an ihr irre wird, zerreißt das Band, daS an ihren Dienst bindet. Nirgends hat die religiöse Treue den Glauben an die überlegene Glücks- und Schadensmacht der Götter überdauert! ES sind in dieser Endzeit der germanischen Religion nicht ganz wenige, die daS Opfern aufgegeben haben und die sich jetzt nur mehr auf sich selbst verlassen. Sie erkennen nichts mehr über sich an als daS Schicksal und glauben — schon ist eine eigene Formel dafür geprägt — nur mehr an ihre eigene

$19

Iweifel — SchicksalSglaub«

85

„Kraft und Stärke". Am häufigsten begegnet diese Haltung bei den Wi­ kingern, die, ohnehin den heimischen Bindungen entronnen, sich auf sich selbst gestellt sehen. Der Satz über Hrolf Kraki steht nicht vereinzelt: „Davon hat man keine Nachricht, daß König Hrolf und seine Kämpen jemals den Göttern sollten geopfert haben, sondern sie glaubten an ihre eigene Kraft und Stärke". Der glaubenslose Trotz dieser Zcitstufe, der sich die Welt als Beute erraffen will, mochte noch eine Weile die von ihren religiösen Wurzeln abgeschnittenen sittlichen und Volksordnungen bestehen lassen — er leitete doch daS Ende ein. Nicht lange, so mußte, da kein Volk ohne Religion bestehen kann, der Erschütterung der Religion die Auflösung aller Bande der Zucht folgen. An dem wilden Trotz deS schrankenlosen Sich-DurchsctzenS sind immer wieder germanische Völker zugrunde gegangen. Daneben aber steht, gleichfalls daS Ende der germanischen Religion anzeigend, der Glaube an die Macht des Schicksals. 3. Ein primitiver Schicksalsglaube, der dem an Vorzeichen und Glückstage verwandt ist, begleitet die germanische Religion von Anfang bis zu Ende. Er findet einen bezeichnenden Ausdruck in der Sagaerzählung von Njal, dem der Untergang geweissagt ist, wenn er den zweiten Mann der gleichen Geschlechtslinie erschlage. AlS seine Gegner eS erfahren, suchen sie ihn zu der verbotenen Tat herauSzufordern und geben einen der Ähren preis, nur um so daS Geschick auf den mächtigen Feind herabzuziehen. Die Festig­ keit dieses Glaubens wird dadurch ebenso sicher erwiesen wie feine Art: daS Schicksal kann erkundet und vermieden werden, wenn man sich zu hüten weiß. Wie man nach den Orakeln von Glück und Unglück sein Leben einrichten mußte, um sich vor Verderben zu sichern und Erfolg zu gewinnen, so geht eS auch hier. Hat man Kunde von dem AuSgang eines Tuns, so kann man danach verfahren. In diesem Glauben erscheint daS Schicksal wie eine außerreligiöse Macht, ohne Beziehung auf einen Götterwillen. Aber wie die Orakel, die anfangs für sich allein standen, in der Zeit, als der Glaube an die Götter zunahm, mit ihrem Kult in Beziehung gebracht wurden (Priester fragen, und Götter geben Antwort und stehen hinter dem Gesagten), so mag eS auch hier gewesen sein: man verfiel nicht dem Schicksal, sondern Wodan oder Thor. Doch als der Glaube an daS Walten und die Macht der Götter unsicher wurde, da gewann daS Schicksal langsam wieder Raum, um zuletzt den gan­ zen Himmel zu überdecken. Neben dem naiven Glauben, der daS Schicksal auSforschen und ihm auS dem Wege gehen will, steht jetzt ein anderer, der irre geworden ist an der Religion und der sich bescheidet: was kommen soll, kommt doch. Denn daS bleibt auch dem Religionslosen gewiß, daß vorher bestimmt sei, waS geschieht: „Alles ist vorgezeichnet". Auch deS Mächttgsten Gewalt zerbricht: „Nicht widerstehen die Fürsten dem Geschick". Wird man auch sonst aller Widerstände Herr, — „gegen daS Geschick kann man nicht ankämpfen". „Weniges (d. h. nichts) ist mächtiger als daS Geschick."

86

Die germanische Religion

Dieser Schicksalsglaube wirb auch von den sonst Glaubenslosen nicht abgelehnt und verträgt sich mit dem Kraftbewußtsein, daS sich nur auf sich selbst verläßt. Auch wenn man sich besten nicht klar bewußt wird, so besteht doch eine innere Spannung zwischen dem religiösen Glauben und dem an daS Schicksal. Dieses übte seine Macht vor allem an der Stelle, wo Wille und Macht des Menschen am sichtbarsten seine Grenze findet, im Tod. „Niemand bringt sich über den ihm bestimmten Tag." „Nichts kann dich schützen, wenn dir der Tod bestimmt ist." Doch auch alle anderen „schicksalhaften" Ereigniste im Leben sind vorbestimmt, Ruhm und Reichtum, Unheil und Tod. Wie daS eigene Geschick, so ist der Anteil an anderer Glück oder Unglück bestimmt: „Dir war eS bestimmt, baß du den Mächtigen zum Untergang werbest". So kann denn — in tieferer Einsicht — wohl nicht nur das Wider­ fahrene, sondern auch daS Tun als schicksalsbestimmt bezeichnet werben: „DaS muß jeder tun, waS bestimmt ist". „ES ist schwer, gegen das Auferlegte zu handeln".

Hier zeigt sich die Verschiedenheit deS fatalistischen Schicksalsglaubens der Spätzeit von dem primifiven besonders deutlich. Dem einen wird man auSweichen, wie man die UnglückStage meidet, bei dem andern gibt eS kein Entrinnen: „Dem Wort der Urdr widerspricht niemand, wenn eS auch wider­ wärtig bestimmt ist". DaS Handeln braucht dadurch nicht gelähmt zu werben (so wenig wie im hellenistischen oder arabischen Schicksalsglauben). Vielmehr vermag der Unerschrockene darin, baß der AuSgang ja doch bestimmt ist, nur einen Beweggrund mehr für Tapferkeit zu finden. Ein Bauer ermuntert seinen Sohn, als er ihn zu den Heerschiffen geleitet: „Am längsten lebt der Nachruhm eines jeden; ober wie würbest bu dich verhalten, wenn du in den Kampf kämest, und bu wüßtest voraus, baß du da fallen solltest?" Er antwortet: „WaS sollte mich da abhalten', mit beiden Händen zuzuhauen?" Der Alte sprach: „Nun könnte dir vielleicht jemand mit Gewißheit sagen, baß du da nicht fallen solltest?" Er antwortet: „WaS sollte man sich da scheuen, so tapfer als möglich voranzugehn?" Der Alte sprach: „In jedem Kampf, in den bu kommst, wirb eines von beiden geschehen, baß bu fällst ober baß bu davon kommst; sei bu darum tapfer, denn alles ist vorherbestimmt; den nicht zum Tobe Bestimmten bringt nichts in die Hel, und nichts kann dem zum Tobe Bestimmten helfen: auf der Flucht ist bas Fallen am schlimmsten" (SverriS S. 47). — Der Gedanke ist übrigens nicht auf die Germanen beschränkt. Der Auftuf Attilas vor der großen Hunnenschlacht auf den katalaunischen Felbern lautet: „Die, die siegen sollen, trifft keine Waffe; bie, die sterben sollen, zerschmettert ihr Schicksal, auch wenn sie nicht im Kampfe stehen. Warum sollte das Geschick bie Hunnen zu Siegern über so viele Völker erhoben haben, wenn nicht, um sie vorzubereiten auf bie Freude dieser Schlacht!"

ES ziemt sich, dem doch Unvermeidlichen mit männlichem Gleichmut ent­ gegenzuschreiten. Angesichts des unabwendbaren Untergangs bewährt sich erst der Helbensinn. Ja, so zieht das ausgebildete Ehrgesetz der Wikinger-

§19

Schicksalsglaube — Blutrache

87

zeit auch jenen anderen Schicksalsglauben in seinen Bereich ein, auch das für andere vermeidbare Geschick kann unauöweichbar werden, wenn die Ehre ein Zurücktreten verbietet. So geht denn Njal, von dem oben gesagt war, daß ihm ein bedingtes Geschick kund ward, sehenden AugeS in das Verderben, da er nicht mit Ehren den verwehrten zweiten Totschlag unter­ lassen kann. So führt im Nibelungenlied Hagen seine Herren in den Tob, da die Ehre es heischt. Die idealistische Denkweise: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne" ist nicht altgermanisch. Der germanische Schicksals­ glaube sagt, daß dem Menschen von außen die Grenze gesetzt wird, nicht, daß er sie sich selber setzt, weder durch sein Handeln noch durch sein Sein! In beiden Fällen aber, da wo Freiheit bleibt, sich dem Schicksal zu ent­ ziehen, und wo es schlechthin bestimmt ist, kann man es zaghaft erwarten oder ihm tapfer entgegengehen. Schicksalsangst oder Schicksalsmut sind nicht schon durch den Schicksalöglauben selbst bedingt, sondern bezeichnen die verschiedene Art, wie man mit ihm fertig wird. Das Schicksal an sich ist für den Germanen ohne verständlichen Sinn. Es wird nicht etwa lebens­ müde oder theatralisch willkommen geheißen, als ersehntes Ende oder erwünschte Gelegenheit, „heroisch unterzugehen". Auch hat es keine sühnende Bedeutung, als tilge der Tod die Schuld. Es ist Ausnahme und dürfte christlichen Einfluß verraten, wenn einmal der Glaube dem Schicksal eine tiefere Bedeutung abzuringen sucht: „Das wird geschehen, was besser ist, obwohl es uns unangenehm scheint" (Finnboga S. 6). Im allgemeinen wird es als unheilvoll gewertet: „Wewurt waltet!" Anklage gegen das Schicksal wird laut, wenn man sich ihm nicht wort- und vertrauenslos ergibt. Den harten Mut, als der Götterglaube ihnen zerbrach, illusionslos, weder stumpf noch leichtsinnig, sondern aufrecht und stolz dem Schicksal entgegenzutreten, haben die Germanen am Spät­ abend ihrer Religion gefordert und oft geleistet. Den tieferen Mut, hinter der ehernen Notwendigkeit des Geschehens ein gnädiges Walten zu glauben, hat ihnen ihre Religion nicht geben können. Erst der christliche Glaube greift höher und sieht gerade hinter und über dem Todesgeschick Gottes Walten am Werk. 4. Wie beim Schicksalsglauben, so wirkt auch an anderer Stelle der aus­ gebildete Ehrbegriff der Wikingerkultur in den religiösen Bereich hinein. Die dem Totenkult entstammende Blutrache (s. o. S. 72) entnimmt jetzt ihre Antriebe vor allem dem Ehrgesetz, das sie auch da noch als heilige Ver­ pflichtung lebendig erhält, wo das Recht eine friedliche Beilegung ermög­ lichte. Denn mochte das Wergeldzahlen auch dem Rechtsgefühl jener Zeit entsprechen, das in der Zahlung einen Ausgleich für den Verlust an Macht und Ansehen erblickte, den der Tod eines der Ihren bedeutete, so entschied ein feineres Ehrbewußtsein doch anders und lehnte die Annahme der Geldbuße

88

Di« germanische Religion

ab: „Ich will meinen Vater nicht im Beutel tragen". Ja, eS erscheint ehren­ voll, möglichst reichliche Rache zu nehmen; die Kriegerehre mißt den Ruhm deS RächerS wie deS Gerächten an der Zahl der erschlagenen Gegner. Die ursprüngliche religiöse Bedeutung der Blutrache erkennt man jetzt noch an ihrem Rang: sie geht der Bindung an Gatten und Kinder vor (Kriemhilds Rache!). Freilich, zum Kult der oberen Götter gehört sie nicht r bei deren Tempeln und Festen muß sie zurücktreten. Vielleicht ist eS von daher gelungen, sie auch im Feldlager zum Ruhen zu bringen. Aber sonst ist ihre Geltung uneingeschränkt und ihre Wirkung furchtbar. Gewiß mag in einer Zeit primitiver Rechtspflege das Blutrachegesetz im Sinne der Straf­ androhung manchen von schwerer Tat zurückgehalten haben: aber, einmal wirksam geworden, übte eS eine unheimlich zerstörende Gewalt und bedrohte Volk und Staat ständig mit unversöhnlicher innerer Fehde. Sie darf ja nicht als private Justiz verstanden werden; das Erschlagen des Mördersbringt nicht den Ausgleich, sondern läßt die Blutrachepflicht unvermindert auf die andere Sippe übergehen. Wie tief verwurzelt die Sitte war, die zu­ dem an der natürlichen menschlichen Rachsucht stets einen Nährboden fand, zeigte sich nach der Bekehrung; es hat der Kirche die größte Mühe gekostet, sie auszurotten. Zugleich wird an dieser Stelle Recht und Grenze deS Ehrbegriffs erkennbar. Die Ehre läßt einem Gesetz gehorchen, daS innerlich als verpflichtend an­ erkannt wirb; wie sie also den Menschen sein Leben an ein ideelles Ziel setzen heißt, tut sie nicht minder seinem Gewissen Genüge. Doch selber von den sittlichen Einsichten der Zeit abhängig, verstrickt sie gerade die feiner Empfin­ denden, die ihr Gebot nicht überhören mögen, nicht selten in schwere Schuld, auS der sie keinen Ausweg mehr finden. Die nordische Sage schildert eindring­ lich, wie die Ehre den Vater daS Schwert gegen den Sohn, die Mutter gegen Gatten und Kinder hat richten lassen, bis schließlich der Täter seinem Leben selber ein Ende macht (die nordische Brunhild- und Gudrunsage). 5. Hier sei noch der Endvorstellungen gedacht, wie sie in der Spätzeit der germanischen Religion sich aussprechen. 3m althochdeutschen Muspilli mag im Kampf deS EliaS mit dem Satan, dem Brand der Erde und Vergehen der Himmelskörper Germanisches in christlichem Kleide fortleben. Umgekehrt ist umstritten, ob in das große heidnische Weltuntergangslied der VöluSpa christliche Erwartungen hineingewirkt haben. Jedenfalls gehört der (auch bei unS in einem der Merseburger Zaubersprüche angedeutete) BalderMythuS in diesen Zusammenhang. Die urspünglich wohl auS Kleinasien stammende Gestalt BalderS hat im germanischen Norden zwar nur spärlichen Kult, aber völliges Heimattecht gefunden. An seine Person knüpft sich die Hoffnung auf eine neue Welt, wenn die jetzige vergangen sein wird. Denn die Gegensätzlichkett, die schon immer in der Welt besteht, wird — so geht die WeiSheitSrede der Seherin — einmal zum AuStrag kommen. Götter- und

§19f.

Endvorstellungen — Wesen der germanischen Religion

89

Menschenwelt leben dem Untergang zu. Auch an den Göttern erfüllt sich einst daS Schicksal. In dem gewaltigen Endkamps, in den Odin die Götter und die Helden Walhalls führt, erliegen sie siegend den anstürmenden feind­ lichen Gewalten, den Riesen, den Toten der Hel, den Ungeheuern der Tiefe: bis dann aus der Vernichtung von Erde und Himmel ein neuer Anfang ersteht mit den aus der Katastrophe Geretteten und unter dem lichten Gott. Das schöne Lied bringt zu Ausdruck und Bewußtsein, waS ein Dichter in Leben und Religion der Germanen unausgesprochen ruhen fand. Wieweit sich seine Stammesgenofsen diese Deutung zu eigen machten, wieviel also diese tiefsinnigen Gedanken und Bilder in der Volksreligion galten, ist nicht auszumachen. Sie zeigen aber, waS, wenn der Blick sich über das Ganze des Daseins erhob, an höchsten Möglichkeiten in der germanischen Religion beschlossen schien, — ein farbenglühendes Bild des Untergangs und eine schwebende Fernsicht, voll edler Poesie und doch nur dichterischer Wirklichkeit.

§20. Wesen, Echtheit und Grenze der germanischen Religion. Die germanische Religion hat sich in langer Geschichte ausgebildet. Eigenes und Fremdes sind vereinigt, tiefgehende Wandlungen haben stattgcfunden. 1. Die Germanen haben als „Götter" die Mächte verehrt, denen der Mensch preisgegeben ist: Die Segenskräfte in Haus und Flur, Himmels- und Erden­ mächte, vor allem doch die Gewalten, die dem Menschen deutlich zum Be­ wußtsein bringen, daß er nicht eigenen Rechtes ist und aus eigener Macht sein Leben hat, die im Gewitter, in der Schlacht und im Tod am vernehmlichsten zu ihm sprechen. Alles, was das Leben bestimmt, was es fördert, adelt oder bedroht, erscheint als Wirken einer Gottheit, der man sich unterwirft. Man stellt sich das von drüben Hereinwirkende vor, wie man allein Lebendiges begreifen kann, entsprechend dem eigenen Wesen, in menschlich-persönlicher Form. So gestaltet denn die Ahnung daS Bild der Götter nach dem eigenen Bilde, so daß sie erkennbar die Züge ihrer Verehrer tragen, nur gesteigert und ins Ungeheure erhöht. Doch eS soll kein Gaukelreich sein, das man so aufbaut; Religion ist nicht bas poetische Spiel mit Gestalten der Phantasie. Die übermenschlichen Mächte werden, auch wenn man sie dem menschlichen Wesen irgendwie verwandt glaubt, in ihrer Segens- und Schadensgewalt ernst genommen, sogar — wenn man an die Menschenopfer denkt — furchtbar ernst. Noch die Art, wie man schließlich sich von ihnen abkehrte, verrät diesen Ernst, der der germanischen Religion bis zuletzt eignete. Denn nicht einem Aufklärungshochmut ist sie zum Opfer gefallen, der daS Dasein jener Mächte in Abrede stellte; vielmehr als sich vor einem neuen höheren Anspruch ihre Ohnmacht herauSstellte, hat man ihnen abgesagt, in ehrfürch­ tiger Anerkennung der in solchem Geschehen sich bekundenden gewaltigeren Macht. (Dementsprechend war es auch für die Kirche ehrenvoller, die ger-

90

Die germanische Religion

manischen Götter nicht zu leugnen, sondern zu verteufeln: sie mußte alles, was das 1. Gebot antastetete und auf einen anderen das Vertrauen setzen lehrte, als den Versucher verstehen!) Furcht, Gefühl der Ohnmacht, Gebundenheit ist deshalb den Göttern gegenüber geboten. Doch zugleich, im Empfangen der Lebensgüter, deren Hüter sie sind, gewann man Zutrauen zu ihnen, glaubte an ihre Freundschaft und Gunst und stellte sich in ihren Schutz. Nicht mystische Versenkung, schwärmerische Gehobenheit, unbestimmte Sehnsucht bestimmen die religiöse Haltung der Germanen, sondern Furcht und Verttauen. (Die Selbst­ steigerung der „natürlich gewachsenen", „ungebundenen" Frömmigkeit, die sich heute auf die religiösen Kräfte des nordischen Menschen beruft, entstammt der Aufklärungszeit und hat mit der wirklichen Religion der Germanen weder geschichtlichen Zusammenhang noch innere Verwandtschaft.) Doch so ernst es den Germanen um ihren Glauben sein mochte, er erwies sich ihnen selbst als ein Irrweg. 2. Schon daß die Wanderzüge weithin zu einer Erschütterung der Religion führten, daß die Entfernung von den ererbten Heiligtümern den Kult selbst in Frage stellte, erwies sich als eine innere Schwäche. Während die seßhaft gebliebenen Stämme das Altüberkommene zäher festhielten, löste sich bei den Erobererstämmen der Völkerwanderung das Band ihrer Religion. Diente sie als Stütze für die Stetigkeit der Verhältnisse, so setzte sie diese auch voraus und war immer in Gefahr, ein Stück Volkssitte zu werden, ohne Eigenkraft. Tiefer greift, daß dieser Glaube seinen Bekennern zwar die Grenzen ihrer Macht und ihres Lebens aufgezeigt, aber die Richtung ihres Willens nicht ver­ ändert hat. Er stellte ihnen wohl Forderungen, aber nur um ihre eigenen Ziele zu fördern: Daseinssicherung, Glück und Sieg. Naiv hatte der Mensch sich und sein Ergehen zum Prüfstein gemacht, an dem die Gottheit sich be­ währen müsse. Dann aber mußten die Schicksalserfahrungen dem Glauben gefährlich werden. Solange man Niederlage und Unglück als Zorn der Götter deuten konnte, mochte man sie durch besondere Opfer zu versöhnen ttachten. Wo aber, wie bei den eifrigen Opferern, diese Deutung versagte, wurde mancher an der Hilfskraft der Götter irre. Und man zweifelte an ihrer Schadensmacht, wenn man den Gottlosen prahlen hörte: „Den Odin ver­ ehren tat ich nie; dennoch lebte ich lange". Die eigentliche Probe aber sollte die germanische Religion ablegen, als nun ein anderer Glaube ihr entgegentrat, der nicht auf menschliches Ahnen und Väterbrauch sich gründete, sondern in Gottes geschichtlichem Auftrag und darum in Vollmacht redete. Denn nun erschien den Germanen jeder Wettstreit der Völker als ein Kampf ihrer Götter, Erfolg oder Niederlage als eine Art höheren Gottesgerichts über Recht und Unrecht der alten oder der neuen Religion. Als die Germanen zu geschichtlichem Leben berufen wurden, wurden sie irre an der Macht ihrer Götter, und ihr Glaube zerbrach.

§20

Grenze und Schranken — Spätes Fortleben

91

Zugleich begann den Besten bewußt zu werben, vor welchen Fragen ihre bisherige Religion versagt hatte: Woher kommt der Mensch? Wohin geht er? Wie gehören Gott und Welt zusammen? Sind beide vergänglich? Was ist denn der Sinn von dem allen? Aber mehr noch: nach der alten Religion eignete den Mächten, die man verehrte, kein heiliger Wille, der auch den Menschen ein sittliches Gesetz auflegte. Wohl wachen auch Götter über Eid und Gesetz, doch nur so, wie alle einzelnen Lebensgebiete unter ihrem Schutze stehen, nicht als stände hinter den Pflichten des Menschen ein fordernder Gotteswille. Die Forderungen der germanischen Götter wissen, so unerbittlich heischend sie oft vor den Menschen treten, doch nichts von einem unbedingten Gut und Böse. Soweit man nicht mit dem Walhallglauben der Spätzeit die toten Krieger zur Teil­ nahme am Endkampf und Untergang der Götter aufbewahrt meinte, wußte man hier nichts davon, daß der Mensch zu anderem bestimmt ist, als zu irdischem Glück und Ruhm vor den Menschen, daß er von Schlimmerem bedroht ist als von den Unheilsmächten, die seine Kraft, seinen Reichtum, seine Ehre gefährden. Erst recht aber wußte das germanische Heidentum keinen Weg, den Menschen, der in Schuld verstrickt war, davon frei zu machen; wie kein Gesetz, so kannte es noch weniger ein Evangelium! In der Begegnung mit der christlichen Botschaft bemerkten die Germanen, daß ihr bisheriger Glaube im Entscheidenden unzulänglich war, daß er trotz aller Verbundenheit mit den Gegebenheiten der beseelten und unbe­ seelten Natur an der tiefsten Wirklichkeit des Lebens vorbeiführte und den Menschen in der schwersten Not seines Daseins allein ließ. Die germanische Religion, die so ernsten Glauben und anhängliche Treue gefunden hatte, konnte doch einem entschiedeneren Wirklichkeitssinn und ehrlichen Wahrheitsstreben auf die Dauer nicht genügen; sie war weithin bereits erschüttert, und die Menschen waren an ihrem Inhalt irre geworben; — das war die innere Lage der Germanen, als die christliche Predigt an ihr Ohr drang. Nicht die germanische Religion, sondern höchstens ihre Erschütterung mag denn als Vorbereitung für die Annahme des christlichen Glaubens genannt werden — in uneigentlichem Sinne. Dagegen darf man nicht von vorbereitenden Zügen im Sinne von Ahnung und Erfüllung sprechen. Etwa die Edda als ein „germanisches Altes Testament" zu bezeichnen, heißt weder die Edda noch die Bibel ernst nehmen. 3. Gleichwohl leben im mittelalterlichen Volksglauben zahlreiche Züge der germanischen Religion fort und erhalten sich manche Gestalten namentlich der niederen Religion, Riesen und Zwerge, Mahre und Holden, Werwölfe und Hexen. Im Gottesurteil des gerichtlichen Zweikampfs, im Orakel, Zauber und Besprechen, in Erntebrauch und Begräbnissitte erhält sich ursprüngliches Heidentum. Nach wie vor suchen die Osterfeuer Seuchen

92

Germanenbekehrung

und Hexen zu vertreiben, üben in ganz Europa die Johannisfeuer Sonnen­ zauber und Dämonenabwehr. Die mittelalterliche Kirche hat eine Fülle solchen Brauchs und Glaubens mitgebracht, übernommen, um- und neu­ gestaltet, so daß eS selten möglich ist, etwa auS dem heutigen Volksbrauch vorchristlich-germanische Züge mit Sicherheit zu erkennen. Einflußreicher als das unmittelbare Fottleben ist denn auch gewesen, waS an germanischer ReligionSauffafsung in christlichem Gewände nach­ gewirkt hat. Nicht so sehr, daß sich unter dem Namen christlicher Heiligen germanische Götter erhielten — diese Art umgenannten Weiterexistierens ist oft überschätzt worden —, sondern daß der christliche Glaube selbst nach heid­ nischem Religionsverständnis gedeutet wurde (s. u.). Mit der Übernahme

deS Christentums durch die Germanen begann sogleich ein ungeheurer Prozeß einer Germanisierung deS Christentums, der noch längst nicht aus­ reichend erforscht ist. Gegen ein besonders bedenkliches Stück solcher Germani­ sierung, die Umsetzung der Buße in eine Geldzahlung (Mlaß, s. u. S. 149) unter juristischer Veräußerlichung deS GotteSverhältnisieS, hat dann Luther in den 95 Thesen den Kampf aufgenommen. II. Vie Germanenbekehrung.

Die ersten Germanen werden vermutlich in den Römerstädten Köln, Mainz und Sttaßburg für Christus gewonnen sein. Gleichen Glaubens und gleicher Lehre mit der ganzen Kirche trugen sie, so sagt daS älteste christliche Germanenzeugnis (IrenäuS), ohne Papier und Tinte (also auch noch ohne eigene Bibelübersetzung) daS Heil durch den Geist in ihre Herzen geschrieben. ES ist hier höchstens zu kleinen Gemeinden gekommen, Keimen, die sich erst später entfalten sollten.

§21. Die arianischen Germanen.

1. Von geschichtlicher Bedeutung ist erst der Überttitt der großen Eroberer­ stämme geworden, zunächst der Goten. Sm 2. Jahrhundert auS ihrer nörd­ lichen Heimat aufgebrochen, haben sie im 3. Jahrhundert am Schwarzen Meer weite Gebiete eingenommen und um die Mitte deS Jahrhunderts im Verein mit verwandten Nachbarstämmen den Angriff auf daS Römische Reich begonnen. Shr Ansturm machte — ohne ihr Wissen und Wollen — der ersten allgemeinen Christenverfolgung ein Ende: Kaiser DeciuS fiel in der Gotenschlacht. Von ihren PlünberungSzügen, auf denen z. B. Athen und Spatta zerstört wurden, brachten sie christliche Kriegsgefangene mit zurück. Christliche Gemeinden fanden sie auch in den Griechenstädten und lateinischen Militärkolonien vor, die sie in der Krim und in Siebenbürgen einnahmen, wo sie auf römisch-griechischem Reichs- oder Kulturgebitt ihre Reiche gründtten. Diese Gemeinden behaupteten sich und wurden durch die zahlreichen

’S 21

Mission bet den Goten. Wulfila

93

Gefangenen noch verstärkt. Von hier aus begann die Mission. Denn die Festigkeit des christlichen Glaubens der Besiegten erwies sich stärker als die Ausdauer der heidnischen Religion der Sieger. Die Kraft einer Religion, die durch das Unglück nicht zerbrochen wurde, mag auf die Eroberer Eindruck gemacht haben. Jedenfalls wurde deutlich, baß der heimische Glaube der Goten nicht nur nicht werbekräftig, sondern nicht einmal sehr widerstands­ fähig war, obwohl er auf keine schwere Probe gestellt wurde. Unter den christlichen Kriegsgefangenen befanden sich die Großeltern des Wulfila, dessen Vater em Gote gewesen sein wird. An seinen Namen ist die Gotenmission besonders geknüpft. Von Jugend auf Christ, hatte er auch bei den heidnischen Großen Vertrauen, so daß er, der deS Griechischen mächtig war, bei einer Gesandsschaft an den (nunmehr christlichen) Kaiserhof ver­ wendet wurde. Dort ist er zum „Bischof der Christen im Lande der Goten" geweiht (341). Nach sieben Jahren erfolgreichen Wirkens kam eS zu einem Rückschlag: aus einer Verfolgung (wohl durch Athanarich f. u.), der viele zum Opfer fielen, flüchtete Wulfila sich mit einer Schar christlicher Goten über die Donau. Sie erhielten auf seine Bitte, unter seiner kirchlichen und bürgerlichen Leitung, vom Kaiser in den Bergen von Nikopolis (bei Plewna) Wohnsitze angewiesen. Die Mission hat trotzdem ihren Fortgang genommen; zu einer größeren Ensscheibung kam eS erst wieder nach dem Kampf zweier Gotenfürsten unter­ einander. Als Fritigern, der zunächst unterlegene, dann mit römischer Hilfe den Sieg gewann, ließ er sich mit seinem ganzen Stammteil taufen. Hier zuerst ist ein Beweggrund des Übertritts erkennbar, der oft in der Germanen­

bekehrung wirksam geworben ist. Nicht etwa, um die römische Hilf« zu erlangen (davon ist nie die Rede gewesen!), aber nach dem Siege, der die Macht deS neuen Gottes zu erweisen schien, sind sie Christen geworden, — dem mächtigeren Gott sich zu ergeben! Der unterlegene Fürst, Athanarich, hat dann in seinem Teilgebiet, als die Mission nun stärker einsetzte, eine neue Verfolgung entfacht. Er läßt einen Wagen mit einem Götterbild herum­ fahren und die deS Christseins Verbächttgen nötigen, zu opfern; die sich wei­ gern, werben in ihren Hütten verbrannt. Wenige Jahre danach tritt der ganze Westgotenstamm, von den Ostgoten und Hunnen gedrängt, auf römisches Gebiet über. Und nun wird ein anderes BekehrungSmottv wirksam, das gleichfalls in der Missionsgeschichte der Germanen immer wieder vorkommt: die auf dem Boden deS Römischen Reichs Angesiedelten nehmen auch dessen Gott an und lassen sich taufen. Daß dieser Schritt nicht als ein Akt politischer Klugheit gemeint, sondern innerlich ernst genommen war, konnten sie bald beweisen. Denn daS Ein­ vernehmen mit den Römern zerbrach rasch. Die Goten aber, die auS Bundes­ genossen deS Kaisers nun übermächttge Gegner geworden waren, bewahrten den Glauben an den Gott der Römer und erwarteten seine Hilfe auch gegen sie.

94

Die Germanenbekehrung

Die Übereinstimmung des Glaubens hielt freilich nicht lange vor. Das

Bekenntnis der Reichskirche änderte sich. Unter Theodosius setzte sich das vordem unterdrückte nicänische Bekenntnis durch, während das bislang sieg­ reiche als „arianisch" verpönt wurde (s. o. S. 53). Die Goten aber blieben diesem treu. Für lange Zeit wurde der Arianismus als die lex gotica die germanische Konfession. Die Festigkeit seiner Überzeugung zu bewähren, ward zuerst wieder Wulfila

gefordert. Mit seinen Kleingoten dem römischen Kaiser, dem sie alles ver­ dankten, treu und in den alten Sitzen zurückgeblieben, hielt er an seinem Bekenntnis auch gegen den Kaiser fest. In Konstantinopel erkrankt, gab er auf dem Sterbebett seinem Glauben in theologischer Formel Ausdruck (383): „Ich, Ulfila, Bischof und Bekenner, habe stets so geglaubt und gehe in diesem einzigen und wahren Glauben hinüber zum Herrn: ich glaube, daß ein Gott ist, er allein ungeschaffen und unsichtbar, er auch unseres Gottes Gott; dieser ist der eingeborene Sohn, unser Herr und Gott, der Schöpfer und Bildner aller Kreatur, der nicht seinesgleichen hat; und ich glaube an einen heiligen Geist, die erleuchtende und heiligende Kraft, nicht Gott und Herr, sondern treuer Diener Christi, nicht gleich, sondern untergeben und in allem dem Sohn gehorsam, wie der Sohn in allem untergeben und gehorsam ist Gott dem Vater" (etwas gekürzt und umgestellt).

Er meinte, nur der Schrift und der Überlieferung zu folgen, wenn er die dogmatische Frage seiner Zeit (nach dem Wesen Christi) von sich wies, und bemerkte nicht, daß schon er (wie erst recht seine späteren Schüler­ sein germanisches Religionsverständnis mitwirken ließ an der Bestimmung dessen, was Christus für den Glauben der Kirche bedeute (f. u.).

Wulfilas Schriften sind verloren. Sein Volk verdankte ihm vor allem seine Bibelübersetzung (mit selbsterfundener Schrift — nach gotischen Runen, griechischen und lateinischen Buchstaben — geschrieben; Bruchstücke sind auf uns gekommen, das größte, die vier Evangelien enthaltend, im Codex argenteus in Upsala). In ehrfürchtiger Bindung an den Buchstaben übertrug sie den griechischen Text Wort um Wort, wie im mündlichen Dol­ metschen bei der gottesdienstlichen Vorlesung; zum gottesdienstlichen Ge­ brauch war sie auch bestimmt. 2. Von den Westgoten wollte man später wissen, sie hätten „das ganze Volk dieser Sprache zur Annahme dieses Glaubens eingeladen". Die ost­ germanische Völkergruppe, Ostgoten, Vandalen, Burgunder, sind durch sie für das arianische Christentum gewonnen, und noch in ihren gallischen und spanischen Sitzen haben sie dafür geworben (Sueben). Nach ihrem Bei­ spiel ist der Arianismus zur religiösen Grundlage der auf weströmischem Boden gegründeten germanischen Staaten geworden. In der Person des großen Ostgotenkönigs Theod erich(Dietrichs von Bern-Verona) fanden sie ihre schönste Verttetung und ihr Zusammenschluß die ruhig-feste Führung.

§21

Theoberich und das gotische Kirchenwesen

95

Voraussetzung und Stütze dieser Bündnisse aber war das gemeinsame Bekenntnis. Die Kirche ist an die Stelle des alten Staatskultes getreten. Die religiösen Funktionen der germanischen Volksführer bleiben bei und nach dem Übertritt, in veränderten Formen, erhalten. Schon im Tausbeschluß kam zum Ausdruck, daß ihnen die Sorge für den rechten Gottesdienst anverttaut war; überall sind es ja die ganzen Stämme unter ihren politischen Führern, die den Schrit tun, — bezeichnend für die germanische Auffassung der Religion als einer Volkssache. Auch künftig bleibt die Leitung des Re­ ligionswesens in der Hand des Königs. Die Kirche wird in das engste Ver­ hältnis zum Staat gebracht. Bleiben auch die alten Ämter: Bischöfe, Pres­

byter, Diakonen, bestehen, so richtet sich doch die kirchliche Organisation nach den Hundert- und Tausendschaften der Volksgliederung. Aus der Wanderzeit, da „die Karre die Kirche" sein mußte, behält der Klerus den Charakter der Heeresgeistlichkeit des Volksheeres. Der Einttitt in den Klerus, die Er­ nennung der Bischöfe hängt — anders als in der Reichskirche — von dem König ab. Dafür ist wiederum ihr Einfluß auch auf das staatliche Leben nicht gering. Bei den Burgundern, den Vandalen, hören wir von Staatsober­ priestern („Pattiarch"), die unabsetzlich sind und die, wohl selber aus dem Königsgeschlechte stammend, einen Thronwechsel herbeiführen können. Heidnisches Erbe wirkt auch im Eigenkirchenwesen nach, das freilich erst auf fränkischem Boden seine volle Entfaltung gefunden hat; danach war dem Grundherrn erlaubt, auf seinem Boden eine Kirche zu errichten, über deren Einkünfte zu verfügen und eigene Priester daran zu bestellen. (Vgl. u. S. 134f.) Die hier sich bildenden Kirchen sind Nationalkirchen, eingeschlossen in die Grenzen ihrer Länder und ohne Streben nach Zusammenschluß ober Aus­ tausch. Alle diese germanischen Kirchen haben als kostbaren Besitz dieWulfilaBibel und halten danach Schriftverlesung, Predigt und die Liturgie des (in seinem Aufbau wohl unveränderten) Meßgottesdienstes in der Landessprache (bis auf „Amen" und „Halleluja"). Das Verhältnis zur katholischen Kirche der römischen Untertanen ist im allgemeinen duldsam. Diese Duldung schien geboten; denn der Unter­ schied im Bekenntnis sicherte die volkliche Absonderung, die allein der Herr­ schaft über eine fremde Mehrheit Dauer versprechen konnte. Die wohlwollende Duldung, die die katholische Kirche besonders unter Theoderich erfuhr, hat sie selbst die Einflußnahme, die der arianische Herrscher im Namen des Kaisers übte, ertragen lassen; wie denn katholische Römer sein Regiment als eine Zeit der Ruhe und der Nachblüte klassischer Kultur gefeiert haben. Freilich wird dies Geltenlassen des anderen Bekenntnisses durch das Schisma zwischen lateinischer und griechischer Kirche (491—518) erleichtert und bleibt auf Römer beschränkt. Denn wie die Arianer bei aller Begeisterung für ihren Glauben nur unter germanischen Stämmen für ihn warben, so sind sie im allgemeinen

96

Di« Germanenbrkchrung

davon entfernt, bei den eigenen Stammesgenossen das katholische Bekenntnis freizugeben. Von grundsätzlicher Toleranz darf man also nicht reden. Das westgotische „Sprichwort", man solle, wenn man zwischen heidnischem Altar und christlicher Kirche hindurchgehe, beide verehren, ist Ausdruck nicht der Toleranz, sondern eines Synkretismus; daneben findet sich in den Übergangs­ zeiten nicht selten religiöse Gleichgültigkeit.

Die Duldung findet ein Ende, nicht nur wo wan politisches Einver­ ständnis der katholischen Untertanen mit dem Kaiser argwöhnt, sondern auch, sobald in den eigenen Reihen katholische Werbung wirksam wird. Dann konnte eS zu schweren Maßnahmen kommen, wie bei der großen Katholiken­ verfolgung unter dem Vandalenkönig Hunerich.

Hier wurden zunächst — daS zeigt den Ausgangspunkt — alle, die in Vandalentracht katholischen Gottesdienst besuchten, verhaftet, dann wurde das arianische Bekenntnis von den Hof- und Staatsbeamten verlangt, schließ­ lich (1. Juni 484) der allgemeine Übertritt angeordnet. Von 466 katholischen Bischöfen haben sich 88 gefügt. Die andern blieben standhaft und wurden verbannt, eingekerkert oder sogar hingerichtet, ihre Kirchen geschloffen. Doch auch die Maffenbeportationen von Tausenden von Katholiken brachen den Widerstand nicht. Nach dem frühen Tode HunerichS kehrten die Vertriebenen meist zurück. Doch haben, wenn auch Martyrien künftig vermieden werden, die Bedrückungen (Exil für die Aufrechten, Belohnungen für die Will­ fährigen) noch längere Zeit fortgedauert.

3. Die Besonderheit deS Arianismus der Germanen ist darum nicht leicht zu erkennen, weil er sich kaum in Schriften ausgesprochen hat und von der geringen geistigen Hervorbringung nur weniges erhalten ist. Doch wird hierdurch schon deutlich, daß eS ein starkes kirchliches Eigenleben nicht gab und die Kraft zu selbständiger Lebensgestaltung schwach war.

DaS heißt nicht, daß die Goten dem religiösen Gedanken wenig Bedeutung beigemeffen hätten. Die auSzeichnende Stellung, die der Religion im öffent­ lichen Leben angewiesen war, beweist, daß ihre Macht über die Gemüter groß war. Gebet und Buße leiten auch die Kampfhandlungen ein. Die Hingabe an den neuen himmlischen GefolgSherrn, deffen Dienst Glück und Sieg sichern sollte, war gewiß aufrichfig und rein. Wie man daS Buch, das seine Weisungen enthielt, schätzte, zeigen die kostbaren gotischen Bibelhandschriften. Und die auch von Gegnern bewunderte gotische Sittlichkeit war — anders als einst im Heidentum — religiös begründet: in den sittlichen Forderungen sah man Gottes Satzung, die eS streng zu befolgen galt. Die Einfachheit und Hoheit der biblischen Rebe hat auf die unverbildeten Gemüter ihre Wir­ kung nicht verfehlt. Die lex gotica, das Glaubensgesetz, band Wissen und Wollen an die Bibel, mit deren Worten man den Angriff griechischer Dogmatik wie den feindlicher Schlachtteihen abzuwehren suchte.

§21

Eigenart des germanischen Arianismus

97

Doch cd ist nicht der entschiedenere Rückgang auf die Bibel, was die Ger­ manenkirchen von der Reichdkirche getrennt hielt. Die Verwandtschaft mit der deutschen Reformation ist nur Schein, und wenn Luther schon den Katholizismus an der neutestamentlichen Norm als Verweltlichung der Kirche in Lehre und Leben beurteilt hat, so bedeutet, am gleichen Maßstab gemessen, der Arianismus ein ungleich stärkeres Sich-Verlieren der Kirche an die Welt. Die Ähnlichkeiten erweisen sich bei näherem Zusehen als in ihrem Sinn ganz verschieden. So ist z. B. der die Ostkirche, deren Tochterkirche die gotische doch ist, beherrschende asketische Gedanke bei den Germanen nicht einge­ drungen, da die Kirche sich hier überhaupt noch nicht vom Volksleben unterschieden weiß. Luther lehnt daS Mönchtum ab, da man sich auch im Kloster innerlich nicht von der Welt entferne und man nicht unbefohlenen Gottes­ dienst suchen dürfe, vor allem aber, da die Meinung, mit eigener heroischer Leistung vor Gott bestehen zu wollen, der eigentliche Gegensatz zum Christ­ lichen sei. Für die Arianer war das Mönchtum zu weltfremd, für Luther zu weltlich, weil wider Gottes Willen! Die Eigenart des germanischen Arianismus ist zumeist aus der von ihnen mitgebrachten Religionsauffassung zu erklären. In die Ehr­ furcht vor dem Evangelienbuch mischt sich die Scheu vor dem Runenzauber, und so verwendet man die Bibel zu Orakeln. Wenn Alarich II. lieber einen Feldzug verlieren als am Ostertag kämpfen will, so gemahnt das an die germanische Sorge vor den Schicksalstagen (Ariovist! s. o. S. 74). Der arianische Brauch, überttetende Katholiken wiederzutaufen, erklärt sich aus der germanischen Hochschätzung peinlicher Sorgfalt im Zeremoniell. Die arianische Staatskirchenverfafsung stellt etwas Neues in der Kirchengeschichte dar, und ihre Eigentümlichkeiten sind als Nachwirkung heidnischer Religionsauffasiung zu begreifen. Entscheidend ist, welchesChristuSverständnis ihre Lehre und Predigt wecken sollte. Denn daran ist der Sinn ihrer Verkündigung zu erkennen und zu beurteilen. Wenn sie die Schulausdrücke der griechischen Dogmattk ablehnten, da die Laien sie nicht verständen und Ärgernis daran nähmen, so beriefen doch auch sie sich auf die theologisch formulierte dogmattsche Entscheidung eines allgemeinen Konzils, nur daß sie statt Nicäa Ariminum (359) nannten. Und wenn sie nur mit biblischen Worten von Christus reden wollten, so fragt sich, ob sie auch der Meinung des Neuen Testaments treu blieben. Als sie es aussprachen, was es für sie bedeute, sich zu Christus zu bekennen (WulfilaS Bekenntnis, s. o. S. 94), bekannten sie ihn als ein göttliches Wesen im Sinne des alten Polytheismus, das, geringer als Gott-Vater, doch ein Fürst sei, von großer Macht, der sich seinen Getteuen günstig erzeigt. So glaub­ ten sie, ohne von ihren alten Vorstellungen loszukommen, in ihm den gewalttgen himmlischen Bundesgenoffen gewonnen zu haben, durch dessen 7

Schuster, Kircheugeschlchte

98

Die katholischen Germanenkirchen

Hilfe sie die eigenen Ziele, Sieg und neue Wohnsitze, sicher erreichen könnten. Nicht mit Gott selbst haben es also nach diesem Glauben die Menschen zu tun, wenn sie zu Christus kommen, sondern, während Gott rätselhaft unerkennbar in schweigender Ferne thront, mit einem Gottwesen großer, aber beschränkter Macht und Erkenntnis, dessen Wort und Wille in eigenem Namen geht. Dies heißt gewiß nicht, daß nun einfach bei ihnen Heidentum unter christ­ lichem Namen fortlebte. Schon das bedeutete etwas Großes, daß sie, nach­ dem sie Christen geworden waren, unter ein heiliges Sittengesetz traten und den Willen, von dem sie alles erhofften, als gut erkannten. Aber freilich, über die Grenzen ihres Wollens und Könnens hat ihr Christentum sie nichts gelehrt. Und als die Geschichte sie selbst an diese Grenzen führte, als ihre kriegerische Volksmacht der erstarkenden Gegner nicht mehr Herr wurde, da zerbrach auch ihr Glaube, da er nicht viel mehr war als die religiöse Seite ihres Volkslebens. Der Arianismus hat, das ist das Urteil der Geschichte über diesen Versuch einer Nationalkirche, den Verlust des volklichen Eigen­ lebens bei keinem dieser Stämme überdauert!

III. Vie katholischen Germanenkirchen. §22. Die Burgunder und die Franken.

1. Darf man den kargen Nachrichten, die es über die rheinischen Burgun­ der gibt, trauen, so wären sie es gewesen, die zuerst, freilich nicht für lange, in die katholische Kirche eingetreten sind. Der auf römischem Boden ange­ siedelte Teil des Stammes nahm zuerst auf Dolksbeschluß die Religion des größeren Gastreiches an; bald danach folgte in Hunnengefahr der rechts des Rheins gebliebene Stammesteil, um den Beistand des Christengottes zu gewinnen; im Vertrauen auf seine mächtige Hilfe errangen die Neuge­ tauften den Sieg. Doch bleibt hier alles unsicher. Nach der Zerstörung des Burgunderreichs durch die Hunnen hat der Stamm in seinen neuen Sitzen an der Rhone sich mit der gleichen Leichtigkeit dem arianischen Bekenntnis angeschlofsen: als Folgerung aus dem Eintritt in das gotische Völkersystem. Doch bei der Aufgeschlossenheit der Burgunder für lateinische Kultur und Sprache bleibt die katholische Mission nicht ohne Wirkung, auch in der Königsfamilie; die endgültige Katholisierung des Stammes (516) ist freilich erst die Folge des fränkischen Übertritts. 2. In jahrhundertelangen Kämpfen waren die Franken immer tiefer in Gallien eingedrungen, bis sie schließlich (486) das ganze noch römische Gebiet erobert hatten. Der Überttitt des machtstrebendsten ihrer Fürsten, des jungen Königs Chlodwig, zum katholischen Christentum macht Epoche in der Ge­ schichte des Abendlands. Durch Theoderich in den germanischen Völkerbund gezogen und für den Arianismus umworben, entschied er sich doch für das

§22

Chlodwig und die fränkische Kirche

99

katholische Bekenntnis seiner burgundischen Gemahlin, auS religiösen wie politischen Gründen — beide kaum voneinander zu scheiden. Im Ringen um den Besitz ganz Galliens sucht er die BundeSgenofsenschast der katholischen Untertanen seiner gotisch-arianischen Gegner. Dabei aber erfüllt ihn die Hoffnung auf die KriegShilfe deS neuen mächtigen Gottes, dessen katholische Verehrung ihm als richtiger und darum aussichtsreicher eingeleuchtet haben muß. Doch auch ohne daß der König die Tragweite seiner Entscheidung ganz verstand, war sie überaus bedeutungsvoll für fein Volk wie für die mittel­ alterliche Geschichte. Der Taufe deS Königs (Weihnachten 498? 507?) folgte rasch, obwohl kein Zwang geübt wurde, die eines großen Teiles seines Volkes. ES zeigte sich auch bei den Franken, daß die heimische Religion erschüttert war und baß weithin die religiöse Entscheidung den politischen Führern überlassen wurde. So erklärt sich die Schnelligkeit, mit der daS Volk seinem König den Schritt nachtat; mag eS auch in den entlegeneren Gebieten am Rhein und am Meer noch länger gedauert haben, bis der Wandel sich vollendete. Um die Ab­ sonderung vom fremden Volkstum zeigen sich die Franken weniger besorgt als Goten und Vandalen. Sie blieben ja stets in Verbindung mit chren Heimatsitzen; und die Angliederung der anderen deutschen Stämme sicherte die Vorherrschaft deS germanischen Elements. Die Franken haben daS Christentum sogleich in ihr StammeSgefühl aus­ genommen. Sie waren stolz darauf, in die Gefolgschaft deS himmlischen Königs sich einzureihen, und empfanden daS Auszeichnende solcher Stellung. DaS Schutzverhältniü, in dem sie vor anderen Völkern zu Christus zu stehen glauben, findet im Prolog zum salischen Gesetz einen naiven Ausdruck: „ES lebe Christus, der die Franken liebt!" So verttaut Chlodwig auf den Beistand des göttlichen Schutzherrn und führt den Kampf gegen die arianischen Reiche als Glaubenskriege: „Ich kann eS nicht erwägen, baß diese Arianer einen Teil von Gallien besetzt halten; laßt unS gehen und mit Gottes Beistand sie überwinden und daS Land unter unsere Herrschaft bringen!" In der Schlacht meinte man die Wirkung jenes ArmeS zu spüren: „Ha, wie gewalttg muß der himmlische König sein, der so mächtige Könige tötet", hat Chlothachar I. auSgerufen, als ihn selbst der TodeSstreich traf. Die Frankenfürsten fühlen sich als Hüter der Religion, die sie unmittelbar neben ihre kriegerischen Großtaten stellen und auS der sie den Vorrang vor den sonst bewunderten römischen Cäsaren ableüen. Obwohl also die Franken nicht durch eine religiöse Bewegung gewonnen sind und keine solche erfuhren, so ist doch bei ihnen die religiöse Ehrfurcht und daS Zuttauen zu dem Walten Gottes im Leben deS Volkes wie der einzelnen größer geworden als in der heidnischen Zeit, größer auch als zumeist bei den christlichen Romanen, zwischen denen sie künftig leben sollten. Ist daS Ver­ ständnis deS Neuen einstweilen noch nicht viel tiefer als bei den Goten, mit7*

100

Di« katholischen Germanenkirchen

hin der Unterschied vom arianischen Christentum innerlich kaum beträchtlich, so sind sie doch nun aufgeschlossen für die Einwirkung deS katholischen Unterrichts; was aus der fränkischen Kirche werden konnte, hing nicht zuletzt von der Arbeit der gallischen Bischöfe und Kleriker ab, die ihr dienten. 3. Denn die Franken bildeten nicht wie die arianischen Germanen eine neue kirchliche Organisation, sondern traten in den wohlgeordneten Verband der römisch-gallischen Provinzialkirche mit ihren reichen Überlieferungen ein,

die auch künftig nach eigenem Recht lebte. Die Stellung dieser Kirche bleibt freüich nicht unverändert. Die staatliche Grenze bestimmt auch die Grenze der Kirchensprengel. Weisungen von außen dürfen nicht entgegengenommen werden. Di« Verbindung mit dem römischen Papst hört fast ganz auf. Nicht geistig, aber rechtlich ist die fränkische Kirche auS dem Zusammenhang mit der übrigen Christenheit herausgelöst. Eine Nationalkirche entsteht, deren Leiter vom Könige ernannt werden (wie denn selbst der Eintritt in den KleruS der königlichen Genehmigung untersteht) und für deren Einheit vom König berufene Nationalsynoden unter wechselndem Vorsitz sorgen. Die Sonderrechte deS Klerus fallen weg, ebenso der Staatsschutz gegen Ketzer, Juden und Hei­ den. — 2lbcr das innere Leben dieser so vom Staat abhängigen Kirche bleibtunberührt, und ihr Verlust an äußerer Macht bedeutet nicht ein Sinken des öffentlichen Einflusses. Die Bischöfe sitzen im königlichen Rat. Ihre moralische Autorität ist groß, und ihre Wirksamkeit reicht west über die eigentlich kstchlichen Aufgaben hinaus. Die unfertigen staatlichen Zustände in den Merowingerreichen »ertrugen und verlangten die Wohlfahrts- und Kultur­ arbeit der Kirche (bis hin zu Flußregulierung und Ziegelbrennen; erst recht Schulwesen, Gartenbauunterricht u. dgl.), da der Staat sich wesentlich auf den Schutz der Grenzen und der Rechtsordnung beschränkte. Diese Fülle von Aufgaben zu übernehmen, ist der Kstche auch durch die rei­ chen Schenkungen ermöglicht, die ihr von Volk und Fürsten zuteil wurden. In. ihnen aber bekundet sich vielfach ein religiöser Sinn astheidnischer Art; nur kommen zu den stdischen Zwecken der Lebens- und Glückssicherung, denen die heidnischen Opfer gegolten hatten, jetzt jenseitige: man wstbt durch mannigfache Gaben um die Gunst der Heiligen und ihre Fürsprache im künftigen Rechtsstreit vor dem himmlischen Richter; oder man stiftet ein Kloster, dessen Insassen für den Geber beten sollen, wenn dieser dessen gar zu bedürftig geworden ist. Dst Kstche ist aber nicht völlig auf solche germanischen Vorstellungen ein­ gegangen, sondern hat das Bewußtsein der persönlichen Verantwortung vor Gott wachzuhasten gesucht. Die fordernde Gerechtigkeit GotteS, dst auch die Fürsten nötigt, ohne Ansehen der Person zu richten, und Rechenschaft von ihnen verlangt, hat in der fränkischen Kstche stets ihre Verkünder gehabt. Und mitten in der Willkür und Gewaltsamkeit der Zeü erkennt wohl einmal eine ruchlose Königin am Grabe ihrer Kinder erschüttert die göttliche Ver-

§ 22f.

Verfall bet fränkischen Kirche —■ Mission bei den Angelsachsen

101

geltung: „Durch die Tränen der Armen, den Jammer der Witwen, daS Seuf­ zen der Waisen find sie getötet". Im ganzen hat doch die fränkische Kirche, trotz mancher ehrwürdigen Gestalt unter chren Leitern, ihre Pflicht, daS Gewissen deS Volkes zu sein, auf die Dauer nicht erfüllt; sie ist ihrer Aufgabe wenig eingedenk geblieben, die biblische Bosschaft unentstellt zu verkünden. In der Preisgabe an daS Volks­ leben vergaß sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Auftrag. Die Bischöfe wurden, m den Rat beS Königs gezogen, zu Großen des Reiches; zur HeereSfolge befohlen, wurden sie zu reisigen Kriegsobersten; zu Reichtum gelangt, weckten sie in ungeistlichem Treiben die Begehrlichkeit der weltlichen StandeSgenossen. So wird die Kirche in den Verfall deS Staates mit hineinge­ zogen. DaS Merowingerreich hat den Beruf, den seine raschen Erfolge ihm mit dem Gewinn eines großen Landes mit fremdem Volkstum und einer reichen, wenn auch überalterten Kultur gestellt hatten, nicht recht zu erfüllen vermocht. Die Auflösung deS Reiches aber ergriff auch die Staatskirche. Der kirchliche Zusammenhalt lockerte sich; die über daS Kirchenvermögen ver­ fügenden Ämter gerieten in Laienhände: DaS Eigenkirchenwesen, das dem Grundherrn kirchliche Rechte auSlieferte, durchbrach die kirchliche Organi­ sation; bei Klerus und Laien war der kirchliche Sinn im Schwinden. Die Werbekraft der fränkischen Kirche war nie groß gewesen und ist zu Beginn deS 8. Jahrhunderts ganz zu Ende. Ein tieferes Verständnis deS Christen­ tums und eine Reform ihrer Ordnung ist ihr von außen zugekommen, von der angelsächsischen Kirche.

§23. Die Angelsachsen.

1. Unter den angelsächsischen Eroberern zu missionieren, wurden die (kel­ tischen) Briten durch den nationalen Gegensatz, die benachbarten Franken durch die Unkraft ihres Christentums gehindert. Doch mag der Anstoß zur Aussendung der ersten Msssionare von dem Kaplan der fränkischen Königin von Kent auSgegangen sein, und fränkische Hilfe haben die Msssionare erfahren. DaS Unternehmen selbst aber — die einzige römische Germanen­ mission ! — ging von Papst Gregor b. Gr. auS, der eine Schar von Mönchen auf den Weg schickte (596). Ihre Lebensstrenge gab ihrer Bosschaft von einem ewigen Reich Nachdruck. Schon im nächsten Jahr können sie die erste Massen­ taufe an den Papst melden. Ihr erster Sitz, Canterbury, ist trotz seiner Randlage der kirchliche Mittelpunkt Englands geblieben. Wie Germanentum und Christentum sich begegnen, ist am besten für das Nordreich überliefert: dessen begabter Hersscher, Edwin, wagt eS wie Chlodwig zuerst im Kriege auf den neuen Gott hin. Dann aber wird im Rate deS Königs die Ensscheidung tiefet begründet; die Kraftlosigkeit der alten Götter wird von dem Heid-

102

Die katholischen Germanenkirchen

nischen Oberpriester eingestanden, und die religiöse Frage der Germanen am Ausgang ihrer Religion wird in einem schönen Bilde ausgesprochen: Auf das Woher und Wohin des Menschen soll die Kirche die Antwort geben, die das Heidentum nicht weiß. „Wenn ich, o König, dieses Leben der Menschen hier auf Erben vergleiche mit der langen Zeit, über die wir nichts wissen, dann sehe ich's in einem Bilde: Du sitzest zur Winterzeit beim Mahle mit deinem Gefolge und deinen Dienern. Mitten in der warmen Halle brennt der Herb, braußen aber toben bie winterlichen Schneeunb Regenftürme durchs Land. Da fliegt ein Sperling herein und huscht schnell durch dieHalle; kaum ist er zur einen Tür drinnen, so ist er zur anderen schon wieder hinaus. In der Zeit, wo er im Saal ist, treffen ihn die Winterstürme nicht; aber wenn der kleine Augenblick, wo er Ruhe hat, im Nu verflogen ist, dann entschwindet er, aus dem Winter kommend und in den Winter zurückkehrend, deinen Augen. So ist auch einigermaßen deutlich, was dieses Leben ist; was ihm aber folgt und was ihm vorausgegangen ist, davon wissen wir nichts. Wenn also diese neue Lehre darüber etwas Sicheres beibringt, dann verdient sie, wie mir scheint, baß wir ihr folgen." (Beda Venerabilis, Hist. Eccl. II, 13.)

Die im Königsrat getroffene religiöse Entscheidung sahen viele auch im Volk als für sie maßgebend an. Daß aber diesen Massentaufen keine festen Überzeugungen entsprachen, zeigte die heidnische Reaktion, die hier wie in London dem Thronwechsel folgte; nur im Südosten hielt sich das römische Kirchenwesen.

2. Wieder ausgenommen wurde die Mission jetzt vom Norden aus durch irische Mönche. Durch eigene kirchliche Sitte von den Römern getrennt, haben sie ihren Hörern ein hartes Leben der Weltentsagung vorgelebt und durch Schlichtheit und Güte ihnen Bußernst und Ewigkeitshoffnung innerlich nahegebracht. Das selbstlose Wirken der irischen Prediger hat seine Frucht gebracht, auch als schließlich die Entscheidung zugunsten der römischen Kirchen­ form fiel. Auf der Synode von Whitby (664) hat im Ringen der römischen Weltkirche mit den irischen Heiligen für den König der Gedanke den Ausschlag gegeben, daß der Zutritt zum Himmel vom Schlüsselamt des Petrus abhinge. Der Ire beruft sich auf den Apostel Johannes, den Lieblingsjünger des Hei­ landes, der Vertreter Roms aber auf den Apostelfürsten Petrus, dem der Herr die Verfügung über die Schlüssel des Himmelreichs gegeben habe (Mt. 16,19). Nachdem der Ire dies Herrenwort bestätigt hat, bricht der König in die Worte aus: „Da Petrus der Pförtner ist, so will ich ihm nicht widerstreben, sondern ihm nach bestem Wissen und Gewissen zu folgen suchen, damit, wenn ich ans Tor des Himmel­ reichs komme, einer da sei, der mir öffne, und nicht etwa der die Schlüssel hat, sich von mir wende."

Das einheitlich organisierte englische Kirchenwesen, (dem später nach langem Beiseitestehen auch das britische sich anschloß), ist zum Vorläufer und Förderer der nationalen Einheit der Angelsachsen geworden. Die angel­ sächsische Kirche des 8. Jahrhunderts ist die lebendigste und wirkungskräftigste

'S 23 f.

Die englische Kirche — Mittel- und Süddeutschland

103

der Zeit geworden; die römische Kirche hatte ihr den Sinn für Ordnung und Recht und ihre organisatorische Kunst Übermacht, die irische aber die Energie des sittlichen Strebens und die starke Wifsensfreude gelehrter Studien. Männer wie Theodor von Canterbury, der hohe theologische Bildung aus seiner griechischen Heimat mitbrachte, und der größte angelsächsische Gelehrte, Beda Venerabilis, der Geschichtschreiber seines Volks, sind ihrer eigenen Kirche Lehrer und Führer gewesen und haben auch für das Festland Be­ deutung gewonnen; ist doch die deutsche Kirche in Geist und Einrichtungen weithin eine Tochtergründung der angelsächsischen!

§ 24. Die mittel- und süddeutschen Stämme. Die Anfänge des Christentums unter den Bayern und Alamannen sind undeutlich. In den eroberten Römerstädten behaupteten sich Reste christ­ licher Gemeinden, wohl auch als Bischofssitze; von da werden stille, aber nachhaltige Wirkungen ausgegangen sein. Rascher verlieren sich die Spuren der gotisch-arianischen Mission, denen wir mehrfach begegnen. Nach der Angliederung dieser Landschaften an das fränkische Reich kommen christliche Gedanken schon durch die zahlreichen fränkischen Siedler herein; die fränkischen Herzöge mögen die Predigt begünstigt haben. Die frän­ kische Kirche hat nicht ausdrücklich missioniert; doch fehlte es ihr nicht ganz an Männern, die sich diesem Werke widmeten, wie Rupert, der als Begründer des Salzburger Bistums gilt. Eine nicht geringe Bedeutung gewannen iri­ sche und später angelsächsische Mönche, die um Christi willen ihre Heimat verlassen hatten, um in der Fremde ein Leben der Buße und Weltverachtung zu führen. Obwohl sie also nicht berufsmäßige Missionare waren, haben sie doch, wo es sich fügte, gepredigt und getauft. Am wirksamsten von ihnen ist Columban gewesen, der um 590 die Wanderfahrt aufnahm. Mit 12 Gefährten durchzog er Franken und ließ sich dann in den Vogesen nieder. Unter Christen und Heiden predigte er als Sinn des Evangeliums Buße und Abtötung. Die unbeugsame Kühnheit, mit der er einem lasterhaften König entgegentrat, und der Starrsinn, mit dem er den fränkischen Bischöfen gegenüber an der heimischen Sitte fefthielt (Ostertermin), wurden zum Anlaß, sich der strengen Mahnungen des Unbequemen zu entledigen. Vertrieben, hat er sich zuerst bei Bregenz am Bodensee zur Alamannenpredigt niedergelassen und ist dann zu den Langobarden weitergezogen. Aus seinem Vogesenkloster Luxeuil gingen weiter Missionare und Klosterstifter hervor. Sein Schüler Gallus gründete St. Gallen. Der Ire Kilian in Würzburg, der Angelsachse Pirmin auf der Reichenau mögen noch unter diesen Männern genannt sein, deren Wirken fruchtbar, aber unregelmäßig war, weil ihr Sinn für feste Ordnung des kirchlichen Lebens und für Organisation der Gemeinden nur gering war. Diese Männer, die nicht um der Mission, sondern um der

104

Die katholischen Germanenkirchen

Entsagung willen heimatlos wanderten/ konnten nicht zu Begründern einer

deutschen Kirche werden und vermochten nicht zu hindern, daß die kirchlichen Zustände in den Ländern ihres Wirkens ungesichert und unfertig blieben. Freilich wollten Bayern und Alamannen im 8. Jahrhundert amtlich als „christlich" gelten. DaS Alamannengesetz Herzog Lantfrids gibt der Kirche Rechtsschutz und Vorzugsstellung, nennt den Klerus als ersten Stand, ordnet die SonntagS-

heiligung an u. a. Schon deshalb sind die dem Tode des Herzogs folgenden Kämpfe mit den fränkischen HauSmeiern nicht als „Religionskriege" anzu­ sehen; von einer fränkischen „Schwertmission" darf hier nicht gesprochen werden. Noch aber ist hier alles im Werden. Und wie das Heidentum noch überall

lebendig ist, so sind heidnischer und christlicher Brauch und Glaube vielfach ungeschieben. Am Bodensee wie in Thüringen gibt eS christliche Priester, die WobanSopfer darbringen, und eS gibt Christen, die ihre Sklaven bedenken­ los zu heidnischen Menschenopfern verkaufen!

§25. Die angelsächsische Mission und daS Werk des Bonifatius. 1. DaS regste kirchliche Leben gab eS damals bei den Angelsachsen, wo irisches und römisches Christentum einen hoffnungsvollen Bund eingegangen waren. Die angelsächsische Kirche schickte sich nun an, die festländische Germanenwelt zu gewinnen, die—heidnisch, halbheidnisch ober in kirchlichem Verfall—drin­ gend der Hilfe von außen bedurfte. Sorgfältig vorbereitet und ständig von der Heimatkirche gefördert, galt die angelsächsische Mission, im Bewußtsein der alten Stammesgemeinschaft, vor allem den Friesen und Sachsen.

Als friesischer MffsionSmittelpunkt, der dann zum Erzbistum der nieder­ ländischen Kirchenprovinz werden sollte, erstand Utrecht, der Sitz Willi­ brords, des „Friesenapostels" (690—739).

Die Bismarck (Brautbrief vom 24. 2.1847) beschäftigende Erzählung von dem Friesenkönig Rabbod, der vom Taufbecken zurückgetreten sei, um — und sei eS auch in der Hölle — mit seinen Ahnen vereint zu bleiben, ist Legend«. Wäre sie wahr, so würbe sie besagen, baß der König den Ernst der christlichen EntscheibungSforderung noch nicht verstanden hatte; denn diese erlaubt niemandem, mit Berufung auf seine irdische Zugehörigkeit die Verantwortung von sich abzuschteben (Mt. 10,37). Zu diesem Kreise gehörte auch Wynfrith-BonifatiuS. Um 675 in Wessex geboren, wurde der junge Sachsen-Edling nach dem Brauch germanischer Christen ftüh dem Kloster übergeben. Sn der ernsten Welt deS Mönchtums aufgewachsen, als geschätzter Lehrer auch zu Staatsgeschäften herange­ zogen, gab er eine aussichtsreiche Wirksamkeit auf, um für Christus in die Fremde zu gehen. Er zog auS als Vertreter der blühenden angelsächsischen Kirche und hat den Zusammenhang mit ihr nie aufgegeben. Ein Fehlschlag

$28

Bonifatius als Missionar

105

(in Friesland 716) schreckte ihn nicht ab, sondern bewährte nur die Festigkeit seines Entschlusses. 718 ging er nach Rom, um wie vor ihm Willibrord dort die kirchliche Ermächtigung zu holen, die er brauchte, und die er doch von der nächstberechtigten, verwilderten Frankenkirche sich nicht geben lassen mochte. „Zur Predigt des Alten und Neuen Testaments", wie seine Bestallung lautete, wurde er an baS ganze rechtsrheinische Deutschland gewiesen, „ein ungläu­ biges Volk durch den Heroldsruf der Verkündigung zu bekehren". Nach kurzer Mitarbeit an der Friesenmission ging Wynfrith, der nun nach dem Kalender­ heiligen seines Weihtages Bonifatius hieß, 722 als Bischof nach Hessen. In den 10 Jahren seiner mitteldeutschen Wirksamkeit hat er in Hessen ein neues Feld bestellt, in Thüringen eine verwilderte Pflanzung gereinigt und veredelt. Zu seinen Erfolgen haben selbstlose Tapferkeit und liebevolle Klugheit in gleicher Weise mitgeholfen. Stand den Germanen die Macht­ frage in der Religion voran, so mußte sich mit der Predigt die AngriffSkühnhett verbinden, die eS auf sich nahm, die religiöse Scheu der Heiden zu verletzen zum Erweis der Ohnmacht ihrer Götter (Fällung der Donareiche bei Geismar). Vor dem ernsten Suchen und Grübeln seiner Hörer bedurfte eS aber deS geduldigen MitbenkenS ihrer Religionsgedanken; er mußte zeigen, daß ihre Fragen auf dem Boden des heidnischen Glaubens nicht lösbar seien, und so besprach er in der Predigt daS Verhältnis von Gott und Welt, daS Entstehen der Welt, die Beziehung von Frömmigkeit und Glück. Da man niemandem dienen und ihn gewinnen kann, den man nicht ernst nimmt, so wie er ist, so ging er liebevoll auf ihre Art ein (er erbittet etwa von Hause eine Goldhanbschrift, um denen, die baS Sinnenfällige lieben, die Würbe des BibelwortS auch äußerlich vor Augen zu führen). Damit die Predigt wirke, soll der Prediger sich mit seinem ganzen Leben dahinterstellen: so mußte die selbstlose EntsagungStteue, die keine Armut und Mühsal scheute, ihm die Achtung ver­ schaffen, die sein Amt verlangte. Schließlich mußte doch auch die Bestimmtheit Eindruck machen, die keine Kompromisse duldete und dem heidmsch-christlichen Mischglauben ebenso energisch entgegenttat wie den Verstößen gegen die Sttenge der Kirchenorbnung. Aus dem Missionar wurde dann immer mehr der Organisator, der im römischen Auftrag eine bayrische und eine mitteldeutsche Kirchenprovinz einrichtete, aus der Schar seiner Mitarbeiter Bischöfe einsetzte und die Durch­ führung der kirchlichen Ordnungen und Gesetze zunächst einmal beim Klerus zu erreichen suchte. 2. Nach solcher Vorarbeit konnte man daran gehen, die fränkische Kirche zu reformieren. In den Verfall deS ftänkischen Staates einst mit hinein­ gezogen, war ihr dessen Wiederaufstieg nicht mit zugute gekommen. Im Gegenteil hatte die Verteidigung des Reichs gegen die Araber (die Schlacht bei Tours und PoitterS 732) alle Kräfte in Anspruch genommen; die Kultur­ arbeit trat zurück, und für die kirchlichen Aufgaben fehlten die Mittel. Zur

106

Die katholischen Germanenkirchen

Verweltlichung der Kirche kam die Enteignung ihres Besitzes zugunsten der Reichsverteidigung. Die kirchlichen Verhältnisse lagen so im argen, baß zwar überall die größte Reformbedürftigkeit vorhanden war, aber nirgends ein Reformwille. Es ist ein Verdienst der neuen Herrscher, Karlmann und Pippin, baß sie den selbstsüchtigen Widerstand der fränkischen Bischöfe ge­ brochen und den starken und hingabefreudigen Kräften der Angelsachsen Raum geschaffen haben. Die erste deussche Synode (742), deren Teilnehmer zumeist Angelsachsen waren, hat vor allem der kirchlichen Ordnung und Dis­ ziplin gegolten. Der Verwilderung der Zucht sollte gewehrt, den Klerikern die gewissenhafte Befolgung ihrer Amtsvorschriften, den Mönchen die der Benediktinerregel (wie in Rom und England) eingeschärft werden. DaS Kirchengut sollte soweit zurückverlangt werden, wie die Lebensnotwendigkeit armer Sprengel eS erforderte. Neu war dabei, daß alle diese daS innere Leben der Kirche betreffenden Anordnungen als Staatsgesetz veröffentlicht wurden. Der Kirche ist hier nicht nur erlaubt, nach eigenem Recht zu leben (worum im 10. und 11. Jahrhundert die größten Kämpfe auSgefochten sind), sondern eS wird ihr sogar zur Pflicht gemacht. Die theokratische Entwicklung deS christlichen Imperiums Karl d. Gr. ist hier vorbereitet. Beklagt man, daß Bonifatius fein Werk in gesetzlicher Enge und in römischemSinne getan hat und daß er so die Autorität deS Papstes außerordent­ lich verstärkte, so muß man bei unbefangener Prüfung der Verhältnisse jener Zeit doch zugestehen, daß Rom damals vor der fränkischen Kirche vieles voraus hatte. In Rom war die altkirchliche Überlieferung nicht unterbrochen,

dort besaß man noch eine (wenn auch unklare) Einsicht in die Eigengesetz­ lichkeit der Kirche unb ihren nicht an die Grenzen eines Landes gebundenen Charakter: daß Gott sich aus allerlei Zungen ein Volk im Glauben versammle. Freilich hatte die römische Kirche sich eben doch einem bestimmten Volk, dem römischen, auSgeliefert, hatte seinen sehr weltlichen Reichsgedanken über­ nommen und sich ein Gebäude menschlicher Stützen errichtet mit dem Papst­ tum als Spitze. Mer aus dieser römischen Verweltlichung die Kirche zu re­ formieren, war damals niemandem gegeben. Versteigt man sich also nicht dazu, Bonifatius den Vorwurf zu machen, daß er kein Luther war, so muß man anerkennen, daß er als Sendbote der damals lebendigsten und wirkungs­ kräftigsten Kirche zu unS kam, der angelsächsischen. Seine Ehrfurcht vor dem Papst hat ihn auch nicht gehindert, ihm gelegentlich sehr nachdrückliche Vor­ haltungen über die römischen Zustände zu machen, etwa über daS abergläu­ bische Sylvestertreiben oder die Käuflichkeit kirchlicher Ämter. Oder er hat in einer Frage der Ehegesetzgebung gegen den päpstlichen Bescheid in seiner Heimatkirche die bessere kirchliche Überlieferung zu erkunden gesucht. Grund­ sätzliche Kritik am römischen Kirchentum ist freilich nur vom Evangelium auS möglich; sie hat vor Luther niemand zu leisten vermocht! Die von ihm begonnene Reform völlig durchzuführen, ist Bonifatius nicht

H 25 f.

Reform der fränkischen Kirche — Friesen- und Sachsenmission

107

gelungen. Am ehesten konnte er noch in Mainz, wo ihm endlich ein fester Bischofssitz zuteil wurde, und in Fulda, wo er einen klösterlichen Mittel­ punkt religiösen Lebens schuf, seine Ideale verwirklichen und eine sichere Tradition für sie bilden. Der AuSgang seines Lebens nahm den Jugendplan wieder auf. Um der Mission den Weg zu den stammverwandten Sachsen zu bereiten, ist er nach Friesland gegangen und wurde hier bei Dockum mit seiner Schar von heidnischen Friesen erschlagen. „Seid tapferen Geistes und fürchtet euch nicht", hat er zuletzt noch seinen Gefährten zugerufen, selber tapfer ein Leben des Gehorsams, der Gewissenhaftigkeit und, bei aller klösterlichen Enge, großen Sinnes beendend. In Fulda fand er sein Grab. Sein Werk ist die Vermäh­ lung deS hohen christlichen Geisteslebens seiner Heimat mit der derben krie­ gerischen Kraft deS karolingischen Frankens; aus dieser Ehe entsproß die deutsche Kultur.

§26. Die Friesen und Sachsen. 1. Nach dem Tode deS Bonifatius blieb die Friesenmission vorerst in den Händen der Angelsachsen, wenn auch unter Leitung seines fränkischen Schülers Gregor, und unter Förderung des fränkischen Königs. Der Friese Liudger wurde in York von Alcuin herangebildet, und Willehad, der Freund dieses großen englischen Gelehrten, war dort zu Hause. Beide aber sind, als die so lange verschlossene Tür zu den Sachsen aufgebrochen war, von König Karl dorthin geholt worden. Die Friesenmission verband sich mit der unter den Sachsen und teilte mit ihr die Bedingungen der Arbeit und ihren Erfolg. Auch bei den Sachsen machten angelsächsische Missionare den Anfang, stießen dabei freilich auf leidenschaftlichen Widerstand. Die ersten Prediger fanden den Märtyrertod. Und als es Bischof Suidbert bei dem westfälischen Stamm der Brukterer besser gelang, da wurden diese von den Engern, ihren Nachbarn, überfallen, und die Christen verjagt ober getötet. Da die heidnischen Germanen glaubten, ihr Glück und Leben sei von der Macht der Götter und deren rechter Verehrung abhängig, so mußte ihnen die Antastung der ererbten Religion als unmittelbare Lebensbedrohung erscheinen.

Das Ineinander von Politik und Religion ist denn auch bei den sächsisch-fränkischen Kämpfen erkennbar, die seit Karl Martell immer von neuem die Grenzlande hüben und drüben verheerten. Der Hessengau an der Unstrut wurde einst, als die Sachsen ihn gewannen, ihrem ReligionSverband eingefügt; als er dann unter fränkische Hoheit gerät, wechseln seine Bewohner anstandslos auch den Glauben. Andererseits nimmt ein bedrohter sächsischer Grenzbezirk die Verehrung deS Christengottes auf, um mit seiner mächtigeren Hilfe sich der Franken erwehren zu können

108

Die katholischen Germanenkirchen

— eS sind die gleichen Beweggründe, die überall bei der GermanenbekehrunK sich finden. Nicht anders ist es zu beurteilen, wenn — wie Bonifatius berichtet — bei sächsischen Beutezügen im Frankenlanb zahlreiche Kirchen niedergebrannt werden. Hier ist schwerlich allein Zerstörungslust am Werke, sondern ebensosehr die Hoffnung, mit der Beseitigung der Kultstätten die Siegeskraft der Gegner zu vernichten! Amtliche Förderung erhielt die Mission zuerst nach einem Feldzug PippinS; im Friedensschluß gestanden die Sachsen die Freigabe der christlichen Predigt zu (753). 2. Die Sachsenkriege Karls des Großen sollten zunächst Grenz­ überfälle rächen und galten bann der Gewinnung des letzten noch abseits stehenden deutschen Stammes für bas große Reich. Es verstand sich für beide Teile von selbst, baß Sieg ober Niederlage auch religiöse Bedeutung haben würben. Daher wurde die Jrminsul gleich bei dem ersten Feldzug zerstört (772). Deshalb besiegelten, obwohl die Taufe zunächst gar nicht gefordert war, in den Jahren 776 und 777 zahlreiche Sachsen ihre Unterwerfung frei­ willig mit der Taufe: eS schien ihnen die selbstverständliche Folge deS Ge­ schehenen. Die in dem Sieg der fränkischen Waffen erwiesene überlegene Macht deS Christengottes nötigte sie zu seiner Verehrung. Jetzt, auf dem Reichstag von Paderborn (777), wurde die Mission orga­ nisiert. DaS Land, in Missionösprengel eingeteilt, warb den fränkischen und hessischen Nachbarkirchen und -klöstern zur Betreuung zugewiesen, die Lei­ tung dem greisen Fuldaer Abt, dem BonifatiuS-Schüler Sturmi, übergeben. Noch die Missionsanweisungen des Heliand zeigen, daß die Volksorbnungen der Weg auch für die GlaubenSprebigt waren: „Stets sucht euch den besten Mann aus der Menge und kündet ihm euer Gemüt an mit wahren Worten". Am liebsten einen, der „jung ist und klug, mit klarem Sinn, der die Worte versteht, sie im Herzen bedenkt; der in der Brust aufnimmt bas Gebot Gottes, es lernt und leistet". „Ist sein Glaube gut, bann überlegt auch er, wie er einen anderen belehre, daß er in feinem Gemüt trage lautere Treue zum Himmels­ könig." Ist auch die Höhe der christlichen EntscheibungSforderung, die jeden Einzelnen trifft, darin noch nicht voll verstanden, so ist eS doch ein schönes Zeichen für den Emst und baS Verantwortungsbewußtsein der Führer und die Tiefe des Vertraums, bas sie bei ihrer Gefolgschaft befaßen: man liest die VolkSsührer auch die religiöse Entscheidung treffen. Liegt hier eine Schranke der germanischen Religionsauffafsung, so zeigt sich doch ebenso deutlich, daß keine Rebe davon sein kann, als wären zuerst die Entwurzelten, die Abseitigm und Ausgestoßmen der neuen Religion anheimgefallen! Hatte es aber schon im ersten Jahrzehnt nicht an Rückschlägen für die Eroberer gefehlt, so wurde besonders empfindlich berAufstand deS JahreS 782, bei dem ein zum Slawmkrieg auSziehendeS Frankenheer (am Süntel) von sächsischem Aufgebot vemichtet wurde. Und zum Zeichen, baß Politisches

526

Sachsenkrieg und Sachsenbekehrung

109

und Religiöses immer als verbunden galten, richtete sich die Schärfe des Schwertes zugleich gegen die Missionare und die Neubekehrten, von denen viele zu Märtyrern wurden. Furchtbarer aber war noch das Zorngericht des rasch herbeistürmenden Königs. Die als Schuldige von ihren Landsleuten Ausgelieferten ließ er gegen den Rat seiner geistlichen Begleiter hinrichten.

Die Zahl 4500 wirb, wie meist alte Angaben, übertrieben sein; gering war die Zahl sicher nicht — wie die Wirkung auf bas Volk verrät. Der älteste Bericht in den Reichsannalen lautet: „Karl kam zu dem Platz, wo die Aller in die Weser fließt, und da versammelten sich alle Sachsen und umerstelltcn sich aufs neue der Gewalt des Königs und lieferten alle jene Schuldigen aus, die den Aufstand besonders begangen hatten, zur Hinrichtung, 4500, wie bann auch geschehen ist, mit Ausnahme Widukinds, der durch die Flucht nach Normannia ( = Dänemark) entkam." Einhard führt das gleiche aus, baß „alle, die Widukinds Überredung Gehör gegeben und die Tat begangen hatten, 4500 an der Zahl, auSgeliefcrt und am Allerfluß bei Verden auf Befehl beö Königs an einem Tage enthauptet" seien. Gewiß gehört die Vergeltung von Verden nicht in die BekehrungSgeschichte, da es sich um ein Strafurteil für den Aufstand handelt, nicht um ein Martyrium heidnischer Glaubenszeugen; aber die Wirkung des Gescheh­ nisses konnte nur heiße Empörung sein, die auch die Kirche mit traf. Auch ein Teil der Friesen warf mit der fränkischen Herrschaft die fränkische Religion ab, und auch hier brannten die Kirchen und bluteten die Opfer. ES dauerte drei Jahre, bis der Widerstand gebrochen war, und nun die Prediger in geduldiger Arbeit daran gehen konnten, das verwüstete Feld neu zu bestellen. Weihnachten 785 hat der landflüchtige Führer deS Freiheitskampfes, Widukind, durch die Taufe mit Reich und Kirche ehrlichen Frieden gemacht; beiden hat feine Familie Generationen hindurch eine besondere Treue erwiesen.

3. Der größte Teil SachsenS war damit endgültig dem Reiche gewonnen, und der König konnte an baS Herstellen fester staatlicher Ordnung gehen. Jetzt findet die theokratische Art deS germanisch-christlichen Imperiums einen harten Ausdruck. In dem vielberufenen Sachsengesetz wird die Kirche als Staatsanstalt durchgeführt. Mit den Menschenopfern und dem Hexenverbrennen wird jede heidnische Kultübung bei Todesstrafe verboten, die Taufe angeorbnet, die kirchlichen Einrichtungen und Personen unter Schutz gestellt, eine Kirchensteuer erhoben. Die Religion erscheint einfach als ein Stück Staatsleben, als laste sich staatlicher und kirchlicher Gehorsam mit den gleichen Mitteln erzwingen. Voraussetzung für dieses StaatSkirchentum aber ist nicht nur der römische Kirchengedanke, der auch die erzwungene Zugehörigkeit zur Kirche schon als heilsam für den Menschen ansieht, da man ihn draußen sicherem Untergang preisgäbe; Voraussetzung ist auch nicht nur der römische, sondern ebenso der germanische Staatsgedanke: beide gehen von der Glaubenseinheit des Volkes aus und lasten den Staat religiös begründet sein. So haben sich denn im Mittelalter Römisches und

110

Die katholischen Germanenkirchen

Germanisches vereinigt, um der Kirche staatliche, dem Staate aber religiöse Rechte zu geben: erst Luther hat wieder die Unterschiebenhest der beiden Reiche klar erkannt. — Doch fehlte eS auch damals nicht ganz an der Einsicht, baß Zwang in Glaubenssachen unchriftlich ist, und eS ist ein Verdienst der deutschen und angelsächsischen Bischöfe, sich der Gewaltanwendung in Re­ ligionsfragen widersetzt und eine Milderung beS Sachsengesetzes verlangt zu haben. Mit der Aufhebung seiner Strafbestimmungen (von deren An­ wendung wir übrigens auch für das Jahrzehnt ihres Bestehens nichts wissen) hat König Karl der Auffassung Raum gegeben, die der seinen überlegen war. Von nun an hat er in steigendem Maße sich bemüht, die äußerlich Gewonne­ nen auch zu einem inneren Verständnis der christlichen Religion zu führen. Daß eS gelang, daran haben die Missionare stärkeren Anteil als die Zän­ kischen Krieger.

Doch auch daS war für den Ernst ihres ReligionSverständnisieS bedeutsam, baß die Sachsen nicht wie einst die Franken unter Chlodwig daS Christentum annahmen als irdische Siegsverheißung, sondern nach hartem Kampf durch ein Verlieren aller bisherigen LebenSgüter hindurch. Erwies sich ihnen, baß der leidenschaftlichste Wille nichts gegen daS Schicksal vermag, so begannen sie sich innerlich mit dem Schicksalsglauben auSeinanberzusetzen. DaS beste Zeugnis deS frühen sächsischen Christentums, der Heliand (§28), zeigt, wie die Kirche den Sachsen wieder Mut und Glauben brachte im Dunkel beS SchicksalSverhängnisteS. War durch den Gewissenszwang die Echtheit beS Glaubens gefährdet, so wurde sie doch gestützt einmal durch die politische Bezogenheit schon der heidnischen Religion (den Germanen erschien, waS uns empören würbe, nur natürlich: baß die Volksführer über die Religion entscheiden!), und bann durch die selbstlose Treue der Missionare. Ihrer Arbeit ist eS zu banken, daß daS Ergebnis nicht ein trotziges oder dumpfes Sich-Absperren war, sondern lebendige Anteilnahme und Treue gegen die Kirche; kein wirklicher Verlust, sondern ein innerer Gewinn. Anders als später die Wen­ den, haben die Sachsen, als sich ihnen beim Verfall der fränkischen Macht die Gelegenheit bot, sich nicht von ihren Bezwingern freigemacht, sondern mit der Kirchen- auch die Reichstreue bewahrt und bald die Führung an­ getreten. Die Sachsenkaiser haben die Kirche zur Grundlage ihres Reichs gemacht.

Die Art aber, wie die Sachsen von Staats wegen gewonnen und künftig kirchlich regiert, ihre Bistümer nach politisch-militärischen Gesichtspunkten eingerichtet wurden, die Leitung der Kirche in der Hand beS Königs blieb, daS alles verrät schon deutlich die Weise beS neuen Reichs, daS selbst einen religiösen Charakter für sich in Anspruch nahm — deS christlichen Imperiums Karls d. Gr.

$27

Pippin, Karl der Große und die Päpste

§ 27.

111

DaS christliche Imperium Karls deS Großen.

1. DaS Reich Karls deS Großen ist die Fortsetzung deS MerowingerreicheS und zugleich etwas Neues. Karl Martell hatte den Staat auS dem Verfall wieder erhoben und Pippin ihn zu festigen unternommen. Sein Sohn Karl bringt die neue Macht zum Sieg über die Nachbarstaaten und tritt an die Spitze deS Abendlandes. In diesem Riesenreich ist nun die Stellung der Kirche darin gleich geblieben, daß wie unter den Merowingern auch jetzt der König ihr den Platz im Staate anweist; neu aber ist, daß er sie nicht nur äußerlich beherrscht, sondern sie auch geistig leitet. Die Kirche dieses Imperiums ist sehr viel größer als die, an deren Aus­ breitung und Reform einst Bonifatius gearbeitet hatte. Sie ist gewachsen um christliche Landeskirchen (der Bayern, Alamannen, Hessen und Thü­ ringer) und um die eroberten und der Mission eröffneten Länder (Sachsen, Awaren, Slawen). Dabei sind die Forsschritte unter den Awaren und Slawen langsamer gemacht als unter den Sachsen. Hatte in Sachsen die staatliche Mission zu Massentaufen geführt, denen ein inneres Verständnis der neuen Religion erst allmählich folgen mußte, so drangen im Südosten die Bischöfe darauf, daß nur nach voraufgehendem Unterricht in seelsorgerlicher Behand­ lung die Einzelnen aufgenommen wurden. Hier hat der bedeutende Arn von Salzburg, einer der Hauptmitarbeiter Karls, gewirkt. Als der geistige Führer der bayerischen Kirche hat er die fränkischen kirchlichen Einrichtungen und Anschauungen nach Bayern übertragen. Diese breiteten sich auch in der den Sarazenen abgewonnenen spanischen Mark mit ihrer Goten-Kirche auS, ebenso wie unter den Germanen und Römern deS rasch erworbenen LangobarbenreicheS. Zu der Kirche dieses Weltreiches gehörte nun auch Rom: Die Schutz Herrschaft über Rom hatte Karl schon von seinem Vater geerbt. Einst hatte auf Bitten PippinS Papst Zacharias die religiöse Weihe, die nach germanischer Anschauung dem KönigSgeschlecht eignet, kraft aposto­ lischer Vollmacht auf baS karolingische HauS übertragen: Gott habe dies HauS durch den Stellvertreter Petri zu bestätigen und zu weihen angeordnet. DaS so angeknüpfte Band war noch enger geworden, als unter dem Druck der Langobarden der Papst sich in den Schutz des fränkischen Königs begeben hatte. Die Schenkung des früher byzantinischen Besitzes an den Papst ist die Grundlage deS Kirchenstaats geworden. Durch die wohl damals erdichtete „Konstantinische Schenkung" wollten die Päpste sich der DankeSpflicht ent­ ledigen. Karl hat die Schenkung auf seinem ersten Romzug erneuert; die Andacht, mit der er die Stufen der Peterskirche küßte, bewies seine Ehrfurcht vor den heiligen Stätten des „Goldenen Rom"; die Verehrung, mit der er dem Papst begegnete, zeigte, daß er in ihm den Träger der rechten Überlieferung und den Hohenpriester der abendländischen Kirche erblickte. Doch zugleich wurde Rom zur fränkischen Stabt und der Papst zum Glied der Reichskirche.

112

Die katholischen Germanenkirchen

Wie der König von den päpstlichen Untertanen den Treueid verlangte und in Rom Gericht hielt, so überwachte er die Amtsführung beS römischen Klerus und bekundete überall, daß ihm und nicht dem Papste die Kirche zur Regierung übergeben sei. Er fand auch bei den beiden schwachen Päpsten, die er erlebte, keinen Widerstand. Auch die Kaiserkrönung Weihnachten 800 sollte, obwohl sie mindestens in der Form päpstlichem, nicht königlichem Entschluß entstammte, nicht etwa den Anspruch erheben, als habe der Papst Vollmacht, die Kaiserwürbe nach seinem Gefallen zu übertragen. Für die Stellung beS Königs in der Kirche brachte sie keine Änderung. Nach wie vor handelte Karl wie ein „Bischof der Bischöfe", nicht nur als „Schützer", sondern auch als „Leiter" der Kirche. 2. DaS Wichtigste war, daß er, wie die Frankenkönige vor ihm, das Recht wahrnahm, die Bischöfe zu ernennen. Nicht die Wahl der Gemeinde, sondern die Ernennung beS Königs bestellte ihren Hirten. Er überwachte auch die Amtsführung, ermahnte die Säumigen und zog die Schuldigen vor sein Gericht. Er übte diese Rechte, um tüchtige Männer in die leitenden Stellungen zu befördern. Da dies so augenscheinlich zum Nutzen der Kirche geschah, hat eS unter seinem Regiment keine Kämpfe um freie Wahl und eigene Ge­ richtsbarkeit der Kirche gegeben. Der Gedanke der Reformfreunde, die Bischöfe zu verantwortlichen Füh­ rern ihrer Sprengel (Diözese) zu machen, fand beim Könige Widerhall. Die Bischöfe hatten die Pfarrer anzustellen (abgesehen von den „Eigenkirchen") und sie wie die Klöster zu beaufsichtigen. Zwar die Bischofssynoden waren nur Organe des königlichen Kirchenregiments, wie die Reichsversammlungen, mit denen sie verbunden wurden, Organe seiner StaatSregierung waren. Aber die Diözesansynoden, auf denen der Bischof seinen Klerus versammelte, bienten neben den Visitationen der Rechenschaftsablage der Geistlichen und der gegen­ festigen Förderung. Jetzt zuerst wurde von den Pfarrern ein gewisses Maß theologischer Kenntnis gefordert. Sie sollten die gottesdienstlichen Handlungen, die sie verrichteten, auch innerlich erfassen; sie sollten selber verstehen, waS sie andere lehren wollten. So wurden sie nach ihrem Verständnis des Bekennt­ nisses, des Vaterunsers, der Hl. Schrift befragt; nicht minder auch danach, ob sie auch das Gelesene in gutem Deutsch westerzugeben vermöchten. Denn darauf geht daS Hauptaugenmerk des Königs, und dafür macht er die Bischöfe verantwortlich, baß in allen Kirchen allsonntäglich gepredigt werbe— ein Verlangen, bas neu ist und bas leider in der mittelalterlichen Kstche keineswegs immer erfüllt wurde! Die karolingische Kstche ist sich bewußt, daß sie etwas zu sagen hat; mag es auch oft vorwiegend sittliche Mahnung gewesen sein (mehr Gesetz als Evangelium), was sie verkündigte. Auch dann aber, so erwartet der König, soll es Schriftauslegung und kstchliche Lehre sein, dem der Prediger seine Stimme leiht, nicht willkürliche Meinung

§27

Karls Kirchenregiment

113

und eigene Erfindung. Dienen zur Predigtanleitung die Homiliare, Samm­ lungen von Musterpredigten, so für die Beichte, die immer allgemeiner in Übung kommt, die Bußbücher, nach denen der Priester das rechte Bußmaß

für die vor ihm bekannten Sünden bestimmen soll. DaS nach römischem Muster, wenn auch in Selbständigkeit, revidierte Meßbuch sorgt für einheit­ lichere Gestaltung des Gottesdienstes in der ganzen fränkischen Kirche; er soll sich in reicheren Formen und feierlicher Würde vollziehen, und baS Vorbild des Aachener Münsters macht sich hier weithin geltend. Der Erziehung eines tüchtigen Klerikernachwuchses gelten die Schulen, die der König an Klöstern und Domstiftern ins Leben ruft; denn auch bas Mönchtum wird nicht etwa, seinem ursprünglichen Sinn entsprechend, aus der übrigen Welt ganz herausgelöst, sondern der kirchlichen Volksausgabe, auch der kulturellen, dienstbar gemacht. Nachdem die missionarische Aufgabe der Germanenklöster beendet und ihre Seelsorgearbeit von der Pfarrgeist­ lichkeit übernommen war, wird ihnen jetzt mit dem Schulwesen eine neue Bestimmung gegeben — gegen die freilich der alte weltflüchtige Geist des Mönchtums sich später wieder aufgelehnt hat. Für alle Schulen im Lande dient als Vorbild die Hofschule, die dem Kaiser ihre Blüte verdankt. Von überall her sammelt er die fähigsten Gelehrten um sich, in unermüdlicher Lernlust selber am Unterricht teilnehmend. Aber wie schon die Hofschule keineswegs nur für die künftigen Geistlichen be­ stimmt ist, so sollen auch die anderen Schulen, trotz ihres kirchlichen Gepräges, jedermann offenstehen. Auch die Laien, die sämtlich die Grundkenntnisie des Glaubens, Apostolikum und Vaterunser, lernen müssen, sollen Zugang haben zu der Bildung der Zeit. Es ist gewiß eine lateinische, meist kirchliche Bildung, die so verbreitet wird. Die karolingische Kultur ist nicht eigengewachsen, sondern sucht das Werwolle der antiken Bildung lebendig zu erhalten. Man darf doch die Leistung dieser von frischem Streben erfüllten Zeit nicht geringschätzen: sie hat für alle späteren Geschlechter den Zusammenhang mit der klassischen Kultur aufrechterhalten. Und dem fränkischen Selbstbewußssein des Königs wie seiner germanischen Untertanen hat das keinen Eintrag getan. Er ist zeitlebens in Tracht, Sprache und Denken der schlichte Franke geblieben, der die germanischen Lieder aufzeichnen läßt, sich um germanische Wind- und Monatsnamen bemüht und das Fränkische zur Schriftsprache zu erheben versucht. Aber indem man bei bell Römern und Griechen mit ehrfürchtigem Eifer in die Schule geht, traut man sich doch noch nicht die Kraft zu eigener geistiger Schöpfung zu. Es kommt darum auch in der Kirche, so fleißig man von den Vätern lernt, nicht zu selbständiger Verarbeitung des Aufgenommenen. Lehrkämpfe, das Anzeichen regen geistigen Lebens, hat es deshalb innerhalb der Reichskirche jenes Zeitalters nicht gegeben. Das schließt aber nicht aus, 8

Schuster, Kirchengeschichte

114

Die katholischen Germanrickirchrn

daß bas selbstbewußte fränkische Reich und seine aufstrebende Kirche Stellung nehmen zu dem, was in der christlichen Kirche jenseits der Grenzen geschah, in Spanien, in Jerusalem, in Konstantinopel. Wie der König sich tatkräftig der bedrängten Glaubensgenossen unter der Mohammedanerherrschaft annimmt, so behandelt man auch in Lehrsragen die Antworten und Ent­ scheidungen der anderen als eigene Sache. Indem man die Autorität der Väter befragt, sucht man sichere und einheitlichere Erkenntnis überall zu verbreiten, damit die Kirche in aller Welt wie mit einem Munde rede. Dabei macht man bas Recht, bei wichtigen Fragen mitzuwirken, mit Entschieden­ heit geltend. Als die griechische Kirche auf einer angeblich ökumenischen (allgemeinen) Synode die religiöse Verehrung (nicht Anbetung) der Heiligen­ bilder gefordert hatte, beruft der König ein anderes „ökumenisches Konzil" nach Frankfurt (794), um Einspruch zu erheben. Hier und in anderen Fällen hat er auch dogmatische Erklärungen abgegeben. Er hat also, bei aller Bin­ dung an die kirchliche Überlieferung, auch auf innerstem kirchlichen Gebiet daS Steuerruder der Kirche sich anvertraut geglaubt. Nicht umsonst beruft er sich auf König David. Nach alttestamentlichem Vorbild sind im christlichen Imperium Karls des Großen Kirche und Staat untrennbar verbunden und von Einer Hand geführt. Die Kirche hat, ohne grundsätzlich zuzustimmen, doch ohne Widerstand sich diese Verbindung gefallen lasten; sie spürte, baß der königliche Führer sie ihren Aufgaben nicht entfremden wollte, vielmehr in Fortsetzung des Reformwerkeö des Bonifatius sie erst recht für ihre eigent­ liche Bestimmung geschickt machte. 3. Nicht erst Karl hat die Brücke vom klassischen Altertum zum Mittelalter geschlagen. Goten und Langobarden, Angelsachsen und Franken haben ihm viele Menschenalter hindurch vorgearbeitet. Sein Werk ist eS doch gewesen, daß die Völker, die er unter seiner überlegenen Herrschaft vereinigte, ein gemeinsames Ziel behielten. Seine hochragende Gestalt hat mit der Kraft eines Ideals auf die Zukunft gewirkt und hat geholfen, daß die kirchliche Kultur deS Mittelalters, in der sich römischer RechtSgeist, griechische Weisheit und wcltüberwinbende Macht christlicher Lehre vereinigten, zugleich eine germanische blieb. Freüich hat daS römische wie daS germanische Erbe, daS er in sich trug, den großen Kaiser verleitet, die beiden getrennten Reiche, Staat und Kirche, die nie ineinander aufgehen dürfen, zusammenzuzwingen und so der weltlichen Obrigkeit Befehlsgewalt zu übereignen in einem Bereich, der seinem Wesen nach ihrem Zugriff entzogen ist. DaS Reich der Freiheit, daS die Kirche bauen soll, wird ihr durch Staatsgesetz umschrieben; nicht nur daS Ziel, sondern auch die Wege, auf denen sie sich ihm nähern soll, werben der Kirche vom Staat vorgeschrieben. So entsteht im Innern deS staatSkirchlichen Systems, daS Karl der Große schuf, eine ungelöste Spannung. Zu seinen Lebzeiten ist sie freilich nicht bemerkbar geworden; für daS Be-

§ 27f.

Karolingische Kultur — Der Heliand

115

wußtsein der Kirche überwog daS Gefühl der Förderung, die sie erfuhr, und verdeckte ihr die Unterstellung unter ein der Kirche fremdes Gesetz. Die Größe von Karls Persönlichkeit hat auch jahrhundertelang verhindert, daß die Nachwelt, die bewundernd zu seinem Bilde aufsah, dessen inne wurde, baß er sich, in gefährlicher Überspannung seiner Aufgabe, Unmögliches zum Ziel gesetzt hatte. DaS Heilige römische Reich deutscher Nation, dessen selbst als heilig verehrtes Urbild er und sein Imperium wurde, ist grundsätzlich erst durch Luther überwunden. 4. DaS Reich Karls deS Großen hat nicht lange Bestand gehabt. Die Gegensätze der Völker und Sprachen im Innern, der Ansturm der Norman­ nen, Ungarn, Sarazenen von außen haben das nicht genügend starke Gefüge zerbrochen. Eine zeitlang erwies sich die Kirche noch als Stütze der Reichs­ einheit, bis auch sie in die Gewalt der Teilmächte geriet. Das Bewußtsein der Einheit ist ihr doch auch dann nicht verloren gegangen, nur daß eS jetzt als kirchliches Sonderbewußtsein erscheint und zur Ausbildung eines eigenen KirchemechtS führt (f. S. 137). Hier gilt bann als ihr rechter Leiter nicht mehr der Kaiser (der vom Papst verliehene Titel wird im 9. Jahrhundert schließlich zum bedeutungslosen Schmuck italischer Machthaber), sondern der Papst. Wenigstens als Ideal hat Nikolaus I. (858—867) diesen Gedanken der Nachwelt übererbt — auch über das Jahrhundert hinaus, in dem die Träger der Tiara in persönlicher Schwäche und Unwürdigkeit solch hohen Anspruch nirgends mehr zu verwirklichen vermochten. Doch hat in der Zeit des staatlichen Verfalls daS geistige Leben sich noch eine Weile behauptet. Der Ire Johannes Erigena, durch griechische Bildung geschult, entwickelt ein umfassendes Lehrsystem. In selbständigem Ver­ arbeiten augustinischer Gedanken, hat RathranmuS im Abendmahlsstreit sich den massiven Vorstellungen deS Volkes entgegengesetzt, hat der Sachse Gottschalk die Gewalt deS Prädestinationsglaubens in Lehre und Leben vertreten.

§ 28. Der Heliand. Die schönste Frucht aus der unter Karl b. Gr. gestreuten Saat ist der „Heliand". Über ihm ruht die Morgenfrische deS deutschen Geistes; doch ist

eS nicht die dichterische Verklärung der eigenen Art, was so vom Beginn der deutschen Geschichte her zu uns redet. Schlicht und groß zugleich steht am Anfang wie auf der Höhe unserer Geschichte daS Evangelium auf Deutsch. Als em Prediger, der die ihm übertragene Botschaft mit aller Treue, ohne sich selbst in sie einzudrängen, seinen Landsleuten zubringt, wirbt er sie für den Dienst deS Herrn, dessen Leben, Lehre und Werk er ihnen vor Augen stellt und inS Herz senken möchte. DeS Dichters Name ist unS unbekannt. Mit den Boten, die weite Wege wanderten über die Welt, tritt auch der sächsische Sänger als ein Diener der christlichen Kirche vor seine StammeS8*

116

Die katholischen Germanenkirchen

genossen. Und wie er ihre Sprache redet, mit ihren Gedanken denkt, so erscheint auch der, von dem er kündet, wie einer der Ihren. Doch in den Worten, die so vertraut klingen, spricht groß und ungekannt NeueÄ sie an. Das Bibelwort, dem der Dichter nur Dolmessch sein will, bleibt rein und unentstellt; wenn eS auch herzlich eingeht auf die Angeredeten gerade in ihrer Lage, so gibt eS sich doch ihnen nicht preis. Wird z. B. das christliche LiebeSgebot mit der germanischen Sippenver­ bindung verdeutlicht), so doch nicht in sie umgedeutet: alle Menschen sind Brüder, sippenverbunden. Die Sippenpflicht selbst bleibt: es ist, als wenn man sich die rechte Hand abhaut, wenn man sich von seiner Sippe trennen muß. Doch das höchste ist sie nicht; an der Hoheit des sittlichen Gesetzes findet sie ihre Grenze, eine Sippenverpftichtung zur Mordteilnahme gibt eS nicht). (Vgl. dagegen die Sippengebundenheit Giselhers im Nibelungen­ lied!) Das christliche Verbot der germanischen Blutrache, der ganze Ge­ schlechter zum Opfer gefallen waren, hat erst die Bildung der deutschen Volksgemeinschaft möglich gemacht (vgl. S. 72 u. 87). Die christliche Forderung der Nachfolge wird germanischen Hörern ver­ ständlich gemacht durch den GefolgschaftSgedanker?). Und doch ist die Nach­ folge in ihrem Gehalt wie in ihrer strengen Ausschließlichkeit etwas Neues: der religiöse Anspruch geht jedem anderen vor. DaS gilt auch gegenüber den bisherigen religiösen Überzeugungen. Die alten Götter sind nicht tot; sie sind zu Dämonen geworden, von denen kein Heil zu erwarten ist: der Trennungs­ strich ist fest und klar*). Hatte man an ein Schicksal geglaubt, daS dunkel und unverstanden über allem Leben hange, so hören sie jetzt, daß dort oben ein majestätischer und doch väterlicher Wille walte, der Macht hat auch über daS Geschick^). Glaubte mancher in heroischer Gottlosigkeit nur an die eigene Kraft und Stärke, so verurteilt der Dichter daS als eitles Prahlen und dreiste Vermessenheit; der freche Hochmut, die ehrgeizige Überhebung erscheint als x) „Alle sind Brüder, Ein selig Volk Gottcö, durch Sippe verbunden. Die Männer durch Magschaft" (1439). ’) „Mahnet — daß man Dem Freunde nicht folge, der zu Freveltat lockt. Zur Schuld, der Blutöfreunb; und sei er verbunden Durch der Sippe Bande ihm noch so sehr. Durch Magschaft noch so mächtig, wenn er zu Mord ihn reizen. Zu Frevel verführen will: besser ist ihm dann. Weit von sich weg den Freund zu stoßen. Ihn nicht mehr zu minnen und im Herzen zu hegen" (1492). a) Am deutlichsten in der Thomaörede: „Wir sollen seine Tat nicht tadeln, Seinem Willen nicht wehren, sondern bei ihm weilen. Dulden mit dem Dienstherrn! Daö ist deö Degenö Ruhm, Daß er bei feinem Gebieter standhaft stehe. Und mit ihm sterbe. Tun wir alle so, Folgen wir seiner Fahrt, lassen wir unser Leben uns Wenig wert sein, wenn wir auch mit ihm Zu Grunde gehn! Dann lebt noch lange Nach unS unser Ruhm!" (3995). 4) „Die Menschen — dienten den Widersachern, Den Kindern deö Feindes, die mit Feuer ihnen vergalten 2n der heißen Hölle (3604). *) „(Die Mutter deö Jünglings von Nain) fiel Christ zu Füßen, und den König der Völker lobte sie vor den Leuten, der daö Leben ihres Lieben Schützte wider das Schicksal" (2207).

§28

Der Heliand

117

der Grundwiberspruch gegen das Gfjrtflentum1). So redet er denn auch ohne alle Beschönigung von menschlicher Sünde und Erlösungsbedürftigkei?). Wenn der Dichter zurücksieht auf die Schulbverfallenheit auch der germa­ nischen Menschen, die in Todestälern saßen, Leid im Herzen, so verkündet er dann mit Hellem Jubel die Freudenbotschaft von der Gnadenoffenbarung, die der Erde Licht und Heil gebracht hat^). Der Heliand gehört nicht zu den Schriftwerken, in denen die heimische Vorstellungswelt zum Maßstab ge­ macht ist und unter christlichem Namen einfach das Alte fortlebt, sondern er ist ein Zeugnis der Aneignung der christlichen Botschaft durch die Germanen. Und nur das mag man fragen, ob sie in ihrer ganzen Tiefe aufgenommen sei und nicht das Kreuz Christi von der Glorie des Himmelskönigs so sehr über­ glänzt ist, daß der Blick nicht darauf verweilt. Der erste Sachse, der in freudigem Gehorsam Antwort gab auf die christ­ liche Botschaft, hat das Evangelium nicht germanisiert, sondern verdeutscht: den mit dem Evangelium verliehenen Schatz will er gewinnen; deshalb gilt es nicht Eigenes einzutragen, sondern das Evangelium in eigener Sprache zu verstehen und mit Geist und Herz zu durchdringen, — vielmehr sich von ihm durchdringen zu lassen! *) (Verleugnung des Petrus) „Der heilige Herr Wies ihm klar, wie wenig Kraft Des Menschen Gemüt hat ohne Gottes Macht" (5032). „Darum ist eitel alles Prahlen, Alle Hoffart des Menschen; wenn ihm die Hilfe des Mächttgen Um seine Sünde schwindet, dann wird sein Denken blöde, wie prahlerisch er früher auch pochte. Seiner Stärke sich rühmend und raschen Kraft Und feiner Macht" (5041). 2) „Wenn Ihr betet... Und Hilfe erbittet von euerm Herrn, Daß er euch erlöse von leidigen Taten, von Schuld und Sünde, die ihr euch selber Feindlich wirktet. ... Daß der Siegver­ leiher euch von Sünde erlöse" (1567. 1577). 3) „Darum waren im Herzen blind Auf diesem Mittelraum die Menschenkinder, Weil sie nicht erkannten den kraftreichen Gott, Den himmlischen Herrn, deffen Hand sie schuf, Sie bildete nach seinem Willen. Da ward die Welt so verirrt. In Dunkel gezwängt und dienstvolle Drangsal, In des Todes Täler. Nun saßen sie an der Straße des Herrn, Jammer im Herzen, Gottes Hilfe heischend; Die konnt ihnen nicht werden, eh der waltende Gott In diesen Mittel­ raum, der mächtige Herr, Senden wollte seinen Sohn, Daß er das Licht erschlöffe den Leute­ kindern, Das ewige Leben öffnete, daß sie den Allwaltenden Erkennen könnten, den kraft­ reichen Gott" (3606). Ungleichheit der Menschen und ihres Hörens auf Gottes Ruf: Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: „Mancher beginnt dazu schon In der Kindheit sich zu rüsten und hat sich erkoren Willigen Mut, er meidet die Welt, Verläßt die Lust, sein Leib kann ihn nimmer Zu Unrecht verlocken, er lernt Weisheit, Gottes Gesetz, verläßt der bösen Geister, Der Widersacher Willen ... (Mancher versäumt die Jugend, bis) die Gnade Gottes den Jüngling mahnt Freudig in der Brust, er fängt an sich zu beffern In Worten und Werken. Mancher läßt von Meintat erst in der Mitte deö Lebens, Von schweren Sünden, wendet sich zu seligen Dingen, Beginnt durch Gotteskraft gute Werke, Bessett böse Reden, läßt die bittre Tat Sich im Herzen gereuen; dann kommt ihm Hilfe von Gott. Mancher wird fehr alt, ohne sein Unrecht zu bessern, Vermehtt das Übel, bis der Abend ihm naht, Wo alle Wonne vergeht; da beginnt er Weh zu fürchten, Seine Sünden machen ihm Sorge, er gedenkt, was er selbst 2n der Jugend verbrach. Nun kann er nicht mehr büßen Seine schlechten Taten, da schlägt er alle Tage Die Brust mit beiden Händen, beklagt sie mit heißen Tränen, Mit bitterem Schluchzen und bittet den heiligen Herrn, Den mächtigen, ihm mild zu sein. Der läßt ihn nicht zweifeln. So barm­ herzig ist der Herrscher des Alls, er will keinem Den Wunsch verweigern, der Waltende gibt auch ihm Das heilige Himmelreich; dann ist ihm geholfen" (3451).

118

Die katholischen Germanenkirchen

§ 29. Gottschalk, der erste sächsische Theologe. Leben und Werk Gottschalks weckt nicht nur die Teilnahme für den für seine Überzeugung standhaft Leidenden, sondern bedeutet ein Zeugnis für die Gewalt, mit der die christliche Lehre einen sich Sträubenden innerlich überwältigte und ihn in seinem Leben ihr Recht erschütternd und festigend erfahren ließ. Der sächsische Grafensohn (geb. 805) war in seiner Kindheit dem Kloster Fulda als Oblate (d. h. zum späteren Mönchstande bestimmt) übergeben worden. Herangewachsen, sehnte er sich hinaus in die adlige Freiheit eines Lebens in Wald und Flur und lehnte sich auf gegen die Knechtschaft des servitium Dei. Eine Synode stimmte zu: hier dürfe es nur Freiwilligkeit geben. Doch sein Abt Hraban appellierte an Kaiser und Reichskonzil: eS sei Unrecht, den vom Vater gelobten Dienst des höchsten Herrn — die größte Ehre deS Menschen — aufzusagen. Drang er damit durch oder wurde Gott­ schalk selbst unsicher? Genug, dieser blieb Mönch, nur jetzt in einem west­ fränkischen Kloster; im Studium der kirchlichen Autoritäten gewann der Suchende die Deutung seines eigenen Geschicks. Die Gewalt, die wie ein dunkles Schicksal über seine Wünsche und seine Überzeugungen hinweggegangen war, lernte er als den väterlichen Willen dessen verehren, in dessen Hand Leben und Heil deS Menschen von Ewigkeit her ruht. Mit solcher Inbrunst hat er diese Erkenntnis ausgenommen, baß er ihr Herold wurde und als ein Lehrer der göttlichen Vorherbestimmung mit einigen Schülern zur Wanderpredigt auSzog. Nach einer Rom-Wallfahrt durchwanderte er Oberitalien; von dort vertrieben, ging er in den slawischen Südosten; schließlich trat er in Deutschland auf einer Mainzer Kirchen­ versammlung dem alten Gegner Hraban entgegen, der inzwischen auch ein Gegner seiner Lehre und als Erzbischof von Mainz Führer der deutschen Kirche geworden war. Gottschalks Lehre ward von König und Bischöfen ver­ worfen, er selbst seinem westfränkischen Oberen, dem herrschgewaltigen Hinkmar von ReimS, übergeben und von diesem zu strenger Klosterhaft verurteilt. Dort hat er noch etwa zwei Jahrzehnte gelebt, ungebeugt aus seiner Lehre beharrend, an der sich Glaube und Unglaube, Heil oder Verwerfung entscheide. Diese Lehre wurde von ihm verstanden als ein Ernstmachcn mit der augustinischen Gnadenlehre. Sie gewann aber bei ihm, so wirb man sagen dürfen, ihre Ausprägung im Gegensatz nicht nur zum Leistungsgedanken seiner Zeit, sondern auch zum germanischen Schicksalsglauben: die Gewalt, der der Mensch mit seinem ganzen Dasein preisgegeben ist, bleibt nicht un­ verständlich und zerstörend, sondern wird vom christlichen Glauben begriffen als der unbeirrbare Wille Gottes, von dem bestimmt zu sein Heil und Leben ist.

$29

Gottschalk, Leben und Lehre

119

Vor Welt und Menschen bekennt sich Gottschalk zu der Gnade Gottes und ver­ urteilt in leidenschaftlicher Abwehr die seelengefährdende Lehre von der mensch­ lichen Freiheit:

„Herrscher, Herr Gott, Du mein Erbarm«, König, allmächtig und milde, — Deiner bedürfen alle Deine Erwählten wie die Zweige der Reben, Luft und Auge des Lichts. Ohne die Rebe wellen die Schossen, die Luft ist finster ohne Licht. Darum rufe ich Dich in Demut an, allvermögender, gnädiger, herrlicher, dreimaleiner Gott! Möchte doch endlich durch mich Deinen Erwählten die unbesiegliche Wahr­ heit offenbart werben und endlich die überwundene und mit Recht verfluchte Falschheit sich entfernen!" „Ich glaube also und bekenne. Du habest von Ewigkeit her gewußt, was kommen sollte, Gutes und Böses; vorherbestimmt aber habest Du nur das Gute." „Das Gute aber ist, wie Deine Gläubigen erkannten und Du ihnen offen­ barest, zweierlei Art: gnädige Wohltat und gerechtes Gericht." „Allen Erwählten ist vorherbestimmt das ewige Leben und sie zur ewigen Herrlichkeit." „So hast Du auch dem Teufel und seinen Engeln und allen verworfenen Menschen dauernde Pein mit Fug vorherbestimmt und ebenso sie zu ihr." „Denn Du kannst keinen Augen­ blick veränderlich sein; und wenn nur einer der Verworfenen in die Pein geschickt würde, ohne dazu vorherbestimmt zu sein, so wärest Du fortan in alle Ewigkeit als verändert erwiesen." „Aber Du bleibest, wie Du bist (Ps. 102,28), und bei Dir ist keine Veränderung, noch Wechsel des Lichts und der Finsternis" (Jak. 1,17). „Dies alles glaube und bekenne ich, wie Du es mir umsonst geschenkt hast. Und da ich es von Dir in Deinen Büchern gesagt finde (nämlich in den durch die Arbeit Deiner Diener, vielmehr durch Deine Gnade wahrhaftig verfaßten Büchern), so wage ich nicht, einer so klaren Wahrheit zu widersprechen ... Weber um Menschen zu ge­ fallen, noch unr irgend welche Beschwerden zu vermeiden, darf ich mich vom Wahren abbringen lassen." „Ich glaube tteulich den hier klar ausgesprochenen katholischen Glauben von Deiner Prädestination, da ich gnädig und gütig von Dir beseelt, dazu entflammt, gerüstet bin, barmherzig und wunderbar unterstützt, sicher, verttauend, beschirmt; standhaft halte ich ihn, wahrhaft und offen verteidige ich ihn; und wen immer ich als gegensätzlich lehrend erkenne, den fliehe ich wie die Pest."

„Möchte es Dir doch gefallen, allmächfiger und barmherziger Herr, daß ... mir verstattet werbe, vor der versammelten Menge des Dich fürchtenden Volks in Gegenwart auch des Fürsten dieses Reichs und der ehrwürdigen Schar der Bischöfe und Priester, der Mönche und Kanoniker, die Wahrheit des katholischen Glaubens über Deine Prädestination, wenn sie sie anders nicht annehmen wollen, vor aller Augen durch folgende Prüfung zu erhärten: es sollen vier mit Wasser, öl und Pech gefüllte Kessel hintereinander aufgestellt und mit stärkstem Feuer zum Sieden gebracht werden; ich aber sollte unter Anrufung Deines herrlichen Namens, -um Erweis meines, vielmehr des allgemeinen Glaubens, in die einzelnen hineinund durch sie hindurchgehen dürfen, bis ich (da Du voran, zur Seite und hernachgehst. Deine rechte Hand gibst und mich gnädig herausführst) unversehrt heraus­ zukommen vermöchte; auf daß endlich einmal in Deiner Kirche die Klarheit für diesen allgemeinen Glauben aufleuchte, die Falschheit vergehe, der Glaube ge­ festigt, der Unglaube vermieden werde!"

120

Die katholischen Germanenkirchen

„Bei der Ehre, die Dir und Deinem Namen in Ewigkeit gebührt wegen der Ge­ rechtigkeit, mit der Du mit Fug die Stolzen demütigst, erniedrigst und beugst, und wegen der Gnade, mit der Du umsonst die Demütigen erhöhst, aufrichtest und erhebst; — um beider willen bitte ich Dich, allmächtige und gnädige Trinität und Einheit, Du wollest allen Deinen Feinden (welche es seien, die aus Haß gegen Deinen Namen wissentlich ober unwissentlich mir geschadet haben, vielmehr schaben wollten, doch ohne Zweifel eher sich selbst geschadet haben) alle ihre Schulben von Grund auf vergeben und verzeihen, und alle ihre Verbrechen und Vergehen gänzlich erlassen und verschonen. Amen." „Du aber, frommer und verständnisvoller Leser, ich bitte Dich ehrerbietig wie einen Vater und ermahne Dich treulich wie einen Bruder, nimm diesen meinen Glauben und mein Bekenntnis an. Willst Du in Ewigkeit die Wahrheit sehen und mit den hl. Engeln und erwählten Menschen, den treuen Zeugen dieser Wahrheit, an ihr ohne Ende Dich freuen, so eile, die verderb­ lichste und tödlichste Art von Lüge, die verdammenswert begangen wirb, die in der Religionslehre (in doctrina religionis), mehr zu fürchten als den leiblichen Tob."

Seiner Zeit anstößig in der Schroffheit, mit der er allem menschlichen Selbstgefühl entgegentrat, widerlegte er schon durch seine eigene Kühnheit und Festigkeit die Vorwürfe, als schwäche feine Lehre den Willen. Hat er

die Höhe der augustinischen Prädestinationslehre nicht voll erreicht (geschweige die des paulinischen Verständnisses), so ist er doch vor den Reformatoren der einzige Theologe gewesen, der in dem Maße Sinn für diese Lehre gewann, daß er, gestützt auf die Autorität der maßgebenden Kirchenlehrer, mit ihr seinem Volke und seiner Kirche sich entgegenzusetzen wagte. Haben Schwer­ beweglichkeit und leidenschaftlicher Trotz als sächsisches Erbe Teil an diesem Widerstand gehabt, so ist es doch gerade nicht bas Heimische und Eigene gewesen, worauf er sich stellte, sondern der Gnadenwille dessen, der besser weiß und bestimmt, was des Menschen Heil ist, als dieser selbst es vermag. Aus der Enge der Kerkerzelle heraus hat der Gefangene in empfindungsstarken Liedern Christus als den Gefolgsherrn besungen, der die von ihm Aufgerufenen in Vergebung ihrer Schuld von der Fessel befreit, die allein den Menschen in tödlicher Knechtschaft zu halten vermag, von der Sünde. Furchtbarer König, vor dem man zittert, / dem als Beschützer / Ehrfurcht ge­ ziemet, / Herzog, dem strebend / folgen man soll, / Sieh doch die Tränen / Deines Gefolgsmanns / der Dich mit Zagen, / mit bittendem Wagen / rastlos verehret / liebend begehret. /

Reich Deine Rechte / hilfreich dem Knechte, / tilge in Huld / all meine Schuld, / rück' Du daö schlechte / Leben zurechte! O hab Erbarmen, Gott, / schenk Erbarmen meiner Not! / Mich zu Deinem Dienst zu schaffen, machtest Du mich, Herre, schmählich hab ich Dich verlassen, schweifte in die Leere. Weh, was ist mir worden!

§29f.

Gottschalks Lieber — Heinrich I.

121

O hab Erbarmen, Gott, / schenk Erbarmen meiner Not! Alles, was Du mir befehlest, ließ ich unbeachtet, meines MunbS Geständnis klagt eS, wie ich sündumnachtet. Weh, was ist mir worden!

O hab Erbarmen, Gott, / schenk Erbarmen meiner Not! Deshalb eil' zu Deinem Knechte der in Tränen ringet, der Dir beichtet alles Schlechte, auf Vergebung dringet. Weh, was ist mir worden!

O hab Erbarmen, Gott, / schenk Erbarmen meiner Not! Alles Hoffen, all mein Beten, o Erlöser, möchte, daß Du nahtest meinen Nöten und mir böt'st die Rechte. Weh, was ist mir worden! (Nach E. Wißmann.)

Ganz ohne Verständnis ist Gottschalk doch auch in seiner Zeit nicht ge­ blieben. Wie er sich einige begeisterte Schüler warb, so haben mehrere der besten Theologen, freilich nicht ohne Vorbehalte, sich seiner angenommen. Ja, kurze Zeit schien eS, als wolle sich Papst Nikolaus, der Gegner HinkmarS, zu seinem Anwalt machen. Doch jener starb, ehe eS zum AuSttag Run, und Synodalentfcheidungen, die für Gottschalk günstig lauteten, wurden durch andere, von Hinkmar formulierte, abgelöst, die sich gegen ihn wandten. Denkwürdig bleibt, daß in den Reihen der erstbekehrten Sachsen gerade die schroffsten christlichen Lehren Verkündiger gefunden haben.

§30. Die Begründung der deutschen Reichskirche durch die Ottonen. 1. Auch in Deutschland begannen sich die unter der fränkischen Leitung vereinigten Stämme langsam wieder unter eigenen Herzogen zu sondern. 3m Ringen der Königsmacht mit dem StammeSpartikulariSmuS erwies sich die Kirche als Stütze der deutschen Einheit. Auf der Synode von Hohen­ altheim (916) erklärten die Bischöfe gegenüber den abttünnigen Herzögen, daß Untreue gegen den König den kirchlichen Bann nach sich ziehe. Heinrichs I. kirchliche Treue bekundete sich zunächst in der schonenden Bewahrung ihres Besitzes, bewies sich in der religiösen Begründung des nationalen Einsatzes im Ungarnkrieg und bewährte sich in der Durchführung seiner christlich bestimmten Regierungsgrundsätze. Wie sich in seinem Glauben kirchliche mit germanischen Überlieferungen verschmolzen, zeigt sich symbolisch in Erwerb und Verehrung der hl. Lanze, der als kostbare Reliquie ein Nagel deS Kreuzes eingeheftet war und die nun als „Schutzmittel" unter die ReichSinsignien aufgenommen wurde. 3n selbständiger Aufnahme des väterlichen ErbeS hat dann Otto d. Grdie Kirche zur Grundlage deS Reichs gemacht.

122

Die katholischen Germanenkirchen

Da sich die weltlichen Großen immer wieder als unzuverlässig erwiesen, so nahm er seine Ratgeber und Beamten aus den Reihen der Geistlichen. Wie er in den Kämpfen mit den Herzögen die Bischöfe auf seiner Seite hat, den großen Aufstand von 953 nur mit Hilfe von Köln und Augsburg über­ windet, so befreit er sie von der Abhängigkeit von den Herzögen und bringt überall die Bistümer und Abteien wieder unter königliche Leitung. Die Einsetzung ist ganz in der Hand des Königs. Die Formen der Belehnung (Investitur) werden jetzt ausgebildet, als handle es sich um die Übertragung von ReichSgut. Vielfach ist wirklich Reichsgut den Bischöfen übergeben, sind ihnen Münz- und Grafenrechte anvertraut — die ersten Anfänge des geistlichen Fürstentums. Damit ist verhindert, daß die Kirche wie in Frank­ reich an der Zerrissenheit der staatlichen Verhältnisse teilnimmt und ihr Gut großenteils eine Beute der Großen wird. In Deutschland entsteht eine national geschlossene Kirche mit hoher Geltung im Volksleben. So wirb die Durchdringung des Gesamtlebens mit kirchlichen Gedanken ermög­ licht. Doch wirkt sich die nahe Verbindung mit dem Staat nicht nur günstig aus; denn der KönigSbienst duldet nicht, daß die Bischöfe sich auf ihr geist­ liches Amt beschränken. Sie hören auf, Prediger zu sein. Der König beschränkt sich jetzt mehr auf sein eigentliches Amt; in dem des Bischofs aber ist erst recht, nach dem Vorbild Samuels (1. Sam. 7f.), Geistliches und Welt­ liches vereinigt. Die nationale Eingliederung der Kirche ist also unter dem Zeichen des Alten Testaments erfolgt! So begreift man, wenn — anders als unter Karl d. Gr. — jetzt doch schon einzelne Stimmen laut werden, die über die Entstellung deS priester­ lichen Amtes klagen und eine Reinigung fordern. Daß eine Sonderung des Geistlichen vom Weltlichen, wie sie im Westen schon ungestüm gefordert wurde, sich auch in Deutschland wenigstens leise ankündigt, zeigt sich darin, daß der König sich ins Innere der Kirche nicht mehr einmischt. Auf die Ver­ handlungen der Synoden, gar auf die Formung ihrer Lehre nimmt er keinen Einfluß. ES gibt jetzt nicht mehr Königserlafse kirchlichen Inhalts. Inner­ lich ist die deutsche Kirche, die nie wieder verlernt hat, sich alö Glied der Gesamtkirche zu fühlen, nicht nationalisiert worden. Freilich hat sie auch, mit infolge der Entfremdung ihrer Leiter von ihrem geistlichen Amt, die Aufgabe, ihre Lehre verständlich zu verkündigen, nicht recht angefaßt; der Helianddichtcr hat keine Nachfolger gefunden. 2. Der Entschluß des Königs, sich in Rom die Kaiserkrone zu holen, mag sich aus diesen Verhältnissen erklären. Denn so bescheiden der Anteil der Päpste am kirchlichen Geschehen auch geworden war, mitten im Nieder­ gang des Papsttums ist seine kirchliche Autorität doch ungebrochen. Volle Herrschaft über die deutsche Kirche konnte Otto nur behaupten, wenn er des Papstes versichert war und die Kaisergewalt auch über Rom besaß. So mag den König die Erkenntnis geleitet haben, er müsse zur Festigung

$ 30

Die deutsche Reichskirche der Ottvnen

123

des Reichs Rom und den Papst gewinnen: daS nationale Interesse be­ stimmt ihn also zum Überschreiten der nationalen Grenzen. Dennoch bedeutet die Kaiserkrönung OttoS d. Gr. (962) nicht die volle Erneuerung deS Imperiums. Die beginnende Ausbildung der Nationali­ täten ließ in Italien das deutsche Regiment als Fremdherrschaft verabscheuen. Und auch eine Kirchenherrschaft im Stil Karls d. Gr. war nach Pseudoisibor und Nikolaus I. (s. u. S. 137) nicht mehr möglich. Doch gelang eS, in den verworrenen römischen Verhältnissen den deutschen Einfluß energisch zur Geltung zu bringen und daS kaiserliche Recht bei der Papstwahl zu erneuern. Unter Otto sind die Päpste dem deutschen Herrscher wieder zu Willen gewesen. Mit ihrer Hilfe hat er seine kirchlichen Pläne in Deutschland durch­ zusetzen vermocht. Denn hat er die Kirche auch nicht geleitet, so hat er ihr doch neue Ziele gezeigt und ihr selbst den Weg zu neuen Aufgaben eröffnet. 3. Unter ihm ist mit dem deutschen Einfluß auch die Hamburger Missions­ arbeit in Dänemark wieder vorgedrungen. Wichtiger wurde die Begründung der Slawenmission, mit der Otto daS Versäumnis, das die deutsche Kirche gegenüber der Slawenwelt belastete, gutzumachen suchte. Die Wege waren die hergebrachten. Auch hier sollte mit der Stiftung einer kirchlichen Organi­ sation der Anfang gemacht werden. Der Plan begleitet Ottos ganze Re­ gierung. Zuerst wird in Magdeburg ein großes Kloster errichtet (937), schließlich das Erzbistum Magdeburg gegründet (968). Die Bistümer Brandenburg, Havelberg, Meißen, Merseburg und Zeitz sollten diesseits und jenseits der Slawengrenze ebenso viele Missionsstationen werden. Freilich ist dem großen Plan ein nennenswerter Erfolg vorerst versagt geblieben. Der Aufstand nach Ottos II. Niederlage in Sübitalien (983) vernichtete alles. Die Kirchen wurden verbrannt, die Priester als erste Opfer den alten Göttern geschlachtet. Erst die Germanisierung dieser Länder nach erneuter Eroberung hat der Mission die Wege gesichert (s. u. S.I56f.). Doch ist eS Otto d. Gr. gewesen, der der deutschen Kirche daS verpflichtende Erbe der Slawenmission hinterließ. Dazu kommt der Südosten. Die Schlacht auf dem Lechfelde führte zur Wiedergewinnung der Ostmark, wo die Ungarn alle Kirchen verbrannt hatten, und zur Erschließung deS Donauraums für Deutschtum und Christentum, beides durch deutsche Ansiedler getragen und durch die Arbeit der bayrischen Kirche gefördert und gefestigt. So wurde denn durch die Sachsenkaiser Deutschland aus dem Zusammen­ bruch deS karolingischen Imperiums gerettet. Dessen Baugedanke blieb erhalten, doch nicht unverändett. Die Kulturaufgaben hat der Ottonenstaat nicht übernehmen können. Zwar wurde die enge Verbindung von Kirche und Staat nicht gelöst, der Staat gar auf die Kirche gegründet; doch kündigt sich leise eine Sonderung der beiden Gewalten an. Noch erlaubte bi« Schwäche

124

Die katholischen Germanenkirchen

deS kirchlichen Gedankens im ganzen Abendland das Hereinziehen der Bischöfe in den Staatsdienst. Sobald die Kirche erstarkte und sich auf ihr eigenes Gesetz besann, die Bischöfe also wieder in erster Linie Geistliche werben sollten, drohte der Konflikt. Der Konstruktionsfehler des karolingischen Imperiums ist im Ottonenreich nicht beseitigt, sondern tritt noch schärfer heraus. Die Kirche war in einen fremden Dienst gezogen. Indem sie ihre Freiheit zurückbegehrte, kam es zum Kampf mit dem Staate. Der Versuch Ottos HL, bas Reich Karls d. Gr. zu erneuern (mit EinMischung römischer Erneuerungspläne) war ein romantisches Unternehmen, daS zwar für die deutsche Kirche nicht ohne bedenkliche Folgen blieb, weil nun der Osten durch ein polnisches und ein ungarisches Erzbistum (Gnesen und Gran) abgeriegelt wurde. Aber im ganzen vermochte eS den Gang der Entwicklung nicht zu verändern.

$ 31. Bekehrung der Nordgermanen. Da die norbgermanische Überlieferung ungleich reicher ist als die süd­ germanische, so mögen statt der für Deutschland fehlenden Einzelzüge solche auS norwegischen und isländischen Zeugnissen eintteten; sie unmittelbar in daS Bild der Bekehrung der übrigen Germanen einzuttagen, ist freilich nicht erlaubt. 1. Die Dänenmission, die eine Pflicht der sächsischen Nachbarkirche ge­ wesen wäre, litt unter dem nationalen Gegensatz. Die Taufe eines TeilkönigS, Harald, der in den Thronkämpfen auf die Hilfe des deutschen Kaisers hoffte, erschloß nur auf einem Umweg einen Zugang zum dänischen Volk: bas Lehen, daS Ludwig b. Fr. dem Derttiebenen an der Wesermünbung gab, hielt mit seiner dänisch-friesischen Mischbevölkerung Verbindung mit der Heimat und konnte so eine vorläufige Kenntnis christlicher Denkweise ver­ mitteln. Mehr bedeutete die Gründung eines MissionSerzbiStumS in Hamburg (831), das später mit Bremen vereinigt wurde und der kirchliche Mittelpunkt deS Nordens sein sollte. Die hingebenbe Arbeit des ersten Bischofs, AnSgar, führte zum Bau von Kirchen in Schleswig und Ripen, den ersten Wahrzeichen einer Dänenkirche. Freilich sind eS schwache Anfänge, deren Art durch die Unsitte gekennzeichnet ist, die Taufe bis zum Lebensende zu verschieben; man wollte für den Himmel sicher gehen, aber für die Erde die alte Art nicht aufgeben! Erst daS erneute Einbringen deS deutschen Einflusses unter Heinrich!, gab auch der deusschen Mission wieder freieren Raum; Harald Blauzahn erlaubte, unter Bremer Leitung Bistümer einzurichten, und nahm selbst die Taufe. Doch das Lob eines jütischen Runensteins, baß Harald, „die Dänen zu Christen machte", war voreilig gespendet; eine heidnische Reaktion unter seinem Sohn Swein Gabelbart, die dem König daS Leben kostete, verjagte

$31

Mission in Dänemark und Norwegen

125

die deutschen Bischöfe. Freilich hat dann gerade die Eroberung Englands durch Swein die Christianisierung des Landes vorbereitet. Er selbst gab seinem Sohn die Aufgabe mit, sie durchzuführen. Knud d. Gr. hat mit englischen Bischöfen und Klerikern die dänische Kirche organisiert. Ihm steht die ewige Verantwortung des Menschen vor Augen, an dem Tag, „an dem es uns lieber wäre als alles, waS auf Erden ist, wenn wir in der Zeit, da wir es leicht konnten, Gottes Willen getan hätten". So hat er nach seiner Taufe gelobt, sein Leben und Regiment künftig von Gerechtigkeit bestimmt sein zu lassen und sie ohne Ansehen der Person in seinem Reiche zur Geltung zu bringen. Es ist gewiß nicht nur der Wunsch, die Kultur der christlichen Staaten bei sich heimisch zu machen oder nach deren Vorbild die königliche Machtfülle zu steigern, sondern eigene Überzeugung, wenn er jetzt die Staatsgewalt für die Sache der Kirche einsetzt. Das Christentum wirb gesetzlich eingeführt, staatliche Gebote arbeiten den Predigern vor: Götzendienst und Zauberei werden untersagt, Vaterunser und Glaubens­ bekenntnis zu lernen befohlen, Taufe und Abendmahlsbesuch angeordnet. Die Loslösung der so entstehenden Staatskirche von der deutschen bereitet sich vor; vollzogen ist sie 1103 mit der Errichtung eines eigenen Erzbistums in Lund, dem künftigen gesamtnordischen Patriarchat. 2. Den Norwegern erwuchs die erste Bekanntschaft mit dem Christen­ tum wohl durch ihre Fahrten in den Westen. Sie ist anfangs oft nur ganz äußerlich, bei vielen ist das aufgenähte Kreuz nicht als Vorstufe zur Taufe, sondern als Erleichterung des Handelsverkehrs gemeint; bei anderen kommt eS doch zu einer Beschäftigung mit dem Neuen und durch sie zu einer ersten Verbreitung christlicher Gedanken. Die christlichen Kriegsgefangenen, die die streifenden Wikinge als Beute mit nach Hause brachten, mögen gleichfalls dazu geholfen haben. Wo sie aber in der Fremde blieben, da verstanden sich die Siedler in christlichem Land gewöhnlich bald zur Taufe. Das Verständnis der christlichen Religion blieb dann freilich oft noch ganz vom Heidentum bestimmt. So ließ der Begründer der Normandie, der Däne Rollo, zur Feier seiner Taufe erst eine größere Zahl von Gefangenen den alten Göttern schlachten und machte dann den Kirchen reiche Schenkungen! Stand auch die amtliche Einführung des Christentums in Norwegen im Zusammenhang mit der Aufrichtung eines einheitlichen Staatswesens nach fränkisch-deutschem Vorbild, so ist das erste monarchische Unternehmen unter Harald Schönhar noch ohne solchen religiösen Zug: massenhaft wandern die freigewohnten Bauern, die nicht „des Königs Knechte" werden wollten, aus nach den Shetland- und Orkney-Inseln und vor allem nach Island. Hier vorzüglich hat sich eine reiche Überlieferung erhalten von altgermanischem Wesen und seinem Übergang zum Christentum.

Den ersten Versuch einer gesetzlichen Einführung des Christentums hat der Sohn König Haralds unternommen, der in England christlich erzogene

126

Die katholischen Germanenkirchen

Hakon der Gute. Aber so tatkräftige Anhänglichkeit ihm baS Volk sonst erweist/ an dieser Stelle stößt er auf unüberwindlichen Widerstand. Und wie ihm die Bauern die neuerbauten Kirchen verbrennen, so zwingen sie ihn, die althergebrachten Opfer zu leiten. Von ihnen bedroht, kostet er von einer Pferdeleber: Norwegen ist ihm ein Opfer wert. Er ist bald danach mit schwerem Gewissen gestorben. — Auch unter der nächsten christlichen Regierung schreibt das Volk es der Zerstörung von Opferstätten zu, baß die Heringe ausbleiben und das Korn mißrät. Die heidnische Reaftion unter dem „Opferjarl" Hakon, der gegen die Christen wütete, ist zunächst volkstümlich; doch als er sich durch Ausschweifungen und grausame Härte verhaßt gemacht hatte, wirb er von den aufgebrachten Bauern erschlagen, und der Urenkel Haralds, Olas Tryggvason, wirb mit Jubel ausgenommen (995). Es ist der kühnste der nordischen Seehelben, baS Ideal eines GermanenkönigS, von körperlicher und geistiger Überlegenheit, kampfgewaltig, milde und ftohmütig, der jetzt baS väterliche Reich zurückgewinnt. In der Fremde ausgewachsen, war er nach langen Wikingerfahrten in England getauft. Un­ verzüglich geht er daran, die wiebererlangte Heimat dem höheren GefolgSherrn zu unterwerfen, Norwegen zu „kristnen". Zuerst im Süden versammelt er die Angesehenen und predigt ihnen mit kraftvoller Beredsamkeit von der künftigen Herrlichkeit der rechtschaffenen Männer und den Höllenstrafen der Bösen: so sollen sie den seelengefährdenden Opferbrauch ausgeben und den HimmelSkönig verehren, der alles Gute den Menschen verleiht. Achtung vor der Klugheit beS Königs, Einsicht in die Unmöglichkeit eines Widerstandes machen seinen Worten Bahn. Und bei den Bauern hilft die Erinnerung an die überstandenen Bedrückungen durch den bösen Hakon, daö Murren zu überwinden, baß der König einen neuen und unbekannten Glauben gebieten wolle. So lasten sie sich die christlichen Rechtsvorschriften lehren, die ihnen in manchem entgegenkommen: die alten Hauptfeste bleiben unangerührt, nur baß jetzt statt der ThorS- die Martinsminne ausgebracht wird. In Thronbheim fteüich, wo ein Tempel mit Götterbildern in Asche gelegt wirb, rotten sich die Bauern zusammen und verloben sich den Göttern, die Verkündigung beS Christentums durch König Olaf nicht durchdringen zu lasten. Sie weisen drohend auf daS Beispiel HakonS deS Guten und wollen auch den neuen König zum Einlenken zwingen. Der aber erklärt den Häuptlingen, wenn sie ihn zum Opfern nötigten, bann werbe er nicht Sklaven und Minderwertige, sondern sie selbst den Göttern schlachten; da weichen mit den Führern langsam auch die andern. ES wird an vielen Beispielen erzählt, wie nun der König mit kluger Über­ redung und anbringenbem Werben, aber auch mit offener Gewalt sein Ziel zu erreichen sucht. Immer versucht er eö zunächst auf gütlichem Wege. Aber wenn eS nicht anders geht, scheut er sich nicht, die Bauern vor die Wahl zwischen Taufe und Kampf zu stellen; nicht anders, als handle eS sich um

§31

Olaf Tryggvason und Olaf II.

127

die Aufrichtung staatlicher Herrschaft. Das Christentum ist hier oft einfach als ein neues Gesetz verstanden worden, und die Mittel, mit denen sonst der erobernde Wiking seinen Willen durchzusetzen trachtet, kehren unverändert wieder. Und wenn sein englischer Bischof Sigurd stets zur Mäßigung redete so treibt der sächsische Priester Dankbrand gar die Bedürfnisse seiner Kirche selber durch Heereszug ein. Der religiöse Kampf ein Machtkampf der Götter, wie andere Machtkämpfe auch durch die Waffen ihrer Verehrer zu entscheiden, dieser Gedanke ist auf heidnischer wie auf christlich-germanischer Seite immer wieder aufgetaucht. Es braucht freilich nicht ein blutiger Kampf zu sein. Einbridi läßt sich taufen, nachdem er durch ungewöhnliche Leistungen deö Königs im Wettstreit besiegt ist und in dessen Gewandtheit die Kraft seines Gottes bezeugt findet. Barb erscheint sein bisheriger Glaube als trüglich, nachdem ihn zum erstenmal ein Gegner mit Hilfe eines Amuletts im Ringen überwand: Der Gott müsse allmächtig sein, dessen bloßer Name schon genügt habe, ihn zu besiegen. Und nachdem er früher im Verttauen auf die eigene Kraft für jeden Dienst zu selbstwillig gewesen war, sieht er als Christ in der Königsgefolgschast das Mittel, die Taufreinheit zu bewahren; hier setzt der neue Glaube an die Stelle der Auflehnung die sittliche Pflicht zur Königstteue. Gefolgschaststreue und persönliche Verehrung werden manchem der Weg zum Christentum. Seinen König selbst zum Paten zu erhalten, ist die Bedingung, unter der Halfreb sich der Taufe unterzieht. Der Dichter, der gern die Liederschönheil der heidnischen Mythen festhielte, wie einst Konstantin die Bildsäulen der Tempel, versteht sich doch dazu, die Herrschergewalt des Gottessohnes zu besingen und ruft in der Not den weißen Krist an: „Wenn Du wirklich so mächtig bist, wie König Olaf, mein Dienstherr, sagt." — Weckt bei dem Jslanbrecken Kjartan der Bekehrungswille des Königs zunächst nur wilden Trotz und Morbgebanken, so wirb er überwunben durch hochherziges Verzeihen. Und als die Wikingerschar in der Christnacht an der offenen Kirchtür der Rede des königlichen Predigers lauscht, der sich zum begeisterten Herold der Weihnachtsboffchast gemacht hat, da wirb der in seinem alten Glauben schon Erschütterte innerlich gewonnen: „Nun kann dem Könige auf keine Weise mehr daran gelegen sein, baß ich den Glauben an­ nehme, als mir selbst, getauft zu werben."

Die kurze Regierung Olafs hat ausgereicht, in Norwegen, Island und den norwegisch besiedelten Inselgruppen das Christentum gegen erstaunlich geringen Widerstand ohne andere auswärtigen Hilfsmittel als einige eng­ lische und deutsche Prediger zum Siege zu führen. Gewiß, es sind weithin nur äußerliche Erfolge, ein widerwillig erttagenes und bei erster Gelegenheit abgeschütteltes Joch. Aber wo man Glück (darunter Fruchtbarkeit des Lan­ des, Frieden und guten Fahrwind) und Macht als göttliche Wirkungen an­ sieht, die bas Recht einer Sache und eines Herrschers bestätigen, da folgt der äußeren Unterwerfung die innere Überzeugung ohne weiteres nach. Da die

Götter eS sich gefallen ließen, baß ihre Tempel und Bilder verbrannt wurden, ihr Kult abgetan ward, so bekundeten sie damit ihre Ohnmacht und konnten

128

Die katholischen Germanenkirchen

keine Treue mehr beanspruchen. Die Machtprobe entschied. Der für modernes Empfinden in der Geschichte der Germanenbekehrung unverständliche Zug, daß die Missionare oft an Tempel, Bilder und Bäume Hand anlegen, erklärt stch aus diesen Vorstellungen. Man konnte einen Germanen nicht sicherer von der Ohnmacht seiner Götter überzeugen als so. Auch der persönliche Mut der Prediger gewann. Man wird das alles, so unzulänglich uns solche Beweggründe erscheinen, ernst nehmen müssen; jene Zeit glaubte daran. Wir hören aber auch von Entscheidungen, die ein tieferes Verständnis des christlichen Glaubens ver­ raten. Sigrid drückt das Bewußtsein der schweren Übeltaten, um die sie

in ihrer Familie weiß: „Mit solcher Schuld beladen, kann man nicht zu einem guten Ende kommen". Da bewegt sie der Gedanke an den Glauben, der weit in der Welt gilt, daß der weiße Christ so barmherzig ist, daß er niemandem die Verzeihung versagt, der seinen Glauben halten will. Sie fährt nach Eng­ land, die Wahrheit dieser Nachricht zu erkunden, und läßt sich dort taufen. Es ist bezeichnend, daß die so innerlich Bekehrte den König mahnt, es mit Milde und guten Worten bei der Bekehrung zu versuchen; „denn eher wird Freundlichkeit durchdringen als Härte". (Im übrigen zeigt die Erzählung, wie auf germanisch-heidnischem Boden ein Sündenbewußtsein entsteht: als eine Erkenntnis der sittlichen Gesetze, deren Überttetung das Leben zerstört; nur gibt es hier keine Lösung.) Auch des zweiten Olaf jugendliche Heerfahrten fanden ihren Abschluß mit der Taufe und der Eroberung Norwegens. Fand er dort vielfach ein äußerliches Christentum, das doch das „Christenrecht" nicht kannte, in den Hochtälern aber überall noch ungebrochenes Heidentum, so macht er sich sogleich daran, das Werk seines Vorgängers zu Ende zu führen. Er begegnet dabei noch immer heimlichem wie offenem Widerstand, den er mit den gleichen Mitteln bricht wie der ältere Olaf. Meint eine solche zum Äußersten ent­

schlossene Versammlung, durch ein herausgettagenes Thorbild den König zu schrecken, so werden vielmehr sie durch das Zerschlagen des Bildwerks zu bestürztem Einlenken gebracht: „Unser Gott scheint uns schwach, sobald er nicht mit uns allein zu tun hat; wir wollen ihm das jetzt lohnen, indem wir allen Glauben an ihn aufgeben, und wir wollen nun den Gott verehren, den du preisest und ihm allen Glauben zuwenden". Gab es bisher keine feste kirchliche Organisation, so wird jetzt der Auf­ richtung sicherer Ordnungen das Augenmerk geschenkt. Hier vor allem liegt die Bedeutung dieser Regierung. Daneben aber, unlöslich damit verbunden, wird eine Rechtsordnung im Lande hergestellt, die den inneren Fehden und Raubzügen wehrt, auch den Mächtigen dem Gesetz unterwirft und das gleiche Recht für Große und Kleine zur Geltung bringt. Doch dies segensreiche Königswirken rief den erbitterten Widerstand des Adels hervor. Einem Aufstand, der sich mit dem Dänenkönig verband, ist Olaf erlegen. 3m Frei-

§31

Die Mission auf Irland

129

heitskampf gegen die dänische Fremdherrschaft ist bann sein Andenken wieder zu Ehren gebracht. Nicht lange, so ist er zum Nationalheiligen geworden. 3. Island: Manche Isländer hatten von südlichen Fahrten (besonders nach England) den neuen Glauben mit in die nördliche Heimat gebracht. Unter diesen war Thorwald, der sich im Heere Sweins durch Kraft und Urteil einen Namen gemacht hatte. In einem sächsischen Priester hatte er einen Freund gefunden, der ihn taufte und sich bereit fand, zur Mission mit nach Island zu kommen, wo er später die Bischofswürde erhielt. Vier Jahre ziehen sie predigend umher. Zu dem Eindruck ihrer Worte kommt der ihres Gottes­ dienstes: Glockenklang, Gesang und die Lichtfreude des neuen Glaubens, Kerzenglanz und weiße Gewänder. Nicht zuletzt ist es die Wunderkraft, die man ihnen zuttaut, was ihren Worten Nachdruck gibt. Als erster wird Thorwalds Vater gewonnen. Er hatte bisher seinen Hausgeist verehtt als einen mächtigen und nützlichen Gott, der ihm Künftiges voraussagte, seines Viehs wartete und ihn in seinem Tun beriet. Jetzt muß der den stärkeren Beschwörungen des Bischofs weichen, und der Bauer sagt ihm ab: „Da ich dich alö wenig vermögend kennengelernt habe, ist es für mich recht und ohne Vorwurf, dich zu verlassen und mich in den Schutz der Gottheit zu flüchten, die weit besser und stärker ist als du." Einen anderen überzeugt ein Gottesurteil; zwei Berserker, die heidnischen Wortführer, vermessen sich, durch ihren Zauber sich gegen Feuer und Eisen sichern zu können; sie unterliegen aber in der Probe, die der Bischof besteht.

In solchen Wundergeschichten spricht sich zugleich aus, welche Unruhe und inneren Kämpfe das Wirken der Missionare hervorruft. Wo immer die christliche Predigt recht ergeht, weckt sie ja nicht nur tätigen Glauben, sondern auch aufbegehrenden Unglauben und erbitterte Abwehr — nicht weil sie Unftieden, sondern weil sie Frieden verkündigt (Mt. 10, 25). Auch die Island­ prediger werden als Zauberer und Verrückte beschimpft, Wahn und Aber­ glaube wird ihnen Schuld gegeben. Persönliche Kränkungen folgen, und Schmähgedichte greifen ihre Ehre dergestalt an, daß sie nach isländischem Recht zur Selbsthilfe greifen dürfen: Thorwald erschlägt den Beleidiger. Don seinem Begleiter ernst zur Rede gestellt, läßt er sich dennoch zum zweiten Male zur Selbstrache reizen. Der Bischof ttrennt sich daraufhin von ihm und kehrt nach Sachsen zurück. Beider Wirken aber ist schon durch die Ächtung unterbrochen, die über die Prediger des neuen Glaubens verhängt ist. Ihr Wort hat ttotzdem fortgewirkt. Zu den Gewonnenen kommen eine Menge Fragende. Eine religiöse Unruhe hat sich der Gemüter bemächtigt. Wir hören von Träumen und Gesichten, die einen bevorstehenden Glaubens­ wechsel ankündigen, von Ereignissen, die damit Zusammenhängen. Es wird erzählt, daß die Genien eines Geschlechts, die den Umschwung voraussehen, sich in nächtlichem Ringen vorher noch ein Glied der Familie zum Opfer holen. (Als ein Bauer seinen Tempel abbricht, um daraus eine Kirche zu bauen, läßt die hellsichtige Nachbarin ihr Vieh eintteiben: die auswandernden 9

Schuster, Kircheageschtchte

130

Die katholischen Germanenkirchen

Götter möchten in ihrem Zorn nichts am Leben lassen; wirklich wird ein vergessenes Pferd am Morgen tot aufgefunben.) Als zweiter Missionar wird ein Fahrtgenosse König Olafs enssenbet, Stefnir, der, in Glaube und Wandel ein Christ, schon um seiner isländischen Herkunft willen geeignet erscheint. Doch seine Predigt hat keinen Erfolg, und als er an den Götterbildern die Machtprobe anstellt, betreibt die eigene Verwandtschaft seine Ächtung wegen Gotteslästerung. Solche Erfahrungen machen eS begreiflich, baß dem dritten Missionar, dem Sachsen Dankbrand, die Ausreise von König Olaf als Bußleistung auferlegt wirb. Mehr Kriegsmann als Kleriker, freimütig und gewaltsam, von geradem Wort und schwertgeübter Hand, mochte er der richtige Pre­ diger für dies harte Geschlecht sein. Dom Inhalt seiner Predigt zeugt «ine begeistert« Rebe auf den Erzengel Michael: dieser himmlische Kriegsheld sei vom allmächtigen Gott gesetzt zum Häuptling der die Menschen gegen die Unholde schirmenden Geister, er vermittle allen Recht­ schaffenen den Zugang zu den HimmelSfteuben. Und bewundernd ruft der Hörer auS: „Wie erhaben muß der sein, dem so herrliche Geister dienen I" Er erbittet sich diesen Michael zum Folgegeist. Den Heiden, der gegen ihn redet, fordert der streitbare Missionar zum Holmgang heraus. Eines Überfalls weiß er sich mit

mächtigen Streichen zu erwehren, und auf einen SpottverS antwortet auch er mit Schwerthieben. Als «inen Machtkampf der Götter fassen die Heiden baS Ringen beS neuen mit dem alten Glauben. Sie legen einen Schiffsunfall DankbranbS als eine Tat Thors aus, gegen den Christus nicht schützen konnte. „Hast du gehört", nimmt eine Priesterin baS Wort, „wie Thor den Krist zum Zweikampfe forderte, und er sich nicht getraut«, mit Thor zu kämpfen?" „Ich habe gehört", ist die Ant­ wort, „daß Thor nichts wäre als Erbe und Asche, wenn Gott nicht wollte, baß er lebt!"

Doch wie sehr er sich zu behaupten, wie gut er am Allthing seine Bosschaft auSzurichten weiß, die Gegenwirkung ist noch übermächtig. Auch er muß, geächtet, von der Insel weichen und mit ihm die Angesehensten der von ihm Gewonnenen. Eben diese kehren doch sogleich im Aufttag deS über die Behandlung seines Boten erzürnten Norwegerkönigs zurück, der einige vornehme Isländer als Geiseln zurückhält. Und jetzt kommt eS zur Krise. Bewaffnet zieht die schon stark angewachsene christliche Partei zum Ding. Mit Klugheit und Kühnheit richten die Königsboten ihre Botschaft auS; sie bitten daS Volk mit großer Freundlichkeit, sich doch recht zu entscheiden und sich der Gewalt und dem Dienst deS Königs aller Könige zu unterwerfen; nach empfangener Taufe und bewährtem heiligen Glauben könnten sie von Gott selbst die ewige Ver­ geltung erwerben, unendliche Seligkeit in der Herrlichkeit deS Himmelreichs. Doch ihrer Rede folgt gewalttger Tumult und Lärm. Gegenseitig sagen sich Heiden und Christen die Rechtsgemeinschaft auf, und eS droht der Bruch. Die Heiden geloben auS jedem Bezirk zwei Menschen zu opfern, damit die

§ 31

Island wird christlich — AnSgar in Schweben

131

Götter das Christentum nicht über das Land kommen ließen. Die Christen setzen dagegen das Selbstopser der Besten, die im Ertöten der Fehler und Begierden sich dem priesterlichen Dienst widmen wollen. Doch jetzt suchen besonnene Männer zu vermitteln, und man wartet, bis der Gesetzessprecher Thorgeir Vorschläge mache. Der zieht sich, seiner schwe­ ren Verantwortung bewußt, zwei Tage in die Einsamkeit zurück und tritt bann mit bedachtem Anttag vor die Versammlung. Er weist aus die Not­ wendigkeit einhritlichen Gesetzes und Glaubens hin; unablässige Fehde und schließlich die Verödung des Landes warm die Folge des Bruchs. Die Ver­ sammlung stimmt zu und überläßt ihm die Entscheidung. Die aber fällt er nun wesentlich zugunstm des Neuen: jedermann soll sich taufen lassen, jedes öffentliche Opfern unterlassen. Heimliche Opfer mögen noch dauem, ebenso wie das Pferdefleischessen und das AuSsetzm von Kindern bei Nah­ rungsmangel; dmn hier hattm sich die Heidm zu feinem Nachgeben bereit finden lassen. Nach einigen Jahren sind auch diese letzten Zugeständnisse aufgehoben worben, der neue Glaube hatte gesiegt. Nicht durch eine religiöse Bewegung ist die Mehrzahl der Isländer Christm geworbm, sondem um die politische Einheit nicht zu zerstörm. Darf man sich wundem, daß die so entstandme isländische Kirche an GlaubmSkraft und Tiefe christlicher Erkenntnis mit anberm nicht wetteifern konnte? Island ist zum Museum einer großm Vergangmhrit geworbm; sein Anteil an der christlichen Kultur der anberm Germanmkirchm blieb gering. . 4. Was der christliche ©üben für die Gewinnung der Dänen und Norweger bedeutet hat, erkmnt man dort, wo diese Beziehung geringer war, in Schwe­ den. Zwar Wikinger sind auch von hier ausgegangm. Aber die Ostsee­ küste, die das Hauptziel ihrer Fahrten blieb, war heidnisch und vermittelte keine Berührung mit der Kirche. Daß es doch nicht ganz daran fehlte und daß schon die Handelsbeziehungen zu Friesland, von denm wir hörm, eine undeutliche KmnMis der christlichen Religion übermitteltm, zeigt sich an der Art, wie man die ersten Missionare aufnahm. Den Anfang machte Ansgar, der wohl im Jahre 829 für 1 % Jahre nach Schweden kam, den zahlreichm christlichm Gefangmm Zuspmch zu bringen und unter dem schwedischen Volke zu predigm. Die Erfolge warm nicht ganz gering, schon 831 konnte in Birka ein Bischof ernannt werdm. Doch nicht lange, so wurde er verjagt, und die kleine Gemeinde blieb Jahre hindurch fast ganz ohne kirchliche Betteuung. Als dann AnsgarS zweite Ankunft ge­ meldet wird, sprechen heidnische Abwehr und heidnische Ausgeschlossmheit sich in bemerkenswerten Worten aus. Zuerst tritt ein Mann aus, der eine Götterbotschaft zu haben behauptet. „Ihr habt", so lassen nach seinen Worten die Götter durch ihn sagen, „lange Zeit unS als gnädige Schützer und durch unsere Hilft Frieden und Gebeihm gehabt, und 9*

132

Die katholischen Germanenkirchen

dafür Opfer und Gelübde bargebracht. Jetzt aber entzieht ihr uns die Opfer und seid träge in Gelübden und wollt gar, was uns am meisten mißfällt, einen fremden Gott über uns setzen. Wenn ihr wollt, daß wir euch ferner geneigt sind, so vermehrt eure Opfer wieder und macht größere Gelübde; die Verehrung jenes anderen Gottes aber, der uns entgegengesetzt lehrt, laßt nicht bei euch zu. Wollt ihr wirklich noch mehr Götter haben und genügen wir euch nicht, dann sind wir bereit, euren früheren König Erich in unseren Kreis aufzunehmen, baß er einer der Götter sei." Auf diese Mitteilung hin wird in der Tat dem König Erich ein Tempel gebaut und ihm geopfert. Den Missionaren aber antwortet auf der Volksversammlung zu­ nächst tumultuarische Ablehnung. Doch bann erhebt sich ein alter Mann: „Höret mich, König und Volk. Über jenen Gott ist vielen von uns wohlbekannt, daß er den auf ihn Hoffenden große Hilfe gewähren kann. Nicht wenige von uns haben das in Seenot und anderen Gefahren erprobt. Warum sollen wir verwerfen, was wir als nötig und nützlich kennen? Was mancher in der Ferne aufgesucht hat, warum sollen wir es nicht annehmen, da es uns nahe gebracht wird? Da, wo wir unserer Götter Hilfe nicht haben können, ist es gut, jenes Gottes Gnade zu erlangen!" Die christliche Verkündigung wird danach freigegeben, da es nicht schaden könne, einen mächtigen Beschützer mehr zu gewinnen. Es hat doch noch ein Jahrhundert gewährt, bis ein neuer Versuch (durch Bischof Unni von Bre­ men) weitere Wirkung brachte, und wieder geraume Zeit, bis Olaf Tryggvasons Hofbischof Sigurd den Schwedenkönig Olaf Schloßkönig taufen konnte (1008). Doch mußte auch dieser den Tempel in Upsala stehen lassen und konnte nur in Westgautland ein Bistum einrichten (Skara). Von dort ist seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts das Christentum in das eigentliche Schweden eingedrungen. Deutsche und englische Bischöfe haben hier gewirkt. 1164 wird Schweden mit eigenem Erzbistum (unter Lund) eine selbständige Kirchenprovinz, wie kurz zuvor Norwegen mit Nidaros (1152). § 32. Das Ergebnis der Germanenbekehrung. Die Frage nach dem Ergebnis der Germanenmission ist , im eigentlichen Sinne verstanden, nicht beantwortbar. Denn die Umkehr auch nur Eines Menschen, dem Gottes Wort das Herz berührte, ist menschlichen Blicken ver­

borgen. kehrung auf das Statt

Doch ein geschichtlicher Vorgang von der Größe der Germanenbezeichnet sich in typischen Linien ab, und es ist möglich, im Rückblick Berichtete einiges hervorzuheben. wie früher in unbestimmter Hoffnung und Furcht vielen Mächten

und Gewalten zu dienen, hatten die Germanen gelernt, hinter allem, was das Leben bestimmt, den allmächtigen Gott am Werke zu glauben. Nach dessen einheitlichem Willen hatte man sich zu richten, nicht mehr durch Orakel­ kunst mannigfache Verhängnisse zu ergründen und verschiedenartige For­ derungen zu ermitteln. Denn Gottes Wille, so ging die kirchliche Botschaft, verfolgt einen zusammenhängenden Plan, und er hat sich selbst kundgetan.

§32

Das Ergebnis der Germanenbekehrung

133

Wenn sonst die Menschen in der Nähe und Ferne die Gottheit suchen, ahnen und verfehlen, so erfährt man hier, daß Gott selber die Menschen suchte, unter sie trat und als Mensch ihnen begegnete in Wort und Werk dessen, der noch immer die Menschen durch seine Boten wirbt, um sie in sein ewiges Reich zu sammeln. Mit ungeheurer Gewalt ist Volk um Volk von der Bot­ schaft ergriffen worden, baß Gott auch jenseits des Todes herrsche und daß an der Stellung zu dieser Botschaft Leben und Tod für ewig sich entscheide. Arn erkennbarsten ist die Wirkung des neuen Glaubens tm Staatsleben hervorgetreten; die stille, umgestaltende Kraft, die er an den Personen übte, mochte hier am ehesten sichtbar werden. Die Beendigung der religiösen Ge­ schlechterfehden durch Bekämpfung der Bluttache wurde zur Voraussetzung der Volksgemeinschaft. Jetzt erst wurde rechte Staatsführung möglich. Der Herrscher lernte sich als Träger eines von Gott verliehenen Amtes verstehen, für dessen Führung er, unabhängig von Beifall und Tadel der Menge, Gott Rechenschaft schulde. Die Regierten wurden in ihrem Gewissen an den staatlichen Gehorsam gebunden und blieben doch innerlich frei von jeder Seelenknechtung. Beide aber erfuhren von einer Verantwortung, die hinaus­ reicht über Volk und Geschichte. Das dämonische Machtstreben und schranken­ lose Sich-Durchsetzen, an dem so oft germanische Völker zugrunde gingen, wurde von einem höheren Willen in Zucht genommen. Für Knud d. Gr. wurde zum Regierungsgrundsatz, Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen; den beiden norwegischen Olafs bedeutete t)ie Taufe den Ab­ schluß des Wikingtteibens, für einen Wikingsmann den Entschluß zur Königs­ treue. Wie schwer es war, auch die Großen und Mächtigen unter das Gesetz zu beugen, wodurch überhaupt erst ein Staatsleben ermöglicht wird, erfuhr Olaf d. Hl.; der Versuch kostete ihn das Leben. Gott hat Himmel und Erde geschaffen. Er, der Heilige, hat den Menschen ein Gesetz gegeben. Er wird einst den Erdkreis richten in Gerechtigkeit. Diese alttestamentlichen Züge standen den Germanen in der kirchlichen Predigt jener Zeit voran. Das Wort vom Gesetz umkleidete die sittliche Forderung mit religiöser Hoheit; es ließ, die darauf hörten, erstarken im Gehorsam unter einem höheren Willen, der, indem er vieles forderte, auch vieles schenkte. Das Wort von der Ewigkeit hinderte, sich an vorläufige Ziele zu verkaufen; es lehrte Großes und Kleines zu unterscheiden. Das Wort von der Vergebung richtete den auf, der der tiefsten Daseinsnot, der Schuldverfallenheit, ins Auge gesehen hatte; es gab ihm den Mut zur Wahrhaftigkeit und die innere Freiheit des von der Sündenmacht Losge­ bundenen. Stand es nicht im Mittelpunkt, so fehlte es doch auch nicht: auch die mittelalterliche Kirche stellte neben das Gesetz das Evangelium. Das Volk als Ganzes der kirchlichen Führung anverttaut, die Kirche volks­ bezogen und staatsverbunden: der Anfang der deutschen Geschichte ist eine Zeit einheitlichen kirchlich-volklichen Denkens und Fühlens gewesen in ver­ einter Arbeit an gemeinsamen Aufgaben der christlichen Kultur.

134

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirch«

Deutschland und die Kirche im Mittelalter I. Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche. §33. Die kirchliche Reform. 1. Wenn wir die Geschichte der Kirche im hohen Mittelalter, insbesondere die Auseinandersetzung der beiden Gewalten Königtum und Papsttum begreifen wollen, müssen wir unS zunächst eine deutliche und anschauliche Vorstellung von dem tatsächlichen Zustand der Kirche verschaffen. Wir müssen unS.weiter daran gewöhnen, die Wirklichkeit der Dinge ganz nüchtern, ohne falsche, idealisierende Voraussetzung zu sehen. AlS Warnung vor gefähr­ lichen Wunschbildern und Enttäuschungen ist zu beherzigen, waS Nietzsche in der Abhandlung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für daS Leben" (am Ende von Kapitel 9) als Leitgedanken für die Würdigung der Kirchengeschichte ausgesprochen hat: „DaS Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf die Massen; der historische Erfolg deö Christentums, seine historische Macht, Zähigkeit und Zeitdauer, alles daS beweist glücklicherweise nichts inbetteff der Größe seines Gründers, da eS im Grunde gegen ihn beweisen würde: aber zwischen ihm und jenem historischem Erfolge liegt eine sehr irdische und dunkle Schicht von Leidenschaft, Irrtum, Gier nach Macht und Ehre, von fortwirkenden Kräften deS Imperium Romanum, eine Schicht, auS der daS Christentum jenen Erdgeschmack und Erdenrest bekom­ men hat, der ihm die Fortdauer in dieser Welt ermöglichte und gleichsam seine Haltbarkeit gab." Unter diesen von Nietzsche genannten, irdischen Motiven, die daS Evangelium oft verdunkeln und verfälschen, spielt wohl der „Wille zur Macht" die stärkste und gefährlichste Rolle, weil er sich so gern in den Mantel deS Eifers um Gott verhüllt. Er vergiftet die Lehrkämpfe der grie­ chischen Kirche. Er findet seine dämonische Verkörperung im römischen Papst­ tum, ist aber auch sonst festzustellen (Zwingli, Calvin; — Luther ist die große Ausnahme!). Die Struktur der kirchlichen Verfassung deS Mittelalters im Abendland ist durch daS System der Eigenkirche maßgeblich bestimmt. Brauch und Recht der Großgrundbesitzer, ein Gotteshaus auf ihrem Landgut zu errichten und den Priester zu bestellen, hat eS schon in spättömischer Zeit gegeben; aber herrschend wird dies System erst durch die germanische Vorstellung deS HauSpriestertumS, daS sich später zu dem Brauch erweitert hat, auf eigmem Grund und Boden einen Tempel zu errichten und einen Priester zu bestellen. Dieser germanische Brauch lebt in der christlichen Kirche ziemlich unverändett fort. Der Grundbesitzer baut eine Kirche, stellt einen Priester an, sei eS, weil er in reiner Gesinnung der kirchlichen Verkündigung dienen will, sei eS, weil

§33

Die Eigenkirche

135

er Gebete und Werke der Kirche sich und seinem Geschlecht zuwenden möchte. Er behält auch ein Verfügungsrecht über die Kirche und ihren Besitz. DaS altkirchliche Recht der Bischöfe, die Pfarrer einzusetzen, Kirche und Amts­ führung zu überwachen, sowie ihr Eigentum zu betreuen, wird damit durch­ brochen und fast zunichte gemacht. Den Bischöfen bleibt nur die Befugnis, diese von den Laien berufenen Priester zu weihen und bestenfalls zu über­ wachen. Unter diesen Gesichtspunkt der Eigenkirche fallen auch die Klöster, ihre Kirchengebäube wie ihr gesamter Grundbesitz. Schließlich wirkt sich dieser Gedanke auch für die höchsten geistlichen Stellen auS. DaS Gewohn­ heitsrecht der Könige, die Bischöfe als die vornehmsten, dem Könige dienst­ baren Beamten zu ernennen, wird durch den Gedanken der Eigenkirche ge­ stützt ; denn für die Bistümer ist der König der große Herr, der den Grundbesitz hergegeben hat und deshalb daS Eigentumsrecht an der Kirche und die Ver­ fügungsgewalt über den Priester behalt. 2. Dieser Brauch der Eigenkirche hatte insofern ein gewisieS inneres Recht für sich, als er dem Laienstand Mündigkeit und Selbsttätigkest im Raum der Kirche verschaffte. Damit aber war die Eigenkirche doch im Gefüge der römischkatholischen Kirche ein Fremdkörper. Dieser Brauch hätte sich fruchtbar und reformierend auSwirkcn können, wenn die Laien zu einer religiös-sittlichen Selbständigkeit im Sinne des Priestertums aller Gläubigen erzogen wären. Davon aber kann in der mittelalterlichen Kirche nicht die Rede sein. Die Motive, aus denen wohlhabende Laien kirchliche Stiftungen machen oder selbst Altäre und Kirchen errichten, sind überwiegend roh, weit entfernt vom wirklichen Verständnis christlicher Lehre. Der germanische Mensch möchte nach altheidnischer Weise, wenn ihm seine wilden Taten auf daS Gewissen fallen, mit reichen Schenkungen als mit einem Lösegeld seine Sün­ den sühnen, er möchte Fürsprecher gewinnen, die mit ihren kräftigen Gebeten und frommen Leistungen vor Gott für ihn eintreten. Er kommt also von der naiven Selbstsucht des natürlichen Menschen nicht loS. Deshalb stellen sich auch bald schwere Mißbräuche dieses Systems ein. Man lebt ja nicht in der Demut des Gehorsams gegen Gott, sondern in der altüberlieferten Anmaßung, über die Gottheit, über ihre Kräfte und ihr Vermögen, zum eigenen Nutzen verfügen zu können. Auch für sehr irdische Dinge: Große Herren benutzen den kirchlichen Besitz zur Ausstattung von Töchtern, zur Versorgung von jüngeren Söhnen und schutzbesohlenen Verwandten. Zu den großen Herren, die das Eigenkirchenrecht mißbrauchen, gehören vielfach auch die Bischöfe. Sie sind ja selber weltliche Herren geworden, mit könig­ lichem Grundbesitz und LehnSrechten ausgestattet, und wetteifern oft an Pracht und weltlichem Sinn mit den Großen dieser Welt. Nicht nur die Priester, auch die Bischöfe leben weithin im Konkubinat oder in richtiger Ehe und halten eS für ihr natürliches Recht, nicht nur ihr Amt, sondern auch daS kirchliche Eigentum an ihre Söhne zu vererben und zur Ausstattung

136

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

ihrer Töchter zu verwenden. Die Priesterehe droht also das kirchliche Eigentum und damit oft auch das kirchliche Amt zu zerstören. Alle diese Erscheinungen finden sich am häufigsten und am schlimmsten im Bereich der westfränkischen Kirche, weil hier unter den schwachen spätkarolingischen Königen staatliche Ordnung und Aufsicht sich immer mehr auflöst, während Deutschland seit Heinrich I. sichtlich an Kraft und durchgreifender Ordnung gewinnt. 3. Da das Mönchtum in jener Zeit den Ernst christlicher Lebensführung, so wie die römische Kirche ihn verstand, in erster Linie zu vertreten hatte, wirkte sich bei ihm der Verfall am schlimmsten aus. Wenn etwa verdiente Krieger, gewissermaßen als Dotation, den Nießbrauch eines reichen Klosters mit­ samt der Abtwürde erhielten, dann mußte unter solchen Laienäbten die kirchliche Zucht und Frömmigkeit, der wissenschaftliche und künstlerische Fleiß, ja selbst der Grundbesitz des Klosters völlig verfallen. Der idealen Schilde­ rung des geistigen und wissenschaftlichen Lebens in Klöstern wie Sankt Gallen (aus der Feder Eckehards IV.) stehen Nachrichten schlimmster Ver­ wilderung gegenüber. „Man kennt Richers Schilderung der Zustände in den Vogesenklöstern: Die Mönche zuchtlos, lieber beim Waffenspiel als in der Kirche, Diebstahl und Raub wie ihr Handwerk tteibend, das gemein­ same Leben aufgegeben, Schmausereien, Gelage und Ausschweifungen die Tage und Nächte erfüllend" (Hauck Bd. III S. 344). Hier mußte ein heißer Kampf um die Existenz des Klosterlebens, um die Wiederaufrichtung von Zucht und Gottesdienst entbrennen. Die erste Sorge mußte begreiflicherweise der Sicherung des Klostergutes, der materiellen Grundlage des ganzen mönchischen Lebens, gelten. In jener Zeit der zer­ fallenden staatlichen Ordnung, des wilden Faustrechtes waren die Klöster besonders gefährdet; sie lagen jedem Zugriff offen. Deshalb die vordringliche Aufgabe, sie unter eine stärkere Macht zu stellen, die ihnen einigermaßen Schutz gewähren konnte. Als solche kam nur der römische Stuhl in Frage, der ttotz der persönlichen Unwürdigkeit vieler Inhaber immer noch ein hohes, wenn schon überwiegend auf Aberglauben begründetes, Ansehen genoß. Die Losung lautete: Freiheit der Klöster von weltlicher Gewalt! Mittelpunkt dieses Kampfes wurde das 910 gegründete burgundische Kloster Cluny. Von hier ging eine große Bewegung aus, die ganz Frankreich ergriff, seine Grenzen überschritt und auf deutschem Boden sich mit einer ähnlichen Reformbewegung in Lothringen verschmolz. Sie erstrebte: 1. Sicherung des Klostergutes gegen den Zugriff des Laienadels, Unabhängigkeit von der Gewalt auch der (verweltlichten) Bischöfe, daher unmittelbare Unterstellung der Klöster unter den Schutz des Papstes; 2. auf dieser Grundlage Wieder­ herstellung strenger mönchischer Zucht nach dem Vorbild der umgestalteten Regel Benedikts. Damit verband sich 3. die Pflege einer reich ausgebildeten Liturgie und eines gesteigerten Innenlebens, einer oft durch Mirakel­ glauben überhitzten Frömmigkeit von eigentümlich romanischer Färbung.

§33

Die Cluniazenser — Pseudoisidor

137

Wir erkennen heute den tiefen, auch im Volkstum begründeten Unterschied zwischen dem alten Mönchtum der (deutschen) Benediktiner und dem neuen der Cluniazenser. Das alte Mönchtum war, auf deutschem Boden, selbst deutsch geworden (nicht selten gar zu deutsch vom Standpunkt morgen­ ländischen Mönchtums aus), da es weitgehend die selbständige Eigenart der Insassen achtete und neben den kirchlichen Übungen auch wertvolle Arbeit im Dienst nationaler Kultur pflegte. Das neue Mönchtum, zurückgreifend auf die ältesten, morgenländischen Ideale radikaler Weltflucht, pflegte einen Geist des blinden Gehorsams und der bedingungslosen Unterwerfung an Stelle der deutschen Begriffe persönlicher Treue und Hingabe, dazu eine kirchliche Devotion, die stark zum Fanatismus neigte. 4. Einen ähnlichen Vorstoß gegen den gefährlichen Einfluß weltlicher Gewalt hatten schon ein halbes Jahrhundert früher die fränkischen Bischöfe unternommen. Etwa um 850 entstand in der Kirchenprovinz Reims eine um­ fangreiche Sammlung kirchenrechtlicher Urkunden, in der echte Stücke mit verfälschten und völlig frei erfundenen so geschickt verbunden waren, daß sie in ihrer Gesamtheit den Eindruck echter alter Urkunden erweckten: die „pseudo-isidorischen Dekretalien" (so genannt nach dem spanischen Bischof Isidor, der eine echte Sammlung von Dekretalien, d. h. päpstlichen Lehrbriefen, zusammengestellt hatte). Da jene Zeit erfüllt war von der Ehr­ furcht für alles, was unter altberühmtem Namen ging, so setzten sich diese zum großen Teil unechten Urkunden bald durch, zumal ihr Inhalt, wie sich zeigte, in mancher Beziehung sehr zeitgemäß war. Ihr Zweck war, die Bischöfe gegen die Regierungsgewalt und die Gerichtsbarkeit weltlicher Fürsten und Beamten (deren Rechtsprechung oft sehr willkürlich und nur eine Form politischer Machtübung war) zu sichern und auch den Einfluß der Erzbischöfe und Provinzialsynoden zu schwächen. Da die Bischöfe sich aber unmöglich von jeder Aufsicht lösen konnten, so unterstellte Pseudoisidor sie der Gewalt des Papstes (offenbar in der Meinung, der ferne Papst werde ihre Selbständig­ keit kaum beschränken). Diese ungeheuerliche Fälschung (in deren Kreis auch die Konstantinische Schenkung einbezogen war) wurde das ganze Mittelalter hindurch für echt gehalten und als rechtsgültig anerkannt; erst protestantische Forschung nach Luther hat den Betrug enthüllt. Die Fälschung wirkte sich aber bald ganz anders aus, als ihre Urheber erwartet hatten. Papst Nikolaus I. (858—67) griff sie auf, um mit ihrer Hilfe sowohl den Einfluß stolzer, weitausgreifender Erzbischöfe wie den unkirchlicher und sittlich bedenkenloser Könige zu be­ kämpfen und den Gedanken der päpstlichen Allmacht innerhalb der Kirche und des päpstlichen Übergewichtes gegenüber den weltlichen Machthabern

eindrucksvoll zu vertreten. Mit ihm droht das von Karl d. Gr. aufgerichtete Verhältnis von Staat und Kirche sich umzukehren. Ein von Nikolaus abgesetzter Bischof klagt, N. sei bestrebt, sich zum „Kaiser der ganzen Welt" zu machen.

138

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

5. Das Auftreten Nikolaus I. bedeutete aber nur ein kurzes Vorspiel. DaS Papsttum versank nach seinem Tode für mehr als ein Jahrhundert in unwürdigste Abhängigkeit von skrupellosen weltlichen Machthabern (Män­ nern und Frauen!) in der Stadt Rom und ihrer Umgebung. ES verlor deshalb auch den kirchlichen und sittigenden Einfluß, den Nikolaus ihm erobert hatte. Otto d. Gr. hatte daS Papsttum nur vorübergehend auö dieser Schmach erhoben. Die Gedanken der Reform aber waren in dieser Zeit nicht nur lebendig ge­ blieben, sondern hatten sich von den Klöstern auS allmählich erweitert zu dem Programm einer allgemeinen kirchlichen Reform. Man wünschte nicht nur die sittliche Haltung und den kirchlichen Sinn der Priester und Bischöfe zu heben, sondern begann allmählich zwei ganz bestimmte eingebürgerte Mißstände zu bekämpfen, die Mißachtung deS Priesterzölibats und die Simonie, d. h. die Unsitte des Verkaufs und Kaufs geistlicher Ämter und Stellen. (Der Name Simonie nach dem samaritanifchen Zauberer Simon, Apg. 8, der von den Aposteln geistliche Gaben um Geld kaufen wollte.) Von dem Eifer um die kirchliche Reform wurden auch die deutschen Könige deS 11. Jahrhunderts ergriffen; nicht nur Heinrich II. (1002—24), den kirch­ liche Dankbarkeit um seiner Verdienste willen (Bistum Bamberg, Germanisierung und Christianisierung des noch halb slawischen Oberfrankens) „heilig" gesprochen hat, sondern auch ein so durchaus von staatlichen Gesichtspunkten bestimmter König wie der Franke Konrad II. (der freilich, unbekümmert um daS Schlagwort der Simonie, an der für das Königtum einträglichen Erhebung der üblichen Abgaben bei der Investitur der Prälaten festhielt). Mit größtem Eifer aber nahm sich fein Sohn Heinrich III. (1039—1056), der königliches Selbst- und Verantwortungsbewußtsein mit aSkettsch strenger Gewissenhaftigkeit vereinigte, der berechtigten Reform­ forderungen an. Er verzichtete auf die als Simonie gescholtene Abgabe bei der Investitur. Er bekämpfte die Zuchtlosigkeft in Klöstern und Pfarrhäusern und förderte mit Leidenschaft und Hingebung die von Burgund ausgehende Bewegung für den Gottesfrieden (Treuga Dei), die sich um Einschränkung deS Fehdeunwesens bemühte. Er griff auch in die versumpften und ver­ worrenen römischen Verhältniffe ein. Drei unwürdige Päpste entfernte er auf den Synoden zu Sutri und Rom (1046) aus ihrem Amt und ernannte nur deutsche Bischöfe zu Nachfolgern. Er tat dies im Bewußtsein seiner Verpflichtung als christlicher, dem höchsten Gott verantwortlicher König. Die Reform der Kirche war ihm gottgewiesene Königspflicht. Er empfand sein kirchliches Handeln nicht als Gegensatz zu seinem KönigSamt, sondern als Ausfluß und Auftrag der Herrscher­ würde. An seiner großen, sittlich ernsten, beinah düsteren Gestalt wird be­ sonders deutlich (was neue Forschung aus den Urkunden reichlich belegt hat), daß jene Zeit den rechtmäßig erwählten und gesalbten König von allen

$33

Deutsche Könige im Dienst der Reform, Heinrich III.

139

andern Laien deutlich unterschied und ihm eine Mission von Gott für Staat und Kirche (für daS ungeteilte „corpus christianum-) zuschrieb. Bis in den Jnvestiturstrett herrschte weithin die Vorstellung von der göttlichen Würde und Vollmacht der Herrscher. Das geht zurück auf römische wie auf germanische Vorstellungen; es war „verchristlicht" durch die kirchliche Sal­ bung und die Erinnerung an die Königssaldung des Alten Testaments (Sauls und Davids Salbung durch Samuel!). Diese Salbung galt als Sakrament; sie bedeutete deshalb keine Überordnung des salbenden Priesters oder der Kirche über König und Königtum; genau so wenig wie der Bischof (von Ostia), der den Papst salbt, diesem deshalb übergeordnet ist: Gott salbt wie den Papst so auch den König durch die Hand deS Priesters! Unü sind zahlreiche Bildnisse auS dem Mittelalter erhalten, in denen über demHaupt deS Königs vom Himmel her die segnende GotteShand erscheint. Viele Äußerungen deS Mittelalters beweisen den weit verbreiteten Glauben, baß der König durch sein Amt an priesterlicher Würde und Stellung Anteil habe. Alcuin nennt ihn Priester, Bischof und Glaubensverbreiter, Herrscher deS GotteSvolkeS, Vater der Kirche, Vertreter Petri oder gar Christi! Der die Grenzen deS Menschentums überschreitenden dämonisierten Papstidee tritt also eine ähnlich übersteigerte Königsidee gegenüber.

Heinrich konnte nicht voraussehen, daß er durch die von ihm betriebene Reform der Kirche und des Papsttums daS grundlegende Königsrecht, Bischöfe und Äbte zu ernennen und zu investieren, gefährdete; denn auch die cluniazensische Reform, die er überzeugt förderte, hat damals dies Königsrecht noch nicht bestritten. Heinrich dachte auch gar nicht daran, dies Königsrecht oder die von Otto I. begründete deutsche Oberhoheit über Italien aufzugeben. 3m Gegenteil, er setzte deutsche Päpste in Rom ein, nicht nur um die verfallene römische Kirche zu reinigen, sondern auch um die deutsche Kaisermacht über Italien zu befestigen; war er doch strenggläubiger Christ und pflichtbewußter deutscher König zugleich! So ließ er auch die Römer schwören, niemals einen Papst ohne vorhergehende Zustimmung deS deutschen Königs zu wählen. Die chaotischen Zustände, die er an der römischen Kurie vorfand, nötigten ihm dies KönigSamt im Dienst der Kirche förmlich auf; zumal er sich erinnern durfte, daß von Heinrich I. an die deutschen Könige fast ausnahmslos mit Ernst hatten Christen sein und mit heiligem Eifer der Kirche hatten dienen wollen.

§ 34. Der Kampf um die Herrschaft.

1. Unter dem Pontifikat deS von Heinrich III.. erhobenen Leo IX., eines Deutschen aus elsässischem Grafengeschlecht, erfüllte sich daS Papsttum überraschend schnell mit dem Geiste der von Cluny ausgehenden Kirchen­ reform. DaS Programm einer Reinigung der Kirche brauchte an sich die

140

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

Lebensinteressen des Staates nicht unmittelbar zu gefährden. Aber wenn einmal die Vorstellung aufkam, die vom König geübte Investitur sei mit der Freiheit der Kirche unverträglich, dann mußte hier ein Kampf auf Leben und Tod entbrennen. Denn eine reinliche Scheidung zwischen Kirche und Staat (die restlos überhaupt nicht durchzuführen ist, weil dieselben Menschen mit Herz und Gewissen dem Staat wie der Kirche angehören) war damals schlechterdings unmöglich. Die Kirche war seit Jahrhunderten in die staatliche Welt hineingebaut. Sie war ein unlöslicher Bestandteil der mittelalterlichen Lehnsorhnung. Sie mußte, bei der Unfertigkeit der staatlichen Einrichtungen, notgedrungen wichtige Aufgaben übernehmen, die heute der staatlichen Verwaltung zufallen. Die Kleriker hatten doch damals das Privileg aller Schriftkunde und Bildung. Aus ihren Reihen nahm der König die Beamten seiner Kanzlei, und die zuverlässigsten von ihnen stellte er an die Spitze der großen Bistümer. Waren doch nicht nur die Päpste, sondern auch die deutschen Bischöfe Träger staatlicher Gewalt und letztere seit Otto I. die Stützen des Königtums. Wenn die Freiheit der Kirche so verstanden wurde, daß der König die Bischöfe und großen Äbte nicht mehr

in seiner Hand haben durfte, wenn er also nicht mehr an der Spitze des ein­ heitlichen Corpus christianum stehen sollte (wie Karl und Otto), so mußte bei dem labilen Gleichgewicht beider Gewalten aus dem Kampf um die Freiheit der Kirche ein Kampf um die Herrschaft werden. Reform — Frei­ heit — Herrschaft: Das sind die drei rasch einander ablösenden Stufen dieser Entwicklung. Wir müssen aber ftagen, wodurch diese Entwicklung in Gang gebracht ist, weshalb der Zustand, den Heinrich III. vorfand und vorläufig befestigt hat, so schnell und so gründlich erschüttert wurde. Das ist nicht schon mit der völligen politischen Unfähigkeit der Kaiserinwitwe Agnes (im Gegensatz zu den großen Herrschergaben der ottonischen Frauen, Adelheid wie Theophano) und mit der jugendlichen UnreifeHeinrichs IV. zu erklären; das muß tiefer begründet werden. Leo IX. hatte aus seinem deutschen Bistum Toul eine Anzahl bedeutender lothringischer und burgundischer Kleriker mit nach Rom genommen und mehrere von ihnen zu Kardinälen erhoben. Sie hatten, wie es scheint, in der lothringer Kirchenrechtsschule sich mit dem scharfen, klerikalen Geist des falschen Isidor (s. o. S. 137) erfüllt. Dort wurde nämlich die Laien­ investitur in der Hand auch eines frommen Königs schon grundsätzlich ab­ gelehnt. Der geistvollste und gefährlichste von ihnen, der Kardinal Hum­ bert, hat bald nach Heinrichs III. Tode eine kirchenpolitische Kampf­ schrift herausgegeben, in der er jede Laieninvestitur (auch ohne Geld­ zahlung) mit dem bösen Schlagwort der „Simonie" brandmarkt und für die Kirche das alleinige Recht der Ernennung und Investierung der Prälaten fordert. Gleichzeitig schmäht und verleumdet er die deutschen Könige, die Ottonen, wegen ihrer Staats- und Kirchenpolitik, als die Verderber der Kirche

§34

Leo IX. und die Umbildung des Papsttums, Hildebrand

141

und die Feinde Christi. Da er aber nicht daran denkt, das Kirchengut an die weltliche Hand, die es unter ganz anderen Voraussetzungen geschenkt hat, zurückzugeben, sondern es als Eigentum Christi, d. h. der Kirche, in Anspruch nimmt, so ist dieser „Rechtsanspruch" in Wirklichkeit eine Verkehrung des überlieferten Rechts und eine ungeheuerliche Revolution. Man hat deshalb das Jahr 1058, in dem Humberts Buch erschien, als „einen der großen Durchbrüche in der Weltgeschichte" bezeichnet, „den selbst die Nächstbeteilig­ ten nur dumpf vorausgeahnt hatten". Dieser „Durchbruch" gelang, weil das von Humbert gezeichnete Programm einen Mann der Tat fand von unge­ heurer dämonischer Leidenschaft des Willens, um es in die Wirklichkeit zu übersetzen. Dieser Mann ist Hildebrand, der etwa 1020 als Bauernsohn in Toskana geboren ist, in dem reformierten Kloster auf dem Aventin zu Rom mit dem Geist der Reform erfüllt war und auch wohl vorübergehend im Kloster Cluny gelebt hatte. Mit Leo IX. nach Rom zurückgekehrt, übte er unter den nachfolgenden Reformpäpsten schon den maßgebenden Einfluß aus. Sein Werk ist vor allem die Neuordnung der Papstwahl von 1059. Danach wird die Wahl dem Einfluß des Volkes von Rom und seiner Großen wie auch der deutschen Könige entzogen und durch die Kardinäle, d. h. die vornehmen Geistlichen an den römischen Hauptkirchen und die Bischöfe der Umgebung Roms, vollzogen. Diese Ordnung ist eine Revolution. Sie wider­ spricht dem altkirchlichen Brauch der Bischofswahl durch Gemeinde und Klerus, wobei ein benachbarter Bischof nur die Weihe vollzieht. 2lber der Zweck rechtfertigte das Mittel. Die Partei der „Reform", von Hildebrand und den lothringischen Kardinälen geführt, konnte nur so sich an der Macht halten, um ihre Pläne durchzuführen. Zu dem Zweck mußte zuerst die oberste Leitung der Gesamtkirche dem willkürlichen Eingriff örtlicher Gewalten entzogen werden. 2. Hildebrand erstrebte ein weltliches Ziel, nämlich die weltliche Herr­ schaft der Päpste um ihrer geistlichen willen (denn in der Papstidee, die ihn ganz erfüllte, ist beides verbunden). Daher gebrauchte er bedenkenlos auch sehr weltliche Mittel. Er verbündete sich mit der revolutionären Volks­ bewegung der Pataria in der Lombardei und mit den erobernden Normannen­ fürsten in Süditalien, um mit ihrer Hilfe die Herrschaft der deutschen Könige zu unterwühlen. Die cluniazensischen Reformgedanken bildete er zu einem hierarchischen Programm um: absolute Herrschaft des Papstes über die Kirche und über die gesamte Welt. In unregelmäßiger Form durch den begeisterten Zuruf des römischen Volkes zum Papst erhoben (als Gregor VII.), eröffnete er den Kampf gegen das deutsche Königtum mit dem Verbot der Laieninvestitur, die er wie Humbert, entgegen dem ursprünglichen Sinn, als „Simonie" bezeichnete und behandelte. In einer Reihe von programmatischen Sätzen (dictatus Papac) sagte er unter anderem: „Die römische Kirche ist von dem Herrn allein gegründet worden. Sie

142

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

hat nie geirrt und wirb auch nach dem Zeugnis der Schrift nie in Irrtum fallen. Der römische Bischof allein darf der allgemeine Bischof genannt werben. Er allein kann Bischöfe absetzen ober Gebannte wieber in die Gemeinschaft der Kirche auf­ nehmen. Ihm allein ist eS gestattet, neue Gesetze zu geben. Er allein darf sich der kaiserlichen Insignien bedienen. DeS Papstes Füße haben alle Fürsten zu küssen. Ihm ist eS erlaubt, Kaiser abzusetzen. Er vermag die Untertanen von ihrer (eidlichen) Pflicht gegen abtrünnige Fürsten zu entbinden." Von dieser vermeintlichen Vollmacht, geschworene Eide aufzulösen, machte er, getrieben vom Dämon der Herrschsucht, die sich unter der Papstidee verbarg, als erster rücksichtslosen Gebrauch und gab damit für die Jahrhunderte ein böseS Beispiel, daS Treue und Glauben zerstörte. Gregors Angriff auf die Investitur bedrohte das Fundament der ottonischen, deutschen ReichSverfassung. Heinrich IV. mußte sich als deutscher König pflichtmäßig bis zum Äußersten zur Wehr setzen. Wenn er freilich diesen Kampf mit der Absetzung

deS Papstes begann, so überschritt er in unreifer Leidenschaft die Grenzen seines Rechts wie seiner Macht. Diese Überspannung der KönigSidee mußte er bitter büßen. Die Kirchenbuße in Canossa bringt aber die Wende, da er mit ihr den Papst moralisch bedrängte und zur Aufhebung deS Bannes nötigte. Denn da Gregor nie vergaß, daß sein päpstliches Amt im Grunde ein religiöses Ideal verkörperte, so mußte er die Kirchenbuße deS Königs mit einer vielleicht noch schwereren Selbstüberwindung beantworten: der Lösung Heinrichs vom Bann.

Gregors politischer Plan wurde dadurch vorläufig vereitelt. Er enttäuschte seine wichtigsten Verbündeten, die rebellierenden deutschen Fürsten, denen der päpstliche Bann als willkommener Vorwand gedient hatte, Heinrich zu entthronen und einen der Ihrigen zu erheben. So ward Canossa zunächst ein taktischer Sieg deS Königs. „Mer wer daraufhin von Heinrich als dem Sieger von Canossa spräche, würde der Bedeutung deS Ereignisses nicht gerecht. Als Gregor gegen Heinrich den Fluch geschleudert hatte, mußte er sich sogleich gegen den Widerspruch wehren, einen König dürfe auch der Papst nicht auSschließen. So dachten unter den Zeitgenoffen die meisten; der Schritt des Papstes war unerhört, ohne Vorgang, darum für Menschen, denen für Recht galt, was hergebracht und üblich war, ein Unrecht. ... Der Widerspruch verlor aber viel von seiner Kraft, seit ein König selbst durch die Tat, wenn auch widerwillig und gezwungen, anerkannt hatte, daß die Sttafgewalt der Kirche vor seinem Thron nicht halt zu machen brauche. Darum wird Canoffa, mag eS auch für den Augenblick dem König einen Gewinn gebracht haben, in der Kette der Jahrhunderte doch der Name für eine der schwersten Niederlagen deS KönigSgedankenS bleiben. Der Anspruch, auf Erden keinem Richter, auch nicht der Kirch« und dem Papst, unterworfen zu sein, daS wahre GotteSgnadentum, ist in Canoffa preisgegeben worden" (Haller).

§34

Gregor u. Heinrich — Das Wormser Konkordat

143

Nach mancherlei Wechselfällen, die mit der schwankenden Haltung der deutschen Fürsten und Bischöfe Zusammenhängen, hat Heinrich schließlich die Kaiserkrönung und den äußeren Sieg über Gregor erreicht. Wenn dieser sich dabei als Märtyrer fühlte („Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und die Ungerechtigkeit gehaßt, deshalb sterbe ich im Elend")/ so war das eine be­ greifliche Selbstbeurteilung; denn nach seinem bewußten Wollen erstrebte er letztlich nichts als die Freiheit der Kirche — so wie er „Kirche" und „Frei­ heit" verstand! Daß er in Wirklichkeit vom Dämon der Machtgier ge­ trieben war und den echten Gedanken christlicher Kirche (Mk. 10,42—45) ins Gegenteil verkehrte, ist ihm in naheliegender Selbsttäuschung nicht bewußt geworden; wohl aber einem aufrichtigen kritischen Freunde, der ihn „den heiligen Satanas" genannt hat (Petrus Damiani). Es gibt zu denken, daß dieser Papst, den man in der romantischen Reaktion nach 1815 als Vor­ bild gefeiert hat (s. u. S.ZY9), erst 1606 von der römischen Kirche heilig ge­ sprochen ist! 3. Heinrich V. mußte, wenn er auch mit kirchlicher Hilfe gegen seinen Vater vorzeitig zur Regierung kam, den Kampf gegen daS Papsttum fortsetzen. Dieser Kampf war ja nicht persönliche Willkür, sondern königliche Pflicht. Dabei wurde einmal der Versuch einer schiedlich-friedlichen Lösung gemacht: die Kirche verzichtet aus allen weltlichen Besitz und Macht, die an den Kaiser zurückfallen; der Kaiser dagegen verzichtet auf die Investitur der auf ihr geistliches Amt beschränkten Bischöfe und ReichSäbte. Diese salomonische Lösung eilte ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus. Sie scheiterte am empörten Widerspruch der Bischöfe, die auf weltliche Macht und Lebenshaltung nicht verzichten wollten, aber auch der Fürsten, die daS ans Reich heimfallenbe Kirchcngut dem Kaiser nicht gönnten! So kam eS (1122) zu dem Wormser Konkordat. In diesem Kompromiß wurde zwar auch zwischen geistlicher und weltlicher Macht der Prälaten unterschieden, sofern der Kaiser mit dem Zeichen deS Szepters die weltliche Macht, der Papst mit Ring und Stab die geistliche übertragen sollte. Dabei behielt aber der Kaiser für Deutschland (nicht für Burgund und Italien) die Möglichkeit eines maßgeblichen Einflusses. Denn 1. sollte in Deutschland die Wahl der Bischöfe und Äbte durch daS zustän­ dige Kollegium der Domherren oder der Mönche erfolgen in Anwesenhest deS Kaisers oder seines Stellvertreters; 2. sollte in Deutschland die kaiser­ liche Belehnung der päpstlichen Investitur vorangehen, so daß die letztere unterbleiben mußte, wenn der Kaiser die Belehnung verweigerte; 3. sollte bei zwiespältiger Wahl der Kaiser dem Recht zum Siege verhelfen (eine Formel, die ihm weitgehenden Einfluß verlieh, weil damals Mehrheitsabstimmung unbekannt war und als zwiespältig jede Wahl galt, gegen die eine Minderheit Einspruch erhob). Dies „Konkordat" ist das erste Beispiel eines Vertrages zwischen Staat und katholischer Kirche, der trotz seinem Namen (herzliche

144

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

Eintracht) gewöhnlich den Keim der Zwietracht in sich trägt, weil die beiden Parteien sich bald über Auslegung und Anwendung entzweien. Diese starken Rechte hat der Sachse Lothar, der als erster deutscher König dem Papste Reitknechtsdienst leiftetete, fast völlig preisgegeben. Friedrich I. (1152—90) aber hat sie sehr schnell in vollem Umfang zurückerobert und auch nach der Niederlage von Legnano im Frieden mit Alexander III. zu Venedig aufrechte rh alten. Er hat somit bis an sein Ende die Verfügung über die deutschen Bistümer und Reichsabteien und damit über die deutsche Staats­ macht (der Sturz Heinrichs des Löwen!) in seiner Hand behalten. 4. Der weltgeschichtliche Kampf schien sich zweimal zugunsten des deutschen Königtums zu entscheiden. Beide Male hat der Tod des jungen deutschen Fürsten den Papst vor der Niederlage gerettet: Heinrich VI. starb auf der Höhe seiner Weltmacht in Sizilien am Fieber. Sein Bruder Philipp wurde, als der Sieg im Bürgerkrieg ihm sicher war, durch Otto von Wittelsbach ermordet. Innozenz III. (1198—1216) verkündete diese Meintat der Welt als ein „Gottesgericht" und erntete ihre Frucht. Dieser Mann, mäßig als Theologe, hochbegabt als Redner und Jurist, als Verwaltungs- und Staats­ mann, unanfechtbar in seiner persönlichen Lebensführung, als Politiker aber so unzuverlässig und tteulos, daß selbst die Italiener ihm nicht tarnten, mit eleganter Bedenkenlosigkeit jedes Mittel zum Ziele benutzend, vom Glück unheimlich begünstigt, konnte das Programm Gregors VII., die kirchliche und politische Weltherrschaft des römischen Papsttums, siegreich durchsühren. Er konnte seine eigenen Leitsätze wahrmachen: „Wie Gott, der Schöpfer, zwei große Lichter an die Feste gesetzt hat, ein größeres, um den Tag, ein kleineres, um die Nacht zu regieren, so hat er zwei hohe Würden eingesetzt, eine größere, die über die Seelen, eine geringere, die über die Körper regiert: die priesterliche Würde und die königliche Macht. Wie aber der Mond von der Sonne sein Licht erhält, so die königliche Macht den Glanz ihrer Würde von der priesterlichen Gewalt."

Das von Innozenz abgehaltene 4. Laterankonzil (1215) war die glän­ zendste kirchliche Heerschau. Fast alle christlichen Herrscher, 412 Bischöfe, 800 Äbte, darunter die Pattiarchen von Jerusalem und Konstantinopel persönlich, huldigten dem Kaiserpapst, der „weniger als Gott, aber mehr als ein Mensch" zu sein meinte und sich nicht scheute, höchste Bibelstellen läster­ lich auf das Papsttum zu beziehen: „Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden" (Mt. 28,18). Ihm werden am jüngsten Tage alle Völker Rechenschaft geben müssen (Mt. 25, 31). Er nennt sich Stellvertteter Christi und Statthalter Gottes auf Erden. Dante dagegen hat mehr als einen Papst in die Hölle versetzt! Beratungen fanden auf diesem Konzil nicht statt. Die öffentlichen Sitzungen dienten nur dazu, die fertigen päpstlichen Dekrete entgegenzunehmen. Wich­ tigste Beschlüsse wurden auf diese Weise verkündet: Die Begründung neuer Orden wurde von päpstlicher Zulassung abhängig gemacht. Die Inquisition

§34

Innozenz III. und der Sieg des Papsttums

145

wurde zu einer von den Päpsten geleiteten kirchlichen Einrichtung gemacht, um die Ketzerei mit allen Mitteln geistlicher und weltlicher Gewalt auSzurotten. In den Dienst der Ketzerbekämpfung trat auch die Verordnung, baß jeder Laie mindestens einmal im Jahre (um die österliche Zeit) die Kom­ munion empfangen und vorher zur Beichte gehen solle. Diese Beichte näm­ lich wurde als Mittel zur Ausforschung nicht nur der Gewissen, sondern auch der kirchlichen Meinungen, also der Ketzerei, gehandhabt; zumal auch die Angeberei zur kirchlichen Pflicht erhoben wurde. Endlich wurde hier die Lehre von der tranSsubstantiatio, der Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, verkündet. DaS war mehr als eine müßige Erfindung von Thcologenköpfen: der Glaube an die Verwandlung wurde das Herz­ stück nicht nur katholischer Lehre, sondern auch katholischer Gläubigkeit und KultuSmyftik; er wurde daS feierlichste Symbol der gottähnlichen Würbe und Macht des Priesters, der irdische Elemente in den Leib Gottes verwandeln kann und damit himmelhoch über alle armen Laien erhaben ist. Innozenz III. ist der Papst, den Walter von der Vogelweide in seinen scharfen politischen Liedern als Erpresser und AuSsauger, als Fehdestifter und ReichSverberber, als neuen Judas und Zauberer mit heißem Zorn an­ gegriffen hat. Im Kampf mit seinen Nachfolgern hat das Kaisertum der Hohenstaufen ttotz den übermenschlichen Anstrengungen Friedrichs II. sich verblutet. ES ist vielleicht die grimmigste Tragödie deutscher Geschichte; denn alle erdenkbaren Waffen, ritterliche und unritterliche, wurden in diesem Kampf heißesten HafseS von päpstlicher Seite inS Feld geführt und von kaiser­ licher Seite erwidert. Gregor IX., der fanattsch leidenschaftliche und hitzige Greis, schilt den Kaiser eine „Bestie" und wird dafür von Friedrich als „Pharisäer, gesalbt mit dem Ole der Bosheit", begrüßt. Der große Kaiser

war völlig illusionSloS: als nach längerer Vakanz einer seiner bisherigen Freunde zum Papst gewählt wurde (Innozenz IV.) und man ihn zu diesem Wechsel beglückwünschte, antwortete er mit dem prophetischen Wort: „Kein Papst kann Ghibelline sein". — DaS Ergebnis war die dauernde Lähmung und Ohnmacht Deutschlands. Die Grundlagen seiner Verfassung waren zerstört. Denn die Prälaten, die Otto I. zu kaiserlichen Beamten und Trägern der staatlichen Macht bestellt hatte, waren jetzt wie die deutschen Fürsten zu weltlichen Territorialherren geworden, aber gleichzeittg zu Beamten beS Papstes, von seiner Willkür abhängig. DaS sollte sich später in der Gegen­ reformation verhängnisvoll auswirken. 5. Die schließliche Niederlage des Kaisertums darf kaum mit äußeren Zufälligkeiten, wie dem vorzeitigen Tode der beiden Hohenstaufen, Heinrichs VI. und Philipps von Schwaben, begründet werden. Als Erklärung genügt auch nicht der Hinweis auf die Treulosigkeit der deusschen Fürsten, denen schon damals Kaiser und Reich ihrer „Libertät" gegenüber nur wenig wogen; ein Urteil, in daS auch manche der zu weltlichen Großen gewordenen io

Schuster, Kirchengefchtchte

146

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

Bischöfe einzubeziehen sind. Es genügt auch nicht der Hinweis auf die skrupel­ losen Mittel päpstlicher Politik. Die waren freilich oft grauenhaft bedenkenlos. Wenn sie die deutschen Fürsten vom Treueide entbanden, so spekulierten sie mit Erfolg auf sehr wenig ehrenhafte Triebe. Dasselbe ist zu sagen über die Aufwiegelung der Volksmassen gegen beweibte Priester und weltlich lebende Prälaten; denn diese Volksmafse beabsichtigte selber durchaus nicht, asketisch enthaltsam zu leben, hielt es aber gerade darum für um so nötiger, daß andere es an ihrer Stelle und zu ihren Gunsten täten! Auch hier wieder hat die päpstliche Politik mit Erfolg auf niedrige, sehr unchristliche Instinkte ge­ rechnet. Das hat alles mitgewirkt; entscheidend aber ist ein anderer Umstand ge­ wesen: Die Ideologie des Papsttums hat sich der Ideologie des König­ tums auf die Dauer überlegen gezeigt. In dieser Ideologie des Papsttums verbinden sich echte und unechte, christliche und heidnische Motive zu einem unlöslichen Gewebe, dessen stärkste Fäden doch wohl abergläubischer Art ge­ wesen sind. Wir haben schon gehört, mit welcher robusten Treuherzigkeit der angelsächsische König (s. oben S. 102) den heiligen Petrus und seinen Nachfolger für den maßgebenden Mann erklärt hat, an den man sich halten müsse, weil er die Schlüssel des Himmelreiches besitze und den Zugang zur ewigen Seligkeit öffnen oder verschließen könne. Darin kommt zum Ausdruck, daß germanische Treuherzigkeit dem Papst eine Bedeutung und Macht zugeschrieben hat, die er bisher selber nicht beansprucht hatte! Die Päpste hatten sich seit Jahrhunderten für die Vorgesetzten aller Bischöfe (und Priester), also für die rechtsetzende Spitze der kirchlichen Verwaltung gehalten, hatten aber nicht die Vollmacht beansprucht, das Gewisien jedes einzelnen Laien zu binden und seine Seligkeit von ihren Weisungen abhängig zu machen. Das haben sie erst von den Germanen gelernt, deren eigentümliche Gabe, alle Dinge zu verinnerlichen und zu vertiefen, hier eine verhängnisvolle Wirkung geübt hat. Es sind noch andere Umstände hinzugekommen, das Ansehen der Päpste zu erhöhen. Bonifatius war gewohnt gewesen, um sein Gewisien zu sichern, für alle möglichen Fragen des kirchlichen Lebens, auch in geringfügigen Äußerlichkeiten, die Entscheidung des Papstes einzuholen. Noch wichtiger wurde wohl die im Mittelalter immer mehr sich durchsetzende (christlich­ ernste) Bußgesinnung und die kirchenrechtliche Bußordnung, wonach die Schuldigen in zweifelhaften Fällen oder bei schwerer Verschuldung sich nicht mit der Autorität ihrer Priester oder Bischöfe begnügten, sondern die Vergewisierung der allerobersten Stelle, des Nachfolgers Petti, erstrebten. (Das alte Volkslied vom Tannhäuser verstößt den Papst in die Hölle, weil er dem reuigen Büßer die Vergebung versagt und ihn dadurch zur Rückkehr in den Venusberg genötigt hat.) Dieser Brauch setzte sich um so mehr durch, als oft die Bischöfe selber die Schuldigen nach Rom verwiesen.

§34

Die Papstibee — Die Kirchentrennung zwischen Ost und West

147

Diese religiöse Autorität der Päpste war weithin unabhängig von ihrer persönlichen sittlichen Würdigkeit; sie ist durch die sittliche Verwilderung zweier Jahrhunderte (von 850—1050) nicht wesentlich erschüttert worden. Es handelt sich ja um keine Autorität christlicher Prägung, sondern hier ist ein starker Zuschuß abergläubischer Vorstellungen wirksam, zusammen­ hängend mit dem Managlauben primitiver Religion, daß in Rom die Gräber der beiden hochheiligen Apostel Petrus und Paulus seien, von deren Reli­ quien geheime Wunderkraft ausgehe. Diese Ideologie des Papsttums ist bis auf die Höhe des Mittelalters im Jnvestiturstreit gewachsen und durch die Kreuzzüge mit einer sichtbaren Gloriole gekrönt. Ähr mußte das Königtum erliegen.

Die Geschichte der christlichen Kirche des Abendlandes ist also noch stärker, als man es bisher zu sehen gewohnt war, durch das germanische Element bestimmt. Das System der Eigenkirchen, dessen Krönung im Änvestiturrecht der Könige zu erblicken ist, bedeutet die durchgreifende Germanisierung der Kirche. Andererseits ist auch die Ideologie des Papsttums erst durch die Gläubigkeit germanischer Menschen mit der religiösen Inbrunst und der hieraus entspringenden dämonischen Macht über die Gemüter ausgestattet worden. Schließlich aber sollte ein deutscher Mönch es sein, der durch Rück­ gang auf das Evangelium die Widerchristlichkeit dieser Papstibee enthüllte und ihre Macht zerstörte. 6. Wie unendlich weit damals die „christliche" Kirche zu Rom wie zu Byzanz vom Evangelium entfernt war, wird erschütternd deutlich durch den Vorgang der endgültigen Kirchentrennung zwischen Ost und West (Juli 1054 unter Leo IX.). Nicht nur, daß die beiden Kirchenhäupter echt heidnisch einander verfluchten; auch die vorgegebenen Gründe des Bruches waren durchaus äußerlich. Kein einziger großer Unterschied in Glauben und Lehre; denn das Wörtlein filioque (der heilige Geist geht aus vom Vater „und vom Sohn"), das sich seit kurzem in den abendländischen Text des Nicänums eingebürgert hatte, wurde von der morgenlänbischen Kirche nicht aus dogmatischen, sondern aus kultischen Gründen abgelehnt, weil es eine unerlaubte Änderung des als Reliquie verehrten hochheiligen Textes bildete. Aber dieses Wort filioque spielte in jenem Streit eine geringe Rolle. Rom verfluchte seinen Nebenbuhler, weil man sich über verschiedene kultische Diffe­ renzen nicht einigen konnte: Genuß erstickter Tiere, Zahl der Fasttage in der Fastenzeit, Gebrauch gesäuerten oder ungesäuerten Brotes beim Abendmahl; vor allem aber, weil der Bischof von Konstantinopel sich dem römischen Bischof nicht fügen wollte: „Als Ketzer gilt bekanntlich jeder, der dem römischen Papst nicht gehorsam ist"!

148

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

§35. Die Kreuzzüge. 1. Än der alten Kirche galt Krieg und Kriegswesen als ein Stück „Welt" und wurde deshalb abgelehnt ober wenigstens mit Mißtrauen betrachtet, zumal der Zwang zur Teilnahme am Götterkult damit verbunden war. In der griechisch-römischen Reichskirche eröffnete das Auftreten Konstantins, der unter dem Zeichen deS Kreuzes den entscheidenden Sieg erfocht und der eben noch schwer bedrängten Kirche die Befreiung brachte, einen Umschwung der Stimmung. Die römische Kirche dagegen, unabhängig von den byzan­ tinischen Kaisern, sich ihrer wie der germanischen Erobererfürsten mühsam erwehrend, bewahrt noch lange die gegen Staat und Krieg zurückhaltende urchristliche Stellung. Ihre soldatischen Heiligen (Sebastian, Mauritius, Georg, Martin) sind nicht wegen, sondern trotz ihres Kriegsdienstes Heilige geworden. Sie geben ihn, Christen geworben, auf. Dem Klerus wird das Waffentragen streng verboten. Auch der Krieger, der in der Schlacht einen Gegner tötet, lädt eine Schuld auf sich, die bisweilen kirchlich gebüßt wurde. Der Eintritt der Germanen in den christlichen Bereich bedeutete für die Kirche ein schweres Problem; denn ihnen war Kampf und Krieg Lebens­ element und höchste Ehre. Die Kirche mußte jetzt irgendwie ein positives Berhälmis zum Waffendienst gewinnen. Dahin drängte auch der ganze Aufbau deS StaatSwesenS. Bischöfe und Äbte, mit reichem Grundbesitz

auSgestattet, wurden LehnSträger gegenüber dem König und Lehnsherren ihrer Hintersaffen. Sie mußten staatliche Ämter und Dienstleistungen über­ nehmen, d. h. sie mußten Kriegsdienst leisten (wenn auch nicht immer mit dem blanken Schwert in der Hand). Die Einfälle der Normannen im Nor­ den, der Ungarn im Osten, der Sarazenen im Süden stempeln diese Kriegs­ wehr zu einem Dienst des Schutzes für Christenheit und Kirche. Die Päpste stellen den Kämpfern ewige Seligkeit in Aussicht. Die Idee des „heiligen KrregeS" wird geboren, zunächst noch als eines Verteidigungskrieges. Der alte Gegensatz zwischen der Militia christiana, dem geistlichen Kampf gegen alles Weltliche und Ungöttliche (Eph. 6,10 ff.), und dem weltlichen Kriegsdienst (Militia saecularis) wird überbrückt. Der Kriegerstand wird „christianisiert", d.h. er wird verkirchlicht. Man scheut sich deshalb auch nicht, den „Gottesfrieden", der das ewige Fehdewesen einschränken sollte, durch heiligen Krieg den Widerstrebenden aufzuzwingen. Bedeutsam für die Verchristlichung deS Kriegsdienstes ist die Tatsache, daß die cluniazensische Re­ formbewegung den Gedanken deS christlichen Rittertums aufgreift. Durch die Autorität der großen Reformbewegung wird der Widerspruch gegen diese dem Neuen Testament widerstreitende Entwicklung der Kirche zum Ver­ stummen gebracht. Schon in vorchristlicher Zeit war mit der Mannbarerklärung deS Jüng­ lings die Ausrüstung mit der volkstümlichen Waffe verbunden, und diese

§35

Militia Christiana

149

Jugendweihe war eine religiöse Handlung. Sie wird jetzt auch als kirchliche Ritterweihe verchristlicht. Der Priester weiht das Schwert mit einem SegenSspruch und verpflichtet den Träger zu „Verteidigung und Schutz für Kirchen, Witwen und Waisen, sür alle Diener Gottes gegen das Wüten der Heiden". Der Bischof verleiht Fahne, Lanze, Schwert und Schild und segnet den Ritter unter Anrufung der Krieger-Heiligen Mauritius, Sebastian und Georg, die jetzt also als aktive, nicht als gewesene Krieger für heilig gelten. 2. Im 10. Jahrhundert geht die christliche Welt von der Verteidigung zum Angriff über: in Spanien, Süditalien, auch in Ostelbien. Die Kirche erliegt der Versuchung, den „heiligen Krieg" als Angriffskrieg zu betreiben und in den Dienst der Mission zu stellen! Die eindringlichen Warnungen Christi (Mk. 12,17; Luk. 22,25f.; Joh. 18,36f.) scheinen ganz vergessen. DaS Kreuzzugszeitalter kündigt sich an. Der erste päpstliche KreuzzugSaufimf (von SergiuS IV.) wird hervorgerufen durch die daS Abendland aufregende Kunde von der Zerstörung der Grabeskirche zu Jerusalem durch den Kalifen Hakem (1010). Der Plan kommt aber nicht zur Ausführung und wirb auch vorläufig nicht wieder ausgenommen; denn die Päpste der nachfolgenden Jahrzehnte sind durch andere finegerische Aufgaben beschäftigt. Der deutsche Reformpapst Leo IX., durch Kaiser Heinrich III. (1049) eingesetzt, ist der erste, der seine Kriege grundsätzlich auS der Religion ab­ leitet. Er führt seinen Normannenkrieg als heüigen Krieg für die Be­ freiung der Christenheit, b. h. der päpstlichen Kurie, verleiht seinem Heere, daS wesentlich auS deutschen Rittern und Söldnern besteht, eine päpstliche Fahne und päpstlichen Ablaß (der erste KreuzzugSablaß und zugleich der Ursprung dieser ganzen unheilvollen Einrichtung!). Die Gefallenen werden als Märtyrer gefeiert. Weder der militärische Mißerfolg seines Unternehmens, noch die aus altchristlicher Überlieferung stammenden Bedenken der Zeitgcnoffen haben den Papst irre gemacht. In Zukunft ändert sich wohl die polififche Tafiik, aber die Idee deS heiligen Krieges wird grundsätzlich festgehalten und westerverfolgt. DaS Papsttum verbündet sich mit den Normannen. Robert GuiScard leistet den LehnSeid als „von Gottes und St. Peters Gnaden Herzog von Apulien und Kalabrien und mit beider Hilfe künftig auch von ©teilten". D. h. Apulien und Kalabrien hat er in Besitz (durch Eroberung), und dieser Besitz soll durch göttliche und päpstliche LehnSherrlichkeit legitimiert werden. Sizilien dagegen will er erst erobern, und diese Eroberung soll durch dieselben Autoritäten geheiligt wer­ den; also heiliger Krieg als Eroberungskrieg optima forma! Für diesen päpstlichen LehenSanspruch aber gab eS keinen RechtStitel als die erdichtete konstanttnische Schenkung! Derselbe heilige Krieg wstd ungefähr gleichzestig in Spanien gegen die Mauren geführt. Die fortschrestende Verweltlichung dieser Idee deS heiligen Krieges tritt besonders drastisch darin zutage, baß die ritterlichen Führer der revoluttonären Mailänder Pataria (s. o. S. 141)

150

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

von den Päpsten mit heiligen Fahnen (Vexillum Sancti Petri) ausgestattet und nach ihrem Tode als Märtyrer gefeiert werden! An diesem Aufschwung des kriegerischen Geistes der Kurie ist Hilde­ brand, der spätere Papst Gregor VII., auf das stärkste beteiligt. Insbesondere geht auf ihn die päpstliche Fahnenverleihung an Wilhelm d. Eroberer zurück (1066). Dieses Unternehmen sollte der Ausdehnung der politischen Macht des Papsttums dienen. Das moralische Recht für diesen Eingriff Gregors in den Streit der Fürsten dieser Welt ist denkbar schlecht. Der Angelsachse Harald war angeblich durch einen exkommunizierten Erzbischof geweiht — ein kultischer Formfehler, der damals schwerer wog als das schlimmste sittliche Verbrechen Denn was sich damals Christentum nannte, war oft nicht mehr als ein leicht verhüllter heidnischer Mana-Glaube. Dazu stimmt dann auch, daß der Fahne St. Peters nicht wenige Normannen folgten, die mit dem altheidnischen Ruf: „Thor hilf!" in den „heiligen Kampf" stürmten! Freilich hat der allesumfassende, überkühne Geist Gregors auch den Plan eines wirklichen Kreuzzuges nach dem Orient gewälzt. Er dachte dabei aber weniger an das heilige Grab als an Hilfe für das schwer bedrängte byzan­ tinische Reich, und als Siegespreis dieser Kriegshilfe winkte das große Ziel einer kirchlichen Unterwerfung des Ostens! Dieser phantastische Plan ist nicht zur Ausführung gekommen, weil innerkirchliche Kämpfe, nicht nur gegen Heinrich IV. von Deutschland, sondern auch gegen Philipp I. von Frankreich, und ähnliche Unternehmungen den streitbaren Papst völlig in Anspruch nahmen. Die Militia Sancti Petri war ihm wichtiger als die Militia Christi, der hierarchische Krieg gegen innerkirchliche Gegner vor­ dringlicher als der Heidenkrieg. Und diese Kämpfe hätte er am liebsten in eigener Person mit eigenem päpstlichen Heer als heiligen Krieg durchgeführt. Die Idee des heiligen Krieges spannt er vor den Wagen des Papsttums. Seinem Wollen nach ist er der kriegerischste aller Päpste: „Mehr als irgendein früherer hat er die Hemmungen überwunden, die die Kirche einstmals von kriegerischer Predigt und kriegerischem Auftreten zurückgehalten hatten; denn er war Kriegsmann ebensosehr wie Priester und Politiker" (Erdmann). 3. Die Kreuzzugsbewegung, die seit Jahrzehnten im Ansteigen war, wurde durch Gregors hierarchische Kriege verzögert, setzte sich aber unter seinem Nachfolger Urban II. siegreich durch. Die tteibende Kraft ist auch bei Urban II. zunächst nicht die Sorge um das heilige Grab, sondern um das Schicksal des byzantinischen Reiches und das Verlangen, die orientalischen Christen von der Gewaltherrschaft der Türken zu erlösen. Aber der Gedanke an das heilige Land, an die Stätten, wo Christus gewandelt, und vor allem an bas heilige Grab, ergriff die Phantasie der christlichen Völker des Abend­ landes mehr und mehr und entfachte die leidenschaftliche Begeisterung, die den Kreuzzugsgedanken siegreich durchsetzte.

§ 35

Militia Sti. Petri — Die Kreuzzugsbewegung

151

In den päpstlichen Sendschreiben und Ansprachen wird das Ehrgefühl der streitbaren Männer aufgerufen, die jetzt nicht mehr gegen Brüder und Ver­ wandte oder gar als Räuber gegen schutzlose Wanderer, sondern als „Streiter Christi" gegen gottlose Barbaren fechten sollen. „Wollt ihr eure Seelen retten, so eilet als Soldaten Christi zur Verteidigung der orientalischen Kirche". Die Teilnehmer werden als Kämpfer Christi, das Kreuzheer als Gottes Kriegsheer, als Christi Kriegerschaft gefeiert. Als Lohn wird ihnen kirch­ licher Ablaß verheißen. Die päpstliche Bulle redet freilich, dogmatisch korrekt, nur vom Erlaß der kirchlichen Bußstrafen. Die allgemeine Meinung, durch die mündliche Predigt genährt, erwartete vom Kreuzzug aber kurzweg Vergebung der Sünden und Errettung der Seele. So heißt es in einem Kreuz­ zugslied: „Wer nur immer dorthin strebt und den Tod dort findet, erwirbt des Himmels Seligkeit und mit den Heiligen ewiges Leben". Andererseits schämte sich Urban durchaus nicht, den kriegerischen Eifer der Mafien auch durch den Hinweis auf die Länder und Reichtümer anzu­ stacheln, die den Ungläubigen abzunehmen seien. So mischte sich naturgemäß bei den Kreuzfahrern mit dem reinen religiösen Enthusiasmus auch roman­ tische Abenteurerlust, Beutegier und Gewinnsucht oder auch der Wunsch verzweifelter Gesellen, den heißgewordenen Boden der Heimat zu meiden. Hier findet sich besonders drastisch die geschichtliche Grunderkenntnis be­ stätigt, daß ein großer Gedanke immer mit sehr irdischem Stoff vermischt werden muß, um für die Mafien Anreiz und Triebkraft zu gewinnen. Deutschland hat sich der Kreuzzugsbewegung zunächst abwartend und ablehnend gegenübergestellt. Das erklärt sich aus der dämonischen Verfäl­ schung des heiligen Krieges zu einem Werkzeug hierarchischer Machtgelüste, womit sich Gregor VII. gerade den Deutschen gegenüber so tief verschuldet hatte. Der erste Kreuzzug (1096—99) war ein Unternehmen der Romanen, der Franzosen und der Normannen. Nur aus dem westlichen Grenzland Lothringen war Gottfried von Bouillon führend beteiligt, und in diesem deutschen Mann brannte die Flamme heiliger Begeisterung so rein, daß er es ablehnte, an der Stelle mit goldenem Diadem geschmückt zu werden, wo sein Erlöser eine Dornenkrone getragen hatte. Erst die glühende Beredsamkeit des burgundischen Heiligen Bernhard von Clairvaux (s. u.) hat die bedenklichen Deutschen aufgewühlt und in den zweiten Kreuzzug (1147) getrieben; sogar den besonnenen König Konrad, den Staufer, riß die Woge der Verzückung mit. Stark ernüchtert und gründ­ lich belehrt über die der deutschen Nation bedrohliche Entwicklung des römischen Papsttums, kam er von dem völlig mißlungenen Unternehmen zurück. Trotzdem hielten die Deutschen, nachdem sie einmal der Kreuzzugs­ idee sich erschlofien hatten, noch lange Zeit mit zäher Treue an ihr fest. Friedrich Barbarossa hat in echter Begeisterung für die Sache, die Be­ freiung des heiligen Grabes und die Sicherstellung des Pilgerweges zum

152

D«r Kampf um die „Freiheit" brr Kirche

heiligen Lande, daS Kreuz genommen (1189); und noch Walther von der Vogelweide hat aus gläubiger Inbrunst in einem seiner letzten Lieder für den Kreuzzug Friedrichs II. geworben. Dieser große Kaiser hat mit seiner fried­ lichen Heerfahrt nach Palästina durch kluge Verhandlung einen greifbaren Erfolg erzielt, der das religiöse Anliegen der Christenheit sicherte: den freien Zugang für alle Pilger zu den der Christenheit denkwürdigen Stätten im heiligen Lande, deren wichtigste, wie Jerusalem, auch staatsrechtlich in den Besitz beS klugen Herrschers gelangten. Dagegen waren die ehrgeizigen und phantastischen Pläne der gleichzeitigen Päpste schon in ihren finanziellen und militärischen Vorbereitungen kläglich gescheüert: Ein anschaulicher Beleg für die Weisheit, daß weltliche Unternehmungen auch unter weltliche Führung zu stellen sind.

4. Die Kreuzzüge begleiten die Geschichte der mittelalterlichen Kirche auf dem Höhenweg zweier Jahrhunderte. Sie werden gewöhnlich als Beweis für die Macht des religiösen Gedankens im Mittelalter und als ein Ruhmestitel der christlichen Kirche betrachtet. DaS Letztere ist nur sehr mit Einschränkung richtig. Wir haben den grob-irdischen Beisatz schon kennengelernt. Aber auch die religiöse Grundidee kann vor der reformatorischen Auffassung beS Evangeliums nicht bestehen: „ES kommt die Zeit, da ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten" (Joh.4, 21 u. 24). Luther hat später drastisch erklärt, Gott kümmere sich um daS heilige Grab wie um die Kühe der Schweiz; er hat alle Glaubenskriege der Kirche für Teufelswerk erklärt. Sn feiner Spur hat Hegel geurteilt: „Am Grabe Christi ist den Christen dasselbe geantwortet worden wie den Jün­ gern, die daselbst seinen Leib suchten: WaS sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden!" „Dom Schwert erkämpft, vom Schwert zerstört — DieS Reich hat nicht dem Christ gehört!" (C. F. Meyer, Der Berg der Seligkeiten.) So sind denn auch, wenngleich Handel und Kultur durch die Kreuzzüge unermeßlich gefördert wurden, die Wirkungen für das kirchliche Leben höchst unerfreulich gewesen. Diese auS einer romantisch-sinnlichen Auf­ fassung deS Christenglaubens hervorgegangene Bewegung hat auch die rohesten und sinnenfälligsten Formen der Frömmigkeit gesteigert: Wunder­ glaube, Aberglaube, Reliquienwesen, betrügerischen Schwindel (wie die angebliche Auffindung der heiligen Lanze in Antiochia) und vor allem den gewinnsüchtigen Ablaßglauben (s.u. S.210f.). Die Teilnahme am Kreuzzug galt als ein militärischer Dienst mit dem Anspruch auf Lohn. Bisher war Italien, jetzt wird bas Morgenland die unerschöpfliche Schatzkammer der meist gefälschten Reliquien. Daneben wurde bei aufmerksamen Beobachtern

§ 35 f.

Die KreuzzugSidee — Bernhard von Clairvaux

153

der Zweifel an der Alleingültigkeil der christlichen Wahrheit geweckt: Boc­ caccios Fabel von den drei Ringen (Lessings „Nathan"), das dem Kaiser Friedrich II. von seinen Gegnern zugeschriebrne Wort von den drei großen Betrügern (MoseS, Christus, Mohammed). Die Verantwortung für die KreuzzugSbewegung ruht vor allem auf den Päpsten. Denn sie (SergiuS, Gregor VII., Urban II-, Eugen III., Innozenz III., HonoriuS uff.) sind die geistigen Anreger und Leiter des phantastischen Unternehmens gewesen, hätten gern auch in eigener Person die militärisch-strategische Führung übernommen. Sie haben auS dem wirk­ lichen ober scheinbaren Erfolg der ersten Kreuzzüge eine ungeheure Steigerung ihrer Macht und Autorität gewonnen; erschienen sie doch nun als die zugleich geistlichen und weltlichen Oberherren der gesamten Christenheit, weit hinauSgehoben über alle Fürsten, Könige und Kaiser. Die Woge dieser Bewegung hat sie zum Sieg auch über daS staufische Kaisertum geführt. Der endgültige Mißerfolg am Ende deS 13. Jahrhunderts versetzte naturgemäß ihrem Ansehen den schwersten Stoß: Er hat den schmählichen Sturz deS Papsttums unter BonifaziuSVIII. (s.u.S. 179f.) vorbereitet.

§36. Die neuen Orden. Die ungeheuren äußeren Erfolge, die daS Papsttum zwei Jahrhunderte hindurch im Kampf sowohl mit dem deutschen Kaisertum wie um die Ge­ winnung deS heiligen Landes erzielt hat, wären unerklärlich, wenn ihm nicht immer wieder neue innere Kräfte zugeführt wären auS dem schier unerschöpf­ lichen religiösen Jungborn deS Mönchtums. Je mehr daS Papsttum eine Herrschaft von dieser Welt wurde und damit die christliche Grundidee ver­ leugnete, desto mehr war eS nach dem Lebensgesetz der Polarität angewiesen auf die echten religiösen Kräfte, die auS einem Mönchtum stammten, in dem der urchristliche Geist der Welt- und Selbstverleugnung immer wieder zum Leben erwachte. 1. Der heilige Bernhard ist für dieses geistige Gesetz der anschaulichste Beleg. Dieser daS kirchliche Leben deS 12. Jahrhunderts beherrschende Re­ präsentant deS Mönchtums stammt aus altem burgundischen AbelSgeschlecht. Durch seinen und seiner Freunde Eintritt in daS junge Kloster Citeaux hat er dieses vor dem Erlöschen gerettet und hat hernach als Abt deS Tochterklosters Clairvaux den Orden der Cisterzienser zu weltgeschichtlicher Bedeutung erhoben (s. u.). Der von chm vertretene TypuS der Frömmigkeit hat auf die Zeitgenossen eine hinreißende Wirkung geübt und die kommenden Jahrhunderte katholischen LebenS geprägt. Mehr als irgendein mittelalter­ licher Theologe (Franziskus war kein Theologe!) hat er die eigentümlich katholische Verquickung von göttlicher Gnade und menschlichem Verdienst durchbrochen mit ergreifenden Zeugnissen für die Allmacht der Barm-

154

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

Herzigkeit Christi (Gottes). Sogar die paulinische Formel von der „Recht­ fertigung des Sünders" findet sich gelegentlich bei ihm. „Du mußt vor allen Dingen glauben, daß du Vergebung der Sünden nicht haben kannst außer durch die Vergebung Gottes; sodann, baß du schlechterdings kein gutes Werk haben kannst, wenn nicht auch dies Er selbst dir gibt; schließlich, baß du das ewige Leben mit keinen Werken verdienen kannst, wenn nicht auch dies dir umsonst geschenkt wird." „Was ist so wirksam, die Wunden des Gewissens zu heilen und die Augen des Geistes zu reinigen, wie die fleißige Betrachtung der Wunden Christi!" „Wer nun, von seinen Sünden beunruhigt, hungett und dürstet nach Ge­ rechtigkeit, der glaube an Dich, der Du den Gottlosen rechtfertigst, und durch den Glauben allein wird er Frieden haben mit Gott." Auch hat B. (schon lange vor Franziskus) den Blick inbrünstiger Liebe und Verehrung auf den Menschen Jesus, den leidenden und gekreuzigten, gerichtet. Mögen auch die berühmten Hymnen auf die Gliedmaßen Christi, die Paul Gerhardt deutsch nachgebildet hat, nicht von ihm persönlich, sondern aus seiner Schule stammen, so sind sie doch der vollgültige Ausdruck seines Passionsglaubens. In dieser Christusmystik oder Christus-Devotion liegt der Ursprung der Passionsmystik und des Passionskultus des ganzen Spät­ mittelalters. Auf ihn geht letztlich auch der auffallende Wandel im Christus­ bild der Kunst zurück: Der romanische Christus-König wird abgelöst durch den zerrissenen Schmerzensmann der Gotik. Man begreift, daß nächst Augustin kein Theologe des Mittelalters stärker als B. auf den jungen Luther gewirkt hat (z. T. vermittelt durch Staupitz, s.u.S. 210,215). Doch wird man kaum sagen dürfen, B. habe schon Goethes „Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist", entdeckt, oder gar, er habe schon vor Luther das Herabsteigen Gottes in die Niedrigkeit als höchsten Beweis seiner Liebe und Herrlichkeit wiedererkannt (Phil. 2; Joh. 15) und so Luthers Kreuzestheologie vorweggenommen. Das Hohelied, das er auf die bräutliche Liebe der Seele zu Christus deutet, während im Neuen Testament (Eph. 5, 25 f.) die Gemeinde als die Braut erscheint, die Christus mit seinem Blut erlöst hat, verführt ihn zu einer geistlichen Erotik, in der die Seele des Menschen mit Christus auf gleich und gleich verkehrt, mehr nach Art ger­ manischer Fullttui-Gläubigkeit als christlichen Glaubens an den Erlöser. Auch tritt dann an Stelle des Leidenden und Entstellten im ausgleichenden Wechsel gern das Bild des „Schönsten unter den Menschenkindern". (Damit

hat B. einen Weg gewiesen, der später, z. B. bei Zinzendorf, zu bedenklichen Verirrungen führte.) Endlich aber unterliegt auch B. mit seiner ganzen Zeit dem gefährlichen Zauber der verkirchlichten neuplatonischen Mystik. Das Letzte und Höchste ist auch ihm das Untertauchen der Seele in den göttlichen Urgrund, wobei der prophetische und neutestamentliche Abstand des sündigen Menschen von dem dreimal Heiligen vergessen wird. Die „fleischliche" Christuöliebe ist nur die letzte Stufe zu dieser pantheistischen

Gottesmystik.

§36

Bernhard und die Cisterzienser

155

Derselbe Mann, der in einer Betrachtung über Luk. 10,38f. Maria als Sinnbild des beschaulichen Lebens preist und sie über Martha, die Ver­ treterin des tätigen Lebens, erhebt, der sich deshalb auch immer wieder zu frommer Betrachtung und strenger Askese in sein Kloster zurückzog, hat doch

aus Kirche und Welt eine ungeheure Wirkung geübt. Er war der Beichwater ungezählter bedrängter Gewissen, zumal der Fürsten und Könige. Er war die treibende Kraft der Kreuzzugöbewegung (s. o.). Er gab dem Templer­ orden Regel und Weihe. Er unterstützte mit der Macht seiner Persönlich­ keit den Kampf für die Freiheit der Kirche, erkannte aber auch deutlich die dem Papsttum drohende Gefahr der Verweltlichung im Streben nach irdischer Herrschaft. Dem Papst Eugen III., seinem früheren Schüler, wid­ mete er eine machtvolle Schrift, die eindringlich vor dem Irrweg warnte, die Hacke des Propheten mit dem Zepter der Könige zu vertauschen, und auf daS unmißverständliche Herrenwort Luk. 22,25 nachdrücklich hinwieS. Die Warnung kam zu spät. Seine eigene kirchenpolitische Tätigkeit ist freilich, von dem unheilvollen Kreuzzugöeifer abgesehen, auch sonst nicht unanfecht­ bar. Päpste nnd Prälaten haben nicht ohne Grund über seine Einmischung in die laufenden Geschäfte geklagt. Der dem Priester besonders gefährlichen Versuchung beS Willens zur Macht ist auch dieser Mystiker öfter erlegen.

Sein Eingreifen in die kirchlichen Dinge steht unter der Last der Zeitvorstellungen. Daö zeigt sich nicht nur in dem völlig gescheiterten zweiten Kreuz­ zug (dessen unglücklicher Ausgang ihm schwere GewifsenSbedenken gemacht hat), sondern noch mehr in den» unsinnigen und verbrecherischen „Kreuzzug" gegen die wendischen Völker östlich der Elbe, dem er seine begeisterte Zustim­ mung gab. Dieses Unternehmen, dessen Parole lautete „Ausrottung oder Bekehrung!", mißlang nicht nur, sondern störte auch die friedliche echte Mission, die hier bereits verheißungsvoll im Gange war. Trotzdem ist Bern­ hard nachzurühmen, daß er mehr als irgendeiner der Heiligen und Theologen des Mittelalters von der Erlösung durch unverdiente göttliche Gnade wußte. Deshalb ist er später auch für Luther ein Wegweiser geworden und von dem deutschen Reformator mit bauernder Dankbarkeit geehrt worden.

2. Die Cluniazenser waren in der Zeit, als ihre Ideen daS Papsttum refor­ mierten und zum Siege führten, selber im Verfall begriffen. ES erfüllte sich an ihnen ein altes Wahrwort über das Schicksal der Klöster: Die Frömmig­ keit verschaffe ihnen Ansehen, daS Ansehen bringe ihnen Reichtum, und der Reichtum verderbe die Frömmigkeit, Oo war eine neue Reform beS Kloster-

lebenS nötig. Sie ging auS von dem burgundischen Kloster Citeaux(Cistercium, 1098). Seinen Aufschwung aber verdankt dieser Orden, wie früher schon erwähnt, dem heiligen Bernhard, dem Abt beS Tochterklosters Clair­ vaux. Um die Mitte beS 12. Jahrhunderts gab eS schon an 300, um 1270 gegen 700 Cisterzienserklöster!

156

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

Die Cisterzienser bilden den ersten eigentlichen Orden des abendländischen MönchtumS, d. h. ihre Klöster stehen nicht wie die der Benediktiner selbständig nebeneinander, sondern sind durch eine strenge Verfassung in fester Nebenund Unterordnung zusammengehalten. Eine sorgfältig auSgeübte Visitation der Töchterklöster durch das Mutterkloster und für dieses wiederum durch die vornehmsten Töchterklöster, verbürgt die Aufrechterhaltung der Jucht. Diese verlangt strengste Askese, größte Schlichtheit der Lebenshaltung, auch in Bau und Ausstattung der Klosterkirchen: kein Turm, sondern nur ein Dachreiter für die Glocke; kein Bilderschmuck; die Formen edler Archi­ tektur die einzige Möglichkeit, künstlerisch zu wirken. Die wirtschaftliche Existenz des Klosters soll nicht auf Renten und Imsen beruhen, sondern auf dem Erttage eigener Arbeit in Ackerbau und Viehzucht. Die strenge Askese fordert, daß diese Wirtschaft in unkulttvierten Gegenden, in wilden Wäldern und weglosen Sümpfen betrieben werde. Dadurch wurden die Cisterzienser ungewollt zu Pionieren wirtschaftlicher Kultur. Da die Vollmönche durch den Chordienst und das beschauliche Leben in Anspruch genommen waren, so wurden Laienbrüder angenommen, die als Ackerknechte und Hand­ werker tätig waren. Im Unterschied von den Cluniazensern, die wesentlich auf die romanischen Länder beschränkt blieben, haben die Cisterzienser sich weit über Deutschland ausgebreitet und sind vorzüglich im deutschen Nordosten zu den Trägern nicht nur der wirtschaftlichen Kultur, sondern auch der Germanisierung und Christianisierung geworden (Walkenried, Schulpforta, Loccum, Lehnin, Chorin usw.). 3n dieser doppelten Aufgabe wetteiferten mit ihnen die Prämonstratenser. Ihr Orden ist freilich auch auf französischem Boden ent­ standen; ihr Stifter aber, der heilige Norbert, ist ein Deutscher, ursprünglich ein Weltgeistlicher vom Niederrhein, dann ein armer Wanderprediger, später Abt und OrdenSoberer, schließlich Erzbischof von Magdeburg. Sie unter­ scheiden sich von den Cisterziensern dadurch, daß ihre Vollmitglieder nicht Mönche, sondern mönchisch lebende Kleriker waren. Sie konnten deshalb als Geistliche sich unmittelbar der Missionspredigt und der Gemeindepflege widmen, mußten sich aber für ihre wirtschaftliche Aufgabe noch mehr auf die Arbeit der Laienbrüder stützen. 3. Die Christianisierung der Wenden war schon durch Heinrich I. vorbereitet und durch Otto I. in Angriff genommen; aber der große Wenden­ aufstand unter Otto II. zerstörte fast das gesamte Werk vom Erzgebirge bis zur Ostsee (s. o. S. 123). Wir wissen wenig von der Religion der Wenden. Haine mit und ohne Tempel, Bilder bisweilen von schwellender Phantastik, Opfer an günstige und feindliche Gottheiten — jedenfalls hat das Volk noch jahrhundertelang an dem überkommenen Glauben festgehalten. Anders als bei den Germanen erweist sich hier die alt« Religion noch unerschüttert.

§36

Prämonftratenser, Wenbennnssion — Ritterorden

157

Die wendischen Völkerschaften zwischen Elbe und Oder setzten der christ­ lichen MissionSprebigt einen hartnäckigen, zähen, teils kriegerisch aktiven, teils verbissen stummen Widerstand entgegen. Der nationale Gegensatz führt zu nicht endenwollenden Kämpfen, die mit allen Greueln deS Volks- und AuSeottungSkriegeS und auf beiden Seiten ohne sittliche Bedenken geführt werden. Der harte Widerstand der Wenden steht in auffallendem Gegensatz zu der Willigkeit, mit der die meisten Germanenstämme sich dem Christentum erschlossen, und zu der tief verstehenden Treue, mit der die durch daS Schwert überwundenen Sachsen das Christentum innerlich ausgenommen und gehegt haben. So erfolgte die Christianisierung dieser Länder (Lauenburg, Mecklen­ burg, Brandenburg, Meißen, Lausitz) nicht eigentlich durch Bekehrung der wendischen Einwohner, sondern durch Eroberung der Lande und Besetzung mit zuwandernden christlichen deutschen Ansiedlern. Kolonisierung, Gerinanisicrung, Christianisierung gingen hier Hand in Hand. Dieser Arbeit haben Heinrich der Löwe und Albrecht der Bär endgültig Bahn gebrochen. Die Herzen der Pommern freilich hat der ehrwürdige und hoheitsvolle Bischof Otto von Bamberg durch friedliche Mission dem Christentum geöffnet (1124). Doch ist auch hier erst durch deutsche Kolonisten hernach daS Land germanisiert und endgültig christianisiert. In Schlesien endlich suchten die (polnischen) Fürsten Anlehnung an Deutschland. Durch sie wurde im 13. Jahrhundert der Strom deutscher Einwanderung nach Schlesien gelenkt. ES wurden deutsche Städte und Dörfer gegründet. So entstand im polnischen Land ein deutsches Kirchenwesen. 4. Eine typisch mittelalterliche Form deS Mönchtums stellen die geist­ lichen Ritterorden dar. In ihnen sind die beiden verschiedenen, oft wider­ streitenden Kräfte der Zeit, Schwert und Bibel, Herrschaft und Dienst, Weltliches und Geistliches, in eigenartiger Prägung verbunden. Die Unter­ schiede bleiben dabei doch deutlich erkennbar. DieJohanniter sind ursprüng­ lich ein Spitalorden zur Pflege kranker Pilger und haben erst nachträg­ lich von den jüngeren Templern den Waffendienst übernommen. Diesen aber vermochte auch der heilige Bernhard kein wirklich geistliches Gepräge zu verleihen. Als sie zu Anfang des 14. Jahrhunderts die Herrschsucht und Gewinngier deS französischen Königs reizten, hat das Papsttum sie preis­ gegeben und als „Ketzer" untergehen lassen. DaS Schicksal deS heiligen Landes vermochten beide schwertgewaltigen Orden nicht aufzuhalten. Ähre dortige Arbeit ist spurlos vergangen. Dagegen haben die Johanniter seit ihrer Übersiedlung nach Cypern, später Rhodos und schließlich Malta (RhodiserMalteser), sich alö Bollwerk gegen die Türken um daS christliche Abendland ein wahres Verdienst erworben. (Der heutige deutsche Johanniterorden knüpft an die älteste Bestimmung der Ritter an, hat aber keinen geschichtlichen Zu­ sammenhang mit ihnen.)

158

Der Kampf um die „Freiheit" der Kirche

Während Templer und Johanniter wesentlich französische Bildungen waren und in Deutschland wenig Boden fanden, ist der sehr viel jüngere Orden der Deutschen Ritter oder der „Brüder vom deutschen Hause unserer lieben Frauen zu Jerusalem" einer deutschen Anregung während des dritten Kreuzzuges entsprungen (1190) und stets eine ausgesprochen deutsche Ordens­ form geblieben. Hermann von Salza, der Freund Friedrichs II-, bringt den Orden zur Blüte. Außer den Stationen im heiligen Lande errichtet der Orden von vornherein auch Spitäler in Deutschland (Nürnberg, Marburg u. a.). Seine weltgeschichtliche Aufgabe findet und löst er in der Eroberung, Germanisierung und Christianisierung des Preußenlandes. Er verschmilzt mit dem Orden der Schwertbrüder, den (1202) der Bremer Domherr Albert von Buxthövden, Bischof von Riga, gegründet hatte, um die Beherrschung und Christianisierung der baltischen Landschaften, Livland, Kurland und Estland, zu vollenden und zu sichern. Durch das Eingreifen des Papstes mehr gehemmt als gefördert, von den deutschen Kaisern nicht beachtet, ist hier durch die Tatkraft weitblickender niederdeutscher geistlicher Herren, Ritter und Bürger, ein großes verheißungsvolles Werk begonnen. Der deutsche Ritterorden erlebte hier im 14. Jahrhundert seine Blüte. Zwei schwere Mängel freilich hafteten dem Werke an und sollten ihm später verhängnisvoll werden. Es war nicht gelungen, das litauische Fürsten­ tum, das 1386 zum Christentum übertrat, in den Ring der Gebiete des deutschen Ordens miteinzubeziehen. In den baltischen Ländern fehlte deshalb der Zustrom deutscher Bauern, der nur auf dem Landweg dorthin zu lenken war, und damit fehlte für die Dauer die ttagfähige Grundlage der deutschen Herrschaft. 5. Soviel phantastische Romantik auch den christlichen Ritterorden anhing, was besonders in den Kreuzzugsunternehmungen zutage trat (s. o. § 35), so bleibt das Rittertum des Mittelalters doch ein herzerhebend großer Beweis für die prägende Formkraft der christlichen Idee. Der Begriff, den wir heute mit dem Wort „ritterlich" verbinden, ist mit einer reichen Fülle edelster Vorstellungen und Empfindungen begnadet; denken wir doch dabei nicht nur an unerschrockene Tapferkeit, Offenheit und Gradheit, sondern auch an Ehr­ furcht vor allem Verehrungswürdigen, insbesondere vor dem Schwachen und Schutzlosen, vor Frauen, Kindern und Greisen, und an selbstverständ­ liche hilfreiche Dienstwilligkeit gegenüber allen, die unserer Hilfe bedürfen, den besiegten, gefangenen oder verwundeten Feind bewußt eingeschloffen. Dieser Sinn aber von Ritterlichkeit ist christliche Prägung germanischer Art. Es war freilich ein edler, aber doch noch ein ungeformter Stoff, der sich in der germanischen Art dem Christentum zur Prägung darbot. Dafür ist das Nibelungenlied ein erschütternd großes Zeugnis. In Hagen Tronje, dem Repräsentanten des am Ende seiner Gläubigkeit, aber noch in ungebrochenem Trotz stehenden germanischen Heidentums, mischt sich in

§36

Das christliche Rittertum

159

grausiger Größe grimmige Tapferkeit mit herzlos unmenschlicher Roheit, hinterlistige Treulosigkeit mit bis zum Tode ausharrender Mannentreue. Der Nibelungendichter bekennt, nachdem er die feige Ermordung Siegfrieds geschildert hat: „So große Missetat ein Held jetzt nimmer mehr begeht." Sie ist fremd dem edlen Rüdiger von Bechlaren, dessen herzzerreißender Seelenkampf ein erschütterndes Zeugnis für die verinnerlichende Macht des christlichen Geistes ist: Was kann ein Mensch geben, womit er seine Seele löse?" (Mk. 8, 37). Sie ist fremd auch dem Dietrich von Bern und seinem getreuen Waffenmeister Hildebrand, der im aufwallenden Zorn über Kriem­ hilds unersättliche Blutgier der „teufelinne" das Haupt abschlägt. Der nordischste unserer deutschen Dichter, Fr. Hebbel, hat am Schluß seiner Neugestaltung den Sinn des Nibelungenliedes deutlich herausgestellt: er läßt den christlichen Ostgotenkönig die Herrschaft, an deren sinngemäßer Ver­ waltung Hunnen und Burgunder gescheitert sind, übernehmen „im Namen dessen, der am Kreuz erblich"! Das größte dichterische Denkmal, wenn auch natürlich in den Formen und Schranken mittelalterlicher Denk- und Vorstellungswelt, für diese Umprägung germanischer Mannhaftigkeit und Treue zu der geistigen Be­ seelung christlichen Rittertums ist Wolframs „Parzival". Die Suche nach dem Gral ist die sehnsüchtige Suche nach Gott; die ver­ säumte Frage des tumben Jünglings beweist, daß er das christliche Geheimnis der Agape, der reinen, gütig teilnehmenden Liebe, noch nicht begriffen hat. Deren Art wirb verdeutlicht durch den Konttaft des irdischen Eros, der-in den unersättlichen Liebesabenteuern Gawans verkörpert wird. — So tief der „Parzival" mit christlichem Geist durchttänkt ist, so fern steht ihm Kirche, Papst und Klerisei. Der Dichter geht wie selbstverständlich stillschweigend an ihnen vorbei. Das gilt noch mehr für den großen lyrischen und politischen Dich­ ter Walther von der Vogelweide. Ihn hat zeit seines Lebens die schwere Frage beunruhigt, wie weltlich Ehr und zeitlich Gut mit Gottes Gnade zu vereinigen seien. Es ist nur folgerichtig, wenn er als reifer Mann die Nichtigkeit aller weltlichen Dinge schmerzlich erkennt und tapfer bekennt. Und wenn er auch wie zwei große Staufenkaiser den Kreuzzug für christliche Ritterpflicht gehalten hat und damit seiner Zeit verhaftet blieb, so ist er doch ein großer und echter Typ ritterlicher Laienfrömmigkeit (größer und echter jedenfalls als z. B. Ulrich von Hutten). Wer einen anschaulichen Beleg haben will für den langen und mühsamen Weg, der zu durchmessen war, um zu der Höhe christlichen Rittertums zu gelangen, der vergleiche miteinander die beiden folgenden Zeugnisse: die Schilderung der Blutatmosphäre in den Isländer-Sagas, wie sie Artur Bonus, einer der ältesten lebenden Herolde dieser Dichtung, in der Ein­ leitung zu seinem Jsländerbuch gibt, und dagegen Schillers Gedicht „Die Johanniter".

160

Die urchristliche Reform

„Dies Emporkommen vollzieht sich nun auf Island in einer Atmosphäre des Blutdunsteö, die in manchen Geschichten so sehr alles Leben einhüllt, daß sie den Leser bis nahe an die Grenze des Überdrusses heranbrängt... Waffen- und Rechts­

streit, immerfort ineinander übergehend, beherrschen alles Geschehen. Alles ist wie in Blut getaucht. Es ist stellenweise, als hätte man Berichte von Spezialisten

vor sich über die unterschiedlichen Möglichkeiten des Totschlages vom offenen Hieb bis zum niederttächtigsten Meuchelmord durch gedungene Leute. Und ähnlich über

die Möglichkeiten der Rechtsbeugung oder -Umgehung, der Erpressung, Vergewal­

tigung und des kriechenden Verrats." Herrlich kleidet sie euch, des Kreuzes furchtbare Rüstung,

Wenn ihr, Löwen der Schlacht, Akkon und Rhodus beschützt. Durch die syrische Wüste den bangen Pilgrim geleitet Und mit der Cherubim Schwert steht vor dem heiligen Grab.

Mer ein schönerer Schmuck umgibt euch, die Schürze des Wärters, Wenn ihr, Löwen der Schlacht, Söhne des edelsten Stamms, Dient an des Kranken Bett, dem Lechzenden Labung bereitet

Und die niedrige Pflicht christlicher Milde vollbringt. Religion des Kreuzes, nur du verknüpftest in einem Kranze der Demut und Kraft doppelte Palme zugleich.

II. Vie urchristliche Reform. §37. Der Angriff der Armut. Gegen bas verweltlichte Papsttum erhoben sich schon in den Jahrzehnten seines Glanzes und Glückes die Anfänge einer ihm höchst gefährlichen Gegen­ bewegung. Sie entsprang aus einer tief empfundenen, freilich unzureichenden Erfassung des Urchristentums, als sei mit der Armut, der bloßen Besitzlosig­ keit, bas tiefste Wesen des Christentums gettoffen. Zwei Jahrhunderte hin­ durch wurde unter dieser Losung die Feste deS Papsttums bekannt; und die Verteidigung wäre nicht geglückt, wenn ihr nicht noch einmal, zum letztenmal, aus der Schatzkammer des Mönchtums eine Hilfe erstanden wäre, die den Feind mit den eigenen Waffen schlug, allerdings auch das Papsttum nicht unangetastet ließ: die Bettelorden. 1. Der heilige Bernhard wußte keinen höheren Wunsch, als die Zeit zu erleben, in der die Kirche wieder bas Netz auswerfe, um die Seelen, nicht aber um Gold und Silber zu gewinnen (vgl. Luthers Thesen 65 u. 66). Er hatte allen Grund zu dieser Sehnsucht. Denn an der päpstlichen Kurie herrschte schon damals nicht nur unchristliche Üppigkeit, sondern auch eine raffinierte Finanzkunst, durch die sie zur Wechselstube des ganzen christlichen Abendlanbes geworden war und die Empörung der ausgesogenen Völker erregte. Arnold von Brescia gewann seine gefährliche Volkstümlichkeit, weil er forderte, der Klerus solle dem armen Leben Jesu nachfolgen und auf irdischen

§37

Arnold von BreSeiea, Petrus DalbeS, die Katharer

161

Besitz verzichten. Er wurde zum Revolutionär und „Ketzer", weil er den alt­ kirchlichen Maßstab an die entartete Kirche legte, sie danach beurteilte und neu zu gestalten suchte (verurteilt und hingerichtet 1155). Ein Menschenalter später hat (PetruS) Valdes auS Lyon die Verteidigung deS Ideals der Armut wieder ausgenommen. Er wollte die Kirche nicht antasten, ihre Glaubenslehre nicht bestreüen, nur durch sein Beispiel und seine Predigt die Tätigkeit der Kirche ergänzen und auf die urchristliche biblische Bahn zurückführen. AlS sein Erzbischof ihm, dem Laien, die Predigttätigkeit untersagte und der Papst daS Verbot bestätigte, hat er sich freilich an baS Bibelwort gehalten: „Man muß Gott mehr gehorchen denn den Menschen" und kam so in Gegensatz zur Kirche. Doch hielt er die auf Grund seiner Predigt entstandenen Gemeinden an, sich nicht von der Kirche, ihrer Predigt und ihren Sakramenten, zu trennen. Er begründete seine Lebensführung und Predigt auf die Bibel, die er nach katholischer Überlieferung als GotteS Gesetz bettachtete und bitter ernst nahm. Er hatte sich von gelehrten Geistlichen große Stücke in die proven^alische Volkssprache übersetzen lassen und schulte seine Jünger in der Bibelkenntnis so gründlich, daß manche Waldenser daS ganze Neue Testament auswendig wußten. Die Bibel war ihm und seinen Freunden nicht ein Anlaß zur Prä­ gung theologischer Lehrbegriffe, sondern Quelle der Kraft für ein Leben in schlichter Sittlichkeit. Die Bewegung verbreitete sich besonders nach der Lombardei, wo ihr die Mailänder Pataria vorgearbeitet hatte. Sie erfaßte aber auch deutsche Ge­ biete, zuerst am Rhein, dann auch im Südosten, und ist ttotz grausamster Verfolgung (in Sttaßburg wurden 1211 achtzig Waldenser, Männer und Frauen, verbrannt) niemals ganz auSgerottet worden; ihre letzte Auswirkung finden wir in den Gemeinden der böhmischen und mährischen Brüder. 2. Die Katharer dagegen sind wirklich „Ketzer" (katharoi — die Reinen), Jrrlehrer gegenüber der biblisch-kirchlichen Lehre. Mit dem Ideal der Armut und der Welwerachtung verbinden sie eine auS dem manichäisch-gnostischen Dualismus herrührende Lehre von dem Gegensatz zwischen Licht und Finsternis, Geist unb Materie, Himmel und Erbe. Sie kommen von da auS zur Bekämpfung nicht nur der Entartungen deS Kirchenwesens, sondern der ganzen katholischen Kirche, ihrer Lehren und Einrichtungen, und zur Grün­ dung einer eigenen Gegenkirche. Ihr übermächfiger Einfluß, vor allen Din­ gen in Südfrankreich und Oberitalien, wo sie die Existenz der katholischen Kirche schwer bedrohten, beruht aber nicht auf diesen eigentümlichen, dem Orient entstammenden Lehren, sondern auf der radikalen Verttetung der Armut und Entsagung gegenüber der inneren Unwahrheit der verweltlichten und weithin verdorbenen Kirche. Überwunden wurden sie doch weniger mit dem geistlichen Mittel der Predigt und geduldigen Belehrung als mit den Gewaltmaßnahmen der Jnquisifion und der Ketzerkreuzzüge, ii

Schuster, Ktrchengeschichte

162

Die urchristliche Reform

Wenn die Inquisition die Verurteilten der weltlichen Gewalt zur Leibesstrafe auslieferte, so hat sich die Kirche hiermit gegen ihre eigene Vergangen­ heit (und noch die Warnung des heiligen Bernhard) schwer versündigt. Sie gab damit den bösen Instinkten der Volksleidenschaft nach, die wiederholt auch dort, wo ein Kleriker die Verirrten bekehren wollte, altheidnischer Über­

lieferung folgend, den Feuertod forderte. In den Albigenserkriegen (den Kreuzzügen gegen die nach dem Städtchen Albi genannten Ketzer in Süd­ frankreich) nahmen die päpstlichen Legaten den Machthunger weltlicher Fürsten skrupellos in ihre Dienste. „Mit dem zur Schau getragenen Eifer für hohe Ziele verträgt sich aufs beste die nackte Habgier, und der Kampf für Gott und den Glauben wird zum Raubzug auf Hab und Gut von Andersdenkenden." (Haller.) Diese „Ketzer" des 12. und 13. Jahrhunderts, die Waldenser voran, aber auch die allermeisten Katharer, sind nicht Theologen, sondern Laien ge­ wesen. Es handelt sich bei dieser „Ketzerei" nicht um einen Theologenstreit wie bei den chriftologischen Kämpfen der alten griechischen Kirche, sondern um das Verlangen der christlich erzogenen Laien nach Wiederherstellung der christlichen Haltung in Weltbettachtung und Lebensführung. Ein deutscher Theologe hat damals mit Recht gesagt: „Als Ketzer gilt bekanntlich jeder, der der römischen Kirche widerspricht". Die Grausamkeit und Willkür der Ketzerbehandlung hat wiederholt die Empörung und und den Widerstand des Volkes hervorgerufen. Der Ketzerrichter Konrad von Marburg, der grausam harte Beichtvater der heiligen Elisabeth, wurde in der Nähe seiner Vaterstadt von einigen Adligen erschlagen, ohne daß diese dafür vom König bestraft wurden! §38. Die Bettelorden.

1. Franz von Assisi gilt auch im evangelischen Deutschland mit Recht als der liebenswerteste und reinste unter allen Heiligen der katholischen Kirche. Ihn ergriff, ähnlich wie dreißig Jahre vorher Valdes, der Bericht des Evangeliums über die Aussendung der Jünger (Mt. 10) zur opferbereiten Verkündigung der Botschaft vom Himmelreich. Er begann, in der umbrischen Heimat von Ort zu Ort wandernd, Buße, Frieden und das Reich Gottes zu verkündigen. Wenn er dabei auf allen Besitz und jede äußere Lebenssiche­ rung verzichtete und sich mit dem Kleide eines Bettlers begnügte, so war dies Leben in völliger Armut nicht als eine harte Anstrengung und ein saures Opfer gemeint, sondern als eine innere Befreiung durch die Gnade der Nach­ folge des armen Lebens Christi und seiner Apostel. Eine alte Legende erzählt, er habe sich einst von dem fröhlichen Treiben seiner Genossen zurück­ gezogen und sei, in Sinnen versunken, gefragt, ob er sich eine Braut erwählt habe: „Ja", habe er geantwortet, „schöner als ihr ahnt, die heilige Armut".

§ 37 f.

Inquisition — Franz v. Assisi

163

Sein Beispiel zog bald Genossen an, denen er aus schlichten Bibelstellen eine Richtschnur ihrer Lebensführung zusammenstellte. So gewiß er über­ zeugt war, von Gott zu seinem Werk berufen zu sein, und mit diesem Glauben seine Genossen an sich fesselte, so echt war andererseits seine Demut gegen­ über der Kirche und ihren Dienern. Er ehrte die Priester schon um des Meß­ opfers willen, das sie zum Heil der Gläubigen darbringen. Innozenz III. hat ihm deshalb, gewarnt vielleicht durch das böse Beispiel der Zurückstoßung der Waldenser, die erbetene Erlaubnis zur Wanderpredigt nicht versagt (wie die Legende berichtet, überführt durch den Beweis grenzenloser treuherziger Demut). Franz nahm die Armut so ernst wie nur möglich. Ihm war deutlich ge­ worden, daß alle bisherigen Orden von der urchriftlichen Armut abgefallen waren. Denn wenn auch der Einzelne kein Eigentum besaß, das Kloster, die Genossenschaft hatte Grundbesitz, war wohlhabend, oft reich und gewährte ihren Mitgliedern ein gesichertes, bequemes, oft genießerisches oder gar aus­ schweifendes Leben. Er wollte die Armut nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Bruderschaft. Ihre Freiheit von der Sorge sollte nicht im Vertrauen auf irdischen Besitz, sondern auf Gottes Fürsorge begründet sein. Er hat seinen Brüdern nicht den Bettel anbefohlen, sondern sie ange­ wiesen, sich durch Handwerk oder dienende Arbeit in fremden Häusern ihren Lebensunterhalt zu erwerben, nötigenfalls aber sich nicht zu schämen, „vom Tische Gottes" das ihrige zu empfangen. Seine große gläubige Kindlichkeit zeigt sich in der rührenden Liebe zu den Tieren und allen Geschöpfen der Natur. Davon gibt auch sein Sonnengesang und eine Unzahl köstlicher Le­ genden Zeugnis. Er setzte keine feste Niederlassung voraus; denn die Brüder sollten wan­ dern, um überall Buße und Reich Gottes zu verkündigen. Er schuf auch keinen „Orden" mit Vorgesetzten und festen Ordnungen. Er vertraute in allem dem Geist der Demut und der Liebe. Es war ihm tiefste Enttäuschung, daß dieses Ideal auf die Dauer nicht durchzuführen war und deshalb seine Bruderschaft durch den Kardinalprotektor, den der Papst ihm gesetzt hatte, schon zu seinen Lebzeiten zu einer Art von Orden mit fester Regel umgebildet wurde. Er fügte sich in gehorsamer Demut, zog sich aber immer mehr in die Einsamkeit zu Bußübungen und Gebet zurück und erlebte hier, versunken in das Bild des Gekreuzigten, das geheimnisvolle Wunder der Stigmatisation (Nachbildung der Wundmale Jesu an seinem Leibe). Aufgezehrt durch seine

Bußübungen und die innere Glut seines rastlosen Lebens, starb er 1226 in der Portiunculakirche zu Assisi und wurde schon 1228 heilig gesprochen. Giotto und Dante, die beiden Künstler, die an der Schwelle der Renaissance stehen, haben ihn, der selber ein Poet von köstlicher Naivität war, mit ihrer Kunst verherrlicht. Der Protestant wird bei aller Liebe und Bewunderung

nicht vergessen, daß Franz kein Vorreformator, sondern ein demütiger ne

164

Die «»christliche Reform

Sohn der katholischen Kirche war. Zu seinem echten Bild gehören nicht nur Askese und Ekstase, sondern auch sein zweifelloses Festhalten an dem mönchi­ schen Ideal des blinden Gehorsams und der ängstlichen Fernhaltung vom weiblichen Geschlecht, dazu die demütige Verehrung des geweihten Priesters, der das heilige Opfer barbringt. Endlich ist die Imitativ Christi nicht die vom Reuen Testament gewollte Jüngerschaft, weil diese Imitativ gar zu leicht auf die Niederung einer rein äußerlichen Nachahmung herabsinkt. 2. Die freie, vom Geist getriebene Bruderschaft hätte sich schlecht in den Rahmen der hierarchischen Kirche gefügt; der neue „Orden" dagegen entwickelte sich bald zu einer päpstlichen Gardctruppe. DaSIdeal der Armut konnte freilich nicht mehr in völliger Reinheit burchgeführt werden; unter irgend­ einem RechtStitel mußte Eigentum an Kirchen und festen Niederlassungen erworben werden. Doch protestierte eine strenge Richtung unablässig gegen diese Trübung deS ursprünglichen Ideals, und im Vergleich mit den alten Orden konnte die Gesamtheit der Franziskaner als eine eindrucksvolle Dar­ stellung der Armut und Weltentsagung gelten. Sie konnte deshalb der päpst­ lichen Kirche die wirksamsten Dienste leisten im Kampf gegen den Abfall, der durch die dreiste Verweltlichung der Kirche hervorgerufen war. Auch sonst bedeutete der Orden in mehrfacher Beziehung etwas NeueS: 1. Der Lebensinhalt seiner Mitglieder war weniger Weltentsagung um deS eigenen Seelenheils willen, als vielmehr Unabhängigkeit von der Welt im Dienst der Predigt deS Evangeliums an die Welt. 2. Die früheren MönchSniederlasiungen waren fern von den Ortschaften in die Einsamkeit der Wüsten oder der Wälder verlegt; die Franziskaner gingen unter die Menschen, vor­ züglich in die seit den Kreuzzügen volkreich gewordenen Städte, denen «S vielfach an der geistlichen Versorgung durch den WeltkleruS gebrach. 3. Die Dollmönche der alten Orden entstammten, wie z. B. auch der heilige Bernhard, fast ausschließlich der oberen Schicht, dem grundbesitzenden Adel. Die Franziskaner kamen aus dem Bürgertum der Städte und der Bauernschaft des Landes, sie fanden deshalb naturgemäß auch leichter den Zugang zum Herzen des der Kirche entfremdeten Volkes. Ihre Wirksamkeit wurde noch dadurch erweitert, daß sich dem männlichen Orden ein weiblicher Zweig anschloß, die Klarissen, genannt nach ihrer Stifterin, der heüigen Klara, der Freundin deS Franziskus. Die Vermittlung zur Welt bewirkte der sogenannte dritte Orden (Tertiarier), Genossenschaften von Männern und Frauen, die in Ehe und Beruf blieben, aber sonst im Geiste deS Ordens ihr Leben führten. (Heute etwa 3 Millionen Mitglieder!) Schon zu Lebzeiten deS heiligen Franz kamen seine Brüder auch nach Deutschland und gründeten hier in den Städten, durch baS Klima genötigt, bescheidene feste Niederlassungen und eigene Kirchen; als Minderbrüder (Minoriten) oder Barfüßer wurden sie schnell volkstümlich. Manche Gasse in alten deutschen Städten bewahrt ihren Namen. Der größte deutsche Pre-

$38

Die Franziskaner, die Splritnalen, Joachim von Fiore

165

diger des Mittelalters, Berthold von Regensburg, ist aus ihrer Mitte hervorgegangen (f 1272). Mit der Bibel war er gründlich verttaut. Er kannte auch die Werke der besten Kirchenlehrer, wie Augustin und Bernhard. Den kirchlichen Glauben setzte er voraus, aber vom Grübeln über dogmatische Geheimnisse hielt er nichts. Alles lag ihm an der frommen Tat. Er kannte das Volk sehr genau und sagte ihm rücksichtslos die Wahrheit. Er kämpfte gegen die verbreiteten Sünden des Geizes, der Unehrlichkeit, der Unzucht, auch gegen den rohen Volksaberglauben; er predigte Buße und die Aus­ übung der schlichten Tugenden, auf denen die Gesundheit beö Volkslebens beruht. Ungeheuer war der Eindruck, den er machte. Er predigte auf einer Waldwiese oder im freien Feld vor vielen Tausenden und wirkte wie ein alttestamentlicher Prophet. Vor dem Geist der Weissagung, mit dem er die Zuhörer traf, fielen die Sünder nieder, um ihre Schuld zu bekennen und sich aus den rechten Weg letten zu lassen. Ein englischer Zeitgenosse urteilte, er habe durch seine Predigt mehr Segen geschafft als alle übrigen Minortten zusammen (Hauck V 346 ff.). Gegen Ende des Mittelalters sind auch die Franziskaner entartet: die Anweisung, sich nötigenfalls nicht des Bettels zu schämen, verwandelte sich in die Regel des ständigen Bettelns, verdarb damit die Berufsmoral des Volkes und weckte in ihnen selber einen neuen geistlichen Hochmut auf ihre Demutsübung. Das Privileg, überall Beichte hören und predigen zu dürfen, einst eine notwendige Ergänzung der unzureichenden psarramtlichen Seelsorge, zerrüttete später die geordnete Tätigkeit der zuständigen Pfarrer. Der Franziskanerorden hatte sich schon früh in zwei Richtungen gespalten; die „Spiritualen" wollten die Regel und den Geist des Meisters in aller Sttenge fortführen. An den Toten schloß sich deshalb eine Bewegung an, die zum Konflikt mit der Küche drängte. Franz hatte sich wohl als Herold des großen Königs bezeichnet, wollte er doch mit seiner Bußpredigt das Reich Gottes verkünden. Hatte er selber sich also in der Rolle des Täufers, der dem wüderkehrenden Christus vorauögeht, gefühlt, so wird bald nach seinem Tode bei seinen Jüngern das Bestreben sichtbar, ihn über die Rolle des Vor­ läufers zu einer messianischen Gestalt zu erheben: nicht nur als neuer David und Prophet Elias, als Seraph und höchster der Heiligen — als zweüer Christus, als der Weinstock, als der Mensch des anderen Aeon wüd er gefeürt. Seine Jünger werden zu Aposteln, seine Regel zum Buch des Lebens. DaS Wunder der Sttgmatisation ist eS, das diese Erhöhung ermöglicht. Als dann die apokalyptische Bewegung des AbteS Joachim von F tote (t 1201), die für das Jahr 1260 den Anbruch des 3. Zeitalters, des heiligen Geistes, verhieß, sich mit der franziskanischen Bewegung verschmolz, da wurde diese in neue radikale Bahnen gelenkt: die Spiritualen erblickten in dem welt­ herrschenden Papsttum den Antichrist, den zu bekämpfen ihre gottge-

166

Die urchristliche Reform

wiesene Aufgabe sei. Sie sind in langem, bitterem Kampf schließlich äußerlich unterlegen. DaS unbußfertige Papsttum aber ist nun vollends verweltlicht. 3. Bald traten mit den Franziskanern die Dominikaner in Wettbewerb. Ihr Sttfter, Dominikus, in Alt-Castilien um 1170 geboren, hat eine gründ­ liche philosophisch-theologische Ausbildung genossen. Als Reisebegleiter eines spanischen Bischofs lernte er in Sübfrankreich die durch das Katharerwesen heraufgeführte Gefahr der Kirche kennen und trat erfolgreich in die Arbeit der Ketzerbekehrung ein, wurde bald der Führer einer kleinen Schar glaubenSeifriger Prediger und erhielt 1216 vom Papst die Bestättgung feines Ordens („Predigermönche"). Er erweiterte dessen Aufgabe im Geist der Franziskaner auf die Predigt­ tätigkeit in der ganzen Welt und übernahm schließlich von ihnen auch den Grundsatz der Armut und beS Bettels, allerdings von vornherein in abge­ milderter Gestalt: die Dominikaner nahmen Eigentum an Kirchen und OrbenShäusern an. Das Ziel der Ketzerbekehrung hielten sie fest und wurden die Hauptwerkzeuge der päpstlichen Inquisition (Domini canes — die Spür­ hunde deS Herrn). Deshalb mußten sie auch in ihren Niederlassungen gründ­ liche philosophische und theologische Wissenschaft treiben und wurden die Vorkämpfer der kirchlichen Theologie, lieferten auch in erster Linie die Profesioren für die jetzt zahlreich entstehenden Universitäten (Paris, Oxford, Bologna usw.). Mit diesem Geist der Wissenschaft erfüllten sie auch die Fran­ ziskaner (entgegen der ausdrücklichen Weisung ihres Stifters, der in der theo­ logischen Wissenschaft eine Gefährdung der Demut und der Liebe witterte). Beide Orden bildeten unterschiedliche Schulen auS, die sich oft hart be­ fehdeten. Die Hauptniederlassung der Dominikaner entstand zu Paris im Kloster deS heiligen Jakob (Jakobiner!). Der ganze Orden trägt ein über­ wiegend französisches Gepräge. Än allen seinen Klöstern wurden für den König von Frankreich Messen gelesen! An diesen Bettelorben sieht man besonders deutlich, wie weit sich das abendländische Mönchtum von der ursprünglichen morgmländischen Ge­ stalt entfernt hat. Dort gingen sie in die Wüste, möglichst als Einsiedler, um durch Weltflucht ihre Seele zu retten. Hier wurden sie Prediger und Träger der Wissenschaft, Vorkämpfer der Kirche in und an der Welt. Wenn auch diese mittelalterlichen Mönchsorden (abgesehen von dem Deutschritterorden) alle romanischen Ursprungs und stark romanischen Geistes sind, so darf man doch annehmen, baß sich auch germanisches Erbe in ihnen geltend macht: Germanisch ist der Trieb zur Tätigkett, sei eS Mission, sei eS Handarbeit in HauS, Garten und Feld, sei eS Predigt und Wissenschaft; germanisch ist auch der besonders in den Orden sich auSwttkenbe Genossenschaftstrieb. Deshalb vermehren sich die Klöster auch in Deutschland außerordentlich stark. Um 900 gab eS in Deutschland rund 70, um 1250 mehr als 500! In den Städten überwogen jetzt durchaus die Bettelorden. ES gab kaum eine

§38

Dominikaner — Spitalorden

167

deutsche Stadt, die nicht eine Dominikaner- oder Franziskanerniederlassung hatte. Auch die Karmeliter, die auf dem Berge Karmel in Palästina ihr Mutterkloster hatten, waren verbreitet, besonders aber die Augu­ stiner, aus denen der Überwinder des Mönchtums hervorgehen sollte. 4. Die Tertiarier der Bettelorben sind nicht das einzige Beispiel halb­ mönchischer Bruder- und Schwesternschaften. Besonders im Dienst der Krankenpflege waren viele Laienkräfte in religiösen Bruderschaften tätig. Johanniter und Deutschritter waren während der Kreuzzüge für diese Auf­ gabe begründet worden. Aber auch alle Klöster hatten ein Siechenhaus, in dem Kranke durch Laienbrüder oder -schwestern gepflegt wurden. Indem diese Ein­ richtungen von den Klöstern gelöst und selbständig gemacht wurden, ent­ standen besondere halbgeistliche Spitalorden, deren Mitglieder meistens aus dem Bürgertum der Städte stammten. Sie nannten sich nach einem Heiligen, der ihr Schutzpatron war (besonders beliebt war der heilige An­ tonius: die Tönniesherren, vgl. Tönniesgasse, Tönniesberg). In diesen Bruderschaften mischten sich christliches Erbarmen mit den Elenden und fromme Selbstsucht, die durch asketische Leistungen den Himmel verdienen will. Besonders zahlreich waren die Spitäler für Aussätzige, während um Epileptische und Irre sich die kirchliche Fürsorge kaum kümmerte. Den Frauen gaben die freien Schwesternschaften der Beginen, um 1200 in Lüttich auf­ gekommen und von Holland aus nach Frankreich und Deutschland verbreitet, Gelegenheit, sich im asketischen Leben zu üben und durch Krankenpflege auch in Privathäusern sich ihren Mitmenschen nützlich zu erweisen. Schließlich kamen manche Spitäler unter städttsche Verwaltung und bildeten den Anfang bürgerlicher Armen- und Krankenpflege. Der germanische Genossenschaftstrieb hat sich im Raum der katholischen Kirche biö zur Gegenwart in immer neuen Formen ausgewirkt: katholische Gesellenver­ bände und Arbeitervereine, marianische Kongregationen, Jugendverbände (s. u. S. 406 u. 494).

§39. Die kirchliche Wissenschaft (Scholastik).

1. Wenn die katholische Kirche die aus ihrer Verweltlichung erwachsene schwere Krise am Anfang des 13. Jahrhunderts siegreich überwand und erst danach zu ihrer höchstm Bedeutung emporstieg, so verdankt sie es dem heiligen Franz und den Bettelmönchen; denn diese lieferten dem Volk den anschaulichen Beweis, daß ttotz Papsttum und Hierarchie die Kraft der Weltüberwindung in der Kirche nicht erstorben war. Und bis zum heutigen Tage lebt die katholische Kirche (wie jede christliche Kirche) von diesen Kräften urchristlichen Geistes, so sehr auch die Träger der kirchlichen Organisation geneigt sind, diesen unsichtbar und still wirkenden Geist zu übersehen und ihre eigene sichtbare, oft allzu geräuschvolle Geschäftigkeit zu überschätzen. Dieser urchristliche Geist war damals so stark, daß er es wagte, den Kampf

168

Die urchrtstliche Reform

auch mit der antiken Wissenschaft und ihrem großen Meister Aristoteles aufzunehmen. Wissenschaft hat es in der mittelalterlichen Kirche immer gegeben. Sie war das Erbe Augustins. Karl b. Gr. hat mit Bewußtsein der Kirche die Pflege der Wissenschaft zur Aufgabe gesetzt. Sie bestand lange Zeit im Wesentlichen darin, daß man die Schätze der altkirchlichen Wissenschaft, der Kirchenväter, überlieferte und sich aneignete. Don Aristoteles kannte man zunächst nur wenige Schriften auö dem Gebiet der Logik. Erst im Beginn des 13. Jahr­ hunderts werben auf dem Umweg über die islamischen Gelehrten Spaniens die meisten und wichtigsten Schriften des Aristoteles in der abendländischen Kirche bekannt. Sie haben den abendländischen Völkern zunächst eine ungeheure Erweiterung des wissenschaftlichen Gesichtskreises und ftuchtbare Anregung gebracht, haben z. B. ein ganz neues Interesse für Naturwissenschaften ge­ weckt. Wir beobachten bas an dem größten brutschen Gelehrten des Mittel­ alters, dem Dominikaner Albert (meistens tätig in Köln, f 1280). Erst später hat Aristoteles, weil man ihn für alle Wissensgebiete nach der Weise des Mittelalters als letzte und entscheidende Autorität betrachtete, die stete Forschung in weltlicher und kirchlicher Wissenschaft belastet und eingeengt. So wurde bann vielfach die „Scholastik" zum Zerrbild echter Wissenschaft. 2. Scholastik heißt Schulwissenschast. Damit ist zunächst nur gesagt, baß sie in Schulen betrieben wurde. Ihre Eigenart besteht darin, daß sie nicht freie Forschung treiben will, nicht nach einer unbekannten Wahrheit sucht (vgl. Lessing S. 359), sondern die Wahrheit als gegeben voraussetzt. Diese Wahrheit liegt vor in der kirchlichen „Überlieferung", die sich auf Bibel und Kirchenväter stützt. Diese vorliegenden Sätze der Wahrheit sollen durch die wissenschaftliche Vernunft auSgelegt, bewiesen, miteinander ausgeglichen und in ein System gebracht werden. Wenn Anselm von Canterbury schreibt: „Credo ut intelligam" (ich glaube, um zur Einsicht zu gelangen), so will er damit sagen: die wissenschaftliche Einsicht gründet sich auf die gehorsam angenommene Kirchenlehre; denn auf diese wird der „Glaube" bezogen. Am Anfang der Scholastik steht die naive, ungebrochene Zuversicht, es sei der wissenschaftlichen Vernunft möglich, die ganze Wahrheit der kirchlichen Überlieferung zu begreifen und verstandesmäßig zu durchdringen. Anselm, der „Vater der Scholastik", hat bas an zwei Beispielen auögeführt. 1. Im „ontologischen Gottesbeweis" will er durch bloße begriffliche Bestimmung des Wesens Gottes sein wirkliches Dasein beweisen: Zum Begriff der höchsten Vollkommenheit, die bas Wesen GotteS auSmacht, gehört auch die Existenz; ein Gott, der nicht existierte, könnte nicht den höchstvollkommenen Begriff barstellen; also muß er existieren. Der Fehler in diesem Trugschluß liegt darin, baß die Existenz kein begriffliches Merkmal ist und deshalb nicht durch bloße Verstandesbegriffe, sondern nur durch praftische Erfahrung festzu­ stellen ist; bas hat erst Kant völlig aufgehellt und damit die Empörung der

§39

Scholastik: Anselm, Thomas v. Aquino

169

scholastisch gebliebenen katholischen Theologie der Neuzeit geweckt. Daß ein Gott, dessen Existenz bewiesen werden müßte ober könnte, niemals der Ewige und Allmächtige sein kann, ist dieser Theologie nicht aufgegangen. 2. An der Schrift: „Cur Deus Homo?“ (Warum ist Gott Mensch geworden?) will Anselm mit den germanischen Denkformen von Wergeld und Stell­ vertretung nachweisen, daß Gott in Christus habe Mensch werden müssen, um mit seinem unendlich wertvollen unschuldigen, freiwilligen Sterben der ewigen Majestät Gottes die zureichende Sühne zu leisten für deren unend­ liche Verletzung durch die menschliche Sünde. Dabei bedenkt A. aber nicht, daß es sich hier handelt um „das ewige Erbarmen, bas alles Denken über­ steigt". Wenn ein Schüler Anselms meinte, der ganze Christenglaube lasse sich als vernünftig und denknotwendig auch den Heiden nachweisen, so ver­ kennt er das Wesen deS Glaubens (Hebe. 11,1). Er hat diesen Versuch mit dem Leben bezahlt: Die Mauren erschlugen den Schwärmer der Vernunft. Die Scholastik erreicht ihre zweite Stufe und ihre Höhe in Thomas von Aquino (aus italienischem Grafengeschlecht, 11274), dem berühmtesten Lehrer der Dominikaner, dem Mustertheologen der heutigen katholischen Kirche (vgl. u. S. 406). Er maßt sich nicht mehr an, die tiefsten Geheimnisse der Gottheit vernünftig zu ergründen. Er baut die Kirchenlehre in zwei Stock­ werken auf: ES gibt Glaubenslehren, die der natürlichen Vernunft zu­ gänglich sind, die mit Hilfe des Aristoteles erkannt und bewiesen werden: bas Dasein Gottes, die moralischen Grundgesetze, die Unsterblichkeit der Seele und die menschliche Verantwortlichkeit (die sog. „natürliche Religion" der Stoiker und der Aufklärung); er unterscheidet davon die eigentlich christ­ lichen Geheimnisse, die übervernünftig und nur durch Ostenbarung dem Glauben zugänglich sind: die Lehren von der Trinität und den zwei Naturen Christi, von der Kirche und ihren Sakramenten. Thomas war ein Meister kluger Vermittlung. Er hat Philosophie und Theologie, Vernunft und Offenbarung, Misten und Glauben, Welt und Kirche, Aristoteles und Christus, menschliche Freiheit und göttliche Allmacht, Werke und Gnade scheinbar so gerecht und sicher gegeneinander abgewogen und miteinander ausgeglichen, daß die katholische Kirche bis heute in dem übersichtlichen System seiner „Summa", daS auch für Wunder und Mystik Raum hat, die Darstellung der endgültigen Wahrheit erblickt. Er hat die im kirchlichen Kampf durchgesetzte Vorstellung von der Herrschgewalt des Papstes als deS Stellvertreters Christi und seiner lehramtlichen Unfehlbarkeit theologisch begründet. Er weiß auch daS Verhältnis von Staat und Kirche mit überlegter Sorgfalt theologisch zu bestimmen, so daß dem Staat, der nicht bloß aus der Sünde geboren ist, ein gewister Eigenwert zugesprochen wird, sein letzter Endzweck aber doch der Kirche, der Repräsentantin der Gotteöherrschaft, untergeordnet wird. Den kirchlichen Brauch der Abläste hat er unterbaut durch die Lehre von dem Schatz der überschüssigen Verdienste

170

Die urchristliche Reform

Christi und der Heiligen, aus dessen unerschöpflicher Fülle die Kirche alle Mängel der Gläubigen zu decken vermöge. Dem Scharfsinn der franziskanischen Theologen am Ausgang des Mittelalters entging es aber nicht, daß auch die natürlichen Wahrheiten im Grunde nicht streng beweisbar, die übernatürlichen aber nicht nur über­ vernünftig, sondern widervernünftig sind. Ihnen erschien deshalb das Wesen Gottes letztlich nicht als erhabene Weisheit, die wir anbetend ver­ ehren (so Thomas), sondern als ein dunkler, unergründlicher Wille, dem wir uns gehorsam unterwerfen: Credo quia absurdum est (ich glaube es, weil es widersinnig ist). Die Versuchung, nach dem Muster gleichzeitiger islamischer Theologie eine doppelte Wahrheit zu lehren (philosophische gegen theologische), wurde überwunden. Man brachte das sacrificium intellectus, opferte seine bessere philosophische Einsicht auf und hielt dies Opfer für besonders verdienstlich. In dieser Theologie ist Luther aufgewachsen, in Aus­ einandersetzung mit ihr ist er zum Reformator geworden. Der Schotte Duns Scotus eröffnet diese dritte Stufe der Scholastik. Sein bohrender Scharfsinn entdeckt die Schwächen im System des heiligen Thomas. Er glaubt nicht mehr an die Fähigkeit der Vernunft, solch ein kunst­ volles System zu bauen, in dem alle Spannungen und Widersprüche aus­ geglichen sind. Grundsätzlich wichtig ist, daß er Gottes Wesen nicht mehr nach griechischer Denkweise als vollkommenes Sein beschreibt, sondern als absoluten Willen. Während Thomas erklärt: „Gott will, was gut ist", be­ hauptet Duns: „Was Gott will, das ist gut". Seine Willkür also bestimmt den Inhalt des Guten. Den hierin liegenden gefährlichen Gedanken einer radikalen Trennung von Glauben und Wissen entwickelt sein Nachfolger, der Engländer Wilhelm von Occam. Doch führt diese Unterscheidung nicht etwa zu einer tieferen Erfassung des Glaubens (im biblischen Sinne als Vertrauen zu der Wundermacht göttlicher Gnade), sondern zu einer starken Veräußerlichung; denn den Gewinn trägt bei diesem Streit zwischen Glauben und Wissen die hierarchische Kirche davon, die mit ihrer Autorität bestimmt, was der Mensch zu glauben habe. Die via moderna führt also zum Mirakel­ glauben, wie er das ganze Spätmittelalter beherrscht (s. u. S. 205 f.). Das Grundproblem der Scholastik lautet: Wie verhalten sich Vernunft und Offenbarung? Die Antworten auf den drei Stufen heißen: 1. Sie decken sich (Anselm); 2. sie ergänzen einander (Thomas); 3. sie widersprechen sich (Duns Scotus und seine Nachfolger). Die Lehre des Thomas von der Ergänzung ist die maßgebliche geworden. Diese Addition entspricht am besten der katholischen Heilslehre, wonach menschliches Werk und göttliche Gnade zusammen das Heil beschaffen. 3. Die christliche Kirche besaß von jeher eine Reihe heiliger Handlungen, die, mit dem Schauer des Geheimnisses umgeben, den Gläubigen Gottes Segen vermitteln: Sakramente. Taufe und Abendmahl waren weitaus die

§39

Spätscholastik — Sakramente

171

wichtigsten. Ihre Zahl vermehrte sich aber im Mittelalter so beträchtlich. Laß ihr Wert darüber zu verblassen begann. Deshalb suchte man nach einer Beschränkung der Zahl. Der Scholastiker Petrus Lombardus (f 1160) hat zuerst die in der katholischen Kirche bis heute gültige Siebenzahl abge­ grenzt : Taufe, Abendmahl, Buße, Firmung, Priesterweihe, Ehe, letzte Hlung. Ein sachlicher Grund für gerade diese Zählung ist nicht nachweisbar (die Ehe als Sakrament überrascht, weil sie der allgemeinen kirchlichen Hoch­ schätzung der Jungfräulichkeit und des Zölibats widerspricht); maßgeblich war vermutlich die allgemeine Schätzung der heiligen Siebenzahl (sieben Bitten im Vaterunser, sieben Worte am Kreuz, sieben Kardinaltugenden usw.). Bei dieser Siebenzahl ist es verblieben. Andere heilige Handlungen, wie Bischofsweihe, Königsweihe (s. o. S. 139) und andere Segnungen und Beschwörungen, die einst auch als „Sakramente" gezählt wurden, treten jetzt in den geringeren Rang der „Sakramentalien" zurück. Augustin hatte bei den Sakramenten zwischen dem sinnlichen Zeichen und der inneren geistigen Wirkung deutlich unterschieden und die letztere auf den Glauben zurückgeführt, der nötigenfalls auch der kirchlichen Zeichen ent­ behren könne (vgl. Luther S. 224). Durch die Autorität des heiligen Thomas kam eine realere Auffassung zur Geltung: Das Sakrament ist ein unent­ behrliches Zeichen, das den Menschen selbst heiligt. Es wirkt durch seinen bloßen Vollzug (ex opere operato), ist weder an die Würdigkeit des Spen­ ders noch an den bewußten Glauben des Empfängers gebunden. Durch die Sakramente wird die göttliche Gnade „eingegossen". Diese Gnade wird also nicht wie im Neuen Testament als Gottes barmherziger Wille vorgestellt, der unsern Willen ergreift, sondern mehr als eine stofflich wirkende Kraft, die (wie ein elektrischer Strom) den Menschen durchdringt. Da das Heil des Menschen an den Empfang der Sakramente gebunden ist, diese aber nur durch den Priester wirksam gespendet werden können, so bleibt der Mensch für sein ewiges Heil an die Kirche gewiesen und gebunden. An der Lehre von den Sakramenten beobachten wir, daß die lebendig wachsenden Vorstellungen und Gefühle sowie Sitte und Brauch am Anfang stehen und hinterher erst das theologische Nachdenken sich um eine verstandesmäßige Begründung bemüht; nicht immer mit ausreichendem Erfolg: Der eigentümliche Nutzen oder Segen, den die einzelnen Sakramente dem Empfänger zuwenden, ist durch die Theologie niemals mit voller Deut­ lichkeit bestimmt worden. Aber wenn auch der Laie nicht zu beschreiben vermag, welchen unterschiedlichen Gewinn er der Taufe, der Firmung, der Buße, der Kommunion oder gar der Ehe zu verdanken habe, so wird durch solche theo­ logischen Bedenklichkeiten der primitive, gefühlsmäßige Glaube des katho­ lischen Christen nicht beeinträchtigt. Noch deutlicher ist dieser Sachverhalt bei dem kirchlichen Brauch der Kelchentziehung zu beobachten. Er geht ursprünglich hervor aus der aber-

172

Die urchristliche Reform

gläubischen Angst der Laien, von dem Abendmahlswein, der jetzt ja als Blut Christi gilt, durch Unachtsamkeit etwas zu verschütten. Er wird bestätigt durch den Ehrgeiz der Priester, ein deutliches Vorrecht gegenüber den Laien zu besitzen. Hinterher erst versucht die Theologie eine dogmatische Rechtfertigung, indem sie erklärt, den Laien ginge durch die Kelchentziehung sachlich nichts verloren, da ja im Leibe Christi selbstverständlich baS Blut mitenthalten sei. Auch ein gelehrter Ausdruck (Concomitantia) findet sich ein. 4. Die Scholastik ist keine deutsche Theologie, Deutschland zählt nur Einen großen Scholastiker, den Schwaben Albertus MagnuS (f. o. S. 168). Sonst sind alle Größen ersten Ranges Italiener ober Franzosen, auch Eng­ länder, Schotten oder Iren. DaS ist kein Zufall. Den Deutschen lag die ganze Denkweise der Scholastik noch fern. Der Franzose Abälard (um 1150) hatte die Methode aufgebracht, eine wissenschaftliche Frage derart zu erledigen, daß man wie bei einem RechtSverhör die Zeugen, d. h. die alten Autoritäten, abhörte, ihr Ja und Nein, ihr Für und Wider gegeneinander abwog und durch begriffliche Bearbeitung zum Ausgleich brachte. Den deutschen Theologen jener Zeit erschien diese Methode alS ein formales Spiel mit Begriffen, das den Zugang zur Sache versperrte. Auch schätzen sie mehr die Berufung auf die Bibel als auf die Philosophen und Kirchenlehrer. Einer von ihnen schreibt: „DaS demütige Gewissen erlangt man nicht durch Vertrauen auf die Philosophie, und eine göttliche Heimsuchung ist besser als zehn Kirchenväter". Hier bereitet sich Luthers Theologie, sein Rückgang auf die Bibel und auf die persönliche Glaubenserfahrung, seine leidenschaftliche 2lblehnung beS Aristoteles und seiner Philosophie, schon in der Stille vor.

§40. Die Kunst deS Mittelalters. 1. Die altgermanische Kunst war im wesentlichen schmückender Art gewesen und kannte weder den monumentalen Steinbau noch die Darstellung der menschlichen Gestalt und bedeutender Geschichte. Mit Annahme der Bot­ schaft vom Himmelskönig und seinem Reich erbten die germanischen Völker von den Römern auch die Formen und die Kunst deS neuen Gottesdienstes. Bis auf die Höhe deS Mittelalters steht diese Kunst der christlich-germanischen Völker fast ausschließlich im Dienst der Kirche. Die Gotteshäuser und ihre großarfige Ausschmückung, die heiligen Geräte, Gewänder und Büchcr bringen die Hoheit und Macht deS GotteSreicheS zum Ausdruck, baS von der Kirche geistig gelenft und bestimmt wird. 2. Am Anfang der neuen Kunstentwicklung steht Karl d. Gr., der zugleich mit der Idee deS christlichen Reiches auch die Kunst der alten Welt und Kirche bei seinen Franken heimisch machen wollte. Die Pfalzkapelle in Aachen, mit ihren heute nicht mehr vorhandenen Mosaiken, läßt noch daS südliche Vorbild

$40

Kirchliche Kunst im Frühmittelalter

173

erkennen, dem man sich anzuschließen bemüht. Allein dieser Zentralbau erfüllt zwar als Grabkirch». seinen Zweck; für den christlichen Gottesdienst aber war er weniger geeignet, da in diesem, besonders bei den sakramentalen Handlungen, Bewegung einsetzt. So ist eS kein Wunder, daß die Aachener Pfalzkapelle nur ganz vereinzelte Nachfolger fand. 3. Die altchristliche Basilika schien mehr als der Zentralbau dem gottesdienstlichen Bedürfnis gemäß zu fein. Sie wird die Keimzelle der weiteren Entwicklung. 2lber baS Kirchengebäude ist jetzt nicht mehr nur die festliche Halle, die der christlichen Gemeinde als Versammlungsraum bient. ES ist selbst ein Heiligtum, ein HauS GotteS und seiner Heiligtümer geworden. Die Basilika mit ihrem Eingang im Westen hatte den Besucher an der Hand ihrer Säulen- und Bilderreihen in einem Zuge zum Ziel, zum Altar geführt. Die mittelalterliche Kunst liebt jedoch nicht diese Straffheit und Logik einer strengen Monumentalität. Sie pflegt mit feinem Verständnis das Mannigfaltige, Persönliche und Lebendige eigentümlicher und reicher Gebilde. So wird denn die Einheit der Halle gelockert, indem man versucht, durch ein Querschiff, daö vor dem Chor eingefügt wird, den Raum zu gliedern und (vielleicht nach dem Vorbild der alten PeterSkirche in Rom) Raum für die amtierende Geistlichkeit und den Sängerchor zu schaffen (Plan von St. Gallen, Stiftskirche in HerSfelb). Auch wird daS Ganze gedrungener, dunkler und magischer. Die heitere Säule weicht dem ernsten Pfeiler, und unter den nunmehr erhöhten Chor schiebt man als ein besonderes Heiligtum, zunächst nur in Form eines schmalen Ganges, eine halb unterirdische Gruft­ kirche, die Krypta, in der die Gebeine der Märtyrer und anderer GlaubenShelden ruhen. ES ist dies eine Umgestaltung römischer Märtyrerkirchen, in denen man durch eine Öffnung zu dem Grab deS Märtyrers („Confessio") in der Katakombe hinabschauen konnte. In der karolingischen Zeit bleibt daS alles freilich nur ein Tasten und Suchen, ohne baß sich eine feste Form, ein „Stil", herauSgebilbet hätte; infolge politischer Nöte (Normannen-, Slawen- und Ungarneinsälle) wirb schließlich fast alles Bauen eingestellt, so daß wir aus dem „dunkeln" Jahr­ hundert (850—950) kaum eine Kirche besitzen. 4. Auch von bildender Kunst ist uns auS diesen Zeiten nicht viel über­ liefert, aber das Wenige zeigt unS daS Suchen nach dem Ausdruck deS Charafteristifchen, Menschlichen, tief Erlebten und Einmaligen. Einen gewaltigen Eindruck deS neuen religiösen Empfindens vermitteln die deutschen Kruzifixe der ottonischen Zett. Die altchristliche Kunst hatte den Heiland als blühend schönen Götterjüngling, bann als allmächtigen Imperator ober als unnahbaren, ganz vergeistigten und über alles Irdische hinausgehobenen Herrn der Asketen gezeigt. DaS Gerokreuz in Köln (um 970) bildet Christus dagegen als harten Mann, der sein Schicksal tragt; eS schildert nicht baS zerrissene Empfinden deS späteren gotischen „Schmerzensmannes",

174

Die urchristliche Reform

sondern den düster schweigenden Ernst eines leidenden Menschen, der weder klagt noch sich als Held fühlt, sondern gehorsam ist bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. Ähnlich daS Kreuz von Münster. „In aller Schmach der Entblößung ist dem trotzigen Dulder die Krone noch geblieben. Dieser Christus scheint ein Heerkönig der Sage zu sein." Vgl. die Verse Bernhards v. Clairvaux: In hac cruce stans dirutus, stans immotus in dolore (An dem Kreuz stehst du gemartert, unbeweglich in dem Schmerz). 5. Während in Frankreich die Entwicklung des neuen Baustils ruhig und gleichmäßig weitergeschritten war, so baß wir dort zu Beginn beS 11. Jahr­ hunderts bereits anspruchsvollere Kirchbauten antreffen, mußte in Deutsch­ land fast von neuem begonnen werben. Daß dieser Anfang gleich mit voller Meisterschaft einsetzt, ist das Verdienst des Bischofs Bernward von Hil­ desheim (993—1022), der uns in der Michaeliskirche ein Bauwerk hinter­ lassen hat, daS uns noch heute ein gutes Bild von der Baugcsinnung jener Zeit zu geben vermag. Ihr ähnlich, wenn auch in den Einzelheiten mit mannig­ fachen Abwandlungen, sind in der Folgezeit eine ganze Reihe von Kirchen errichtet worden. An daS Langhaus schließt sich nicht nur im Osten, sondern auch im Westen ein Querschiff und ein Chorquabrat mit ApsiS an. Man betrat die Kirche also von der Seite her und wurde nicht mehr wie in der Basilika in einem Zug« zum Altar geführt. Jetzt werden zwei Richtungspunkte gesteckt, und der Gläubige wird in Spannung versetzt. Der ganze Bau steckt voller Rhythmus, der besonders deutlich durch den sog. Stützenwechsel wirb, d. h. die Seiten­ schiffe werden vom Langhaus nicht durch eine ununterbrochene Säulen­ oder Pfeilerreihe getrennt, sondern eS folgen im Maße beS Jambus oder des Daktylus auf einen Pfeiler immer eine oder zwei Säulen. (ES scheint, daß dieser Stützenwechsel durch die Kaiserin Theophano auS der byzanti­ nischen Kunst nach dem Norden gebracht ist.) In den Querschiffen türmen sich Emporen über Emporen, wo Engelstimmen psallieren und im Verein mit S. Michael den Antichrist bekämpfen. Noch sind diese Kirchen in Deutsch­ land allgemein durch eine flache Holzdecke geschlossen, während in Frank­ reich bereits die Wölbung, zuerst als Tonnengewölbe, dann als Kreuzge­ wölbe, erscheint. Die Krypta, in der noch immer die hervorragenden Männer der Kirche bestattet werben, ist jetzt nicht mehr nur ein dunkler Gang, sondern eine halb unterirdische Halle von ungeheurer Wucht. Auch die Kinder beS 20. Jahrhunderts fühlen, wenn sie eine dieser Krypten betreten (in Quedlin­ burg ober Hildesheim ober die Krypta im Dom zu Speyer mit den Gräbern von acht deutschen Kaisern), etwas von den Schauern der Ehrfurcht jener vergangenen Zeiten. Hier haben Menschen gebaut, die noch die Furcht vor den Dämonen kannten und bas Magische in der Religion noch empfanden. Mit diesen Krypten hat nun aber die Kirche neben dem Ziel beS Altars noch ein zweites, daS Grab, bekommen, und wer will sagen, welches den Gläubigen

§40

Frühe Romanik

175

daS wichtigste war? Der Chorraum, in dem die Priester amtieren, wird, be­ sonders in Klosterkirchen, von der „Laienkirche" durch eine hohe steinerne Schranke, den Lettner, getrennt, so baß die Laien das Geheimnis des Gottes­ dienstes nur ahnen können. Auch von außen betrachtet, ist die Kirche ein steingewordener Rhythmus. Die altchristliche Basilika war nach außen wie baS römische HauS unschein­ bar gewesen, ein reiner Jnnenraum. Jetzt, wo die Kirche selbst ein Heiligtum, ein „Tempel" geworden ist, wirb auch der Außenbau künstlerisch durchge­ arbeitet. Die Kirche wird ein weithin sichtbares Denkmal aus Stein für Gott, für Christus oder für seine Heiligen. Die altchristliche Kunst kannte (wie die ganze antike Baukunst) keinen Turm als organischen Bestandteil deS Baues. Erforderte baS kultische Bedürfnis für die Glocken einen Turm, so wurde er neben baS Gotteshaus gesetzt. Die christliche Baukunst der germanischen Völker verbindet Bau und Turm zu einer Einheit und betont mit der AuSgcstaltung der Türme die Höhenrichtung in zunehmendem Maße. Über der Vierung, d. h. über dem Quadrat, in dem sich Längs- und Querschiff schneiden, erhebt sich jetzt wuchtig ein Glockenturm; Eingang oder Ouerschiff werben durch schlanke Treppentürme flankiert, so daß der Eindruck einer „GotteSburg" entsteht, der am wuchtigsten in der Benebiktinerkirche Maria Laach, besonders reizvoll im Dom zu Limburg mit seinen sieben Türmen Gestalt gewonnen bat. 6. Dieser Reichtum an Abwechselung, wie er durchaus dem germanischen Wesen entsprach, wurde unterbrochen durch die Bauregel, die vom Kloster Cluny in Burgund ausging und durch das Schwarzwalbkloster Hirsau auch nach Deutschland übertragen wurde. Den Cluniazensern mußte ihrem ganzen Wesen nach daran liegen, die Einheit und Macht der Kirche auch in ihren Bauten auSzubrücken. Am glanzvollsten aber zeigt sich diese Macht in feierlichen Prozessionen, die denn auch im Gottesdienst der Cluniazenser einen ungewöhnlich breiten Raum einnehmen. Dafür ist freilich eine Kirche, die den Eingang an der Seite hat, nicht zu gebrauchen. So wird denn in Cluny vor daS große Westtor eine geräumige Vorhalle gelegt, in der sich die Teilnehmer des ZugeS versammeln, um nun durch die Kirche zum Altar zu ziehen und nach der Feier zur Vorhalle zurückzukehren. Daher hier überall die gleichschreitenbe Säulenreihe! Fort auch mit der Krypta! Denn eS gibt nur ein Ziel im Gotteshaus, den Altar, in dem von jetzt ab die Reliquien der Heiligen aufbewahrt werden, während viele Nebenaltäre in den Nischen (Apsiden) wie ein Gefolge den Hauptaltar umstehen. Türme werden jetzt im Osten über dem Ende der Seitenschiffe angebracht, die Glockenstränge bcS DierungSMrmS würden den feierlichen Eindruck stören. 1082—1091 wird in Hirsau eine Kirche St. Peter und Paul, die größte aller dieser Kirchen in Deutschland, errichtet, und zu Beginn deS 12. Jahrhunderts folgt eine Reihe von Kirchen in verschiedenen Gegenden Deutschlands nach (AlpirS-

176

Die urchristliche Reform

bach, Paulinzelle, HamerSleben u.a.). Dennoch bleiben auch späterhin nicht wenige BifchofSkirchen bei der Doppelchörigkeit. An die Stelle der altchristlichen Mosaiken ist in diesen Kirchen die Wand­ malerei getreten. Sie stellt biblische Szenen lebendig erzählend zusammen, wie die Wundertaten Christi in der Georgskirche auf der Reichenau (um 1000) oder gruppiert eine Reihe heiliger Gestalten in feierlicher Monumentalität (Prüfening). Ein einzigartiges Denkmal ist die farbenprächtige Decke aus St. Michael in Hildesheim, die in reicher Gliederung den ganzen Stammbaum Christi vor Augen führt (um 1200). Die Großplastik ist zunächst nur spärlich vertreten. Ihr ältestes Beispiel sind die Bronzetüren am Dom zu Hildesheim (ursprünglich für St. Michael), die den ersten Menschen des Alten Bun­ des (Schöpfung und Sünbenfall) dem ersten Menschen des Neuen Bundes (Verheißung und Erlösung) in 16 Bildern gegenüberstellen (1015). Die Un­ beholfenheit in der Technik steht hier zu der frischen, volkstümlichen Art der Darstellung in einem seltsamen Gegensatz. Sicherer und reifer als in der monumentalen Bilbnerei spricht sich das künstlerische Vermögen in den Werken der Kleinkunst aus, besonders in der Buchmalerei, worin die Schule der Reichenau allen andern voransteht, und in feinen Metallarbeiten (Reliquienschreine, Kronleuchter, Kelche usw.). Die Buchmalerei und der Schmuck der kirchlichen Geräte werden mit dem gleichen religiösen Eifer betrieben wie die weithin sichtbaren Kunstwerke. Namen einzelner Künstler sind unS auS dieser Zeit nicht überliefert. ES lassen sich verschiedene Schulen unterscheiden, deren Überlieferungen nament­ lich in den Klöstern gepflegt werden. Aber auch die großen Bischöfe, wie Bern­ ward von Hildesheim und Otto von Bamberg, sammeln für Bau und Aus­ stattung ihrer Kirchen die Künstler von weit her zu einer Gemeinschaft, deren Einfluß bann durch Gesellen und Nachahmer weiterwirkt. So bildet sich dann ein „Stil" heraus, den man (erst seit 1820!) mit dem durchaus irre­ führenden Namen „romanisch" belegt hat. 7. In der Zeit der Hohenstaufen entfaltet sich die Kultur beS Mittel­ alters zu ihrer höchsten Blüte. ES ist die Zeit der großen Auseinandersetzung zwischen kaiserlichen und päpstlichen Idealen, die Zeit deS Rittertums, baS sich an den fürstlichen Höfen sammelt, die Zeit der beginnenden scholastischen Theologie und Philosophie. Der Reichtum und Glanz dieses ZestalterS kommt auch in der Kunst zum Ausdruck. „Einen ähnlichen Baueifer, eine solche Lust, alte Bauten einzureißen und neue zu erstellen, alte Bauten umzubauen, sie modern auSzuschmücken, eine ähnliche Besessenheit zu malen, zu gießen, zu hämmern, ringsum schöne bedeutende Sichtbarkeit zu schaffen, hat eS in Deutschland kaum je wieder gegeben." Noch im 11. Jahrhundert war der Kaiserdom von Speyer in gewaltigen Maßen von Kaiser Konrad II. begonnen und von seinen Nachfolgern voll­ endet worden. Auf Befehl Heinrichs IV. wurde in diesem Dome zum ersten

$40

Hochromantik — Gotik

177

Male in Deutschland bas Wagnis unternommen, auch bas Mittelschiff zu wölben, worin Frankreich ja schon vorangegangen war. Durch solche Einwölbung, nach der die vielen Kirchenbränbe jener Zeiten geradezu zu rufen schienen, wurde natürlich der Eindruck der Geschlossenheit des Ge­ bäudes bedeutend erhöht. Das Tonnengewölbe, das in Frankreich anfangs versucht worden war, fand in Deutschland keinen Anklang. Man entschloß sich zum Kreuzgewölbe, bas gleichsam eine Durchdringung zweier Tonnen­ gewölbe barstellt. Freilich war solch ein Kreuzgewölbe über einer quadra­ tischen Grundfläche zu errichten, und für die Gliederung des Grundrisses in eine Anzahl von Quadraten war ja durch die bereits vorhandene Vierung die Voraussetzung gegeben. Diese Vierung wird jetzt der Maßstab für das ganze Gebäude, da im Norden, Süden und Osten je ein Quadrat, nach Westen hin drei und mehr an die Vierung angefügt werben. Die Seitenschiffe, halb so hoch und halb so breit wie bas Mittelschiff, enthalten also doppelt so viel kleinere Quadrate wie bas Mittelschiff, so baß ein „gebundenes System" sich hierbei von selbst ergibt. Um den Gewölbeschub aufzufangen, werden Wände und Pfeiler durch Vorlagen verstärkt, so baß die gleichmäßige Fläche der Wand gegliedert wird. So werben gegen Ende des 12. und zu Beginn beS 13. Jahrhunderts die Dome von WormS, Mainz, Bamberg und Naum­ burg reich und prächtig neu erbaut. Alles Dumpfe, Lastende und Strenge des frühen romanischen Stils ist in den Bauten der Hochromanik einer festlichen kraftvollen Schönheit gewichen. Die Kapitelle der Pfeiler und Säulen, anfangs als Würfelkapitelle die Verkörperung von wuchtiger Kraft, erhalten jetzt ausdrucksvollen Schmuck in einer unerhört reichen Abwechselung. Ebenso werben die Türme, Apsiden und Schiffe der Kirche durch Lisenen gegliedert und von langen Friesen um­ kränzt, wobei der tausendfach wiederkehrenbe Rundbogen zum Erkennungs­ merkmal des Stiles wird. Auch in der Anlage des Grundrisses ergeben sich bei aller Gebundenheit doch große Abwechselungsmöglichkeiten, wenn z. B. die Chorgruppe nicht nur im Hauptchor, sondern auch in den Querschiffen durch eine Apsis rund geschlossen wird, so daß fast der Eindruck eines Zentral­ baus entsteht (Maria im Kapitol und St. Aposteln in Köln). 8. Im 12. Jahrhundert geht von Frankreich eine neue Baugesinnung aus. Sie stellt sich bar als eine folgerichtige Weiterentwicklung des romanischen Stils. Die Erfindung des Rippengewölbes ist die technische Neuheit, die dadurch ermöglichte Auflösung der Massen und bas Emporrecken des Baus unter Betonung der senkrechten Linie sind die Kennzeichen dieses Stils, den dieJtaliener den „gotischen", d.h. denbarbarischen,nannten. Die Gegend von Paris (Chartres, ReimS, Amiens) und Nordftankreich ist seine Heimat. Der wuchtige Dierungsturm verschwindet; ebenso die Menge der Türme am Chor. Nur im Westen recken sich zwei gewaltige Turmriesen hinein in die Unendlichkeit. In Deutschland wird bei einigen Bauten auch die Zusammen12 Schuster, Ktrchengeschlchte

178

Die urchriftliche Reform

ballung in einen einzigen Turm (Ulm, Landshut) versucht. Das Gewicht des gotischen Gewölbes ruht nicht mehr auf den Mauern, sondern ganz und gar auf den mächtigen Säulenbündeln der Pfeiler. Aus diesen steigen die das Gewölbe tragenden Rippen empor, die im Spitzbogen Zusammentreffen. Um den Gewölbeschub abzufangen, werden außen Strebepfeiler errichtet, zu denen die Strebebögen den Schub hinüberleiten. Die ruhige Breite der Wand ist jetzt verschwunden. Riesige Fenster treten an ihre Stelle, die eine Überfülle von Licht hereinströmen lasten, so daß sie durch Glasgemälde wieder ge­ dämpft werden muß. Die Schiffe dieser Kirchen werden immer höher und höher. Alle Linien scheinen den Blick und das Herz nach oben reißen zu wollen. Das Kirchengebäude ist so wirklich zu einem Symbol besten geworden, was die Kirche geistig bedeutet. Die strenge Logik, die den Bau in klaren Linien zusammenhält, erinnert an die Ordnung der großen scholastischen Denk­ systeme. Dasselbe Gesetz der aufsprießenden Pfeiler und der spitzbogigen Ver­ bindung, welches das Ganze beherrscht, wiederholt sich in dem Maßwerk der Fenster, in den zackigen Fialen der Strebepfeiler, in jedem Ornament an den Portalen, den Altären und kirchlichen Geräten. Es gibt nur eine einzige, zwingende, „katholische" Ordnung des Glaubens, des Lebens und der Kunst. Daß dieser Stil in vielen protestantischen Kirchen des 19. Jahrhunderts eine, wenn auch dürftige, Wiederbelebung erfahren konnte, ist em Armuts­ zeugnis nicht nur für das künstlerische, sondern auch für das religiöse Emp­ finden der Zeit. Deutschland hat sich der neuen Kunstrichtung eigentlich nur widerstrebend und stoßweise angeschlosten und immer versucht, die Einförmigkeit des Stiles zu lockern. Die ersten rein gotischen Bauten auf deutschem Boden sind die Elisabethkirche in Marburg (1235—1283) und die Liebfrauenkirche in Trier (1240—1260). Dadurch, daß die Bettelmönche ihre Predigtkirchen vielfach in dem neuen Stil erbauten, wurde er dann auch in Deutschland weiter ver­ breitet. Der berühmte, erst im 19. Jahrhundert vollendete Kölner Dom war ganz nach dem Vorbild der Kathedrale von Amiens geplant, hat dann aber bei der Ausführung Erweiterungen (nicht immer zum Vorteil) erfahren. Eins der reifsten und schönsten Denkmäler deutscher Gotik ist das Straßburger Münster, an dem ganze Baumeistergeschlechter, darunter auch Meister Erwin, gebaut haben. 9. Der plastische Schmuck, früher ganz in die Architektur eingefügt, gewinnt in der gotischen Zeit zunehmende Bedeutung, wenn auch zunächst diese Plastik noch durchaus mit dem Gebäude verbunden bleibt. An der Außenfront der Kirchen werden besonders die Portale reich bedacht, z. B. in Bamberg, Straßburg und Freiburg. Hier dringt die ganze Heilslehre der Kirche gleichsam nach außen vor und stellt sich in Bildern und Gestalten jeder­ mann sichtbar vor Augen. Die ganze Fassade wird in der hohen Gvtik

§40

Gotik — Bildende Kunst in Bamberg und Naumburg

179

geradezu ein einziges, reich entfaltetes Portal, das sich weit öffnet und durch eine Reihe nach innen abgestufter Bogen den Ankömmling ins Innere führt. Diese Fassade steht im denkbar größten Gegensatz zur antiken Tempelfront, die mit ihrer geschlossenen Säulenreihe und ihrem geraden, schwer lastenden Gebälk wohl zur Bewunderung, aber nicht zum Eintreten auffordert. In einzelnen Bildwerken dieser Zeit erreicht deutsches Können und Emp­ finden seinen Höhepunkt für Jahrhunderte. Die Elisabeth der Bamberger Heimsuchungsgruppe steht nicht nur ebenbürtig neben den vollendetsten Ge­ wandfiguren der Antike, sondern übertrifft sie durch die tief innerliche Be­ seelung, die aus dem schweren Gegeneinander von Körperlichkeit und Falten­ wurf spricht: in stolzer gebieterischer Abgeschlossenheit scheint sie wie eine Seherin in unendliche Fernen zu blicken. Wie eine Verkörperung des idealen ritterlichen Sinnes wirkt der „Bamberger Reiter"; es ist, als wenn Wolframs Parzival hier Gestalt gewonnen hätte. Ein härteres politisches Herrentum spricht aus den berühmten Stifterfiguren in Naumburg, die — unerhört für kirchliche Begriffe! — mit den Waffen in der Hand an der Stelle des Allerheiligsten stehen, die sonst nur Heiligen vorbehalten ist. Nur aus den kirchlichen Spannungen der Zeit sind diese Bildwerke zu verstehen, ebenso die Passionsdarstellungen am Weftlettner desselben Doms, in denen sich die Frömmigkeit eines Künstlers ausspricht, der vermutlich der Laienfröm­ migkeit der Waldenser näher stand als den kirchlichen Lehren. Daneben offenbart sich hier eine verblüffende Beherrschung der Darstellung des Lebens in allen seinen vielfältigen Abwandlungen. Ehe der Künstler nach Naumburg kam (1249), hatte er bereits im Mainzer Dom gearbeitet (wovon der neuentdeckte St. Martin in Basienheim Zeugnis ablegt). Der Naum­ burger Westchor gibt uns das geschlosienste Bild aus dem 13. Jahrhundert, besonders darum bemerkenswert, weil das Ganze ohne nachträgliche Ver­ änderungen auf uns gekommen ist.

III. Vas Suchen nach neuen Wegen. § 41. Die Krise des kirchlichen Systems.

1. Zur Jahrhundertwende 1300 hat Papst Bonifaz VIII. ein großartiges Jubelfest gegeben und der christlichen Welt für den Besuch der heiligen Stätten in Rom einen besonderen Jubelablaß verkündet. Es war das erste „beilige Jahr", das sich alle hundert Jahre wiederholen sollte, jetzt aber mit jedem Vierteljahrhundert gefeiert wird. Bonifaz fühlte sich auf der Hohe der Macht und glaubte, den französischen König Philipp den Schönen wie den letzten Staufer demütigen zu können. In dem bitteren Streit ver­ öffentlichte er die Bulle „Unam san ctam", in der die Ansprüche des mittel­ alterlichen Papsttums auf Weltherrschaft ihre klassische Formulierung ge­ funden baben.

180

Das Suchen nach neuen Wegen

Aus der Bibelstelle Luk. 22,38 entwickelt er die Lehre von den zwei Schwertern, bi« Gott brr Herr dem Apostel Petrus und seinen Nachfolgern anvertraut habe, ein geistliches, um es selber zu führen: die OberbischofSgewalt in der Kirche; «in weltliches, um eS durch die Hand der Könige und Fürsten führen zu lasten: die Schwertgewalt über alle Welt. Aus einer zweiten, ebenso mißdeuteten Bibel­ stelle 1. Kor. 2,15 folgert er, baß der Papst über alle Dinge zu richten habe, selber aber von niemandem gerichtet werben dürfe (den „geistlichen Menschen" der Bibel­ stelle beutet er auf den vornehmsten Kleriker, den Papst, statt auf den vom Geiste GotteS erfüllten Christenmenschen; die Tätigkeit beS „Richtens" aber bezieht er auf das Amt des verurteilenden und strafenden Richters statt auf die Fähigkeit, eine verborgene Sache zu erkennen und zu beurteilen). Er schließt dies Zeugnis der Anmaßung mit dem lästerlichen Satz: „So erklären, verkünden und bestimmen wir, daß dem römischen Papst untertan zu sein, für jedes menschliche Geschöpf schlechterdings zur Heilönotwenbigkeit gehört!"

Auf diese Überhebung folgte unmittelbar der jähe Sturz. Der Papst hatte

die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Das Zeitalter der internationalen Papst­ gewalt ging zu Ende. Die Völker erwachten zum Bewußtsein ihrer Art und ihres Wertes, der französische Staat voran. Am geschlossenen National­ bewußtsein der Franzosen ist Bonifaz VIII. gescheitert. Der aufsteigende neue Nationalstaat bewachtet eine gewisse Kirchenhoheit als ein Stück der Landeshoheit und duldet keine fremden Eingriffe. König Philipp, der den Papst in seinem Briefe nicht als „Heiligkeit", sondern als „Obernarrheit" angeredet hatte, beantwortete den Bannstrahl mit Überrumpelung und Ge­ fangennahme des Papstes. Körperliche Mißhandlung und seelische Er­ schütterung brachten den Papst zu Tode. Seine Bulle freilich blieb unsterblich. Leo X. hat sie am Vorabend der Reformation (Dezember 1516) ausdrücklich für gültig und verbindlich erklärt. 2. Der zweite Nachfolger des gestürzten Bonifaz, ein französischer Bischof, wurde vom französischen König genötigt, zu Avignon an der Rhone, einem

päpstlichen Besitztum, seinen Sitz zu nehmen. Damit wohnte er im Macht­ bereich des französischen Königs und wurde auch moralisch sein Gefangener: die babylonische Gefangenschaft der Kirche. Für diese schmähliche Abhängigkeit versuchten sich die Päpste durch gesteigerte Anmaßung gegen die deutschen Könige schadlos zu halten. Sie erreichten damit das Gegenteil. Die Kur­ fürsten erklärten am Königstuhl zu Rense, der von ihnen Gewählte sei König auch ohne päpstliche Bestätigung oder Mitwirkung (1338). Und der Luxemburger Karl IV. regelte in der goldenen Bulle (1356) die deutsche KönigSwahl, ohne des Papstes zu gedenken. Die völlige Verweltlichung des Papsttums in Avignon bezeugte sich in der schamlos raffinierten Ausbildung deS Finanzsystems zur Aussaugung der christlichen Völker. Dafür haben die strengen Franziskaner den Papst zum Antichristen gestempelt (f. o. S. 165) und mit schneidend klaren Beweisgründen in kühnen Flugschriften die Sache deS weltlichen Staates gegen die verweltlichte Kirche geführt.

§ 41 f.

Bonifaz VIII., die Reformkonzilien

181

über dem Versuch eines Papstes, dessen Gewissen durch die mahnende Stimme der heiligen Katharina von Siena getroffen war, nach Rom zurück­ zukehren, kam eS zur Kirchenspaltung. Denn nach seinem baldigen Tobe wählten die italienischen Kardinäle einen italienischen, die französischen einen französischen Papst. Das Konzil zu Pisa (1409) vermehrte das Übel, indem eS beide Päpste absetzte und einen neuen ernannte, ohne die genügende moralische Autorität, um die Absetzung auch durchzuführen. Das ergab nicht nur eine Steigerung der finanziellen Bedrückung der Völker, sondern eine unerhörte Belastung und Verwirrung der Gewissen. Nach der verbind­ lichen Lehre des heiligen Thomas ist das ewige Seelenheil abhängig vom Empfang der gültigen Sakramente, vor allem von der Absolution im Buß­ sakrament und von der Wegzehrung der „letzten Ölung". Gültig sind aber

nur die vom rechtmäßigen Priester gespendeten Sakramente, und rechtmäßig ist nur der Priester, der seine Autorität vom Universalbischof der Christenheit, vom Papst, ableiten kann. Drei Päpste, die ihre Gegner mitsamt ihrem An­ hang von Klerikern und Laien im Namen GotteS bannten und verdammten — baö war eine Gewisienszerreißung, die sich bis ins letzte Dorf auSwirkte.

§ 42. Die parlamentarische Reform. Nach dem Vorgang deS großen Konstantin hat der deutsche Kaiser Sigis­ mund, freilich ohne echte innere Vollmacht, da es ihm am letzten Ernst fehlte, eine große allgemeine Kirchenversammlung (ökumenisches Konzil) nach Konstanz am Bodensee berufen (1414—1418). DaS Unheil hatte so un­ geheure Ausmaße angenommen, daß dies Konzil nicht nur zahlreich beschickt und allgemein anerkannt wurde, sondern auch das moralische Ansehen erhielt, die Kirchenspaltung wirklich zu beendigen. Die Völker waren erlöst, als die drei streitenden Päpste endlich abgesetzt wurden und in dem Italiener, dem Kardinal Colonna, ein neuer rechtmäßiger Papst, Marttn V., gewählt war. Er konnte es sich deshalb auch erlauben, das Konzil bald aufzulösen und seine größte Aufgabe, eine gründliche Reform der Kirche, zu vertagen.

Das Konzil selber war von seiner Würde und Bedeutung, die letzte, ent­ scheidende Gewalt in der Kirche darzustellen, voll überzeugt; hatte es doch erklärt, daß dies Konzil seine Gewalt unmittelbar von Jesus Christus emp­ fangen habe und jede Person, welches Standes und welcher Würbe auch immer, auch die päpstliche, ihm zum Gehorsam verpflichtet sei. In diesem Konzil wiederholte sich die altkatholische Auffaffung, wonach die Gesamtheit der Bischöfe die Kirche repräsentieren und regieren soll. Man träumte von einer parlamentarischen Verfassung der Gesamtkirche: alle fünf Jahre solle das Konzil zu gesetzgebender Tätigkeit zusammentreten und dem Papst, als dem Bevollmächtigten des Konzils, Rechenschaft abforbern. So

182

Das Suchen nach neuen Wegen

glaubte man, zu einer gründlichen Reform und zur dauernden Reinerhaltung der Kirche zu gelangen. Erst nach längerer Pause trat das Konzil in Basel wieder zusammen (1431) und machte sich mit Eifer, anfangs unter großen Erwartungen der Christen­ heit, an die Aufgabe einer „Reform der Kirche an Haupt und Glie­ dern". Obwohl vortreffliche Männer, wie der gelehrte und geistvolle deutsche Bischof Nikolaus von Cues, führend beteiligt waren, mißlang das große Werk völlig. Es scheiterte 1. an der Unklarheit und Maßlosigkeit seiner Forderungen; 2. an dem Mangel einer einheitlichen, sicheren Führung; vorzüglich aber 3. an der fehlenden Einsicht, daß eine durchgreifende Heilung nicht durch Reform der äußeren Mißstände, sondern nur durch eine evange­ lische Reformation der Glaubensgrundlage zu erreichen war. So konnte der Papst das Konzil von Basel nach der italienischen Stadt Ferrara „ver­ legen" und in Wirklichkeit auflösen, unter dem willkommenen Vorwand, in Ferrara mit den Abgesandten der griechischen Kirche besser verhandeln zu können, die dringend Hilfe gegen die drohende Türkengefahr begehrten. An die Stelle der erhofften Reform der Kirche tritt die Restauration des Papsttums. Repräsentant des Umschwungs ist Pius II., einst als Enea Silvio Piccolomini reformfreudiger Sekretär des Baseler Konzils und seines Gegenpapstes: „Aeneam reiche, Pium accipite!“ (Äneas dürft ihr ver­ werfen, Pius müßt ihr annehmen). Aber die Päpste der Restauration werden selbst zu italienischen Territorialfürsten: Julius II-, der „Blutsäufer" (Luther). Die Reformbeschlüsse von Basel bleiben im wesentlichen auf dem Papier. Frankreich sicherte sich durch ein Übereinkommen mit dem Papst Geltung der

wichtigsten Beschlüsse und damit Schutz gegen päpstliche Aussaugung. Das deutsche Reich als Ganzes wurde durch die Schwäche des Kaisers Friedrich III. um den Erfolg betrogen. Verschiedene der fast souveränen deutschen Landes­ herren erwarben freilich große kirchliche Vollmachten. So bildete sich in Deusschland der Zustand heraus, den die Reformation — teils als Förde­ rung, teils als Hemmnis — vorfand, daß die Landesherren die Gewalt über ihre Landeskirche beanspruchten.

§43. Gesetzlich-prophetische Reformen.

1. Auf dem Konzil zu Konstanz standen drei Gegenstände zur Verhandlung, nämlich außer der Wiederherstellung der Einheit und der Reform der Kirche noch eine Glaubensfrage. Sie betraf Hus und seinen großen englischen Lehrer, Wiclif. Aus altem Adelsgeschlecht geboren (um 1324), hatte Wiclif in Oxford eine gründliche allgemeine und theologische Ausbildung erfahren und sich bald als akademischer Lehrer und als Prediger einen großen Ruf erworben. In das öffentliche Leben trat er hinaus, als das englische Parla­ ment ihn bei seinem Kampf gegen päpstliche Anmaßung und Aussaugung als

§42f.

Scheitern der Refornr — Wiclif, Hus

183

Sachverständigen hinzuzog. Er vertieft sich dabei immer mehr in die Bibel. An ihrem Maße gemessen, erscheint ihm die Kirche als völlig verweltlicht, weil in Reichtum versunken. Er fordert Rückkehr zur „apostolischen Armut"; damit brachte er die alten besitzenden Orden und die Bischöfe gegen sich auf. Der Papst verurteilte eine Reihe seiner Sätze als irrig, staats- und kirchen­ feindlich. Er aber griff den Papst als den Antichristen an: Die Kirche ist nicht päpstliche Hierarchie, sondern Gemeinschaft der Prädestinierten, d. h. der durch Gottes Ratschluß Berufenen. Auf Grund der Bibel verwirft Wiclif außer Taufe und Abendmahl alle anderen Sakramente, den Zölibat, Heiligen-, Bilder- und Reliquiendienst, Wallfahrten und Fegefeuer. Den schärfsten Stoß führt er mit der Bekämpfung der Transsubstantiation, d. h. des Wahnes, der Priester könne durch das Wort der Wandlung Gott „machen". Jetzt läßt ihn die gesamte Kirche im Stich, nur der König schützt ihn noch. Zur Ausbreitung seiner Gedanken übersetzt Wiclif die Bibel und sendet einfache, in Armut lebende Priester aus: Lollarden (d. h. die „Unkrautsäer", Mt. 13,25), um seine Lehre auszubreiten. Sie werden nach seinem Tode hart verfolgt. Das Konstanzer Konzil läßt seine Gebeine ausgraben und durch Henkershand verbrennen! Unter allen „Vorresormatoren" verdient Wiclif am ersten diesen Namen, da ihm die Bibel höchste und einzige Autorität ist und er eine an die Wurzeln greifende Kritik an der Papstkirche übt. Freilich, an die Reformation Luthers reicht er nicht heran. Ihm ist die Bibel nicht ftohe Botschaft von der Gnade Gottes, sondern nach Weise der altkatholischen Kirche ein strenges Gesetz. So trägt seine Lehre alttestamentlich prophetisches Gepräge; das scheint der englischen Volksart gemäß zu sein; als „GocPs Law“ erscheint dem Engländer durchschnittlich auch heute noch die Bibel. 2. Verwandtschaftliche Beziehungen der Königshäuser führten zu einem Verkehr der Studenten zwischen Prag und Oxford. So kamen Wiclifs Schrif­ ten nach Böhmen und zündeten in der Seele des leidenschaftlichen Tschechen Johann Hus. Um 1370 in Südböhmen geboren, wurde er 1400 Priester, 1402 Rektor der Universität Prag und die bewegende Kraft ihrer Umwand­ lung aus einer deutschen in eine tschechische Hochschule. Aus Wiclifs reichem Schatz übernahm er nur den einen Gedanken von der Kirche als der Gemein­ schaft der Prädestinierten. Mit stürmischer Leidenschaft wandte er diesen Gedanken auf die Gegenwart an und predigte unermüdlich gegen den Papst und den verweltlichten Klerus. Die Frage nach dem Wege zur wirklichen Besserung der Kirche machte ihm wenig Sorge; er war mehr Agitator als Theologe. Um Bann und Interdikt kümmerte er sich nicht, da die fanatische Begeisterung des tschechischen Volkes ihn ttug. Sein Angriff auf die „Kreuz­ zugsbulle" des Papstes Johann XXIII. gegen das Königreich Neapel führte an die Grenze von Revolution und Krieg. Er ließ sich durch Kaiser Sigismund bewegen, seine Sache auf dem Kon-

184

DaS Suchen nach neuen Wegen

stanzer Konzil zu vertreten. Der berüchtigte Geleitsbrief, den Sigismund ihm ausstellte, war nur ein Reisepaß; aber mündlich hatte der Kaiser ihm weitergehende Zusicherungen gegeben, die er später nicht zu halten vermochte. Nach einem unregelmäßigen Prozeßverfahren, in dem Hus freilich sein Ver­ hältnis zu Wiclif nicht befriedigend klären konnte (wieweit er nämlich dessen gefährliche Theologie mitmache), wurde er zum Feuertode verurteilt, den er unter Gebet standhaft erlitt. Die Böhmen rächten den Tod des Märtyrers durch die Greuel der Hussitenkriege, in denen sich religiöser und völkischer Fanatismus übel mischten. Die Hussiten spalteten sich in zwei Gruppen, eine gemäßigte, die Kalix­ tiner (so genannt nach der Forderung des Laienkelches) oder Utraquisten (2lbendmahl sub utraque, d. h. unter doppelter Gestalt) und die radikalen Taborsten (genannt nach ihrer neu gegründeten Festung Tabor). Beiden war die Bibel göttliches Gesetzbuch; doch in verschiedenem Sinn: Die Gemäßigten wollten nur abschaffen, was deutlich der Bibel widersprach, forderten vor allem Abendmahlskelch, apostolische Armut des Klerus und strenge Kirchen­ zucht. Die Radikalen wollten alles beseitigen, waS nicht biblisch zu be­ gründen war; sie endeten im Kommunismus. DaS Baseler Konzil gewann die Gemäßigten durch Zugestänbnisie. Darnach konnten die Radikalen ver­ nichtend geschlagen werden. Ihre gereinigten Reste vereinigten sich mit den Waldensern zu den stillen Gemeinden der böhmischen und mährischen Brüder. Später haben sich viele der Reformation angeschlosien; eine kleine Gruppe von Auswanderern gab Anfang des 18. Jahrhunderts den Anstoß zur Grün­ dung Herrnhuts (vgl. u. S. 332). 3. Unabhängig von diesem Aufruhr ist die Bewegung, die am Ende deS Jahrhunderts Florenz erschüttert hat. Hieronymus Savonarola, 1452 zu Ferrara geboren, verließ als Jüngling die verderbte Welt und wurde Dominikaner. 1482 in das Kloster zu San Marco in Florenz versetzt, erregte er ungeheures Aufsehen durch seine machwollen Bußpredigten. Er verkündigte, die Kirche würde bald gezüchtigt und erneuert werden. Um seines heiligmäßigen Wandels willen wurde er zum Prior gewählt. Die Glorie eines Propheten umleuchtete ihn, als seine Weissagung, ein neuer Cyrus werde über die Alpen ziehen und Italien erobern, sich durch den siegreichen Zug Karls VIII. von Frankreich erfüllte. Sein Ansehen stieg ins Ungemessene; durch sein Wort wurde er der ungekrönte Herr der Stadt und konnte nach dem Swrz der Mediceer unter der Gloriole des Gottesstaates eine von ihm geleitete Volks­ herrschaft aufrichten. Zur Osterzeit 1497 verbrannte er auf hohem Scheiter­ haufen mit dem Plunder der Eitelkeiten und Zuchtlosigkeiten auch werwolle Werke der Kunst. Aber seine Verquickung von Religion und Polittk brachte ihn zu Fall. Durch seine Predigt radikaler Armut reizte er nicht nur den entmenschten

5 43s.

Savonarola — Deutsche Mystik

185

Borgia, der als Alexander VI. den Heiligen Stuhl schändete, sondern auch seinen höchsten Vorgesetzten, den Ordensprokurator, sowie die reichen und mächtigen AdelSgcschlechter der Stadt. Er erlag einer niederträchtigen List: Ein Franziskaner mußte ihn zur Feuerprobe herausfordern. Ihre Ver­ eitelung im letzten Augenblick wurde ihm zur Last gelegt. Die Stimmung deö Volkes, das um ein großartiges Schauspiel betrogen war, schlug um. Er wurde verhaftet, verhört und gefoltert, gehängt und verbrannt. Bartolo­ meo malte sein Bild mit dem Heiligenschein, aber seine Bewegung wurde ausgelöscht. Savonarola ist kein Reformator. Er stand fest auf dem Boden der ka­ tholischen Kirche und ihrer Theologie. Wenn er während der Gefangenschaft in einer Psalmauslegung sein Vertrauen auf die göttliche Gnade setzte, so haben das die wirklich Frommen innerhalb der mittelalterlichen Kirche immer wieder getan. Auch das Papsttum wollte er nicht umstürzen, sondern nur reinigen. Im Geiste eines alttestamentlichen Propheten kämpfte er um Läuterung und Verttefung katholischer Frömmigkeit. Das Autodafe der Eitelkeiten war freilich als Angriff auf die verweltlichte Kunst gedacht, wirkte aber durch sittliche Reinigung als neue Belebung. Die großen Meister der Hochrenaissance stehen alle unter dem Einfluß seines machwollen Geistes.

§ 44. Die deutsche Mystik. Eine wesentliche Vorbereitung der Reformation bedeutet die deutsche Mystik. So fremd den deutschen Theologen im Grunde die Scholastik ge­ blieben ist, so nahe lag ihnen eine daS innerste Gemüt aufwühlende Frömmig­ keit mystischer Art. Die deutsche Mystik verdankt ihren Aufschwung der Tat­ sache, daß der Predigerorden (Dominikaner) mit der Nonnenseelsorge in Deutschland betraut wurde. Er wurde dadurch genötigt, sich der deutschen Sprache zu bedienen und auf die lateinischen Schulausdrücke der Scholastik zu verzichten. Scholastik und Mystik brauchen keine auöschließenden Gegen­ sätze zu sein. Sie sind zwei einander ergänzende Pole. Aber die Mystik, als gefühlsmäßige Erfassung der Religion, kommt nur zu ihrem Recht, wenn die Scholastik, die verstandesmäßig-begriffliche Arbeit, zurückttitt. Deshalb ist es kein Zufall, daß ihr Aufkommen mit der Frauenseelsorge zusammenhängt.

1. Die erste große Vertteterin deutscher Mystik ist Mechthild von Mag­ deburg (etwa 1212—1280). Vor ihr hat es hier und dort Frauen von visio­ närer Begabung gegeben wie die heilige Hildegard von Bingen, deren prophetische Bußpredigt durch Gesichte unterstützt wurde, von denen auch Kaiser Barbarossa stark beeindruckt wurde. Mechthild ist aber mehr fromme Dichterin von ungemein anschaulicher Bildkraft als Visionärin. Sie stammt aus ritterlichem Hause, hat eine gute, aber nicht gelehrte Erziehung genossen, in Magdeburg als arme Begine gelebt und hernach als Tertiarierin

186

Das Suchen nach neuen Wegen

dem Predigerorden angehört. Sn einem Benediktinerkloster bei Eisleben hat sie ihr Leben beschlossen. Eine mystisch-religiöse Poesie ritterlicher Prägung ist ihrer tiefen und reichen Seele entsprungen. Die Verbindung von quellender/ anschaulicher Phantasie mit klarem/ ordnendem Verstand schafft eigenartig vollkommene, künstlerische Gebilde. Der Fisch mag in dem Wasser nicht ertrinken. Der Vogel in der Luft niemals versinken. Das Gold mag in dem Feuer nicht verderben. Denn eö empfängt dort seine Klarheit und helleuchtend Farbe. Gott hat allen Kreaturen bas gegeben, Ihre Eigenart zu pflegen; Wie möchte ich denn meiner Art je widerstehen. Ich muß vor allen Dingen in Gott eingehen. Der mein Vater ist von echter Art.

Oder: Ich bin in dir, du bist in mir. Wir mögen nicht näher sein. Denn wir zwei sind in eins geflossen. Wir sind in eine Form gegossen. Also bleiben wir ewig unverdrossen.

Diese Lieber nähern sich einer Mystik, der die Seele in Gott auf- und unter­ geht. Aber ihre Frömmigkeit ist nicht Pantheismus. Gott und die Seele bleiben unterschieden. Der pantheistisch klingende Ausdruck soll nur die tiefe, innige Gottesliebe bezeugen. Sn dieser Frömmigkeit ist alles ganz persönlich. Hier gilt nur daS eigene innere Erlebnis. So wenig sie als Klosterfrau die Kirche geringschätzt, unbedingt nötig sind ihr Kirche und Sakrament nicht ge­ blieben. Eins nur ist ihr not: der ständige unmittelbare Umgang des Herzens mit Gott. 2. Die höchste und eigenartigste Gestalt der deutschen Mystik bedeutet Meister Eckehart. Geboren aus ritterlichem Geschlecht in Hochheim bei Gotha (spätestens 1260, denn er ist 1327 als „Greis" gestorben), ist er früh dem Dominikanerorden beigetreten, wurde Prior beS Konvents in Erfurt und mit höheren Ämtern im Verwaltungsdienst seines Ordens betraut.

Zur wissenschaftlichen Ausbildung wird er für längere Zeit an die hohe Schule nach Paris enssanbt, wird dann wieder in der OrbenSverwaltung beschäftigt, um nachher in der Lehrtätigkeit in Paris, Straßburg und Köln seine eigent­ liche Aufgabe zu finden. Eckehart war scholastisch gebildeter Gelehrter, noch mehr aber ein aus dem Herzen schöpfender Redner und Prediger. WaS er den Ordensbrüdern und Schwestern mündlich vorgetragen hatte, hat er nachträglich als gelehrtes lateinisches Buch gestaltet. Andererseits haben seine Freunde und Schüler das Gehörte in deusscher Sprache ausgezeichnet. EckehartS Gedankengut ist uns

§44

Mechthild, Meister Eckehart: Leben und Lehre

187

also in deutschen und lateinischen Schriften erhalten; jene als Abhandlungen und Predigten, die letzteren meist in der Form gelehrter Bibelaus­ legung. Die deutschen Schriften liegen im Druck vor, sind aber noch nicht auf ihre Echtheit endgültig geprüft. Von den lateinischen Schriften sind erst wenige Stücke erschienen. Das ganze Werk E.'s wirb zur Zeit mit wissenschaft­ licher Sorgfalt herausgegeben. So ist eine abschließende Beurteilung seiner Theologie noch nicht möglich. Die katholischen Gelehrten stützen sich vorzüglich auf die lateinischen Schriften und betrachten Eckehart wesentlich als Scholastiker (mit mystischem Einschlag). Die protestantische Theologie sucht in den deutschen Schriften das Wesentliche seiner Frömmigkeit und betrachtet ihn deshalb als einen Mystiker, dem die schwere Rüstung scho­ lastischer Theologie schlecht paßt. Eckehart war sich dessen bewußt, vielfach Neues und Überraschendes zu sagen, das mißverstanden werden konnte, zumal er, um das Nachdenken zu wecken, zugespitzte Ausdrucksweisen liebte. Die Franziskaner haben seine Theologie verdächtigt. Der Erzbischof von Köln ist gegen ihn als einen Irr­ lehrer eingeschritten und hat an der päpstlichen Kurie Klage erhoben. Eckehart selber hat an den päpstlichen Hof appelliert und außerdem in der Prediger­ kirche zu Köln eine Erklärung verlesen, er habe von jeher Irrtümer im Glauben und Verstöße in den Sitten verabscheut und widerrufe ausdrück­ lich, wenn er etwas Irriges gesagt haben sollte (Februar 1327). Erst im März 1329 verurteilte die Kurie 28 seiner Sätze; da er inzwischen gestorben war, betrachtete man seine Erklärung vom Februar 1327 als formellen Wider­ ruf und vermied damit die persönliche Verurteilung des angesehenen Theo­

logen. Theologie und Frömmigkeit Meister Eckeharts sind deshalb nicht leicht genau und sicher zu bestimmen, weil sich in ihr neuplatonische Mystik und christliche Glaubensgedanken unlösbar verschlingen. Sie bilden ein fest­ verknüpftes Gewebe, in dem die neuplatonische Mvstik den Aufzug, die christ­ lichen Gedanken aber den Einschlag darstellen. So schwanken seine Aussagen über Gott zwischen dem christlichen Gedanken der Schöpfung von Welt und Menschen durch Gottes allmächtiges Wort und der neuplatonischen Vor­ stellung von dem ständigen Ausfließen aller Wirklichkeit aus dem göttlichen Urgrund, in den alle Dinge wieder zurückkehren. Jedenfalls erscheint ihm Gott als das jenseitige, durch eine tiefe Kluft von der Welt geschiedene, höchste Sein. Diese Kluft wird ausgefüllt durch die menschliche Seele. Sie ist die Brücke zwischen Endlichem und Unendlichem, zwischen Zeit und Ewigkeit. Im Mittelpunkt seiner Gedanken steht deshalb die Lehre von dem See len­ grund, in dem Gott geboren werden soll, oder von dem Seelenfunken, mit dessen Hilfe Gott erkannt wird. Damit ist gemeint die keimhafte Anlage zum Guten in jedem Menschen etwa in dem Sinne der Goetheschen Verse (die selbst auf einen Spruch Plotins zurückgehen!):

188

Das Suchen nach neuen Wegen Wär' nicht das Auge sonnenhaft. Die Sonne könnt' eS nie erblicken; Lüg' nicht in und deS Gottes eigne Kraft, Wie könnt' unS Göttliches entzücken? (Zahme Xenien III. 1805.)

Die Person Christi ist dem Meister nicht eigentlich nötig um der Sünde willen, als unser Versöhner und Erlöser. Er braucht Christus, um den in der jenseitigen Ferne verschwindenden Gott wenigstens im Abbild zu Haben. Christus ist Gottes Bild und für unS baS Urbild. Er stellt als der ewige Sohn Gottes die Verbindung zwischen Gott und der Kreatur her. Aber Ecke­ hart betont nicht wie Paulus Kreuz, Tob und Auferstehung Christi, sondern sein« Geburt. Durch sie wirb Ewiges und Zeitliches, Himmlisches und Ir­ disches miteinander verknüpft. Er könnte mit dem Dichter unseres Kirchen­ liedes „EinS ist not" sagen:

Wo Gott und die Menschheit in Einem vereinet, Wo alle vollkommene Fülle erscheinet. Da, da ist baS beste, notwendige Teil, Mein Ein und mein Alles, mein seligstes Heil. Entscheidend ist für Eckehart nicht die einmalige historische Tatsache der Menschwerdung Gottes in Christus, sondern die innere Geburt Christi in der menschlichen Seele. Er betont immer wieder, Christus sei das Urbild, bas Abbild Gottes, wir dagegen seien geschaffen nach, b. h. zum Abbild Gottes, um GotteS Abbild zu werden durch die Geburt Christi in unserer Seele. AuS seinem Geist hat ein jüngerer Mystiker (Angelus SilesiuS) gedichtet: Wär' Christus tausendmal in Bethlehem geboren Und nicht in dir, du wärest ewig doch verloren.

Christus ist unser Vorbild. Er ist Mensch geworden, damit wir Gott werden, b. h. er ist Mensch geworben, damit wir mit ihm leiben; denn Gott ist mit unS im Leiden und hilft uns, bas Leiden überwinden. Christus ist Mensch geworden, damit wir wahrhaft büßen lernen. Die Nachfolge Christi ist die wahre Buße, d. h. die gründliche Abkehr von der Welt und die Hinkehr zu Gott. In allen seinen Predigten singt er baS Lied von der „Entwerdung der Seele", d. h. er fordert ihre Lösung vom Irdischen, Vergänglichen, ihre Sammlung auS der Zerstreuung auf das Eine, waS not tut. Es ist göttliche Gnade, wenn dem Menschen die Kraft zuteil wirb, sich von der Kreatur abzu­ kehren und nach dem Bilde Gottes neu formen zu lassen. Die Gnade zieht in die Seele ein, wenn sie in sich selbst zurückkehrt und sich der großen Sttlle zuwenbet. Eckehart warnt deshalb nicht nur vor der rohen Selbstliebe, mit der sich die Menschen ihren irdischen Wünschen und Gelüsten hingeben, sondern auch vor einer sentimentalen Nächstenliebe, mit der ein Mensch sich an baS Irdische verliert, statt in jedem Menschen Gott allein, daS ewige Gut,

§44

Ansätze zur Überwindung des Mittelalters bei Eckehart

189

zu lieben: „Wir leben im Bielen, Gott ist das Eine. Daher gilt es, das Viele zu verlassen, auch wenn es weh tut, und im Einen bas Ewige zu finden".

Seele, willst du dieses finden, Such'ö bei keiner Kreatur; Laß, was irdisch ist, dahinten. Schwing dich über die Natur!

Die Ethik des Meisters ist ganz Religion. Alles Gute strömt aus Gott.

Alles Gute wird durch Gott selbst in unö gewirkt. Der Mensch kann nur Ein

wahres Ziel haben, die Ehre Gottes: „So soll der Mensch mit Gott geeinigt sein, daß er mit ihm das Gleiche will, auch wenn es Schande, Sünde und Verdammnis wäre". Freilich — das hat er schon vor Luther erkannt und aus­

gesprochen — die Hölle ist nicht mehr Hölle, wenn man mit Gottes Willen in ihr sitzt. Vor diesem Ziel schwindet alle Lohnsucht: „So lange der Mensch

irgend etwas sucht mit seinen Werken, irgend etwas begehrt, daß Gott ihm etwas geben soll, ist er den Krämern im Tempel gleich. Willst du solcher

Kaufmannschaft ledig sein, so tue alles, was du vermagst, ehrlich Gott zu Lobe." Er warnt auch vor allen Formen der geistlichen Genußsucht, vor den

damals in den Klöstern üblichen Bemühungen, in schmelzenden Gefühlen,

in Verzückungen und Visionen Gott zu genießen.

„Wer da wähnt, in Versunkenheit, Andacht und schmelzenden Gefühlen mehr von Gott zu haben als beim Herdfeuer oder im Stalle: da tust du nichts andres, als ob du Gott nähmest und wickeltest ihm einen Mantel um das Haupt." „Wäre einer in solcher Verzückung wie weiland Sankt Paulus und wüßte einen siechen Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich achte es weit besser, du ließest von Liebe und Verzückung und dientest Gott in einer größeren Liebe!"

Er überwindet die mittelalterliche Werkgerechtigkeit; hat er doch klar erkannt, daß nicht die einzelnen äußeren Werke den Menschen fromm und heilig machen, sondern daß nur ein heiliger Mensch heilige Werke

tun kann (vgl. Mt. 7,17 f. u. Luthers „Christliche Freiheit"). „Denke nicht Heiligkeit zu gründen auf ein Tun. Man soll Heiligkeit gründen auf ein Sein;

denn nicht die Werke heiligen uns, sondern wir sollen die Werke heiligen". Höchstes Ziel ist: Gott lieben, nicht ihn fürchten. Die Summe seiner Mahnung lautet: „Darauf setz all dein Studieren, daß dir Gott groß werde". Ganz in

seinem Sinne hat Angelus Silesius gesungen:

Ich will Ich will Ich will Auch in Ich will Bis mir

dich lieben, meine Krone, dich lieben, meinen Gott. dich lieben sonder Lohne der allergrößten Not. dich lieben, schönstes Licht, das Herze bricht.

3. Die Frömmigkeit des Meisters ergreift noch uns mit unmittelbarer

Gewalt. Denn sie bedeutet einen ungewöhnlichen Grad von Vertiefung

190

DaS Suchen nach neuen Wegen

und Verinnerlichung katholischer Glaubensweise. Die Bindung des Glaubens an die sichtbare Kirche, an ihre Einrichtungen, ihre heiligen Stät­ ten, Personen und Sachen ist hier gelockert, wenn auch nicht gelöst. Die Ver­ götzung der Kirche im hierarchischen System deS Mittelalters ist hier über­ wunden. Der ewige Gott selber tritt wieder in den Vordergrund. DaS ist eS offenbar, waS den jungen Luther durch TaulerS Vermittlung stark gepackt und ihn eine Zeitlang in den Bannkreis der Mystik gezogen hat. Man denke nur an die Ausführungen im Anfang der Schrift: „Von der Freiheit eines Christenmenschen", wo er den inwendigen geistlichen und den äußer­ lichen leiblichen Menschen unterscheidet und mit drastischer Rücksichtslosig­ keit darlegt, daß eS der Seele nichts hilft, wenn auch der Leib heilige Kleider anlegt, in Kirchen und heiligen Stätten sich bewegt und mit heiligen Dingen und Werken umgeht. Meister Eckehart wollte ein guter katholischer Christ und ein rechtgläubiger katholischer Denker und Lehrer sein. Seine Kölner Erklärung vom Fe­ bruar 1327 (s. o. S. 187) ist ohne Zweifel durchaus ernst gemeint und ist auch nicht als Zeugnis für einen Nervenzusammenbruch oder als ein Ver­ sagen seines MuteS auszuwerten, sondern höchstens als Beweis einer ge­ wissen, durchaus ehrlichen Selbsttäuschung. ES ist aber zu fragen, ob diese Selbsttäuschung nicht noch tiefer reicht, ob sie nicht außer seiner katholischen auch seine biblisch-christliche Grundhaltung betrifft. Seine von ihm selbst herausgegebenen lateinischen Schriften erschei­ nen fteilich in der Form einer Bibelauslegung und sind auch von ihm wirklich als Bibelauslegung gemeint. Aber auch hierin ist weithin eine merkwürdige Selbsttäuschung zu beobachten. Er bemüht sich in Wirklichkeit nicht darum, den angeführten Bibelabschnitt sachgemäß zu verstehen und auSzulegen, sondern nimmt einige wenige Worte willkürlich auS dem Zusammenhang heraus, um seine reichen, feinen und kühnen Gedanken daran anzuhängen. Wir finden also bei ihm kein aufmerksames Hören auf daS Wort Gottes, keine sorgfältige Auslegung dieses Wortes; sondern er benutzt irgendeinen Satz als Sprungbrett, um sich dann in das Meer seiner eigenen Gedanken zu stürzen. (Dazu konnte ihn die damals allgemein übliche allegorische BibelauSlegung verführen und scheinbar berechtigen.) Und wenn er von Sünde und Gnade redet, so braucht er fteilich biblische Worte; aber er meint doch weithin etwas anderes, als waS die Bußpsalmen deS Alten Testaments, daS Gleichnis vom verlorenen Sohn, waS Paulus und Luther darunter verstehen. Denn Sünde ist ihm mehr ein Mangel an vollkommenem ewigen Sein, und Gnade mehr eine Beschenkung mit diesem vollkommenen Sein, als daß er an Gottes Heiligkeit, Gericht und Barmherzigkeit, an menschliche Verschuldung und Erlösung auS der Schuld dächte. Deshalb kann im Ernst auch nicht gesagt werden, der Meister eröffne tie reformatorisch-protestantische Gestaltung deS Christentums. ES finden sich

§44

Bleibende Schranken Eckeharts

191

bei ihm freilich Ansätze zu Luthers Schätzung des Wirkens im irdischen Berus; aber doch nur vereinzelte, steckengebliebene Ansätze. Äm Ganzen ist doch nicht zu verkennen, daß seine Frömmigkeit in den Schranken mittelalter­ lichen Denkens verbleibt. Es ist kein Zufall und keine innere Unwahrheit, wenn Meister Eckehart bis an sein Ende Mönch geblieben ist und nur mit Klosterleuten verkehrt hat. Sein entscheidender Gedanke von der Entwerdung, von der Abkehr von der Welt und der Einkehr in die große Gottesstille, ist das Gegenteil von dem Wagemut, mit dem Luther Glaube und Handeln mitten in die Welt hineingestellt hat. Diesen Unterschied hat eine Stimme aus der völkischen Literatur der Gegenwart (Dr. K. Kindt in der „Neuen Literatur" März 1935) deutlich empfunden und ausgesprochen: „Wieviel Weltgeschichte erleben wir mit, wenn wir Luthers Werke studieren! Den Teil der Weltgeschichte, den er selber macht, die Türkenkämpfe, den Bauern­ krieg! Und wenn wir Eckhart lesen? Da ists, als stünde die Weltgeschichte stille. Der Lärm des Geschehens drang in diese Mönchszelle nicht hinein! Und es war doch auch damals große Zeit: der Ausklang der Kreuzzüge, das letzte Sichaufbäumen und das Zerschellen der päpstlichen Macht, Dantes Vorkampf für die ghibellinische Herrschaft, die namenlose Not des Reiches! Wir finden kein Wort davon. Auch unseren leidenschaftlichen Kampf um Ehre und Gleichberechtigung würde Eckhatt nicht verstehen."

Wenn wir das ganze Gedankengut des Meisters überblicken, so drängt sich uns unabweislich der Eindruck auf, daß wir es hier mit einer Seele zu tun haben, deren geistige Schöpfungen zart, fein und zerbrechlich sind wie edelstes, durchsichtig dünnes, vornehm getöntes Porzellan. Wenn Mystik leicht das Zeugnis einer späten Edelreife übersteigerter und überfeinerter geistiger Kultur ist (wie die hohe Mystik der indischen Religion und die feinsten Schöpfungen des Neuplatonismus), so gilt das auch für die Mystik Meister Eckeharts. Soweit bei Meister Eckehart eine Vertiefung und Verinnerlichung der überlieferten römischkatholischen Gestalt des Christentums vorliegt, dürfen wir wohl von einer „Verdeutschung" seines Christentums reden. Aber die bei ihm vorherrschende mystische, neuplatonische Gedankenwelt ist durchaus international. Es gibt auch zu denken, daß er sich vorwiegend auf arabische und jüdische Gelehrte des Mittelalters beruft, in deren Schriften diese neu­ platonische Gedankenwelt überliefert und erläutert ist.

Aus alledem erklärt sich, daß Luther, je mehr er sich selber fand, aus dieser Mystik herauswachsen mußte. Und es ist keine Fehlentwicklung der deutschen Geschichte, wie manche Eckehart-Schwärmer meinen, wenn nicht an Eckeharts, sondern an Luthers Werk sich die Reformation und das neue deutsche Geistes­ leben angeschlossen hat. Eckehart ist die größte Gestalt deutscher Frömmigkeit im Mittelalter. Er hat durch Tauler und dessen Nachfolger stark weiter ge­ wirkt, er hat mehr als irgendein anderer der Reformation vorgearbeitet, aber ist selbst kein Reformator. Und doch hat Eckehart ihr einen großen.

192

Das Suchen nach neuen Wegen

vorbereitenden Dienst geleistet. Für die deutsche Sprache hat vor Luther niemand mehr getan als er. Wohl war auch vor ihm seit Jahrhunderten in deutscher Sprache gepredigt worden; das Werkzeug war also geschmiedet.

„Mer Eckeharts Ruhm bleibt, baß er es benutzt und unvergleichlich verfeinert hat. Denn wie wußte er die deutsche Sprache zu gebrauchen! Sie erscheint bei ihm so biegsam und gelenkig, als wäre sie seit Jahrhunderten geübt worben, und zugleich so gestaltungsfähig, als stünde sie noch in der ersten Jugend ... Der Grund liegt in seiner Unmittelbarkeit: er sprach, auch wenn er schrieb. Er ermüdet seine Leser nicht durch lange Erörterungen, sondern er unterredet sich mit ihnen. Überlegte Kunstform war baS schwerlich. ES entsprang auS der Lebhaftigkeit seiner Auffaffung. In ihr wurzelt auch die ungesuchte Anschaulichkeit seines Ausdrucks. Deshalb war er ein großer Schriftsteller: waS er schrieb, ist erfrischend wie der kühle Quell." (Hauck.)

4. Johann Tauler (1300—1361) hat die tiefsinnigen, philosophisch­ theologischen Gedanken seines Lehrers Eckehart in überaus eindrucksvollen Predigten weitergetragen. Als Sohn eines wohlhabenden Straßburger Kaufmanns ist er früh dem Dominikanerorden beigetreten (wie feine Schwester dem weiblichen Zweig des Ordens), hat den heiligen Thomas studiert und den Unterricht EckehartS in Köln wahrscheinlich persönlich ge­ nossen. AlS Prediger hat er jahrelang in Basel, vorzüglich aber in seiner Heimatstadt Straßburg gewirkt. EckehartS Hauptanliegen, daß Gott in unsrer Seele geboren werden müsse, hat er seinen Hörern unermüdlich eingeprägt. Dabei hat er die gefährlichen Spitzen der Gedanken EckehartS sorgsam abgebogen. Er hütet sich vor pantheistischer Verwischung deS Unter­ schiedes zwischen Gott und der Kreatur, betont stärker als Eckehart die Be­ deutung Christi und seines Werkes, insbesondere auch für die Vergebung der Sünde. Sein Hauptbestreben war, seine Hörer aus den inneren Stürmen, die ihnen von der Welt her drohen, zu der ruhigen Gelassenheit eineö sicheren seelischen Gleichgewichts zu führen. Als Prediger und Geelenführer der „Gottesfreunde" am Oberrhein hat er hohes Ansehen genossen. Der junge Luther hat seine Predigten fleißig studiert und ist dadurch mit den Gedanken EckehartS und der Mystik bekannt geworden (vgl. u. S. 210). Daneben hat die „Deutsche Theologie" auf Luther stark gewirkt. DaS ist eine mystische Schrift „Vom rechten Verstände, waS Adam und Christus sei, und wie Adam in uns sterben und Christus in unS auferstehen soll". Ihr Urheber ist unbekannt. Doch ist sie wahrscheinlich um 1400 von einem

Priester deS Deutschritterordens zu Sachsenhausen bei Frankfurt a. M. ver­ faßt. Sie will den Menschen anleiten, sich von allen Kreaturen innerlich zu lösen, den eigenen Willen Gott aufzuopfern unb. in diesem leibenden Ge­ horsam statt irdischen Glückes himmlische Seligkeit zu finden. Luther hat eine kurze Fassung 1516, eine längere 1518 im Druck herausgegeben unb ihr ein Vorwort beigefügt, in dem er gegenüber der durchschnittlichen Über-

§ 44

Johann Tauler — „Theologia deutsch"

193

schätzung der lateinisch geschriebenen scholastischen Theologie mit freudigem Stolz diese „Deutsche" Theologie erhebt: „Sie werden vielleicht, wie vormals, sagen, wir seien deutsche Theologen. Das lasten wir also sein; ich banke Gott, daß ich in deutscher Zunge meinen Gott also höre und finde, als ich und die mit mir anher nicht funden haben, weder in lateinischer, griechischer noch hebräischer Zungen. Gott gebe, daß dieser Büchlein mehr an Tag kommen; so werben wir finben, baß bie deutschen Theologen ohne Zweifel bie besten Theologen sind. Amen." Aus der „Theologia deutsch".

Die Schrift, der Glaube und die Wahrheit spricht, die Sünde sei nichts anderes, denn daß sich die Kreatur abwendet von dem unwandelbaren Gute zu dem wandel­ baren, das ist: daß sie sich kehret von dem Vollkommenen zum Unvollkommenen und Stückwerk und allermeist zu ihr selbst. Gott spricht (Jes. 42,8): „Ich will meine Ehre keinem andern geben". Das meinet er also: daß Ehre und Glorie nie­ mand zugehöre oder gebühre denn Gott allein. Wenn ich mir nun etwas Gutes zu­ eigne ober mir anmaße, also baß ich es sei oder vermöge oder wisse oder tue, oder daß eö mein sei oder von mir herrühre, so greife ich Gott in seine Ehre und eigne mir zu, was Gott allein gebühret. Dann alles, was man gut nennet, das gehört niemand zu denn allein dem einigen, ewigen, wahren Gute, das ist: Gott. Und wer sich das anmaßt und zueignet, der tut Unrecht und wider Gott, und nimmt siich des an, was Gotteö ist. Es sott dazu kommen, daß der Mensch werde wie ein Kind und sich so gar nichts annehme, wisse, wolle, liebe und begehre, ohne daß Gott selbst in ihm will, liebet, weiß und begehret, so daß alles nicht des Menschen oder der Kreatur sei. Und diese Erkenntnis soll so lauter und vollkommen sein, daß da erkannt und gespürt werbe, daß diese Gabe der Erkenntnis nicht des Menschen oder der Kreatur sei (als käme dieselbe von den Menschen oder von der Kreatur her), sondern allein, daß es die ewige Erkenntnis sei, welche das ewige Wort ist, wie Christus selber spricht (Joh. 15,5): „Ohne mich möget ihr nichts Gutes tun". Er spricht durch Sankt Paulus (1. Kor. 4,7): „Was hast du Gutes, das du nicht von Gott empfangen hast?", als ob er spräche: nichts! So du nun alle Dinge von Gott empfangen hast, was rühmest du dich denn, als ob du es nicht empfangen hättest? Denn der Mensch soll nichts wissen, wollen, lieben, was Gott nicht selber in ihm will und liebet. Ein Meister, BoethLus genannt, spricht: es sei ein großes Gebrechen, daß wir nicht das Beste liebhaben. Er hat recht gesagt, denn das Beste soll das Liebste sein, und in dieser Liebe soll nicht angesehen werden Nutz oder Unnutz, Frommen oder Schaben, Gewinn oder Verlust, Ehre oder Unehre, Lob oder Unlob oder Schande oder dieser keines; sondern was in der Wahrheit das Edelste und Beste ist, das soll das Liebste sein, und dasselbe um keiner anderen Ursache willen, denn daß es das Beste und Edelste ist. Unter den Kreaturen ist eines besser denn daö andere, je nachdem das ewige Gut in einem mehr ober weniger leuchtet und wirket, denn in dem andern. In welchem nun das ewige Gut am meisten scheinet, leuchtet, wirket, erkannt, gespüret und geliebt wird, das ist auch das Beste unter den Kreaturen; in welchen dasselbe am wenigsten gespüret wird, bas ist auch daö geringste Gut. So nun der Mensch die ij

Schuster, Klrchengeschichte

194

Das Suchen nach neuen Wegen

Kreatur handelt und damit umgehet, und diesen Unterschied erkennet, so soll ihm die beste Kreatur die liebste sein und soll sich mit Fleiß zu derselben halten. Ein wahrer Liebhaber Gottes hat Gott oder das ewige Gut gleich lieb im Haben und Darben, in Süß und Sauer und desgleichen. Denn er sucht allein die Ehre Gottes, und des Seinen nichts, weder im Geist noch Natur, und darum so stehet er allezeit gleich unbewegt in allen Dingen. 5. Bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben findet die deutsche Mystik in abgeklärter, aber auch abgeblaßter Gestalt eine weitreichende prak­ tische Auswirkung. Diese Bruberbewegung entstand um 1400 in den nörd­ lichen Niederlanden und verbreitete fich über den größten Teil von Deutsch­ land. Sie ist also eine ausgesprochen deutsche Erscheinung und zugleich die modernste Form einer mittelalterlichen Genossenschaft zur Pflege eines asketisch-frommen, der Nächstenliebe dienenden Lebens. Einer der Ihren hat das Programm folgendermaßen beschrieben: „Mr find nicht Mönche; son­ dern in der Welt ftomm zu leben, ist unser Streben, unser Wille". Ohne Mönchsgelübde abzulegen, bildeten sie eine ordensartige Gemeinschaft. Durch Handarbeit erwarben sie den Lebensunterhalt, um sich der Ar men und Krankenpflege zu widmen. Die Jugendpflege führte sie auch auf den Jugendunterricht. Luther ist in Magdeburg ein Jahr lang in ihre Schule gegangen und hat über sie geurteilt: „Solche Klöster und Bruderhäuser ge­ fallen mir über die Maßen. Wenn es um alles so stünde wie um die Brüder­ häuser, so wäre die Kirche selig schon in diesem Leben". Die meisten ihrer Häuser schloffen sich auch der Reformation an.

In ihren Kreis gehört Thomas von Kempen (1380—1471), genannt nach seinem niederrheinischen Geburtsort Kempen bei Krefeld. Von ihm stammt das berühmte Buch „Von der Nachfolge Christi" (lateinisch: de imitatione Christi). Hier wird die Einfalt, Lauterkeit und Demut eines Lebens in der Nachahmung Christi im Anschluß an die Kirche und das Abendmahlssakrament in edler schlichter Sprache verkündet. „Beim Derfaffer der Nachfolge Christi ist der Sturm (der Mystik Eckeharts) verbraust zu jener Stille, die seiner heimatlichen Landschaft, dem Niederrhein, eigen ist und sie mit leiser Schwermut füllt. So atmet sein Buch Milde und den Frieden eines Gemüts, das schon in diesem Leben heimgefunden hat. Der Flammenhimmel der großen Mystiker ist sanfte Abendröte geworden" (Andreas). — Kein Buch ist nächst der Bibel so oft gedruckt und in so viele Sprachen übersetzt worden. Es ist ein Beweis für die gemeinsame Christlich­ keit der Konfessionen, daß es als Erziehungsbuch vom Jesuitenorden ausge­ nommen und als Andachtsbuch in der lutherischen Kirche gepflegt ist.

„Zwei Schwingen erheben den Menschen über das Irdische: Einfalt und Reinheit. Einfalt muß im Streben, Reinheit in dem Gefühle sein. Einfalt wachtet nach Gott, Reinheit findet und fühlt ihn. Keine gute Tat wird dir schwer werden, wenn du innerlich frei bist von unordentlichen Begierden. Wenn du nur nach dem

§44

Thomas v. Kempen und die Spätmystik

195

Wohlgefallen GotleS und dem Nutzen deines Nächsten trachtest, so wirst du inner­ lich frei sein. Wenn dein Herz recht beschaffen wäre, dann würbe jedes Geschöpf dir ein Spiegel des Lebens und ein Buch voll heiliger Lehre sein. ES ist kein Geschöpf so klein und gering, baß eS die Güte Gottes uns nicht offenbare. Wenn du innerlich gut und rein wärest, dann würbest du Alles ohne Hindernis schauen und wohl begreifen. Ein reines Herz durchschaut Himmel und Hülle. Je nach seiner inneren Beschaffenheit beurteilt jeder daS Äußere. Wenn eS eine

Freude gibt in der Welt, so besitzt sie unleugbar der, welcher reineS Herzens ist. Wenn eS aber irgendwo Not und Angst gibt, so gibt eS gewiß deren in dem bösen Gewissen. Wie daS Eisen im Feuer den Rost verliert und durch und durch glühend wird, so wird der Mensch, der sich ganz zu Gott wendet, von aller Unlauterkeit befreit und in einen neuen Menschen verwandelt." (Thomas v. Kempen II, 4.)

Bei den Brüdern hat auch Wessel GanSfort aus Groningen (1420 bis 1489) seine religiöse und wissenschaftliche Ausbildung erfahren. In ihm verbindet sich ungewöhnliche Gelehrsamkeit (er kannte nicht nur Lateinisch und Griechisch, sondern auch Hebräisch und Arabisch!) mit einer innigen Frömmigkeit, die durch den Glauben an GotteS Gnade bestimmt war. Erst im Jahre 1522 erschien eine Sammlung seiner Abhandlungen und Briefe mit einem Borwort von Luther, in dem dieser bekennt: „Wenn ich den Wessel zuvor gelesen hätte, so ließen meine Widersacher sich dünken, Luther habe alles von Wessel entnommen; also stimmt unser beider Geist zu­ sammen". 6. Bedeutung und Wirkung der Mystik beruht weniger auf der reinen Lehre Meister EckehartS als auf einer Gestalt von Spätmystik, für die neben Tauler, der Theologia deutsch und Thomas von Kempen besonders auch Heinrich Seuse von Konstanz (1500—1566) maßgeblich ist. Hier steht Christus mit seiner Passion mehr als bei Meister Eckehart im Vordergründe der Be­ trachtung: „Meine Marter sollst du emsiglich mit mütterlich herzlicher Minne in deinem Herzen tragen", mahnt Seuse seine Leser. „Durch die Wunden der Menschheit Christi führt der Weg zu den tiefsten Geheimnissen der Gottheit" (ähnlich später auch Staupitz zu Luther). Christi Tod wird nicht im Schema der Rechtsordnung gewertet, sondern wird angebetet und gepriesen als ein Liebesopfer, in dem das göttliche Erbarmen sich kundgibt. Die herrschende kirchliche Berdienstlehre bleibt tief zurück: „ES ist eine große Torheit, wenn der Mensch meint, daß er etwas wisse oder auS sich selbst vermöge, und in­ sonderheit, baß er etwas Gutes wisse oder vermöge, wodurch er vor Gott etwas verdienen oder erwerben könne" (Theologia deutsch). Wir werben also öfter bis an die Schwelle derKreuzeStheologie Luthers geführt (f. u. § 50), aber auch nicht weiter. In dieser Mystik wechselt mit der Erkenntnis der sündigen Ich-Gebunden­ heit deS Menschen, der von diesem selbstischen Willen erlöst werben muß (Theologia deutsch), immer wieder die Borstellung von dem sturmsicheren Heiligtum deS Seelengrundes, in dem Gott von Natur wohne und stets zu 13*

196

Das Suchen nach neuen Wegen

finden sei. Deshalb empfiehlt der mystische Seelenführer auch die imitatio und die mortificatio (die Nachahmung Christi und die Abtötung alles Irdischen) als den Heilöweg, in der Meinung, der Mensch vermöge aus dem eigenen Seelengrunde die dazu nötige Kraft zu schöpfen — während Luther kurz und bündig erklärt: ,,Imitatio non facit filios, sed filiatio facit imitatores“ („Die Nachahmung Christi macht uns nicht zu Söhnen Gottes, sondern die Annahme zur Sohnschaft macht uns zu Nachfolgern Christi")! Daher auch bei diesen Mystikern der auffallende Wechsel zwischen tiefster Selbstverurteilung und höchster Selbsterhebung. „Es erstaunt uns zu ent­ decken, daß diese ernsten und demütigen Heiligen sich bisweilen in Worten ausdrücken, die das stolze Selbstbewußtsein der Stoiker noch übertreffen. Wir fühlen, es muß etwas nicht in Ordnung sein in einem System, das damit endet, den Unterschied zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen auszu­ löschen" (Aulen). Endlich wird der Gehalt des Gottesbildes in dieser Mystik nicht mit stetiger Sicherheit auf dem Gnadenantlitz Jesu Christi gefunden, sondern gar zu oft als ein völlig unbestimmtes inhaltloses Sein beschrieben, in das der Andächtige (nicht der Betende!) willenlos versinkt.

§ 45. Reform durch Wissenschaft (Humanismus). 1. Die Renaissance, auf italienischem Boden entstanden, ist ursprüng­ lich auch eine italienische Kulturerscheinung: die Wiedergeburt des italieni­ schen Volkstums und seiner Kultur mit den Kräften der römischen (und grie­ chischen) Antike, d. h. mit den Kräften der eigenen großen Vergangenheit. Die Renaissance ist allerdings auch eine allgemein menschheitliche Bewegung: Rückkehr zu der verschütteten, vergessenen oder wenigstens nicht anerkannten Natur. Während für die geltende Anschauung des Mittelalters das irdische Leben nur die Vorbereitung für das Jenseits ist und der menschliche Leib, als Fessel und Hemmnis der Seele, durch strenge Askese zu bändigen und abzutöten ist, gewinnt für die Renaissance das irdische Leben seinen Eigen­ wert. Kraft und Schönheit des Leibes sollen gepflegt und genossen werden. Damit war der christlichen Kirche eine große, bisher versäumte Aufgabe gestellt; galten ihr doch nach mittelalterlicher Vorstellung die weltentsagen­ den, ehelosen Mönche als die religiosi, d. h. die Frommen schlechthin. Nun mußte für die Natur und die natürlichen Dinge eine gläubige Be­ urteilung und eine sittliche Norm gefunden werden. Das wäre nur möglich gewesen, wenn die tiefe Gläubigkeit und der hohe sittliche Ernst, mit dem Dante, der größte Vorbereiter der Renaissance, in seiner „Göttlichen Komödie" Welt und Leben bettachtet, auch die führenden Männer der Kirche beseelt hätte. Statt dessen aber lernte man von ihm nur die Meisterschaft der neu aufblühenden italienischen Sprache und den Adel einer an der Antike geschulten glänzenden Kunstform. Die religiöse und

§45

Renaissance und Humanismus. Reuchlin

197

sittliche Aufgabe wurde überhaupt nicht begriffen, am wenigsten von den Päpsten. Seit Nikolaus V. (1447) sitzen auf dem Stuhl Petri für etwa 100 Jahre die Renaissance-Päpste, die sich um Wissenschaft und Kunst bemühen (weitaus am großartigsten Julius II., der Bramante, Raffael und Michelangelo in seine Dienste nahm), aber ihr hohes Amt völlig ver­ kennen, wenn nicht schimpflich schänden (am meisten der Verbrecher aus dem Hause Borgia, Alexander VI.). 2. Soweit die Renaissance sich mit Wissenschaft, Weltanschauung und Erziehung beschäftigt, ttitt sie uns als Humanismus entgegen, als Bemühung um eine freie, vornehme Lebensauffassung. Als Humanismus hat die Renaissancebewegung in Deutschland starke Wirkungen ausgeübt. Die deut­ schen Humanisten haben sich durch die Beschäftigung mit der Antike zu ihrer eigenen völkischen Vergangenheit zurückführen lassen, weil deren Anfänge uns ja durch antike Schriftsteller überliefert sind; auch lernten sie von diesen, daß es keine Mannestugend gebe ohne Vaterlands­ liebe. Die Schriften des Tacitus sind damals von deutschen Humanisten im Druck herausgegeben und übersetzt worden. Sie haben aus Tacitus und Cäsar die Begeisterung für altdeutsche Art, insbesondere für Armin, den Vorkämpfer der deutschen Freiheit, geschöpft. Hutten schreibt einen Dialog „Arminius", und Luthers Freund Spalatin „Von dem teuren deutschen Für­ sten Arminio"; auch Luther selber trug sich mit einem Lied auf Armin! Die deutschen Humanisten haben aber ihre Losung „Zurück zu den Quellen!" mit redlichem Eifer auch auf das Christentum angewandt, da sie (im Unter­ schieb von vielen Italienern) die kirchlichen Dinge ernst nahmen und sich mit deutscher Gründlichkeit um eine Reform der Kirche mühten. Sie entfremdeten sich den künstlichen Gedankenbildungen der Scholastik und suchten nach der echten Gestalt des Christentums an seinen Ursprüngen, in der Bibel und bei den Kirchenvätern. Die neue Wiffenschaft sollte ihnen helfen, die alte Kirche zu reformieren. 3. Der Schwabe Johannes Reuchlin (geb. zu Pforzheim 1455), der Großoheim Philipp Melanchthons, einer der wenigen Humanisten, der seinen biederen deutschen Namen beibehielt, ein Mann von ungewöhnlicher Be­ gabung, hat zu Paris und auf deutschen Hochschulen eine juristische und eine humanistisch-philologische Ausbildung erhalten, so daß er als Advokat seinen Unterhalt bestritt und als Humanist sich hohen Ruhm erwarb. Als einer der ersten Humanisten hat er neben gründlicher Kenntnis des Lateinischen und des Griechischen (die Einbürgerung der griechischen Studien in Deutsch­ land ist wesentlich sein Verdienst) bei jüdischen Gelehrten das Hebräische gelernt und durch Herausgabe einer hebräischen Grammatik mit Lexikon die hebräischen Studien in Deutschland begründet, damit also eine wesentliche Vorbereitung für Luthers Bibelübersetzung geleistet.

198

Das Suchen nach neuen Wegen

Als der getaufte Jude Pfefferkorn mit dem üblen Eifer des Rene­ gaten die Vernichtung aller jüdischen Schriften verlangte, gab Reuchlin in einem Gutachten für Kaiser Maximilian sein Urteil dahin ab, man solle die christenfeindlichen Schmähschriften der Juden vernichten, aber ihre gelehrte philosophische, naturwissenschaftliche und theologische Literatur erhalten, um daraus für die Bibelauslegung zu lernen. In dem ärgerlichen Streit, der jetzt entstand, veröffentlichte er eine Reihe von „Briefen berühmter Männer" aus allen Berufskreisen der geistigen Oberschicht Deutschlands, die ihm zustimmten und seine Sache gegen den Ketzereifer der Dominikaner verteidigten. Dadurch gab er den Anstoß zu der berühmten Satire der „Dun­ kelmännerbriefe", womit übermütige, schöngeistige Humanisten, unter ihnen Ulrich von Hutten, die Albernheit und verborgene Unsittlichkeit ihrer mönchischen Gegner unsterblich lächerlich machten und im Namen der neuen Wissenschaft der alten Scholastik den Kampf ansagten. 4. Weitaus der berühmteste Vertreter des deutschen Humanismus ist Desi­ derius Erasmus von Rotterdam (1466—1536). In Deventer in Holland mit den humanistischen Bestrebungen der Brüder vom gemeinsamen Leben vertraut geworden, lebte er mehrere Jahre in einem holländischen Kloster, ließ sich aber von der Verpflichtung lösen und gewann durch Reisen und Stu­ dienaufenthalte in Paris, England und auch Italien eine sehr sorgfältige gelehrte Ausbildung. Eine Reihe von Jahren hat er in Basel seinen dauernden Wohnsitz gehabt, bis die Reformation der Stadt ihn von dort nach dem katholisch gebliebenen Freiburg im Breisgau vertrieb. Er war ein Mann von großer geistiger Lebendigkeit, von ehrlicher Be­ geisterung für die Größe und Schönheit des klassischen Altertums, schrieb selber einen glänzend eleganten lateinischen Stil, der die Bewunderung oder den Neid der Zeitgenossen weckte. Mit bitterer Schärfe geißelte er die ver­ trockneten Methoden der späten Scholastik wie die ganze scholastische Denkweise. Mit seinem klaren, klugen Blick erkannte er die Schäden der Kirche, soweit es sich um das menschliche Versagen ihrer Vertreter handelte, und hat ihre Mängel in der scharfen, geistreichen Satire „Das Lob der Narr­ heit" unbarmherzig bloßgestellt. „Was soll ich von denen sagen, die sich aufs beste mit dem Ablaß ihrer Sünden schmeicheln und die Fegefeuerzeit gleichsam mit der Elle messen, Jahre, Monate, Tage, Stunden wie nach einer mathematischen Tabelle ohne Fehler berechnen? Hier denkt etwa ein Kaufmann, Soldat oder Richter, für einen Heller aus seirem geraubten Schatze die ganze Pfütze der Sünden auf einmal ausgefegt zu bekommen, alles an Meineid, Hurerei, Völlerei, Zank, Mord, Betrug, Untreue, Verrat vertrcysmäßig quittieren zu können, und zwar so, baß er frisch mit neuen Schandtaten an­ fangen kann. Gibts etwas Törichteres, als durch tägliches Aussagen von bestimmten sichen Psalmversen sich das höchste Glück versprechen? Und diese Narrheit, deren ich sclbft mich fast schäme, findet doch Beifall, nicht nur bei der Masse, nein, auch bei fromnen

§45

Die Dunkelmännerbriefe. — Erasmus

199

Menschen. Hierzu gehört auch, daß jedes Land seinen besonderen Heiligen hat, jeder seine besondere Aufgabe und deshalb auch seinen besonderen Kultus; der hilft bd Zahnweh, der in Geburtsnöten, der bringt gestohlenes Gut wieder, der ist gnädig beim Schiffbruch, der schützt die Herde usw. — Alles kann ich nicht aufzählen. Einige helfen für mehreres, namentlich die jungfräuliche Gottesmutter, der bas Voll fast mehr Kraft zuschreibt als dem Sohne." Seine eigene Auffassung des Christentums verkennt die tiefe Theologie deS Apostels Paulus und deutet die Bergpredigt Jesu und seine Gleichnisse im Sinne einer humanen, verständigen Moral. Er leugnet nicht die Bedeu­ tung Jesu als Erlöser in Todesnot; aber im wesentlichen ist ihm daS Christen­ tum doch nur die Vollendung einer aufgeklärten stoischen BildungSreligion: „Was ist Christi Philosophie anders als Erneuerung der guten Naturgrundlage? Gewiß niemand hat diese Philosophie wirksamer überliefert als Christus; doch kann man in den Büchern der Heiden sehr viel finden, was mit seiner Lehre übereinstimmt. Die Stoiker haben gesehen, daß nur ein guter Mensch weise sei; sie haben gesehen, baß nur die wirkliche Tugend wahrhaft gut oder ehrbar sei, nur die Schande furchtbar ober böse. Daß man Böses nicht mit Bösem vergelten dürfe, lehrt Sokrates häufig bei Plato; ebenso, weil die Seele unsterblich sei, dürfe nicht beklagt werden, wer im Ver­ trauen auf ein gut vollbrachtes Leben von hier abscheide in ein glücklicheres Dasein."

Ein großes Verdienst erwarb sich EraSmuS durch seine Druckausgabe der alten Kirchenväter (Hieronymus, Augustin u. a.), und vor allem durch seine griechische Ausgabe deS Neuen Testaments, deren zweiten Druck (1518) Luther zur Grundlage seiner Übersetzung genommen hat. In der Einleitung wehrt sich EraSmuS gegen die Ängstlichkeit der katholischen Theologen, die nicht wünschen, daß die heilige Schrift von Laien in der Volkssprache gelesen werde (daS Bibelverbot deS Erzbischofs Berthold von Mainz 1485!). Er erklärt statt dessen: „Ich wünschte, auch alle Frauen läsen daS Evangelium, läsen die paulinffchen Briefe. O, daß sie doch beide in alle Sprachen übersetzt wären, daß auch die Türken und Sarazenen sie lesen und verstehen könnten! Möchte doch der Bauer hinter dem Pflug davon singen, der Weber zu seinen Fäden davon summen, der Wanderer durch diese seltsamen Mären sich den Weg verkürzen!"

5. Dieser selbe EraSmuS hat sich aber schaudernd von Luther abgewandt, als er dessen kühne Schrift von der babylonischen Gefangenschaft laS: „Mir widerstrebt auch die Wahrheit, wenn sie aufrührerisch ist". Dieser kluge, scharfblickende und feinsinnige, aber eitle, vorsichtige und ängstliche Mann liebte seine persönliche und wissenschaftliche Ruhe mehr als die Wahrheit. Er ließ auch seinen begeisterten Verehrer, Ulrich von Hutten, der nach SickingenS Sturz bei ihm in Basel Zuflucht suchte, schmählich im Stich. Er verstand nichts von dem Bibelwort: „Wer sein Leben hingibt, wird eS gewinnen", und wußte nichts von der Wahrheit, daß in großen Zeiten große und ganze Entscheidungen nötig sind.

200

Das Suchen nach neuen Wegen

Vor allem aber hat er das eigentliche Anliegen Luthers und der Reforma­ tion nie begriffen. Daran hinderte ihn der flache Optimismus, mit dem er Welt und Menschen betrachtete. Er kannte weder die Verlorenheit des durch die Sünde gebundenen Menschen, noch den Jubel und die wunder­ bare Kraft des durch Gottes Gnade Erlösten. So wurde er wohl von Königen und Fürsten, von Päpsten und Bischöfen bewundert und von den Humanisten wie ein Gott verehrt. 2lber das Volk zu bewegen, reichte seine Kraft nicht aus. Doch sind seine Gedanken nicht untergegangen. Sie sind in der Auf­ klärung neu geweckt und leben bis in die Gegenwart als „Geheimreligion der Gebildeten".

§46. Die Kunst des Spätmittelalters. 1. Die universalen religiösen Ideen der katholischen Kirche verlieren im späten Mittelalter ihre Macht. Ebenso wie die politische Ordnung des Abendlanbes und wie die scholastische Theologie verliert auch die Kunst dieser Zeit ihr einheitliches Gepräge und die große überpersönliche Kraft. Der Ausbau des Kirchenraumes ist nicht mehr vom Dogma und Kultus allein bestimmt. Die Bettelorden brauchen weite, übersichtliche Räume für ihre Predigten. Die „Hallenkirchen" werden immer häufiger; d. h. es werden alle Schiffe gleich hoch gebildet, so daß der Blick nach allen Seiten hin frei­ gegeben ist. Die jähe Äufwärtsbewegung des Mittelschiffes, die strenge Füh­

rung des Raumes von West nach Ost geht darüber verloren. Vielfach zerstört auch die allzu üppige Entfaltung der spätgotischen Ornamentik, die reiche Ausstattung des Kirchenraums mit geschnitzten, vergoldeten und gemalten Kunstwerken, die Feierlichkeit der gotischen Dome. Es entstehen stimmungs­ volle Jnnenräume für die private Andacht, in die man sich zu stillem Beten und Träumen zurückziehen kann, die mit ihren Altären, Figuren und Ge­ stühlen das Auge aber auch zum Staunen und zu beschaulichem Genießen reizen. Im Einzelnen geht vieles auf weltliche Stifter zurück, die ihrer Frömmigkeit wie ihrem Reichtum und ihrer Vornehmheit damit ein Denkmal etzen (Stifterbildnisse, Grabmale). Die Zeit, wo die Künstler nur im Auftrag der Geistlichen arbeiteten und von ihnen ihre Anweisungen empfingen, ist vorbei. Eine besonders edle und eigentümliche Gestaltung erfährt der spätgotische Stil im östlichen Deutschland und in den Hansastädten, wo der natürliche Bruchstein fehlt, in den Backsteinbauten (Lübeck, Danzig, Chorin). Das andersartige Material fordert hier einen Verzicht auf die reiche figürlich­ dekorative Ausgestaltung der einzelnen Kapitelle, Bogenfelder usw. Der Geist des Bauwerks der Kirche spricht sich nur noch — und umso eindring­ licher — in der Gestaltung der baulichen Formen selber aus, deren Wirkung, z. T. durch Farbwechsel unterstützt, bis zum höchsten Ausdruck geistiger Feinheit, Sttenge und Kraft gesteigert wird.

§46

Die Kunst des Spätmittelalters

201

2. Eine weltlich gestimmte Bildkunst unter der Hülle kirchlicher Vorwürfe pflegten in den Niederlanden schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts die Brüder van Eyck. Die luxuriöse Pracht der Malerei, wie wir sie etwa am Genter Altar bewundern, läßt den geistigen Sinn der heiligen Geschehnisie fast übersehen; und auch die dargeftellten heiligen Personen scheinen mehr mit sich selbst und mit ihrem menschlichen Leben beschäftigt zu sein, als daß sie in alter Weise als Vorbilder und Helfer der andächtigen Verehrung des Beters entgegenkommen. In Deutschland bleibt die bildende Kunst des 15. Jahrhunderts im allgemeinen noch stärker kirchlich gebunden. Aber die klassische Gotik gehört auch hier der Vergangenheit an. Stephan Lochners Kölner Madonnen sind mit Andacht und frommer Liebe gemalt, aber auch sie sind in ihrer träu­ merischen menschlichen Zartheit und Heiligkeit gleichsam nur um ihrer selbst willen da. Das Erleben des Menschlichen und Persönlichen wird für die Maler der Folgezeit immer eindeutiger das Entscheidende, und unter den gotischen Formen sucht und findet man vor allem die natürliche Wirk­ lichkeit. Die Gottesmutter mit dem Jesusknaben wird jetzt zum Urbild warmer Mütterlichkeit. Man schildert ihr Leben in behaglichen, bürgerlichen Räumen oder auch im freien Feld und Garten mit viel Liebe und Gemüt. Die Heiligen ttagen nicht bloß äußerlich das Kostüm ihrer Zeit. In der Be­ tonung des Wirklichen schreckt man auch vor dem derb Volkstümlichen, ja dem Rohen und Gemeinen nicht zurück. Besondere Bedeutung gewinnt dabei die volkstümliche Entwicklung der Graphik in den weite Verbreitung ermög­ lichenden Holzschnitten und Kupferstichen (Meister E. S., Schongauer, der Hausbuchmeister). Wir begegnen auf den Bildern der heiligen Geschichte den deutschen Rittern, Bürgern und Bauern des 15. Jahrhunderts mit ihren Leidenschaften, ihren Schwächen und Sünden. Es ist, als ob man betonen wollte, daß die Predigt der Kirche nicht für einen Kreis besonders frommer und geistlicher Personen, sondern für jedermann da ist und im Alltag des irdischen Lebens gehört und befolgt werden soll. Neben den starken Männern stehen aber auch die Bußprediger, die verzehrten Asketen und die gequälten Grübler. Mit besonderer Eindringlichkeit wird das Leiden Christi immer von neuem geschildert. Die Pieta (Marienklage), eine deutsche Erfindung aus der Zeit um 1300, zeigt den grausam zerrissenen Leichnam des Herrn auf Mariens Schoß, die ihn im fassungslosen oder mühsam gebändigten Schmerz bettachtet. Man liebt die Steigerung des seelischen Empfindens bis zum äußersten. Es ist eine Zeit voller unausgeglichener Widersprüche, die sich in der Kunst des ausgehenden Mittelalters widerspiegelt: eine Zeit üppiger Kraftentfaltung mit dem Willen, das Leben wirklich zu sehen und zu meistern, und zugleich eine Zeit fragender Unruhe und leidenschaftlicher Klage, Anklage und Erwartung.

202

Das Suchen nach neuen Wegen

§47. Am Vorabend der Reformation. 1. Deutschland war um 1500 von starken inneren Spannungen und Gegensätzen erfüllt. Auf der einen Seite eine dreiste, schamlose Weltlichkeit, die in Kleiberluxus und roher Genußsucht sich breitmachte. Die Trunksucht der Deutschen war sprichwörtlich. Sie wird von Hutten wie von Luther immer wieder gegeißelt. Auf der anderen Seite eine hochgradige, fast krankhafte Erregung der Frömmigkeit auch in den breiten VolkSmafsen, ein unruhiges, unbefriedigtes Suchen nach den himmlischen Gnadenschätzen, eine tief­ erschrockene Angst vor dem göttlichen Gericht im Diesseits und im Jenseits. Holbeins „Totentanz", Dürers „Apokalyptische Reiter", die ungezählten Bilder vom jüngsten Gericht legen dafür ein beredtes Zeugnis ab. Eigentlicher bewußter und frivoler Unglaube, wie er in Italien nicht selten zu finden war, läßt sich in Deutschland kaum beobachten. Daher die Entrüstung und daS Grauen Martin Luthers, als er bei seiner Romfahrt die italienischen Zu­ stände kennen lernte. Mer die Unzufriedenheit und die Kritik gegenüber dem kirchlichen System und ihren Vertretern ist weit verbreitet.

Die Beschwerden (gravamina) der deutschen Nation über die Aussaugung durch die Finanzkünste der Kurie stehen seit langem auf der Tagesordnung jedes deutschen Reichstags. Der derbe Spott über die Unwissenheit und Unsittlichkeit von Klerikern und Mönchen war das unerschöpfliche Thema aller Schwänke und Polksstücke im Anfang des 16. Jahrhunderts. Der Wider­ sinn deS Zölibats trat in der Zuchtlosigkeit vieler Klöster und Pfarrhäuser gar zu erschreckend an den Tag. ES ist aber kennzeichnend für die Treuherzig­ keit und tiefe Gläubigkeit, die damals daS deutsche Volk erfüllte, daß trotzdem daS Vertrauen zu der Kirche und ihren Einrichtungen noch unerschüttert war und nach immer neuen Wegen der Verwirklichung suchte. 2. Die Verweltlichung der Kirche ist am deutlichsten zu erkennen an dem Auftreten und der Lebenshaltung ihrer führenden Männer, der reichsunmittelbaren Bischöfe und Mte. Otto d. Gr. hatte sie als staatliche

Beamte gemeint, als er ihnen staatliches Gut, staatliche Vollmachten und Aufgaben übertrug. Sie waren inzwischen zu Landesfürsten und Territorial­ herren geworden; sie wetteiferten in Entfaltung von Macht und Prunk mit den weltlichen Fürsten und überließen ihre geistlichen Pflichten niederen, schlecht bezahlten, rohen und unwissenden Organen (Verpachtung bisweilen an den Mindestfordernden!). Zum Mainzer Hoftag Barbarossas erschien der Erzbischof von Köln mit 1700 GefolgSmannen, der Pfalzgraf bei Rhein und der Landgraf von Thü­ ringen mit je 1000, der Abt von Fulda mit 500, genau wie der Herzog von Österreich! Der weltlichen Macht entsprach der weltliche Sinn. Beim Kölner Reichstag 1505 eröffnete der Erzbischof mit einer Fürstäbtissin den festlichen Tanz. Der Hohenzoller Albrecht von Mainz, Bischof, Erzbischof und Kar-

§47

Spannungen und Gegensätze. Verweltlichung der Kirche

203

dinal der Kirche, hält Ulrich von Hutten als Hofpoeten in seinem Gefolge, während dieser die schärfsten Stteitschristen gegen den Papst schleudert! Von einem anderen Mainzer Erzbischof wird berichtet, er habe nur einmal

in seinem Leben selber die Messe gehalten, auch dies nur notgedrungen, bei seiner Bischossweihe, um dann alsbald zum Scheibenschießen zu eilen! Die kirchlichen Güter galten allgemein als Mittel der Versorgung für Fürsten, Adel und städttsches Patriziat. Nicht nur daß nachgeborene Söhne oder Töchter mit einem Klosterplatz versorgt wurden, es kam auch vor, daß Prinzessinnen bei Feststellung ihres Leibgedinges sich das Verfügungsrecht

über eine Anzahl von Pfründen ausmachten. Das Unwesen der Eigenkirche (s. o. S. 135) ging also immer noch im Schwange. Die sittliche Verwahrlosung der meisten Glieder des Mönchstandes wird nicht nur durch den Spott der Dunkelmännerbriefe belegt, sondern durch ein grauenhaftes Vorkommnis, das kurz vor Luthers Auftreten sich in der deutschen Schweiz zugettagen hatte. Dominikaner und Franziskaner stritten sich über die Frage nach der Sündlosigkeit der Maria. Die Franzis­ kaner beriefen sich, um ihre Lieblingslehre zu beweisen, auf die wunderbare Stigmattsation ihres Stifters, des heiligen Franz. Dominikanermönche bewogen einen armseligen Schneider, sich künstlich stigmattsieren zu lassen, um mit dieser Wunderautorität den heiligen Franz auszustechen! Der Bettug wurde entdeckt, die Schuldigen wurden als Ketzer verbrannt. — Verschiedene Versuche von Klosterreformen konnten keine durchgreifende Abhilfe schaffen. Bezeichnend ist, daß vielfach die weltliche Obrigkeit, insbesondere der steten Städte, der ärgerlichen Verwahrlosung zu steuern suchte! Der schlimmste Beweis für das religiöse Versagen der Kirche ist die Hexenbulle des Papstes Innozenz VIII. von 1484 und der in seinem Aufttag von zwei deutschen Dominikanern hergestellte Hexenhammer, eine Anweisung für die Inquisitoren, wie sie die Hexen aufspüren, verhören und beseittgen sollten. Seit den scharfen Gesetzen Karls d. Gr. gegen den Hexenwahn der heid­ nischen Sachsen hat die Kirche jahrhundertelang redlich gegen diesen grauen­ haften Volksaberglauben gekämpft. Thomas von Aquino hat als erster die Lehre von dem unnatürlichen Verkehr der Hexen mit dem Teufel theologisch begründet. Und jener Renaissancepapst, der seinen Kindern und Enkeln im päpstlichen Palast Hochzeitsfeiern veranstaltete, hat den Hexenwahn und die Hexenverfolgung zu einem Hauptstück kirchlicher ^Betätigung gemacht, die auch von der lutherischen Orthodoxie übernommen und erst von der Auf­ klärung überwunden und abgeschafft wurde! (s. u. S. 342, 346). Dieser entsetzliche Wahn, de»n im Laufe der Jahrhunderte schätzungsweise bis an eine Million Menschen zum Opfer gefallen sind, ist, wenn überhaupt, nur zu erklären als eine unselige Vermischung heidnischer und christlicher Motive: Heidnisch ist die Vorstellung von der Zauberkraft

204

Das Suchen nach neuen Wegen

der Hexen und ihrem Verkehr mit dem Satan. (Auf dem Missionsfelde ist heute noch bei fast allen nichtchristlichen Völkern der Zauberwahn die unheim­ liche Großmacht, die alle Gemüter in knechtischer Angst hält.) Christlich ist der heilige Eifer der Bekämpfung, heidnisch wieder das gräßliche Mittel der Folterung und Verbrennung statt der geistigen Überwindung. Diese Hexenverfolgung ist für die christliche Kirche beider Konfessionen der schmerz­ lichste Erweis chrer Entfernung vom Evangelium; und allein die Tatsache, daß erst die Aufklärung diesen Wahn beseitigt hat, sollte genügen, den heute üblichen theologischen Hochmut gegenüber der Aufklärung zu dämpfen (vgl. die Schilderung dieses Problems in Storms großer Novelle „Renate" und in Ina Seidels „Lennacker" das 5. Gesicht). Seit langem bildete der Anspruch des Papstes und der Prälaten auf geist­ liche Gerichtsbarkeit auch für weltliche Händel, an denen Kleriker irgend­ wie beteiligt waren, eine ständig fließende Quelle des Ärgernisses und lang­

wieriger Streitigkeiten. Wenn gar ein Streitfall vor das päpstliche Gericht in Rom gezogen wurde, so wuchsen die ordentlichen und die außerordentlichen (für die nötigen Bestechungen erforderlichen!) Ausgaben ins Ungemessene; denn auf nichts verstand sich seit den Tagen von Avignon die Kurie so treff­ lich wie auf die Künste der Geldschneiderei. Schamlos wurden geistliche Mittel für sehr weltliche Zwecke mißbraucht; hören wir doch z. B., daß im bergischen Lande ein ganzes Kirchspiel mit dem Interdikt belegt wurde, weil die Wein­ fässer eines Bonner Dechanten bei der Durchfahrt aufgehalten waren und der geistliche Herr die verlangte Genugtuung nicht erhalten hatte! Einer der schlimmsten Belege für die Verwirrung der sittlichen Begriffe jener Zeit ist in dem Gradmesser für die Höhe kirchlicher Strafen zu finden. „Bordellbesuch (der Priester) wurde nämlich mit der niedrigsten Strafe, Begräbnis eines Exkommunizierten mit der höchsten belegt; in Laien­ fällen wurde die Überschreitung des Fastengebotes noch einmal so streng ge­ ahndet wie Ehebruch, die Beteiligung an der Beraubung eines Priesters sogar dreimal so streng" (Andreas). Das heißt, schwere Verfehlungen sittlicher Art wurden sehr leicht genommen, Verstöße aber gegen kultische Vorschrif­ ten oder Personen waren Majestätsverbrechen; genau wie im Heidentum die Verletzung eines Tabu! 3. Das religiöse Suchen der Zeit bekundet sich in einer unerhörten Steige­ rung und Massenhaftigkeit, in einer groben Veräußerlichung aller religiösen Einrichtungen und Bräuche. Das ganze Land war voller heiliger Stätten, Zeiten, Personen, Gegenstände, Einrichtungen und Bräuche, so daß ein Beobachter mit dem Apostel Paulus zu Athen (Apg. 17,16) hätte ergrim­ men können, weil das Land so voll Götzenbilder war. Man schätzt, daß es in der Stadt Erfurt bei etwa 20000 Einwohnern in Gemeindekirchen und Klöstern an 100 gottesdienstliche Stätten gab! Wurde auch nickt wenig gepredigt (Geiler von Kaisersberg!), so überwog doch

§ 47

Massenhaftigkeit und Veräußerlichung des religiösen Betriebs

205

weitaus der Meßkultus. Seitdem durch die Lehre von der Transsubstantiation (der Umwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi) aus dem Abendmahl, der Austeilung der himmlischen Gabe an die Gemeinde, ein richtiges Opfer geworden war, das der Priester Gott darbringt, um Le­ benden und Toten allerlei Vorteile irdischer und himmlischer Art zuzuwen­ den, häuften sich die Schenkungen und Stiftungen für solche Opfermessen deratt, daß in allen Kirchen eine größere Zahl von Altären errichtet und eine sehr große Zahl von „Altaristen" (d. h. Priestern, die nur den Altardienst besorgen, im Unterschied zu den „Leutpriestern", die für die Seelsorge da sind) angestellt werden mußte; hatte doch die Kurie es durchgesetzt, daß der Priester täglich nur eine Messe lesen dürfe, weil er sie „nüchtern" lesen solle. In Breslau zählte man daher an zwei Hauptkirchen 236 Altaristen! Die meisten dieser Meßpriester waren kläglich besoldet, waren roh und unwissend und bildeten ein Proletariat von Klerikern. Die Zahl der kirchlichen Feste hatte sich seit der Karolingerzeit vervielfacht. Eine Kölner Synode hatte schon 1307 Anlaß zu ermahnen, das Volk an den nicht als kirchliche Feste ausgezeichneten Tagen zur Arbeit anzuhalten; denn damals ruhte in Köln schon an rund 100 Tagen des Jahres die Arbeit! An kirchlichen Bittgängen, Prozessionen zählte man zu Würzburg in der Mitte des 14. Jahrhunderts schon 14 jährlich wiederkehrende; dazu kamen bei besonderen öffentlichen Notständen außerordentliche Prozessionen. Ihre krankhafteste Gestalt sind die Geißlerfahrten, die zum erstenmal im 13. Jahrhundert von Italien aus über die Alpen kamen und zur Zeit der Pest (1348) eine Volkskrankheit und eine Volksplage wurden; zugleich ein erschütternder Beleg für den Bußernst der aufgewühlten Volksseele.

Deutschland wird überschwemmt mit Reliquien. Friedrich der Weise sammelte in der Schloßkirche zu Wittenberg einen Schatz von über 19000 Stück, durch deren Verehrung man einen Ablaß erwerben konnte von über 2 Millionen Jahren (1 Jahr Ablaß heißt: soviel Nachlaß von Sündenftrafen, wie man in der alten Kirche durch ein Jahr strenger Kirchenbuße gewinnen konnte). „Unglaublich ist das schamlose Wesen, mit dem die Reliquien die Welt zum Starren halten: Dreimal kann ich die Vorhaut Christi nachweisen; 14 Nägel zeigt man statt der drei, mit denen Christus ans Kreuz genagelt worden ist; drei Röcke statt des einen ungenähten Rockes, um den die Kriegsknechte gelost haben; zweimal die Kreuzinschrift; dreimal die Lanzenspitze, die Christi Brust durchbohrt hat; fünfmal das Leintuch, das im Grabe seinen Leichnam umhüllt hat. Außerdem wird das ganze beim heiligen Abendmahl benutzte Geschirr gezeigt, und so geht es unauf­ hörlich weiter mit dem albernen Zeug! Ein Heiliger braucht nur ein wenig bekannt zu sein, und schon hat er zwei oder drei Leichname! Ich weiß einen Ort, da wirb ein Stück Bimsstein boch verehrt als — Gehirn des Petrus! Andere weniger anständige Dinge aufzuführen, schäme ich mich." (Calvin, Mahnschreiben an Kaiser Karl V.)

206

Das Suchen nach neuen Wegen

Die heiligen Stätten und heiligen Überbleibsel lockten den «Strom der

Wallfahrer. Außer nach Rom und Jerusalem ergoß er sich gern nach Son Jago di Compostela in Spanien (Jakobsbrüder). In Deutschland waren Köln, Aachen und Trier (der heilige Rock!) beliebte Ziele. Auch unbekannte Orte wurden durch ein großes Mirakel plötzlich mit Wallfahrten über­ schwemmt (das heilige Blut zu WilSnack in der Mark!). Das ungestüme religiöse Verlangen begnügte sich nicht damit, überall aus Erden sinnliche, greifbare Verkörperungen der himmlischen Heilskräfte zu suchen und zu errichten. Die religiöse Phantasie bevölkerte auch den Himmel mit immer neuen Heiligen und Helfern. Auch hier gilt das Gesetz der Mafsenhafttgkeit. Ein Mißverständnis schafft in Köln die gern geglaubte Legende von den 10000 heiligen Jungfrauen. Jeder Tag bekommt seinen Heiligen, jede Plage ihren Nothelfer. (Vierzehn, 2mal 7, für alle Übel Leibes und der Seele: die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen bei Bamberg!) Über ihnen allen thront die Jungfrau, die Gottesmutter, die in der volkstümlichen Theologie (die vielen hochbeliebten Bilder von der Krönung Mariä!) als dritte Person der Trinität erscheint! In ihrer Anbetung mischt sich altdeutsche Verehrung für die Reinheit und Würde der Frau, natürliche Achtung für Mutter und Mütterlichkeit mit den Motiven ritterlicher Minne­ poesie, oft auch kecker, zudringlicher Begehrlichkeit und einer bunten Lust am Fabulieren (ungezählte Marienlegenden und Marienbilder!). Der Marienkult gewinnt die Herzen der Männer und der Frauen, weil der Herr Christus durch die scholastische Theologie den Gläubigen entfremdet, bas alte, ehrerbiettge, starke Verttauen des Helianddichters zu dem himmlischen Gefolgsherrn verlorengegangen ist. Jetzt werden deshalb nicht nur die vielen Marien­ bilder gemalt, die hohe Frau gern mit einem Rosenkranz umgeben, sondern eS kommt auch der kultische Gebrauch des „Rosenkranzes" auf, um das Zählen der in ihrer Masse besonders verdienstlichen Gebete zu erleichtern (daher die künstlerischen Darstellungen der Maria im Rosenkranz oder Rosenhag). Der von den Franziskanern vorzüglich gepflegte Glaube an die Sündlosigkeit der Gottesmutter wirkt sich aus in der Verehrung auch ihrer Mutter Anna, weil sie die heilige Gottesmutter geboren hat: „Halten wir den Schrein, worin Reliquien von Heiligen bewahrt werden, für geweiht und ehr­ würdig, um wieviel mehr müssen wir dann die fromme Anna, in deren Schoß einst die Gottesmutter ohne Makel ruhte, aufs höchste verehren"! Diese heilige Anna wurde sehr rasch außerordentlich beliebt, besonders als Schutzpattonin der Bergleute (Luthers Gelübde!). Die Fürbitte und Hilfe der Heiligen, besonders der heiligen Jungfrau zu gewinnen, waren die vielen Bruderschaften das bequemste Mittel. Ihre Glieder waren zu gewissen kirchlichen Übungen, insbesondere zu Gebetleistungen (Vaterunser, Ave Maria) verpflichtet, und deren Summe sollte

§47

Marienkult — Dom Mittelalter zur Reformation

207

jedem Mitglied zugute kommen: ein ungeheurer Anreiz, diese Versicherung auf den Himmel zu verstärken durch die Zugehörigkeit zu mehreren Bruder­ schaften! Ein Hosbeamter Friedrichs des Weisen hat eS auf 35 gebracht! Unter den abergläubischen Vorstellungen und Bräuchen, die in jener Zeit als Religionsersatz bienten, spielt die Astrologie (s. o. S. 7.10) eine ganz besonders ausgebreitete und verhängnisvolle Rolle. Ungezählte Men­ schen unter Reich und Arm ließen sich baS Horoskop stellen, weil sie meinten, auS der Stellung der Gestirne am Tage ihrer Geburt das Schicksal ihres LebenSlaufeS ablesen und (ein merkwürdiger, aber psychologisch naheliegender Widerspruch) irgendwie beeinflusien zu können. Sogar der Heilige Vater ließ die Gestirne befragen, wenn er eine wichtige Sitzung ansetzen wollte. Melanchthon, wie viele gelehrte Humanisten, unterlag dieser Afterkunst, während Luther über ihr stand. AuS dem Wust dieses massenhaften heidnischen Aberglaubens den wirk­ lichen christlichen GotteSglauben zu erlösen, war eine fast unmögliche Auf­ gabe, aber doch auch «ine dringliche und verheißungsvolle. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß auch viele treue Seelsorger in Kloster und Gemeinde ihren Dienst taten, und das religiöse Suchen deS Volkes war durchaus ernst gemeint. „Die Welt, auS der die Reformation geboren wurde, war unendlich reich an innerem Verlangen, an geistiger Schärfe, an Mut zum Bekenntnis .... Die religiösen Persönlichkeiten, von denen die Welt damals wimmelte, gerieten bezeichnenderweise fast überall, in Spanien und Italien sogut wie in Deutschland, in Konflikte mit den kirchlichen Gerichten" (Karl Brandt). 4. Der lebendige Gott verschwindet im Spätmittelalter hinter der Wolke seiner Mittler und Zeugen. Der Mensch wird aber nicht durch ein künstliches System ungezählter Aushilfen und Ersatzmittel gerettet, sondern nur durch eine überwältigende Wirklichkeit. Die Zeit der Reformen war zu Ende. Deutschland wartete auf den Reformator! Man kann Luthers Werk als Vollendung des Mittelalters, als Erfül­ lung seiner fruchtbaren Ansätze, ober als seinen Gegensatz und seine Auf­ hebung betrachten; man kann also die Geschichte der Kirche im Mittelalter als radikalen Abfall vom Urchristentum oder als folgerichtige Entwick­ lung urchristlicher Triebkräfte beschreiben. Beide Ansichten sind richtig oder

falsch, je nachdem ob man sie zusammen nimmt ober vereinzelt. Die Er­ bauungsliteratur, wie sie besonders in den edelsten Schriften der Mystik sich barstellt, die ErbauungS- und Erziehungspraxis in den reformierten Klöstern, wie Luther selbst sie erfahren hat, dies alles bedeutet einen hohen Stand christlicher Erkenntnis und bezeugt, daß die mittelalterliche Kirche nicht umsonst an der Seele des deutschen Menschen gearbeitet hat. Von hier auS führte der Weg zur Reformation, ähnlich wie von den Gipfelpunkten der prophetischen Predigt, der Psalmen und der Weisheit des Alten Testaments der Weg zum Reuen Testament geführt hat. Die vulgäre kirchliche Praxis

208

Luther und die deutsche Reformation

aber mit der Massenhaftigkeit und Veräußerlichung ihres Betriebes, mit der Verrechtlichung der Lehre, mit der rohen Verweltlichung der Kleriker und Mönche, bedeutete eine Verkehrung des Evangeliums in sein Gegenteil, ähnlich wie der spätjüdische Rabbinismus eine traurige Karikatur ist gegen­ über den Grundlagen der prophetischen Mosereligion. Nur eine solche Dialektik der Betrachtung wird der Wirklichkeit der Dinge gerecht und eröffnet ein echtes Verständnis für den Zusammenhang von Mittelalter und Reformation. Unser Satz „Deutschland wartete auf den Reformator" will also besagen: Deutschland bedurfte der Reformation und war reif für die Reformation.

Reformation und Gegenreformation I. Die deutsche Reformation: Martin Luther.

§48. Der Gang seines Lebens bis zum Thesenanschlag.

1. In der Umgegend von Salzungen an der Werra, an der Grenze des thüringisch-fränkischen Gebietes war das Geschlecht der Luder seit Jahr­ hunderten ansässig, eine Sippe von Bauern, die sich der Freiheit und auskömm­ licher Lebensverhältnisie erfreuten, weil der Hof immer ungeteilt auf den jüngsten Sohn überging. Martin Luthers Vater war dadurch als älterer Sohn genötigt, Hof und Landwirtschaft zu verlassen und in dem neuauf­ blühenden Kupferbergbau der Grafschaft Mansfeld als Bergmann sein Brot zu suchen. Mit seinem jungen Weib Margarete geb. Ziegler und seinem erstgeborenen Söhnchen zog er nach Eis leben. Dort wurde ihm am 10. Nov. 1483 sein zweiter Sohn geboren und, der Sitte gemäß, am folgenden Tage nach dem Heiligen des Tages auf den Namen Martin getauft. Aber schon im folgenden Jahre verzog der Vater mit der Familie nach Mansfeld. Dort hat er es durch äußersten Fleiß und härteste Sparsamkeit im Laufe der Jahre zu wirtschaftlicher Selbständigkeit, ja zu einem gewissen Wohlstand und zu einer bürgerlich angesehenen Stellung gebracht. Die Erziehung in Haus und Schule war nach der Sitte der Zeit hart und rauh. Doch darf man nicht behaupten, Martin habe eine fteud- und lichtlose Jugend verlebt; oder gar, seine späteren Gewissensnöte und Seelenängste seien eine Folge der verschüchterten und verängstigten Kinderzeit. Die Liebe der Eltern hat er nie verkannt und beiden ein dankbares, ehrendes Andenken bewahrt. 2. Die ersten Schuljahre hat er in Mansfeld verbracht. Darauf folgte ein einjähriger Aufenthalt in Magdeburg, wo er die Schule der Brüder vom

Luthers Werdegang

§48

209

gemeinsamen Leben besuchte. Dann taten ihn die Eltern nach Eisenach, vermutlich in der Hoffnung, daß dortige Verwandte sich seiner annehmen würben. Er mußte sich freilich auch dort zunächst als Singeschüler seinen UMerhalt verdienen, bis eines Tages eine angesehene Matrone, die durch sein herzliches Singen und Beten in der Kirche auf ihn aufmerksam geworden war, ihm einen Freitisch, vielleicht auch Wohnung in ihrem Hause anbot, Frau Ursula Cotta aus dem frommen und angesehenen Hause Schalbe. Auch in der Lateinschule herrschte ein freier und frommer Geist. So wurden die Eisenacher Jahre chm eine goldene Zeit und Eisenach „seine liebe Stadt". Der Vater, inzwischen zu auskömmlichem Wohlstand gelangt, wollte dem Sohn eine gelehrte Ausbildung und gesicherte Stellung verschaffen. So wurde er im April 1501 zu Erfurt immatrikuliert und studierte wie üblich zunächst die freien Künste (Grammatik, Rhetorik, Philosophie, Mathematik und Astronomie). Zum frühestmöglichen Termin, Februar 1505, wurde er mit dem üblichen Pomp als zweitbester (von siebzehn) zum Magister promoviert und damit zum philosophischen Lehramt zugelafsen. 3. Zwei Monate später begann er in der juristischen Fakultät sein eigentliches Fachstudium, das ihn nach dem Willen seines Vaters zu einem angesehenen weltlichen Beruf als Bürgermeister, Ratsherr oder fürstlicher Beamter führen sollte. Er unterbrach es Ende Juni durch einen Besuch in der Heimat. Auf dem Rückwege ereilte ihn bei dem Dorfe Stotternheim in der Nähe von Erfurt ein schweres Gewitter. Ein flammender Blitz schlug vor ihm ein, und ihm entfuhr das Gelübde: „Hilf, liebe Sankt Anna, ich will ein Mönch wer­ den!" Ihm war eben ein lieber Freund gestorben; er selbst hatte sich kurz vorher mit seinem Degen am Schenkel schwer verletzt, so daß er meinte, verbluten zu müssen. Todesgedanken hatten anscheinend sein Inneres in der Tiefe bewegt. Doch reute ihn nachher das übereilte Gelübde; eS erschien ihm als unfreiwillig und erpreßt. Trotzdem fühlte er sich gebunden, ihm Folge zu leisten. Vierzehn Tage später lud er seine Freunde zum AbschiebSmahl, um am andern Morgen in das der Universität nahe verbundene strenge Kloster der Augustiner-Eremiten einzutreten — so der genaue Name dieses Mönchs­ ordens (vgl. S. 167) im Unterschied von den älteren Augustiner-Chorherren. Nach der üblichen Beobachtungszeit wurde er als Novize, ein Jahr darauf mit dem feierlichen Gelübde als Vollmönch ausgenommen. Da man seinen tieffrommen Ernst erkannte, wurde er zum Priesteramt bestimmt. Zu der Priesterweihe und der feierlichen ersten Messe (April 1507) erschien der Vater, den der Eintritt seines hochbegabten Sohnes ins Kloster tief ver­ wundet hatte. Es kam zu einer äußerlichen Aussöhnung mit dem Sohn. Das Kloster bestimmt ihn nun zum theologischen Studium; doch wird er im Herbst 1508 vorübergehend nach Wittenberg versetzt, um dort an der neugegründeten Universität zugleich philosophische Vorlesungen zu halten (Aristoteles). 3m Herbst 1509 nach Erfurt zurückberufen, wird er hier Senten14

Schuster, Kirchengeschtchte

210

Luther und die deutsche Reformation

tiar in der theologischen Fakultät. Er hat als solcher über das berühmte Lehr­ buch des Scholastikers Petrus Lombardus „Die Sentenzen" (d. h. Glaubens­ gedanken) Vorlesungen zu halten. Diese Tätigkeit wird unterbrochen durch die Romreise Dez.—Febr. 1510/11. Er war Begleiter eines älteren Ordens­ bruders, der einen Versafsungskonflikt mit dem General in Rom beilegen sollte. Der Romaufenthalt beweist Luthers inbrünstig tiefe, altgläubige Frömmigkeit, hat aber keinen Einfluß auf seine geistige Entwicklung zum Reformator. Ende 1511 wird er endgültig nach Wittenberg versetzt und tritt hier in nahe innere Berührung mit dem mystisch-frommen und gütigen General­ vikar der sächsischen Ordensprovinz, Johann von Stäupitz. Auf dessen Betreiben wird er 1512 Doktor der Theologie und bekommt das biblische Lehr­ amt in der theologischen Fakultät. Unter den biblischen Vorlesungen dieser Jahre sind bedeutsam die Psalmenvorlesungen und besonders die über den Römerbrief. Der Bibel zuliebe lernt er ihre Ursprachen, griechisch und he­ bräisch. Er studiert mystische Schriften, den heiligen Bernhard, Tauler und die Theologia deutsch, vor allem aber Augustin. Alles dies im Dienst der Bibelkenntnis und Bibelerforschung. Der Durchbruch zur reformato­ rischen Grundlehre von der Rechtfertigung aus Gnaden allein fällt vermutlich in das Frühjahr 1513. Dann waren ihm noch 4% Jahre stillen, inneren Ausreifens beschert, bis er mit dem Thesenanschlag vom 31. Okt. 1517 an die Öffentlichkeit trat.

§ 49. Die 95 Thesen. 1. Leo X. hatte für den Bau der Peterskirche einen Jubel-Ablaß aus­ geschrieben, der dem Empfänger unerhörte Vergünstigungen gewährte: 1. vollkommenen Erlaß aller kirchlichen Sündenstrafen (d. h. der nach Reue und Beichte auferlegten Satisfaktionsleistungen), einschließlich der Fegefeuer­ strafen ; 2. das Recht, sich einen (geeigneten, bequemen) Beichtvater zu wählen; 3. Anteil an allen guten Werken der Christenheit; 4. Vollmacht, die Seelen Verstorbener aus dem Fegefeuer zu befreien. Der Vertrieb des Ablasses be­ durfte der Zustimmung des Landesherren (die z. B. Friedrich der Weise für sein Kurfürstentum versagte). Für das Kurfürstentum Brandenburg und die Bistümer Mainz, Magdeburg und Halberstadt wurde dem jungen Hohenzollern Albrecht, dem Inhaber dieser drei Bistümer, der Gesamtvertrüb anvertraut. Albrechts Unterkommisiar, der Dominikanermönch Johann Tetzel, verkündete den Ablaß in einer so marktschreierischen Aufmachung und in einer theologisch so bedenklichen Formulierung, daß der Eindruck entstehen mußte (und sollte), als ob durch den bloßen Kauf des Ablaßzettels, ohne Reue, Buße und Absolution, nicht nur die kirchlichen Sündenstrafen, sondern auch die Schuld der Sünde vor Gottes Gericht getilgt würden.

§49

Die 95 Thesen

211

Albrecht von Brandenburg hatte nur durch eine besondere Zulage von 10000 Dukaten, außer den üblichen Gebühren von über 12000 Dukaten, die Einwilligung des Papstes zu der dem kirchlichen Recht widerstreitenden Übernahme der drei Bistümer Magdeburg, Halberstadt und Mainz erkauft. Er hatte die Summe beim Bankhaus der Fugger borgen müssen. Der Ablaßhandel sollte ihm die nötigen Mittel zur Bezahlung seiner Schuld verschaffen; denn die eine Hälfte der Einkünfte ging an den Papst, die andere an den Kardinalerzbischof, d. h. in Wirklichkeit an den Agenten der Fugger, der den Ablaßprediger begleitete und sofort die Hälfte für sein Bankhaus einstrich. Durch diese Schamlosigkeit des Verfahrens wurde das ganze Handelsgeschäft zwischen dem Papst und dem Primas der deutschen Kirche zu einem öffent­ lichen Ärgernis.

2. Luther hatte als Stellvertreter des Wittenberger Stadtpfarrers die verwüstende Wirkung des Ablasses im Beichtstuhl kennen gelernt. Seine Pfarrkinder, angelockt durch Tetzels Anpreisungen, liefen über die Grenze zum nahegelegenen brandenburgischen Jüterbog und meinten, auf Grund der dort erworbenen Ablaßzettel der ordnungsmäßigen Beichte und Ab­ solution nicht mehr zu bedürfen. Die durch den lateinischen Ausdruck (peccata = Sünden und Sündenstrafen) nahegelegte Verwechslung der Sünde vor Gott und der kirchlichen Sündenstrafen wirkte sich verhängnisvoll aus. Luther eröffnete, da schriftliche Vorstellungen bei seinem vorgesetzten Bischof nicht zum Ziele führten, den Kampf um den Ablaß durch seine 95 Thesen, die er am 31. Oktober 1517, am Vorabend des Allerheiligen­ festes, an die Türe der Schloßkirche heftete. Diese in lateinischer Sprache verfaßten Thesen sollten Leitsätze sein für eine akademische Disputation, zu der er einlud. Wie die Überschrift „Disputa­ tion zur Erklärung der Kraft der Ablässe" anzeigt und eine Reihe von Thesen auch deutlich beweisen, war Luthers bewußte Absicht nicht die, den Ablaß in jeder Gestalt ganz zu verwerfen, sondern ihn auf den vermeintlich ur­ sprünglichen, bescheidenen Sinn zurückzuführen: Nachlaß der von den kirch­ lichen Oberen auferlegten Bußleistungen. Eine Reihe von Thesen aber geht über diese Absicht weit hinaus und mußte den ganzen Ablaß entwerten, z. B. These 36: „Ein jeder Christ, der wahre Reue empfindet über seine Sünden, bat völlige Vergebung von Sttafe und Schuld, die ihm auch ohne Ablaßbriefe lukommt". In Luther kämpfte damals noch der fromme Gehorsam und Respekt des mönchischen Priesters mit der durch sein Bibelstudium geweckten tiefen Einsicht in das Wesen von Sünde und Gnade.

Die Wirkung der Thesen war anders und größer, als Luther erwartet batte. Zur mündlichen Disputation freilich meldete sich niemand. Aber die 95 Sätze wurden sehr bald verdeutscht und durcheilten, wie von Engelshänden getragen, die deutschen Lande. Sie wurden z. B. schon im Dezember in Basel iV

212

Lutherltnb die deutsche Reformation

nachgedruckt. Sie weckten überall ein tiefes Aufhorchen. Die deutsche Ration spürte, daß eine große geschichtliche Stunde geschlagen hatte. 3. Sie Bedeutung der Thesen erschöpft sich keineswegs in dem Kampf gegen den Ablaß. Dann wären sie nur ein historisches Dokument, ohne un­ mittelbare Beziehung auf unsere Gegenwart; denn der Ablaßhandel wurde durch Luthers Auftreten (auch wenn man es ihm nicht gedankt hat) tödlich getroffen und verschwand, und der Ablaß selber spielt heute in der römischen Kirche, zumal in Deutschland, eine verhältnismäßig geringe Rolle. Die dauernde Bedeutung der Thesen liegt in ihren bejahenden Sätzen, in der Lehre von Buße und Gnade. Der Ablaß erschien Luther deshalb so verrucht, weil er den Weg zur wahren Buße und damit zum Heil versperrte. Die erste These bekennt: „Wenn unser Herr und Meister sagt: tut Buße, so will er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen eine stete Buße sei". Und die zweite These fügt sofort die Erläuterung hinzu, daß mit dieser Forderung Christi nicht bas kirchliche Sakrament der Buße gemeint sei (das freilich nicht bestritten werden soll), sondern die das ganze Christenleben formende und ausfüllende innerste Umwandlung des Herzens. Luther nimmt es mit der Buße so ernst, daß er in These 40 versichert: „Wahre Reue sucht und liebt die Strafe; die Fülle des Ablasses dagegen entbindet von der Strafe und bewirkt, daß man ihr gram wird". D. h. wer Ablaß kauft, weiß nichts von der wahren Reue; er will sich nur vor.den Folgen seiner Sünde sichern, aber nicht von der Schuld lösen. Gegen diese falsche Sicherheit, die durch die Ablässe hervorgerufen wird, wendet sich eine Reihe von anderen Thesen (57—59), indem sie die über­ lieferte Lehre von dem Schatz der „Verdienste" angreift, aus denen der Zlblaß gespendet werden könne. Besonders eindrucksvoll rufen die beiden Schlußthesen zum unablässigen tapferen Kampf in der Nachfolge des kreuz­ tragenden Christus auf: „Man ermahne die Christen, daß sie ihrem Haupte Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen sich befleißigen und also mehr ihr Vertrauen darauf setzen, durch viele Trübsale ins Himmel­ reich einzugehen, als durch die Vertröstung (der Äblaßprediger): cS hat keine

Gefahr." Die Lehre von der Buße wird bestätigt durch die Lehre von der Gnade, die nur dem, aber auch sicher dem zuteil wirb, der in aufrichtiger Reue und Buße steht (und also die Strafen lieber sucht als meidet und deshalb auf den Ablaß verzichtet); verkündet doch die 62. These: „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes". Der Kirche ist also nicht ein Schatz von Verdiensten Christi und der Heiligen zu eigen, aus dem sie nach ihrem Ermessen und zu ihrer Verherrlichung Ablaß spenden dürfte; sondern ihr ist eine Botschaft anver­ traut, die frohe Botschaft von der Gnade Gottes, durch die der Sünder selig und Gott verherrlicht wird.

§ 49f.

Die Bedeutung der Thesen. — Zn der Hölle der Verzweiflung

213

§ 50. Luthers Kampf um den gnädigen Gott. 1. Luther ist durch den Blitz zu Stotternheim ins Kloster getrieben/weil seine Gewissenhaftigkeit ihm nicht erlaubte, das im Todesschrecken gegebene Gelübde als ein erpreßtes und daher ungültiges zu widerrufen. Wir sind nicht imstande, aus den Erfahrungen seiner harten Kindheit den unerhörten, allen seinen Mitmönchen und Vorgesetzten unbegreiflichen, unerbittlichen Ernst seines Sündenbewußtseins psychologisch zu erklären. Wir können nur die Tatsache feststellen, daß er den Abstand des geschöpflichen, sündigen Menschen von der allmächtigen Majestät des ewigen und heiligen Gottes so ungeheuer tief empfand, daß dieser Abgrund durch keine menschliche Be­ mühung zu überbrücken war. Hier versagten die in jahrhundertelanger Er­ fahrung bewährten Mittel katholischer Erziehung. Ihm verhalfen zum Frie­ den weder die kirchlichen Sakramente, die unter mystischen Wonneschauern die göttliche Gnade „eingießen", noch die bis aufs Äußerste gesteigerten Mittel der moralischen Selbsterziehung mit Askese und allen Künsten der sittlichen Dressur. Diese krampfhaften Bemühungen stießen ihn nur immer tiefer in die Verzweiflung hinein. Das heißt: weder das in der Kirche mit­ geschleppte Heidentum (die Sakramentsmagie), noch das Judentum (die gesetzliche Werkgerechtigkeit) konnten ihm helfen. Er wartete auf das

Evangelium! „Ich kenne einen Menschen, der es versichert hat, er habe diese Strafen (der Ver­ zweiflung) öfters erlitten; sie wären so groß und höllisch gewesen, daß keine Zunge es aussprechen, keine Feder es beschreiben könne; also daß wenn sie nur eine halbe Stunde, ja nur den zehnten Teil einer Stunde anhallen sollten, so müßte der Mensch völlig zu Grunde gehen, und alle seine Gebeine würben in Asche vatcfyrt“ (Erläuterung der Thesen).

Diese Höllenqualen der Verzweiflung klingen auch wieder in der 16. These, wonach Hölle, Fegefeuer und Himmel sich so unterscheiden wie Verzweifeln, beinah Verzweifeln und des Heiles gewiß sein. Sie wurden vermehrt durch die kirchliche Lehre der Prädestination (Vorherbestimmung) ; denn Luther meinte auf Grund seiner vergeblichen Bemühungen annehmen zu müssen, er sei nun einmal durch Gottes unergründlichen Ratschluß zu Verdammnis und Hölle vorherbestimmt! Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren; mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, darin ich war geboren. Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Gutö am Leben mein, die Sünd hat mich besessen. (Nun fteut euch. Str. 2)

2. Aus diesen verzweifelten Kämpfen ist Luther erlöst worden durch das richtige Verständnis eines Pauluswortes (Röm. 1,17): „Die Gerechtigkeit

214

Luther und die deutsche Reformation

Gottes wird im Evangelium offenbart, wie geschrieben steht: der Gerechte lebt seines Glaubens". Er hatte bisher gemeint, dies Wort von der Ge­ rechtigkeit Gottes nach der üblichen Auslegung so verstehen zu müssen, daß es Gott als den gerechten Richter bezeichne, der nur den Gerechten an­ erkenne, alle Sünder und Ungerechten aber, zu denen er sich selber zählte, verdientermaßen verdamme. Er meinte diesen gerechten Gott, der nicht nur durch das Gesetz des AT., sondern auch durch das (gesetzlich mißverstandene) Evangelium den aufrichtigen Menschen in die Verzweiflung stößt, nicht lieben, sondern hassen zu müssen, bis ihm das Wort: „Der Gerechte lebt seines Glaubens" die Augen öffnete; denn jetzt begriff er, daß der Apostel hier nicht von der Gerechtigkeit redet, die Gott fordert, sondern vielmehr von der Gerechtigkeit, die Gott aus Gnade und Barmherzigkeit den Menschen schenkt. Luther wiederholt damit die Lehre und den Sinninhalt des Apostels Paulus, daß Gott um Christi willen den Sünder rechtfertigt (d. h. für gerecht erklärt oder als gerecht annimmt); nicht auf Grund von Leistungen oder Werken, sondern einzig auf Grund seines in Christus begründeten Glaubens an die göttliche Gnade (vgl. o. S. 22). Wenn Luther die paulinische Formel wiederholt, weil sie ihn aus der Verzweiflung erlöst hat, so erklärt sich das daher, daß er sich in einer ganz ähnlichen Lage fand wie einst der Apostel. Auch er hatte es mit einer Kirche und einer Verkündigung zu tun, die das Heil unter dem Schema einer Rechtsordnung betrachtete, die in Gott den Richter erblickte, der von den Menschen Leistungen in Form von erfüllten Geboten verlangt, um auf Grund dieser Verdienste den Menschen zu rechtfertigen. Die katholische Theologie hatte freilich nicht ganz vergessen, daß Gott auch gnädig und barmherzig ist, und lehrte deshalb, daß die Gnade den ernsthaften Bemühungen des Men­ schen entgegenkomme; sie ergänze die Mängel der menschlichen Leistungen. Aber diese Leistungen werden doch eben vorausgesetzt; denn die Gnade kommt nur dem Würdigen zu Hilfe. Mit diesem Schema konnte ein kluger, erfahrener Beichtvater sowohl die Leichtsinnigen heilsam erschrecken: Du mußt das Deine tun! als auch die Verzagten trösten und aufrichten: Du darfst der göttlichen Gnade auch etwas zutrauen! Dies beim Durchschnitt der Menschen wirksame Schema zerbrach an dem unerbittlichen Ernst der radikalen Aufrichtigkeit Martin Luthers: er empfand seinen Abstand von der Er­ füllung des göttlichen Gebotes reiner, völlig selbstloser Gottes- und Nächsten­ liebe so unendlich weit (nicht kraft irgendwelcher besonderen Verfehlungen, sondern aus der unbestechlichen Lauterkeit seines Gewissens), daß er sich keinerlei Würdigkeit zuzuschreiben wagte, sondern nur sündiges Versagen, das Gottes Zorn verdient. Er wurde erlöst durch die Erkenntnis, daß Gottes Gnade nichts Halbes tut, sondern den Menschen, der sich ganz schuldig spricht, ohne Verdienst und Würdigkeit auch ganz begnadigt und erlöst. So wurde Röm. 3, 29 in seiner sinngetreuen Verdeutschung: „So halten

§ 50

Erlöst durch ein PauluSwort, der Christus für uns

215

wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben", Luthers Feldgeschrei und das Panier der

Reformation. Bei Dir gilt nichts, denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben; es ist doch unser Tun umsonst auch in dem besten Leben. Vor Dir niemand sich rühmen kann; deS muß Dich fürchten jedermann und Deiner Gnade leben. (Aus tiefer Not. Str. 2)

Diese Erkenntnis ist bei Luther zum Durchbruch gekommen durch sein "PauluS-Studium; laS er doch die Bibel nicht wie ein Philologe und ReligionSwifsenschaftler, sondern wie ein Bergmann, der mit Einsatz deS Lebens im tiefen Schacht die Goldader sucht, wie ein Recke, der mit Teufeln und Dä­ monen ficht, ja mit Gott selber ringt. Sie war vorbereitet und gefördert durch tröstliche Ansprüche eines verständigen Beichtvaters, der ihn darauf hinwieS, im Glaubensbekenntnis sei der Befehl enthalten, an die Vergebung der Sün­ den zu glauben; durch den Umgang mit dem feinsinnigen und gütigen Gene­ ralvikar seines Ordens, Johann von Staupitz, der ihn aufforderte, das Geheimnis der Prädestination in den Wunden deS für uns gekreuzigten Erlösers zu suchen, und der ihn durch die Wittenberger Professur in frucht­ bare Tätigkeit brachte; endlich auch durch Versenkung in die Schriften Augustins. 3. Für Luther war, wie für Paulus, die Botschaft von der geschenkten Gerechtigkeit GotteS keine Selbstverständlichkeit, sondern daS denkbar größte Wunder, das er nur im Blick auf den gekreuzigten Christus, den Bürgen dieser Botschaft, zu glauben wagte. Eine Zeitlang betrachtete er mit der spätdeutschen Mystik (Brüder vom gemeinsamen Leben) den „Christus in uns" als den Bürgen der Liebe GotteS und der Vergebung der Sünde, weil er unS die Kraft gibt, in allen Leiden und Prüfungen Gott zu erkennen und zu lieben. Hierin folgte er dem Vorgang des Apostels Paulus, der die Taufe als „ein mit-ChristuS-Begrabenwerden-und-Auferstehen" bezeichnet und die Ge­ meinschaft mit den Leiden Christi so sehr als Probe der echten Jüngerschaft erlebte, daß er dieser Leiden sich freudig zu rühmen wagte (vgl. o. S. 24). Luther aber hat je länger je mehr mit demselben Paulus sein Vertrauen nicht auf den „Christus in uns", sondern auf den „Christus für unS" gesetzt. Seine aufrichtige Demut sagte ihm, daß der Mensch auf Erden nie so weit kommt, daß Christus in ihm volle Gestalt gewinnt, so daß er sich auf sie alle Zeit verlassen könnte. Deshalb wurde ihm je länger je mehr der „Christus für unS" daS unverrückbare gegenständliche Zeugnis der göttlichen Gnade. In der Schrift „von der Christlichen Freiheit" (f. u. S. 230) gebraucht Luther freilich das alte mystische Bild von der Ehe der Seele mit ihrem

216

Luther unt die deutsche Reformation

„Bräutigam" Christus; aber er gebraucht eS in einem durchaus unmystischen Sinn. Bei ihm gehören nicht Christus und die Seele wegen ihrer inneren Gleich­ artigkeit naturhaft zusammen, sondern Christus erbarmt sich der verlorenen und verlasienen Seele, nimmt alle ihre Sünden und Untugenden auf sich und schenkt ihr seine ewige Gerechtigkeit wie einen „Mahlschatz". Er sprach zu mir: „Halt dich an mich, eS soll dir jetzt gelingen; ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen; denn ich bin dein, und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein, unS soll der Feind nicht scheiden. (Nun freut euch. Sw. 7)

Luther wußte, daß nur eine reine Liebe, die ohne Furcht vor Strafe, ohne Verlangen nach Lohn oder Ruhm, auS freier Lust am Guten, Gott und den Brüdern dargebracht wird, dem wahren Willen GotteS genug tut. Er wußte deshalb auch, daß eS auf Erben kerne Heiligen gibt, baß wir in dieser Fleisch­ lichkeit immer fehlsame Sünder bleiben. Deshalb klammerte er sich an die Losung „Gerecht und Sünder zugleich". Sein aufrichtiger WirklichkeitSsinn sagte ihm, baß wir aus dieser Erde nie zu sündloser Vollkommenheit gelangen; und doch konnte er nicht leben ohne baS Bewußtsein, bei Gott in Gnaden angenommen zu sein. Deshalb war der Glaube an die tägliche Ver­ gebung der Sünden der Schatz seines Lebens und der „Christus für uns" der Bürge dieses Glaubens. Diese Wertung der Sündenvergebung als des Einen, alles in sich be­ schließenden HeilSguteS hat Luther folgerichtig von der neuplatonisch-areopagitischen Mystik ganz abgebrängt. Er entwickelt jetzt seine ihm eigene Theologia crucis im Gegensatz zu der Theologia gloriae der philosophisch­ mystischen Spekulation: er will nicht mit vermessenem Gebankenflug den überweltlichen Gott in seiner ewigen Majestät erreichen und ergründen, son­ dern will in aller Demut Gott in dem Mittler seiner Offenbarung, in der Niedrigkeit beS Menschen JesuS, in Jesu Krippe und an seinem Kreuze finden. „ES hat Gott gefallen, durch törichte Predigt die Glaubenden selig zu machen, so baß eS niemandem genügt ober nützt, Gott in seiner Herr­ lichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er nicht eben diesen Gott in der Niedrigkeit und Schmach beS Kreuzes erkennt." Diese Theologie hat am Kreuze Christi gelernt, baß Gott sich nicht in Pracht, Macht und Erfolg dieser Welt kundgibt, sondern in den unscheinbarsten und niedrigsten Gestalten. Luther beruft sich mit Vorliebe auf HannaS Lobgesang (1. Sam. 2): „Der Herr tötet und macht lebendig, führt in die Hölle und wieder heraus. Der Herr macht arm und macht reich; er erniedrigt und erhöht." DaS Kreuz Christi hat Luther auch gelehrt, alle Erfolgsanbetung zu verachten: das ist

§50

theologia crucis, der Sinn der Heilsgewißheit

217

jüdischer und türkischer Glaube, eS ist der Glaube des natürlichen Menschen. «So steht auch das ganze Papsttum und seine Lehre daraus, sie müßten recht haben, weil sie bis heute noch so groß und mächtig sind. Und kurz, daö ist der größte und weiteste Glaube, die verbreitetste Religion auf Erden, bei der alle Menschen nach Fleisch und Blut bleiben. Darum stößt Christus zuerst diesen ganzen Wahn um als das größte Hindernis gegen den Glauben." 4. Rudolf Thiel, der als Nicht-Theologe uns ein Lebensbild Luthers ge­ schenkt hat, das sonst die allermeisten Theologen beschämt, schreibt im Nachwort zu dem 2. Band das folgende: «Der eigentliche Grund und Kern des ganzen Werkes ist die Entdeckung, daß der Lutherglaube das gerade Gegenteil von jener „Heilsgewißheit" bietet, die Melanchthon erst daraus gemacht hat: daß der Lutherglaube einen letzten, schwersten, unbedingtesten Verzicht auf alles Wissen fordert und voraussetzt, ein Verharren in der Ungewißheit über den verborgenen Willen des unbegreiflichen und unbekannten Gottes." In diesen Sätzen ist Luther im innersten Kern seines Glaubens merkwürdig verkannt. Wenn daS wahr wäre, was Thiel schreibt, so würden Luthers heroische Glaubenslieber, sowie sein Kleiner Katechismus mit dem dreimal wiederholten feierlichen Schluß „bas ist gewißlich wahr", von ungezählten anderen Zeugnissen zu schweigen, zu einer absoluten Sinnlosigkeit. In der berühmten Vorrede zum Römerbrief schreibt Luther: „Der Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er (der Glaubende) tausendmal darüber stürbe". Hier ist die Heilsgewißheit doch auf den denkbar klarsten Ausdruck gebracht. Sie ist freilich ganz anderer Art — und darin liegt daS relative Recht der Behauptung Thiels — als die der römischen Kirche. Der katholische Mensch verläßt sich für seinen HeilSglauben auf eine Unzahl kirchlicher Aushilfen und Stützen, auf die Fürbitte der Heiligen, auf Messe und Ablaß, auf Wallfahrten und Reliquien, auf Mönchtum und Bruderschaften, auf Askese und Rosenkranz, auf die Menge seiner „guten Werke". Aber diese gehäufte Zahl von Stützen gibt keine wirk­ liche Sicherheit. Der katholische Christ soll sie auch nicht haben; er soll immer von Priester und Kirche abhängig bleiben. Dies ganze System kirch­ licher „Sicherheiten" hat Luther beiseite geschoben, weil eS dem erschrockenen Gewissen keine wirkliche Gewißheit gibt. Er hat sich stattdessen nur auf eins verlassen, auf dies Eine freilich unbedingt, auf die im gekreuzigten Christus offenbar geworbene Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Diese Heilsgewißheit versteht man freilich nur dann recht, wenn man sie nicht im Sinne einer behaglichen, spießbürgerlichen Auffassung als einen „bombensicheren Unterstand" betrachtet oder als eine auf „unerschütter­ liche Goldwährung" abgestellte Lebensversicherung. Luthers HeilSgewißheit ist Glaube im tiefsten und kühnsten Sinne dieses Wortes, b. h. eine Zuversicht, die immer wieder kämpfend und wagend erobert werden muß, die nickt mit einem bequemen Ruhekissen oder Faulbett verwechselt werden

218

Luther und die deutsche Reformation

darf. ES gilt von ihr das Dichterwort: „Nur bet verdient sich Freiheit wie daS Leben, der täglich sie erobern muß". Sie ist genau wie die Gewißheit deS Apostels Paulus (vgl. o. S. 22) der schmale Weg zwischen vermessener Sicherheit auf der einen Seite und angstvoller Ungewißheit auf der andern (vgl. auch u. S. 253 über Luthers Lehre vom verborgenen und offenbaren Gott).

5. Luther wird völlig mißverstanden, wenn man ihn im Geist der Aufklärung als den betrachtet, der den Menschen von den Lasten des kirchlichen Systems habe befreien wollen. Luther unterschied sich von den Theologen seiner Zeit durch den unerbittlichen TodeSernst, mit dem er daS ewige Schicksal der Seele betrachtete. Er dachte so hoch und groß wie kein Theologe vor ihm von der göttlichen Forderung an den Menschen. Er wurde wie kein anderer erschüttert durch das menschliche Versagen und auch wieder erhoben durch die unverdiente göttliche Gnade und Barmherzigkest. ES wiederholt sich bei ihm daS Erlebnis des PauluS: Beiden offenbarte sich der lebendige, ewige Gott in seiner Furchtbarkeit und in seiner unergründlichen Güte, nicht verdeckt durch menschliche Erfindungen, sei eS jüdisches Gesetz und Zu­ gehörigkeit zum „auSerwählten Volk", sei eS der großartige Apparat der katholischen Kirche mit ihrer irdischen und himmlischen Hierarchie und dem berauschenden KultuS der Sakramente. Daher erklärt sich, daß Luther von deS Menschen Sünde und von Gottes Gnade Zeugnis gab wie kein Lehrer der Christenheit seit Paulus. In diesem Zeugnis bekundet sich der Wirklichkeitssinn und der WahrheitSmut deS Mannes, der den Menschen in seiner nackten Tatsächlichkeit sah und ihn nur an Einem Maßstab messen konnte, an der ewigen Hoheit und Heiligkeit GotteS. Seine Ehre der Ehrlichkeit erlaubte ihm nicht, mit allerlei Wunsch­ gebilden den Blick in die Wirklichkeit deS Menschen vor Gott zu vernebeln. Freilich ist diese Lehre von Sünde und Gnade dem natürlichen Menschen ärger­ lich, weil dieser gern auf eigene Kraft und Leistung pocht und lieber sich selbst verherrlicht, statt Gott die Ehre zu geben. Aber wenn Luther diesen natürlichen Menschen unter GotteS Gericht stellte, so hat er damit einen WahrheitSmut bewiesen, der in den Herzen ausgesprochen germanischer Menschen immer einen starken Widerhall gefunden hat. Ein ergreifendes Zeugnis dafür ist Bis­ marcks Brief vom 15. Oktober 1850 an seine von ihm sehr verehrte und geliebte Schwiegermutter: »Gott ist mein oder eigentlich Dein Zeuge bei mir, daß ich Dir recht oft vor ihin Unrecht abzubitten hatte, und baß ich von ihm die Kraft erbeten habe, mein ttotzigeö Herz mit Demut und Frieden zu füllen... Wenn es mir mit GotteS Hilfe gelänge, den jähen Zorn aus meinem Herzen zu bannen und die Unfreundlichkeit zu bemeisrern, die zufälliger Verdruß leicht in meinem äußeren Wesen zutage treten läßt, so würdest du niemals einen Augenblick haben, in dem Du an meiner tiefen und war­ men Liebe zu Dir und an meiner Dankbarkeit zweifeltest; aber nur Gottes Gnade

§50f.

Todesernst und Wahrheitsmut. — Verhör in Augsburg

219

kann aus den zwei Menschen in mir einen machen und sein erlöstes Teil an mir so kräftigen, daß eS des Teufels Anteil totschlagt; kommen muß es endlich, sonst stünde es schlimm mit mir. Aber glaube mir, der Mann Gottes in mir liebt Dich innig, wenn Dich der Knecht des Teufels auch anfährt, und der erstere ist von Dankbarkeit für alle Deine Güte, Treue und Versöhnlichkeit voll, wenn der andere sich auch anstellt wie ein Eiszapfen. Gott wird ja seinem Teil beistehen, daß er Herr im Hause bleibt, und der andere sich höchstens auf dem Hausflur zeigen darf, wenn er auch mitunter so tut, als ob er der Wirt wäre."

Eine indirekte, aber durchschlagende Bestätigung für Luthers radikale Sündenlehre bedeutet auch Kants Lehre: wenn die Pflichterfüllung der widerstrebenden Neigung immer abgerungen werden muß, so ist dies ständige Widerstreben der natürlichen Neigung eben die unausrottbare Erbsünde (s. u. § 87). Auch Schillers Brief an den Herzog von Augustenburg (§ 88) mit dem Eingeständnis der Ohnmacht der rein ethischen Motive zur Er­ füllung des Pflichtgebotes ist hier zu vergleichen. § 51. Von den Thesen bis zur Bannbulle.

1. Um die Thesen entstand ein lebhafter Streit, der mit gelehrten Schriften, gedruckten und handschriftlich verbreiteten, geführt wurde. Luthers Haupt­ gegner wurde der Ingolstädter Professor Johann Eck. Der Medicäer auf dem päpstlichen Stuhl nahm den Handel zunächst leicht. Er hielt ihn für ein „Mönchsgezänk", entstanden aus der Eifersucht der Augustiner auf die mit der gewinnbringenden Ehre des Ablasses betrauten Dominikaner. Aber die Aufregung der Nation machte die Kurie bald bedenklich. Es wurde ein Prozeß

gegen Luther eingeleitet. Sein Kurfürst, Friedrich der Weise, erreichte es aber, daß man ihn in Augsburg, bei Gelegenheit des Reichstages, statt in Rom verhörte (Oktober 1518). Dieses Verhör blieb ergebnislos, weil Luther zu seiner tiefen Enttäuschung durch den gelehrten Kardinal Cajetan nicht unterrichtet und überzeugt, sondern nur zum Widerruf gedrängt wurde. Er verließ flüchtend Augsburg und appellierte von dem schlecht unterrichteten an den besser zu unterrichtenden Papst, hernach auch an ein allgemeines Konzil; denn noch galt, zumal im Bewußtsein des deutschen Volkes, das Konzil als die höchste Autorität der Kirche. Dieser Appell blieb unbeachtet, und Luthers Sache schien verloren. Doch die Kurie mußte wegen der bevor­ stehenden Kaiserwahl Rücksicht nehmen auf den einflußreichen sächsischen Kurfürsten, Luthers Landesherrn. Sie duldete deshalb das Abkommen, das der päpstliche Kammerherr Karl von Miltitz eigenmächtig (im Januar 1519) auf der Altenburg mit Luther getroffen hatte: Luther versprach zu schweigen, wenn die Gegner schwiegen; ein gelehrter deutscher Bischof sollte seine Sache untersuchen. 2. Von diesem Schweigeversprechen wurde Luther durch Eck gelöst. Dieser hatte Luthers Wittenberger Kollegen Karlstadt zu einer Disputation

220

Luther und die deutsche Reformation

herausgefordert. 3n den hierfür aufgestellten Thesen aber hatte er mehr Luther als Karlstadt angegriffen. Luther hatte im Thesenstreit erkannt, baß der Papst erst im späteren Verlaus der Kirchengeschichte zu seiner Macht gelangt war und sie nur auS menschlicher, nicht nach göttlicher Vollmacht besitze; Eck aber behauptete, der Papst sei als Nachfolger Christi anzuerkennen und habe von jeher den Stuhl Petri eingenommen. Luther nahm die Heraus­ forderung mit Freuden an. Der Redekampf wurde (Juni/Juli 1519) auf der Pleißenburg zu Leipzig zuerst zwischen Karlstadt und Eck, dann zwischen Luther und Eck auSgefochten. Eck drängte Luther zu der Behauptung, daS Konstanzer Konzil habe manche durchaus christliche und evangelische Artikel von HuS verurteilt. Damit wollte Eck ihn zugleich kirchlich und po­ litisch verdächtigen. Luther wehrte sich zunächst gegen die Folgerung, daß er die Autorität deS Konstanzer Konzils angreifen wolle, hat schließlich aber tapfer erklärt, auch ein Konzil könne irren und habe tatsächlich geirrt; worauf Eck triumphierend auSrief: „Wenn Ihr glaubt, ein rechtmäßig versammeltes Konzil habe geirrt oder könne irren, so seid Ihr mir wie ein Heide und Zöllner". Für Luther aber bedeutete diese Abkehr von der Autorität der Konzilien den endgültigen Durchbruch zur vollen reformatorischen Er­ kenntnis (f. §52). 3. Die Leipziger Disputation hat beinah noch mehr als der Thesenstreit die Aufmerksamkeit der Nation auf den kühnen Mönch gelenkt. Die völkisch gesinnten Humanisten, Ulrich von Hutten voraus, begrüßten Luther als ihren Mitstreiter und boten ihm ihre BundeSgenofsenschaft an. Eck hin­ gegen, durch seinen vermeintlichen Sieg aufgebläht, begab sich nach Rom und betrieb dort den Ketzerprozeß gegen Luther. Dieser ließ sich weder durch die Humanisten noch durch Eck von seinem Wege ablenken. Die Leipziger Dispu­ tation schärfte seinen Blick für den Zustand der Kirche und entfesselte in ihm ungeheure geistige Kräfte. Diese fanden ihren Niederschlag in einer Reihe grundlegender Schriften. Äm Jahre 1520 entstanden neben vielen kleinen Gelegenheitsschriften vier große reformatorische Hauptschriften: 1. „Von den guten Werken", eine neue Begründung christlicher Sittlichkeit im Anschluß an den biblischen Dekalog (Luther durfte mit Recht urteilen, dies sei bisher seine beste Schrift). 2. „An den christlichen Adel deutscher Na­ tion von deS christlichen Standes Besserung", ein umfassendes kirchen-und sozialpolitisches Reformprogramm, in vielem Tatsächlichen gestützt auf Erkenntnisse, die Hutten ihm vermittelt hatte (vor allem in seinem „VadiScuS"), aber den humanistischen Ritter überbietend durch die hinreißende Wucht seiner zugleich religiösen und völkischen Leidenschaft und weit über­ legen durch die Begründung auf einen klaren, biblischen Begriff von der wahren Kirche. 3. „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche", eine für die Gelehrten bestimmte, lateinisch geschriebene Lehrschrift über Sinn und Recht der Sakramente, mit denen in ihrer römischen Gestalt die Freiheit

§51f.

Die Leipziger Disputation

221

der Kirche gefesselt sei; eine seiner radikalsten und kühnsten Schriften. 4. „Von der Freiheit eines Christenmenschen", die zarteste und innigste, an die Mystik anklingende, aber im Glaubensverständnis echt biblische ErbauungSschrift. Von dieser Schrift hat Luther eine etwas veränderte lateinische Gestalt geschaffen und sie auf Rat von Miltitz mit einem lateinischen Sendschreiben dem Papst gewidmet, als einen gutgemeinten aber aussichtslosen Versuch, in letzter Stunde noch eine Versöhnung zu stiften. Inzwischen war in Rom das Urteil über ihn gefällt; eine päpstliche Bulle verdammte 41 Sätze aus Luthers Schriften und bedrohte ihn mit dem Bann, falls er nicht binnen 60 Tagen widerriefe. Luther aber hat jetzt erkannt, daß im Papst der,Antichrist erschienen sei. Am 10. Dezember 1520 wirft er vor dem Elstertor zu Witten­ berg ein gedrucktes Exemplar der Bannbulle in den Scheiterhaufen, auf dem die päpstlichen RcchtSbücher als Quellen und Dokumente deS kirchlichen Unheils verbrannt wurden. Damit sagt er sich endgültig vom Papsttum los.

§52. Luthers Lehre von der Kirche.

1. Bis zur Leipziger Disputation hatte Luther mit der Theologie seiner Zeit geglaubt, eS gebe in der Kirche eine höchste, unfehlbare, sinnlich sicht­ bare Autorität, auf die man sich blind verlasien könne und der man unbe­ dingt gehorchen müsse. AIS diese Autorität betrachtete er schon nicht mehr den Papst, wie eine Reihe der Kirchenlehrer tat, sondern mit der Überlieferung der deutschen Kirche, in Erinnerung an die großen Reformkonzilicn, ein all­ gemeines freies (vom Papst unabhängiges) Konzil. Daher überbietet er nach dem Augsburger Verhör seinen Appell an den Papst durch den Appell an baS Konzil. Hiermit blieb er noch im Umkreis katholischer Rechtgläubig­ keit; denn die Unfehlbarkeit deS Papstes war eine umstrittene „Lehrmeinung", aber kein kirchliches „Dogma". Als er in Leipzig im Eifer des Gefechtes sich zu der Äußerung hinreißen

ließ, eS seien zu Konstanz mit HußenS Lehre auch gut christliche Sätze ver­ urteilt, erschrak er zunächst über die Tragweite dieser Behauptung. Denn so wenig er in den Thesen den ganzen Ablaß verurteilen wollte, so wenig jetzt die ganze Autorität der Konzilien. Aber wenn er schon in Leipzig, nach einer Pause der Besinnung, bei seiner Meinung verharrte, so hat er erst recht hernach auS dieser ihm aufgedrängten ErkcnnMiS tapfer die Folgerungen gezogen: er leugnete jetzt bewußt die Unfehlbarkeit nicht nur deS Papstes, sondern auch der Konzilien. Das bedeutete den Bruch mit dem katholi­ schen System. Denn der katholische Mensch bedarf einer äußerlich sichtbaren, handgreiflichen Autorität, weil er nicht von dem Glauben weiß, der „eine gewisse Zuversicht dessen ist, waS man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, waS man nicht sieht" (Hebr. 11,1). Von jetzt ab wußte Luther ganz deutlich,

222

Luther und die deutsche ^Reformation

daß der Glaube sich auf Gott, d. h. auf eine unsichtbare Größe, zu verlassen habe; und mehr noch als bisher bekommen jetzt alle seine Äußerungen den kühner!, trotzigen Charakter der Rede eines Propheten, der aus Gottes Vollmacht redet. So wurde ihm die Leipziger Disputation, die ihn scheinbar in eine Falle und Niederlage gelockt hatte, in Wirklichkeit zu einer ungeheuren Befreiung und zu einem Quell der Siegeszuversicht. 2. Die Leipziger Disputation hat in Luther den Kirchenbegriff entbunden, der durch sein Bibelstudium seit langem in seiner Seele gewachsen war. Er findet seinen klaren und frohgemuten Ausdruck in der Schrift „An den christlichen Adel". Es ist die Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen. Die aus jüdischen und heidnischen Vorstellungen schon früh in die christliche Kirche wieder eingedrungene und immer mehr maßgeblich gewordene Hervorhebung eines besonderen von Gott ausgezeichneten Stan­ des, der allein Recht und Vollmacht habe, mit Gott zu verkehren, durch das Mittel heiliger Opfer (Meßopfer!), auf dessen Vermittlung alle andern für ihr irdisches und ewiges Heil unbedingt angewiesen seien, wird von Luther mit großartiger Zuversicht unter Berufung auf das Neue Testament radikal bestritten: Durch das Liebesopfer Christi sind die Gläubigen alle in den Stand der Kinder Gottes erhoben, haben im Gebet jederzeit freien Zugang zum Vater, sind mit allen Rechten und Pflichten begnadet, sind Könige und Priester geworden: „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums" (1. Pettus 2,9). Mit dieser Lehre zerstörte Luther die drei Mauern der „Romanisten", hinter denen sie sich gegen jede Reform verschanzen, 1. bic weltliche Gewalt habe kein Recht über die geistliche, 2. niemand dürfe die Schrift auslegen als der Papst, 3. niemand als der Papst dürfe ein Konzil berufen. Diese drei Mauern ruhen auf derselben Voraussetzung, daß die Kirche eine äußere, weltlich-politische Ordnung sei; sie werden „umgeblasen" durch die Eine Erkenntnis, daß die Kirche eine Glaubensgröße sei, die Gemeinschaft der wahrhaft Glaubenden, der unsichtbare Leib des himmlischen Christus. In der Schrift „Vom Papsttum zu Rom" (1520) beruft sich Luther auf das alte Glaubensbekenntnis, in dem die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen erklärt wird: „Diese Gemeinde besieht aus allen denen, die ün rechten Glauben, Hoffnung und Liebe leben, also daß der Christenheit Wesen nicht eine leibliche Versammlung ist, sondern eine Versammlung der Herzen in einem Glauben." Ihm ist deshalb klar, daß „die heilige Kirche nicht an Rom gebunden ist, sondern soweit die Welt reicht, in einem Glauben versammelt, geistlich und nicht leiblich ... Die äußerliche, römische Kirche sehen wir alle, darum kann sie nicht die rechte Kirche sein, die geglaubt wird ... Denn was man glaubt, das ist nicht leiblich noch sichtbar."

3. Luther hat die Kirche, zu der wir uns im Glauben bekennen, wie alle Glaubensgüter in ihrem Wesen freilich für unsichtbar gehalten, aber dock für

§ 52 f.

Das Wesen der Kirche. — Das Predigtamt

223

eine Wirklichkeit, die auch an gewissen Kennzeichen wahrgenommen wer­ den könne. Die beiden wesentlichsten Kennzeichen sind reine Verkündigung deS Wortes GotteS und rechte Verwaltung der biblischen Sakramente (vgl. Augsburger Konfession Art. 7). In seiner Schrift „Von den Konzilien und der Kirche" zählt er sogar sieben solcher Kennzeichen auf, außer Wort GotteS, Taufe und Abendmahl, noch den Brauch der „Schlüssel" (d. h. die öffentliche Verkündigung der Sündenvergebung), die Berufung von Kirchendienern zur Predigt deS Evangeliums, das Lob- und Dankgebet der Gemeinde im Gottes­ dienst und zuletzt das Heiligtum deS Kreuzes (d. h. der tapferen Geduld in Anfechtung und Verfolgung). DaS ist nicht etwa ein Rückfall in den katholischen Kirchenbegriff, sondern beweist einmal die Demut Luthers, der sich nicht wie die Schwärmer auf die subjektiven Eingebungen seines Inneren, sondern nur auf die Wirklichkeit deS göttlichen Wortes verlasten wollte, und beweist zweitens feine Menschen­ kenntnis und Menschenliebe, die den angefochtenen Seelen Zeichen und Unterpfänder des Vorhandenseins der wahren Kirche aufweisen wollte. Alle Gemeinden unter dem Kreuz, in der Vergangenheit wie in der Gegen­ wart, haben immer wieder die Wahrheit dieser nur scheinbar widerspruchs­ vollen Lehre empfunden, daß die Kirche als Glaubensgröße freilich unsichtbar ist, weil nur der ewige HerzenSkündiger ihre wahren Glieder kennt, daß sie aber doch an gewiffen äußeren Merkmalen, vor allem an der Verkündigung des reinen Evangeliums, wahrnehmbare Kennzeichen ihres Daseins und ihrer Wirksamkeit besitzt. Luthers Lehre von der Kirche ist der schmale Weg zwischen spiritualistischer Verflüchtigung und katholischer Handgreiflichkeit deS Begriffs.

§ 53. Wort Gottes und Sakrament. 1. Wenn Luther in der Schrift „An den christlichen Adel" die biblische Lehre von dem allgemeinen Priestertum der Gläubigen erneuert, so zerstört er damit die katholische Vorstellung von einem besonderen Stand der Priester, der durch die Priesterweihe übernatürliche Gnadenkräfte und eine unaus­ löschliche Prägung („Character indelebilis“) empfange, die ihn an Rang und Würde über alle Laien erhebe. Aber er liefert damit die Gemeinde nicht der Willkür und Unordnung aus. Ihr ist der Schatz des Wortes GotteS anvertraut, und dies Wort soll fleißig und ordentlich verkündigt werden zur Erbauung der ganzen Gemeinde. Dazu ist ein Amt nötig, das diese Ver­ kündigung versieht, das Predigtamt. Luther setzt also an Stelle deS katho­ lischen Priesterstandes, der eine Herrschaft in der Kirche begründet, daS Predigtamt, daS einen Dienst an der Gemeinde bedeutet. ES ist ein Beweis für Luthers nüchternen Sinn und sicheren Blick, daß er in demselben Augenblick, wo er daS katholische Priestertum zerstört.

224

Luther und die deutsche Reformation

daS evangelische Prebigtamt aufrichtet. (3m Eingang der Schrift „An den Adel" daS anschauliche Beispiel von der schiffbrüchigen Gesellschaft, die auf ihrer einsamen 3nsel einen geeigneten Mann aus ihrer Mitte wählt und ihm daS Amt der Wortverkündigung und der Sakramente anvertraut.) 3n der Aufrichtung dieses Amtes liegt eine doppelte Spitze. Gegen die Roma­ nisten rühmt er die Freiheit der Gläubigen: die Kirche ist gegründet auf das Wort GotteS und bedarf deshalb keines PriesterftandcS, der nach heidnischer Weise Gott Opfer darbringt, sondern nur deS PrcbigtamteS, daS der Ge­ meinde GotteS Wort auSlegt; gegen die Schwärmer betont er die Bindung an daS Wort GotteS: dieses Predigtamtes aber bedarf die Gemeinde auch; denn sie ist nicht auf die subjektiven Einfälle ihrer Glieder, auch nicht auf die Willkür ihrer Führer, sondern auf daS Wort GotteS gegründet. Damit hatte Luther einen festen Standort, von dem er gegen beide Fronten siegreich kämpfen konnte. („Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch, und fest umklam­ mert er sein Bibelbuch", C. F. Meyer.) Herr, dein Wort, die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir: denn ich zieh eS aller Habe und dem größten Reichtum für. Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn? Mir istü nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun. (Zinzenborf.)

2. 3n der Schrift von der babylonischen Gefangenschaft hat Luther die katholische Sakramentslehre bekämpft. Er entdeckt den evangelischen Sinn der Sakramente, b. h. er bekämpft die katholische Auffassung von der ma­ gischen Wirkung der Sakramente, als ob durch sie dem Empfänger die gött­ liche Gnade als ein übernatürlicher Stoff „eingegossen" würbe. Ihm ist das Sakrament nach einem glücklichen Ausdruck Augustins ein „sichtbar geworbenes Wort GotteS" (verbum visibile). Er verdeutlicht diesen Gedanken, indem er daS Sakrament als eine Ver­ heißung GotteS bezeichnet, zu der Gott, um den Glauben der Menschen zu stärken, ein sichtbares Gedenkzeichen hinzugefügt habe. Er unterscheidet also BerheißungSwort und Zeichen ober auch „Testament" und „Sakra­ ment" und versichert, das Wesentliche sei daS Wort ober daS Testament, daS der Mensch im Glauben zuversichtlich hinnehmen solle. ES sei so sehr daS Wesentliche, baß der Mensch zur Not auch daS Zeichen entbehren könne (wenn ihm z. B. die Tyrannei der Romanisten den Kelch vorenthält); er beruft sich auf daS Wort Augustins: „Glaube nur, so hast du schon ge­ gessen". 3. Die Taufe ist für Luther die ein für alle Mal gültige Aufnahme in den Bund der göttlichen Gnade, so baß eS keiner Erneuerung durch ein Sakrament der Buße bedarf, als ob diese (nach einem Bild des Hieronymus) die Planke sei, auf der sich alle retten sollen, die nach der Taufe am Glauben Schiffbruch gelitten haben. Sie bedeutet also die Versicherung der ewigen.

$53

Taufe und Abendmahl

225

uns Lurch bas ganze Leben tragenden Gottesgnade, aber auch eine bas ganze Leben durchziehende, ständige, innere Erneuerung, ein tägliches „Stirb und

Werbe". „Hier siehst du abermals, baß das Sakrament der Taufe nicht eine geschwind vorübergehende Handlung, sondern etwas beständig Währendes ist. Denn der Brauch zwar vergehet bald; aber bis in den Tob, ja bis zur Auferstehung am jüngsten Tage bleibet, was dadurch bedeutet wirb. So lange wir leben, tun wir das, was die Taufe bedeutet: Wir sterben und stehen auf." (Bab. Gef., vgl. auch Luthers Erklärung zum 4. Hauptstück im Kleinen Katechismus.) Das Abendmahl ist für den Reformator immer in allererster Linie Vergewisserung der Vergebung der Sünden gewesen. Er beruft sich in der Aus­ legung des 5. Hauptstücks im Kleinen Katechismus auf das Wort des Apostels (1. Kor. 11): „Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden". Diese Worte zeigen, „daß uns im Sakrament Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit gegeben wirb; denn wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit". Ebenso sagt er auch schon in der „baby­ lonischen Gefangenschaft", das Abendmahl sei „Summe und Inbegriff des Evangeliums; denn was ist bas ganze Evangelium anders als gute Botschaft der Sündenvergebung". Die Hauptsache ist ihm also, daß Gott sich aus lauter Gnade und Barmherzigkeit zu uns bekennt. Diesen Gedanken hat Luther später in der Auseinandersetzung mit Zwingli, dem das 2lbendmahl vorzüglich eine Handlung war, mit der sich der Glaubende zur Ge­ meinde und zu Gott bekennt, einseitig und ausschließlich betont; auch hat er ihn durch eine scholastisch geformte Lehre von der leiblichen Anwesenheit Christi zu stützen versucht, wodurch das eigentliche Glaubensanliegen be­ lastet und verdunkelt wurde. Doch hat er in früheren Schriften, die durch den Seitenblick auf Zwingli noch nicht bestimmt sind, auch die andere Seite der Feier, baß der Mensch sich zu Gott und den Brüdern bekennt, eindringlich und herzhaft hervorgehoben.

„Gott hat dies Sakrament dazu eingesetzt, damit es der Christenheit Losung und Malzeichen sei, dabei man uns kennen könnte. Denn wenn wirs nicht hätten, könnte man nicht wissen, wo und welche Christen wären, und wo bas Evangelium Frucht schaffte; wenn man aber zum Sakrament gehtt, so siehet man, wer sie sind, die bas Evangelium gehött haben, ob sie christlich leben. Also ist dies ein Malzeichen, dabei man uns kenntt, damit wir auch Gottes Namen bekennen, baß wir uns seines Worts nicht schämen."

„Wir sind auch schuldig, daß wir den Nutzen und Frucht des Sakraments erschei­ nen lassen und beweisen können, daß wir eS nützlich empfangen haben. Dies ist nun aber die Frucht, daß wir uns wiederum essen und trinken lassen (b. h. uns dem Nächsten hingeben und aufopfern), wie wir des Herrn Christi Leib und Blut gegessen und getrunken haben, und auch zu unserem Nächsten die Motte sprechen: .Nimm hin, iß und trink', baß eS nicht ein Spott, sondern ein Ernst sei, daß du dich dahin gebest mit allem deinem Leben, wie Christus in diesen Motten dir gttan hat." 15

Schuster, Kirchengefchtchte

226

Luther und die deutsche Reformation

„Willst du aber gewiß sein, ob du fruchtbarlich zum Sakrament gegangen seiest, so kannst du rS nicht besser treffen, denn wenn du Acht hast, wie du dich gegen deinen Nächsten erzeigest. Du darfst nicht darauf denken, wie große Andacht du gehabt hast, ober wie wohl dir die Worte im Herzen schmecken ... Findest du es also, baß dich die Worte und baS Zeichen oder das Sakrament erweichen und bewegen, baß du deinem Feinde hold seiest und dich deines Nächsten annehmest und helfest ihm, seinen Jammer und Leib tragen, so gehet eS recht."

Wer diese Sätze aus dem „Sermon von Beichte und Sakrament" (1524) aufmerksam liest, wird vielleicht mit Staunen gewahr, baß zwischen Luther und Calvin eine sehr viel tiefere Einheit besteht, als die zanksüchtigen Theologen der Epigonenzeit wahrhaben wollten. Er wird sich deshalb hüten, jene unselige Kluft heute künstlich wieder aufzureißen. Er wird sich erinnern an die eindringliche Warnung des Apostels (1. Kor. 11,18 ff.), baö Herrenmahl durch Spaltungen und Parteiungen zu schänden. 4. Luthers Kritik richtet sich, abgesehen von der Frage nach der Zahl der Sakramente und der Kelchentziehung, wesentlich gegen zwei Punkte: gegen die Wandlungslehre und gegen den Opsercharakter der Messe; und zwar ist eS für Luther bedeutsam, daß sein Hauptstoß sich nicht gegen die Wanblungölehre richtet, sondern gegen die Verkehrung beS Abendmahls in baS Meßopfer; b. h. er ftitisiert nicht im Dienste der aufgeklärten Ver­ nunft, sondern deS heilsbegehrenben Glaubens. Er zweifelt nicht, daß im Abendmahl Christus mit Leib und Blut persönlich zugegen sei; er hält aber seit der „babylonischen Gefangenschaft" die katholische Lehre von der Verwandlung für eine überflüssige und bedenkliche menschliche Erfindung. Sehr viel schärfer urteilt er über den Opfergedanken in der Messe: Er ist eine ruchlose Verkehrung beS wahren Sinnes der Feier; denn im Meßopfer maßt der Mensch sich an, (nach Weise beS Heidentums) Gott ein Opfer darzubringen, um mit menschlichen Mitteln ihn zu versöhnen und sein Wohl­ wollen sich zu verdienen. In Wirklichkeit handelt dagegen "im Abendmahl der Herr Christus als Bürge Gottes mit den Menschen, indem er sein Testa­ ment ihnen auSrichtet und mit den Zeichen seines Leibes und BluteS be­ kräftigt.

Wenn Luther den sinnvollen und würdigen Empfang der Sakramente auf den Glauben begründet, so hat er damit nicht gemeint, daß nur der sichere und selbstgewisse Glaube baS Sakrament recht empfange; er hat mit

der Betonung des Glaubens den Laien von der Tyrannei des Priesters lösen und die überlieferte magische Vorstellung abwehren wollen. Aber seine Men­ schenkenntnis und sein herzliches Erbarmen mit allen Angefochtenen nötigen ihn, immer wieder zu betonen, daß der suchende Glaube den wahrhaft würdigen Empfang begründe und der gnädige Gott gerade ihn durch Auf­ richtung der sichtbaren Zeichen trösten und stärken wolle. Die Buße wollte Luther, obwohl baS sichtbare Zeichen fehlt, zunächst

§53f.

Kritik an der Messe. Lehre vom Glauben

227

noch als Sakrament gelten lassen, weil er auf wahre Reue und Buße so großes Gewicht legte (die 1. These!). Er hielt mit richtigem Takt um der

Volkskirche willen gegenüber den Wiedertäufern an der Kindertaufe fest, obschon die Bedeutung des Glaubens bei der Kinbertaufe Schwierig­ keiten bereitete (vgl. den wenig geglückten Versuch ihrer theologischen Be­ gründung im Großen Katechismus). §54. Glaube und Werke. 1. Luthers grundlegende Entdeckung ist in der Lehre von der Recht­ fertigung enthalten. „Der Gerechte wird seines Glaubens leben", d. h. der Sünder wird gerechtfertigt nicht auf Grund seiner Werke und Leistungen, sondern einzig auf Grund seines Glaubens an die in Christus kund getane göttliche Gnade. Die Rechtfertigung wird deshalb bezeichnet als Recht­ fertigung um Christi willen, oder aus Gnade, ober auS Glauben. Damit soll der Glaube in keiner Weise als eine Leistung bezeichnet werden, die an Stelle der überlieferten kirchlichen „Werke" trete. Er ist auch nicht gemeint als ein bloßes geschichtliches Wissen von der Heilstatsache Christi, also auch nicht als die Zustimmung zu einer Lehre. Der Glaube ist vielmehr gemeint als daS kindlich demütige und zugleich zuversichtliche Empfangen der unver­ dienten göttlichen Gnade. Also ist der Glaube die geöffnete Hand, in die Gott seine Gabe schüttet. ES wirb damit zum Ausdruck gebracht, baß Gott allein der Gebende und Schaffende, der Mensch dagegen nur der Nehmende und Empfangende ist. Luther und seine Freunde haben unermüdlich wiederholt: Glaube ist Vertrauen (licles est üäucia). Luther beginnt die Erläuterung des 1. Gebotes im Großen Katechismus mit den denkwürdigen Sätzen:

„WaS heißt, einen Gott haben, ober waS ist Gott? Antwort: Ein Gott heißt baS, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten; also baß einen Gott haben nichts anbereS ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben, wie ich oft gesagt habe, baß alleine baS Trauen unb Glauben beS Herzens machet beide, Gott unb Abgott. Äst der Glaube und Verttauen recht, so ist auch dein Gott recht; und umgekehrt, wo das Verttauen falsch unb unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube unb Gott." Damit will er natürlich nicht sagen, Gott sei eine Schöpfung unseres Glaubens, bann wäre er ja eine Illusion (vgl. Feuerbach S. 421 f.). Für Luther ist Gott selbstverständlich die größte gegenständliche Wirklichkeit, die überhaupt gedacht werben kann. Aber er gebraucht den kühnen Ausdruck: „Das Trauen und Glauben des Herzens macht beide, Gott unb Abgott", um recht eindringlich zu sagen, baß der Glaube kein Wissen beS Verstandes ist, und baß man von Gott nicht mit den Methoden weltlicher Wissenschaft etwas erfahren kann, sondern allein auf dem Wege bes herzlichen und herzhaften Glaubens. Er beschließt deshalb diesen Abschnitt mit dem Satz: „Also verstehst du nun leichtlich, waS und wieviel dies Gebot fordert, näm15*

228

Luther und die deutsche Reformation

lich daS ganze Herz beS Menschen und alle Zuversicht auf Gott allein (setzen) und niemand anders". ES ist zunächst außerordentlich überraschend, daß Luther die Erklärung der 10 Gebote mit dieser klassischen Beschreibung deS Glaubens beginnt. Darin liegt die entscheidende Erkenntnis beschlossen, daß die christliche Re­ ligion nicht „Gesetz" ist, sondern „Evangelium", frohe Bosschaft von der zuvorkommenden Gnade GotteS, die nichts anders als menschliche Empfäng­ lichkeit d. h. Glauben vorauSsetzt. Gnade und Glaube sind für Luther Anfang und Ende, Ein und Alles. (Vgl. Joh. 1,17: „Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit aber ist durch Jesus Christus geworben".) Die Lehre von der Rechtfertigung geht auf den Apostel Paulus zurück. Die Ausdrucksform stammt aus der rabbinischen Theologie und ist uns fremd geworden, weil wir die Religion nicht mehr als ein Rechtsverhältnis auffassen. Davon hat unS eben Luther erlöst. Die Sache aber ist unaufgeblich; denn allein an GotteS Gnade hängt unser irdisches und ewiges Heil. 2. Auö dem Vorhergehenden folgt, daß Luthers Glaube noch nicht in seiner ganzen Tiefe verstanden wird, wenn er nur als Verttauen auf die göttliche Gnade beschrieben wird. Diese berühmte Gleichung: Glaube ist Verttauen, ist eine vorläufige Formel, um daS Mißverständnis einer nur verstandesmäßigen Zustimmung zu einer Lehre oder deS FürwahrhaltenS einer geschichtlichen Tassache abzuwehren. Aber der letzte Grund wird damit noch nicht erreicht. Glaube ist für Luther restlose Hingabe deS ganzen, ungeteilten Herzens an Gott und beschließt deshalb in sich zuversicht­ liches Verttauen, demütigen Gehorsam, dankbar innige Liebe.

ES ist bezeichnend für Luthers Auffassung vom Wesen der christlichen Re­ ligion, daß er diese Beschreibung deS Glaubens als eine Hingabe des Herzens an Gott innig und eindringlich im Eingang der Schrift „Von den guten Werken" bargeboten hat: „Nun ist oben gesagt, daß solcher Glaube Liebe und Hoffnung mit sich bringe. Ja wenn wir eS recht ansehen, so ist die Liebe daS erste oder geradezu gleich mit dem Glauben. Denn ich möchte Gott nicht trauen, wenn ich nicht dächte, er wolle mir günstig und hold sein, wodurch ich ihm wieder hold werde und bewegt, ihm herzlich zu trauen und mich alles Guten zu ihm zu versehen". Für Luther gehört die Liebe so sehr zum Glaubm, baß er sich nicht scheut, mit einem irdischen Beispiel daS Wesen deS Glaubens zu verdeutlichen: „DaS mögen wir an einem gewöhnlichen, fleischlichen Exempel sehen: Wmn ein Mann oder Weib sich zum andern Liebe und Wohlgefallens versieht und dasselbe fest glaubt, wer lehtt sie, wie sie sich stellen, waS sie tun, lassen, sagen, schweigen, denken sollen? Allein die Zuversicht lehtt sie daS alles und mehr denn Not ist. Da ist ihnen kein Unterschied in Werken; sie tun daS Große, Lange, Viele so gern als

§54

Glaube und Werke

229

das Kleine, Kurze, Wenige und dazu mit fröhlichem, freudigem, sicherem Herzen und sind ganz freie Gesellen." („Von guten Werken.")

3. Diese Beschreibung des Glaubens macht es deutlich, weshalb für Luther aus dem wahren Glauben die guten Werke ganz von selber hervorwachsen. DaS letzte Beispiel von dem herzlichen Vertrauen zwischen Mann und Weib in einer rechten Ehe sagt es unmißverständlich. So wie hier jeder Ehegatte ganz von selber ohne Zwang und Überlegung, mit Lust und Freudigkeit daS tut, was dem anderen lieb und heilsam ist, und auch Entbehrung und Verzicht mit frohem, willigem Herzen auf sich nimmt, so handelt auch erst recht der wahrhaft Glaubende gegen Gott: es ist ihm höchste Seligkeit, Gottes Willen unbedingt zu erfüllen. „Ein Christenmensch, der in dieser Zuversicht gegen Gott lebt, weiß alle Dinge, vermißt sich aller Dinge, was zu tun ist, und tut alles fröhlich und frei. Nicht um gute Verdienste und Werke zu sammeln, sondern eS ist ihm eine Lust, Gott also zu gefallen, in Lauterkeit Gott umsonst zu dienen, zufrieden, daß es Gott gefällt." In der Vorrede zum Römerbrief beschreibt Luther deshalb den Glauben als ein göttliches Werk in uns und als eine neue Geburt: „ES ist ein lebendig, ge­ schäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, so baß unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken. Er fragt auch nicht, ob gute Werk« zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie getan und ist immer im Tun ... Daher der Mensch ohne Zwang willig und lustig wird, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu bienen, allerlei zu leiben, Gott zu Liebe und zu Lob, der ihm solche Gnade erzeigt hat, also baß unmöglich ist, Werk vom Glauben zu scheiben, ja so unmöglich, als Brennen und Leuchten vom Feuer mag geschieden werben."

Luther kann also nicht schlimmer mißverstanden werden, als wenn man ihm vorwirft, er habe es seinen Anhängern bequem gemacht durch die Lehre, daß der Glaube allein ohne Werke, also ohne ernste sittliche Bemühung den Menschen vor Gott gerecht mache. Denn Luther hat einen Glauben, der nicht unablässig in der Liebe tätig ist (Gal. 5,6), niemals als rechtfertigend anerkannt.

4. Aus Luthers Glaubensbegriff ergibt sich also eine klare und bestimmte Gestalt christlicher Lebensauffassung und Lebensführung. Gänzlich überwunden und ausgetilgt ist die Vorstellung, die nicht bloß der jüdischen und römischen, sondern aller natürlich menschlichen Religionsauffaffung zugrunde liegt, als solle der Mensch durch seine „guten Werke" sich Lob und Lohn bei Gott verdienen. Die guten Werke gelten für Luther eindeuttg nicht als menschliche Leistung, sondern als Gottes Schöpfung im Menschen: Gott schenkt den Glauben und mit ihm die Lust und die Fähigkeit zu guten Werken. Damit ist auch die andere Vorstellung abgetan, als käme es auf einzelne Leistungen an, die addiert und summiert werden können. Diese aller natürlichen Werkgerechtigkeit anhaftende Vorstellung ist ersetzt durch die tiefe Einsicht, daß es sich um eine einheitliche, das ganze Leben ausfüllende

230

Luther und die deutsche Reformation

Haltung handle, also nicht um viele gute Werke, sondern um ein einheit­ liches Lebenswerk. 3m der Schrift „Von der christlichen Freiheit" hat Luther diese Erkenntnis mit dem anschaulichen biblischen Gleichnis beschrieben (Mt. 7,18) von dem guten Baum, der naturnotwendig gute Früchte bringt; damit will er sagen, die sittliche Lebensführung sei ein organisches Ganze, die einzelnen Taten also nur die Zeugen dieser Gesamthaltung. Luther wiederholt damit die Lehre Jesu, daß alles Echte unbewußt bleibt, weil es dem Menschen zur zweiten Natur geworben ist. (Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. Mt. 6,3.) Er hatte schon im „Römerbrief" gelehrt, die im wahren Sinne des Wortes Gerechten seien immer „unwissend gerecht", in ihrem Be­ wußtsein dagegen ungerecht, weil ihrer mangelnden Vollkommenheit eingedenk. Die Schrift „Von der christlichen Freiheit" stellt an die Spitze zwei scheinbar widerstreitende Sätze: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan", und „Ein Christenmensch ist ein dienst­ barer Knecht und jedermann untertan." Ein freier Herr, weil er nicht nötig hat, in knechtischer Gesinnung durch allerlei äußere Leistungen sich die gött­ liche Gnade zu verdienen, die ihm schon durch Christus geschenkt ist; ein dienst­ barer Knecht dagegen, weil er, dem Beispiele Jesu und des Apostels Paulus folgend, in freiwilliger Liebe dem Nächsten fteudig dient. Die ganze Schrift beschreibt das Christenleben als einen fteudig geleisteten Dank für die ohne Verdienst empfangene göttliche Güte und wagt dabei das kühne Gleichnis, der Christenmensch solle, so wie er durch Christus mit Gottes Gnade über­ schüttet ist, aucb seinem Nächsten ein Christus, d. h. ein dienender Helfer und Erlöser werden. Das ist die denkbar höchste und adligste Vorstellung vom sittlichen Leben. 5. Luthers Lehre von der christlichen Freiheit, die sich auf das Evangelium und auf Paulus stutzt, ist die von Nietzsche (s. u. S. 42 f.) übersehene einzig mögliche Erfüllung seines großen Wunschtraums von dem„Übermenschen". Nietzsches Übermensch fteilich ist eine nicht ganz eindeutige Losung. Er meint

damit den vornehmen und adligen Menschen, der hinausgehoben ist über die Enge und Ängstlichkeit des kleinbürgerlichen Philisters, der erlöst ist von aller „Sklavenmoral", die im „Ressentiment", d. h. in versteckter und vergif­ teter Haßstimmung sich auswirkt. Nietzsche weiß auch, daß zum Übermenschen

als dem höchsten Typus des vornehmen Menschen freie Ehrfurcht gehört, soldatische Zucht und soldatischer Gehorsam. Aber da er — im Zeitalter Darwins — meint, durch biologische Auslese den Übermenschen gewisser­

maßen „züchten" zu können, so droht seinem Wunschgebilde immer die naturalistische Verzerrung (Cesare Borgia!). Das kommt, weil er das Evan­ gelium nicht richtig kennt und nicht weiß, daß nur die fteischenkende erlösende Gnade Gottes den freien, erlösten Menschen schafft, der so hoch über aller

Z54f.

Die christliche Frecheü. Luther in WormS

231

Menschenfurcht und Menscheneitelkeit steht, daß er den höchsten Abel in freiwilliger Dienstbarkeit erblickt. „So jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener; und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht" (Mt. 20,26f.). Dazu die Erzählung von der Fußwaschung Joh. 13. Diese christliche Freihest äußert sich der Welt gegenüber in absoluter Furchtlosigkeit und unerschütterlicher Standhaftigkest. Schleiermachers Neujahrspredigt 1807. Bismarcks Bekenntnis im Deutschen Reichstag: „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts in der Welt." Paul Gerhardts Lied „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich." E. M. Arndt „Ich weiß, woran ich glaube, ich weiß, waö fest besteht".

§55. Das Bekenntnis von WormS.

1. Als der junge Kaiser Karl V. seinen ersten Reichstag vorbereitete, tauchte die Frage auf, ob nicht Luthers Bewegung verhandelt werden müsse. Der päpstliche Legat Aleander vertrat die Meinung, ein vom Papst Ge­ bannter dürfe vom Kaiser überhaupt nicht mehr angehört werden. Der Kurfürst von Sachsen aber, unterstützt durch die drohende Haltung der Stände und der Nation, setzte die Einladung durch. Ein kaiserlicher Herold überbrachte sie und geleitete Luther. Der päpstliche Legat versuchte trotzdem noch in letzter Stunde, Luthers Erscheinen arglistig zu verhindern. Auf sein Anstiften betörte der kaiserliche Beichtvater Glapion Luthers ritterliche Freunde Sikkingen und Hutten mit der Warnung, Luther begebe sich in schwerste Gefahr, wenn er in Worms erscheine (das Beispiel Hußens in Konstanz!); eö sei sicherer und erfolgreicher, wenn er WormS meide und auf die Ebernburg komme, um dort mit ihm, dem kaiserlichen Beichwater, vertraulich zu verhandeln. Luther sollte so die Frist des freien Geleits ver­ säumen und damit die Möglichkeit des öffentlichen Bekenntnisses vor der Nation verscherzen. Er hätte dann als ungehorsamer „Außenbleiber" ver­ urteilt werden können. Die beiden Ritter erkannten die Falle nicht und ließen Luther nach der Ebernburg einladen. Luthers gerade Tapferkeit, die alle Winkelzüge verachtete, ließ ihn die Einladung ablehnen und die Reise nach Worms fortsetzen. 2n dem ersten Verhör am 17. April wurde er gefragt, ob er den Inhalt seiner Bücher aufrecht erhalten oder etwas widerrufen wolle. Er bat sich Bedenkzest aus, weil es sich hierbei um den Glauben und daS Seelenheil handele und um das Größte im Himmel und auf Erden, daS Wort Gottes. Vielleicht war er überrascht, weil er nicht redlich verhört wurde, sondern ohne westeres widerrufen sollte. Vielleicht war er auch von den kurfürstlichen Räten so unterwiesen, um Gelegenheit zu einem ausführlichen Bekenntnis zu bekommen. An Widerruf dachte er jedenfalls nicht, wie ein Brief von dem­ selben Abend deutlich bezeugt.

232

Luther und 6ie deutsch« Reformation

In dem Verhör des 18. April (in einem größeren Saal und vor größerer Zuhörerschaft) hat er in ausführlicher, schriftlich wohlvorbereiteter Rede (deutsch und lateinisch, die Reihenfolge steht aber nicht ganz fest) seine Über­

zeugung begründet. Er unterschieb drei Gruppen seiner Schriften: 1. erbau­ liche, die auch von den Gegner^ anerkannt würben; 2. polemische, gegen die Irrtümer beS römischen Systems gerichtet, die er nicht widerrufen dürfe, um die Wahrheit nicht zu verleugnen; 3. polemische, gegen einzelne Personen gerichtet: hierin sei er oft zu bissig gewesen; aber widerrufen könne er sie auch nicht, da ihm daS als ein Widerruf seiner sachlichen Anklagen auSgelegt werden könnte. Er verlangte, mit prophetischen und evangelischen Schriften deS Irrtums überführt zu werben. Er lehnte den Rat ab, um des lieben Frie­ dens willen nachzugeben, da durch Verleugnung der göttlichen Wahrheit kein echter Friede möglich sei: „DaS sage ich nicht, so große Häupter zu be­ lehren oder zu ermahnen, sondern weil ich meinem Vaterland den Dienst, den ich ihm schulde, nicht entziehen will". Durch den Sprecher deS Reichs­ tages getadelt, weil er alte, von den Konzilien längst verurteilte Irrtümer wiederhole, und aufgefordert, eine kurze und unumwundene Antwort zu geben, gab er die berühmte Schlußerklärung ab: „Da Eure Majestät und Eure Herrlichkeiten eine eindeutige Antwort (das ist der Sinn deS SchulauSbruckS „ohne Hörner und Zähne") begehren, so will ich sie geben: So lange ich nicht durch bas Zeugnis der heiligen Schrift oder klare Vernunft widerlegt werde — denn ich vermag weder dem Papst noch den Konzilien allein zu glauben, da es fest steht, baß sie wiederholt geirrt und sich selbst widersprochen haben — so halte ich mich überwunden durch die heilige Schrift, und mein Gewissen ist in Gotteü Wort gefangen. Darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen daS Gewissen zu handeln beschwerlich und gefährlich ist. Gott helfe mir! Amen."

DaS Stoßgebet, mit dem dies Bekenntnis schließt, ist sehr bald durch den Zusatz erweftert worden: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders". Dieser Zusatz ist wahr, sofern er Luthers Haltung richtig beschreibt, daS größte Bei­ spiel einer Anekdotenform, die wahr ist, ohne buchstäblich wirklich zu sein.

Luther hatte allen Grund, nach dem Verhör wie nach einem großen Sieg befreit aufzuatmen; eine schwere Prüfung aber stand ihm noch bevor. Der Reichstag, der nicht wagte, Luther auf Grund dieses Verhörs einfach zu verurteilen, setzte einen Ausschuß ein, der in langen vertraulichen Sitzun­ gen sich bemühte, Luther zu einem erträglichen Kompromiß und zu einem halben Widerruf zu bewegen. Luther erkannte die Versuchung und blieb bei seinem runden „Nein". Der Kaiser hat, nachdem drei weltliche Kur­ fürsten und die Mehrzahl der Stände abgereist waren, am 25. Mai daS Wormser Edikt erlassen, zurückdatiert auf den 8. Mai und auSgegeben, als sei eS „mit einhelligem Rat der Kurfürsten und Stände beschlossen". In diesem Edikt wird Luther als verstockter Ketzer mit allen seinen Freunden geächtet.

$ 55

Luthers Bekenntnis, sein christliches und deutsches Gewissen

233

und alle künftig erscheinenden religiösen Bücher werben einer geistlichen Vorzensur unterstellt. Dieses Edikt war ebenso unwirksam wie innerlich un­ wahr. Die Urheber selber glaubten kaum an einen Erfolg. 2. Luther hat durch seine Besonnenheit, Tapferkeit und Festigkeit die Arg­ list und die gewalttätige Drohung seiner Gegner zu schänden gemacht. Er war in den Augen der Nation der moralische und tatsächliche Sieger. Die Majestät deS Gewissens, die er in den berühmten Schlußsätzen aufrichtete, ist als ein christlich unterrichtetes, b. h. ein an Gottes Wort ge­ bundenes Gewissen, nicht als die Willkür einer voraussetzungslosen Vernunft gemeint. Aber mit diesem an GotteS Wort gebundenen Gewissen wagte er, sich nicht nur gegen Kaiser und Reich, sondern auch gegen Papst und Konzil zu stellen. Daß eS ein Wagnis sei, war ihm wohl bewußt; denn der Sprecher deS Reichstags hatte ihm zornig vorgehalten, daS sei von jeher die Ausflucht der Ketzer gewesen, sich auf die Bibel zu berufen. Luthers GlaubenSgewißheit bewährte sich in den vertraulichen Nachverhandlungen vielleicht noch mehr als in dem öffentlichen Verhör. Denn hier waren eS wohlwollende Ver­ treter eines Reformkatholizismus, die mit eigenem Entgegenkommen ihn zu Nachgiebigkeit und Kompromiß gewinnen wollten. Mit seiner Berufung auf das Gewissen wiederholt Luther zu WormS in der konkreten Situation seiner Zeit daS klassische Zeugnis der Apostel: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg. 5,29). Die Be­ deutung dieses Bekenntnisses wird deutlich durch den Gegensatz zu dem Widerruf Meister EckehartS (f. o. S. 187). Eckehart hielt noch die römische Papstkirche für die einzig rechtmäßige Vertretung (Realpräsenz) GotteS, der er bedingungslosen Gehorsam schuldig sei. Luther stellt sein auf Gott ge­ gründetes Gewissen gegen die ganze Welt (Mc. 8,36f.). DaS Mittelalter ist damit zu Ende; eine neue Zeit hat begonnen. Hochbedeutsam ist auch Luthers Erklärung, baß er seinem lieben deusschen Vaterland seinen Dienst nicht entziehen wolle. Luther ist sich seiner deutschen Sendung zu WormS wohl bewußt gewesen; hat er doch alle seine Antworten auch in deusscher Sprache, wahrscheinlich sogar zuerst in deutscher Sprache gegeben. Aber er betrachtete seine deussche Sendung mit höchster Gewissen­ haftigkeit als einen göttlichen Auftrag. Der Reichstagsbeamte hatte versucht, Luther unsicher zu machen durch Hinweis auf die Zwistigkeiten, die in der Nation um seiner Lehre willen entstanden seien. Er hatte ihn also zu einer Taktik drängen wollen, die um äußerer, politischer Vorteile willen die letzte Wahrheit zurückstellte. DaS lehnt Luther ab, weil er sein Deutschland besser liebt als die Gegner: er will nicht, daß die deutsche Einheit auf eine Unwahrheit gegründet und daS Regiment deS jungen Kaisers mit einer Verdammung deS Wortes GotteS eröffnet werbe. Er kann Deutschland nicht anders sehen als unter dem Wort GotteS stehend und von der göttlichen Wahrheit regiert. Er kann nicht glauben, daß DeusschlandS Zukunft durch

234

Luther und die deutsche Reformation

eine politische Taktik begründet wird, die der letzten entscheidenden Wahrheitsfrage ausweicht.

„Deshalb sollen wir daran denken, wie so wunderbar und schrecklich unser Gott in seinem Ratschluß ist, damit wir nicht, den Streit zu stillen, damit anfangen, das Wort Gottes zu verdammen und dadurch eine unerträgliche Flut von Übeln über uns heraufbeschwören und sorgenvoll in die Zukunst sehen müssen, wenn die Herrschast Karls, des herrlichen jungen Fürsten, auf den wir nächst Gott große Hoffnung setzen, einen solchen Anfang nimmt. Reiche Beispiele aus der Schrift könnte ich anführen von Pharao und dem König von Babylon und den Herrschern Israels, die alle zeigen, wie sie die Macht ihres Reiches zu der Zeit untergruben, als sie mit überklugen Plänen sie zu sichern trachteten." (Aus der Rede vom 18. April.) Es ist auch später noch die Frage aufgeworfen worden, ob Luther nicht klüger gehandelt hätte, wenn er in den grundsätzlichen Glaubensfragen nach­ gegeben und sich auf die Verttetung der kirchenpolitischen Beschwerden der Nation beschränkt hätte. Er hätte sich, so sagt man, zum Wortführer der alten „Gravamina deutscher Nation" machen und die nationale Oppo­ sition gegen Rom ins Feld führen sollen, um auf diesem Umwege vielleicht nachher auch eine das ganze Volk ergreifende Reformation des Glaubens und der Kirche zu erreichen. Das hätte Luther mit Recht als einen Verrat der ewigen Wahrheit an irdische Vorteile empfunden. Damit hätte er sich selbst verleugnet und sich der Kraft zum Handeln beraubt. Es ist das Große an den Tagen von Worms, daß er der Nation diente, indem er sie unter Gott stellte.

§ 56. Auf der Wartburg: Gottes Wort und die Schwärmer. 1. Auf der Rückreise von Worms wurde Luther im Aufttage seines weiser: Kurfürsten auf dessen Gebiet „überfallen" und auf der Wartburg in Sicher­ heit gebracht. Die zehn Monate dieser Schutzhaft nützte er schriftstellerisch rnit höchstem Fleiße aus. Der Außenwelt schien er zunächst verloren. Dürer klagt in seinem Antwerpener Tagebuch: „Ach Gott, ist Lutber tot, wer wird uns hierfür das heilig Evangelium so klar fürttagen! ... O ihr fromme Christenmenschen alle, helft mir fleißig beweinen diesen gottgeistigen Men­ schen!" Als aber Albrecht von Mainz zur Abhilfe seiner Finanznot in der Stiftskirche zu Halle seinen Reliquienschatz ausstellte und damit einen neuen Ablaßhandel eröffnete, schrieb Luther ihm einen zornmütigen Brief, in dem er eine Stteitschrift „Wider den Abgott zu Halle" ankündigte. Der Kardinal beeilte sich, umgehend de- und wehmütig zu versichern, der Handel sei abgestellt. Der gefangene, gebannte und geächtete Mönch war die erste Großmacht in Deutschland! 2. Luthers Hauptleistung auf der Wartburg war die Übersetzung des Neuen Testaments, auf Grund des von Erasmus gedruckt herausge-

§56

Die Bibelübersetzung

235

gebenen griechischen Textes. Wenn er sein Programm vom Priestertum aller Gläubigen (s. o. S. 222) ausführen wollte, mußte er der Gemeinde die Bibel in deutscher Sprache in die Hand geben. Zu dem Zweck aber mußte er sie neu verdeutschen; denn die bisherigen Übersetzungen waren aus die Vulgata gestützt und in einem schwer verständlichen Deutsch verfaßt. Er vollendete die Arbeit in knapp drei Monaten! Vor dem Druck hat er sie, nach Witten­ berg zurückgekehrt, mit Melanchthons Hilfe durchgesehen. Sie erschien im September 1522: daher „Septemberbibel" oder „Septembertestament". Nach der Vollendung des Neuen Testaments begann er sofort mit Hilfe ge­ lehrter Sachkenner die Übersetzung des Alten Testaments, auch sie aus dem Urtext, unter Verwendung der alten Übersetzungen. Besondere Schwierig­

keiten bereiteten die Propheten und das Buch Hiob, weil ihre bilderreiche Dichtersprache voller rätselhafter Anspielungen und der Text wohl deshalb besonders schlecht überliefert ist. Die Gesamtbibel erschien zum erstenmal 1534. An der ständigen Verbesserung der Übersetzung hat Luther mit Hilfe einer Bibelkommission, deren Protokolle noch erhalten sind, unablässig ge­ arbeitet. Die letzte, verbesserte Ausgabe von seiner Hand erschien 1546 nacb seinem Tode. Luther, der die meisten seiner Streitschriften, unbekümmert um kunstvoll gegliederten Aufbau und humanistisch gefeilte Formung, in atemlosem Tempo hingeworfen hat,, verwendet auf die Bibelübersetzung die allerpein­ lichste und gewissenhafteste Sorgfalt, weil es sich nicht um eigene Weisheit, sondern um Gottes Wort handelte. Seine Übersetzung ist sachlich von höchster Treue, dem Buchstaben gegenüber von vollkommener Freiheit (Sendbrief vom Dolmetschen!). Luther war sich seiner sprachlichen Aufgabe und Verantwortung wohl bewußt, hat aber die Bedeutung seiner Bibelübersetzung noch unterschätzt. Tatsächlich verdankt Deutschland ihr seine sprachliche und damit auch weithin seine geistige Einigung. Die konnte nur durch die Bibel geschaffen werden, weil sie ein Buch von unvergleichlicher Autorität war, ein Buch, das nicht nur ein oder zweimal gelesen, sondern von der Nation innerlich und äußerlich angeeignet wurde; haben doch sogar katholische Bibelübersetzer zu Luthers Lebzeiten seine Übersetzung dreist ausgenutzt. Noch die Schriften unserer Klassiker, wie Klopstock, Goethe und Schiller, bezeugen den überwäl­ tigenden Eindruck seiner deutschen Bibel auf Sprache und Literatur. Der berühmte katholische Kirchenhistoriker Döllinger urteilt: „Sinn und Geist der Deutschen war in seiner Hand wie die Leier in der Hand eines Künstlers. Hatte er seinem Volk doch auch mehr gegeben als je einer zuvor: Sprache, Volkslehrbuch, Bibel, Kirchenlied; und alles, was die Gegner ihm zu erwidern hatten, bas nahm sich matt und kraft- und farblos aus neben seiner hin­ reißenden Beredsamkeit. Sie stammelten, er redete; nur er war es, der wie der deutschen Sprache so dem deutschen Geiste das unvergängliche Siegel seines Geistes aufgedrückt hat."

236

Luther und die deutsche Reformation

3. Luther hat seiner Bibelübersetzung, sowohl dem Ganzen wie einzelnen Schriften, Vorreden vorausgeschickt, in denen er sich über diese Schriften und die in ihnen bezeugte GotteSoffenbarung grundsätzlich äußert. Besonder» bedeutsam ist die Vorrede auf den Römerbrief von 1522. Hier werden die großen biblischen Grundbegriffe Gesetz und Evangelium, Sünde und Gnade, Glaube und Gerechtigkeit, Fleisch und Geist machtvoll erläutert (vgl. o. S. 229, die Worte über den Glauben). In der Vorrede zum Jakobus­ brief steht die klassische Weisung, alle Schriften daraufhin zu „prüfen, ob sie Christum treiben oder nicht"; „denn was Christum nicht lehrt, da» ist noch nicht apostolisch, wenn eS gleich St. Petrus oder Paulus lehrte". Luther unterscheidet sich durch seine grundsätzliche Bibelbetrachtung von allen Theologen vor ihm, auch von den kühnsten der sog. Vorreformatoren. Sie alle, Wiclif nicht ausgenommen (die humanistischen Zeitgenossen wie EraSmuS ebenso), hängen noch am katholischen BibelverstänbniS, sofern sie die Bibel als ein G es« tzb u ch betrachten, daS Neue Testament als neues Gesetz gegenüber dem Alten Testament und Gesetz (für daS typisch englische Christen­ tum ist von Wiclif bis auf die Gegenwart die Bibel „God’s law"). Dem deutschen Reformator ist in seinen aufwühlenden Glaubenskämpfen ein ganz anderes, neues Bibelverständnis geschenkt: Die Bibel hat einen einheit­ lichen Sinn, sie ist Zeugnis der in Christus kundgetanen göttlichen Gnade. Was in ihr wirklich „Gesetz" ist, das hat nur indirekte, vorbereitende Bedeutung; Gottes eigentliches Wort ist daS Evangelium. Damit gewinnt Luther sowohl die denkbar höchste Wertung der Bibel, wie auch eine unbe­ dingte Freiheit dem Buchstaben gegenüber. Beides bezeugt sich in der Richtschnur: „Was Christum treibt". Denn mit dieser berühmten Formel ist die Person deS Heilandes als der Schatz der Bibel bezeichnet. Er ist daS Wort GotteS, daS die Menschheit erlöst. Die Bibel bindet unS nur soweit, als sie dieses erlösende Wort verkündet und erläutert. Daher in den Vorreden und auch sonst die unerhört kühnen Urteile über einzelne biblische Schriften, insbesondere über JakobuS, Hebr. u. Off. Joh. Im Septembertestament stellt er die folgenden vier Schriften: Hebräer­ brief, JakobuS, JudaS und Offenbarung — unnummeriert l — ans Ende und bezeichnet sie damit schon als nur einen Nachtrag von geringerer Bedeutung, was er in den einzelnen Vorreden erläutert und begründet. UnS bindet heute aber nicht daS Einzelne dieser Kritik, sondern nur ihr großer Grundsatz. AuS dieser innerlich begründeten Freiheit entspringt auch Luthers grund­ sätzliche Überwindung der allegorischen Bibelauslegung, die in der Kirche so alt ist wie das Neue Testament; übt doch Paulus sie gegenüber dem Alten Testament. Luther dagegen stellt die Losung auf: „Der natürliche Sinn ist Frau Kaiserin". Er hat freilich diesen Grundsatz, besonders dem Alten Testament gegenüber, nicht immer burchzuführen vermocht und ist

§56

Bibel und Wort Gottes

237

öfter in die überlieferte allegorische Wertung der Bibel zurückgefallen, so baß eS auSsieht, als ob jedes Wort der Bibel buchstäblich Gottes Offen­ barung sei. Uns ist die große Aufgabe hinterlassen, Luthers Grundsatz, wonach sich in der Bibel Gottes Wort findet, aber nicht jeder Satz mechanisch als GotteS Wort zu werten ist, mit Luthers frommer Demut und mit seiner gläubigen Freiheit entschlossen durchzuführen. 4. DaS innere Leben, Has durch das Bibelstudium in Luthers Seele ge­ weckt ist, hat ihn befähigt, die Bibel mit einer unerhörten Lebendigkest zu sehen und Kamst zu neuen Erkenntnissen vorzudringen, deren Bedeutsamkeit bis heute kaum recht erkannt, geschweige ausgewertet ist. Er entdeckt hinter dem Bibelbuch, seinen vier verschiedenen Evangelienschriften so gut wie den Briefen, das eine einheitliche Evangelium, daS zunächst eine lebendige mündliche Verkündigung gewesen ist, fernab von der Einsperrung in tote Buchstaben. „Evangelion heißt nichts anderes denn eine Predigt und Geschrei von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, durch den Herrn Christum mit seinem Tob verdient und erworben; und ist eigentlich nicht daS, was in Büchern steht und in Buchstaben verfaßt wird, sondern mehr eine mündliche Predigt und ein lebendig Wort, eine Stimme, die in die ganze Welt erschallt und öffentlich ausgeschrien wirb, baß man'S überall hört... Daß es aber auch geschrieben ist, daS ist aus Überfluß geschehen." (Epistel St. Petri gepredigt und ausgelegt 1523. W. A. 12,259f.)

DaS Paulus-Wort: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig" (2. Kor. 3,6) bekommt hier plötzlich eine neue tiefe Sinnerfüllung. Denn mit solch einer Bibelbetrachtung ist aller kleinliche und knechtische Buch­ stabenglaube überwunden. Deshalb konnte Luther auch den kühnen Satz prägen: „Wenn unsere Gegner auf die Schrift dringen gegen Christus, so dringen wir auf Christus gegen die Schrift". Sein Motto „was Christum tteibet" findet hier seine folgerichtige Auswirkung. Aber Kamst ist immer noch nicht das Letzte und Tiefste von Luthers refor­ matorischer Bibelbettachtung gesagt. Die entscheidende Frage lautet doch: Wo und wie finden wst in dem Bibelbuch Gottes lebendiges Wort, das uns trifft? Darauf antwortete der katholische Christ: Das kann uns nur die Kirche sagen. Sie allein hat die Vollmacht, die Bibel auszulegen und anzu­ wenden. Man berief sich dafür gern auf ein berühmtes Wort Augustins, des tiefsinnigsten und selbständigsten Lehrers der alten Kstche: „Ich würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorstät der Kstche über­ zeugte". Augustin stellt also, gut katholisch, die Kstche über die Bibel. Luther hat in seiner Predigt vor der Gemeinde mit herzhafter Entschiedenhest das Gegenteil ausgeführt: „So heben sie denn an und sprechen: ,Ja, wie können wst wissen, was Gottes Wott ist und was recht ober falsch ist? Wir müssen es lernen vom Papst und von den Konzilien'. Wohlan, laß sie beschlstßen und sagen, was sie wollen; so sage ich:

238

Luther und die deutsche Reformation

Du kannst deine Zuversicht nicht darauf stellen, noch dein Gewissen damit befrieden. Du mußt selber beschließen, es gilt dir deinen Hals, es gilt dir dein Leben. Darum muß dirs Gott ins Herz sagen: Das ist Gottes Wort; sonst ist es ungeschlossen ... Sie bringen Augustins Spruch her: »Ich gläubete dem Evangelio nicht, wenn mich nicht bewegete der Kirche Ansehens und meinen, sie hätten schon gewonnen. So sage du: Was liegt mir daran, Gott gebe, es sage Augustinus oder Hieronymus, St. Peter oder St. Paul, ja gleich der Erzengel Gabriel vom Himmel ... Denn das Wort kann man mir wohl predigen, aber ins Herz geben kann mir es niemand, denn alleinGott; der muß im Herzen reden, sonft wird nichts daraus." (Predigt am 8. Sonntag nach Trin. 1526 über Mt. 7,15ff. W. A. 10,1 II 235f.)

Solche Ausführungen zeigen, daß der Reformator sich grundsätzlich von der katholischen Bibelauffassung gelöst hatte und zur evangelischen Freiheit vorgedrungen war. Seine reformatorische Bibelauffassung und Bibelver­ wertung unterscheidet ihn freilich ebenso von der übergeistigen Willkür der Schwärmer, die das geschriebene Wort verachteten und stattdessen sich auf ihre angeblichen Privatoffenbarungen, in Wirklichkeit auf ihre subjektiven Einfälle verließen. Luthers reformatorische Bibelbettachtung ist der schmale Weg, der zwischen gesetzlichem Buchstabendienst und willkürlicher Schriftverach­ tung mitten hindurchführt. Dieser Weg freilich war so neu, und Luther blieb auf ihm so einsam, daß man sich nicht wundern darf, wenn er von diesem schmalen Weg öfter abirrte und in die überlieferte katholische Buchstaben­ gläubigkeit zurückfiel. 5. Während Luther auf der Wartburg weilte, hatte in Wittenberg der un­ ruhige und ehrgeizige Karlstadt, unterstützt durch aufgeregte Schwärmer aus Zwickau, begonnen, im Gottesdienst und kirchlichen Leben einschneidende Neuerungen übereilt durchzuführen. Die Bewegung entartete zu einer Vergewaltigung der Gewissen und zu einem revolutionären Bildersturm. Sie brachte den Kurfürsten in schwere politische Verlegenheit; weder er, noch Melanchthon und die Universität vermochten die Unruhe zu bändigen. Deshalb verließ Luther (am 1. März 1522) gegen die Weisung des Kurfürsten die Wartburg, rechtfertigte diesen Schritt durch einen glaubensstarken, prophetischen Brief an seinen Landesherrn und kehrte nach Wittenberg zurück; in einer Woche überwand er durch tägliche Predigten mit der Macht seines Geistes die Schwärmer und stellte die Ordnung wieder her (vgl. § 57,1). „Ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höheren Schuh, denn des Kur­ fürsten. Ich Habs auch nicht im Sinn, von E. K. F. G. Schutz zu begehren. Ja, ich halt, ich wolle E. K. F. G. mehr schützen, denn sie mich schützen könnte. Dazu wenn ich wüßte, daß mich E. K. F. G. könnte und wollte schützen, so wollt ich nicht kom­ men. Dieser Sachen soll noch kann kein Schwert raten und helfen; Gott muß hie allein schaffen, ohn alles menschlich Sorgen und Zutun. Darum wer am meisten gläubt, der wirb hie am meisten schützen!" (E. K. F. G. = Euer Kurfürstliche Gnaden.)

Karlstadt und die „Zwickauer Propheten" verttaten größtenteils Forderungen, die Luther grundsätzlich billigte: Abschaffung des Opfercharak-

§ 56

Gegen den Bildersturm. Gesetz und Evangelium

239

ters der Messe, deshalb Beseitigung der stillen Messe, Einführung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt, Abschaffung des Zölibats der Geist­ lichen und des Klosterzwangs der Mönche und Nonnen. Sie machten aber aus diesen Forderungen einen neuen Gewissenszwang, sofern sie sich nicht damit begnügten, den Mönchen das Weltleben und den Priestern die Ehe freizustellen, sondern alle zum Verlassen des Klosters und zur Heirat nötigten. Ihr „Schwärmertum" verriet sich in der Behauptung, ihnen wür­ den besondere göttliche Erleuchtungen zuteil; deshalb sei nicht nur die Bibel, sondern alle Schulwisienschaft überflüssig. Luther hat in seinen gewaltigen Fastenpredigten gelehrt, daß jeder echte Glaube sich bewähren müsse in liebevoller Rücksicht auf die Ängstlichen und Schwachen. „Predigen will ich's, sagen will ich's, schreiben will ich's, aber zwingen und dringen mit Gewalt will ich niemand; denn der Glaube will willig und ungenötigt sein und ohne Zwang angenommen werden." Er hat mit diesen Predigten das Evangelium vor der Verkehrung in neue Gesetzlichkeit, die Bibel vor der Auf­ lösung in phantastische Schwärmerei, das Recht der Gewissen vor gewalt­ samer Treiberei gerettet; er bat zugleich damit den Beweis erbracht, daß seine Reformation mit politischer und sozialer Revolution nicht zu verwechseln sei. Luther hat den Mönchen und Priestern zu Weltleben und Ehe ein gutes Ge­ wissen gegeben, indem er sie belehrte, ihre Gelübde seien unrecht gewesen, weil sie sich damit auf unfromme Weise Gott gegenüber Verdienste und Anspruch auf Lohn hätten beschaffen wollen; sie seien also nicht verpflichtet, ja nicht einmal berechtigt, diese gottwidrigen Gelübde zu halten. 3n den gottes­ dienstlichen Formen hat er ausgemerzt, was an den Opfer- und Verdienst­ charakter der katholischen Messe erinnerte, im übrigen aber mit Rücksicht auf die schwachen und ängstlichen Gewissen am Überlieferten möglichst wenig

geändert. Entscheidend war ihm die Predigt des Wortes Gottes. Hierfür lieferte er mit seiner Bibelübersetzung und mit seiner noch auf der Wartburg begonnenen Predigtsammlung (Postille) die feste Grundlage und fruchtbarste Anregungen. 6. In der Auseinandersetzung mit den Schwärmern (vgl. auch § 57) hat Luther den für seine Theologie grundlegenden Unterschied von Gesetz und Evangelium klar herausgearbeitet. ,,Durcbs Gesetz soll nichts anderes verstanden werden denn Gottes Wort und Gebot, darinnen er uns gebeut, was wir tun und lasten sollen, und unsern Gehorsam oder Werk von uns fordert." „Dagegen bas Evangelium oder der Glaube ist solche Lehre oder Wort Gottes, daS nicht unsere Werke fordert, sondern heißt uns, die an­ gebotene Gnade von Vergebung der Sünden und ewiger Seligkeit schlecht annehmen und uns schenken lassen." „Darum wenn mich daS Gesetz beschuldigt: ich habe dies und daS nicht getan, ich sei ungerecht und ein Sünder, in Gottes Schuldregister geschrieben, so muß ich bekennen, eS sei alles wahr. Aber die Folgerebe: darum bist du verdammt, muß ich nicht einräumen, sondern mich mit starkem Glauben wehren rind sagen: nach dem Gesetz, welches mir meine Schuld anrechnet, bin ich wohl

240

Luther und die deutsche Reformation

«in armer verdammter Sünder/ aber ich appelliere vom Gesetz zum Evangelio: denn Gott hat über das Gesetz noch ein ander Wort gegeben/ das heißt das Evangelium/ welches uns seine Gnad«/ Vergebung der Sünden, ewige Gerech­ tigkeit und Leben schenket/ dazu frei und losspricht von deinem Schrecken und Verdammnis und tröstet mich, alle Schuld sei bezahlet durch den Sohn Gottes Jesum Christum selbst." (Sermon vom Unterschieb zwischen dem Gesetz und Evan­ gelia 1532.)

Luther hat wohl gewußt und wiederholt ausgesprochen, daß die voll­ kommene Reue und Buße ein Geschenk der Gnade sei, weil sie unter dem erschütternbm Eindruck unverdienter Güte entstehe (Lk. 5,8; Rö. 2,4). Er hat erst recht erfahren und bekannt, daß bas Gesetz allein gerade den empfänglichen Menschen nicht zum Heil führe, sondern in Schrecken und Verzweiflung und damit in die tiefste Hölle verstoße (vgl. o. S. 213). Aber er hat ebenso, durch schmerzlichste Erfahrungen belehrt, mit unbarmherziger Klarheit eingesehen, baß für die Masse der Menschen der harte Hammer beö Gesetzes nötig sei, um ihre satte Selbstgerechttgkeit zu erschüttern und zu zerschlagen. „Das fürnehmste Amt und Kraft des Gesetzes ist, baß eS die Erbsünde mit ihren Früchten offenbare und dem Menschen zeige, wie gar tief und grundlos seine Natur gefallen und verderbet ist ... Damit wirb er erschreckt, gedemütigt, verzagt und verzweifelt, wollt« gern, baß ihm geholfen würde ... Solch Amt beS Gesetzes behält das Neue Testament und treibt es auch, wie Paulus Röm. 1 tut . . . Das ist nun die Donneraxt Gottes, damit er beide, die offenbarltchen Sün­ der und die falschen Heiligm, In einen Haufen schlägt und läßt keinen Recht haben, treibt sie allesamt in Schrecken und Verzagen. Das ist der Hammer, wie Jeremia spricht: Mein Wort ist ein Hammer, der die Felsen zerschmettert." (Schmalkalbische Arttkel.)

Die Wirkung des Gesetzes ist also nur vorbereitend, nur indirekt. Alle wirkliche Erneuerung, alles wahre Heil, alles echte neue Leben kommt durch das Evangelium, bas mit bemüttgem Glauben ins Herz ausgenommen wirb. Denn eö allein schenkt unS den Geist Gottes und damit die Kraft, frei und freudig das zu tun, waS Gott im Gesetz von uns fordert. Deshalb hat Luther, so hoch er das Gesetz als den Ausdruck der unverbrüchlichen Gottesforderung gewertet hat, doch unermüdlich immer wieder den Unter­ schied von Gesetz und Evangelium als die Eine große Hauptsache seiner Gemeinde klar und eindringlich zu machen sich bemüht. Dabei ging er mit treuherziger Zuversicht von der Voraussetzung aus, seine Zuhörer (oder Leser) wären ähnlich wie er erschüttert von der unerschwinglich hohen For­ derung Gottes, erschrocken und entsetzt über ihr angeborenes menschliches Unvermögen, erlöst und beseligt über bas Gnadengeschenk unverdienter Güte und Barmherzigkeit. Von dieser heilschaffenden „theologischen" Bedeutung beS Gesetzes hat Luther eine bürgerliche ober politische sorgfältig unterschieben. Auch

§56

Die doppelte Bedeutung des Gesetzes

241

diesen Gebrauch des Gesetzes hat er überaus hoch eingeschätzt, ist er doch die Grundlage alles menschlichen Zusammenlebens, aller bürgerlichen und staat­ lichen Ordnung (daher der „erste" Brauch bcS Gesetzes). Deshalb kann er gelegentlich schreiben: „Gottes Gesetz ist nötiger zu predigen und zu treiben denn bas Evangelium, darum daß viel Böse sind, die durch Gesetzeszwang müssen [tm Zaun) gehalten werden; aber der Frommen sind wenig und nur Gott bekannt, die das Evangelium fasten." Dieser Brauch des Gesetzes ist der Obrigkeit anbefohlen. Sie soll in GotteS Auftrag und Befehl das Volk in Zucht und Ordnung halten und damit die Bahn frei machen für die Pre­ digt des Evangeliums durch die Kirche Jesu Christi (s. u. S. 246 u. 262f.). Endlich gilt es zu beachten, daß Luther allezeit den Wahn der Schwärmer, es gäbe hier auf Erden vollkommene und sündlose Heilige, als eine ruchlose Verblendung bekämpft hat. Auch von dem Christenmenschen gilt immer: „Gerecht und Sünder zugleich". Deshalb bedarf auch er immer des Gesetzes; und zwar in dem doppelten Sinne, daß er durch bas Gesetz vor falscher Sicherheit bewahrt und in Demut gehalten werde, sowie daß er Regel und Richtschnur aus dem Gesetz Gottes empfange. Freilich gilt das Wort des Apostels: „Christus ist des Gesetzes Ende", sofern nicht der Weg der Gesetzeserfüllung, sondern allein der Weg der Gnade zum Heile führt. Auch sollte der Geist uns bester als jede Gesetzesvorfchrift sagen, was wir Gott zum Lobe und unseren Nächsten zu Liebe tun und lasten sollen. In Wirklichkeit aber bedürfen wir für diese zweite Ausgabe immer der Leitung durch Gottes Gebot. 7. Der Reformator hat die beiden Begriffe Gesetz und Evangelium ge­ legentlich so gebraucht, als ob das eine mit dem AT., daS andere mit dem NT. gleichbedeutend wäre. In Wirklichkeit aber hat er beide Begriffe nicht so mechanisch auf AT. und NT. verteilt, sondern auch im NT. deutliche Be­ zeugung des Gesetzes, der heiligen göttlichen Forderung gefunden (z. B. die Bergpredigt), und umgekehrt im AT. tröstliche Zeugnisse deS Evangeliums, der Verheißung göttlicher Gnade. In der „Unterrichtung wie sich die Christen in Mosen schicken sollen" (1526) unterscheidet Luther drei Stücke, die in Mose- d. h. hier im AT., zu merken sind, 1. das Gesetz GotteS, 2. die Ver­ heißungen auf Christus, 3. „die schönen Exempel des Glaubens, der Liebe und des Kreuzes bei den Vätern", aber auch „die Exempel des Unglaubens der Gottlosen und des Zornes Gottes". Sein Hauptaugenmerk gilt der Unterweisung über Sinn und Bedeutung des Gesetzes im AT. Die Schwärmer hatten sich für ihren Bildersturm auf das Bilderverbot des Dekalogs berufen (auf das 2. Gebot nach jüdischer und reformierter Zählung). Andere wollten sich für die Sabbatfeier auf den Dekalog stützen. Sie waren auch sonst geneigt, wo es ihnen paßte, sich auf den Buchstaben des AT. zu berufen, als sei es ein Gesetz, das jetzt noch alle Christenheit binde. Diese Auffassung lehnt Luther mit radikaler Entschiedenheit ab. i6

Schuster, Kirchengeschlchte

242

Luther und die deutsche Reformation

„Das Gesetz ist allein dem Volk Israel gegeben, und Israel hat es angenommen für sich und seine Nachkommen, die Heiden sind hier ausgeschlossen." „Daß aber Mose die Heiden nicht binde, kann man aus dem Text im 2. Buch Mose 20,2 zwin­ gend beweisen, da Gott selber spricht: ,Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus dem Diensihause, geführt hat'. Aus diesem Text haben wir klar, daß uns auch die 10 Gebote (!) nichts angehen; denn er hat uns ja nicht aus Ägypten geführt, sondern allein die Juden. Die Rottengeifter wollen uns Mosen

auf den Hals legen mit allen Geboten; das wollen wir lassen. Mosen wollen wir Hallen für einen Lehrer, aber nicht für unsern Gesetzgeber; es sei denn, daß er gleichftimme mit dem N. T. und dem natürlichen Gesetz." „Was Gott vom Himmel den Juden durch Mose gegeben hat, das hat er auch geschrieben in aller Menschen Herzen ... Also halte ich die Gebote, die Mose gegeben hat, nicht darum daß Mose sie geboten hat, sondern daß sie mir von Natur eingepflanzt sind und Mose allhier mit der Natur übereinftimmt."

Das waren für jene Zeit (und auch noch für viele Menschen unserer Tage!) verblüffend neue Gedanken von einer ungeheuren Tragweite. Damit fiel und fällt das ganze Kultus- und Zeremonialgesetz des AT.; auch die ganze politische und soziale Volksordnung. Von ihr gilt höchstens die Be­ merkung : „Wir wollen Mose für einen Lehrer halten", d. h. für einen Weisen wie Solon oder Lykurg, von dem wir gegebenenfalls nach freiem Ermessen für unsere Verhältnisse lernen können. Damit fällt — befremdlich zunächst und ärgerlich, es zu hören — auch der Dekalog, die heiligen 10 Gebote! Auch von ihnen gilt die berühmte Losung: „Mose ist der Juden Sachsen­ spiegel". Sie findet in der Schrift „gegen die himmlischen Propheten" Tl. 1 (1524/25) eine besonders anschauliche Ausführung. „Darum ist Bilderei und Sabbat und alles, was Mose mehr und über das natürliche Gesetz hat, frei, ledig und abgetan; es ist allein dem jüdischen Volk in Sonderheit gegeben: nicht anders, als wenn ein Kaiser oder König in feinem Land sonderliche Gesetze und Ordnung machte, wie der Sachsenspiegel in Sachsen, und doch gleichwohl die gemeinen, natürlichen Gesetze durch alle Lande gehen und bleiben, als die Eltern ehren, nicht morden, nicht ehebrechen, Gott dienen usw. Darum laste man Mose der Juden Sachsenspiegel sein und uns Heiden unverworren damit; gleichwie Frankreich den Sachsenspiegel nicht achtet und in dem natür­ lichen Gesetz wohl mit ihm übereinstimmt."

Nun hat aber Luther doch schon damals die 10 Gebote hoch geehrt und sic später selbst als 1. Hauptstück in seinen Katechismus übernommen. Wie erklärt sich das? Darauf hat er in der letztgenannten Schrift wie auch in der vorhergehenden klar und deutlich geantwortet: „Warum behält und lehret man denn die 10 Gebote? Antwort: Darum daß die natürlichen Gesetze nirgend so fein und ordentlich sind verfaßt als im Mose". Der biblische Dckalog ist also gewistermaßen die klassische Form der allen Menschen in Herz und Gewissen geschriebenen (Röm. 2,14f.) heiligen Grundgebote Gottes. Aber Luther übernimmt sie in seinen Katechismus nicht buch-

§56

Die Bedeutung des Alten Testaments für den Christen

243

stäblich, sondern in christlicher Freiheit mit wohlüberlegten, bedeutsamen Ab­ wandlungen. Er läßt selbstverständlich aus: „der dich auS Ägypten, auS dem

Diensthause geführt hat". Er läßt daS 2. Gebot, baü Bilderverbot, ganz auS, wie die katholische Kirche; aber nicht ihrer Überlieferung folgend, son­ dern auS dem genau entgegengesetzten Grunde: die katholische Kirche hatte eS ausgelassen, weil eS ihr bei ihrer Bilderverehrung peinlich war; Luther läßt eS auS, weil er den Schwärmern keinen Anlaß zum Bildersturm geben will, und weil er sich zutraut, — und der Erfolg hat ihm recht gegeben — mit der Kraft deS Wortes die abgöttische Verehrung der Bilder auch ohne Bildersturm in seinen Gemeinden zu überwinden. AuS dem jüdischen „Sabbattag" macht er den christlichen „Feiertag"; die Verheißung beim 4. Gebot tilgt er, weil ein christlich erzogener Mensch solcher Verheißungen nicht bedarf. Wenn Luther von der heilsamen Wirkung deS Gesetzes redet, daS die Ge­ wissen erschüttert und damit dem Evangelium und dem Glauben den Weg bereitet, so ist nicht das gemeint, waS man gewöhnlich unter dem alttestamentlichen oder jüdischen „Gesetz" versteht, nicht daS Kultus- und Zeremonialgesetz, daS später in der rabbinischen „Thora" seine bis zum Unsinn übersteigerte Ausbildung erfuhr. Dies Gesetz, auS Tausenden von formu­ lierten Einzelheiten bestehend, konnte man mit genügend Zeit, Aufmerk­ samkeit und Pedanterie zur Not erfüllen. DaS verführte den Menschen deshalb zu falscher Sicherheit und hochmütiger Überheblichkeit. Luther aber

denkt an die großen Grundgebote prophetischer Forderung, deren erstes Gebot lautet: Gott über alle Dinge fürchten und lieben (Micha 6, 8; Deut. 6, 5; 10, 12). Dies Gebot ist unendlich und mußte den ernsthaften Menschen wahrhaft erschüttern. ES verdient die höchste Beachtung, daß Luther sich hier (wie PauluS Röm. 2, wie auch JesuS selber) auf das sittliche Empfinden deS unverdorbenen Menschen beruft und daS natürliche Gesetz zum Maßstab erhebt, an dem MoseS Gebote gemessen werden. Nicht als ob der Mensch imstande oder auch nur ernstlich gewillt sei, diese Gebote zu erfüllen; aber er kann nicht umhin, sie zu vernehmen und innerlich anzuerkennen. Vernunft und Gesetz gehören zusammen, sie gehören zur Natur deS Menschen; bei Mose wie bei dem größten Gesetzgeber unseres Volkes, bei Immanuel Kant, dessen „Reli­ gion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft" eine ausgesprochene Gesetzes­ religion ist, wenn auch im Sinne der Autonomie (s.u.§87 über Kant, auch §48 über Friedrich d. Gr.). DaS Evangelium dagegen stammt nicht auS der na­ türlichen Vernunft deS Menschen, sondern ist ein unbegreifliches Geschenk deS Himmels (weshalb man auch nicht mit dem Evangelium, sondern nur mit dem Gesetz die Welt regieren kann, vgl. unten S. 246).

244

Luther und die deutsch« Reformation

§57.

Reformation oder Revolution.

1. In den Wittenberger Unruhen von 1521/22 treten zum erstenmal die „Schwärmer" (Spiritualisten) auf, mit denen Luther von da ab ständig zu kämpfen hatte. Sie unterscheiden sich von dem Reformator durch die Behauptung besonderer göttlicher Offenbarungen; sie meinen, unmittelbar vom Geiste Gottes erleuchtet zu sein und deshalb des Hörens auf das Wort GotteS in der Bibel nicht zu bedürfen. Ihnen fehlt also die Demut sowie der Sinn für das geschichtlich Gewordene. Sie neigen zu radikalen, alle Ver­ bindung mit dem Bisherigen abbrechenben Neuerungen. Sie klagen über den von Luther aufgerichteten „papierenen Papst" und schelten auf „das sanft lebende Fleisch zu Wittenberg", weil Luther die vielfach von ihnen verttetene äußerliche Askese als gesetzlich und unfrei ablchnte. Beinah gleichzeittg machen sich in Zürich und der übrigen deutschen Schweiz Bestrebungen geltend, die von einer mechanischen Bibelauffafsung aus zur Wiebertaufe führen (weil das Neue Testament nur Erwachsenen-Taufe kennt). Diese Wiedertäufer entnahmen der Bibel auch für das wirtschaftliche und soziale Leben die maßgeblichen Vorschriften, drängen deshalb unter Berufung auf die Urgemeinde zu Jerusalem (vgl. o. S. 2) zum Kommunis­ mus und stoßen sich überall an der bürgerlichen Lebensordnung der sich bil­ denden evangelischen Landeskirchen (vgl. die anschauliche Schilderung in G. Kellers „Ursula"). In der gesetzlichen Auffassung der Bibel vertteten sie in radikalster Form Zwinglis Bibelbettachtung (s. u. S. 248), werden von ihm aber mit gesundem Instinkt abgelehnt und von der Obrigkett hart verfolgt. Dadurch geraten sie in eine überhitzte, revolutionäre Stimmung. Sie verbinden sich mit den Schwärmern, denen sie von Haus aus verwandt sind (denn auch die Zwickauer Propheten in Wittenbttg bekämpften die Kindertaufe). Thomas Münzer, einst Luthers Anhänger und durch seine Verwendung 1520 Prediger in Zwickau geworden, 1521 aber durch den kurfürstlichen Amtshauptmann wegen seiner aufreizenden, Unruhe stiftenden Predigt abgesetzt, und andere ihm geistesverwandte Männtt sind Schwärmer sowohl wie Wiedertäufer. So erklärt es sich auch, daß diese schwärmerischen Wiedertäufer einerseits sich auf unmittelbare Erleuchtungen des heiligen Geistes berufen, andererseits doch einen mechanischen Biblizismus vertteten. 2. Luthers Predigt darf in keiner Weise für die entsetzliche Katastrophe deü Bauernkriegs verantwortlich gemacht werden. Bäuerliche Unruhen und Erhebungen hatte es schon wiederholt in den Jahrzehnten vor Luthers Auftreten gegeben. Wenn Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christen­ menschen" von den Bauern im Sinne der wirtschaftlichen und sozialen Frei­ heit verstanden wurde, so geschah das ohne seine Schuld; es war ein böses Mißverständnis. Sein Auftreten gegen die Wittenberger Unruhen und seine Schriften auS diesem Anlaß bewiesen deutlich, daß er Reformation und

$57

Lucher und der Bauernkrieg

245

Revolution nicht verwechselt haben wollte. Dadurch erregte er ja den Zorn MünzerS und der Wittenberger Schwärmer. Dagegen waren wie dieser in Mitteldeutschland (Thüringen) so schweizerische und süddeutsche Täufer an der schwäbischen Bauernbewegung führend beteiligt. Luther hat in seiner ersten Schrift zur Bauernbewegung „Ermahnung zum Frieden auf die 12 Artikel der Bauernschaft in Schwaben" die weltlichen und geistlichen Herren aufgefordert, das Programm der Bauern (das nach läufe­ rischer Art die wirtschaftlichen Forderungen biblisch-gesetzlich begründete) wohlwollend zu prüfen und billige Wünsche zu erfüllen. Als er aber von der Entartung der Bewegung zur Revolutton hörte und bei seinem persön­ lichen Versuch, die von Münzer aufgepeitschten Thüringer Bauern zu be­ ruhigen, an dem wilden Fanatismus der Massen scheüerte, erkannte er, baß hier nicht das Wort, sondern nur die Schwertesgewalt helfen könne, und schrieb deshalb in heißer Angst um die Zukunft Deutschlands und des Evangeliums seine leidenschaftliche Stteitschrift „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern". In ihr hat er die Fürsten aufgeforbert, daS ihnen von Gott anverttaute Schwert zu rascher und rücksichtsloser Nieder­ schlagung des Aufstandes zu gebrauchen. Er hat aber auch hier schon gemahnt, die Mitläufer, die sich ergeben würden, zu verschonen. Er konnte deshalb mit Fug und Recht in seiner dritten Schrift „Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern" sich dagegen verwahren, daß man ihn verantwortlich mache für die irrsinnige Grausamkeit, mit der manche der siegestrunkenen Fürsten ihren Erfolg schändeten. Luthers Stellung zum Bauernkrieg ist nicht ein Beweis gegen, sondern für seine Wertschätzung des Bauernstandes. Ihm erschien echtes Bauerntum und Revolution unvereinbar, wie denn auch tatsächlich dieser Bauernkrieg vielfach durch Hetzer aus dem städtischen Proletariat geschürt ist. Dem ent­ spricht die Tatsache, daß bis zum heuttgen Tage das Luthertum gerade in bäuerlichen Kreisen seinen festesten Bestand hat, während marxistische Agi­ tation enttvurzelter Großstädter Luthers Verhalten im Bauernkrieg gern mißdeutet und zu antichriftlicher Propaganda mißbraucht hat. Luther hat seine Popularität rücksichtslos aufs Spiel gesetzt, um die Echtheit seines Evan­ geliums vor der Verwechselung mit weltlicher Bauernemanzipation zu be­ wahren. Er hat sein Werk dadurch gerettet. Mer seinen Ruhm als Held der Nation hat er freilich weithin eingebüßt. Trotzdem ging der Siegeslauf der Reformatton nach dem Bauernkrieg weiter und brachte noch die größten äußeren Erfolge. 3. Luther hat sich gern dessen gerühmt, daß seit der Apostel Tagen kein Lehrer der Christenheit so entschieden wie er für Recht und Ehre der Obrigkeit eingetteten sei. DaS tritt schon in der Schrift „An den christlichen Abel" zutage; macht er eS doch hier den weltlichen Fürsten zur Pflicht, die Übergriffe römischer Tyrannei abzuwehren, und weist ihnen sogar die

246

Luther und die deutsche Reformation

Aufgabe zu, an Stelle des pflichtvergessenen Papstes durch Einberufung eines Konzils die Erneuerung der Kirche in die Hand zu nehmen. In der Schrift „Don weltlicher Obrigkeit" (1523) hat Luther grundsätzlich und klar seine Anschauung niedergelegt. Er unterscheidet zwei Reiche und zwei Regierungsweisen, ein Reick des Friedens, in dem Christus mit dem Wort allein regiert, und ein Reich der äußeren Ordnung, in dem die Fürsten nach Gottes Befehl mit Schwertesgewalt regieren, bildlich gesagt das Reich Gottes zur Rechten und zur Linken. Diese klare Unterscheidung der zwei Reiche und die starke Betonung der Notwendigkeit, mit Schwertesgewalt äußere Ordnung aufrecht zu erhalten, die Bösewichter zu bestrafen und die Frommen zu schützen, richtet sich gegen die phantastische Vorstellung schwärmerischer Kreise, die unter irriger Be­ rufung auf mißverstandene Bibelstellen das Amt des Schwertes und des Gerichts verwarfen, als ob die Menschen jetzt schon im Reiche Gottes lebten. Daaegen Luthers tapferer und klarer Wirklichkeitssinn: „Wenn jemand wollte die Welt nach dem Evangelium regieren und alles welt­ liche Recht und Schwert aufheben und vorgeben, sie wären ja alle getauft und Christen, unter denen das Evangelium kein Recht noch Schwert haben wolle: was würde der machen? Er würde den wilden, bösen Tieren die Banden und Ketten auflösen, daß sie jedermann zerrissen und zerbissen ... Die Welt und die Menge ist und bleibt Unchristen, ob sie gleich alle getauft und Christen heißen. Darum ein ganzes Land mit dem Evangelium zu regieren sich unterwinden, das ist eben, alv wenn ein Hirt in einen Stall zusannnentäte Wölfe, Löwen und Schafe; bier würden die Schafe wobl Frieden balten, aber sie würden nicht lange leben!"

Luther hat es deshalb auch dem Christen zur Pflicht gemacht, obrigkeitliche Ämter jeder Art zu übernehmen. Er hat davon das eigentliche Schwertes­

amt, das des Soldaten, nicht ausgenommen. In der köstlichen Schrift „Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können" (1526) gibt er dem Soldaten, unter Berufung auf das Beispiel frommer Hauptleute im Neuen Testament, das gute Gewissen für seinen Beruf. In den Schriften und Pre­ digten zum Türkenkrieg (1529) mahnt er Kaiser und Volk an ihre Pflicht der Verteidigung des heimischen Landes. Hier wird Weltliches und Geist­ liches reinlich gesondert: kein Religionskrieg wider die Türken, keine Einmischung der Kircke in die Kriegsführung zum Schutz des heimischen Bodens! Einer jahrhundertealten Gewissensverwirrung wird hier ein Ende bereitet. Luther hat mit seinem harten Wirklichkeitssinn die Notwendigkeit von Schwert und Krieg im Dienst der irdischen Ordnung nach innen und außen klar erkannt und tapfer ausgesprochen. Er hat, dem Beispiel des Paulus folgend, die weltliche Obrigkeit als Gottes Ordnung geehrt und das Recht der Revolution (außer gegen einen in Wahnsinn geratenen, also von Gott ge­ schlagenen Landesherrn) unbedingt abgelehnt; nicht weil er sich über die

Weltliches und geistliches Regiment

247

persönliche Würdigkeit der deutschen Landesfürsten getäuscht hätte, sondern weil er auch eine schlechte Obrigkeit für besser hielt als die Auflösung aller Ordnung, und weil er das Gericht über die Fürsten Gott überließ. Man darf aber aus Luthers Entscheidung, die aus den höchst unfertigen staatlichen Zu­ ständen seiner Zeit und der unerzogenen Roheit der damaligen Volksmasse zu verstehen ist, kein bindendes Gesetz für uns machen. Durch die Unruhen der Schwärmer und den Bauernkrieg ist Luthers treu­ herziges Vertrauen zum Volk schwer erschüttert worden. Über den „Herrn Omnes" denkt er fortan gering und stützt sich deshalb mehr auf die Obrigkeit, deren Vertreter er noch am ersten mit Wort und Schrift meint beraten und unterweisen zu können. 4. Luthers Anschauung vom^Staat steht in bewußtem Gegensatz zu der römisch-katholischen Überlieferung (vgl. oben S. 180). Er denkt nicht daran, den Staat nach der berüchtigten Theorie von den zwei Schwertern auf seinem eigenen Gebiet der Kirche unterzuordnen. Gewiß soll auch die Obrigkeit wissen, daß sie unter Gott steht, und soll auf Gottes Wort hören, auch auf den Prediger, der ihr unerschrocken das Wort Gottes zu verkünden hat. Aber da die Bibel für Luther kein Gesetz ist (s. o.), so können aus ihr auch nicht gesetzliche Ordnungen des politischen Lebens abgelesen werden. Gewiß sind Ehe und Elternautorität als Gottes Ordnung in der Bibel bezeugt. An ihnen darf eine fromme Obrigkeit nicht rütteln. Aber die gesetzlichen Aus­ führungsbestimmungen bleiben auch hier dem gewissenhaften Ermessen der Obrigkeit überlassen. Und diese Obrigkeit, so gewiß ihre erste und ele­ mentare Aufgabe die Aufrechterhaltung äußerer Ordnung mit Schwertes­ gewalt ist, hat doch weitergehende Aufgaben im Dienste weltlicher Kultur. Es war also eine folgerichtige Entwicklung des lutherischen Ansatzes, wenn auf deutschem Boden der Staat nicht Polizeistaat blieb, sondern zum Kulturstaat wurde; und zwar aus eigener Vollmacht, nicht unter kirchlich-klerikaler Bevormundung (freilich unter dem willig hingenommenen Einfluß der sittigenden und bindenden Macht der Verkündigung des Evangeliums). In alledem haben Luther und das Luthertum dem Staate immer ein großes, oft ein allzugroßes Vertrauen entgegengebracht und unterscheiden sich dadurch von der reformierten Kirche, deren Väter in heißem Kampf mit unduldsamer katholischer Obrigkeit sich das Lebensrecht ihrer Kirche erobern mußten und deshalb bis hellte einen stärkeren Abstand dem Staat gegenüber bewahrt haben.

§ 58. Zwingli. Ungefähr gleichzeitig mit Luthers reformatorischer Entwicklung ist im äußersten Süden des deutschen Sprachgebietes ein Mann aufgewachsen und zur Reife gelangt, der ähnliche Ziele wie der Wittenberger Mönch verfolgte, sich aber durch Unterschiedlichkeit der Glaubensauffassung und

248

Luther und die deutsche Reformation

des Temperaments sowohl wie durch die Fügung der Verhältnisse mehr gegensätzlich als verbündet mit Luther berührt hat. Huldreich Zwingli. Geboren am 1. Januar 1484 zu Wilbhauö in der Grafschaft Toggenburg. Gründliche humanistische Ausbildung. 1506 Pfarrer in Glarus (Felbprediger bei der päpstlichen Schweizertruppe.) 1516 Leutpriester (d. h. Prediger) zu Mariä Einsiebeln. 1519 Leutpriester am Großmünster in Zürich. 29. Januar 1523 Dis­ putation über die 67 Schlußreden. 11. Oktober 1531 als Felbprediger gefallen in der Schlacht bei Kappel. 1. Huldreich Zwingli, ausgewachsen als Sohn eines wohlhabenden Ge­ meindeamtmannes, durch humanistische Bildung zu den Quellen des Glau­ bens, zur Bibel, geführt, hat Luthers äußere und innere Nöte nicht burchgemacht, ist daher ohne Bruch zu einer romfreien Auffassung des Christentums und der Kirche gelangt. Die üblen eigenen "Erfahrungen veranlassen ihn, auS vaterländischen Gründen die überlieferte Sitte deS „ReiSlaufenS" (der Kriegsdienste im ausländischen Sold) zu bekämpfen. In dem vielbesuchten Wallfahrtsort Mariä Einsiedeln lernt er die Schäden deS vulgären kirch­ lichen Aberglaubens kennen und wird dadurch auf die Bahn schlicht biblischer Predigt gedrängt. Er beginnt als eraSmischer Reformer. Eine schwere Erkrankung (Pest) bringt ihn aber zum persönlichen Erleben der reforma­ torischen Botschaft, und diese schenkt ihm die biblische Glaubenskraft. Zum Reformator macht ihn nicht der Kampf gegen den schweizer Ablaß­ handel, sondern die Verteidigung der GewissenSfteiheit seiner Gemeinde­ glieder in Zürich gegenüber den Fasten- und Speisegeboten der römischen Kirche. Die Disputation mit dem Generalvikar deS Bischofs von Konstanz (1523) entschied den Sieg der Reformation für Zürich; denn hier sollte fortan nach Zwinglis Vorbild nur baS Evangelium auf Grund der Heiligen Schrift verkündet werben.

2. Während für Luther im Mittelpunkt seiner Gedanken die Lehre von Buße und Gnad« steht und baS christliche Leben eindeutig als Dankopfer für die empfangene Gnade beschrieben wird, ist bei Zwingli dieser einheitlich tra­ gende Grundgedanke nicht in derselben Kraft festzustellen. Luthers Schriften haben freilich seit 1519 stark auf ihn gewirkt. Sie bestätigen die biblische Rich­ tung seiner Theologie. (Wenn er später seine theologische Unabhängigkeit von Luther stark betont und von Luther abrückt, so liegt hier eine begreifliche Selbsttäuschung vor, zusammen mit dem kirchenpolitischen Wunsch, sein Schweizer Reformwerk nicht mit dem Wormser Edikt zu belasten.) Die Leipziger Disputation überzeugt ihn, baß eine biblische Reformation der Kirche nur unter Lösung von der päpstlichen Kirchenhoheit möglich sei. Aber ihm ist die Bibel nicht wie Luther Offenbarung der göttlichen Gnade, sondern mehr die Kundmachung einer neuen christlichen LebenSorbnung. Sie erscheint ihm deshalb als ein neues Gesetz, an dessen Weisungen, auch für Kultus und Verfassung, er sich gebunden hält.

§58

Zwinglis Leben und Theologie

249

Die Erbsünde nimmt er nicht so schwer wie Luther. Die Ausrichtung eines hetligmäßigen Lebens erscheint ihm nicht nur erstrebenswert, sondern auch erreichbar. Christus ist hierbei mehr Vorbild als Erlöser. Als Beispiele und Vorbilder gelten auch die Heroen und Philosophen der antiken Überlieferung. Don der ängstlichen Halbheit beS EraSmuS hat er sich persönlich gelöst. Seine Theologie bleibt aber durch Humanismus und Antike bestimmt. Er glaubt deshalb mit der Stoa an die Kraft der Vernunft, gewisse Begriff« von Gott wie: „DaS Wahre", „Allmacht", „Gerechtigkeit", „Güte" zu gewinnen, während Luther die HeilSerkennMiS GotteS nur in Christus sucht. „Die Einheit von Antike und Christentum ist das Wesen der Weltanschauung Zwinglis" (W. Köhler). Da er nicht wie Luther von der Grundfrage nach dem gnädigen Gott auSgeht, bedarf er auch keiner eigentlichen Sakramente zur Vergewisse­ rung der göttlichen Gnade. Die Taufe ist für ihn Aufnahme in die Ge­ meinde, baS Abendmahl Erinnerung an daS letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern. Beide also mehr ein BekennMiS des Christen zu Gott, als GotteS Bekenntnis zum sündigen Menschen. Wenn Zwingli auch später nach einem objektiven Gehalt der Sakramente gesucht hat und deshalb in Marburg Luther in der Abendmahlslehre entgegenkam, so werden sie ihm doch keine „Gnabenmittel", sondern nur „Gnadenzeichen". Trotz dieser nüchternen, weithin humanistisch-rational bestimmten Denkweise hat er anben altkirchli­ chen Dogmen (Trinität und Zwei-Naturen) sestgehalten. 3. AuS dieser Lehre folgt eine radikale Reform deS Gottesdienstes. Mit der katholischen Messe verschwindet auch der Altar. DaS Abendmahl wird als sitzende Kommunion an weißgedeckten Tischen gefeiert, mit Einzelbechern und gebrochenem Brot. Nicht nur die Bilder, sondern auch die Orgeln werden, als biblisch nicht begründet, auS den Kirchen entfernt. Die Kirche wirb zum Prebigssaal. Mit frischer Tatkraft hat Zwingli die verschiedensten sozialpolitischen Aufgaben angefaßt. Er hat hier einen überraschenden Weitblick bewiesen und erhebliche Erfolge erzielt. Durch Aufhebung der Klöster gewinnt er die Mittel für eine sorgfältig überlegte, auf genauer Personalkenntnis aufge­ baute Armensürsorge. Er bekämpft baS Bettelwesen und den Wucher, nimmt sich der Kranken und Invaliden an, bemüht sich um Milderung der sozialen Lasten, um Begrenzung der Arbeitszeit, dringt auf strenge Durch­ führung der Sonntagsruhe und Sonntagsheiligung. Das Züricher „Sitten­ mandat" von 1530 trifft scharfe Maßnahmen gegen daS WirtShauStreiben, greift auch in baS Privatleben ein durch Verbot von Karten-, Würfel- und anderen Spielen. Wie er selbst in die Ehe eingetteten ist, begründet er in Zürich (1525) ein Ehegericht, daS zur Grundlage der ganzen reformierten Kirchenzucht wird (dies Vorbild später in Genf umfassend und erfolgreich nachgebilbet).

250

Luther und die deutsche Reformation

Gleichzeitig begründet er in Zürich eine theologische Hochschule. Für die Er­ ziehung der Jugend schreibt er ein „Lehrbüchlein über die Heranbildung edler Jünglinge" (in ihm Antike und Christentum innig verbunden). Als Schweizer Bürger ist ihm die Teilnahme am öffentlichen Leben selbst­ verständliche Pflicht. Luthers vorsichtige Scheidung von Staat und Kirche ist ihm unbekannt. Er nimmt ohne Bedenken, um die christliche Lebensord­ nung durchzusetzen, die Machtmittel der staatlichen Obrigkeit in Anspruch, die ihrerseits zu diesem kirchlichen Dienst verpflichtet ist. So begründet er eine Theokratie in Gestalt einer christlichen Aristokratie mit staatskirchlicher Zwangsgewalt. An die Spitze dieses christlichen Staatswesens ttitt er selber als „Prophet", dessen Aufgabe es ist, aus dem Worte Gottes die weltliche Obrigkeit zu beraten. Aus diesem Amt wird immer mehr das eines christ­ lichen Volkstribunen, der den Staat mit beinahe unbeschränkter Voll­ macht leitet (ähnlich wie einst Savonarola in Florenz, vgl. S. 184). Den Widerstand des liberalen Bürgertums überwindet er durch einen Prozeß gegen eines ihrer Häupter, Jakob Grebel, der mit dessen Hinrichtung endet. Die Wiedertäufer versucht er zunächst durch Disputationen zu überzeugen, muß aber schließlich die obrigkeitliche Gewalt zu Hilfe nehmen, die mitLandesverweisung und Todesstrafe durch Erttänkung den Geist der Unruhe dämpft. Seine Reformation erobert allmählich fast alle Kantone der deutschen Schweiz, nur die Urkantone um den Vierwaldstätter See widerstreben hart­ näckig. In das Gebiet von Glarus greift er mit politisch-militärischer Gewalt ein, indem er die Abtei für erledigt erklärt und durch das Aufgebot von Zürich besetzen läßt. Die große, von seinen Freunden einberufene Disputation in Bern (1528) gestaltet sich zu einer eindrucksvollen Heerschau seiner kirch­ lich-politischen Anhängerschaft. Der führende Kanton wird dadurch endgültig gewonnen. Seine Freunde meinen schon, ihn als „Bischof der Schweiz" begrüßen zu dürfen. Gleichzeitig hat er Verbindung mit Philipp von Hessen angeknüpft. Ihm genügt nicht mehr das Ziel einer evangelischen Eidgenossen­ schaft. Zum Schutze der Reformation betreibt er den kühnen Plan einer über Deutschland bis Dänemark und Frankreich ausgreifenden antihabsburgi­ schen Koalition. Wenn ihn einst der Kampf gegen das Reislaufen zum ausgesprochenen Pazifisten gemacht hatte, so betreibt er jetzt um des Evan­ geliums willen die Rüstung seiner Heimatstadt und scheut auch vor einem Angriffskrieg nicht zurück. Er beklagt mit Recht die feige Halbheit des ersten Kappeler Friedens von 1529, der die Urkantone demütigt, ohne sie zu bän­ digen. Die Katastrophe der Kappeler Schlacht, in der er tapfer kämpfend gefallen ist, kommt also nicht auf sein Schuldkonto.

§ 59. Reformation und Humanismus.

1. Luther war auf der Universität zu Erfurt vom Humanismus nur wenig berührt worden. Auf seine theologische Entwicklung hat dieser (im

$58f.

Zwinglis Kirchenpolitik — Melanchthon

251

deutlichen Unterschied zu Zwingli) keinen Einfluß gehabt. Nur in Einer Be­ ziehung fat der Humanismus ihn indirekt gefördert, sofern er um der Bibel willen sich schon in den Jahren vor dem Thesenanschlag in die griechische und die hebräische Sprache vertiefte und bei der Auslegung der Bibel immer mehr von der Vulgata auf den Urtext zurückging. Das entsprach der huma­ nistischen Losung: „Zurück zu den Quellen". Den Dank für dies Erbe hat Luther auch nie verleugnet; Beweis dafür neben seiner Schrift „An die Bürgermeister und Ratsherren" (s. u. S. 261), vor allem sein Freundschafts­ bund mit Melanchthon, den er trotz mancher Schwierigkeiten und Spannun­ gen bis an sein Lebensende festgehalten hat. 2. Philipp Melanchthon, geb. am 16. Februar 1497 zu Bretten in Baden als Sohn des Waffenschmiedes Georg Schwarzerd, durch seine Mutter ein Großneffe Reuchlins, war ein frühreifes Wunderkind; mit 17 Jahren Magister und Lehrer der freien Künste an der Universität Tübingen, erfüllt von dem wissenschaftlichen Bildungsideal des Humanismus; mit 20 Jahren Verfasser einer griechischen Grammatik; daraufhin als Lehrer des Griechi­ schen an die Universität Wittenberg berufen, 29. August 1518 Antrittsrede über die Reform des Universitätsstudiums. Damit findet er Luthers be­ geisterten Beifall. Theologisch aber schließt der junge Humanist sich ganz an den glaubensstarken Reformator an; Denkmal dessen sind seine Loci communes (Hauptpunkte der Glaubenslehre), in denen er, unter bewußtem Verzicht auf alle Erörterungen einer spekulativen Theologie, Luthers Recht­ fertigungslehre warmherzig und klar entwickelt: Christum erkennen heißt, seine Wohltaten erkennen. Später hat Melanchthon sich dem humanistischen Bildungsideal wieder mehr zugewandt und ist dadurch mit seinem großen Freunde, der alle Dinge unter dem Gesichtspunkt seines heldenhaften Gottes­ glaubens sah, öfter in Spannung geraten; nach Luthers Tode durch den Übereifer der Epigonen hart befehdet, schließlich doch wegen seiner Verdienste

um Kirche, Schule und Wissenschaft als Praeceptor Germaniae anerkannt. Übereifrige Lutheraner haben Melanchthon damals wie heute besonders

getadelt wegen seiner Abendmahlslehre. Kaum mit Recht. Seine ab­ schließende Formulierung: „Daß Christus zugegen und wirksam sei, das muß doch wahrlich genügen", erfüllt in Wirklichkeit das eigentliche Glaubens­ anliegen Luthers (s. o. S. 225). Melanchthon hat nur die in den Streitjahren ausgebildeten, der Sache wenig dienlichen, scholastisch theologischen Unter­ bauten Luthers weggeräumt. Bedenklicher ist sein später zutage tretendes ungenügendes Verständnis der lutherischen Kernlehre vom rechtfertigen­ den Glauben. Hier zeigt sich, daß Melanchthon die tiefe Lebendigkeit des Lutherglaubens nicht wahrhaft begriffen, sondern sie in eine klare, aber nüchtern verstandesmäßige Schullehre verwandelt und dadurch ihrer über­ zeugenden Wahrheit und Kraft beraubt hat. Er ist dadurch der Vater

252

Luther und die deutsche Reformation

der Orthodoxie geworden, trotz seiner Abweichung in einzelnen Lehr­ punkten. 3. Melanchthon hatte Luther veranlaßt, in Briefen an Reuchlin, sowohl wie an Erasmus sich um die Freundschaft dieser beiden gefeierten Häupter des Humanismus zu bemühen. Durch die Leipziger Disputation erwarb er sich den Beifall der deutschen Humanisten, insbesondere deS ritterlichen Poeten Ulrich von Hutten, der ihm in glühender Begeisterung ein Bündnis anbot und den Schutz seines starken Freundes Sickingen in Aussicht stellte. Zu einer wirklichen inneren Gemeinschaft ist es nicht gekommen. Luther erkannte bald, daß sie einen verschiedenen Geist und verschiedene Ziele hatten. Erasmus hatte Luthers Auftreten zunächst begrüßt, weil er in ihm einen BunbeSgenoffen im Kampf gegen die rückständige scholastische Theologie und gegen die auch von ihm beklagten Schäden der Kirche erwartete. Ihm hatte freilich von Anfang an ein Bruch mü der Kirche ferngelegen. Er war ein Mann deS Ausgleichs und der Vermittlung: „Um keines andern Grundes willen wünsche ich mir so sehr Glück als deswegen, baß ich mich nie irgend­ einer Partei angeschlosien habe!" Schon die Schrift von der babylonischen Gefangenschaft erschreckte durch ihren kühnen Radikalismus den vorsichtigen Stubengelehrten. Er wollte wohl Reform, aber keine nach Revolution schmeckende Reformation. In den Tagen von Worms hat er ein Urteil über Luther abgegeben, er habe in zwei Dingen gefehlt, daß er den Mön­ chen an ihren Bauch und dem Papst an seine Krone gegriffen habe. Das eigentliche Anliegen Luthers hat er nie begriffen; konnte er doch an Zwingli schreiben, er meine, fast alles, waS Luther lehrt, selbst schon gelehrt zu haben. Als der todkranke Hutten nach Sickingens Katastrophe bei ErasmuS, dem alten Freund und Gönner, Zuflucht suchte, verschloß dieser ihm ängstlich besorgt die Tür, und Zwingli, der dem sterbenden fahrenden Ritter auf der Ufenau im Züricher See die letzte Unterkunft bot, trennte sich von Erasmus. Dieser meinte jetzt, bei Papst und Hierarchie seinen guten Ruf wieder her­ stellen zu müssen, ohne eS mit dem humanistischen Ideal und seinen huma­ nistischen Freunden zu verderben. DaS geschah höchst geschickt durch die Schrift „Dom freien Willen". Mit ihr verteidigte er im Geist des Humanismus die wissenschaftliche und die moralische Ehre deS freien Menschentums und kam doch der römischen Theologie entgegen, weil der freie Wille die Voraus­ setzung kirchlicher Verdienste ist (1524). Erasmus wollte kein Pelagianer (s. o. S. 65) sein. Er wollte die Gnade nicht leugnen. Er schrieb ihr sogar den Hauptanteil beim Werke der Erlösung zu. Aber er wollte auch den freien Willen deS Menschen nicht leugnen, wollte das menschliche Verdienst und die menschliche Mitwirkung am Heil festhalten. Er vertrat damit die katho­ lische „Halb und Halb"-Theologie; er wußte nichts von dem Radikalis­ mus deS Glaubens: Soli Deo Gloria. Luther, empört über die feige Halbheit dieser klugen Schrift, antwortete

§ 59

Luther und EraSmuS

253

Ende 1525 mit der großartigen, zornmütigen und tiefsinnigen Streitschrift „Vom geknechteten Willen" (de servo arbitrio) und zerschnitt damit das Gand zwischen der Reformation und dem Humanismus als einer wohl­ temperierten, mehr stoisch-philosophischen als christlichen Weltanschauung. Während das Hauptanliegen des EraSmuS darauf zielt, durch Behaup­ tung der sittlichen Willensfreiheit auch Gott gegenüber die Ehre deS Men­ schentums festzuhalten (ohne die bedeutsame Hilfe der göttlichen Gnade zu leugnen), liegt umgekehrt Luthers Hauptanliegen darin, dem ewigen, all­ mächtigen Gott die ihm gebührende Ehre, ungemindert durch menschliche Anmaßung, zu sichern. „WaS ist ein Mensch gegen Gott? WaS ist unsere Macht und Vermögen gegen Gottes Macht? Unsere Kraft und Stärke gegenüber seiner Kraft? Unsere Lehre und Weisheit gegenüber seiner Weis­ heit? WaS ist all unser Wesen gegenüber seinem Wesen? In Summa: WaS ist unser Alles gegen sein Alles?" Mit dieser tiefen Demut verbindet sich bei Luther die klare Einsicht, daß Heilsgewißheit niemals auf unseren freien Willen, sondern einzig auf GotteS Vorsehung fest gegründet werden kann. „Wenn Gott meine Seligkeit auS meinem freien Willen genommen hat und in seinen freien Willen stellt und mir zusagt, mich nicht durch mein Laufen oder Bemühen, sondern durch seine Gnade und Barmherzigkeit zu erhalten: so bin ich sicher und gewiß, baß er getreu ist und mir nicht lügen wird." Luther leugnet nicht, daß der Mensch im bürgerlichen Leben freien Willen besitze. Seine Prädestinationslehre soll also die menschliche Verant­ wortung für Wirtschaft und bürgerliches Recht nicht antasten; sie soll aber jede menschliche Anmaßung gegenüber dem göttlichen Anspruch zu Boden schlagen. Der entsetzliche Bauernkrieg hatte ihn eben noch wieder gelehrt, waS für eine törichte Illusion eS sei, sich auf die WeiShest deS „freien Willens" (sowohl der Fürsten wie der Bauern) zu verlasten. Ihm erschien in prophe­ tischer Schau die Menschheit wie „ein Reittier, daS entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird". Er hatte aufs neue wieder erfahren, daß GotteS Wege unerforschlich sind. Natur und Geschichte zeigen uns nur den Deus absconditus, den unheimlichen, rätselhaften, verborgenen Gott. Allein im Evangelium offenbart Gott durch seinen Mensch gewordenen Sohn sein innerstes Wesen als zuvorkommende Gnade und Liebe. Der altgermanische Schicksalsglaube wacht in dieser Lehre vom verborgenen Gott wieder auf; er wird aber durch die Erscheinung Christi überboten und überwunden. Die Rätsel der Theodizee und der Prädestinatton können nicht, wie daS EraSmuS meint, durch daS Licht der „Natur", sondern nur durch daS Licht der „Gnade" im Evangelium und endgütlig durch das Licht der „Herrlichkest" im ewigen GotteSreich gelöst werden. Luther hat also deutlich gesehen und auch aus­ gesprochen, daß die Behauptung der menschlichen Unfreiheit einen logisch unlöslichen Widerspruch zu GotteS gerechtem Gericht bedeutet. Aber er trägt

254

Luther und die deutsche Reformation

diese harte Paradoxie, weil er weiß, daß die irdisch gebundene Vernunft des Menschen den ewigen Gott nicht erreicht. Erasmus fühlt sich am wohlsten in der Rolle des persönlich unbeteiligten Schiedsrichters, der mit wissenschaftlichem Gleichmut das Pro und Contra eines Problems erörtert, ohne sich persönlich entscheiden zu müssen: „An festen Behauptungen habe ich so wenig Gefallen, daß ich mich leicht auf die Seite der Skeptiker (der zweifelnden Beobachter) schlagen würde, sofern es die unverletzliche Autorität der göttlichen Schriften und die Entscheidungen der Kirche erlauben, denen ich meine Vernunft überall unterwerfe". Er weiß nichts von dem Mut der Entscheidung, die das Evangelium fordert: „Ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mt. 10, 34) und „Wer sein Leben hingibt, wird es gewinnen" (Mt. 10, 39). Gegen die kleinmütige und glaubenslose Haltung des Erasmus schleudert Luther seine prachtvolle zornige Verdammung: „Der Heilige Geist ist kein Skep­ tiker, und er hat nicht Zweifelhaftes oder Meinungen in unsere Herzen ge­ schrieben, sondern feste Gewißheiten, gewisser und fester selbst als das Leben und alle Erfahrung". 4. Luthers Streitschrift gegen Erasmus ist besonders kennzeichnend für die Eigenart seiner Schriftstellerei. Er schreibt nicht aus systematisch­ wissenschaftlichem Interesse, sondern führt das aus, was der gegebene prak­ tische Anlaß ihm nahelegt. Die Schrift ist also einseitig, gewollt einseitig. Er sammelt alle Kräfte von Geist und Gemüt auf das Eine Ziel, diesen gefährlichen Gegner vernichtend zu treffen. Wer Luther verstehen und würdi­ gen will, darf sich deshalb nicht (wie heute vielfach geschieht) einseitig auf diese Schrift stützen, sondern muß sie durch andere ergänzen, insbesondere durch den großen Katechismus, der nicht vom verborgenen Gott, sondern herzlich und herzhaft von seiner Offenbarung im Gnadenantlitz Jesu Christi redet und deshalb vom Geheimnis der Prädestination schweigt. Es wird kein Zufall sein, daß Luther gerade diese beiden Schriften später als seine besten gerühmt hat. Sie gehören in echter Dialektik zusammen. Es ist ebensowenig ein Zufall, daß er später das Geheimnis der Prä­ destination ungern wieder berührt hat. Im August 1545 schrieb er ein Trostbrieflein an eine von dieser dunklen Lehre angefochtene Person. Da­ rin bezeichnet er diese Lehre als eine böse Anfechtung, mit der umzugehen uns verboten sei. „Dagegen hat uns Gott seinen Sohn gegeben, Jesum Christum, an den sollen wir täglich gedenken und uns in ihm spiegeln; da wird sich dann die Vorsehung selbst, und gar lieblich finden. Denn außer Christo ist alles eitel Gefahr, Tod und Teufel; in ihm aber ist eitel Friede und Freude". Auch hat Luther kurz vorher in seiner Vorlesung über 1. Mose 26 erklärt, er habe freilich unter anderm geschrieben, es sei alles absolut und notwendig, habe aber gleichzeitig hinzugefügt, man solle auf den in Christus offenbar gewordenen Gott schauen. „Aber solche Stellen werden sie übergehen

§ 59f.

Die Prädeftinationslehrc. — Kirchenlied im Mittelalter

255

und nur die vorir verborgenen Gott an sich reißen. Ihr aber, die ihr mich jetzt hört, denkt daran, daß ich gelehrt habe, man solle nach der Vorherbestimmung des verborgenen Gottes nicht fragen." Luther selber hat also seine Schrift „Vom unfreien Willen" verbindlich ausgelegt und das Mißverständ­ liche an ihr richtig gestellt!

§ 60. Kirchenlied und Gottesdienst.

1. Die Kirchenliederdichtung des Mittelalters wächst zunächst wie der ganze Kultus in lateinischer Sprache. Damit wurde die Überlieferung der alten lateinisch redenden Kirche (Ambrosius) fortgesetzt. Diese lateinischen Lieder des Mittelalters pflegt man Sequenzen zu nennen, weil sie hervor­ gegangen sind aus dem jubelnden Tonsatz, der dem Halleluja der Liturgie nachfolgte. Diesen Tonsätzen wurden bald lateinische Texte untergelegt, die zu mannigfaltigen Versen und Strophen geformt und mit dem Endreim ge­ schmückt wurden. Diese Sequenzendichtung wurde in der kunftgeschichtlichen Klosterschule von St. Gallen eifrig gepflegt. Ihr größter Meister ist Notker, der Stammler; die berühmteste seiner Dichtungen,,Media vita in morte sumus“ ist uns durch Luthers Neudichtung vertraut: „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen". Wenn, wie heute vermutet wird, die von Paul Ger­ hardt neu gedichteten Passionslicder (,,Salve caput cruentatum“: „O Haupt voll Blut und Wunden") nicht von dem heiligen Bernhard, sondern von Arnulf von Löwen (f-1250) herrühren, so sind auch sie deutschen Ursprungs. Als Sequenzendichter gefeiert ist der große Thomas von Aquino (sein Fronleichnamslied:,, ?an§e linxua'«), neben ihm desonders verschiedene Jünger aus der Schule des heiligen Franz: Thomas von Celano ist der Schöpfer des erschütternden Liedes vom Jüngsten Gericht „Dies irae, dies illa“ (Faust I, Gretchen im Dom); Jacopone da Todi feiert in rührenden Versen die Gottesmutter unter dem Kreuz „Stabat mater dolorosa“. Gegen Ende des Mittelalters wächst die Zahl der Marien- und Passionslieder. Schließlich entstehen auch lateinisch-deutsche Mischlieder, deren Sinn dem Volke verständlich wird, die mit frischen Melodien in das Gemüt eindringen, z. B. „Quem pastores laudavere, den die Hirten lobten sehre" (daher bis heute die Bezeichnung „Quempas-Lieder") und das bekannte Weihnachtslied ,,In duld jubilo, nun singet und seid froh". Während in die lateinischen Sequenzen die deutsche Sprache erst spät und mühsam eindringt, entstehen daneben auf der Höhe des Mittelalters aus dem Kyrieleis der Liturgie und der Prozessionen deutsche geistliche Volks­ lieder, die sogenannten „Leisen", deren Tradition bis in die Gegenwart fortreicht. „Christ ist erstanden von der Marter all'", „Nun bitten wir den heiligen Geist", „Gelobet seist Du, Jesus Christ". Die deutsche Mystik hat neben der deutschen Predigt auch deutsche Lieder geschaffen, am bekanntesten

256

Luther und die deutsche Reformation

daS Marienlied von Johann Tauler: „ES kummt ein Schiff, geladen recht uf sm höchstes Bord, bringt unS den Sühn beS Vaters, das ewig wahre Wort". Auch unser innig-zartes Weihnachtslied: „ES ist ein RoS' (Reis) entsprungen" ist aus einem dieser Leisen entstanden. Auch die Lieder der Geißler, auf ihren Umzügen angestimmt, gehören in diese Reihe. In erster Linie wurden, wie dies Beispiel zeigt, diese volkstümlichen deutschen Lieber bei kirchlichen Umzügen gesungen. Doch eroberten sie sich an manchen Orten auch einen bescheidenen Platz im Gottesdienst. 2. Als der Reformator den hitzigsten Lärm des Kampfes hinter sich zu haben hoffte (nach der Stillung der Unruhen in Wittenberg, 1522) und sich anschicken durste, Gottesdienst und Gemeindeleben organisch aufzubauen, hat er sich des Kirchenliedes tätig angenommen. Er war überzeugt, baß unter dem sangeSsteudigen Volk baS Lied besondere Werbekraft zur Verbrei­ tung seiner Gedanken besitz«; er hoffte zugleich, den Gottesdienst mit dem Gemeindelied nach seinen reformatorischen Grundsätzen umgestasten zu können, indem auS einem unverstandenen, geheimnisvollen Priesterdrama eine Lebensäußerung, ein Handeln der Gemeinde werde. AuS der tiefen Verantwortung für sein kirchliches Werk hat er diese Aufgabe mit Be­ wußtsein ergriffen; Zeugnis dafür ist der bekannte Brief an seinen Freund und Mitarbeiter Spalatin (damals in Nürnberg) von Anfang 1524: „Ich habe den Plan, nach dem Beispiel der Propheten und der alten Kirchen­ väter, deutsche Psalmen für baS Volk zu schaffen, d. h. geistliche Lieber, damit GotteS Wort auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe. Ich suche überall nach Dich­ tern. Da Ihr nun zum Gebrauch der deutschen Sprache begabt, darin gewandt und geübt seid, so bitte ich Euch, mit unS an die Arbeit zu gehen und zu versuchen, einen Psalm in ein Lieb umzudichten, wie Ihr eS an dem beiliegenden Beispiel von mir seht... Man muß frei verfahren, den Sinn beibehalten, den Wortlaut aber fallen lasten und durch einen anderen geeigneten ersetzen. Mir ist eS nicht gegeben, eS so auszuführen, wie ich gern möchte." Deshalb will er versuchen, ob Spalatin oder andere imstande sind, sein Programm dichtend auSzuführen.

Dieser Austuf hat nicht das erwartete Echo gefunden. Wohl sind ihm einige Mitarbeiter zu Hilfe gekommen. In erster Linie der um seines Glaubens willen wiederholt angefochtene und vertriebene Paulus SperatuS (1484—1551). Sein Hauptlied „ES ist das Heil uns kommen her von Gnad und lauter Güte" erscheint unS heute etwas aufdringlich lehrhaft und deshalb kaum als echte Poesie. Aber die klare und bestimmte Lehre hat damals gerade dem Liede seine Wertschätzung und Wirkungskraft verliehen. Als Kernstück unseres Gottesdienstes ist heute noch lebendig „Allein Gott in der Höh' sei Ehr" von Nikolaus DeciuS (f 1541). AuS der jüngeren Generation sind der tteffliche Pfarrer in JoachimStal (Nordböhmen) Johann Mathesiuö und fein sangeSkundiger Kantor Nikolaus Hermann rühmlich zu nennen. DaS Meiste und Beste mußte doch Luther selber beittagen. Von seinen

Luthers Kirchenlieder

§60

257

37 Kirchenliedern sind etwa 2 Drittel in den Jahren 1523/24 erschienen, so daß diese Jahre eine reiche Ernte bringen, die späteren nur noch eine Nachlese. Die erste Sammlung mit 8 Liedern, darunter vier von Luther, erschien Anfang 1524 (in Süddeutschland?). Das erste von Luther selbst zusammengestellte Liederbuch wurde 1524 in Wittenberg gedruckt als „geistliches Gesangbüch­ lein". Es enthält neben 5 lateinischen Gesängen 32 deutsche Lieder, darunter 24 von Luther selber. Don Luthers Liedern sind 10 als dichterisch original zu bewachten, d. h. an keine Vorlage irgendwelcher Art angeschlossen; das berühmteste Beispiel: „Nun freut euch, lieben Christen gmein". Die übrigen sind an irgendeine Vorlage angelehnt: manche an lateinische Hymnen des Mittelalters wie das Pfingstlied „Komm, heiliger Geist, Herre Gott" (nach der alten Anti­ phone „Veni, sancte Spiritus“) oder „Mitten wir im Leben sind" nach der Sequenz von Notker (S. 255). Andere greifen den Text deutscher Lieder auf- dessen erste Sttophe sie übernehmen, um sie mit selbständiger Neu­ schöpfung weiterzuführen; so das Pfingstlied „Nun bitten wir den heiligen Geist", dessen 1. Strophe einen Pfingstlcis des 13. Jahrhunderts wiedergibt; oder das bekannte Weihnachtslied „Gelobet seist du, Jesu Christ", dessen 1. Sttophe einen vorreformatorischen deutschen Tert umarbeitet, während die übrigen Sttophen Luthers freie Schöpfung sind. 13 seiner Lieder sind Bearbeitungen biblischer Texte, in erster Linie von Psalmen, z. B. „AuS tiefer Not" (Ps. 130), „Ach Gott, vom Himmel sieh darein" (Ps. 12), „Es wolle Gott uns gnädig sein" (Ps. 67) und vor allem „Ein feste Burg" (Ps. 46). Andere biblische Texte sind bearbeitet in dem Lied auf die 10 Gebote, in dem Vaterunser-Lied, in der Vision des Propheten Jesaja: „Jesaja, dem Propheten, das geschah" (Jes. 6), in dem Lied auf die Kirche „Sie ist mir lieb, die werte Magd" (Off. 12) und dem Tauflied „Christ unser Herr zum Jordan kam" (vgl. R. Wagners „Meistersinger"); auch die beiden Weih­ nachtslieder „Vom Himmel hoch" und „Vom Himmel kam der Engel Schar" (Luk. 2) sind hier zu nennen. Wie im Tett so hat auch in der Vertonung der Reformator altes Gut pietätvoll und treu verwertet. Er ist auch hier nicht darauf ausgegangen, „original" zu sein. Er fühlte sich als Hausvater, der Altes und Neues aus seinem Schatz hervorholt (Mt. 13,52). Die Tonsätze der Lieder stammen von dem Wittenberger Kantor Johannes Walther; für einige der Lieder hat wahrscheinlich Luther selbst die Melodien geschaffen, vor allem den männlicb festen Rhythmus von „Ein feste Burg". Über den Zweck seiner Kirchenliedersammlung hat Luther sich zweimal in

Vorreden bedeutsam ausgesprochen, in dem Wittenberger Gesangbuch von 1524 und in der Prachtausgabe, die 1545 in Leipzig herauskam. Die erstere enthält folgendes Programm: „Ich wollte gern, daß die Jugend, die doch sonst soll und muß in der Musica und andern rechten Künsten erzogen werden, i?

Schuster, Kirchengeschtchte

258

Luther und die deutsche Reformation

etwa« hätte, damit sie der Buhllieber und fleischlichen Gesänge loSwerbe und an derselben Statt etwas Heilsames lernte, und also das Gute mit Lust, wie den Jungm gebührt, einginge. Auch bin ich nicht der Meinung, baß durchs Evangelion sollten alle Künste zu Boden geschlagen werben und vergehen, wie etliche Übergeist­ liche vorgcben; sondern ich wollt alle Künste, sonderlich die Musica, gern sehen im Dienst beS, der sie gegeben und geschaffen hat." In seinem Todesjahr aber bekennt er: „Singet dem Herrn ein neues Lieb, singet dem Herrn alle WeltI Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tob und Teufel. Wer solche mit Ernst glaubet, brr kannS nicht lassen, er muß fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, baß «S ander« auch hören und herzukommen. Wer aber nicht davon singen und sagen will, baS ist rin Zeichen, baß erS nicht glaubet und nicht ins neue fröhliche Testament, sondern unter baS alte, faule, unlustige Testament gehöret." 3. Luthers dichterische Begabung wird allein schon durch seine Bibel­ übersetzung bewiesen, vorzüglich durch die von allen Sachkennern immer hochgerühmte Verdeutschung der Psalmen. AlS echten Dichter beweisen' ihn auch seine an Tönen und AuSbruckSmitteln unerschöpflich reichen Briefe. Unter allen deutschen Briefschreibern steht er (mit Goethe und BiSmarck) in vorderster Reihe. Umso auffallender scheint eS zunächst, baß er erst im reifen ManneSalter, als Vierzigjähriger, sein inneres Erleben in Liedern auSströmt, während doch sonst die Jünglingsjahre baS natürliche Alter lyrischer Dichtung sind. Aber einmal ist darauf zu verweisen, baß wir auch unter weltlichen Dichtern Beispiele später Reife finden, daS bekannteste C. F. Meyer. Auch darf man vergleichsweise daran erinnern, baß Schiller als Lyriker nicht durch seine Jugenbdichtung weiterlebt, sondern durch die Gebankenlyrik seiner ManneSjahre, nachdem er durch die Kantische Philo­ sophie hinburchgegangen war und in ihr eine geistige Neugeburt erlebt hatte. Auch ist zu bedenken, baß geniale Naturen bisweilen eine 2. oder 3. Jugend­ blüte erleben (Goethe, Nietzsche). Luthers Dichtung tragt deutlich die Spuren beS Bekenntnischarakters auch im Sinne Goethes, der seine ganze Dichtung als „Bruchstücke einer großen Konfession" bezeichnet. DaS Kinderlieb „Vom Himmel hoch" hat er erst gedichtet, als er eS eigenen Kindern in den Mund legen konnte (1535). Auch sein Glaubenslied „Ein feste Burg" mit dem bekannten Satz „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib" ist nicht, wie eine volkstümliche Le­ gende meint, von dem Mönch zu WormS, sondern von dem Wittenberger Hausvater gedichtet, wahrscheinlich im Pestjahr 1528, als gleichzeitig lügne­ rische Machenschaften (die sog. Packschen Händel) eine unmittelbare große Kriegsgefahr heraufführten. Sein persönlichstes Lied ist sein Erlösungslieb „Nun freut euch, lieben Christen gmein". In ihm klingt sein verzweifelter Kampf mit Sünde, Tod und Teufel. Zugleich belegt eS die ungeheure Kühn­ heit, mit der er die Heilsgeschichte gegenwärttg macht und sich persönlich aneignet. Sttophe 4: „Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen";

§60

Art und Größe seiner Dichtung

259

als sei das in Luthers Tagen geschehen! Hier ist der von Lagarde so schmerz­ lich beklagte „Historismus" im Glauben gründlichst überwunden. Luthers ganze lyrische Dichtung hat nach einleuchtender Vermutung ihren Anstoß empfangen durch «nett Vorgang, der ihn in der Tiefe aufwühlte, durch bas Martyrium der beiden jugendlichen OrbenSgenofsen, die tapfer bekennend am 1. Juli 1523 zu Brüssel verbrannt wurden. Ihren Sieg und die Schmach der Ketzermeister feiert er im Tone volkstümlicher Ballade mit seinem ersten großen Lieb „Ein neues Lied wir heben an", bas mit der hin­ reißend beschwingten Strophe schließt: Die Asch« will nicht lasten ab, sie stäubt in allen Landen. Hie Hilst kein Bach, Loch, Grub noch Grab, sie macht den Feind zu schänden. Die er im Leben durch den Mord zu schweigen hat gedrungen, die muß er tot an allem Ort mit aller Stimm und Zungen gar ftöhlich lassen singen.

So fehlt also in Luthers Kirchenlied das subjektiv persönliche Element keineswegs. ES gibt vielmehr keine Lyrik, die persönlich echter wäre als die seine. Er hat nichts gesungen, waS er andern nachredete, was er sich nur anempfunden und eingebildet hätte; alles was er singt, ist selbsterlebt und selbsterfahren, ist erlitten und erstritten, also ein echtes Bekenntnis. Aber dieser männlichste Deutsche war eine zu ausgesprochen männliche Natur, um einem Bedürfnis zu bloßen lyrischen Ergüssen nachzugeben. Er gehörte nicht zu denen, die „aus ihren großen Schmerzen ihre kleinen Lieber machen", damit alle Welt auf diese großen Schmerzen aufmerksam werbe. Über seinem Wirken steht daS große Wort: „Verflucht ist jedes Leben, daS ihm selber zu Nutz und Dienst gelebt wirb". Er nahm (um ein Niehschewort abzuwanbeln) alle Dinge nur im Blick auf seinen reformatorischen Beruf ernst. Sollte und mußte er nicht die poetische Begabung, die in ihm lebte und in der Bibelüber­ setzung wirksam wurde, auch durch Liederdichtung in den Dienst der Gemeinde stellen, zumal wenn er merkte, daß die andern versagten! So hat er mit unmittelbarer Ursprünglichkeit aus seinem eigenen Erleben heraus bas gesagt, waS sie alle, die mit Ernst Christen sein wollten, erfahren hatten oder erfahren mußten. So wirb sein persönliches Bekenntnislieb ganz von selber zum Gemeinbelied, weil der Dichter um der Gemeinde willen da ist. Dom Standpunkt formeller poetischer Technik aus empsinden wir heute an Luthers Liebern mancherlei Anstöße: Reste der bei den Meistersingern ganz üblichen, den natürlichen Wortton oft verachtenden Silbenzählung, gewaltsame Zusammenziehung von Silben. Wenn er sich frellich häufig mit der Assonanz statt des vollen Reimes begnügt, so steht er mit dieser Sorg17*

260

Luther und die deutsche Reformation

losigkeit in der Überlieferung des Volksliedes. Was ihn als lyrischen Dichter auszeichnet, ist die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Bilder, die Knapp­ heit und Treffsicherheit der Sprache, der frisch zugreifende Mut, mit dem ohne Einleitung und Umschweife die Hauptsache gesagt wird. Deshalb sind meistens auch seine Lieder kurz und die Strophen knapp. „Es herrscht in Luthers Kirchenliedern ein so männlicher Ton, wie er noch niemals in der deutschen Lyrik erklungen war" (Wilh. Scherer). Der Abstand von der ritterlichen Minnedichtung ist kaum zu überschätzen. Auch wenn Gedanke und Bild an ihren Ton anklingen, wieviel kraftvoller, ge­ sunder und mannhafter klingt Luthers Lied (vgl. „Nun freut euch, lieben Christen gmein", Strophe 7, oben S. 216). Kein Wunder, daß diese Lieder nicht nur damals ganze Städte für die Reformation erobert haben, sondern auch in matten Zeiten den Luthergeist lebendig hielten. Vor allem ist das Lied von der festen Burg der Schlachtgesang der deutschen Nation geworden und das Panier des Protestantismus. „Wir hören bei diesem Trutzliede die Fanfaren Gustav Adolfs und den Donner von Lützen. Es klingt wie Torstenson und Coligny, wie Cromwell und Wil­ helm von Oranien. Alles was den Protestantismus groß gemacht hat, liegt in diesen wenigen trotzigen Strophen "(Hausrath). 4. Während des ersten Reichstags zu Speyer (Sommer 1526) wurde be­ kannt, daß Franz I. von Frankreich, durch den Papst seines Eides entbunden, sich mit diesem und anderen italienischen Mächten zu einer „heiligen Liga" zusammengeschlossen habe, so daß Karl V. mit einem neuen Kriege rechnen mußte. Die evangelisch gesinnten Fürsten und Reichsstädte erreichten deshalb einen günstigen Reichstagsabschied, der dahin lautete, jeder Stand (d. h. regierende Herren und freie Städte) solle „sich so halten, wie er das gegen Gott, auch Kaiserliche Majestät und das Reich verantworten" könnte. Dieser Beschluß wurde von den evangelischen Ständen als Rechtsgrund­ lage für die Einrichtung evangelischer Landeskirchen aufgefaßt. In Kur­ sachsen ging man daran, durch eine Kirchenvisitation (1526—1530), an der Luther und Melanchthon persönlich beteiligt waren, eine Art kirch­ licher Bestandsaufnahme vorzunehmen. Diese ergab ein sehr trübes Bild von der Verwahrlosung des Kirchengutes und noch mehr von der Unwissen­ heit nicht nur der Gemeinden, sondern auch der Pfarrer und Lehrer. Es stellte sich heraus, daß die katholische Kirche der Reformation ein schlimmes Erbe hinterlassen hatte, weil sie wenig für die Bildung ihrer Geistlichen und nichts für die Mündigkeit der Gemeinden getan hatte. 5. Luther hatte in seiner „deutschen Messe" an die Bildung von Kern­ gemeinden derer, „die mit Ernst Christen sein wollen", gedacht und für deren Gottesdienste freie und innerliche Formen, gemeindliche Selbstver­ waltung mit ernster Kirchenzucht und stark betonter Liebestätigkeit vorge­ sehen. Gegenüber der grenzenlosen Roheit und Unwissenheit, die durchschnitt-

§60

Kirchenvisitation/ Katechismen, Schulwesen

261

lrch festgestellt wurde, verzichtete er auf diesen Lieblingsgedanken und gab

dem ganzen Gottesdienst einen ausgesprochen pädagogischen Charakter, Erziehung der Gemeinden zur Kenntnis des Wortes Gottes. Deshalb die starke Betonung der Predigt, die das Wort Gottes auslegen soll. Die Pre­ digt sollte unterstützt werden durch die Unterweisung in Haus und Schule. Ihr dienen die beiden Katechismen (1529), der Kleine für die Hausväter, um Kinder und Gesinde zu unterweisen, zu seiner Erläuterung der Große, für die Pfarrer und Lehrer bestimmt. Beide Katechismen sind im Winter 1528/29 nebeneinander ausgearbeitet, wenn auch der Große früher begonnen war. Der Kleine erschien zuerst in Tafelform, dann auch als Buchausgabe. Er bereitet uns heute pädagogisch natürlich mannigfache Schwierigkeiten. Denn ein Unterrichtsbuch, das vor mehr als 400 Jahren entstanden ist, kann heute unmöglich mehr dieselben Dienste leisten, weil die Zeiten und Anschauungen sich geändert und die pädagogischen Methoden sich erheblich entwickelt haben. Andererseits werden wir gewisse Vorzüge gerade heute erst recht würdigen und anerkennen. Luther verzichtet auf jedes System, weil weder die Kinder noch das Volk dafür Sinn und Geschmack haben. Er begnügt sich mit wenigen faßlichen Hauptstücken, und diese sind wohlgeordnet. An den Anfang stellt er den evangelisch ausgelegten Dekalog, den er im Großen Katechismus so breit und anschaulich gestaltet, daß er zu einer christlichen Lebensordnung wird, die alle Gebiete umfaßt. Im „Glauben" (den er zuerst in 3 Artikel zusammenfaßt) weist er die Quelle der Kraft nach, die uns be­ fähigt, den Gotteswillen der Gebote auch zu erfüllen; im Herrengebet weiter den Weg, der zur ständigen Erneuerung des Glaubens führt. Luther ver­ zichtet weiter auf alle dogmatischen Formeln. Weder von der Trinität noch von der christologischen Zweinaturenlehre ist die Rede. Diese Formeln stehen hinter, aber nicht in dem Katechismus. Noch größer erscheint uns dieser Verzicht auf die Theologie im 5. Hauptstück, vom Abendmahl. Der Glaube richtet sich nicht auf die dogmatische Lehre „das ist", sondern auf die heil­ schaffende Bedeutung: „für euch vergeben und vergossen zur Vergebung der Sünden". Endlich verzichtet Luther, der sonst so kämpferisch sein konnte, in dem Kleinen Katechisnus auf alle Polemik gegen Papst, Schwärmer und Sektierer. Das Büchlein atmet tiefsten Gottesfrieden und hat gerade dadurch unvergänglichen Wert. 6. 3m Interesse der kirchlichen Erziehung nahm sich Luther auch des all­ gemeinen Schulwesens an. Er wandte sich (1524) „an die Bürgermeister und Ratsherren" (denen er offenbar mehr Verständnis zutraute als den Fürsten und ihren Beamten) mit dem dringenden Aufruf, die durch den Hu­ manismus gebotenen besseren Bildungsmöglichkeiten auszunutzen und für Errichtung von Schulen zu sorgen. Er dachte dabei, um der Bibel willen, in erster Linie an die Pflege der Sprachen (lateinisch, griechisch, hebräisch); denn „die Sprachen sind die Scheiden, darin das Messer des Geistes steckt.

262

Luther und die deutsch« Reformation

Wo wir die Sprachen fahren lassen, so werden wir nicht allein das Evange­ lium verlieren, sondern es wird auch endlich dahin geraten, baß wir weder lateinisch noch deutsch recht reden oder schreiben können". Luther weiß also wohl, daß die Schulbildung auch dem bürgerlichen Leben zugute komnit. „Das ist einer Stadt bestes und allerreichstes Gedeihen, baß sie viel feiner, gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohlgezogener Bürger hat; die könnten danach wohl Schätze und alles Gut sammeln, halten und recht brauchen." Als erster fordert er eine allgemeine Unterweisung aller Knaben und Mäd­ chen im Evangelium und den Elementen der Wissenschaft: Allgemeine Schulpflicht. Sehr beachtlich sind seine Ratschläge für die Errichtung guter städtischer Büchereien; in ihnen will er vor allem Chroniken und Historien aus der deutschen Geschichte sammeln; es wurmt ihn, daß die Deutschen von ihrer eigenen großen Geschichte so wenig wissen. Diese Aufforderung an die Obrigkeit zur Errichtung von Schulen hat Luther später durch eine sehr eindringliche Predigt ergänzt, in der er es den Eltern zur Pflicht macht, ihre „Kinder zur Schule zu halten".

§ 61. Kirchenregierung und Staatsgewalt. 1. Die Fragen der Kirchenverfassung und Kirchenleitung haben Luther innerlich nicht sehr stark beschäftigt. Sein Herz hing an zwei Dingen, an der Predigt des lauteren Wortes Gottes und an der Schaffung lebendiger Gemeinden. Aber eS drängte sich ihm die Notwendigkeit auf, um dieser beiden Ziele willen sich auch um Verfassung und Leitung der Kirche zu küm­ mern. Er hatte lange gehofft, die ganze alte Kirche innerlich mit dem Wort für das Evangelium zu erobern. Dann hätte in Deutschland eine bischöflich geleitete evangelische Kirche entstehen können wie im skandinavischen Luther­ tum. Aber die Bischöfe versagten, und Luther in seiner peinlichen Gewissenhaftigkest mochte sich selber keine Regierungsbefugnis zuttauen; so wandte er sich an die evangelischen (!) Landesfürsten und Bürgermeister der Reichs­ städte, sie sollten als Mitglieder der evangelischen Kirche und als von Gott mit obrigkeitlicher Gewalt betraute Personen sich der Verlegenheit der Kirche annehmen und ihr den Liebesdienst erweisen, ihr zu einer Ordnung zu verhelfen. Insbesondere sollten sie zunächst den Visitatoren, die an Stelle bischöf­ licher Beamten traten, die Vollmacht obrigkeitlicher Befugnis verleihen. Dieser Zustand war von Luther als eine vorübergehende Notlösung ge­ dacht. Er hat die Landesherren deshalb auch wohl als „Notbischöfe" be­ zeichnet. Der Kurfürst von Sachsen freilich hat das Verhältnis anders auf­ gefaßt. Er gebärdet sich in seiner Instruktion für die Visitatoren, als ob bas Kirchenregiment zu seinen natürlichen landesherrlichen Befugnissen gehöre. (Er trieb damit eine Entwicklung weiter, die schon im 15. Jahrhundert nach

$61

Kirchen« erfastung, Glaube und Staatsgewalt

263

dem Basler Konzil eingesetzt hatte, indem verschiedene deutsche Landesfürsten dem Papst weitgehende Befugnisse abhandelten, s. o. S. 182.) Luther hat das getragen, weil es sich um überzeugt evangelische Landesherren handelte, die sich durch das Wort der Reformatoren beraten ließen. Grundsätzlich hat er immer daran festgehalten, baß dem Kurfürsten „zu lehren und geistlich zu regieren nicht befohlen ist". Die Entwicklung deS landesherrlichen KirchenregimentS im Luthertum widerspricht also Luthers Grundsätzen, und ihre Fortdauer bis ins 20. Jahrhundert war ein Beweis kirchlicher Erschlaffung. 2. Luther hat staatlichen Zwang zum religiösen Glauben immer abgelehnt. In der Schrift „An den christlichen Adel" schreibt er: „Man sollte die Ketzer mit Schriften, nicht mit Feuer überwinden, wie die alten Väter getan haben. Wenn eS Kunst wäre, mit Feuer Ketzer zu überwinden, so wären die Henker die gelehrtesten Doktoren". In der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei", begrenzt er diesen Ge­ horsam auf alle leiblichen und äußerlichen Dinge: „Denn über die Seelen kann und will Gott niemand regieren lassen, außer sich selbst allein. Darum, wo weltliche Gewalt sich vermißt, der Seele Gesetz zu geben, da greift sie Gott in sein Regiment und verführt und verdirbt die Seelen". Luthers An­ liegen war also eine klare und saubere Scheidung weltlicher und geist­ licher Gewalt. Die Kirche soll nicht dem Staat ins Handwerk pfuschen; andererseits soll auch der Staat dem Worte GotteS sein Recht und seine Freiheit lasten und keinen Glauben erzwingen wollen. Nun hatten ihm sowohl die Unruhen der Schwärmer wie der Bauernkrieg deutlich gezeigt, baß diese Grenzen oft überschritten wurden und auch nicht immer sicher festzulegen und einzuhalten waren. Die Schwärmerei führte zu Zwietracht und Aufruhr; deshalb hat Luther in der Vorrede zu MelanchthonS „Unterricht der Visitatoren" demselben Kurfürsten, dem er nicht daS Recht gibt, zu lehren und geistlich zu regieren, doch anderersestS zur Pflicht gemacht, „als weltliche Obrigkeit darob zu halten, daß nicht Zwietracht, Rotten und Aufruhr sich unter den Untertanen erhebe". Diese Gefahr schien ihm wie seiner ganzen Zeit schon bann gegeben, wenn zweierlei öffentliche Lehre in demselben Lande nebeneinander geduldet wurde. Die Staatsgewalt war ja damals noch zu wenig durchgreifend, um zu verhüten, daß die Er­ regung über die Verschiedenheit der öffentlichen Lehre zu Zwietracht und Aufruhr entartete. Doch hat Luther Todesstrafe für bloße „Ketzerei" stets abgelehnt, sie nur zugestanden, wenn damit Aufruhr und Gottesläste­ rung verbunden war. Wie groß in dieser Beziehung damals die Gefahren waren, zeigt daS Beispiel des SchreckenSregimentS der Wiedertäufer von Münster (1534). Luther wollte Leute, die still ihres anderen Glaubens leben, unbehelligt lasten; solche aber, die ihn öffentlich verkündigen, zur Auswande­ rung veranlassen. Mit diesen Grundsätzen hat man später die Regel „Cuius regio, eins religio" verteidigt, sie auf friedliche, stille Untertanen ausgedehnt

264

Luther und die deutsche Reformation

und sie festgehalten noch zu einer Zeit, in der einer erstarkten Staatsgewalt aus der Verschiedenheit der Bekenntnisse kerne Gefahr mehr erwachsen konnte. Man dachte bei diesem berüchtigten Grundsatz auch weniger an bürgerliche Ordnung als an die gewaltsame Erzwingung der Übereinstimmung im Glauben.

§ 62. Das Augsburger Bekenntnis. 1. Das Wormser Edikt hat den Siegeslauf der Reformation nicht aufgehalten. In Kursachsen breitete sie sich unter stillschweigender Duldung Friedrichs des Weisen ohne erheblichen Widerstand aus; unter zunehmender Förderung durch die Landesherren in Hessen-Kassel (Philipp der Groß­ mütige), Braunschweig-Lüneburg (Ernst der Bekenner) und anderen kleinen nord- und mitteldeutschen Ländern; daneben sehr früh in den meisten be­ deutenden Reichsstädten, wie Nürnberg, Augsburg, Straßburg, Magdeburg, Braunschweig, Goslar, Hamburg, Bremen und Lübeck. Der Hochmeister des Deutschen Ordens (dessen Land nicht zum Reichsverband gehörte), Albrecht von Hohenzollern, verwandelte auf Luthers Rat, indem er zugleich eine Ehe schloß, seinen Ordensstaat in ein weltliches evangelisches Herzogtum (1525). Als auf dem Nürnberger Reichstag (1524) die Mehrheit der Reichsstände sich nur bereit erklärt hatte, dem Wormser Edikt „so viel als möglich"(!) nachzukommen, schlossen sich in Süd- und Mitteldeutschland unter Führung Ferdinands von Österreich reformationsfeindliche Fürsten zu Sonderbünden zusammen. Damit nötigten sie Johann den Beständigen von Kursachsen, der seinem Bruder Friedrich, nach dessen Tode in den Stürmen des Bauern­ krieges, auf dem Throne gefolgt war, und Philipp von Hessen zu einem Schutzbünsnis, dem später auch andere evangelische Fürsten beitraten. 2. Auf dem zweiten Speyrer Reichstag 1529 beschloß eine altkirchlich ge­ sinnte Mehrheit der Reichsstände, einer scharfen kaiserlichen Drohung fol­ gend, den Beschluß des ersten Speyrer Tages (S. 260) wieder aufzuheben und weitere kirchliche Änderungen zu verbieten. Die evangelich gesinnten

Fürsten unb freien Städte, über die Tragweite dieses Abschiedes nicht im Zweifel, erhoben unmittelbar nach seiner Verkündigung Protest: es war die Geburt des Protestantismus. In der Begründung heißt es: „Da in den Sachen, Gottes Ehre und unserer Seelen Seligkeit belangend, ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft geben muß, also daß sich des Orts keiner auf anderer, Minderheit oder Mehrheit, Machen oder Beschließen entschuldigen kann". Hier wurde also mit Luthers Kraft und Wucht, beinah mit seinem Wortlaut die Vergewaltigung der Gewissen durch Mehrheitsbeschlüsse als gottlos gebrandmarkt. Unterschrieben ist die Urkunde von Kursachsen, Hessen-Kassel, Fränkisch-Brandcnburg, Anhalt und Braunschweig-Lüneburg, sowie zahlreichen

§62

Speyrer Reichstag, Marburger Religionsgespräch

265

süddeutschen Städten, voran Straßburg, Nürnberg und Ulm. Den Pro­ testierenden war die Bedeutung ihres Unternehmens durchaus bewußt. Kursachsen und Hessen schlossen zwei Tage hernach mit Straßburg, Nürn­ berg und Ulm ein Bündnis zur Verteidigung, falls man sie wegen des Wortes Gottes angreifen sollte. 3. Am 29. Juni 1529 schloß der Kaiser mit Franz von Frankreich Frieden. Im August ttaf er sich zu Bologna mit dem Papst, um sich mit ihm zu ver­ ständigen und die Kaiserkrönung vorzubereiten (vollzogen am 24. Februar 1530). Grund genug für Philipp von Hessen und Zwingli, den Plan eines großen antihabsburgischen Bündnisses zu betreiben. Als Vorbedingung bettachtete Philipp eine Verständigung zwischen Wittenberg und Zürich, vor allem in der ttennenden Abendmahlsfrage. Sie sollte durch das Mar­ burger Religionsgespräch (Oktober 1529) erreicht werden. Der Erfolg blieb bescheiden. Luther kam nicht, um zu verhandeln, sondern um zu bekennen. Er hatte sich endgültig auf die Lehre von der leiblichen Gegenwart Christi im Abend­ mahl festgelegt, weil er meinte, durch den Wortlaut der Einsetzungsworte dazu genötigt zu sein, vor allem aber weil sein heilsbegehrender Glaube das Zeichen des Sakraments nicht preisgeben wollte. Politische Notwendigkeit bedeutete ihm demgegenüber gar nichts. Melanchthon unterstützte ihn, weil er fürchtete, eine Gemeinschaft mit den „Sakramentierern" (den Schwär­ mern, die das Sakrament leugnen) werde die von ihm heiß ersehnte Ver­ ständigung mit dem Kaiser und der alten Kirche verhindern. Zwingli mit seiner kühlen Nüchternheit verkannte das Geheimnis im Sakrament, war aber bereit, um des politischen Zweckes willen bis zum Äußersten

entgegen zu kommen. Luther erkannte mit Recht die Verschiedenheit des beiderseitigen Geistes imt> wollte die Wahrheit, so wie er sie verstand, der Politik nicht aufopfern. Der Landgraf erreichte ttotzdem eine Verständigung über 14 Punkte; nur im letzten Sinn des Abendmahls blieben die Parteien getrennt. 4. Für den zum 8. April 1530 nach Augsburg einberufenen Reichstag hatten die kursächsischen Theologen eine Verteidigungsschrift vorbe­ reitet, eine biblische Rechtfertigung der kirchenrechtlichen und kultischen Maß­ nahmen, mit denen sie die katholischen Mißbräuche in Kultus und Kirchen­ verwaltung beseitigt hatten. Erst in Augsburg erfuhr man, Eck habe eine umfangreiche Klageschrift mitgebracht, in der er die Anhänger Luthers mit Schwärmern und Sakramentierern zusammenwarf und ihnen das Christen­ tum absprach. Dadurch war man genötigt, ein positives Bekenntnis des (Glaubens voranzustellen; aus der Verteidigungsschrift wurde also ein Glaubensbekenntnis. Da Luther (der Gebannte und Geächtete!) nicht vor dem Kaiser erscheinen durfte und deshalb auf der Koburg, dem südlichsten Orte Kursachsens, zurückgehalten war, mußte Melanchthon (unter Der-

266

Lüth« und bw deutsche Reformation

Wertung älterer Vorlagen) dieses Glaubensbekenntnis ausarbeiten, in deut­ scher und lateinischer Gestalt. ES wurde am 25. Juni in deutscher Sprache verlesen und machte auf die anwesenden Fürsten, selbst auf katholisch ge­ bliebene, einen starken Eindruck: „Ich sehe, die Lutherischen sitzen in der Schrift und wir daneben" (Wilhelm von Bayern). Der Kaiser gab sich nicht zufrieden. Er ließ durch seine Theologen eine Gegenschrift auSarbeiten (die Confutatio) und erklärte damit die Prote­ stanten für widerlegt, obwohl man den Text dieser Widerlegung nut auSliefern wollte gegen die Zusicherung der Protestanten, nichts dawider zu sagen oder zu schreiben! In dem ReichStagSabschied (November 1530) wurde das ganze alte Kirchenwesen mit der Strafe der ReichSacht geschützt und den Protestanten nur bis zum 15. April 1531 Frist zur Umkehr gegönnt. Der Religionskrieg stand vor der Tür. 5. DaS Augsburger Bekenntnis zerfällt, entsprechend seinem Ur­ sprung, in zwei Hauptteile, Artikel deS Glaubens (Nr. 1—21) und Artikel von kirchlichen Mißbräuchen (22—28). Die ganze Schrift ist nicht gemeint als Lehrgrundlage für eine neue Kirchenbildung, sondern als Nachweis für das Heimatrecht der Lutherischen innerhalb der alten katholischen (allge­ meinen) Kirche! Daher die Berufung nicht nur auf Stellen der Bibel, sondern auch der alten Kirchenväter (Augustin, Ambrosius, Hieronymus); daher die deutliche Scheidung von allen Schwärmern und die verhältnismäßig glimpfliche Behandlung römisch-katholischer Irrtümer. Man will eine von späteren „römischen" Mißbräuchen gereinigte echt katholische Kirche! Die kirchenpolüische Absicht der Schrift ist unverkennbar. Luther hat sich über die noch nicht endgültige Gestalt dahin geäußert: „Sie gefällt mir sehr wohl", hat aber Korrekturen abgelehnt mit der Begründung: „denn ich so sanft und leise nicht treten kann". Er hat später mit Recht bemängelt, daß ent­ scheidende Lehrpunkte wie der Sinn deS Priestertums, deS Abendmahls und vor allem daS Papsttum nicht berührt seien. Er hat sie trotzdem hochge­ halten und verteidigt als eine klare und eindrucksvolle Darstellung evan­ gelischer Lehrweise. Ein Bekenntnis haben zu Augsburg zweifellos die Fürsten und die Vertreter der freien Reichsstädte abgelegt, die jene Schrift unterschrieben haben. Sie bekannten sich damit in entscheidungsschwerer Stunde vor Kaiser und Reich öffentlich zu dem von Luther neuentdeckten Evangelium und waren bereit, dafür ihre Stellung und ihr Leben einzusetzen. MelanchthonS per­ sönliches Bekenntnis wird beeinträchtigt durch die kirchenpolitischen Rück­ sichten, die in der Schrift erkenntlich sind, und durch seine nahe bis an den Verrat der Hauptsache gehende Bereitwilligkeit, um deS lieben Friedens willen insgeheim mit der Gegenseite in schwächlicher Nachgiebigkeit weiter zu verhandeln. (Vgl. dagegen Luther in WormS!) Am Schluß von Test I der Augsburg. Konf. hatte Melanchthon in dem maßgeblichen lateinischen

§ 62

Das Augsburger Bekenntnis, Luther auf der Koburg

267

Text den berüchtigt geworbenen Satz geschrieben: „Der ganze Streit geht nur um einige wenige Mißbräuche". Diese Verharmlosung beS unüber­ brückbaren Gegensatzes in Glaube und Lehre wird noch Überboten durch die unglücklichen Briefe, die Melanchthon Anfang Juli an den römischen Kar­ dinal Campegio gerichtet hat. Hier versichert er, eS gäbe kein Dogma, das sie von der römischen Kirche trenne; sie seien bereit, der römischen Kirche zu gehorchen, wenn diese nur, entsprechend ihrer immer" geübten Milde, einiges Wenige verhülle ober nachgebe. Die Autorität des römischen OberpriesterS würde von ihnen ehrerbietig gepflegt, wenn er sie nur nicht verstoßen würde. Die Eintracht könne festgestellt werden, wenn nur wenige Dinge zugestanden oder verhüllt würden, d. h. wenn ihnen nur die doppelte Gestalt des Abend­ mahles erlaubt und die Priesterehe geduldet würde, wenn nicht öffentlich, so wenigstens unter irgendeinem Vorwand. — Wenn man neben diese unseligen Sätze die unvergeßlichen Verdienste MelanchthonS um die pro­ testantische Sache stellt, wenn man sich z. B. nur an die jugendfrische Erst­ ausgabe seiner „Loci" erinnert, so wird man zaudern, Melanchthon deS feigen Verrats zu beschuldigen; man wird vielmehr erschüttert erkennen, waS für eine ungeheure Macht der Versuchung zuzeiten in der sonst so löblichen Friedenssehnsucht steckt; und wie groß die Gefahr ist, daß ein friedliebender Mensch, wenn er erst einmal die abschüssige Bahn der Kompromisse betritt, auf ihr in den Abgrund rutscht. Von diesem Hintergründe freilich hebt sich Luthers Haltung in seinen Koburger Briefen um so leuchtender ab. DaS Anliegen eines echten Bekenntnisses wird insofern von der Schrift erfüllt, alS die Rechtfertigung aus Gnaden gegenüber der römischen Werkgerechtigkeit klar und bestimmt vertreten wirb und demgemäß auch daS sittliche Leben, einschließlich Ehe, Beruf und staatliche Verpflichtung, auS der dem Glauben geschenkten Neugeburt überzeugend abgeleitet wird. Die Augsburger Konfession erfüllt damit die Aufgabe jeder echten Bekennt­ nisschrift, daS Evangelium gegen die derzeitigen Entstellungen zu verteidigen und zu sichern. 6. Luther hat von der Koburg auS mit heißem, oft von Zorn und Angst erfülltem Herzen die Augsburger Verhandlungen, die öffentlichen und die geheimen, verfolgt und mit gewaltigen Briefen, wie nur er sie schreiben konnte, die kleinmütigen Freunde, Melanchthon zumal, ermutigt und aufgerüttelt. Zwischendurch hat der wunderbare Mann nicht nur fleißig gearbeitet, sondern auch die entzückendsten Briefe voll paradiesischen Friedens ober voll launigen, goldenen Humors (an sein Söhnchen Hänschen, an die Tisch­ gesellen) verfaßt. DaS Schlußergebnis des Reichstags hat ihn mit zornigem Entsetzen erfüllt, daS sich besonders in der „Vermahnung an seine lieben Deutschen" strömend ergießt. Der „Prophet der Deutschen", wie er sich in dieser Zeit mit Betonung nennt, sah richtig voraus, daß durch die Ver­ blendung deS Kaisers und der katholischen Mehrheit die angebotene Friedens-

268

Luther und die deutsche Reformation

Hand auSgeschlagen und Deutschland damit dem Zwiespalt und dem Unglück auögeliefert sei. Deutschland habe damit Gotteü Wort verworfen und sein Strafgericht selbst herausbeschworen. Wenn man von einer Schuld an Deutschlands konfessioneller Zerspaltung reden will, so hat Luther klar erkannt und ausgesprochen, bei wem sie zu suchen ist!

$ 63. Luther und Wittenberg. 1. Seit der zweiten Übersiedlung nach Wittenberg, nach der Romreise,

hat Luther dort feinen ständigen Wohnsitz gehabt. Wittenberg wurde seine Stabt. Sie wurde eS im besonderen Sinne, alö er am 13. Juni 1525 die Ehe mit Katharina von Bora schloß. Luther hat diese ehemalige Nonne mit einer Art von bäuerlicher Sachlich­ keit zur Gattin genommen: Ihm war der Wunsch seines Vaters, den Sohn verheiratet zu sehen und leibliche Enkel zu besitzen, ein heiliges Gebot, dem er Gehorsam leisten wollte; er meinte vor allem als Reformator seinem Volk dieses persönliche Bekenntnis zur Ehe als der alle Christenmenschen bindenden GotteSordnung schuldig zu sein. Er hat in den Stürmen des Bauernkrieges geheiratet, nicht weil er die Not der Zeit verachtete, sondern im Gegenteil, weil er mit dem Ende aller Dinge und mit seinem eigenen Ende rechnete und dies BekennMiS zu seiner Botschaft den Seinigen nicht schuldig bleiben wollte. Diese so umomantisch, streng sachlich gegründete Ehe ist der unerschöpfliche Quellort eines von tiefster Gemütsinnigkeit erwärmten Familienlebens geworden, weil sie auf unerschütterliche Treue gegründet war. Er schreibt: „Ein Weib soll sich also zu seinem Mann halten, baß ihm baS Herz im Leibe lacht, wenn er seines HauseS Giebel von ferne erblickt". Umgekehrt versichert er in einer Tischrede: „Ich wollte meine Käthe nit um Frankreich noch um Venedig dazu geben, weil Gott sie mir geschenkt und mich ihr gegeben hat". Stolzen MuteS ruft er ihr zu: „Frau Käthe, du bist eine Kaiserin!" AuS der Ehe sind fünf Kinder hervorgegangen. Er hat in ihr mit dem Sterben beS geliebten Töchterchens auch das Leid des häuslichen Lebens durchge­ kostet. Er wollte, daß Pfarrer und Seelsorger alles menschliche Schicksal in Freude, Sorge und Leid mit der Gemeinde trugen. Er hat so daS evan­ gelische Pfarrhaus gegründet, von dem nicht nur durch die stille Mtthilfe der Pfarrfrau, sondern auch durch daS große Beispiel des Kinderreichtums und der einsichttgen Kindererziehung unermeßlicher Segen in baS deutsche Volk eingegangen ist (im Unterschieb zu der erbbiologisch bedenklichen GegenauSlese durch den römischen Zölibat). Luthers Ehe war auch insofern vorbildlich, als sie baS Haus weit öffnete für eine schier unbeschränkte Gastlichkeit. Um seinen Herd sammelte sich stets ein großer Kreis von Freunden und Hilfesuchenden auS den verschie-

§63

Ehe, Familie, Freundschaft. Tod in Eisleben

269

denften Ständen und Gegenden, die an der hier auSstrahlenben Wärme sich erquickten. Diese Gäste haben ihrem Wirt ein unvergängliches Denkmal ge­ setzt, indem sie aus seinem Munde die Tischreden sammelten, in denen er, unbefangen plaudernd, über alle Dinge zwischen Himmel und Erde mit heiligem Tiefsinn oder fröhlicher Lässigkeit sich erging: ein unerschöpflicher Schatz an Weisheit und Lebenserfahrung. 2. Nach dem Augsburger Reichstag ist Luther verhältnismäßig wenig mehr an großen öffentlichen Handlungen beteiligt gewesen (s. S. 276). Er widmete die Kraft, die ihm geblieben war, die er wiederholten schweren, schmerz­ lichen Krankheitsanfällen abringen mußte, dem stillen Ausbau seines Wer­ kes, nicht zum mindesten der Vollendung und ständigen Ausbesserung der Bibelübersetzung. In einem weitausgebreiteten Briefwechsel und in bereitwilligst gewährten persönlichen Aussprachen war er Tröster, Berater und Beichwater aller bedrängten Gewissen, ein Seelsorger ohnegleichen. Seine große Hoffnung, mit dem Wort Gottes allein Deutschland für das Evangelium zu erobem, wurde ihm von seinem Volk und von seiner Stabt Wittenberg schlecht gebankt. Er mußte über Wittenberg klagen wie einst der Heiland über die Städte am See Genezareth (Mt. 11,20 ff.) und ging ernstlich mit der Absicht um, Wittenberg zu verlassen, um baS gottlose Treiben beS leichtsinnigen Volkes nicht mehr mit ansehen zu müssen. Schwer enttäuscht wurde auch seine Hoffnung, durch seine tomfrete Ver­ kündigung die Juden für baS Evangelium zu gewinnen. Seine Enttäuschung äußerte sich in leidenschaftlichen AlterSschriften. Diese Empörung über baS Judentum seiner Zeit darf aber nicht mißdeutet werden als eine Abwendung vom Alten Testament. Die letzte Vorlesung, die er vor seinen Studenten gehalten hat, zehn Jahre hindurch, bis wenige Wochen vor seinem Tobe, behandelte die „liebe Genesis". Sein Haß gegen die Juden wirb begründet durch ihren Wuchergeist, den er mit heißem Ingrimm immer wieder wahr­ nahm, vorzüglich aber durch ihre Verstockung gegen die evangelische Botschaft, womit sie auch den letzten Sinn beS Alten Testaments, dessen Lebenslinie in baS Evangelium Jesu auSmündet, verkannten und verleugneten. Den Grund für diese Verwerfung des Heilandes (und des Heils) erblickte er in dem Dünkel eigener Gerechtigkeit, die der Gnade nicht zu bedürfen meinte. Als er gar erleben mußte, baß die Juden ihrerseits Propaganda unter den Christen trieben, empfahl er die schärfsten Zwangsmaßnahmen gegen sie bis zu ihrer völligen Vertreibung. Luther fand baS Ende seiner irdischen Lebensbahn auf einer Friedensfahrt in seiner Geburtsstadt Eisleben (18. Februar 1546): hier war ihm noch die Gnade beschert worben, ein Werk der Versöhnung unter seinen „lieben Landes­ herren", den Grafen von Mansfeld, auSzurichten. Ein Brief seines treuen Freundes JustuS JonaS an den Kurfürsten, un­ mittelbar nach seinem Tobe aufgesetzt, gibt genaue Auskunft über seine

270

Luther und die deutsch« Reformation

letzten Lebensstunden und erweist alle feindseligen alten und neuen Le­ genden, die den großen Ketzer nicht in Frieden fahren lassen wollen, als böSwillige Erfindung. Er ist wie ein König zu Grabe geleitet und in der Schloß­ kirche zu Wittenberg beigesetzt. Der Stadtpfarrer Bugenhagen, Luthers per­ sönlicher Seelsorger, hat im Auftrag der Gemeinde die Leichenpredigt,

Melanchthon als Vertteter der Universität die lateinische Abschiedsrede

gehalten. Melanchthon bekannte unter anderem: „Ich bin selbst oft dazu gekommen, wie « mit heißen Tränen für bi« ganze Kirch« sein Gebet gesprochen; denn er nahm sich täglich besondere eigene Zeit und Weile, etliche Psalmen zu sprechen, darunter er mit Seufzen und Weinen sein Gebet zu Gott menget." „Er verließ sich auf diesen gewissen Grund als auf einen unbeweglichen Felsen, nämlich auf Gottes Beistand und Hilfe, und ließ sich solchen Glauben und Verttauen nicht aus dem Herzen reißen." „Da er nun aus diesem Leben und unserm Mittel und Gesellschaft, als aus der Spitze in der Ordnung hinweggeforbert und abgeschieden ist", „sind wir nun ganz arme, elende, verlassene Waisen, so einen teuren, trefflichen Mann zum Vater gehabt und des beraubt sind."

3. Luthers Erwartung, durch ein gnädiges Stündlein hinweggenommen zu werden, ehe der Jammer eines Religionskrieges über Deusschland erginge, sollte sich erfüllen. Auch ist im Verlauf beö Schmalkalbischen Krieges ttotz der Eroberung und Besetzung des ganzen kursächsischen Gebietes seine Grab­ stätte unversehrt geblieben. Es ist eine unbegründete Legende, wenn später erzählt wurde, man habe vor dem Nahen der Feinde Luthers Gebeine heimlich ihrem Grabe entnommen und auf stetem Felde geborgen. Diese Legende ist endgülttg widerlegt durch eine Untersuchung seiner Grabstätte, die bei Gelegenheit der Erneuerung der Schloßkirche im Februar 1892 stattfand: man fand damals den morschen Sarg und die darin „regelrecht gelegten", noch ziemlich gut erhaltenen Gebeine des Reformators. Sein sterbliches Teil ruht also heute noch in dem Gotteshaus, an dessen Tür er einst seine Thesen schlug. Die Stadt Wittenberg kam durch den Schmalkalbischen Krieg in den Besitz des Verräters Moritz. Damit ging die Universität den Ernestinern verloren, die in Jena eine neue, streng lutherische Hochschule begründeten. Mer auch Wittenberg blieb den Traditionen des Luthertums getreu, freilich in dem engeren und flacheren Verständnis der Epigonen. In den Freiheitskriegen wurde die Stadt fast zerstört. Die sehr heruntergekommene Universität wurde deshalb von der preußischen Regierung, die auf dem Wiener Kongreß die Stadt missamt den nördlichen Gebietsteilen des Königreichs Sachsen erwarb, aufgelöst und mit der 1695 gegründeten Universität Halle vereinigt, die heute unter dem Namen Halle-Wittenberg die große Überlieferung Luthers zu

verwalten hat. Für den gesamtdeutschen ProtestanttSmus ist Wittenberg der ideelle Mittelpunft. Hier wurde deshalb in schwerer Zeit nach dem Kriege (1922)

§ 63f.

Beisetzung in Wittenberg, Luthers Persönlichkeit

271

der deutsch-evangelische Kirchenbund begründet. Luthers Kloster und Woh­ nung, sorgfältig erhalten und behütet, ist ein lebendiges Museum deS Refor­ mators und feines Werkes; und die Stadt entwickelt sich immer mehr zu einer Arbeitsstätte, die fein Erbe für die deutsche evangelische Welt auSwertet.

§ 64. Der Mann und sein Werk. 1. DaS deutsche Volk hat Martin Luther immer als seinen größten Sohn empfunden und seine Art als Inbegriff deutschen Wesens geliebt. Ebenso hat er sein deutsches Volk von ganzem Herzen geliebt und war auch wirklich Repräsentant deutscher Art. Vor allem in dem unerschöpflichen und unbe­ greiflichen Reichtum seiner Persönlichkeit: Derselbe Mann, der bis zur Verzweiflung, bis an die Pfotten der Hölle den Kampf um Gottes Gnade durchstritt und durchlitt, der sein ganzes Leben lang von ttefsten Schwermuts­ anfällen geschüttelt wurde und lieber auf den jüngsten Tag als auf ein Reich Gotteü auf Erden seine Hoffnung setzte, konnte doch harmlos fröhlich sein wie ein ahnungsloses Kind, liebte die Natur, die Vögel und die Blumen wie ein Dichter und überschüttete alles Häßliche und Ärgerliche mit den leuch­

tenden Farben seines goldenen Humors. Niemand hat in seiner Zeit so zornmütige, von Berserkeringrimm tobende Schriften und Briefe geschrieben wie er; niemand auch so paradiesisch friedfertige, himmlisch gelassene, von welterhabenem Humor durchleuchtete. Er war hochfliegender Idealist, wenn er alle Wirkung von dem Einen, rein geistigen Mittel erwartete, dem Worte GotteS, und allen Beistand der Welt- und Kirchenpolitik verschmähte; und er war doch gleichzeitig erbarmungsloser Realist, wenn er den Men­ schen, Fürsten und Volk, nicht zu vergessen sich selber, inS Innerste sah: niemals ist ein deutscher Mann weiter entfernt gewesen von jeder Att der Menschenvergötterung. So ist er in der spannungsreichen Gegensätzlichkeit und der unergründlichen Tiefe seines Wesens urtümlich deutsch. Luthers Werk kann letztlich nur auS dem Urgründe seines Gemütes be­ griffen werden. Denn so gewiß er nicht sich selber predigen wollte, sondern die Botschaft deS Evangeliums in der paulinifchen Gestalt, die Rechtfertigung deS Sünders durch den Glauben an die unverdiente Gnade GotteS, so ist doch diese Bosschaft durch sein ganz persönliches Temperament hindurchge­ gangen, ist von ihm mit seinem Herzblut erobert und gettänkt, so daß nicht der logisch arbeitende Verstand, sondern nur ein empfängliches Gemüt, das von Luthers ungeheurer GemütSkraft überwältigt wird, sie wirklich zu be­ greifen vermag. Soweit auch feine Sache in die Welt hinaus gewirkt hat, sie wurde doch nur von Menschen deutschen oder verwandten Geblütes und Gemütes ganz ausgenommen und innerlich aufgesogen. ES ist kein Zufall, daß außerhalb deS deutschen Raumes im Osten vom balttschen bis an das Adriatische Meer die zerstreuten deusschen Siedlungen sich dem Luthertum attschlossen, die Glieder der anderen Völker dagegen, soweit sie protestanttsch

272

Luther und die deutsche Reformation

wurden, dem Calvinismus. Andererseits hat Luther auch auf das katholische Deutschland stark gewirkt. ES übernahm seine Bibelübersetzung und seine Lieder, eS redete mit seiner Sprache und wurde schon dadurch von seinem Geist berührt. ES ist ein symbolischer Ausdruck dieser Tatsache, wenn im Welt­ krieg das Lutherlied von der festen Burg zum Trutz- und Schutzlied der

ganzen Nation wurde. Wie eigentümlich deutsch Martin Luther ist, wird überzeugend deutlich durch einen Vergleich mit Calvin, dem größten seiner unmittelbaren Nachfolger, der ihm als Bibeltheologe und Paulusschüler sachlich besonders nahesteht. Die völkischen Unterschiebe treten klar zutage. Luther ist mit seinem Reichtum an Phantasie und Gemüt, mit seinem Sinn für die Natur und für daS Kind, mit seiner Wertschätzung der Frau und deS Familienlebens (bis an die Grenze deS behaglichen Philistertums!), mit seiner ungestümen, zornigen Tapferkeit, mit seiner ganz unpolitischen graben Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit, mit seinem goldenen Humor und seinem tief innerlichen FreiheitSgefühl eine ausgesprochen deutsche Gestalt (wie viele Züge seines WesmS kehren doch in Bismarck wieder!). Calvin dagegen ist typischer Franzose mit der Begabung für Logik und Rechtswissenschaft, für klare übersichtliche Gliederung seines Gedankenaufbaues (der erste Schöpfer einer protestantischen Dogmatik), mit der berechnenden Zielstrebigkeit seines Handelns, die bis zu erbarmungsloser Grausamkeit geht, mit dem Mangel an Phantasie und Humor. UnS Deutsche erfüllt immer wieder mit Bewunderung und Dankbarkeit die Art, mit der Thomas Carlyle (in „Helden und Helbenverehrung") aus tiefster Einfühlung daS Personbild deS deutschen Reformators geschildert hat: „Ich will diesen Luther einen wahrhaft großen Mann nennen; groß an Geist, an Mut, an Leidenschaft und Lauterkeit, einen unserer liebenswertesten und herrlichsten Männer. Groß, nicht wie ein behauener Obelisk, sondern wie ein Alpengebirge, so einfach, gerade, ursprünglich, der eS gar nicht darauf anlegte, überhaupt groß zu sein, der für einen ganz andern Zweck da war, als um groß zu sein. Ja wahrlich, ein unbe­ zwinglicher Granitberg, der hoch und weit in den Himmel emporragt; aber in seinen Klüften sind Quellen, grüne, liebliche, blumengeschmückte Täler." AlS daS Eigentümliche in Luthers Wesen empfinden wir das Suchen nach dem Allerletzten und Allerhöchsten, nach dem, was man später in der Philo­ sophie daS Absolute genannt hat. Er kennt die Verschuldung deS Menschen als eine Macht, die den Grund seines Wesens erfaßt, den aus der tiefsten Tiefe aufsteigenben unheimlichen Willen: seine Lehre von der Erbsünde, die der westeuropäischen Aufklärung und allen von ihr angesteckten Deutschen immer unbegreiflich, ja ein Ärgernis gewesen ist. Dafür emdeckt er aber die unerschöpfliche und unerschütterliche, auch die Pforten der Hölle überwälfigenbe Macht der göttlichen Gnade als den alleinigen Grund unserer Erlösung, unserer Seligkeit und Sicherheit, und den unbedingten Gehorsam

§ 64

Luther, der ewige Deutsche, sein Werk

273

gegen diesen gnädigen Gott als die einzige Möglichkeit menschlichen Handelns, baS den Namen Freiheit verdient. Wir vergessen nicht, baß Luther der größte Typus eines Genies ist, von dem wir auf deutschem Boden wissen, und vermessen uns deshalb nicht, unsere geringe Erfahrung von Sünde und Gnade, von Gott und Freiheit mit der seinigen vergleichen zu wollen. Aber wir möchten keinem mehr als ihm in der Jüngerschaft nachfolgen. Denn er ist wir selber, der ewige Deutsche. 2. Das Ergebnis seiner Lebensarbeit ist außerordentlich verschieden be­ urteilt worben. Die katholische Kirche hat ihn selbstverständlich als den schlimmsten aller Ketzer verdammt, weil er der römischen Kirche (und damit vermeintlich dem Reiche Gottes) mehr Abbruch getan hat als irgendein „Ketzer" vor ihm. Aber auch manche seiner Genossen und Mitarbeiter wie z. B. Karlstadt haben an ihm gezweifelt und sind irre geworden, weil sie die Tiefe seiner Gotterkenntnis nicht begriffen oder den weltklugen, auf den sichtbaren Erfolg abgestellten Sinn an ihm vermißten. Luther selber, in seiner lauteren, zarten und tiefen Gewissenhaftigkeit, ist immer wieder von der quälenden Frage geschüttelt worben, ob er Recht getan habe, die alte Ordnung der Kirche, so schlecht sie auch war und so ruchloS sie gehandhabt wurde, zu zer­ brechen. Es war ihm die schlimmste Versuchung beS Teufels, ob er nicht ungezählte Seelen inS ewige Verderben gestürzt habe, weil sie für seinen Weg deS Glaubens nicht reif waren. Seine Größe bestand darin, baß er die Kirche mit nichts anderem bauen wollte als mit der Verkündigung beS reinen, lauteren Evangeliums von der zuvorkommenden, unverdienten Gnade GotteS. Obwohl er sich überzeugen mußte, baß mit dieser Predigt nur eine geringe Minderzahl wirklich zu ge­ winnen war, konnte er sich doch nicht entschließen, daS Evangelium durch die gesetzlichen Mittel äußerer Kirchenzucht und staatlicher Gewaltanwendung zu ergänzen und zu stützen (Zwingli, Calvin!). Die katholische Kirche aber hatte ihm — was er erst spät erkannte — ein böses Erbe hinterlassen: Sie hatte in ihrer Verkündigung und Verwaltung die evangelischen, d. h. die christlichen Mottve, Hinweis auf Gottes gnädiges Erbarmen, um einen freien, aus dankbarer Liebe geborenen Gehorsam zu wecken, fast völlig versäumt und statt dessen mit den rohesten und äußerlichsten Motiven ge­ arbeitet, mit der heidnischen Angst vor den sinnlich vorgestellten Höllenstrafen und mit der jüdischen Hoffnung aus ebenso irdisch gedachte Belohnungen b«S „Himmelreichs". Diese so roh erzogene, so schlecht vorberestete Masse allein mit der Predigt deS Evangeliums (Luthers Schrift „Von der christlichen Freiheit") innerlich erobern und dauernd festhalten zu wollen, bas stellte sich je länger je mehr als eine Illusion heraus. Luther war zu innerlich, zu gläubig, zu sehr erhaben über alle Mittel der Politik (kirchlicher wie staatlicher), um ein Organisator iS

Schuster, Strcheogefchlchte

274

Luther und die deutsche Reformation

sein zu können, der sichtbare Augenblickserfolge erzielte. Sein Werk ist daher unvollkommen geblieben. Das war eine tragische Notwendigkeit, die mit seinem größten Vorzug zusammenhing. Keiner von den Reformatoren vertritt die reine Innerlichkeit beS reformatorischen Grundsatzes, Erlösung durch baS Wort Gottes allein, so unverfälscht wie er. Aber wenn diese reine Innerlichkeit der letzten Motive auch baS echte Wesen eines evangelischen Re­ formators ausmacht, so lähmt sie doch die unmittelbare Wirkung auf die Maste; denn auf diese wirkt niemals bas Edelste und Höchste in seiner reinen Gestalt, sondern immer nur mit der Beimischung eines starken Zusatzes irdischer Mittel und Motive. Das haben Zwingli und Calvin gewußt ober gefühlt und haben ohne viele Hemmungen auch entsprechend gehandelt: Zwingli, indem er nicht nur die bürgerliche Ordnung und Macht der Stabt Zürich für sein Kirchenwerk in Bewegung setzte, sondern auch eine weit ausgreifende, durchaus weltlich anmutende Bündnispolitik betrieb (ein Verfahren, das dem deutschen Reformator in innerster Seele zuwider war); Calvin, indem er alle Mittel kirchlicher und bürgerlicher Zuchtanwendung bis zu den härtesten Todesstrafen (s. u.) in den Dienst seines Gottesstaates stellte und durch einen ausgedehnten Briefwechsel mit gekrönten und regierenden Häup­ tern politischen Einfluß zu gewinnen eifrig strebte. Scheinbar hat der Erfolg ihnen Recht gegeben. Denn ohne den vom Calvinismus entfachten heroischen Widerstand der französischen Hugenotten, der Niederländer und der Angel­ sachsen hätte, menschlich gerechnet, die Gegenreformation wohl ihr Ziel erreicht, bas Feuer der Ketzerei auszutreten. Und trotz der großen Erscheinung Gustav Adolfs nimmt sich das deutsche Luthertum in seiner epigonenhaften Leidsamkeit neben dem tatkräftigen Handeln des Calvinismus recht be­ scheiden, wenn nicht kümmerlich aus. Eine solche Beurteilung aber wäre doch kurzsichtig und einseitig. Luther war bas schöpferische Genie, Zwingli und Calvin waren die großen, klug verwaltenden Talente. Wenn sie den Augenblick zu nutzen und unmittelbare Erfolge zu erzielen wußten, so hat Luther, wie jeder echte Genius, Saat für Jahrhunderte ausgestreut; und ein gut Teil dieser Saat ist in der Tat erst nach Jahrhunderten aufgegangen. Luthers Glaube ist der denkbar schärfste Gegensatz zu jeder Art von Eudämonismus (Glücksverlangen) in der Re­ ligion. Dieses selbstsüchtige Glücksverlangen, dieses Haften am eigenen Ich hat er ja gerade als Wurzel und Wesen der Sünde erkannt. An Luthers Glau­ bensbegriff zerschellt die Religionötheorie Feuerbachs, die für jede natürliche Religion verderblich ist (s. u. S. 421 f.). Die natürliche Religion ttachtet in der Tat nach Glück, nach irdischem oder himmlischem (auch die pietistische Losung: „Nur selig" gehört in diese Kategorie der natürlichen Glücksreligion). Luther dagegen ttachtet nur nach Einem, nach der wesenhaften Freiheit, kraft deren der Mensch dahin kommt, baS eigene Ich ganz zu vergessen und dem heiligen Gott einen völligen und unbedingten, einen freien und freudigen

§64

Saat für die Zukunft. Katholische Reste

275

Gehorsam zu leisten, so daß er, wenn es Gott gefällt, ohne Zaubern auch mitten in die Pein der Hölle ginge. Aus dieser Glaubenshaltung Martin Luthers ist der deutsche Idealis­ mus hervorgewachsen. Kants heroische Ethik und Schillers Dichtung sind nur auf dem Boden dieses lutherischen Glaubens verständlich. Und noch der große Feind des Christentums, Friedrich Nietzsche, lebt mit seinem Besten, ohne es zu wissen, vom Erbe Martin Luthers: Wenn er nicht nach Glück, sondern nach seinem Werke trachtet, wenn die Sehnsucht nach dem „Über­ menschen" ihn verzehrt, so lebt Luthers christliche Freiheit unverstanden in ihm weiter. Aus Luthers Glauben stammt auch der spezifisch deutsch-protestantische Geist der Wissenschaft. Es ist kein Zufall, daß die protestantischen Deutschen das Volk der Wissenschaft geworden sind. Sie sind es geworden, weil sie das Volk Martin Luthers sind. Von ihm stammt der Geist strenger Sachlich­ keit, unbeirrbaren Wirklichkeitssinnes, kühnen Wagemutes, unbestechlicher Wahrheitsliebe. Diese Wissenschaft fragt nicht nach dem Erfolg und dem Nutzen. Sie sucht die Wahrheit um ihrer selbst willen. Damit hat sie ihre großen Eroberungen gemacht; und der Erfolg ist ihr als Zugabe geschenkt, wie sie selber eine Zugabe des Lutherglaubens ist. Der Calvinismus dagegen, der auf den Erfolg nicht verzichten konnte, der in ihm eine äußerliche Bestätigung der göttlichen Erwählung erblickte (s. u.), hat die westeuropäischen Völker vor dem Götzendienst des Nutzens und der Erfolgsanbetung, der mit der Aufklärung über sie hereinbrach, nicht zu retten vermocht. Carlyle, der Sohn des calvinischen Puritanismus, ruft Luther, Goethe und Fichte zu Hilfe, um seine Seele aus dem Rachen der eudämonistischen Aufklärung zu retten. 3. Diese Auswirkung Luthers ist freilich durch ihn selber gehemmt und beeinttächtigt worben. Wir denken dabei weniger an die Heftigkeit seines Temperaments, das ihn auch für ehrliche und nötige Vermittelungen nicht sonderlich geeignet machte, als an gewisse unüberschreitbare Grenzen seiner Erkenntnis. Er war mit glaubendem Gemüt zu tief in der alten Kirche ver­ wurzelt gewesen, um sich von allen ihren irrigen Vorstellungen völlig lösen zu können. Seine Gedankenwelt blieb mit starken katholischen Resten belastet, die in der Hitze des Stteites, teilweise auch im Alter, wieder mehr zum Vorschein kamen. Er hat die grundsätzliche Klarheit seiner Unterscheidung zwischen Bibel und Wort Gottes (s. o. S. 236 f.) nicht immer durchzu­ führen vermocht. Er unterlag oft der Versuchung, sich im Kampf mit dem Papst und der Schwärmerei auf den Buchstaben der Bibel zu berufen, und hat das Alte Testament durch die überlieferte allegorische Bibelauslegung gar zu naiv verchriftlicht. Er hat in der Sakraments lehre die schönen An­ sätze seiner tiefen Erkenntnis (s. o. S. 225) nicht rein zu Ende gedacht, sondern sich durch den Stteit mit wirklichen oder vermeintlichen „Schwärmern" zur i8e

276

Luther und die deutsche Reformation

Erneuerung scholastischer Theorien verführen lassen. Er hat insbesondere nicht erkannt, daß daS altkirchliche griechische Dogma mit seinem eigenen Christentum der Rechtfertigung und der KreuzeStheologie schwer verträglich ist. Er hat mystische und spiritualistische Einzelgänger (Seb. Frank s. u. S. 324), weil er sie für sein gewiesenes Werk, den Neubau der Kirche, nicht brauchen konnte, unbesehen verworfen. Er hat damit werwolle Kräfte ausgeschaltet, die sein Werk vor Verengung und Verholzung hätten bewahren können. DaS sind Schranken allgemein menschlicher Art, denen auch der Größte nicht entgeht, wenn er an der Zeitenwende steht und ein Notwerk bauen muß. ES ist das Verhängnis der Kirche geworden, die sich nach ihm nennt, baß sie viele seiner fruchtbaren Ansätze hat verkümmern lasten: sie hat nicht be­ griffen, baß die Reformation weitergehen mußte, weil Einer nicht alles machen kann. Sie hat stattdesten oft gerade die katholischen Reste als spe­ zifisch lutherisch betrachtet und mit besonderer Liebe gepflegt! Sie hat gar zu treuherzig ihre sichtbare, zeitliche Kirchengestalt mit der Glaubenskirche gleichgestellt und deshalb die Notwendigkeit stetiger innerer Erneuerung verkannt.

§ 65. Vom Reichstag zum Religionüfrieden.

1. Der im November 1530 drohende Religionskrieg war nicht zum Aus­ bruch gekommen, weil der Kaiser gegenüber der neuen Türkengefahr die Hilfe auch der protestantischen Fürsten brauchte. Sm Nürnberger „Anstand" (gleich Waffenstillstand), 1532, wurde den Protestanten bis zu einem Konzil oder neuen Reichstag Duldung zugestanden. Diese hatten ihrerseits (Februar 1531) im Schmalkalbischen Bund ein KriegSbünbniS zum Schutz gegen feindliche Gewalt geschlossen. Luther hatte sich schweren Herzens überzeugen lassen, baß nach Lage der deutschen ReichSverfastung die Landesherren nicht einfach als „Untertanen" zu betrachten feien, die dem Kaiser uneingeschränkten Gehorsam schuldeten, sondern baß ihnen die Würde einer von Gott einge­ setzten Obrigkeit zukomme und damit auch die Pflicht, ihre Untertanen nötigen­ falls gegen kaiserliche Gewalt zu schützen. Die Sache der Reformation ist weder durch Zürichs Niederlage und Zwing­ lis Tod bei Kappel (1531), noch durch die Katastrophe der Täufer zu Münster (1535) erheblich geschädigt worben. Sie eroberte in den folgenden Jahren noch wichtige Gebiete wie Württemberg, Rheinpfalz, Pommern, Herzogtum Sachsen-Meißen, Kurbrandenburg, alle welfischen Lande, viele norddeutsche Bistümer. Das von Papst Paul III. geplante Konzil kam nicht zustande, veranlaßte aber eine Zusammenkunft protestantischer Räte und Theologen zu Schmal­ kalden (1537), wofür Luther sein großes BekennMiS, die Schmalkalbischen Artikel, entwarf. Die oberdeutschen Städte, von Zürich gelöst, schlossen sich den mitteldeutschen protestantischen Fürsten an. Verschiedene Reli-

§ 65

Fortschritte der Reformation. Der Schmalkalbische Krieg

277

gionSgespräche, mit denen der Kaiser den Versuch machte, die religiöse Kluft zu überbrücken, scheiterten, wie Luther richtig voraussah, an dem mangelnden Willen der Gegenseite, die Rechtfertigungslehre rückhaltlos anzuerkennen und aus ihr für das kirchliche Leben die nötigen Folgerungen zu ziehen. 2. Der scheinbar unwiderstehliche Siegeslauf der Reformation wurde gehemmt durch den unglücklichen Ehehandel Philipps von Hessen. Er war vermählt mit einer Tochter Georgs von Sachsen, die später in eine Krankheit verfiel, durch die sie ihrem Gatten körperlich widerwärtig wurde. Für den ihm hier versagten ehelichen Verkehr suchte er anderweitig Ersatz. Er begehrte ein Hoffräulein, das aber nur in Form einer regelrechten Ehe ihm angehören wollte. Den Reformatoren (Luther und Melanchthon) trug er den Handel vor, als ob er in schweren Gewifsensbebrängnifsen wäre und nur durch eine Ncbenehe (nach dem Vorbild alttestamentlicher Patriarchen) vor völliger Willkür zu retten sei. Diese haben in der Tat, mit Berufung

auf jenes Vorbild, schweren Herzens die erbetene Zustimmung gegeben, als einen Beichtrat, der unbedingt geheim gehalten werden müßte (hier wirkte katholische Erziehung und Gewöhnung unheilvoll nach). Natürlich blieb der Handel nicht geheim. Philipp war der Bigamie schuldig und hatte nach Reichs­ gesetz die Todesstrafe verwirkt. Er hatte sich dadurch dem Kaiser ausgeliefert und mußte Bindungen auf sich nehmen, die seine Schwungkraft und seine milstärisch-politische Bewegungsfreihest lähmten. Die Folge war, daß der Kurfürst und Erzbischof Hermann von Wied die Reformasion des Erzstiftes Köln, und der Herzog Wilhelm von Kleve die Reformasion am Nieder­ rhein aufgeben mußten. Große Aussichten versanken damit für die protestansische Sache: die Bistümer und die meisten Herrschaften nicht nur am Rhein, sondern auch in den südlichen Niederlanden und in Westfalen (Mün­ ster, Paderborn) blieben katholisch. Der Kaiser, durch diesen Erfolg ermutigt, beschloß den Angriffskrieg gegen den Schmalkaldischen Bund, und mit Hilfe des Papstes sowie der machiavellistischen Politik des ehrgeizigen Moritz von Sachsen konnte er ihn erfolgreich durchführen: den Schmalkaldischen Krieg 1546—47. Die Kriegführung der schmalkaldischen Fürsten war zögernd und kraftlos. Sie versäumten, die anfängliche Gunst der Lage auszunutzen, sei es, daß sie die böse Absicht des Kaisers nicht recht erkannten, sei es, baß sie durch falsche Rücksicht auf ihren kaiserlichen Oberherrn sich gehemmt fühlten. Mit dem erfolglosen Feldzug an der Donau gingen die reichen oberdeutschen Städte verloren. In der entscheidenden Schlacht auf der Lochauer Heide wurde der Kurfürst Johann Friedrich gefangen. Der Landgraf Philipp von Hessen, allsin übrig geblieben, mußte sich dem Kaiser ergeben, der seinen unritterlich errungenen Sieg ebenso unritterlich ausnutzte. Das Augsburger Interim von 1548 (im Leipziger Interim durch

278

Die außerdeutsche Reformation

Melanchthon wenig gemildert) bewilligte den Protestanten Laienkelch und Priesterehe (sowie eine evangelische Rechtfertigungslehre), nötigte sie aber, unter dem Namen der „Adiaphora", d. h. der an sich religiös gleichgültigen Dinge, die katholischen Bräuche bis zur Fronleichnamsprozession, sowie die Kirchengewalt der Bischöfe wieder anzuerkennen. Eine große Anzahl pro­ testantischer Prediger hat damals mit Recht geurteilt, daß diese Forderungen auf dem Gebiet der Verfassung und des Kultus gewissensmäßig abzulehnen seien! Derartige äußere Bräuche kann man aus Rücksicht auf mangelnde Reife der andern um der Liebe willen freiwillig zugestehen (wie Luther 1522 in Wittenberg gegenüber den altkirchlich Gewöhnten); man muß sie aber ablehnen, wenn sie mit Drohung und Gewalt als heilsnotwendig gefordert werden. Dann gilt es, zu bekennen und zu leiden. Danach haben damals Hunderte von charaktervollen evangelischen Geistlichen gehandelt, indem sie lieber mit Weib und Kind ins Elend gingen, statt sich dem Interim zu beugen. Die Vertriebenen fanden in Magdeburg Aufnahme. Von hier aus wurde mit Feder und Schwert tapfer Widerstand geleistet („Unseres Herrgotts Kanzlei"). 3. Moritz von Sachsen („Der Judas von Meißen") brachte durch seine zweite Schwenkung den Kaiser um alle Früchte seines Erfolges. Der Passauer Vertrag (1552) machte dem Interim und der Gefangenschaft der beiden pro­ testantischen Führer ein Ende. Karl V. dankte ab und überließ seinem jüngeren Bruder Ferdinand die Zügel. Der Augsburger Religionsfriede (1555) gewährte den Anhängern der Augsburger Konfession Religionsfreiheit; ausgeschlossen blieben die Reformierten. Auch galt die Religionsfreiheit nur für die Landesherren, nicht für die einzelnen Untertanen. Einen Zankapfel innerhalb des Vertrages bedeutete der „geistliche Vorbehalt", wonach geistliche Fürsten bei ihrem Übertritt zum evangelischen Glauben auf Amt

und Herrschaft verzichten mußten, also ihr Land nicht reformieren konnten. Die Evangelischen protestierten natürlich dagegen; denn das war freilich katholisch folgerichtig gedacht, mußte aber die konfessionelle Spaltung in Deutschland verewigen. Trotzdem ging die Reformation unter katholischen Landesherren, wie den mitteldeusschen Bischöfen und vor allem den öster­ reichischen Habsburgern, noch kräftig weiter und hätte voraussichtlich ganz Deutschland erobert, wenn nicht ausländische Kräfte (s. u. S. 294ff.) der alten Kirche zu Hilfe gekommen wären.

11. Vie außerdeutsche Reformation. § 66. Calvin.

1. Johann Calvin ist am 10. Juli 1509 als Sohn eines bischöflichen Beamten zu Noyon (Pikardie) geboren. Die Mutter ist früh gestorben; der Vater hat für die Kinder nicht viel Zeit und Liebe übrig gehabt. Die innige

§ 65f.

Interim und Religionsfriede. — Calvins Werden und Wirken

279

Wärme eines Familienlebens hat der Knabe also nicht kennen gelernt. Er wurde außerhalb des Hauses in einer befreundeten adligen Familie erzogen. Dadurch wurde ihm aristokratische Zurückhaltung und vornehmer Lebensstil aufgeprägt. Der begabte Knabe ging 1523 nach Paris, um sich dort und spater auch auf anderen Hochschulen in Grammatik, Philosophie und Theologie auszu­ bilden. Er vertauscht mit 18 Jahren auf Wunsch des Vaters die Theologie mit der Jurisprudenz, lernt nebenbei griechisch und wird im Kreis von Huma­ nisten mit dem klassischen Altertum, aber auch mit den Anregungen der deut­ schen Reformation und Luthers lateinischen Schriften bekannt gemacht. Nach dem Tode des Vaters verläßt er die Jurisprudenz und widmet sich vor­ übergehend ganz humanistischen Studien, veröffentlicht (1532) eine ge­ dankenreiche und gedankenklare Erläuterung zu Senecas Schrift „de clementia“. Wahrscheinlich bald hernach erlebt er seine Bekehrung als Durchbruch zur entschiedenen, rücksichtslosen Vertretung der reformatorischen Erkenntnis: „So tat ich nun, o Herr, was meine Pflicht war, und begab mich, erschrocken und unter Tränen mein früheres Leben verdammend, auf Deinen Weg!" Er opfert damit die Aussicht auf eine glänzende und sichere Zukunft im Gebiet der humanistischen Wissenschaft. Kühne Vorstöße zum öffentlichen Bekenntnis evangelischen Glaubens, insbesondere die von ihm inspirierte, im evangeli­ schen Geist gehaltene akademische Rede eines Freundes, als dieser sein Amt als Rektor an der Sorbonne zu Paris antrat, nötigen ihn zur Flucht und schließlich zum Verlassen des heimischen Bodens (1534). 2. In Basel widmet er sich der Ausarbeitung seines „Unterrichts im Christentum" (Institutio religionis christianae), der ersten systematischen Darstellung der christlichen Glaubenslehre nach evangelischen Grundsätzen. Sie will nebenbei die Anhänger der echten Reformation von den aufrühre­ rischen Täufern und Schwärmern deutlich unterscheiden und erhält deshalb als Einleitung eine Vorrede an König Franz, die ihm den Vorwand nehmen soll, seine evangelischen Untertanen als „Aufrührer" zu verfolgen. Von einem vergeblichen Versuch, in Frankreich wieder Fuß zu fassen, zurückkehrend, berührt er auf einer Reise nach Straßburg im Juli 1536 Genf. Hier wird er aber durch seinen Landsmann, den Prediger Farel, unter Bitten und Beschwörungen festgehalten und genötigt, ihn in der kirchlichen Aufbau­ arbeit in Genf zu unterstützen. Die Stadt Genf hatte kurz vorher mit Hilfe von Bern den Versuch des Herzogs von Savoyen, die Stadt sich und dem Bischof ganz zu unterwerfen, siegreich abgewehrt und sich deshalb, dem Beispiele Berns folgend, von Papst und Bischof gelöst und die „Reformation" eingeführt. Diese Reformation bestand zunächst aber nur in der Ierbrechung der alten kirchlichen Ordnung; denn Farel war ein feuriger Agitator, aber ohne aufbauende Kraft. Er fühlte diesen Mangel und hielt deshalb Calvin, den er auf Grund seines „Unter-

280

Die außerbeutsche Reformation

richtS" als GotteS Werkzeug erkannt hatte, als seinen zukünftigen Mit­ arbeiter fest. Calvin begann bescheiden mit biblischen Vorlesungen (Römerbries). Zum Prediger gewählt, steckte er sich daS Ziel, durch Aufstellung eines festen LehrbegriffeS und Einführung eines Kirchenregiments mit strenger Sittenzucht in der verwahrlosten Stabt Ordnung zu schaffen. DaS Glaubensbekenntnis wurde auch beschworen, aber gegen die Kirchenzucht deS jungen landftemben Predigers sträubte sich die leichtferttge Bürgerschaft. 3m Frühjahr 1538 wurde ein ihm seindlich gesinnter Rat gewählt, der beide Prediger ihres Amtes entsetzte und auSwieS. Calvin ging nach Straßburg, um dort eine Gemeinde ftanzösischer Flüchtlinge zu bedienen. Er hatte Zett genug, seinen „Unterricht" in stark erweiterter Gestalt neu herauSzugeben. 3. Calvins Theologie ist durch Luthers Schriften (Großer Katechismus, Vom geknechteten Willen) stark beeinflußt; er hat Luther auch als Lehrer anerkannt und verehrt, wirb deshalb von manchen als sein größter Schüler bewachtet, unterscheidet sich aber doch deutlich von ihm. Entscheidend ist, baß er die Beziehung deS Menschen zu Gott nicht wie Luther grundlegend als unbedingtes Verttauen (Luthers klassische Auslegung deS 1. Gebots im Großen Katechismus), sondern als unbedingten Gehorsam auffaßt. Seiner Bekehrung ging, soweit wir wissen, nicht ein verzweifelter Kampf um GotteS Gnade voraus, sondern ein Schwanken zwischen seiner huma­ nistischen Vorliebe und dem reformatorischen GotteSruf. Der Durchbruch wttd deshalb von ihm weniger als ausatmende Erlösung erlebt, denn als rückhaltlose Hingabe deS Willens an Gott. Dem entspricht eine verschiedene Bibelbewertung. 3hm fehlt Luthers deutliche Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Altem und Neuem Bund. Wenn er Gesetz und Evangelium in eins sieht, droht die Gefahr (ähnlich wie bei Zwingli), die Bibel als GotteS Gesetzbuch zu bewachten. Hinter dem allem steht eine verschiedene GotteSauffassung. Für Luther ist daS Letzte und Eigentliche an Gott seine gnädige Barmherzigkett, für Calvin seine unergründliche, all­ mächtige Majestät. Zum Kennzeichen Calvins und der Calvinisten ist die Lehre von der Prä­ destination geworben. Auch Luther hat gegenüber humanistischer Ver­ messenheit und ihrem Pochen aus die Kraft deS steten Willens die göttliche Prädestination stark betont, aber mit dem deutlichen Anliegen, daß durch sie allein (nicht durch menschliche Leistungen) rott unseres Heils gewiß würben (S.253f.). Calvin hat sich nicht gescheut,mit einer Art philosophischer Metaphysik, Augustin noch überbietend, die doppelte Prädestination (zum Glauben und zum Unglauben, zum Heil und zum Verderben) rücksichtslos zu verweten. Die Lehre von der Prädestination erscheint ihm unerläßlich zur Sicherstellung der Ehre GotteS. Die doppelte Prädestination bient dem Einen Ziel der Verherrlichung GotteS, sei eS wegen seines gerechten Gerichts

§66

Calvin, Grunbzüge seiner Lehre

281

über die (trotz der Prädestination) durch eigene Schuld Verdammten, sei es wegen des unergründlichen Erbarmens über die (ohne ihr Verdienst) zum Heile AuSerwählten. Nach den Gesetzen der Logik müßte die Prädestina­ tionslehre, weil Gott ja schlechthin alles tut, zur völligen menschlichen Passivität sühren; in Wirklichkeit hat sie, nach den Gesetzen der Psychologie, den stärksten Aktivismus hervorgerufen. Calvin selber lehrt: „An den Früchten der Berufung erkennen die Gläubigen, daß Gott sie in die Zahl seiner Kinder ausgenommen hat. ES ist doch ein Beweis, der unS einen Rück­ schluß nahelegt: aus den Früchten der Wiedergeburt ist auf den im Herzen wohnenden heiligen Geist zu schließen". Wenn also die Früchte eines frommen Lebens der Erkenntnisgrunb sind, durch den wir unserer Erwählung zum Heil versichert werden, bann wird der Mensch, dem dies ewige Heil entscheidend wichtig ist, unwillkürlich alle Kräfte anstrengen, um durch frommes, heiligmäßiges Leben sich und anderen diesen Beweis der Erwäh­ lung zum Heil zu führen! In der Abenbmahlslehre sucht Calvin wie der spätere Melanchthon zwischen Luther und Zwingli zu vermitteln. Als geschulter humanistischer Philolog« erklärt er die Textworte „baS ist" auch als „das bedeutet". Doch ist ihm das Abendmahl nicht nur eine Feier der Erinnerung, sondern eine wirklich einzigartige Selbstmitteilung Christi, der unter dem Zeichen von Brot und Wein den Gläubigen (nur ihnen!) seine verklärte Leiblichkeit zu geistigem Genuß schenkt. Zwischen Altem und Neuem Testament unterscheidet Calvin so wenig, baß er von einer Ähnlichkeit oder vielmehr Einheit beider Testamente redet und behauptet, schon die Juden hätten die Hoffnung ewigen Lebens gekannt, schon ihr Bund habe sich allein auf Gottes Erbarmen gestützt; schon sie hätten den Mittler Christus gekannt, durch den sie mit Gott Ge­ meinschaft hatten. Luthers grundsätzliche Bewegungsfreiheit in der Schrift ist ihm trotz seiner geistvollen und scharfsinnigen Bibelauslegung nicht ge­ schenkt. Bei seinen Schülern entwickelte sich deshalb die schroffste Form der Jnspirationslehre, und die reformierte Theologie neigt bis heute zum gesetz­ lichen BibliziSmuS. In Luther und Calvin haben deutsche und französische Art ihre eindrucks­ volle Ausprägung gefunden: Phantasie, Humor, unergründlicher Tiefsinn auf der einen Seite; juristischer Scharfsinn, glänzende Dialektik, «in zum Fanatismus neigender Tätigkeitstrieb auf der anderen Seite. 4. In Genf entstand nach Calvins Vertreibung, kirchlich wie politisch, hilflose Unordnung. Der kluge römische Kardinal Sadolet versuchte deshalb, durch ein äußerst geschicktes Sendschreiben die Stabt Genf zu der trauernden Mutterkirche zurückzurufen. Calvins scharfsinnig überzeugende Beantwortung erledigte diese Gefahr und steigerte in Genf sein Ansehen. Er wurde zurück­ gerufen (Herbst 1541) und konnte nun, zunächst kaum gestört, sein aufbauen-

282

Die außerdeutsche Reformation

deS Werk beginnen. Er schuf vier grundlegende Ämter: die Pastoren für die Predigt und die Sakramentsverwaltung, die Ältesten (mit den

Pastoren im Konsistorium zusammengeschloffen) für die Kirchenzucht, die Diakonen für die Liebestätigkeit, die Doktoren für den Unterricht. Entscheidend wichtig wurde das Amt der Kirchenzucht. Die Tätigkeit des Konsistoriums war sowohl Kontrolle wie Richteramt; die Ältesten hatten

Vollmacht, zur Kontrolle des Lebenswandels und zur Verhütung aller Art von Luxus in jedes Haus zu dringen und jeden Schuldigen vor ihr, in ein­ ziger Instanz entscheidendes Gericht zu fordern. Dies Gericht verhängte selbst nur geistliche Strafen, bis zu öffentlicher Kirchenbuße und Kirchenbann, konnte den Schuldigen aber auch zu weiterer Bestrafung dem weltlichen Gericht überweisen, das mit den barbarischen Mitteln der Zeit (Folterung, Verbannung, Tod durch Schwert oder Verbrennung) verfuhr. Gegen dies rücksichtslos harte Regiment regte sich allmählich eine steigende Opposition, teils von humanistischen Gelehrten, die ihre wissenschaftliche Freiheit verteidigen wollten, überwiegend aber von den Anhängern der alten, aus der katholischen Vergangenheit stammenden sittlichen Leichtfertig­ keit, die sich der ernsten Zucht der Heiligung nicht beugen wollten. Zur Ent­ scheidung kam die Krise (1553) durch den Prozeß gegen den gelehrten Arzt Servet, der das vom Reichsrecht geschützte Dogma von der Trinität in rohster Form angriff. Calvin ließ ihn, als er Genf betrat, verhaften und verlangte, unter ausdrücklicher Zustimmung der befreundeten Schweizer Kirchen, die Todesstrafe gegen den Ketzer, die von der weltlichen Obrigkeit (gegen seinen Wunsch) durch Verbrennung vollzogen wurde. Dieser große Erfolg gab ihm die Möglichkeit zu einem umfassenden Angriff auf seine Gegner, durch den die Opposition vernichtet wurde. Da er schon seit Jahren überzeugte Anhänger aus Frankreich und anderen Ländern in die Stadt aus­ genommen und eingebürgert hatte, so entstand ein neues (französiertes!) Genf, ein Gottesftaat, der von ihm beherrscht und als geistige Macbt für die Verbreitung seiner Sache eingesetzt wurde. 5. Jetzt konnte er sein letztes Werk einrichten, die Genfer Hochschule, die für den ganzen reformierten Protestantismus die theologisch gründlich geschulten Pastoren und Lehrer lieferte. In Theodor Beza gewann er einen ausgezeichneten Rektor. An 1000 Hörer aus aller Welt sammelte hier Calvin selber um seinen Lehrstuhl. Daneben verfaßte er gründliche und scharfsinnige Auslegungen zu fast allen biblischen Büchern. Sein Hauptwerk, der „Unter­ richt", wurde immer wieder erweitert und ausgebaut. Durch eine staunens­ wert umfassende Korrespondenz mit führenden Staatsmännern und gekrönten Häuptern verbreitete und verteidigte er seine Gedanken über die Schweiz, Frankreich und den größten Teil des übrigen Europa. Durch über­ mäßige, keine Schonung kennende Arbeit frühzeitig verbraucht, starb er «im 27. Mai 1564.

§66

Theokratie in Genf. — Calvins Weltwirkung

283

Luther ist der große Entdecker, das kindlich-gläubige und kindlich-sorglose Genie, der Mann, der seinen Samen für die Ewigkeit ausstreute. Calvin ist das bewundernswert große Talent, der Mann, der in vorbildlichem Fleiße mit seinem Pfunde wuchert, der kluge Organisator, der alle Mittel der Ord­ nung und Zucht in den Dienst seiner Sache stellte, und weil er gegen sich selbst unerbittlich hart war, auch gegen andere meinte bis zur Grausamkeit streng sein zu müssen. Er hat damit Männer erzogen und Waffen geschmiedet, die im bevorstehenden Kampf den Protestantismus retten sollten. Wir erläutern Calvins Glauben und Lehre durch drei Texte: Nicht äußerer Betrieb, sondern ehrliche Buße. Wer Gott wahrhaftig dienen will, muß ihm Herz und Seele darbringen; aber die Menschen suchen immer eine davon ganz verschiedene Form des Gottesdienstes zu finden: sie wollen mit ihrem Leibe Gehorsam erweisen, aber die Seele für sich behalten. Hier steckt der Grund, weshalb die Menschen lieber zahllose Dienste übernehmen und sich damit jämmerlich ohne Maß und Ziel abmühen als schlicht und einfach Gott im Geist und Wahrheit dienen. Darum ist es böswillige Verleumdung, wenn uns unsere Widersacher beschul­ digen, wir verführten die Leute durch lockere, nachsichtige Auffassung. Wenn nämlich einem fleischlich gesinnten Menschen die Wahl freistcht: alles wird er lieber wählen, nur nicht den Gottesdienst nach unserer Lehre! Von Glauben und Buße reden ist freilich leicht; aber sie in Wirklichkeit erleben ist furchtbar schwer. Wer darin den wahren Gottesdienst sieht, läßt den Menschen wirklich nicht die Zügel schießen, sondern zwingt sie zu dem, wovor sie stets am ärgsten zurückschaudern. Den deut­ lichsten Beweis dafür liefert die Erfahrung. Mit noch so vielen, noch so harten Ge­ setzen läßt man sich binden, zu mühevoller Beobachtung zahlloser Kleinigkeiten sich zwingen und ein starres, drückendes Joch sich auferlegen, kurz: alle Beschwerden nimmt man auf sich, wenn nur nicht vom Herzen geredet wird. Daraus erhellt klar genug, wie des Menschen Veranlagung nichts mehr scheut als diese geistliche Wahrheit, die wir so eifrig predigen, weil sie unter dem glänzenden Betrieb, auf den unsere Gegner so großen Wert legen, verschüttet ist. GotteS Majestät packt unS so zwingend, daß wir uns seiner Verehrung nicht versagen können, und da wir um diese Notwendigkeit nicht herumkommen, so bleibt unS nur übrig, krumme Seitenwege einzuschlagen, auf denen wir nie so recht vor sein Angesicht treten müssen; oder noch besser, wir verstecken unseres HerzenS Bosheit hinter der glänzenden Maske äußeren Betriebes, stellen körperliche Leistungen wie eine Mauer dazwischen, um nur ja nicht mit unserem Herzen zu ihm kommen zu müssen! Solche Schutzdächer läßt sich die Welt nur sehr ungern zerschlagen, und darin liegt der eigentliche Grund des Gewinsels: wir haben sie auS ihren Schlupfwinkeln, in denen sie gemütlich mit Gott ihr Spiel trieben, heraus­ gezogen an das helle Licht! (Mahnschreiben an Kaiser Karl V.)

Unbedingte Ergebung. Niemand hat baS Ziel der Selbstverleugnung erreicht, der sich nicht ganz dem Herrn übergeben hat und sich bis ins kleinste von ihm re­ gieren läßt. Wer aber diesen Sinn hat, wird kein Widerfahrnis für ein Unglück hal­ ten, noch mit Gott über fein Geschick hadern. Wie nötig dieser Sinn ist, ergibt sich

284

Die außerbeutsche Reformation

auS den zahllosen Zufällen, denen wir unterworfen sind. Es trifft uns Krankheit oder Kriegsunglück, Frost oder Hagel vernichten die Hoffnung eines ganzen Jahres, Gatten ober Kinder werden uns genommen, unser Haus durch Feuersbrunst ver­ zehrt. Das sind solche Zufälle, bei denen die Menschen ihr Leben und ihre Geburt verfluchen und Gott lästern, als wäre er ungerecht und grausam. Ein Gläubiger sieht aber auch in solchen Ereignissen noch Gottes Gnade und väterliche Freund­ lichkeit. Verödet sein Haus durch das Sterben seiner Angehörigen, so hört er doch nicht auf, dem Herrn zu danken, indem er sich etwa vorstellt: Gottes Gnade, die in meinem Hause wohnt, läßt dasselbe doch nicht öde und leer erscheinen. Hat Reif, Kälte oder Hagel die Feldfrucht geschädigt, so daß der Hunger droht, so verliert er nicht den Mut, sondern verharrt in der Zuversicht: „Wir sind dein Volk und Schafe deiner Weide" (Ps.79,13), Gott wird auch in der Teuerung Nahrung geben. Auch die Krankheit, die einen Gläubigen trifft, kann ihn durch die Bitterkeit des Schmerzes nicht brechen, so baß er etwa ungeduldig würbe oder mit Gott haderte; er wird in Gottes Züchtigung auch die Gerechtigkeit und Milde erkennen und sich so zu geduldigem Tragen ermuntern. Alles, was geschieht, weiß er durch Gottes Hand geordnet und nimmt es darum sanftmütig und dankbar an; wer alle seine Sachen in Gottes mächtige Hand gelegt hat, wirb seiner Verfügung niemals mur­ rend widerstehen.

Einen ganz besonderen Trost gewährt cs uns, wenn wir für die Gerechtigkeit Verfolgung leiben. Dann sollen wir bedenken, welcher Ehre uns Gott würdigt, indem er uns den Stempel seines besonderen Dienstes aufdrückt. Leiben um der Gerechtigkeit willen finden sich aber nicht bloß da, wo man baS Evangelium ver­ teidigt, sondern überall da, wo man irgendeine gerechte Sache zu schützen unter­ nimmt. Wenn wir unschuldig und mit gutem Gewissen durch den Frevel der Gott­ losen unserer Habe beraubt werden, so werben wir zwar bei den Menschen arm, aber bet Gott im Himmel erwächst uns Reichtum. Werden wir aus unseren Häusern gettieben, so finden wir um so mehr Aufnahme in Gottes Familie. Werden wir gequält und verachtet, so tteiben wir um so tiefere Wurzeln in Christum. Werden wir mit Schande und Schmach gebrandmarkt, so gelten wir desto höher in Gottes Reich. Werden wir hingemordet, so öffnet sich uns der Eingang zum se­ ligen Leben. Wir wollen uns schämen, solche Widerfahrnisse, welchen der Herr einen so großen Preis zuspricht, geringer einzuschätzen als die schattenhaften und flüchtigen Lockungen des gegenwärtigen Lebens. (Unterricht in der christlichen Religion III, 8.) Die Verworfenen. Wie Gott durch seine wirksame Berufung die Auserwähl­ ten zu dem Heil führt, für bas er sie in seinem ewigen Rat bestimmt hat, so übt er wider die Verworfenen seine Gerichte, um seinen Rat über sie burchzuführen. Die Menschen also, die er zu einem schmachvollen Leben und zum Tobe erschaffen hat, damit sie Werkzeuge seines Zornes und Beispiele seines strengen Gerichtes würden, führt er dadurch ihrem Ziel entgegen, daß er ihnen entweder die Gelegenheit nimmt, sein Wort zu hören, ober sie durch die Predigt desselben nur noch mehr verblendet und abstumpft.

Greist man uns mit der Frage an, warum Gott eine Anzahl von Menschen von Anbeginn zum Tode bestimmt hat, die, weil sie noch nicht waren, das Gericht des

§ 66 f.

Aus Calvins Schriften. — Calvinismus in der Schweiz

285

Todes nicht verdienen konnten, so antworte ich mit der Gegenfrage: Was war denn Gott dem Menschen schuldig, wenn man denselben nach seiner Natur einschätzen will? Sofern wir alle mit Sünde befleckt sind, kann Gott nicht anders als uns hassen, und -war nicht in tyrannischer Grausamkeit, sondern in vollkommener Ge­ rechtigkeit. Wenn um dieses natürlich sündhaften Zustandes willen alle dem Gericht des Todes verfallen sind, welche brr Herr zum Tobe bestimmt, — wie in aller Well können sie sich über eine ungerechte Behandlung beklagen? Sie können nicht dem Herrn Ungerechtigkeit zuschieben, wenn er sie nach seinem ewigen Urteil zu eben dem Tobe bestimmt, zu welchem ihre Natur, wie sie wohl fühlen, sie von selbst leitet. Dabei gestehe ich durchaus zu, was die Wahrheit ist, baß Gott der Urheber bleibt. Darum werben aber die Menschen sich nicht von Sünde fteisprechen können, die chnen immer vor Augen steht und in ihr Gewissen gebrannt ist. Aber man sengt weiter: wurden sie denn nicht zu der Verderbnis, die jetzt als Ursache der Verdamm­ nis geltend gemacht wirb, durch Gottes Verordnung zuvorbestimmt? Wenn sie also in ihrer Verderbnis umkommen, so roerbtn sie ja lediglich für die Sünde be­ straft, in welche Adam kraft Gottes Zuvorbestimmung gefallen ist, und in welche er seine Nachkommen mit hineinzog! Darauf können wir nur antworten (Röm. 9,20): „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, baß du mit Gott rechten willst?" Der Gott, welcher die Welt richtet, kann in keinem Stücke ungerecht sein. Die göttlich« Gerechttgkeit ist aber zu hoch, als baß sie nut Menschenmaß gemessen und von dem dürftigen Menschengeist begriffen werben könnte. (Unterricht III, 23.) §67. Ausbreitung der Reformation in Europa.

1. Die Schlacht bei Kappel (1531) hat das Eindringen der Reformation in die alten Orte um den Vierwaldstätter See versperrt und die kirchliche Einigung der Schweiz bis auf den heutigen Tag verhindert. Sie hat aber den Bestand der Reformation in den übrigen Kantonen nicht erschüttert. Calvin wußte sich zunächst als dankbaren Schüler Luthers und von dem stark humanistisch beeinflußten Zwingli deutlich geschieben. Später hat er

die Züricher Reformation, nicht ohne eigenes Entgegenkommen, zu sich herübergezogen. Der Protestantismus in der Schweiz wurde so auf cal-

vinistischer Grundlage geeint. Er trennt sich damit bis zum heutigen Tage als neue Konfession vom Luthertum. Die Auswirkung dieser Scheidung ist in vielen Ländern Europas deutlich zu spüren, sofern die ursprünglichen lutherischen Einflüsse durch den in Lehre und Verfassung straffer organisierten Calvinismus verdrängt oder eingeengt wurden. 2. Franz I. von Frankreich war, als typischer Repräsentant der Re­ naissance, ursprünglich den Humanisten trotz ihrer Neigung zum Luthertum nicht übel gesinnt, so baß Calvin den Versuch machen konnte, ihn für die Sache der Reformation zu gewinnen. AuS rein politischen Gründen wurde Franz zum Bekämpfer der Ketzer, zu denen er außer den politisch unruhigen Taufgesinnten auch die lutherischen Humanisten rechnete. Von Genf auS wurden dagegen" durch Briefe und Sendboten viele Hunderte von fest-

286

Die außerbeutschc Reformation

geschlossenen evangelischen Gemeinden gegründet. Die ganze Bewegung geriet durch die Lage der Verhältnisse in einen scharfen Gegensatz zum in­ tolerant katholischen Königtum. Sie fand in Vertretern deS hohen Abels charaktervolle und entschlossene Führer (Margarete von Navarra, Caspar von Coligny; die „Hugenotten"). 3. In den Niederlanden wurde der Einfluß deS Luthertums, das hier feine ersten Märtyrer fand, zeitweilig durch die Werbetätigkeit der Täufer zurückgebrängt. Die Hauptführer des phantastischen Täuferreiches zu Münster kamen aus Holland. Später verdrängte von Nordfrankreich aus der harte, zu bewaffnetem Widerstand entschlossene Calvinismus die lutherische Be­ wegung und breitete sich trotz der grausamen Ketzergesetze Karls V. und Philipps II. im Lande auS. 4. In England sagte sich der brutale Tyrann Heinrich VIII. vom Papst loS, als dieser seine Ehe mit Katharina von Arragon, die nur mit päpstlichem DiSpenS hatte geschlossen werden können, für ungültig zu erklären zögerte. Gleichzeitig unterdrückte er, der einst durch eine Streitschrift gegen Luther sich den päpstlichen Ehrentitel „defensor fidei" verdient hatte, evangelische Regungen. An demselben Galgen hingen katholische Theo­ logen, weil sie sich zum Papst, protestantische, weil sie sich zum Evangelium bekannten. Unter seinem unmündigen Nachfolger, dem Knaben Eduard VI., begannen die Staatslenker aus dem Hochabel Kultus und Dogma vorsichtig zu reformieren (1549 daS Common Prayer Book, ein Gebets- und BekenntniSbuch für Gottesdienst und häusliche Erbauung). Calvin wirkte durch seinen Briefwechsel mit den führenden Männern. Nach der kurzen Reaktion unter der „blutigen" Maria, hat Elisabeth umsichtig und tatkräftig die von Rom unabhängige englische StaatSkirche begründet, die in Lehre und Lebensform calvinischeS Gepräge trägt, während der Kultus und vor allem die bischöfliche Verfaffung mit ihrer starken Betonung der apostolischen AmtSnachfolge die katholische Überlieferung festhält, so daß hier neben Luthertum und Calvinismus ein dritter Kirchentypus entsteht, den man kaum als „protestantisch" bezeichnen kann (1563 erhält die anglikanische Kirche in den 39 Artikeln ihr Glaubensbekenntnis, daS vom Parlament genehmigt wird!). Durch den Kampf gegen die katholische Reaktion (s. u. S. 320) erhält diese von oben her gemachte Staatskirche volkstümliche Kraft. In Schottland entwickelt sich gleichzeitig, vor allem durch die Tätigkeit des calvinisch erzoge­ nen, unerbittlich harten John Knox, eine presbyterianisch verfaßte, ausge­ sprochen calvinische Kirche, zunächst im Kampf gegen daS katholische König­ tum (Maria Stuart). 5. In die nordischen Länder, Dänemark, Norwegen und Schweden, kommt schon früh die lutherische Botschaft. In Schweden wird ihr durch den Freiheitskampf Gustav WasaS gegen den dänischen Unterdrücker Chri­ stian II. der Weg geöffnet. Aber auch in Dänemark setzt sich nach Christians

§67

Ausbreitung der Reformation in Europa

287

Vertreibung baS Luthertum schnell durch. Bugenhagen gibt der dänischen Kirche ihre Verfassung. Da der Zusammenhang mit dem weit entfernten Rom nicht sehr fest ist, werden die Bistümer für die Reformation gewonnen und eS entstehen hier bischöflich verfaßte ausgesprochen lutherische Landeskirchen von einer bis zum heutigen Tage starken Bodenständigkeit und Volkstümlichkeit. Auch in den baltischen Landen drang seit 1521 daS Luthertum siegreich ein. ES ergriff nicht nur die deutsche Oberschicht, sondern vielfach auch die alteingesessene abhängige Bevölkerung, besonders unter den Letten. Ihnen bescherte die Reformation die Anfänge ihres (von Deutschen verfaßten!) Schrifttums. 6. In Polen-Litauen, in Böhmen und Ungarn ist die lutherische Saat auf­ gegangen, ohne eins der Länder ganz zu gewinnen. Später breitete sich der Calvinismus daneben aus. Beide Konfessionen auch völkisch-rassisch ge­ schieden, sofern die Deutschen lutherisch wurden, die Slaven und Magyaren vielfach calvinisch. Bis zum heutigen Tage blüht bei den „Sachsen" Sieben­ bürgens eine lutherisch geprägte Volkskirche. Die politische Herrschaft blieb in diesen Ländern bei der katholischen Kirche. 7. In Italien und Spanien sind nur geringe Regungen protestantischen Geistes zu verzeichnen. Spanien lebte noch im Mittelalter. DaS kirchliche Gesicht Spaniens ist zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch den umfassend gelehrten Kardinal ZkimeneS, Beichtvater der Königin Isabella von Kasti­ lien, Erzbischof von Toledo und Großinquisitor, geprägt worden. Im Dienst der kirchlichen und staatlichen Einheit hat er Juden und Mauren vertrieben oder mit Zwang bekehrt. Andererseits erneuerte er die Zucht in Klöstern und Pfarrhäusern, pflegte die Predigt im Gottesdienst und die kirchliche Wissen­ schaft: er gründete die Universität Alcalä und leitete die Arbeit der dort erscheinenden Polyglottenbibel (hebräisch, griechisch, lateinisch), deren griechische Textgestalt deS Neuen Testaments gründlicher als die des EraSmuS ist. Den Ablaßhandel LeoS X. lehnte er ab. So erlebte Spanien durch ihn eine Art katholischer Restauration. In Italien haben die römische Kirche sowie die Renaissance gemeinsam den Sinn für den heiligen Ernst protestantischer Verantworung vor Gott gelähmt. Die spärlichen Regungen evangelischen Geistes (die Herzogin Renate von Ferrara, die geistvolle Victoria Colonna, die Witwe PeScaraS, und ihr Kreis) wurden durch die Inquisition vernichtet.

§ 68. Die Kunst im Zeitalter der Reformation. 1. Voller Gärung und Ungeklärtheit steht die Kunst deS ausgehenden Mittelalters vor uns, die man nur halbrichtig mit „Spätgotik" bezeichnet, gibt zwar noch eine Reihe von Künstlern, die bewußt in den alten Bahnen wandeln. So malt Stephan Lochner (1430—51 in Köln tätig)

288

Das Zeitalter der Reformation

seine Madonnen noch immer auf Goldgrund in entzückender Lieblichkeit, und Fra Angelico da Fiesole (1387—1455) erschafft himmlische Gestalten mit unnachahmlicher Zartheit in goldenen Tönen. Auch Tilman Riemen­ schneider (1460—1531) schnitzt noch in seiner Himmelfahrt Mariae zu Creglingen Figuren von echt „gotischer" Haltung, die so viel volkstümliche Kraft und tiefe Frömmigkeit atmen, baß ihre Wirkung noch heute jeder Beschauer dankbar spürt. 3m allgemeinen jedoch ist diese Art der Kunst im Absterben, ein NeueS bricht sich Bahn. Jetzt beginnt man, die heiligen Geschichten und Gestalten von ihrem überzeitlichen Goldhintergrunde abzulösen und sie, in ein bürger­ liches Gewand gekleidet, in menschliche Nähe zu rücken, ohne daß zunächst dadurch daS Heilige entweiht würde. Die „lieben Heiligen" auf der Unzahl deutscher Schreinaltäre tragen jetzt die Kleidung ehrsamer Bürger und Rats­ herren deutscher Städte, und die Darstellung der Geburt Mariä wird zum Genrebilde einer Wochenstube. Der Engel Gabriel erscheint der Maria nicht mehr vor einem gotischen Kirchenportal, jetzt besucht er sie in ihrem eigenen „GehäuS", daS mit viel Liebe bis in alle Einzelheiten hinein auSgestattet wird. AuS der offiziellen Szene ist eine „intime" geworden, deren Intimität durch die neu entdeckte Kunst der Raumperspektive eigentlich erst ermöglicht wird. Deutsche und italienische Künstler dieses Jahrhunderts pflegen die Wiedergabe gerade dieses Themas mit frommer Hingebung. Auch erzählen einzelne, wie Konrad Witz (f 1447) und Filippo Lippi (1406—69), ihre heiligen Geschichten bereits vor einer Landschaft, die dem Geschehen erst die rechte Weihe gibt. Auf der „Anbetung beS Kindes" von Lippi webt daS tiefe Dämmern beS WaldeS wundersam um daS Geheimnis dieser Geburt. Die Heiligen DonatelloS aber (1386—1466) am Kampanile deS DomS zu Florenz zeigen uns schon eine seelische Problematik, die sie zu „modernen" Gestalten macht, und sein David verhüllt sich unS trotz seiner Nacktheit mehr als der bekleidete Judenjunge, den unS Verrocchio (1435—88) in kecker Dreistigkeit hinstellt. Diese Versonnenheit deS David von Donatello, die ganz mit sich beschäftigt ist, mutet an wie ein moderner Borwurf. Don dieser Kunst, deren Name „Frührenaissance" wie alle solche Klassifizierungen schief ist, führt die Entwicklungslinie hin zu Rembrandts Seelenmalerei (s- 8 75). Solch Erwachen des Selbstbewußtseins zeigt sich auch in einer Vor­ liebe für Kraftgestalten: der Ritter St. Georg wird sowohl in Italien wie in Deutschland der erklärte Lieblingsheilige; über oder neben den KirchenauSgängen malt man gern einen riesigen Christophorus als den Schützer vor jähem Tod an die Wand, und der Erzengel Michael selbst, der GotteSstreiter, wird zum NamenSpatron deS Deutschen. Auf den Grabplatten stehen die Ritter jetzt nicht mehr zaghaft in gotischen Spihschuhen, sondern breitbreinig in den modischen „Bärenklauen" da, als wollten sie Luthers „Hier

$68

Neues Werden — Nürnberger Kunst ■— Grünewald

289

stehe ich!" vorwegnehmen. Nicht mehr bloß Tafelbilder biblischen oder legendären Inhaltes werden für die Kirchen gestiftet, jetzt hängt man das eigene Wappen an den Wänden und Pfeilern der heiligen Hallen auf. Denn der Sinn für den Wert der Einzelpersönlichkeit ist erwacht, die nun anfängt, sich von der Bevormundung der Kirche, der Gesellschaft, des Ordens zu lösen, wenn sie sich auch noch in Gott gebunden weiß. So erwächst denn auch jetzt die Kunst des Porträts, die baS Mittelalter kaum kannte. Die deutschen Künstler um 1500 sind fast alle gebannt durch das Janus­ gesicht ihrer Zeit. Adam Kraft in Nürnberg (1455—1509) schafft in der Lorenzkirche ein SakramentShäuSchen in reinster Gotik, während seine berühmten Stationen auf dem Wege zum Johannisfriedhof in der Haltung der Gestalten und im ganzen Austau einen neuen freieren Geist verraten. Der Erzgießer Peter Vischer (1460—1529) entwirft und beginnt das Grab des heiligen SebalduS 1488 in durchaus gotischem Sinne; als er es aber 1519 vollendet, hat sich dazu nicht nur die antike Mythologie eingefunben, sondern die 12 Apostelfiguren (von VischerS Söhnen entworfen) stehen in einer so bewußt neumodischen Haltung da und bilden so sehr den Mittel­ punkt deS Ganzen, daß darüber das „Alte" fast verschwindet. Während Tilman Riemenschneider tief empfundene, stille besinnliche AndachtSbilder im alten Stil erschuf, tritt unS in Veit Stoß (1445—1533) wohl die zerrissenste Seele dieser Zeit entgegen: Bei ihm entladen sich ungewöhn­ liche Kraft und Sehnsucht in riesigenAltären (Krakau) und in einer unerhört kühnen, fast schon barocken Schnitztechnik (Engelgruß in St. Lorenz). Aber bei all diesen Männern trägt daS Erwachen deS Selbstbewußtseins noch nicht den Stempel des Sieges, es liegt auf fast allen — und baS ist daS Hauptkennzeichen der Zeit — die ängstliche Frage, ob dieser Gedanke der Befreiung von den alten Bindungen nicht ein Blendwerk der Hölle sei. Diese „spätgotische Angst" malt darum wirklich den Teufel in tausend Gestalten an die Wand, und die Hölle gehört mit all ihren Qualen zum ständigen Gut der Kirchenmaler. Gruseln machen will man die Besucher und erschüttern, indem man Leiden aller Art in grausigster Form vor Augen stellt. Natürlich auch die Passion Christi. Meister MathiS Neithardt (Grünewald) (um 1460 —1528), der „letzte Gotiker", richtet im IsenHeimer Altar, nachdem er unS Maria inmitten ihrer Kinderstube durch ein überirdisches Licht verklärt hat, eine Kreuzigung auf, die Grauen und Furcht erregen soll und erregt: Vor einem schiefergrauen Himmel biegen sich die Balken deS Kreuzes unter der Last deS Leidenden, nein des Gequälten. Blutige Schwären bedecken den fahlgrünen Körper, die Füße sind zu un­ förmigen Klumpen geschwollen, und in den qualvoll verkrampften Händen fühlen wir daS zuckende Grauen. Maria zerbricht in den Armen deS Johannes, während auf der andern Seite Johannes der Täufer in scharlachrotem Mantel mit gewaltigem Finger auf den Gekreuzigten zeigt. 19

Schuster, Klrchengeschichte

290

Die Zeit der ^Reformation

Wir vergessen beim Anblick dieses Leidens die wunderbare Kunst der Malerei, wir sehen nicht die Leuchtkraft der Farben, wir fühlen uns nur ge­ quält und bedrückt, da aus diesem Bilde das eine Wort mit unerhörter Wucht herauSschallt: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit!" DaS ist das religiöse Empfinden der Zeit: Angst ohne Befteiung, ohne Erlösung! ES mußte auch hier „die Zeit erfüllet werben", bis Luther als Befteier erschien. Die Unruhe der Zeit sollte ihre Ruhe finden in Gott. 2. ES gab aber noch einen andern Weg auS dieser Unruhe, nämlich den Weg zur Ruhe in der Welt. In Italien, wo die Gotik nie eine Heimat gefunden und wo man sich auch kaum durch jene „spätgotische Angst" hatte beunruhigen lassen — SavonarolaS Strafgericht wird von den Italienern nicht verstanden —, geht man heiter und sorglos mit einer fast selbstverständlichen Sicherheit eine Bahn, die zu andern Zielen führte als der deutsche Weg. Diesen Südländern erscheint die Welt nicht als ein Un­ ruhestifter, sondern als eine in sich ruhende Harmonie, als Abglanz des Menschen selbst. Nicht baS Jenseits, das Diesseits gibt die Richtung beS Lebens an. Der Mensch ist baS Maß aller Dinge. Hier hatte Frau Welt auf der ganzen Linie gesiegt. Hatte die Gotik auch weltliche Stoffe mit frommem Glanz übergossen, so wischt diese Kunst von den heiligen Gestalten nicht nur den Heiligenschein, sondern oft auch daS Heilige selbst hinweg. Denn ihr ist vielfach die Ehrfurcht verloren gegangen. Bei den Künstlern deS Quattrocento ist baS, wie wir oben sahen, großenteils noch nicht der Fall. Doch sucht sich auch hier schon der weltliche Sinn eine Bahn. DaS wird nun noch besonders dadurch gefördert, daß jetzt, in der „Renaissance", die Form zum höchsten Gesetz der Kunst erhoben wird, wobei nur zu leicht die inhaltlichen Werte an Bedeutung verlieren und vor allem bei den Künstlern eine völlig andere Einstellung zu ihrer Kunst eintritt. Die Grablegung Christi von Sandro Botticelli (1444—1510) ist ein Beispiel dafür, wie durch einen „musterhaften" Aufbau eines BilbeS die Aufmerksamkeit beS Beschauers abgelenkt und seine fromme Anteilnahme zerstört wirb, an Wien Stelle nun eine rein ästhetische Bettachtung tritt. Man braucht auch nur einmal die elegante Darstellung der FranziSkuSlegenbe von Domenico Ghirlanbajo (1449—94) mit der herben Andacht auf GiottoS Fresken zu vergleichen, um zu sehen, wohin dieser Weg führt. Je länger, je weniger kann die Unkirch­ lichkeit, ja baS Unftomme dieser Kunst verborgen bleiben. Hier erhält denn auch die „Madonna", oft gesteigert zum „Ewig Weiblichen", ein ganz anderes Gesicht als die „Mutter Maria" in Deutschland. Selbst die berühmten Madonnen eines Raffael Santi (1483—1520) bleiben meist nur schöne Frauen, wenn sie nicht, wie die Dresdener Sixtinische Madonna, als über­ irdische Schönheiten in die Wolken, d. h. wieder in eine kühle Ferne enttückt werben. Sogar bas Abendmahl von Leonardo da Vinci (1452—1519) in einem Kloster zu Mailand kann unS nicht vergessen machen, baß der Maler

§68

Italienische Renaissance — Hans Holbein

291

außer mit viel Andacht und Liebe sein Bild mit viel „Kunst" und Verstand gemalt hat. Von allen Künstlern der „Hochrenaissance" ist Michelangelo Buonarotti (1475—1564) der einzige, der großen religiösen Stoffen kon­ genial ist. In der päpstlichen Hauskapelle im Vatikan (Sixtina) schafft er in gewaltigen Deckengemälden für Julius II., den größten der Renaissancepäpste, Gottes Schöpfung in Zorn und Liebe noch einmal. Alles ist bei ihm groß und gewaltig: sein David (Florenz) wird zu einem Riesen, sein Moses (Rom) zu einem zürnenden Giganten, einem Abbild des Papstes selbst, während er in die Gestalten der Mediceerkapclle zu Florenz die Urgründe der Menschenseele hineingeheimnist hat. Mit diesem Zug ins Gewaltige, fast Gewaltsame, wird Michelangelo zum Vater des späteren Barock. In der Baukunst wird die Vertikale der Gotik mit ihrer Bewegtheit ab­ gelöst von der Horizontale, dem Symbol der Ruhe. Das eigentliche Kenn­ zeichen dieses Baustils aber wird die Kuppel (Dom in Florenz von Filippo Brunelleschi, 1377—1436, Peterskirche in Rom von Donato Bramante, 1444—1514, und Michelangelo), die auf dem Grundriß der harmonischsten Figur, auf dem Kreise, zwar zum Himmel hinauf, aber auch wieder zur Erde hinabführt. In diesen „Denkmälern Gottes" thront Gott als der schlechthin Vollkommene, als der Absolute, auch dann, wenn kein Mensch zur An­ betung in diesen Kirchen weilt. Die Menschen alle, Laien und Geistlichkeit, sind eigentlich hier nur zu Gaste. Der Kirchbau der Zeit tritt jedoch ganz zurück gegenüber dem Bau von Palästen. Denn der Renaissancemensch ist eben ein lebensfroher DieSseitigkeitsmensch, Italien ist seine Heimat. 3. Der ungehemmte Einbruch dieser Kunst- und Lebensauffassung nach Deutschland wäre hier zum Verhängnis geworden. Freilich haben die deutschen Künstler fast ohne Ausnahme der fremden südlichen Schönheit ihren Zoll zahlen müssen. Albrecht Dürer (s. u.) müht sich nach zwei Italien­ reisen jahrelang damit ab, die Formel für „den" schönen Menschen zu finden, statt sich an der Schönheit des vielgestaltigen Lebenö genügen zu lassen. Hans Holbein aus Augsburg (1497—1541) wird mehr und mehr zum reinen Renaissancemenschen, da ihm tin Grunde der religiöse Sinn fehlt. Er ist seelisch dem neutral farblosen Humanisten Erasmus von Rotterdam (s. S. 198 u. 254) verwandt, den er auch mehrmals meisterhaft malt. Die Darmstädter Madonna des Bürgermeisters Meyer zeigt gewiß im Vergleich zu Raffaels Sixtina wärmere, nämlich deutsche Töne, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Figuren „gestellt" sind. Der berühmte Totentanz ist nicht bloß vom Ernst dieses Stoffes getragen, sondern verrät auch viel Ironie und beißenden Hohn. 2m letzten Jahrzehnt seines Lebens, das er in England zubrachte, hat Holbein überhaupt keine religiösen Bilder mehr gemalt. 4. Will man erfahren, wie eine deutsche Künstlerseele aus der gotischen Angst den Weg zur Freiheit findet, so muß man Dürers Lebenswerk 19*

292

Die Zeil der Reformation

studieren. Wahre Kunst ist nicht Nachahmung, sondern Ahnung und Pro­ phetie! So erlebt Albrecht Dürer (1471—1528) in dunkelm Drange daS voraus, waS Luther bann in Wort und Tat geschaffen und verkündigt hat. Auch Dürer steht zunächst ganz unter der gotischen Angst. In seinen groß­ artigen Holzschnitten zur Offenbarung (1498) weiß er die Seelen seiner Zeit zu packen. Was Grünewald mit der Glut seiner Farben, das erreicht Dürer mit der Kraft der Linie. Da kämpft St. Michael, da brausen die apokalyp­ tischen Reiter daher- und die Hölle folgt ihnen nach, baß die Menschheit erzittert. Aber Dürer bleibt nicht in Angst und Verzweiflung stecken. Er fühlt, wie in der Passion Christi die Erlösung ruht, und zeichnet sie in fünf großen Bilderreihen. Dabei schafft er geradezu einen neuen Christustyp. Nichts mehr von der süßen Mystik mancher Gotiker 1 Aber auch der Martergedanke wird nicht in den Vordergrund gestellt. Dürer malt Jesus so, wie ihn uns die Evangelien schildern, er malt ihn so, wie Luther ihn gepredigt haben will (Freiheit eines Christenmenschen 18): „er muß also gepredigt werden, daß mir und dir daraus der Glaube erwachse und erhalten werde". So ist eS nicht verwunderlich, baß Dürer den großen Wendepunkt in Jesu Leben, Gethsemane, zwölfmal gezeichnet hat. Denn an dem Feuer dieser sittlichen Tat kann sich eigenes Feuer entzünden. Schon früh malt Dürer auch die Apostel als Streiter Gottes. 2n den Jahren 1513 und 1514 aber offenbart sich seine große fromme Seele in drei herrlichen Kupferstichen. Da reitet der christliche Ritter durchs Dunkel heim zu seiner „festen Burg". Und wenn die Welt voll Teufel wär', es muß ihm doch gelingen. ES gibt kein besseres Bild zu Luthers Kampf- und Trutzlied als diesen heldenmütigen Stich. — Aber auch Dürer bleiben die Sorgen nicht erspart. Jahrelang hat er sich abgemüht, in seiner Kunst die Gesetze der Schönheit zu ergründen, da wird er durch den Tob seiner geliebten Mutter an die Kürze und Nichtigkeit menschlichen Daseins erinnert. Eine erschütternde Kohlezeichnung voll erbarmungsloser Wahrheit gibt Zeugnis von der Liebe des Sohnes. Der aber steht vor den Rätseln des Lebens, Melancholie ergreift ihn, und nun senkt er in den wunderbaren Stich von 1514 sein ganzes Leid. Trotz alles Wissens und inmitten aller Technik muß der menschliche Genius, der da vor uns sitzt, am Ende doch gestehen: „Merke, daß wir nichts wissen können, zum Schluß erschallt doch nur die Totenglocke!" Aber auS dem fast welken Kranze des Genius sprießen HoffnungSreiser auf, in die Zukunft weisend, bis Dürer wie sein Hieronymus in der Arbeit den GotteSftieben findet. Ist eS zuviel gesagt, wenn wir diesen Dürer zu den Vorreformatoren im höchsten Sinne zählen? Aber auS dem Vorläufer wird nach Luthers Auftreten nicht etwa ein Mitläufer, sondern ein begeisterter Mitstreiter. Seine Schnitte und Stiche fliegen durch bas Land und verbreiten die refor­ matorischen Gedanken im Bilde. Leiber ist eS Dürer nie vergönnt gewesen, Luther selbst zu zeichnen, wie er gern gewollt hätte. Wir müssen unS mit

§68

Albrecht Dürer — Kirchenbau in Deutschland

293

dem meisterhaften Stiche MelanchthonS von 1526 begnügen. Im selben Jahre stiftet Dürer gleichsam als Testament seines Schaffens der Vaterstadt Nürnberg die beiden großen Bilder der „Vier Apostel": Johannes und Petrus/ Markus und Paulus. Den vier „Doktoren" der katholischen Kirche stellt er die wahren doctores evangelii gegenüber. Johannes und Paulus ganz im Vordergrund, Petrus, der „Apostelfürst" und Schutzpatron Roms, tritt ganz zurück. Fest stehen sie da, Johannes in tiefer suchender Innerlichkeit mit der Bibel in der Hand, Paulus in gesammelter Kraft auf das Schwert beS Glaubens gestützt, nicht in Verzückung, sondern in evangelischer Nüchtern­ heit. Männliche Charaktere, denn alles Heilige ist sittliche Kraft! DaS ist lutherische, baS ist reformatorische Kunst. 5. Da in den lutherischen Kirchen Schreinaltäre nicht mehr aufgestellt werben und die Reformierten alle Bilder auS den Gotteshäusern verbannen, ist eine kirchliche Plastik in den protestantischen Ländern kaum erwachsen, und auch die Tafelmalerei erlahmt unter dem Mangel an Aufträgen. Statt desien blüht die Bebilderung der Bibel in reichem Maße, wenn sich auch diese Leistungen kaum über handwerkliche Höhe erheben. „Renaisiance"kirchen werben auch in den katholischen Gebieten Deutsch­ lands nur wenige erbaut. Die Fuggerkapelle an der Annenkirche in Augsburg als erstes Denkmal der Renaissance in Deutschland (1509—12) läßt kalt. Interessant, aber fremd wirkt auch die Klosterkirche S. Luzen in Hechingen (1589). Die Renaissance kann eben doch ihre romanische Kinderstube nicht verleugnen, ihre Formensprache wird in Deutschland zuerst gar nicht recht verstanden und muß eS sich gefallen lassen, ins Deutsche übersetzt zu werden. Diese deutsche Renaissance hat bann freilich ein ganz anderes Gesicht als ihre italienische Stiefschwester. In der Hauptkirche zu Wolfenbüttel verbindet Paul Franke (1604) gute gotische Überlieferungen mit Formen der Re­ naissance in geistvollster Weise. Im allgemeinen übernahm jedoch die evan­ gelische Kirche die Kirchenbauten aus der Hand der Katholiken. Durch Einbau von Gestühl, Emporen und Kanzeln suchte man sich mit den großen gotischen Räumen abzufinden, so gut eS eben ging. Leiber zerstören die eingebauten Bänke und Emporen oft die Wirkung des Raumes, dagegen bilden die Kan­ zeln rin LieblingSgebiet protestantischer Kunst. In der Regel erscheint MoseS als der Träger, während die Bilder ober Symbole der Evangelisten die Brüstung schmücken. Die erste protestantische Kirche ist die Kapelle beS Schlosses Hartenfels zu Torgau, ein schlichter Saalbau, den Luther selbst 1544 eingeweiht hat. Der Altar ist nur eine Steinplatte, hinter der der Pfarrer amtieren soll. 3n der Kapelle beS Schlosses Wilhelmsburg zu Schmalkalden werben zum ersten Male, ganz in protestanttfchem Geiste, Altar, Kanzel und Orgel zu einer einheitlichen Gruppe zusammengefaßt (1588), was bann für viele protestantische Kirchen zum Muster wird. Ehe man die schmalkalbische Kapelle in Benutzung nimmt, wirb sie „an allen

294

Im Zeichen der Gegemeformation

Orten besungen, um zu hören, wohin sich die Cantorey am besten schicke". Die bildende Kunst gibt im Protestantismus ihre Rolle ab an die Musik.

III. 3m Zeichen der Gegenreformation. § 69. Der Jesuitenorden.

1. Ignatius von Loyola, aus altem baskischen Adelsgeschlecht, wurde bei der tapferen Verteidigung der Festung Pamplona gegen die Franzosen schwer verwundet und auf ein langdauernbeS Krankenlager ge­ worfen (1521). Die Beschäftigung mit katholischen Andachtsbüchern und Heiligenlegenden bewirkte seine Bekehrung zum Streiter Christi und der himmlischen Jungfrau. Er beschließt, sich an die höchste Aufgabe, Bekehrung der Ungläubigen im Morgenland, zu wagen, legt unterwegs, noch in Spanien, eine Generalbeichte ab und erprobt an der eigenen Person die Schulung durch die „geistlichen Übungen". Durch die Eifersucht beS päpstlichen Vertreters in Palästina abgewiesen, kehrt er nach Spanien zurück (1523) und holt mit rücksichtsloser Selbstüberwindung und eisernem Fleiß die fehlende Schul­ bildung nach, um sich bann in Spanien und Paris gründlichen philosophischen und theologischen Studien hinzugeben. Mit sechs Gefährten weiht er sich am Tage Mariä Himmelfahrt (15. August) 1534 in der Marienkirche auf dem Mont Martre dem himmlischen Herrn abermals zur Muhammedaner­ mission, aber mit der Maßgabe, sich jedem päpstlichen Befehl zu unter­ werfen. Da die Muhammedanermission sich zur Zeit als undurchführbar erweist, wendet er sich karitativen und volksmissionarischen Aufgaben zu, bis ihm in der Ketzerbekehrung ein neues Ziel gesteckt wird. 1540 wird der Orden bestätigt, Ignatius fein erster General. 2. Die Compagnia bi Jesu, wie der Orden sich nannte, ist auf dem mili­ tärischen Prinzip straffer Organisation und unbedingten Gehorsams auf­ gebaut. Sie ist gegliedert in „Novizen" (zweijährige Probezeit), „Scholastiker" (Studenten auf der Ordensschule, langjähriges Studium in Rhetorik, Literatur, Grammatik, Physik und Mathematik, Philosophie und Theologie), geistliche „Koadjutoren" (Rektoren, Professoren, Missionare u. dgl.) und „Professen". Letztere tragen ihren Namen daher, weil sie vier Gelübde ab­ gelegt haben, außer den drei üblichen Mönchsgelübden noch das des unbe­ dingten Gehorsams gegen den Papst. Sie bilden die höchste Auslese beS Ordens, sind die Mitglieder der regierenden Generalkongregation. AuS ihrem Kreise werden alle höchsten Führer genommen, an ihrer Spitze der mit un­ umschränkter Vollmacht auSgestattete General. Höchste Tugend beS Ordens ist der unbedingte Gehorsam gegen die Vorgesetzten. Der Jesuit muß dem Oberen gehorchen „wie ein Leichnam, der sich auf jede Seite wenden läßt, wie ein Stab, der jeder Bewegung folgt, wie ein Wachskügelchen, das

§69

Ignatius von Loyola und sein Orden

295

sich in jede Form drücken laßt": Kadavergehorsam. Diese Disziplin wird Lurch ein raffiniert ausgebautes Überwachungs- und Spitzelsysiem unter­

stützt, das selbst vor den höchsten Führern nicht halt macht.

Die geistige Haltung des Jesuitenordens wird gekennzeichnet durch das Motto: „In der Welt, doch nicht von der Welt". Er unterscheidet sich von allen bisherigen Orden grundsätzlich dadurch, daß sein Zweck nicht die Weltflucht der Mitglieder ist, überhaupt nicht die Rettung der eigenen Seele (durch Weltflucht), sondern vielmehr die Ausbreitung des Reiches Gottes, das mit der römischen Kirche gleichgesetzt wird. Die Compagnie Jesu ist also die Gardettuppe im Kampf für die Papstkirche. Diesem Ziel werden alle Mittel angepaßt. Askese wird nur geübt, soweit sie den Willen stählt und den Leib zum gehorsamen Diener des Willens macht. Die weltliche Kultur wird nicht verachtet, sondern alle weltliche Wissenschaft, die jeweils modernste am sorgsamsten, studiert und gepflegt. Damit sie aber nur Mittel zum Zweck sei, wird der Jesuit durch die alljährlich zu wiederholenden vier­ wöchigen geistlichen Übungen im Sinne der römischen Kirche gründlichst geschult: Die Heilstatsachen der biblischen und kirchlichen Überlieferung wer­

den ihm durch den Exerzitienmeister nach einem psychologisch raffiniert ausgedachten System in einer so lebhaften Ausmalung vor die Phantasie gestellt, daß er sie zu sehen und zu hören, zu riechen und zu schmecken meint und der Wille dadurch immer fester geformt wird. So entsteht ein mittelalterlich katholischer Mensch, versehen mit allem Rüstzeug modernster Kultur und Wissenschaft, bis zur weltlichen, weltmännischen Kleidung. „Das alte Mönchtum und ebenso die fianziskanische Bruderschaft verkörpern ein besonderes religiöses Lebenöideal, das Benediktinertum die militia Christi, das Franziskanertum die imitatio Christi; und beide suchen dieses Ideal im engsten Gemeinschaftsleben, ttn Leben der Ordenssamilie zu verwirklichen. Das Jesuiten­ tum hingegen besitzt kein selbständiges christliches Lebensideal, es hat nur ein Ziel, die Behauptung und Stärkung der hierarchischen Kirche. Die Compagnie Jesu stellt überhaupt keinen Mönchsorden dar, sondern einen bloßen kirchlichen Zweck­ verband. Während dem alten Mönchtum der Gemeinschastsgedanke wesentlich ist, löst der Jesuitenorden den Gedanken der Mönchsfamilie auf. Es ist so bezeich­ nend, daß der Jesuitenorden das gemeinsame Chorgebet beseitigt hat, dieses Ein­ heitsband alles monastischen Frömmigkeitslebens. Und er konnte und mußte das tun, weil es ihm nur auf den einzelnen ankam, der ein gefügiges Werkzeug im Dienste der Hierarchie werden sollte. Durch einen jahrelangen Willenstraining wird der jesuitische Novize so erzogen, daß er gleich einem Leichnam (ac si cadaver esset — Const. 6,1) in allen: seinen Oberen gehorsam ist. Aber dieser Gehorsams­ gedanke ist ein ganz anderer als der des älteren Mönchtums; er steht nicht im Dienste eines an sich überkirchlichen religiös-ethischen Ideals, sondern geht im Kirchengedanken auf, und zwar im veräußerlichten, politisierten Kirchen­ gedanken." (Friedrich Heiler, Der Katholizismus S. 466.)

296

Im Zeichen der Gegenreformation

3. Der Orden begann seine Tätigkeit als eine Gesellschaft für innere und äußere Mission. Er griff die Aufgaben an, die von der verweltlichten Hierarchie vernachlässigt waren : Predigt, Unterricht, Seelsorge, Waisen­ pflege und Heibenbekehrung. Die Jesuiten vermieden möglichst die Wahl zu hohen Kirchenämtern, weil sie dann zu unliebsamen Kompromissen ge­ nötigt gewesen wären. Sie erstrebten aber die einflußreichen Stellen als Beicht­ väter regierender Fürsten, um aus dem Hintergrund unbemerkt die Politik in ihrem Sinne zu lenken. Sie bemühen sich nicht um Volksschulen und Volksbildung, aber um Gymnasien und Hochschulen, um so die einfluß­ reichen und regierenden Schichten in ihrem Sinne zu erziehen. Daneben haben sie Großes geleistet auf dem Gebiet der äußeren Mission, in Südamerika sowohl wie in Ostasien, wobei freilich der Grundsatz „in der Welt" sie zu bedenklichen Anpassungen an die Vorstellungen und Bräuche ihrer heid­ nischen Zöglinge verführte, so daß den auffallenden Erfolgen die letzte Echtheit fehlte. Sie breiteten sich zunächst in Italien und Spanien aus, bald auch in Frankreich und Deutschland. 1544 zählte man neun jesuitische Nieder­ lassungen in ganz Europa, zehn Jahre später bereits acht Ordensprovinzen, die von den japanischen Inseln bis zur brasilischen Küste reichten 1 Nach Deutschland kamen sie zuerst 1540 gelegentlich der von Karl V. ange­ regten Religionsgespräche (s. o. S. 277). Der deutsche Jesuit Canisius wurde der Vater der deutschen Jesuitenarbeit. DaS Collegium Germanicum in Rom (seit 1552) bildete die Sendboten für Deutschland aus. Der Stützpunkt für die deutsche Arbeit wurde Ingolstadt. Von hier auS wurden die weiteren Kollegien gegründet, in Wien, Prag, München, Mainz, Trier, Köln, Würz­ burg usw. Die Gesellschaft entwickelte sich immer mehr zu einem Kampf­ orden gegen die lutherisch-calvinische Ketzerei. Hinter dieser vielseitigen, aufopfernden und zähen, bald auch erstaunlich erfolgreichen Arbeit lebte als treibende Kraft die brennende Glut einer unheimlichen, sinnlich-übersinnlichen mystischen Frömmigkeit, die bald auch in entsprechenden Schöpfungen der Kunst, in Malerei, Plastik und Architektur ihren sichtbaren Ausdruck fand (s. u. S. 314). Sie ist dem Orden durch seinen Gründer eingestiftet. In ihm verband sich soldatische Disziplin und hellwache strategische Umsicht mit der verzehrenden Glut einer unheim­ lichen dämonischen, mystischen Frömmigkeit. Diese merkwürdige Mischung erklärt seine wunderbaren Erfolge. 4. Am meisten bekannt und umstritten ist die Jesuitenmoral. Sie ist keine Erfindung beS Ordens; in ihr kommt nur das katholische Moral­ prinzip zu seiner vollendeten Gestalt. Sie ist baS genaue Gegenstück zu der protestantischen Gewissensethik, die in Kants kategorischem Jmperafiv ihre berühmte philosophische Gestaltung gefunden hat. In der Jesuiten­ moral kommt es nicht auf die Reinheit beS Gewissens und auf die Über-

§69

Arbeit und Moral der Jesuiten

297

zeugungSkraft deS Glaubens an, der den Erfolg mit grenzenlosem Vertrauen Gott anheimstellt. Sn der Jesuitenmoral kommt alles auf den Zweck an, di« Ehre und den Nutzen der Kirche (die mit Gott und seinem Reiche gleich­ gestellt wird). Diesem Zweck werden alle Mittel untergeordnet. Die berühmte Formulierung: „Der Zweck heiligt die Mittel" findet sich freilich buchstäblich in ihren Schriften nicht: die Sache wird überall vorausgesetzt. DaS Ver­ werfliche daran ist nicht der formelle Grundsatz, sondern die doppelte Tat­ sache, daß als letzter Zweck nicht das ewige GotteSreich, sondern die irdische Papstkirche erscheint, und daß diesem Zweck auch sehr anfechtbare Mittel dienstbar gemacht werden. Als Auswirkung dieses Systems ergeben sich folgende einzelne Grund­ sätze: 1. Der Kadavergehorsam, der den Handelnden zwingt, gegebenen­ falls auch sein Gewissen zum Schweigen zu bringen. 2. Die Kasuistik, d. h. der Versuch, alle nur denkbaren Fälle sittlichen Handelns aufzuzählen und für sie bindende Anweisung zu geben. Dadurch wird der Handelnde von der Führung deS in Moraltheologie gelehrten Priesters abhängig gemacht, statt daß man ihn zu gewissensmäßiger Mündigkeit erzieht, die ihn befähigt, be­ stimmte große Grundsätze in verantwortlicher freier Entscheidung auf baS Leben anzuwenden. 3. Der ProbabiliSmuS. Hiernach soll der Laie in schwierigen Fällen nicht seiner Vernunft und seinem Gewissen folgen, son­ dern nur fragen, ob er eine kirchliche Autorität findet, welche die von ihm gewünschte Entscheidung decken könnte. Der Mensch wird also verführt, seiner Neigung auch gegen baS bessere Gewissen zu folgen! 4. Die Lehre von der Absichtslenkung, die eS den Menschen erlaubt, eine an sich kirchlich ver­ botene Handlung zu begehen, wenn nur die Absicht auf ein erlaubtes Ziel gelenkt wird (z. B. ein Duell anzunehmen, indem die Absicht auf die Ver­ teidigung, d. h. die erlaubte Notwehr, gelenkt wirb). 5. Die Lehre vom geistigen Vorbehalt (reservatio mentalis), die eS den Menschen erlaubt, durch irgendeine Verschweigung oder eine doppeldeutige Redewendung die Wahrheit zu verbergen. Hierdurch werden die Menschen angeleitet, nicht bloß andere, sondern sich selbst zu belügen, indem sie sich einbilben, bei der Wahr­ heit geblieben zu sein.

Diese Jesuitenmoral entspringt ganz deutlich dem Bestreben, den Beicht­ kindern entgegenzukommen, ihnen den Gehorsam leicht und bequem zu machen, sie kirchlich zu gängeln, aber an einem Zügel, den sie möglichst wenig spüren. ES wird hieran deutlich, daß die Schöpfer dieser Moral Gott und seine Wahrheit der Ehre und dem Nutzen der römischen Kirche gleich­ setzen. Deshalb ist eS eine Aftermoral und der schneidende Gegensatz zu dem EthoS deS Evangeliums und protestantischer Lehre. Der Orden wird freilich nur dann richtig und gerecht beurteilt, wenn man auch seine Beweise echt christlicher Frömmigkeit würdigt wie die der englischen MissionSpriester (vergl. S. 320).

298

Im Zeichen der Gegenreformation

§ 70, DaS Konzil von Trient. 1. Seit Luther zu Augsburg (1518) an ein deutsches Konzil appelliert und in der Schrift „An den christlichen Adel" ein Programm für dies Konzil entworfen hatte, verstummte diese Forderung in Deutschland nicht mehr, zumal auch der Kaiser eine gründlich reformierte katholische Kirche zur ein­ heitlichen Grundlage seines WeltteicheS machen wollte. Der erste Versuch 1537, ein Konzil nach Mantua zu berufen, scheiterte (Luthers Schmalkaldische Artikel). Erst Paul III., der den Jesuitenorden bestätigt und die In­ quisition erneuert hatte, brachte daS Konzil zustande, daS am 13. Dezember 1545 in der deutschen Stadt Trient durch den päpstlichen Legalen eröffnet wurde. Der Gegensatz zwischen Papst und Kaiser ist durch die ganze Geschichte deS Konzils zu verfolgen. Karl V. wünschte, daß man den Protestanten ent­ gegenkomme und deshalb zuerst die nötige Reform der kirchlichen Verwal­ tung verhandele. Der Papst wollte die Kirche gegen die Protestanten ab­ sperren und deshalb zuerst die Lehre im antiprotestantischen Sinne festlegen. Man beschloß, beide Fragen nebeneinander zu verhandeln. Abgestimmt wurde nicht wie zu Konstanz nach Nationen, sondern nach Köpfen. Die papstfreund­ lichen Italiener hatten deshalb ein starkes Übergewicht, wurden aber durch

die Opposition der spanischen und anderen Bischöfe öfter schwer bedrängt. In steigendem Maße erlangten die Jesuiten beherrschenden Einfluß („der heilige Geist kam alle 8 Tage im Felleisen von Rom", vom OrbenSgeneral). DaS Konzil ist in drei Perioden verlaufen: 1. Dezember 1545 bis März 1547, schwach besucht, aber bedeutsam durch wichtige Entscheidungen; 2. Mai 1551 bis April 1552, Aussicht auf Beteiligung der Protestanten, deren Vertteter teils schon zugegen (Kurbrandenburg, Württemberg), teils unterwegs waren (Melanchthon). ES wurde auseinandergesprengt durch den über­ raschenden Vormarsch deS Moritz von Sachsen; 3. Januar 1562 bis Dezember 1563, stark besucht, jesuitisch geleitet; die protestantische Gefahr behoben, da die im Augsburger ReligionSftieden anerkannten Protestanten die Be­ teiligung ablehnten. 2. DaS Tridentiner Konzil hat die dogmatische Entwicklung der römisch-katholischen Kirche im wesentlichen zum Abschluß gebracht. DieS geschah in der durch die innerkatholischen Spannungen nahegelegten in­ direkten Form, daß man nämlich die der römischen Lehre entgegenstehenden protestantischen Grundsätze verdammte. Auf diese Weise verurteilte man daS Formalprinzip deS Protestantismus (die heilige Schrift alleinige Quelle der Wahrheit), indem man die Tradition der Kirche als gleichberechtigt neben die Bibel stellte, die lateinische Vulgata als maßgebliche Bibelübersetzung bezeichnete und ihre römische Auslegung sicherte. Verurteilt wurde ebenso daS Materialprinzip der Reformation (Rechtfertigung aus Glauben allein), indem man erklärte, die Rechtfertigung sei nicht eine unverdiente.

§70

Das Konzil von Trient, Dogmen und Reformen

299

der Gnade Gottes zu dankende Gerechterklärung des Sünders, sondern eine wirkliche Gerechtmachung, die durch Zusammenwirken der Gnade Gottes mit den menschlichen Leistungen erreicht würde. Demgemäß wurde die Erbsünde abgeschwächt, damit die Kraft des freien Willens zu verdienst­ lichen guten Werken übrig bleibe. Die Zahl der Sakramente wurde jetzt end­ gültig auf die heilige Siebenzahl festgesetzt. Es wurde behauptet, sie seien sämtlich von Jesus Christus eingesetzt und wirkten, auch ohne persönlichen Glauben, bloß durch den korrekten Vollzug der Handlung (ex opere operato). Insbesondere wurde die Lehre von der Transsubstantiation sowie der Opfer­ charakter der Messe festgelegt, die Anbetung der Hostie eingeschärft und die Fronleichnamsprozession zu einer antiprotestantischen Herausforderung gestaltet. In allen diesen Punkten wurde nichts Neues geschaffen, es wurde nur das, was bisher verbreitete oder allgemein angenommene „Lehrmeinung" gewesen war, zum offiziellen, kirchlichen „Dogma" erhoben, das kein katho­ lischer Christ, bei Verlust der ewigen Seligkeit, bewußt ablehnen darf. Damit hat die katholische Kirche sich jeder kommenden Reformation grundsätzlich versperrt. An neuen Dogmen sind später nur noch die Lehre von der unbe­ fleckten Empfängnis Mariä (1854) und von der Unfehlbarkeit des Papstes (1870) hinzugekommen. 3. Durch das Drängen Kaiser Karls V., mehr noch Ferdinands, sind gewisse Reformen der kirchlichen Verwaltung und des kirchlichen Lebens erreicht worden. Der Ablaßhandel und die Ämterhäufung wurden verboten, die Zucht in den Klöstern und im Klerus erneuert, auch die schlimmsten Mißstände bei der Heiligen-, Reliquien- und Bilderverehrung abgestellt. Die Reformation bewirkte also indirekt auch eine Reform der katholischen Kirche. Es war der Kurie und den Jesuiten freilich nicht gelungen, das Kurialprinzip der Kirchenverfassung formell zum Siege zu bringen; man konnte die Lehre nicht durchdrücken, daß die Bischöfe ihre Autorität nicht unmittelbar von Christus, sondern nur vom Papst hätten und dieser der unfehlbare Uni­ versalbischof der ganzen Kirche sei. In Wirklichkeit aber siegte doch der Papst­ gedanke über das Bischofssystem von Konstanz und Basel; denn das Konzil bat in seiner letzten Sitzung um die Bestätigung seiner Beschlüsse durch den Papst und überließ der Kurie die gesamte praktische Auswirkung und An­ wendung. Diese hat daraufhin nacheinander herausgegeben: 1. das Ver­ zeichnis der für den katholischen Christen verbotenen Bücher (Index librorum prohibitorum); 2. die Formulierung eines Tridentinischen Glaubensbe­ kenntnisses, das jeder katholische Kleriker abzulegen hat; 3. eine kurze Dar­ stellung der Lehre für den Unterricht (Catechismus romanus); 4. das für alle Geistlichen bestimmte Gebetbuch (das römische Brevier); 5. eine für alle katholischen Kirchen maßgebliche Form der Gottesdienstordung und

300

Im Zeichen der Gegenreformation

endlich 6. die verbindliche, dem Urtext gleichgestellte, in Wirklichkeit ihn

ersetzende Form der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung. Mit dem Tridentinum ist also die episkopale Richtung der römischen

Kirche überwunden, die Hoffnung aus eine Verständigung mit den Prote­ stanten begraben; die kirchliche Einigung in Deutschland ist also nur durch

Vernichtung des Protestantismus zu erreichen, und zu diesem Kampf ist die römische Kirche gerüstet. Das sollen einige Proben aus den Beschlüssen des Konzils belegen. Glaube und Werke. Wer sagt, allein durch den Glauben werbe der Gottlose

ober der Sünder gerechtfertigt, so baß er meint, es werde nichts anders erfordert,

bas mithelfe, um bie Gnade der Rechtfertigung zu erlangen, und es sei keineswegs

nötig, baß man sich durch seinen eignen Willen dazu in den Stand setze, der sei verflucht. — Sagt jemand, der rechtfertigende Glaube sei nichts anders als das Ver-

ttauen auf Gottes Barmherzigkeit, bie bie Sünden um Christi willen erläßt, d. s. v. — Sagt jemand, ein wiedergeborener und gerechtfertigter Mensch könne sich auf

Grund seines Glaubens versichert halten, er gehöre zu den Prädestinierten, d. s. v. — Sagt jemand, bie empfangene Gnade könne nicht bewahrt und auch in Gottes

Augen nicht gemehrt werben durch gute Werke, sondern die Werke selbst seien nur Früchte und Zeichen der erlangten Gerechtigkeit, nicht auch ein Mittel, diese zu

mehren, b. s. v. — Sagt jemand, nach Erlangung der Gnade der Rechtfertigung werde jedem reuigen Sünder bie Schuld so erlassen und die ewige Strafe so aufge­ hoben, baß er keine zeitliche Sttafe hier auf dieser Welt ober in der zukünftigen im Fegefeuer mehr abzubüßen brauche, bevor er in bas Himmelreich eingehen könne, b. s. v. Die Sakramente. Sagt jemand, die Sakramente des neuen Bundes seien nicht alle von Jesus Christus unserem Herrn eingesetzt ober es seien ihrer mehr ober weniger als sieben, nämlich Taufe, Firmung, Eucharistie, Buße, letzte 2lung, Priesterweihe und Ehe, ober auch eins von diesen sieben sei nicht wahrhaftig und

wirklich ein Sakrament, der sei verflucht. Sagt jemand, durch selbige Sakramente des neuen Bundes würbe die Gnade nicht vermöge des getanen Werks (ex opere operato) verliehen, sondern der Glaube

an die göttliche Verheißung genüge zum Empfang der Gnade, der sei verflucht.

Von der Transsubstantiation. Weil aber Christus unser Erlöser gesagt hat, bas was er unter der Gestalt des Brotes reichte, sei wahrhaftig sein Leib, so war es stets in der Kirche Gottes die Überzeugung, und jetzt erklärt es diese h. Synode

abermals, daß durch die Weihe des Brotes und Weines eine Umwandlung der ganzen Substanz des Brotes in die Substanz des Leibes Christi unsres Herrn ge­

schehe und der ganzen Substanz beö Weins in bie Substanz seines Blutes, welche Verwandlung zutteffend und eigentlich von der heiligen katholischen Kirche Transsubstantiation genannt worden ist. Es bleibt daher keine Möglichkeit zu zweifeln, daß alle Christgläubigen nach der in der katholischen Kirche stets angenommenen Sitte den Kultus der Anbe­

tung, der dem wahren Gott geschuldet wirb, diesem heiligsten Sakrament in Ehr­

furcht erweisen sollten ... Jährlich soll dieses herrliche und verehrungswürbige Sakrament an einem besonderen und festlichen Tage mit besonderer Ehrfurcht und

§ 70 f.

Aus den Konzilsbeschlüfsen — Erneuerung der katholischen Kirche

301

feierlich begangen werden und in Prozessionen ehrerbietig und würdevoll durch die Straßen und öffentlichen Plätze herumgetragen werden . •. Und so sollte freilich die siegreiche Wahrheit über die Lüge und Ketzerei triumphieren, damit chre Wider­ sacher beim Anblick so großen Glanzes und in eine so große Freude der Gesamt­ kirche hineingestellt, entweder geschwächt und gebrochen vergehen oder von Scham erfaßt und bestürzt endlich wieder zu sich kommen. Von der Kommunion unter beiderlei Gestalt. Sagt jemand, die heilige katholische Kirche sei nicht durch gerechte Ursachen und Gründe dazu gebracht worben, daß sie die Laien und auch die nicht amtierenden Kleriker nur unter der Gestalt des Brotes kommunizieren ließe, ober sie habe darin geirrt, der sei verflucht.

Vom Meßopfer. Weil in diesem göttlichen Opfer, das in der Messe vollzogen wird, der nämliche Christus enthalten ist und unblutig geopfert wird, der am Kreuzesaltar einmal sich selbst blusig geopfert hat, so lehrt die h. Synode, daß dieses Opfer wahrhaft ein Sühnopfer sei... Deswegen wird es nach der Überliefe­ rung der Apostel mit Recht nicht allein für die Sünden, Strafen, Genugtuungen und andere Bedürfnisse der lebenden Gläubigen, sondern auch für die in Christo ge­ storbenen und noch nicht völlig Gereinigten dargebracht. § 71. Die Gegenreformation.

1. Der Jesuitenorden ist das Geschenk Spaniens an die katholische Kirche. Aber gleichzeitig regen sich auch in Italien neue religiöse Kräfte der alten

Kirche. Die Plünderung Roms durch die deutschen Söldner (Saeco di Roma

1527) macht dem leichtfertigen, weltförmigen Renaissanceleben am päpst­ lichen Hof ein Ende. Das Kardinalskollegium wurde durch Berufung from­

mer und gelehrter, streng kirchlich gesinnter Männer erneuert (Caraffa, der

spätere Paul IV ). Unter ihrem Einfluß wurde schon 1542 durch den per­ sönlich noch weltlich gesinnten Paul III. die Inquisition neu begründet und wirksam ausgestaltet, um dem Abfall, der auch in Italien drohte, zu

steuern. In seiner Familien- und Jtalienpolitik war Paul III. bedenkenlos bis zu treulosem Verrat des Kaisers und der Kirche: sein stetes Werben um Franz von Frankreich, den Bundesgenossen der Türken! Typus eines neuer; Ge­

schlechtes von Bischöfen und Kardinälen ist dagegen der Erzbischof Borro­ meo von Mailand (t 1584), der durch Hebung der Sittlichkeit seines Klerus

und vielfache Werke der Barmherzigkeit in der Laienwelt eine überschweng­

liche Verehrung weckt, die dem kirchlichen Ansehen zugute kommt (Borromäus-Enzyklika S. 407). Zeugnis der neubelebten katholischen Frömmigkeit

sind auch eine Reihe neuer Orden, die zu großem Einfluß gelangen: die Kapuziner, eine Abzweigung der Franziskaner, die Barmherzigen Brüder,

die sich mit vorbildlicher Hingebung der Krankenpflege widmen, und die durch Borromeo geförderten Ursulinerinnen, die sich durch Erziehung der

weiblichen Jugend große Verdienste erwerben. Gleichzeisig wird auch die Verwaltung der päpstlichen Kurie gründlich erneuert und damit auf den

beginnenden Kampf eingestellt.

302

Sm Zeichen der Gegenreformation

2. Die erneuerte katholische Kirche trifft daS Luthertum in einem schlecht gerüsteten Zustand. Es hat sich freilich noch weithin ausgebreitet, aber seine innere Kraft ist durch theologische Streitigkeiten gebunden. Luthers Epigonen wollen den Meister übertrumpfen, sie verketzern Melanchthon und seine Freunde als öffentliche oder heimliche „Calvinisten". Der Streit dreht sich wesentlich um die Lehre von der doppelten Prä­ destination und um die leibliche Anwesenheit Christi im Abendmahl. Dieser Streit wird durch die Formula Concordiae (1577) im Sinne eines ent­ schiedenen, aber besonnenen Luthertums beigelegt. Ium 50jährigen Ge­ dächtnis der Augsburger Konfession erscheint das Konkordienbuch, eine Sammlung der für das Luthertum verbindlichen Bekenntnisse. Es enthält 1. die drei altkirchlichen Symbole: Apostolikum, Nicaenum, Athanasianum (nicht von Athanasius herrührend, sondern im lateinischen Abendland, wahr­ scheinlich im 6. Jahrhundert, entstanden: eine pedantisch ausgebildete Trinitäts- und Zweinaturenlehre wird hier als heilsnotwendig eingeschärft); 2. drei Schriften Luthers: die beiden Katechismen und die Schmalkaldischen Artikel; 3. drei Schriften MelanchthonS: das Augsburger Bekenntnis, seine Apologie und den Artikel von der Gewalt des Papsttums (angenommen zu Schmal­ kalden 1537); 4. die Konkordienformel. Damit hat daS Luthertum sich gegen den Calvinismus abgegrenzt, eS hat die Substanz der Lehre bewahrt, hat aber die innere Lebendigkeit des lutherischen Glaubens eingebüßt; wichtige Gebiete wie die Pfalz und den Niederrhein hat es verloren. 3. Die Gegenreformation in Deutschland wirb eröffnet durch Papst Gregor XIII. (1572—1585), den Schöpfer des gregorianischen Ka­ lenders. Der Mißerfolg des Kölner Erzbischofs Gebhard Truchseß von Walbburg, der sein Stift evangelisch machen wollte, bestätigt den Sieg der Gegenreformation nicht nur in Köln und am Niederrhein, sondern auch in den westfälischen Bistümern Paderborn und Münster. Wenig später wird in Würzburg (Julius Echter von Mespelbrunn) und Bamberg der Protestan­ tismus unterdrückt mit Hilfe beS Grundsatzes „cuius regio, eins religio“. Noch verhängnisvoller wirkt sich dieser Grundsatz in den innerösterreichischen Landen auS. Erzherzog Ferdinand (Kaiser seit 1619) feierte bei seinem Einzug in Graz mit seinem Hof die Meffe allein, rottete aber mit brutaler Gewalt in wenigen Jahren den Protestantismus völlig aus. Mit ihm wett­ eiferte sein Vetter Maximilian von Bayern, Jesuitenzögling wie er. Um 1570 waren mindestens drei Viertel der Bevölkerung Deutschlands evangelisch. 30 Jahre später sah daS Bild ganz anders auS. Bayern und ganz Inner­ österreich (Steiermark, Kärnten und Kram) waren äußerlich wieder rein katholisch; ebenso die großen geistlichen Gebiete beS Nordens: Köln, Pader­ born, Münster, Eichöfeld und Fulda; im Süden Würzburg, Bamberg und Salzburg, die alle schon überwiegend evangelisch gewesen waren. Dieser fanatische Haß löste den 30jährigen Krieg auS. Diese furchtbarste

§71

Konkordienformel — Gegenreformation in Deutschland

303

Katastrophe Deutschlands ist wesentlich aus dem unseligen religiösen Hader, aus dem zügellosen Machttrieb, der den demütigen Glauben verfälschte, hervorgegangen. Doch mischten sich damit von Anfang an rein politische Machtinstinkte, die schließlich beinah alles überwucherten. Das Vorspiel bil­ dete die Vergewaltigung der freien evangelischen Reichsstadt Donauwörth

durch Maximilian von Bayern, der, um die Störung einer katholischen Prozes­ sion zu strafen, mit dem evangelischen Glauben auch die politische Selb­ ständigkeit der Stadt vernichtete. In der protestantischen „Union" und der katholischen „Liga" traten die beiden Parteien gerüstet einander entgegen. Seinen Anfang nahm der Krieg in Böhmen. Der kaiserliche „Majestäts­ brief", der den Ständen weitgehende religiöse Selbständigkeit zusicherte, wurde mehrfach gröblich verletzt. Das trieb das böhmische Volk in den Aufruhr gegen das Habsburger Haus. Der böhmische Krieg ging verloren nicht nur wegen der Unfähigkeit des „Winterkönigs", sondern auch wegen der feigen Politik Kursachsens, das dem calvinischen Pfälzer die unerläßliche Hilfe versagte. Tilly und Wallenstein machten Ferdinand H. zum unbeschränk­ ten Herrn des Reiches. Das R e st i t u t i o n s e d i k t von 1 629 schien den Protestan­ tismus zu vernichten, da es die Rückgabe großer, protestantisch gewordener Kirchengebiete verfügte. GustavAdolf brachte die rettende Wendung. Haben ihn auch politische Gründe, im Dienste der schwedischen Sicherheit und Macht, mit zum Eingreifen in den deutschen Krieg bestimmt, so ist doch an der Echtheit seines persönlichen evangelischen Glaubens und seines Wunsches, dem bedrängten Evangelium in Deutschland zu helfen, kein Zweifel erlaubt. Nach seinem Heldentode bei Lützen verliert sein Heer die innere Jucht und der Krieg jeden tieferen Sinn. Die endgültige Behauptung des Luthertums wurde mit der Zerstörung Deutschlands bezahlt. Die regierenden Herren (Brandenburg und Kursachsen) haben schmählich versagt: die schlichten Pfar­ rer haben vielfach im Ertragen unmenschlicher Leiden und in entsagend treuer Versorgung ihrer Gemeinden Bewunderungswürdiges geleistet. 4. Der Westfälische Friede bestätigte im wesentlichen den Augsburger Religionsfrieden. Er brachte aber einen doppelten Fortschritt: außer den Anhängern der Augsburger Konfession wurden nun auch die Reformierten reichsrechtlich anerkannt, und konfessionelle Minderheiten unter anders­ gläubiger Herrschaft erfuhren eine gewisse Duldung. Letzteren Fortschritt freilich lehnten die stockkatholischen Habsburger für ihre Erblande ab und fuhren fort, besonders in Schlesien, die Protestanten zu bedrücken und zu vertreiben. Gegen den ganzen Frieden hat als einziger der römische Papst protestiert! 5. Die Religionskämpfe außerhalb Deutschlands tragen, be­ sonders im Westen, ein ganz anderes Gepräge, weil der Calvinismus seine Anbänger mit dem entschlossenen und zähen Willen zum Widerstand mit der Tat und zur klugen Ausnutzung auch der politischen Möglichkeiten erfüllte.

304

Im Zeichen der Gegenreformation

Die Ehre Gottes verlangte nach ihrer Überzeugung nicht, das Gewalt­ regiment katholischer Herrschaft duldend zu ertragen, sondern es, als dem reinen Gotteswillen widerstrebend, mit aller Macht tätig zu bekämpfen. Die französischen Hugenotten fanden in Coligny einen ebenso hochbe­ gabten wie sittlich tadellosen politischen und militärischen Führer und haben sich auch durch das wahnwitzige Verbrechen der Bartholomäusnacht (24. August 1572), das der Papst durch ein Tedeum feierte, nicht von der Fortsetzung beS Kampfes abschrecken lassen, bis sie im Edikt von Nantes (1598) einen erträglichen Frieden erkämpften. In den Niederlanden hat daS Bluttegiment des spanischen Alba (Hin­ richtung von Egmont und Hoorn) einen 80 jährigen Freiheitskampf entfesselt. Ihn führte zunächst Wilhelm von Oranien, in Gefechten oft geschlagen, im Kriege unbesiegt, nach dessen Ermordung sein Sohn Moritz. Die nördlichen, rein germanischen, überwiegend protestantischen Provinzen lösten sich von Spanien. Der Untergang der gegen England geschickten Armada (1588) befreite nicht nur das Jnselland von der spanischen Gefahr, sondern führte auch den heroischen Kampf der Niederländer zum Siege. Der Westfälische Friede brachte den Provinzen die völlige politische Freiheit und mit ihr auch ein hohes Maß religiöser Duldsamkeit.

§ 72. Zwischen den Konfessionen. DaS Ergebnis des 30 jährigen Krieges bedeutet für Deutschland keinen wirklichen religiösen Frieden, sondern mehr einen Zustand der Erschöpfung und deshalb des Stillstandes. Die große Hoffnung der Reformatoren, eine einige gründlich erneuerte Kirche Jesu Christi zu schaffen, ist schwer zuschanden geworden. Statt einer unfehlbaren allmächtig herrschenden Kirche stehen jetzt drei Konfessionen unduldsam und unversöhnlich einander gegen­ über, jede mit dem Anspruch, die alleinige Wahrheit christlichen Glaubens zu besitzen; in Wirklichkeit jede von dem Hochziel einer nach dem Evangelium geformten Kirch« weit entfernt. Die ttockene Lehrhaftigkeit und die verbissene Zankwut der Theologen drohen die Besten abzuschrecken: Friedrich von Logau dichtet: Luthrisch, Päpstisch und Calvimsch, diese Glauben alle drei sind vorhanden; doch ist Zweifel, wo das Christentum denn sei.

1. Johann Scheffler, mit seinem Dichternamen Angelus Silesius, Leibarzt des Herzogs zu Oels in Schlesien, tritt 1653 (also nach dem 30 jähri­ gen Kriege!) zur katholischen Kirche über, wird Mönch und Priester und stellt feine Feder in den Dienst der Polemik. Mag ihn auch die seinem innersten Wesen wahlverwandte Mystik zur katholischen Kirche hingezogen haben, der Übertritt ist doch nur erklärlich, weil ihn die Starrheit der rechthaberischen

§72

Licht und Schatten in der katholischen Kirche

305

lutherischen Orthodoxie innerlich abstieß (das Schicksal des von ihm ge­ liebten Jakob Böhme!, s. u. S. 325). Ein welfischer Herzog tritt ungefähr gleichzeitig zur katholischen Kirche über, und auch sein protestantischer Nach­ folger verhandelt jahrzehntelang mit dem Beichtvater des Kaisers Leopold über die Wiedervereinigung der lutherischen Kirche mit der römischen! Solche Vorgänge wären unmöglich gewesen, wenn die katholische Kirche wirklich nichts gewesen wäre als das Reich des Antichrist, wie eS — in der Hitze des brennenden Kampfes begreiflich — Matthias Flacius aus Illyrien in seinen berühmten „Magdeburger Zenturien" (13 Bde., 1559—74) gründlich, wenn auch schematisch, geschildert hat. Eine solche katholische Kirche hätte nicht Bestand gehabt. In Wirklichkeit war auch in ihr der christliche Geist nicht erloschen. Zeugnis dafür sind schon die Missionsarbeiten ihrer Orden in Indien, China und Japan, sowie bei den Indianern in Nordund Südamerika. Diese Mission war freilich mit vielen Mängeln belastet (der „Jesuitenstaat" in Paraguay), hat aber auch in Befolgung des neu: testamentlichen Missionsauftrages viel echte Hingebung gezeitigt. In der Wissenschaft haben römisch-katholische Orden durch vorbildliche Ausgaben der Heiligenakten und der Kirchenväter Hervorragendes geleistet (die Bollandisten in Holland, die Mauriner, eine Neuformung der Benediktiner, in Frankreich). Vor allem aber verdient unsere ehrliche Bewunderung das Werk der katholischen Caritas. Den Protestanten weit voraus hat Vincentius von Paulo, nach seiner Erlösung aus der Sklaverei bei den Seeräubern in Tunis, einen Priesterorden für Aufgaben der inneren Mission sowie das große Werk der Barmherzigen Schwestern für die Kranken­ pflege gestiftet (1633); eine bahnbrechende Leistung, mußte er doch als erster die Nonnen aus dem Kloster holen und in weltliche Aufgaben stellen! Endlich hat diese katholische Kirche, fern von allen hierarchischen An­ sprüchen, in Spanien und Frankreich eine innige, gottergebene Mystik ge­ pflegt, von der auch unser Liederdichter Tersteegen befruchtet ist. Auch wurde innerhalb der katholischen Kirche jahrzehntelang mit tiefster Leidenschaft um Raum für die augustinische Frömmigkeit der Jansenisten (vgl. S. 328) gekämpft. Diese selbe katholische Kirche hat daneben durch die brutale Unduld­ samkeit, mit der sie Hugenotten und Waldenser, lutherische Protestanten und mährische Brüder auch noch nach dem 30jährigen Kriege drangsalierte, verttieb und umbrachte, die Kennzeichnung durch die Magdeburger Zenturien noch nachttäglich sich verdient. Weitaus das grauenvollste Werk hat Lud­ wig XIV. durch die Vernichtung der Hugenotten vollbracht. Obwohl ihnen die Auswanderung verboten war, haben die allermeisten versucht, um der Glaubensfreiheit willen das stiefmütterliche Heimatland zu verlassen. Das konnte nur mit Gefahr des Lebens geschehen, wurde doch das ganze Land bis zu den höchsten Gebirgspässen und zu den entlegensten Häfen durch zahl20

Schuster, Kirchengeschichte

306

Sm Zeichen der Gegenreformation

lose Posten bewacht. Überall wurden die Einwohner mit der Aussicht auf

hohe Prämien zum Fang der Hugenotten aufgeboten, während umgekehrt jede Bechilfe zur Flucht mit härtesten Strafen bedroht war. Trotzdem rechnet man, daß von 1680—1700 gegen 350000 Hugenotten die Flucht geglückt ist. Entsetzlich war das Schicksal der Aufgefangenen. Soweit sie nicht vorher durch die Mißhandlungen zugrunde gingen, verkamen sie zu vielen Tausen­ den als angeschmiedete Galeerenknechte. Bei den Beamten und Soldaten, den Werkzeugen dieser Grausamkeiten, zeigt sich selten religiöser Fanatismus, viel mehr unreligiöse Frivolität. Sie stehen im „königlichen Dienst", werden getrieben durch die Aussicht auf Vorteil und Beförderung und durch den Fanatismus entmenschter Priester: „Wer die beglaubigten Martyrien des Altertums mit denen des 17. Jahrhunderts vergleicht, wird nicht im Zweifel sein, daß in der teuflischen Kunst des Quälens die Henker des Altertums mit wenigen Ausnahmen Stümper waren im Vergleich mit denen des großen katholischen Königs und seiner Kirche." (Karl Müller. Vgl. auch C. F. Meyer: „Die Füße im Feuer".) Es war ein sinnloser wirtschaftlicher, militärischer und geistiger Aderlaß. Dahinter stand der Aberglaube an die „Religion des Königs", die hier mit aller Gewalt durchgesetzt werben sollte. Ludwig handelte auch hier nach seinem berüchtigten Grundsatz: „L’etat, c’est moi!“ Durch die „gallikanischen Freiheiten" hatte er eine französische National­ kirche geschaffen, die vom Papst so gut wie unabhängig war. Durch die Auf­ opferung der Hugenotten versöhnte er sein „Gewissen", das die bigotte Frau von Maintenon in ihm geweckt hatte, und zugleich den heiligen Vater! Cromwell, der englische Reichsverweser (s. u. S. 321), hatte, solange er lebte, die Waldenser in den Alpentälern von Savoyen geschützt. Nach seinem Tode mußte der savoyer Herzog auf Ludwigs Befehl sie vertteiben. Die protestanti­ schen Staaten wagten nicht, dem König in den Arm zu fallen. Sie haben aber den Verttiebenen, den Hugenotten wie den Waldensern, gastlich ihre Tore geöffnet, allen voran Holland und Brandenburg (der Große Kurfürst!). Kaum geringer sind die Leiden, die im Osten, in Polen wie in allen weit­ verstreuten Ländern der Habsburger, über die Protestanten, Lutheraner wie Reformierte, ergangen sind. Es ist für den Fanatismus der bigotten Habs­ burger bezeichnend, daß die zahlreichen Protestanten in Ungarn immer nur Duldung und Frieden genossen, wenn einheimische „Rebellen" (siebenbürgische Fürsten) das Land von den Habsburgern lösten. Die Türkensiegc Prinz Eugens, die Ungarn unter österreichische Herrschaft brachten, haben den Protestanten namenloses Leid eingettagen. Über 800 Kirchen wurden ihnen geraubt, Hunderte von Pfarrern und adligen Gönnern der protestan­ tischen Gemeinden wurden verhaftet und eingekerkert und, soweit sie nicht abschwuren und auswanderten, grausam mißhandelt und zu Tode gemartcrt oder in Neapel nach der üblichen Art auf die Galeeren geschmiedet. Hinter diesen grausigen Maßnahmen steht vor allem Kaiser Leopold I. (1657 bis

§ 72

Protestantenverfolgung in Frankreich, Polen, Ungarn und Salzburg

307

1705). Er war, ursprünglich zum Priester bestimmt, von Jesuiten erzogen und setzte sich deshalb die Ausrottung des ungarischen Protestantismus zum Lebenszweck. Aber auch noch die große Kaiserin Maria Theresia (1740—80) hielt es für ihre christliche Pflicht, Gesellschaften zur Zwangsbekehrung ihrer Untertanen zu errichten! Hundert Jahre schwerer Drangsale mußten die schlesischen Protestanten unter den Habsburgern dulden. Vorübergehende Erleichterung brachte ihnen der Sieg des Schwebcnkönigs Karls XII. (1706). 120 Kirchen wurden ihnen zurückgegeben, 6 Gnadenkirchen neuerbaut. Derselbe Karl XII. nötigte auch August den Starken, den Kurfürsten von Sachsen und König von Polen, den Protestanten in Polen die bei seiner Krönung feierlich zugesicherten alten Rechte zu erneuern. Die Zusage dieses leichtfertigen Renegaten und Jesuitendieners war nicht von langer Dauer. Das Thorner Blutgericht von 1724 empörte ganz Europa. In der protestantischen Stabt Thorn hatte die Bevölkerung sich gegen Ausschreitungen von Jesuitenzöglingen kräftig gewehrt; das mußten der Bürgermeister Rößner und 9 Bürger mit dem Tode büßen, weil sie sich weigerten, ihren Glauben abzuschwören!

Noch allgemeiner und nachhaltiger war daS ärgerliche Aufsehen, das die Salzburger Erzbischöfe durch ihre rohe und unkluge Unduldsamkeit wiederholt erregten. Schon 1685 hatte ein Salzburger Erzbischof die Be­ völkerung ganzer Gemeinden in den hohen GebirgSgauen des Südens mitten im Winter verjagt, weil sie von ihrem Lntherglauben und der Augsburger Konfession nicht lassen wollten. Der geistige Führer dieser tapferen Bekenner war ein schlichter Bergmann, Joseph Schaitberger. Von ihm stammt daS berühmte Exuläntenlied: „3 bin ein armer Exulant, a so thu t mi schreib«, ma thuet mi aus dem Vaterland um Gottes Wort vertreiba."

Von Nürnberg aus, wo er eine neue Heimat fand, hat er in zahlreichen Schriften und persönlichen Besuchen die Zurückgebliebenen gestärkt und bei ihrem verborgenen evangelischen Glauben erhalten. Ein neuer stärkerer Stoß kam dann unter Erzbischof Firmian, der durch seine Vertreibung der Salz­ burger geschichtlich „berühmt" geworden ist. Die eigentliche Schuld tragen jesuitische Sendlinge und die Welschen der Hofkamarilla. Alle Vorstellungen gegen die geplanten Gewaltmaßnahmen beim „Corpus evangelicorum" deS Regensburger Reichstages waren vergeblich, ebenso die Verwendungen protestantischer Fürsten, insbesondere Friedrich Wilhelms von Preußen. Wiederum erfolgte die Vertreibung mitten im Winter (1732); wiederum mit der barbarischen Maßnahme, daß die Kinder unter 12 Jahren zurückgelassen werden mußten, um sie jesuitischen Erziehungsanstalten auszuliefern.

308

3m Zeichen der Gegenreformation

Über 20000 bester fleißiger, charaktervoller Männer und Frauen, mindestens

ein Siebentel seiner ganzen Bevölkerung, hat der christliche Prälat dem heid­ nischen Dogma der politischen Glaubenseinheit aufgeopfert. Sie wurden überall in protestantischen Ländern mit herzlicher Gastlichkeit ausgenommen, als lebendige Zeugen der Sache Jesu Christi. Über 15000 hat der preußische Soldatenkünig in dem durch Krieg und Pest enwölkerten Ostpreußen mit landesväterlicher Umsicht angesiedelt und seiner Provinz damit ein un­ verwüstliches Kapital gewonnen. Zu den aus Böhmen vertriebenen „Brüdern" gehörte auch der geniale Pädagoge Amos Comenius, der auf deutschen reformierten Universitäten Theologie studiert hatte und als letzter Bischof in vorbildlicher Treue seinen Glaubensbrüdern gebient hat. 3m Geiste seiner Pädagogik hat Herzog Ernst von Gotha, „der Fromme", ein Bruder des Helden Bernhard von Weimar, schon vor dem Ende deS 30 jährigen Krieges in seinen Landen ein Schulwesen begründet und mit unermüdlicher Fürsorge betreut, baS weithin vorbildlich geworden ist. ES wurde damals in Deutschland eine sprichwörtliche Rebe, Herzog Emsts Bauern seien gelehrter als anderSwo die Städter und die Edelleute. Der treue Pfleger der Kirchen und der Schulen seines Landes hat damit eine wirksame Arbeit für die sittliche und wirtschaftliche Erneuerung nach der grauenvollen Zerstörung des Krieges geleistet. Überhaupt beweist gerade die pädagogische Leistung gewissenhafter protestantischer Fürsten, daß der Protestantismus trotz seiner organisatorischen Zersplitterung an geistiger Kraft dem Katholizismus weit überlegen war. Am elendesten war das Schulwesen in den stockkatholischen habsburgischen Erblänbern. Auch in der Literatur wird der Vorsprung deS protestantischen Deutschland schon deutlich sichtbar. Die Luthersprache gewinnt geräuschlos und sicher die ganze geistige Oberschicht und bewährt sich so als die stärkste Kraft der kommenden deutschen Einheit. 2. Der angriffsfreudige, aktivistisch gestimmte Calvinismus hat seit dem Ende des 16. Jahrhunderts die verschiedensten Gebiete in Deutschland erobert und daS bedächtige, schwerfällige Luthertum zurückgebrängt. Die Kurpfalz hat die sittlich verwüstende Wirkung deS Übeln Grundsatzes „Cujus regio, ejus religio“ besonders leidvoll ausgekostet. Nach wiederholtem Wechsel hat schließlich baS reformierte Bekenntnis sich behauptet. Der Heidelberger Katechismus (1563), von zwei Melanchthonschülern verfaßt, ist für beinah alle deutschen „reformierten" Lande daS maßgebliche Bekenntnis geworben. Calvinisch ist die Abendmahlölehre, die Entfernung der Bilder und Altäre sowie der nüchterne Gottesdienst. Der Verzicht auf die Prädestinationslehre beweist den melanchthonischen Typus. Eine abgemilderte Form des Calvinis­ mus wird durch Johann Sigismund (1614) auch das Glaubensbekenntnis der Hohenzollern. Der Kurfürst verzichtet auf die Anwendung deS Jus reformandi; er beläßt feine Untertanen bei ihrem Luthertum, verbietet nur

§72f.

Reformierte und Lutheraner — Die lutherische Orthodoxie.

309

den Streittheologen das Schelten und Verlästern der Reformierten. Eine besonders charaktervolle Gestalt findet die reformierte Kirche durch die Ein­ wirkung niederländischer Flüchtlinge unter katholischer Herrschaft am Niederrhein; während sonst auch in reformierten Gebieten das landesherr­ liche Kirchenregiment sich durchsetzt, sind diese „Gemeinden unter dem Kreuz" genötigt, eine synodale Selbstverwaltung aufzubauen, die später das lebendige Vorbild für die kirchliche Verfaffung des ganzen evangelischen Deutschland abgegeben hat (s.u. S. 417). Ein Versuch, den Calvinismus in dem führenden Land des Luthertums, Kursachsen, einzuführen, mißlingt nach anfänglichen Erfolgen. Der calvinisch gesinnte Kanzler Krell bezahlt das Unternehmen mit dem Tod auf dem Schaffott! Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, war persönlich erfüllt von einer lebendigen evangelischen Frömmigkeit, hielt sich an Gottes Wort und Gebetsübung und bewies mit der Tat, daß er sein Regiment zur Ehre Gottes führen wollte. Er bettachtete sein reformiertes Bekenntnis als die voll­ endete antirömische Gestalt der Reformation. Auf die Prädestinationslehre verzichtete er völlig. Er wollte sich nur an die „Fundamentallehren" halten, die in Gottes Wort begründet seien. Nach diesen Grundsätzen richtete er seine Kirchenpolitik. Das von ihm angeregte Berliner Religionsgespräch brachte freilich ebensowenig einen Erfolg, wie das seines Schwagers, des hessischen Landgrafen zu Kassel. Seine Gunst genoß der Helmstedter Theologieprofessor Georg Calixt, der sich um eine innere Einigung der beiden protestantischen Konfessionen mit großem Ernst bemühte, von den lutherischen Eiferern aber als Anhänger eines „Synkretismus" (Religionsmengerei) oder gar eines heimlichen Katholizismus verketzert wurde. Die innere Kraft und Über­ legenheit des Luthertums lebte nicht in der Theologie, sondern in seiner Lieber­ dichtung und Musik (vgl. § 73). Das reformierte Gesangbuch des Großen Kurfürsten barg als schönsten Schatz Paul Gerhardts Lieder.

§73. Vom inneren Leben der lutherischen Kirche.

1. Die lutherische Kirche des 17. Jahrhunderts steht unter dem maßgeblischen Einfluß der theologischen Rechtgläubigkeit. Die Orthodoxie bietet für den ersten Blick ein wenig erfreuliches Bild. Von Luthers großem Kirchen­ ideal der Gemeinde der Gläubigen, die ihre Dinge selbständig verwaltet, ist nichts übriggeblieben. Die Kirche ist eine Abteilung des landesfürstlichen Büros geworden, wird bürokratisch und polizeilich verwaltet: durch Geld­ strafen wird der Besuch des Gottesdienstes und die Aufmerksamkeit bei der Predigt erzwungen! Die einzelne Gemeinde wird von dem Pastor selbst­ herrlich regiert. Die große Aufgabe, die Glieder der Gemeinde zur Mündig­ keit zu erziehen, wird von den allerwenigsten begriffen. So erstarrt Luthers Kirche zur Staats- und Pastorenkirche. Der Hofprediger leitet, wie

310

Im Zeichen der Gegenreformation

früher der Beichtvater, das Gewissen des Landesherren und gewinnt damit auch maßgeblichen Einfluß auf die Staatsführung. Das Ergebnis ist eine von enger konfessioneller Eifersucht bestimmte Politik („Lieber papistisch als calvinisch!"), die an dem Jammer des 30jährigen Krieges fast ebenso viel Schuld trägt wie der beschränkte Fanatismus der Wittelsbacher und der Habsburger. In der Theologie setzt sich die von Luther grundsätzlich überwundene mechanische JnspirationSlehre wieder durch und wird bis zum Äußersten

übersteigert. Weil die innere lebendige Glaubenskraft erlahmt, meint man als Fundament der Lehre eine buchstäblich unfehlbare Bibel, gewissermaßen einen „papierenen Papst", nötig zu haben. Die Epigonen vergaßen, daß Luthers Glaube sich, wie jeder echte Glaube, auf eine unsichtbare Größe richtet, die man nicht mit Händen fassen und weiterreichen kann, weil sie nur mit dem innersten Gemüt erfahren und ergriffen wird (Hebe. 11,1). Diese Wahrheit hatte Luther in seiner Lehre von der Kirche besonders deutlich ge­ macht (s. o. S. 222). Keine sichtbare Anstalt, auch nicht die lutherische, darf als die Kirche gelten, an die wir glauben. Mer auch von dem Worte Gottes hat Luther oft und kräftig bezeugt, daß es nicht einfach mit dieser oder jener Bibelstelle gleichgesetzt werben dürfe und daß keine menschliche Autori­ tät, weder Papst noch Konzilim, unS sagen können, wo eS zu finden sei, wenn nicht Gott selber eS unS ins Herz gibt (f. o. S. 237 f.). Der Glaube und der GlaubenSgegenstanb, sei eS die Kirche, sei eS das Wort GotteS, ja sei eS Gott selber, stehen eben nach Luther in der leben­ digen Spannung einer unlösbaren Polarität: Der eine Pol ist der Glaube deS Menschen, der andere ist der ewige Glaubensgegenstand. Deshalb wagt Luther eS im Großen Katechismus bei der Auslegung des ersten Gebotes die kühnen Sätze zu formulieren: „Allein das Trauen und Glauben deS Herzens macht beide, Gott und Mgott; denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott" (s.o.S.227). Damit will er sagen: der Schatz des GlaubensguteS, der ewige Gott selber, ist nur für den lebendigen Glauben zu haben. Wer diese Polarität löst, wer das GlaubenSgut vom Glauben trennt, der macht aus dem Glaubensgut eine schlechte Schulmetaphysik, schlechter als jede redliche weltliche Philosophie, und auS dem Glauben macht er ein Schul­ wissen, schlechter als jedes ehrliche Wissen weltlicher Wissenschaft. Dieser Gefahr ist die Orthodoxie als theologische Lehre weithin erlegen. „So war über Nacht eine neue protestantische Scholastik wieder aufgeschossen, enger und kümmerlicher, als je die katholische gewesm war." Der Glaube dieser scholastischen Theologie ist nicht mehr, wie für Luther, eine tiefe starke Ge­ mütsbewegung, Hingabe des ganzen Herzens an Gott, sondern er ist wie im Katholizismus eine Sache des Erkennens und der verstandesmäßigen Zustimmung geworden. Die „reine Lehre" wird das höchste Gut. Da man nicht mehr weiß, daß der echte Glaube ein Wagnis ist und ein Mut, der

§73

Schatten und Licht der Orthodoxie — DaS Kirchenlied

311

ständig das Heil erobert, so muß man wieder eine sichtbare Größe haben, auf die man sich ohne wagenden Glaubensmut gedankenlos verlassen kann. Da man aber katholisch geworden wäre, wenn man die kirchliche Anstalt an diese Stelle rückte, so war es die geschriebene Bibel, die »ergötzt und zum Fetisch gemacht wurde, aus den man sich ohne innere lebendige Glaubens­ kraft um des Buchstabens willen mechanisch stützen konnte. Die Recht­ fertigung wird deshalb auch (wie bei Anselm) als ein juristischer Vorgang gefaßt; eine innerlich erneuernde Wirkung auf das sittliche Leben kann von ihr nicht ausgehen. Daß der Glaube ein „lebendig, tätig, schaffend Ding" sei, daß er echt nur ist, wenn er in der Liebe tätig wird, schien ganz vergessen. Aber diese Züge geben doch nur ein einseitiges und ungerechtes Bild. Die streitsüchtige Polemik ist nur die Kehrseite einer standhaften Tapferkeit, die während des 30 jährigen Krieges in der seelsorgerlichen Treue und im Mar­ tyrium ungezählter Pfarrer ihre Probe glänzend bestanden hat. Vom evan­ gelischen Pfarrhaus fließen durch Entsagung, Geduld und Glaubens­ kraft, durch vorbildliche Sittenreinheit und Kindererziehung Sttöme des Segens auf daö ganze Volksleben und seine Kultur. Die Predigt, wenn auch nach barocker Art überladen mit lateinischen, griechischen und hebräischen Bibelzitaten, hat doch mitsamt dem Unterricht und der Seelsorge den Ge­ meinden Katechismus, Bibelspruch und Kirchenlied eingeprägt und ihnen damit eine „eiserne Ratton" sittlicher Gedanken und Kräfte übermittelt, die in der allgemeinen Volkserziehung zu Ehrenfestigkeit und Tüchttgkeit sich schließlich durchsetzten und die auflösende Wirkung des großen Krieges über­ wanden. Der höchste Ehrentttel aber und der überzeugendste Beweis für baS innere Leben dieser Zeit sind Kirchenlied und Kirchenmusik. Sie sind in der Tat ein Geschenk des Lutherglaubens an das deutsche Volk; denn sie blühen mit wunderbarer Pracht in einer politisch ohnmächttgen, wirtschaftlich armen und kulturell verwahrlosten Zeit als die einzige wahrhaft große deussche Kunstleistung. 2. DasKirchenlied der Orthodoxie erreicht zwar nicht mehr die urwüchsige Kraft der Lutherschen Kernlieder. Aber es gibt ein echtes Bekenntnis und Zeugnis von den großen reformatorischen Heilswahrheilen. Es bringt Trost und Zuversicht in den entsetzlichen Nöten der Kriegsjahre. Es schafft Er­ bauung in den matten Jahrzehnten nach dem Kriege. Philipp Nikolai (f Hamburg 1608) hat unser Gesangbuch mit zwei majestättschen Liedern beschenkt: „Wachet auf, ruft unS die Stimme" („der König der Choräle") und „Wie schön leuchtet der Morgenstern" („das zärtlich überströmende, geistliche Brautlied der gläubigen Seele"). Gleichzeittg dichtet I. M. Meyfart daS Lied der Himmelssehnsucht: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt". Überaus fruchtbar ist Joh. Heermann (t 1647 als Pfarrer zu Lissa in Posen) besonders an Kreuz- und Trostliedern („Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen"). Der männlich tüchtige Arzt P. Fleming (t 1640),

312

Im Zeichen der Gegenreformation

bringt von seiner abenteuerlichen, wagemutigen Fahrt nach Persien das Reiselied mit: „In allen meinen Taten". Martin Rinckart (i 1649) dichtet noch wahrend des Krieges das große Danklied für den ewig reichen Gott, das als „Choral von Leuthen" durch die Geschichte geht. Ein solcher Reichtum von gehaltvollen und singbaren Liedern entsteht, daß aus den schmalen Hef­ ten der Lutherzeit jetzt überall starke Bände werden. Der Reichste und Größe aber von allen tritt um die Mitte des Jahrhunderts hervor: Paul Gerhardt (1607—1676). Seine Kunst ist formal gefördert von der Reform der Dichtkunst durch Martin Opitz. Aber Gerhardt ist ursprüng­ licher Poet durch die herzliche Wärme der Empfindung und die lebendige Anschaulichkeit seiner Bilder. Mit Recht nimmt er in unserm Gesangbuch den ersten Platz ein. Für alle Festtage und fast alle Anlässe des Lebens haben seine Lieder der Gemeinde den Ausdruck ihres Glaubens und Hoffens ge­ schenkt. Echt lutherisch ist sein frischer Sinn für die Natur („Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser schönen Sommerszeit an deines Gottes Gaben") und seine durch kein äußeres Leid zu brechende helle Glaubensfreude („Mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein"). Es war die Tragik seines Lebens, daß er in falsch verstandener Gewissenhaftigkeit um des Kanzeledikts willen mit dem Großen Kurfürsten in Konflikt geriet; konnte ihm doch der Magistrat der Stadt Berlin bezeugen, daß er die Kanzel niemals zum „Schimpfen" auf die Reformierter! miß­ braucht und deshalb von jeher den Sinn des Edikts erfüllt habe. In Wirklich­ keit gehören der Fürst und der Sänger zusammen. Beide haben sie das Größte für den Neubau Deutschlands nach dem Kriege getan: der eine mit Ordnung schaffender weiser Regierung, mit seinen siegreichen Schlachten, die den Stolz auf den deutschen Namen weckten, und mit der weitschauenden Gastlichkeit, die er den vertriebenen Glaubensgenossen, den Hugenotten, gewährte; der andere mit der unsichtbaren, stillen Macht seiner Lieder, die dem ausge­ sogenen und zertretenen Volk das Allernotwendigste schenkten, den Glauben an das Leben und den Mut zum Schaffen. 3. Der Protestantismus gibt bei der Innerlichkeit und Geistigkeit seiner Religionsauffassung den bildenden Künsten naturgemäß nicht denselben Anreiz wie die sinnenfreudige katholische Kirche, zumal auch die Lockung durch die Verdienstlichkeit der guten Werke wegfällt. Umso mehr hat er die unsinn­ lichen und geistigen Künste befruchtet, zu allermeist die Musik. Die Kirchen­ musik erlebt jetzt ihre klassische Zeit, und sie ist ausgesprochen ein Kind des Luthertums. Im 17. Jahrhundert entsteht aus dem geistlichen Lied, das ur­ sprünglich gar nicht für den Gottesdienst bestimmt war, der Choral, der feierliche, gottesdienstliche Gemeindegesang. Das Wort „Choral", das birher nur den Gregorianischen Gesang im Wechsel von Priester und Chor bedeutet hatte, wurde jetzt der Name für das mehrstimmig gesetzte Gemeindelied. Z. T. in Anlehnung an alte Melodien entstand eine unerhörte Fülle großer

§73

P. Gerhardt — Die Kirchenmusik: Bach und Händel

313

und würdiger Choräle, in denen männliche Kraft und Majestät sich mit be­ schwingter Lebendigkeit eint. Die Lieder jener Tage, z. B. die von Nikolai und Meyfart, verdanken ihre Unvergänglichkeit mehr noch als dem Text, der an den Geschmack der Zeit gebunden ist, der erhabenen Würde ihrer Ver­ tonung. Der protestantische Choral ist eine der großartigsten Erscheinungen der Kunst, weit erhaben über die süßlichen Singweisen, die später oft mit sentimentalen Liedern aus dem Ausland zu uns gekommen sind (die Lieder der Heilsarmee) und lange Zeit den deutschen Geschmack verdorben haben. Die Kirchenmusik findet ihren ersten Vertreter großen Stils in Heinrich Schütz (1585—1672), der die neuen Formen der italienischen Musik in den Dienst seiner gewaltigen, musikalischen Ausdruckskraft gestellt hat. Lübeck gewinnt für Jahrzehnte einen großen Ruf durch die Abendmusiken, die der geniale Organist an der Marienkirche, Dietrich Buxtehude (t 1707), be­ gründet. Um von ihm zu lernen, wandert Joh. Seb. Bach zu Fuß von Arnstadt nach Lübeck. Dieser „musikalische Wundermann" bedeutet den seither nicht wieder erreichten Gipfel der Kirchenmusik. „Die Unerschöpflichkeit der melodischen und harmonischen Erfindung, der Reichtum der vielgestaltigen Rhythmik, die zwingende Klarheit des formalen Aufbaus, die Größe und Tiefe der geistigen Auffassung haben seinen Schöpfungen in der Folgezeit jene Ausnahmestellung verliehen, die sich in der Bewunderung durch die Musiker aller Rassen und Richtungen spiegelt." Seine Produktionskraft war schlecht­ hin unerschöpflich. Von seinen 300 Kantaten, die er als Thomaskantor zu Leipzig schrieb (fünf vollständige Jahrgänge für alle Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres!) sind 200 erhalten. Man hat ihn den „Luther der Musik" oder den „5. Evangelisten" (Söderblom) genannt; denn seine Musik ruht durchaus auf der Glaubenskrast des Evangeliums in Luthers Prägung. Die Matthäus-Passion ist ihr großartigster musikalischer Ausdruck. Sie ist zu­ gleich der anschauliche Beweis, daß das tiefste Geheimnis des Glaubens (Christi erlösender Tod) nicht durch die verstandesmäßig arbeitende Theo­ logie, sondern nur durch echte, aus tiefster Gemütserschütterung wachsende Kunst überzeugend dargestellt werden kann. Gleichzeitig wirkt in England, seiner zweiten Heimat, Georg Friedrich Handel, der neben seinen zahllosen Opern auch eine Reihe biblischer (alttesiamentlicher) Oratorien schuf und seinen höchsten Ruhm dem „Messias" verdankt. Seine Werke sind, weil leichter verständlich, nie ganz vergessen gewesen, während Bach erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu entdeckt werden mußte, um seine immer noch wachsende Wirkung zu üben.

§ 74. Die kirchliche Kunst im Zeitalter des Barock.

1. 1546 stirbt Luther. Die Siegesfanfaren Karls V. auf der Lochauer Heide blasen ein neues Zeitalter ein. Seine Losung heißt Krieg. Krieg der Jesuiten

314

Im Zeichen der Gegenreformation

gegen den Protestantismus, Krieg der lutherischen Orthodoxie gegen Papst und Calvinismus, Krieg der Fürsten gegen den Kaiser, Krieg Spaniens gegen die Niederlande, Krieg der Liga gegen die Union, Krieg Gustav Adolfs gegen den Kaiser, Krieg der Türken gegen das Abendland, Krieg aller gegen alle. Don 1547 bis 1648 und bis 1715 läuten die Glocken in Deutschland Sturm. Sturm läutet auch die Kunst, die gegen Ende dieser „geschwinden Zeitläufte" sich in Deutschland Bahn bricht. Sie stellt sich in den Dienst der Herrscher, die auch in ihren Kunstschöpfungen immer der Welt zeigen müssen, daß sie „Herre.n" sind. So schreitet denn auch die Kunst herrisch daher. Leiden­ schaftlich, voller Bewegung, in Massen wirkend, mit jedem Raffinement wie mit Kriegslisten arbeitend, will sie sich durchsetzen, will wirken und hin­ reißen, durch Gegensätze überraschen, mit größter Kühnheit einreißen, um nach eigenem Willen neu zu bauen. Mehr scheinen als sein, wenn man nur Eindruck macht! DaS ist die Kunst in der Allongeperücke, das ist Barock. 2. Aufgabe dieser Kunst ist eS, für die allerhöchsten Herrschaften Paläste zu errichten. Wird auch ein HauS des Höchsten gewünscht, so kann natürlich dies ebenfalls nichts anderes sein als ein Palast. Für den Geist, auS dem heraus diese Gotteshäuser errichtet werben, ist eS symbolhaft, daß die Grab­ kirche LoyolaS, Jl Gesu in Rom, 1568 von Giacomo Barozzi aus Dignola entworfen, daS Vorbild wird für viele Kirchen deS Barock. Diese Kirchbauten wollen den alten Gegensatz zwischen Langhaus- und Zentralbau versöhnen, indem sie beides hart an- und ineinander schieben. ES gilt ja, die „Einheit" der „katholischen" Kirche barzuftellen. So fallen denn auch oft die Seiten­ schiffe der Basiliken und Hallenkirchen fort, so baß eine weite, lang hinge­ streckte Halle bleibt, nicht von gereihten Kreuzgewölben, sondern von einem einzigen großen Tonnengewölbe ober von Flachkuppeln überspannt. Am Ende dieser Halle aber strömt von oben herab ein helles Leuchten, daS aus dem hohen Kuppelraum, der sich hier an den LängSraum anschiebt, hernieberfällt. Hier scheint sich hinter dem Dunkel der Erbe der Himmel selbst zu öffnen, so baß Irdisches und Himmlisches in diesen Kirchen verschmolzen scheinen. Sobald wir unS aber anschicken, diesem himmlischen Lichte zuzustreben, öffnen sich die Seitenwände rechts und links, und auS den Nischen winken und leuchten rauschende Bilder in brennenden Farben und goldenen Rahmen, umstellt von Figuren mit wehenden Mänteln in stärkster Bewegung. ES sind die blieben Heiligen", die unS rufen, da auch sie einen Teil der Ver­ ehrung beanspruchen, so baß wir vor dem Vielerlei der Augenweide nicht wissen, wohin wir unS wenden sollen. Unruhe packt unS, Unruhe ist daS Wesen dieser Räume, und die Scharen pausbackiger Engel brauchten gar nicht in ihre Posaunen zu stoßen, wir merken eS auch so: die Stille der alten Kirchen ist dahin, in diesen Kirchenpalästen geht eS laut zu. Die Sym­ bole dieser Unruhe sind Kurve und Diagonale. Anfangs noch sparsam ver­ wendet, beherrschen sie schließlich die Bauten ganz. Kaum sieht man noch

§74

Die Barockkirchen

315

eine gerade Linie. Die Seitenwände werden zu Ausschnitten von Ellipsen, die sich ineinander schieben. Man sieht keinen Anfang, man sieht kein Ende dieser schwingenden, sich verschlingenden Linien. Schließlich nehmen sogar die wagenden Säulen teil an dem allgemeinen Wirbel und beginnen, sich in Spiralen zu drehen. Rafft man sich endlich auf, um auf den Kuppel­ raum zuzuschreiten, so wird man gewahr, daß sich ganz hinten, noch hinter dem Leuchten der Kuppel, in riesigen Maßen ein Bauwerk erhebt, mit Säulen und Figuren überladen, in Gold und Farben gleißend oder auch in ernstem Dunkel drohend, der „Hoch"altar, vor dem sich daS Schauspiel deS Meß­ opfers vollzieht. Dunkelfarbiges Chorgestühl, aus dessen Rückwand oft goldgetricbene Reliefs hervorblinken, bildet die Seitenkulissen, während vorn die Bühne deS Allerheiligsten nicht mehr durch einen steinernen Lettner, sondern durch ein kunstvoll geschmiedetes Gitter abgeschlossen wird, so daß das „Sanctuarium" wohl dem Zutritt, nicht aber den Blicken der Laien entzogen ist. ES ist wie im Theater, wir werden Zuschauer deS großen kirchlichen Schauspiels. Diese Kunst ist darum letzten Endes „Theaterkunst". Damit ist aber für unS Evangelische das Urteil über solche Kirchbauten gesprochen. Wir können unS diese weiten lichtdurchfluteten Hallen sehr wohl denken als Festsäle, durchbraust von rauschender Musik für galante Kavaliere und kokette Damen, aber wir können in diesen Kirchen nicht Gott dienen. Der „Thronsaal GotteS", wie ihn der Zenttalbau der Renaissance darstellte, ist zur Halle der Audienzen geworden, die durch geschäftige Priester zwischen dem allmächtigen Herrscher und der Masse der Untertanen ver­ mittelt werden. Hier wird der Gottesdienst zum „Byzantinismus". DaS Härteste, was über diesen Stil als kirchlichen Baustil gesagt werden muß, ist daS, daß er zu täuschen sucht, also nicht wahrhaftig ist. Schon daS Ma­ terial, mit dem er arbeitet, zeigt dies aufs deutlichste. Die Gotik hatte sich durch Sandstein ausgedrückt, die Renaiffance bildete aus Marmor, der Barock begnügt sich mit GipS, mit dem er aber Marmor vorzutäuschen sucht. Oder: von irgendwoher fällt auf ein Bild ein Lichtstrahl herein, dessen Ursprung nicht zu entdecken ist; siehst du hinter die Kulissen, so merkst du, daß ein Spie­ gel daS Licht geworfen hat, der vom Baumeister eigens zu diesem Zweck aus­ gestellt wurde. Schaust du nach oben, so hat sich da die Decke geöffnet, und du meinst, in den Himmel selbst hineinzusehen, bis du gewahr wirst, daß dieser Himmel auf eine zweite Decke gemalt ist. Und wer traut „Heiligen", die stets posieren? Wer soll einer Botschaft glauben, die dauernd in Super­ lativen redet? An „Illusionen" kann sich kein Glaube entzünden. Barockkirchen sind ausgesprochene Jnnenräume, in denen eine theatralische, d. h. optische Wirkung erzieft werden soll. DaS Äußere dieser Kirchen entspricht zuweilen wenig dem Innern. Vor der Benediktinerkirche in Welten­ burg a. d. Donau ahnt man nicht, welche Überraschungen einem drinnen

bevorstehen. Ost aber wird, besonders bei Wallfahrtskirchen, die Größe und

316

Im Zeichen der Gegenreformation

Würbe deö Hauses auch nach außen betont. Schon von weitem erglänzen den heranziehenben Wallfahrern die phantastisch geschwungenen Zwiebel­ hauben beS verehrten Heiligtums, auf den Dachgesimsen stehen mit fliegenden Gewändern die Heiligen in erregter Pose und begrüßen die Ankommenden mit leidenschaftlicher Propaganda. Auch der Haupteingang zwischen den Türmen weist auf das Außerordentliche der Stätte hin. Höchst sensationell stehen da manchmal gleich neben der Tür zwei Säulen nicht in der Reihe, sondern über Eck. Statt der Säulen keuchen auch Giganten mit Athletenmuükeln unter der Last des Gebälks. Dem Giebeldreieck über der Eingangstür wird die Mitte auSgebrochen, daß die Enden in die Luft starren. Fragst du nach dem Grunde, so könnte der Baumeister in Abwandlung eines bekannten Wortes wohl antworten: L’art, c’est moi! — Laune — Gesetz der Willkür — Barock! Dieser Stil ist in seiner Durchbildung ganz und gar zum Stil der katho­ lischen Gegenreformation geworden und führt seinen Namen „Jesuiten­ stil" nicht mit Unrecht. ES war die Zeit gekommen, da die katholische Kirche nach hundertjährigem Kampfe bewußt oder instinktiv mit allen Mitteln versucht, den Einfluß auf die Massen wiederzugewinnen, deren Psyche sie kennt. So heißt denn auch hier baS Motto: „Panem et circenses!" Diese Pracht- und Machtentfaltung mußte natürlich die Baumeister reizen, so daß wir eine ganze Reihe wirklich großer Künstler in dieser Zeit in Deutschland finden, deren Bauten, weil oft abseits gelegen, leider zu wenig bekannt sind. Auö der Fülle können wir nur einige Namen nennen. Johann Michael Fischer (1691—1766) bezaubert außer durch viele andere Bauten besonders durch die Pracht deS „Klosters" Ottobeuren; die Gebrüder Asam, KoSmaS Damian und Egid Quirin, erdichten und errichten baS Märchenwunder der Klosterkirche zu Weltenburg an der Donau (1716—36), die Architekten­ familie der Dientzenhofer baut im Auftrage der Familie Schönborn, die damals die Bischofssitze von Würzburg, Bamberg und Speyer inne hat, und DominicuS Zimmermann (1685—1766) findet in den entzückenden Wallfahrtskirchen von Steinhaufen (östlich von Sigmaringen) und Wies (nördlich von Oberammergau) immer neue AuSbruckSformen für festliche Freude. Von allen der größte ist jedoch Balthasar Neumann (1687— 1753), der sich die ersten Lorbeeren an dem „königlichen Pfarrhause" verdient, wie Napoleon die Würzburger Residenz nicht ohne leisen Spott benannte. Dann aber schenft Neumann, ebenfalls im Dienste der SchönbornS, den ftänkischen Landen eine ganze Reihe von Kloster- und Wallfahrtskirchen, am berühmtesten Vierzehnheiligen, die heiterste Kirche der Welt, und Neres­ heim (bei Nördlingen), dessen gewaltige Halle von erschütternder Wucht ist. Die Plastik ist im Barock fast ganz wieder zur Dienerin der Architektur herabgesunken. All die vielen Gestalten, die da in den Kirchen sich unS bar­ stellen, wollen gar nicht für sich betrachtet werden, sondern sind nur ein be-

§74

Barockbaumeister — Rubens

317

scheideneS Stück des ganzen Baus. So hat denn diese kirchliche Kunst keinen großen Bildhauer erstehen lasten, wenn sich auch bei der Fülle der Aufträge eine Reihe beachtlicher Talente findet. Vor allem blüht die Kunst beS StuckmeisterS, der mit seinen Gipsornamenten die Pfeiler, Decken und Wände überzieht. Dadurch wird es leider auch leicht, alte romanische oder gofische Kirchen zu „modernisieren". DaS geschieht denn auch, besonders in Bayern, in ausgiebigem Maße. — Obwohl im Barock „baS Malerische" durchaus tonangebend ist, hat doch die Tafelmalerei durch diese Kirchen keine eigent­ liche Förderung erfahren. Auch daS Einzelbild tritt so in der Maste beS Ganzen zurück, baß die Maler gar keine Nötigung verspüren, sich einem ein­ zelnen Bilde besonders zu widmen. Dazu kommt, daß die vor allem bei den Deckengemälden beliebte Allegorie den Bildern die konkrete Anschaulichkeit von vornherein entzieht. Der einzige Große unter den Kirchenmalern deS Barock ist Peter Paul Rubens (1577—1640). Am Herrscherhof erzogen und lebend, bleibt er auch in seiner Kunst höfisch. Vieles von dem, was wir über bi« Bauten des Barock geschrieben haben, ließe sich auch von den Bildern dieses Meisters sagen! Ein Rausch von Farben, mit glühendem Pathos erfüllt, immer be­ zaubernd, in gewaltigen Formen sich nie erschöpfend, voller Kraft, aber auch voller Unruhe sind diese Bilder der instinktsichere Ausdruck der katho­ lischen Gegenreformation. Diese Bilder wollen nach außen wirken, — 4000 sind auS seiner Werkstatt herausgegangen! — diese Madonna von Ant­ werpen, eigentlich eine strahlende DenuS, will gesehen sein, und die Heiligen, die sie umgeben, rufen genau so laut zu dem Beschauer hin, wie eS die Heiligen in den Barockkirchen tun. Sein „Jüngstes Gericht" hat nichts von dem Ernst und der Wucht, womit etwa Michelangelo diesen großen Stoff behandelt hatte; Rubens macht daraus eine Orgie nackter Leiber. Es fehlt diesem Künstler der Sinn für das Heilige. Auch hat er, Holbein vergleichbar, in seinen späteren Jahren keine religiösen Bilder mehr gemalt. 3. ES ist interessant zu beobachten, wie Zimmermann und Neumann auS ihrem künstlerischen Empfinden heraus fast überall die Einheitlichkeit des Raumes stark betonen. Damit sind wir bei den Forderungen beS Protestan­ tismus nach einer Predigtkirche angelangt. Hier hatte man immer wieder auf den rechteckigen Saalbau zurückgegriffen, den man höchstens dadurch dem Zeitstil einigermaßen anpaßte, daß man ihm die Ecken abschnitt. In Hanau hatte man auch mal daS regelmäßige Achteck gewählt. Da die barocke Prachtentfaltung weder der Gesinnung noch dem Geldbeutel der protestan­ tischen Auftraggeber entsprach, ist in diesen Kirchen zwar etwas von den Schmuckformen beS Barock übernommen, von eigentlich barockem Geiste aber wenig zu spüren. Auch sind ja im ProtestanfiSmuS nicht mehr die Kirchen GotteS Tempel, sondern die Herzen der Gläubigen. Da wird die Kirche zum Sonntagssaal, der ohne Gemeinde gähnend leer wirkt. Georg

318

Im Zeichen der Gegenreformation

Bähr (1666—1738) hat bann in der Frauenkirche zu Dresden den Ge­ danken der Predigtkirche als einer Einheit zum ersten Male in großem Maßstabe burchgeführt. Unter einer gewaltigen Kuppel ordnen sich in sieben Emporenreihen über 3000 Sitzplätze um Kanzel, Altar und Orgel, also ein reiner Zentralbau. Der ornamentale Schmuck hält sich frei von den Über­ treibungen des süddeutschen Barock, und die Raumwirkung ist ganz außer­ ordentlich: zusammengesaßte Größe. Diese Lösung ist als bas Ideal pro­ testantischen Kirchenbaus gepriesen worden. Man wird jedoch diesem Urteil nur sehr bedingt zustimmen können. Abgesehen davon, baß die Anordnung der Sitze im Kreis leicht die Andacht stört, fehlt doch wohl dem Bau auch der Sinn für das Geheimnis beS Heiligen. Auch die Michaeliskirche in Ham­ burg (1751—62 von Sonnin erbaut) ist hier zu nennen. 4. Diese Zeit von 1600 bis 1750 scheint nach dem Gesagten in all dem Prunk und in all der Macht an der Seele Schaden genommen zu haben. Ja, die deutsche Seele in der Kunst wäre verloren gegangen, wäre sie nicht hinübergerettet worden durch die protestantische Malerei eineö Rembrandt und die protestantische Musik eines Bach (s. S. 313). DaS sind die beiden wirklich Großen beS Barockzeitalters, schon deshalb groß, weil sie sich nicht von der Macht beS Zeitalters imponieren lassen, sondern bleiben, was sie waren. Und wie oft bei wahrhaft Großen, beide schon von den Mitlebenden und erst recht von der Nachwelt unverstanden und vergessen. Denn eS gehört Sammlung und Stille dazu, sie zu verstehen. Wo gab es aber die in der Zeit beS Barock? Rembrandt Harmenß van Ryn (1606—69), der Maler des Lichts und der Liebe, ist kein Kirchenmaler, aber ein wahrhaft frommer Künstler. Nicht bloß, baß er eine außerordentliche Menge biblischer Stoffe gemalt und ge­ zeichnet hat, die Art, wie er sie malt, zeigt und, baß er, darin Michelangelo vergleichbar, wirklich in dieser Gefühls- und Gedankenwelt mit ganzer Seele lebt. 3m Alten Testament ist er, der Reformierte, zu Hause wie kein anderer; die vielen Bilder auS der Geschichte beS Tobias zeigen, wie sehr des Künstlers Seele mit dem blinden Greise mitempfindet. Dies Mitleid mit den Aller­ ärmsten führt seinen Stift, wenn er die Bettler auS dem Judenviertel beS alten Amsterdam zeichnet. Die beiden Bilder deS JahreS 1648, Christus in EmmauS und der Barmherzige Samariter, bilden einen Höhepunkt in der frommen Seelenmalerei Rembrandts. Das sog. Hunbertguldenblatt zeigt uns JesuS inmitten seines Volks scheinbar als einen der Ihren, und doch spüren wir hier sofort den „Herrn", aber ohne jede barocke Pose. Hatte Dürer seinen ChristuStyp geschaffen, als baS Bild beS „Mannes, bei dem ich bleiben will", wie Luther sagt, so gibt uns Rembrandt baS Bild beS „Heilandes". Sein Christus erinnert an die Gestalt, die der Naumburger Meister und ge­ schenkt hat: wir sehen hier den Menschen, dessen Reich doch nicht von dieser Welt ist. Rembrandts Frömmigkeit offenbart sich am erschütterndsten, als

Protestantischer Kirchenbau — Rembrandt

§74

319

ihm wie Hiob das Leben unter den Händen zerbricht. Die Frauen und Män­ ner, die er nun malt, tragen etwas von des Malers Seele in ihrem Innern. Sie haben alle die Nichtigkeit der Welt und ihrer Lust erkannt, so daß ihre Goldhelme oder Prachtgewänder in starkem Widerspruch stehen zu den ganz nach innen gekehrten Augen. Diese Menschen wollen nicht sich zeigen, wie die Gestalten bei RubenS; es geht leise zu auf Rembrandts Bildern, und damit erhebt er sich über all den barocken Lärm. Freilich wer so malt, in jener Zeit so malt, der darf sich nicht wundern, wenn er nicht verstanden wird, sondern die Kundschaft verliert. Doch den großen Mann ficht das alles nicht an, er geht seinen Weg. Immer mehr verzichtet er auf äußere Zutaten, um nur noch eins zu suchen, die menschliche Seele und ihr ewiges Ziel. Das Mittel dazu wird ihm das Licht, das unfaßbare, rätselvolle, alles durch­ dringende, alles verklärende Licht. Es ist symbolhaft, daß er auf dem letzten größeren Bilde, bas er geschaffen hat, die Heimkehr des Verlorenen Sohnes darstellt. Wir vergeffen die leuchtende Fülle der Farben, die ja alle nur „Welt" bedeuten; wie die gemalten Zuschauer der Szene vergessen auch wir Zeit und Raum, denn wir fühlen mit, wie die tastenden Hände des blinden Greises diesem Heimkehrer mit dem Verbrecherschädel zart und sacht über den Rücken streichen. Wir sind durch diesen Maler aus der Welt des Hasses entrückt worden in das ewige Reich der Liebe. So hat Rembrandt baS Höchste, was uns gegeben ist, in seinen Bildern verdeutscht, so wie Luther die Worte der Bibel verdeutschte, und damit ist auch der Maler zum religiösen Erzieher geworden.

Daö Zeitalter der Aufklärung Auflockerung und drohende Auflösung der Kirche §75. Der Umbruch in England.

Der Dreißigjährige Krieg hatte freilich den Völkern und Fürsten auf dem Festland weithin die Lust am konfessionellen Hader verleidet; aber er führte einen Zustand der Ermüdung herbei ohne schöpferische Kräfte für ein neues Werden. Das bereitete sich wohl in der Stille vor, bedurfte aber des Anstoßes von außen. Dieser kam am kräftigsten von England. Dies Land erlebte erst im 17. Jahrhundert eine das Volk tief aufwühlende religiöse Bewegung. Mit ihr verbanden sich Kräfte rationaler Kultur, die aus der Renaissance stamlnten. Beide wirkten in der Richtung einer Lockerung des überlieferten Zwangskirchentums und der Begründung religiöser Toleranz. Darin lagen die Keime zu einer folgenreichen Umwälzung im kirchlichen und im allge-

320

Das Zeitalter der Aufklärung

meinen geistigen Leben des Abendlandes. Sie führten das Zeitalter der Aufklärung herauf. 1. Das englische Geistesleben unter Elisabeth ist durch eine eigenartige Verbindung der Renaissance mit altenglischer Art bestimmt. In Shakespeares Dichtung hat es seine unvergängliche Prägung bekommen Die Staatskirche ist ein festlicher Mantel, der den Volkskörper schmückt, ist aber keine geistige Macht, die Herz und Gewissen des Volkes erfaßt. Die strengen Calvinisten stehen ihr ablehnend gegenüber. Sie sind Puritaner, weil sie, erfüllt vom Ideal der „reinen" Kirche, den „papistischen Sauerteig" aus dem Gottesdienst und dem Leben ausfegen wollen. Sie sind Presbyterianer, weil sie an Stelle der katholischen bischöflichen Verfassung die vermeintlich in der Bibel vorgeschriebene kirchliche Ordnung erstreben: Leitung der Einzel­ gemeinde durch das Kollegium der Presbyter (der Ältesten), über ihnen aufgebaut die Kreissynoden, die Bezirkssynoden und die Nationalsynode. Sie dulden Druck und Verfolgung im ganzen still und gelassen. Sie ehren die Königin wegen ihrer erfolgreichen Außenpolitik, in der man nach calvinischer Art die sichtbare Anerkennung Gottes erblickt, und wegen ihrer klaren antipapistischen Haltung. Diese antirömische Haltung hat Elisabeth nach anfänglichem vorsichtigen Zaudern, mit dem sie ihre letzten Absichten klug verhüllte, erst allmählich eingeschlagen, dann aber folgerichtig durchgeführt. Der päpstliche Bann, der sie 1570 traf, sie ihres königlichen Amtes enthob und die Untertanen von der Treupflicht löste, kam zu spät. Er hat die Anhänglichkeit und Ergebenheit der großen Mehrheit des Volkes zur Leidenschaft gesteigert. Er hat auch mit Anlaß gegeben zu der harten Verfolgung, die jetzt über die katholische Be­ völkerung erging, insbesondere über die auf festländischen Seminaren aus­ gebildeten, meist dem Jesuitenorden angehörigen Missionspriester. Obwohl diese größtenteils ohne politische Nebenabsichten nur der Glaubensstärkung ihrer katholischen Landsleute dienen wollten, wurden sie grausam verfolgt. Hier erblühte ein bewunderungswürdiges Martyrium; weit über Hundert fanden ein schreckliches Ende, das sie mit unerschütterter Geduld ertrugen. Die katholische Minderheit wurde dadurch für alle Zeit in ihrem Glauben gefestigt. Unter dem hochkirchlichen und katholisierenden Regiment der beiden ersten Stuarts (Jakob I. u. Karl I.) versteift sich der Widerstand der Puritaner, gestärkt durch das Beispiel der schottischen presbyterianischen Staatskieche; auch verbindet er sich mit der politischen Opposition gegen die absolutistischen Bestrebungen des Königtums. Die harte Verfolgung nötigt viele Tau ende zur Auswanderung. In Holland beftuchten sie sich mit den Ideen der Tiufer und Spiritualisten (vgl. oben Seite 244), die hier, nachdem sie sich politisch beruhigt haben, weitgehende Duldung genießen. In den Neuenglandstraten jenseits des Meeres gründen sie Gemeinwesen nach ihrem religiösen 3)eal:

§ 75

Die englische Kirche unter Elisabeth — Puritaner und Independenten 321

An der Ostküste von Nordamerika, wo 1607 die erste englische Kolonie „Virginia" entsteht, suchen die in der Heimat verfolgten religiösen Minder­ heiten eine Zufluchtstätte. So begründen 1620 die puritanischen „Pilger­ vater", als Flüchtlinge von Holland kommend, die puritanische Siedlung Massachusetts, von der alle Andersgläubigen ausgeschlossen werden. Das erste Beispiel unbedingter Gewissensfreiheit, mit klarer Trennung von Staat und Kirche, gibt Roger Williams in Rhode-Island (1636). In dem durch keine Tradition belasteten Neulande war Raum für „heilige Experimente". 2. Währenddessen hat im Mutterland das mit den Schotten verbündete presbyterianische Parlament sich gegen den König durchgesetzt. Es wird aber sofort überholt und abgelöst von der radikalsten Richtung der Puritaner, den Independenten. Diese verlangen völlige Unabhängigkeit der Gemeinde von weltlicher und kirchlicher Obergewalt, sind entschlossene Gegner jeder Staatskirche, der presbyterianischen so gut wie der bischöflichen; sie setzen ihr Vertrauen auf die Macht des „Geistes" und lehnen deshalb die kirchliche Gesetzlichkeit der Calvinisten ab. (Sie werden auch Kongregationalisten ge­ nannt, weil sie die Freiheit der „Congregation", der Gemeinde, fordern.) Jetzt kehren die Flüchtlinge aus Holland zurück. Ein Rausch des Enthusias­ mus erfaßt die Nation. England erlebt jetzt erst seine kirchliche Umwälzung, eine gewaltige, das Volk tief aufwühlende Bewegung, in der die „Heiligen" sich als Gottes Auserwählte fühlen. Der Strom wird aus drei Quellen ge­ speist: 1. aus dem strengen Calvinismus, 2. aus dem altenglischen Sinn für Volksfreiheit, 3. aus der mystisch-spiritualistischen Begeisterung. Diese ist für längere Zeit vorherrschend: die einzelne Seele soll unmittelbar vor Gott treten; die Laien sollen ihr Recht haben; keine menschliche Zwangsgewalt darf den von Gottes Geist Ergriffenen knechten: Toleranz für alle außer für die grundsätzlich Intoleranten, die Katholiken. An mancherlei Zeugnissen des Überschwangs und der an Wahnsinn grenzenden Verzückung fehlt es nicht. In Milton, dem Dichter des „Verlorenen Paradieses", findet die Be­ wegung ihren Propheten: „Gott hat jetzt abermals beschlossen, eine große Periode in seiner Kirche zu eröffnen und offenbart sich, wie es so seine Weise ist, zuerst seinen Engländern!" In Cromwell findet sie ihren genialen militärisch-politischen Führer. Aus altem, schlichten Landadel stammend, mit ungebrochener, urwüchsiger Kraft ausgerüstet, erlebt er eine Erweckung zu einer schwärmerischen und doch bibelfesten Frömmigkeit, die sich mit instinktsicherer, zielbewußter strategischer und politischer Tatkraft verbindet. Seine Psalmen singenden Eisenreiter entscheiden den Sieg der independentischen Volksbewegung. Seine Religion ist enthusiastisch wie calvinisch geprägt. Er glaubt an seine und seines Volkes göttliche Bestimmung; wird sie doch durch seine Erfolge bewiesen. Calvinisch ist auch sein buchstäblicher Bibel­ glaube, insbesondere seine Wertung des Alten Testaments: Die Hinrichtung 2i

Schuster, Kirchengeschichte

322

Das Zeitalter der Aufklärung

des Königs und die grausame Niederwerfung der aufständischen Iren werden mit alttestamentlichen Beispielen gerechtfertigt. Freilich die politischen Folgerungen, die seine Anhänger aus ihren schwär­ merischen Vorstellungen ziehen, lehnt sein Wirklichkeitssinn ab. Als das „Parlament der Heiligen" den unsinnigen Versuch macht, nach den mißverstandenen Maßstäben der Bibel Weltpolitik zu treiben, jagt er es aus­ einander und regiert fortan als Diktator. Die unbelehrbaren Schwärmer, die das tausendjährige Reich der „Offenbarung" aufrichten wollen, das so­ genannte „fünfte Reich" (weil es die vier Weltreiche des Propheten Daniel ablösen soll), werden streng verfolgt. Cromwell treibt harte Realpolitik. Außenpolitisch verfolgt er das Ziel, alle protestantischen Mächte zum Bund gegen die katholischen Reiche und ihre Religionsbebrückung zu einen. Mit diesem religiösen Hochziel verbindet sich allerdings eine sehr nüchterne Ver­ fechtung englischer wirtschafts- und machtpolitischer Belange. Damit hat er den Typ des modernen England geprägt. Nachdem die bischöfliche Hierarchie zusammengebrochen und die pres­ byterianische Kirchenidee durch die independentische überholt ist, verzichtet Cromwell auf die Errichtung einer zwangsmäßigen Staatskirche. Sein Ziel ist eine einheitliche englische Volkskirche, die dem Einzelnen seine Gewissensfteiheit, den religiösen Gemeinschaften ihre stete Bewegung und dem Staat seinen christlich-protestantischen Charakter gewährleistet. Aus den Vorberei­ tungen hierzu hat der Tod ihn abgerufen. „Unser Bestreben seit dem letzten Parlament ist gewesen, dem Lande zu zeigen, daß alle Frommen, welcher Art ihre Religion auch sei, volle Gewissensfreiheit haben sollen, wenn sie nur ruhig und friedlich leben, und daß wir nicht die Religion einen Grund zu Kampf und Blutvergießen wollen sein lassen; darunter haben wir genug gelitten und gern gelitten, damit sie diese Freiheit genießen. Wer wirklich fromm ist, sei er nun Anabaptist oder Independent oder Presbyterianer, den schützet im Namen Gottes solange, als er in schlichter Dankbarkeit vor Gott wandelt uttfc die ihm gewährte Gewissensfteiheit genießt. Alle, die an Christus glauben — wahre Religion besteht in dem Glauben an Jesus Christus und einem diesem Glau­ ben entsprechenden Wandel — alle, welche an die Vergebung der Sünden glauben durch das Blut Jesu Christi, alle, die aus der Gnade Gottes leben, die dieses Glaubens gewiß sind — sie sind die Glieder Christi und der Apfel seines Auoes. Wer diesen Glauben hat, möge die Form sein, welche sie will, wenn er ruhig lebt, ohne über solche abzusprechen, die eine andere Form haben — ihr seid es Gott rnd Christus schuldig, und Gott wird es von euch verlangen —, ein solcher soll seine Freiheit haben." (Aus einer Rede Cromwells an die Parlamentsräte.)

3. Unter den beiden letzten Stuarts (Karl II. und Jakob II.) erfolgte eine kirchliche Reaktion, die über die Dissenters (Andersgläubigen) eine grau­ same Verfolgung brachte. Über 8000 wanderten ins Gefängnis; über 60(00

wurden anderweitig bestraft, ohne daß ihr Glaube und ihre Geduld zu brecken war. Die „glorreiche Revolution" machte ihren Leiden ein Ende. Die Tole-

§75

Cromwell — Wilhelm III. — Die Quäker

323

ranzakte Wilhelms III. erhob die Gewissensfreiheit zum Staatsgesetz. Presbyterianer und Independenten, Baptisten (die nur Erwachsene nach per­ sönlichem Glaubensbekenntnis tauften) und Quäker konnten neben der StaatSkirche öffentlich anerkannte Gemeinden gründen. Vom Parlament freilich sowie von Staats- und Gemeindeämtern blieben sie (bis zum Jahre 1828) ausgeschlossen. Die bischöfliche Staatskirche, innerlich stark bereichert durch die überstandenen Kämpfe, behielt ihre Vorrechte sowie den großen Vorsprung der Anhängerzahl. Sie blieb also „The Church of England“. Aber die anderen protestantischen Glaubensgemeinschaften konnten sich da­ neben frei entwickeln. Die Katholiken entbehrten vorläufig jeder Duldung. Der Versuch der StuartS, England für den Katholizismus zurückzugewinnen, war endgültig gescheitert. DaS Zeitalter der Gegenreformation war zu Ende. Die englische StaatSkirche, die jetzt ihre endgültige Gestalt erhielt, bildet neben der römischen und der Reformationskirche (lutherischer oder calvinischer Prägung) einen dritten TypuS abendländischen Christentums. Sie betont nicht ohne Grund ihre Verwandtschaft mit der morgenlänbischen ortho­ doxen Kirche. 4. Die folgerichtigste und reinste Gestalt deS mystischen Spiritualismus, der in der religiösen Revolution Englands als lodernde Flamme der Begeiste­ rung aufgebrochen war, findet sich in den Quäkern (d. h. Zitterer, Spottname für die ekstatische Aufgeregtheit der Anfänge). Ihr Begründer ist der un­ gelehrte Schuster George Fox (1624—91). Aus jahrelangen quälenden Zweifeln war er durch eine innere Stimme erlöst worden und verließ sich fortan nicht mehr auf das äußere Schriftwort und den „äußeren Christus", den die Kirche lehrte, sondern auf den „inneren Christus", das „innere Licht", das jeden erleuchtet, der in die Welt kommt (Joh. I, 9). Er begann im ledernen Kleid als ein „Narr in Christo" ein Leben der Wanberprebigt und sammelte, ungebeugt durch Verfolgungen, Mißhandlungen und wiederholte lange Gefängnisstrafen, „Kinder des Lichts" als seine Jünger und Anhänger. Nach einer Zeit des Sturmes und Dranges, in der apokalyptische Schwärmer mit öffentlicher Bibelverbrennung und messianischen Aufzügen, die an den Wahnsinn von Münster erinnern, die Bewegung in eine schwere Krise brach­ ten, hat William Penn (1644—1718) ihr eine feste Ordnung gegeben und jenseits deö Meeres in Pennsylvania mit der Hauptstadt Philadelphia (Bruderliebe) ein ihren Grundsätzen gemäßes Staatswesen begründet, in dem auch die Katholiken Duldung genossen. Die Quäker haben weder ein formuliertes Bekenntnis noch ein berufs­ mäßiges Predigtamt. Ihr Gottesdienst kennt kein festes liturgisches Formular nock eine vorbereitete Predigt. Sie warten auf die göttliche Erleuchtung eines der Gläubigen, erbauen sich gegebenenfalls mit „heiligem Schweigen". Sakramente und Dogma treten bei ihnen zurück. Aus der Bibel entnehmen sie den Grundsatz tätiger Nächstenliebe und praktischer Bewährung deS Glau-

324

Daö Zeitalter der Aufklärung: Pietismus

bens. Daraus folgern sie die Schlichtheit und Echtheit aller äußeren Lebens­ formen, die Ablehnung von Eid und Kriegsdienst. Bahnbrechend haben sie gewirkt für Sklavenbefreiung und Gefängnisreform: Elisabeth Fry, der „Engel der Gesängnisie" (1780—1845). Die „Quäkerspeisungen" für die darbenden deutschen Kinder der Nachkriegsjahre halten bei uns ihr Andenken in Ehren.

I. Neue Bewegung in der deutschen evangelischen Kirche (Der Pietismus). § 76. Die Vorbereitung.

1. Als Unterströmung hat es in der lutherischen Kirche auch in den Zeiten der starrsten Orthodoxie stets eine mystische Bewegung gegeben, getragen von Einzelnen oder von zerstreuten kleinen Gruppen. In ihr protestiert wieder wie einst am Ende des Mittelalters das warme, lebendige Gefühl gegen theologische Scholastik. In der Mystik dieser Zeit wirkt ein einsamer Denker aus der Reformationszeit nach: Sebastian Franck aus Donauwörth (1499—1543). Als katholischer Priester, lutherischer Prediger, Seifensieder, Schriftsetzer und Buchdrucker, patriotischer Geschichtsforscher und Geschicht­ schreiber hat er in Süddeutschland ein äußerlich unruhiges Leben geführt. Außer durch Luthers Iugendschriften ist er stark durch Tauler und die Theologia Deutsch bestimmt; aber auch durch Erasmus, besten „Lob der Narrheit" er übersetzt. Seine Lebenslosung ist das Pauluswort: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig" (2. Kor. 3, 6), wobei ihm der „Buchstabe" nicht das Gesetz des alten Testaments, sondern jedes Schriftwort bedeutet, während der „Geist" die Möglichkeit neuer Offenbarungen schafft. Er übt scharfsinnige Kritik sowohl an den Mängeln der werdenden lutherischen Lan­ deskirche, wie an allen Auswüchsen der Schwärmerei (die Bauernrevolution verwarf er als eine Lehre der „Freiheit des Fleisches"); aber er ist ein Eigen­ brötler und liefert den Beweis, daß man mit der Mystik keine Kirche bauen kann. 2. An die Oberfläche des lutherischen Kirchentums, zu Amt und Ehren, wenn auch nicht unangefochten, kommt diese Mystik mit Johann Arndt (1555—1621). Geboren zu Ballenstedt in Anhalt, wurde er dort seines Pfarr­ amts entsetzt, weil er als Lutheraner den Übergang des Herzogs zum refor­ mierten Bekenntnis nicht mitmachen wollte; er wurde endlich General­ superintendent der lüneburgischen Kirche in Celle. Er hat Luthers Ausgabe der „Theologia deutsch" neu herausgegeben und damit schon bezeugt, die Mystik habe ein Recht in Luthers Kirche. Im Geiste eines mystisch geprägten Luthertums hat er sein berühmtes Andachtsbuch geschrieben, das in die meisten europäischen Sprachen übersetzt ist: „Vier Bücher vom wahren Christentum." Er schrieb es, weil „über dem vielen heftigen Disputieren

§76

Sebastian Franck, Johann Arndt, Jakob Böhme

325

des christlichen Lebens, der wahren Buße, der Gottseligkeit und der christ­ lichen Liebe gar vergessen ist." Er beklagt, daß die Bibel aus einem „Lebens­ buch" zu einem „Lesebuch" geworden sei, und wollte sie gern zu neuem Leben erwecken. 3. Die originellste und urwüchsigste Gestalt dieser Bewegung ist der Görlitzer Schuster Jakob Böhme (1575—1624). Er war ein Mann, in dem tiefes Gemüt und reiche Phantasie sich mit einem wagemutigen grübelnden Verstand einten, also eine dem deutschen Reformator geistesverwandte Natur. Er hatte Anregungen aber auch von Mystikern und Theosophen empfangen (Paracelsus). Seine Mystik freilich ist nicht mit dem Neuplatonismus zu ver­ wechseln; denn sein Empfinden und Denken geht aus von dem starken Ein­ druck des Gegensatzes und des Kampfes in der wirklichen Welt. Luthers große Anschauung, nach der Zorn und Liebe die gewaltigen Gemütskräfte des ewigen Gottes sind, wandelt sich bei ihm zu einer kühnen dualistischen Welt- und Lebensbetrachtung: Zorn und Liebe werden zu kosmischen Ur­ gewalten, deren Zusammenwirken das Weltall trägt und seine Geschicke be­ stimmt. Dieser „Zorn" ist freilich bei Böhme nicht wie bei Luther nur ein mythisch klingender Ausdruck für eine geistig-sittliche Macht, für das heilige Gericht Gottes, sondern ist in seiner Gott und Welt umfassenden Spekulation wirklich eine mythische Größe: es ist die „Natur" in Gott, der Inbegriff dunkler dämonischer Gewalten, aus denen sich Gottes lautere Liebe in Kampf und Überwindung emporringt, um Licht und Freude auszubreiten.

Ihn ärgert die tote Rechtfertigungslehre der zeitgenössischen Orthodoxie, die über der Lehre die Wirksamkeit des Lebens versäumt. Er gerät deshalb in Konflikt mit der herrschenden Kirche. Die Handschrift seines ersten Buches kam unglücklicherweise dem Hauptpastor in Görlitz, einem orthodoxen Eiferer, zu Gesicht. Dieser brandmarkte ihn von der Kanzel als Ketzer und legte ihm ein Schweigegebot auf, das er schließlich doch nicht halten konnte. Die Ver­ folgungen und Leiden, die er tragen mußte, veranschaulichen die unglückliche Entwicklung des Luthertums zur Pastorenkirche. Böhme stand innerlich darüber. Sein Leitspruch lautete: „Wem Zeit wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allein Streit." Von ihm, dem, »philosophus teutonicus“, sind starke Einwirkungen auf die spätere deutsche Philosophie ausgegangen, insbesondere auf Schelling (vgl. unten § 90). Welch heilsame Ergänzung und und Befruchtung er der Orthodoxie bringen konnte, geht aus den folgenden Proben hervor. „Die kreatürliche Vernunft denket, Gott wohne oben über dem Gestirne in einem Himmel allein und sehe herunter, wie der Sonne Glanz aus ihrem Körper auf die Erde siehet und scheinet. Allsoweit ist die Vernunft gekommen, mehr weiß sie nicht, was Gott und wo Gott sei. Sie weiß nicht, daß er alles Wesen ist und durch alles Wesen wohnet unb keine Stätte besitzet, auch keines Ortes noch Raumes bedarf zur Wohnung."

326

Das Zeitalter der Aufklärung: Pietismus

„Darum ist Gott Mensch geworden, daß er sein herrlich Instrument, welches er zu seinem Lobe machte, daS ihm aber verdarb und nicht nach seiner Freudenund Liebesbegierde wollte klingen, wieder zurecht brächte und den rechten Liebehall wieder in die Saiten einführte. Ja, den Hall, der vor ihm klinget, den hat er wieder in uns, als sein Instrument, eingeführet. Er ist der worben, der ich bin, und hat mich zu dem gemacht, das er ist." „Ein Christ muß Ein Geist in und mit Christo sein und in Christi Kraft wollen und wirken. ES ist eine lebendige, tätige, wirkliche Gnade in einem Christen, ein stets brennendes Feuer." „Dasselbe inwendige Feuer ist der Geist Christi, welcher ohn' Unterlaß der Schlange den Kopf zertritt. DaS Fleisch hat dieser Well Willen, aber derselbe angezündete Grund hat GotteS Willen. Ist einer ein Christ, so wird er deS Fleisches Willen hassen und gram sein. Er wird seiner bösen Fleischlust feind sein und sich selber stets anklagen und für unwürdig halten und stets mit feinem inneren Willen der Seele sich in die allerlauterste Gnade, in GotteS Erbarmen senken und nicht von sich sagen: Ich bin ein rechter Christ! sondern wirb stets mit seiner ganzen Begierde in GotteS Erbarmen bringen und zur Gnade fliehen, daß er doch möchte ein rechter Christ werben, und wirb sich in allem seinem Wandel noch immerbar solcher Gnade unwürdig achten und nur in steter, gelassener Demut mit Flehen und Bitten zur Gnade eindringen." (Vgl. Luther: „Ein Christ ist immer im Werben, nicht im Ge­ worbensein.")

Welch ein Hunger nach inniger Erbauung im 17. Jahrhundert in Deutsch­ land herrschte, zeigt die Verbreitung der AndachtSbücher auS der Rostocker Schule (He i n r i ch M ü l l e r, „Geistliche Erquickstunben", C h r i st i a n Sc r i v e r, „Seelenschatz"). Es waren schon vor Spener viele „pia desideria“ in Deutsch­ land lebendig.

4. Im Ausland sind religiöse Kräfte der Mystik auf protestantischem Boden in Holland und England wirksam gewesen (vgl. S. 320f.). Wie ihr Ursprung sich aus Deutschland ableitet, auS der deutschen Bewegung der Täufer und Spiritualisten, so haben sie später wieder dorthin zurückgewirkt. Holland war, vom Druck der spanischen Tyrannei befreit, durch den Handel, den eS jahrzehntelang auf den nördlichen Meeren als Monopol beherrschte, rasch zu großem Reichtum gelangt; dessen Folge war eine auffallende Ver­ weltlichung der Lebensführung und der Lebensauffassung. AuS dem Schoß der calvinischen Kirche entstand deshalb in der 2. Hälfte deS 17. Jahrhunderts eine starke Gegenbewegung, die den alten, gesetzlich geregelten Lebens­ zuschnitt erneuern wollte und mehrfach zur Trennung einzelner Gruppen von der Landeskirche führte. Diese Bewegung hat naturgemäß auf daS be­ nachbarte deutsche Niederrheinlanb kräftig eingewirkt. — Gleichzeitig hat England durch seine im Sturm und Drang der Cromwellzeit geborene Erbauungsliteratur auf empfängliche Gemüter in ganz Deutschland einen tiefen und nachhaltigen Einfluß geübt, so daß man geradezu von einem Ein­ bruch englischen Schrifttums, englischer EmpfindungS-und Denkweise reden

§76.

Holländische und englische Einflüsse — Katholische Mystik

327

muß. ES handelt sich vor allem um drei Bücher, deren Titel schon Inhalt und Absicht kundgeben: Baxter „Die ewige Ruhe der Heiligen", John Bunyan'S „Pilgerreise" (The Pilgrim’s Progress from this world to that which is to come; hier werden durch eine anschauliche Allegorie die Haupt­ gedanken einer jenseits gerichteten, asketischen Mystik verdeutlicht) und Bayly'ü „Praxis of Piety", daS als „Praxis Pietatis“ zum Losungswort deS deutschen Pietismus werden sollte (gegenüber der toten orthodoxen Theorie). 5. Neben dieser Einwirkung protestantischer Mystik beobachten wir einen kaum geringeren Einfluß katholischer Mystik, der aus den romanischen Ländern stammt; JgnatiuS ist ja keineswegs der einzige Zeuge dieser romanischen Mystik. Eine besonders originelle Vertretung findet sie in der heiligen Theresa von JesuS, 1515 aus altkastilischem Adel geboren. An ihr wird die eigentümlich mystische Bewertung deS Gebets deutlich: Nicht irgendwelche Gaben irdischer Art soll der Fromme von Gott erbitten, sondern den Zugang zu dem höchsten Geheimnis der GotteSschau und GotteSgemeinschaft. DaS Gebet wird also zur wortlosen Versenkung, die, ausgehend von der Betrachtung der Passion, stufenweise daS höchste Ziel der Entzückung in Gott und der Vereinigung mit Gott erreicht. Da Theresa mit poetischer Kunst ihre freudig glühende Mystik zu schildern vermochte, hat sie schrift­ stellerisch über die Jahrhunderte hin eine weite und starke Wirkung geübt (zu­ sammen mit ihrem Schüler und Beichtvater Johannes vom Kreuz hat sie eine strenge Richtung der Karmeliter, die „Unbeschuhten" ober Barfüßer, männliche und weibliche, begründet). Einer ihrer geistlichen Söhne ist der Savoyarde Franz von SaleS (dessen Andenken in dem Orden der Salesianerinnen weiterlebt). Seine Mystik bezeugt sich als echten Sproß der Gegen­ reformation, indem sie ihn nicht hinderte, in der deutschen Schweiz mit be­ denklichen Mitteln (Bestechung durch Geldgeschenke!) auf Ketzerbekehrung auSzugehen. Vielleicht hat seine Mystik im französischen Klerus eine so weite und willige Aufnahme gefunden, weil die Ketzerbekämpfung deS Urhebers als Bürgschaft römisch-katholischer Korreftheit erschien. Eine besonders lautere und liebenswerte Gestalt hat diese Mystik in dem Spanier Michael de MolinoS (geb. 1640) gefunden, der als Wcltpriester in Rom lebte und sich dort als Beichtvater, Seelsorger und Seelenführer ein so hohes Ansehen erwarb, daß Papst Innozenz XI. ihm an seinem Hofe Wohnung gab. Nicht nur in Klöstern, sondern auch im Weltklerus und im Laienstand bildeten sich kleine Kreise von Andächfigen, die nach seiner An­ leitung den Stand der Vollkommenheit in innerster Einkehr und Sfille er­ reichen wollten. Als Mittel hierzu wurden Betrachtung, Versenkung und wortloses Gebet gepflegt, die üblichen kirchlichen, verdienstlichen Bräuche aber, Rosenkranz und Brevier, Kruzifixe und Bilder, erschienen überflüssig; der ganze kirchliche Apparat wurde also entwertet. DaS erweckte die Eifersucht

328

DaS Zeitalter der Aufklärung: Pietismus

und den Haß der I e su i t e n: Sie hetzten die Inquisition auf MolinoS, sogar auf seinen päpstlichen Gönner. Unter der Folter mußte M. abschwören und wurde zu lebenslänglicher Klosterhaft in einem unterirdischen Gewölbe „begnadigt"! Auch^prägten die Jesuiten nun den Ketzernamen QuietiSmuS, mit dem sie den Kerngebanken der heiligen Stille verlästerten. Der Kampf gegen den Quietismus, nach Frankreich übertragen, erreichte seine Höhe in dem Ver­ fahren gegen Frau von La Motte-Guyon (f 1717). Dieser Kampf wurde vergiftet durch seine Verquickung mit der königlichen Kirchenpolitik, sofern Fönelon, der Prinzenerzieher, Erzbischof und geistreiche Schriftsteller, sich der Verfolgten ehrlich annahm, während sein Nebenbuhler, der große Kanzelrebner Bossuet, den König mit Erfolg durch politische Intrige gegen die ganze quietistische Bewegung und ihre beiden Häupter aufbrachte. Der große Einfluß FönelonS auf das deutsche Geistesleben ist dadurch nur ver­ stärkt worben. Die französische Kirche aber wurde werwollster Kräfte be­ raubt. Gewaltig war die Wirkung dieser ganzen mystischen Bewegung nach Deutschland hinüber. A. H. Francke hat MolinoS' Hauptwerk, den „geist­ lichen Seelenführer" inS Lateinische, Gottfried Arnold inS Deutsche über­ setzt. Tersteegen hat einen großen Teil seiner geistigen Nahrung auS den Büchern der Frau von Guyon entnommen. Ihre Nachwirkungen reichen weiter inS Herrnhutische Gesangbuch, bis zu Jung-Stilling und Goethes Bekenntnis einer schönen Seele. Hier gab es also wirklich ein warmherzig­ lebendiges Christentum über die Hecken der Konfessionen hinweg. 6. Don den Strömen der Mystik wurde in Frankreich auch eine andere Be­ wegung berührt, von der man eine Zeitlang so etwas wie eine Reformation der ganzen französischen Kirche erwartete: der JanseniSmuS, genannt nach seinem Urheber, dem Theologieprofessor und Bischof Jansen (f 1638). In ihm erreicht die Augustin-Renaissance der Universität Löwen ihre Höhe. In seinem Buche Augustinus, baS erst nach seinem Tobe herauSkam, hat er die Gedanken des großen Kirchenlehrers über Sünde, Gnade und göttliche Vorherbestimmung überzeugend geschildert und damit seinen Freunden und Jüngern ein Arsenal von Waffen zum Kampf gegen die leichtferttge Beicht­ lehre und Beichtpraxis der Jesuiten geliefert. Im Kloster Port Royal vor Paris sammelte sich ein KreiS frommer, erleuchteter Männer und Frauen, um sich in Augustin zu versenken und mit seinen Gedanken für eine Er­ neuerung der Kirche zu wirken. In diesen KreiS gehörte auch der gmiale Mathemattker Pascal, schon zu seinen Lebzeiten berühmt geworben durch die „Lettres provinciales“, in denen er die Jesuitenmoral rücksichtslos an den Pranger stellte. Er hinterließ in seinen „PenseeS" Bruchstücke einer un­ gewöhnlich tiefgehenden und geistreichen Apologie des Christentums. Pascal anerkennt das uneingeschränkte Recht der Vernunft für Mathematik und Naturwissenschaft; Wahrheü und Gewißheit beS Glaubens aber gründet er auf eine „Logik des Herzens", die von keiner Wissenschaft erreicht wirb.

§ 76f.

Quietisten und Jansenisien, Pascal — Spener

329

Da er zudem zu ekstatischer Mystik neigt, so bleibt er, als eigenwilliger Einspänner, im Rahmen katholischer Kirchlichkeit. „Ich sehe in der Natur zu viele Spuren eines Schöpfers, um ihn zu leugnen, zu wenige, um seiner gewiß zu werden." „Weltliche Dinge muß man kennen, um sie zu lieben, göttliche lieben, um sie kennen zu lernen." „Die Menschen halten ihre Einbildungskraft gern für ihr Herz und halten sich für bekehrt, wenn sie nur daran denken, sich zu bekehren." „Das Endliche vergeht vor dem Unendlichen und wird ein reines Nichts. Also unser Geist vor Gott, also unsere Gerechtigkeit vor der gött­ lichen Gerechtigkeit. Es ist kein so großes Mißverhältnis zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen wie zwischen unserer Gerechtigkeit und der Gottes." Den Jesuiten schreibt er: „Da eure Moral heidnisch ist, so könnt ihr leicht mit eigener Kraft die Gebote Gottes zu erfüllen meinen. Das Gesetz Gottes nach Paulus macht uns alle zu Sündern. Die Jesuitenmoral macht fast lauter Unschuldige. Ecce qui tollit peccata mundi! (Siehe da, sie nimmt die Sünden der Welt hinweg)."

An geistigen Kräften waren die Jansenisten ihren Gegnern weit über­ legen. Diese wußten aber die Macht des absoluten Königs zu gewinnen, um mit den brutalsten Mitteln ihre Gegner niederzutreten. Die Häupter der Bewegung wurden mundtot gemacht oder mußten flüchten, Port Royal wurde zerstört; sein Friedhof wurde, als auf den Gräbern der Märtyrer Zeichen und Wunder der Heilung geschahen, vermauert. Schließlich erreichte der König eine päpstliche Bulle, in der nicht nur Augustin sondern auch das Bibellesen als ketzerisch verdammt wurde! Die „Religion des Königs" hatte einen Pyrrhussieg errungen: wertvollste Kräfte einer rechtzeitigen Reform für Kirche und Staat waren zerstört. Die Jesuiten ttiumphierten vorläufig. Sie konnten, gestützt auf die Vision einer hysterischen Nonne, den grob­ sinnlichen Kult des „blutenden Herzens Jesu" durchsetzen und in den „Re­ demptoristen" einen ihnen nahestehenden zweiten Orden begründen. In der ftanzösischen Revolution ist ihre Saat blutig aufgegangen. § 77. Die Väter des Pietismus.

1. Philipp Jakob Spener (1635—1705) wird gewöhnlich als der „Vater des Pietismus" bezeichnet. Geboren zu Rappoldsweiler im Elsaß, hat der stille, gewissenhafte und lerneiftige Jüngling seine wissenschaftliche und reli­ giöse Ausbildung zu Straßburg erfahren, in einem lutherischen Kirchentum, das sich seit den Tagen der Reformation durch eine gewisse theologische Frei­ heit und praktische Weitherzigkeit auszeichnete, auch stets den Einwirkungen des Calvinismus offen stand, den Spener auf einer Studienreise nach Genf noch genauer kennen lernte. Nach kurzer Tätigkeit als Hilfsprediger in Straßburg wurde er Senior (Oberpfarrer) in Frankfurt a. M. und hat hier eine fleißige pfarramtliche Tätigkeit entfaltet, sich auch schriftstellerisch hervor­ getan. Er wurde deshalb als Oberhofprediger nach Dresden berufen. Kur­ sachsen war immer noch das führende protestantische Land. Ein Zusammenstoß

330

Das Zeitalter der Aufklärung: Pietismus

mit dem weltlich gesinnten Fürsten veranlaßte ihn, einem Ruf nach Berlin als Konsistorialrat und Propst an St. Nikolai zu folgen. Ein Ereignis von symbolhafter Bedeutung: Die Führung des deutschen Protestantismus kam an die Hohenzollern, währmd August der Starke um der polnischen Krone willen zum Katholizismus übertrat! In Frankfurt a. M. hat Spener private Erbauungüversammlungen, Col­ legia pietatis (Pietisten I), zur Pflege der BibelkennMiS eingerichtet, die sonn­ tägliche Katechismuslehre für die Jugend neu belebt und als Abschluß der christlichen Jugendunterweisung die Konfirmation eingeführt. Aufsehen er­ regte er durch ein kleines Schriftchen: Pia desideria (fromme Wünsche), das zuerst als Vorrede zu einer neuen Ausgabe von Johann Arndts Predigten und hernach selbständig erschien, mit dem Untertitel „Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche, samt einigen dahin einfällig abzweckenben christlichen Vorschlägen". Hier schildert er im I. Teil die Mängel deS obrigkelllichen, des geistlichen und beS Hausstandes, um bann sechs Verbesserungsvorschläge zu machen: 1. DaS Wort Got­ tes soll fleißiger getrieben werden, sowohl in der Predigt wie in besonderen Bibelstunben. 2. DaS evangelische Priestertum aller Gläubigen soll erneuert werben (Betätigung der Laien, HauSanbachten). 3. DaS Christentum sei nicht ein Wissen, sondern eine Tat der Liebe! 4. Die Religionöstreitigkeüen sollen aufhören, die Unterschiede sind im Geist der Liebe auSzugleichen. 5. Die zukünftigen Pfarrer sollen auf der Universität nicht nur in die theologische

Gelehrsamkeit, sondern in den persönlichen Glauben und in die praktischen Aufgaben ihres Amtes eingeführt werden. 6. Die Prediger sollen nicht mit kunstvoller Beredsamkeit prunken, sondern schlicht und faßlich den leben­ digen Glauben verkündigen und auf sichtbare Früchte bringen. Spener war kein Mann einer tatenfrohen Begeisterung, keine geborene Führernatur, sondern eher ein schüchterner, bedenklicher, etwas unsicherer Mann. Aber er hatte einen nüchternen Sinn für die Wirklichkeit und war von redlicher Gewissenhaftigkeit. Er sprach verständig und verständlich baS auS, waS die Zeit erwartete und was sie nötig hatte, und entfesselte damit eine Bewegung, die er selbst am wenigsten erwartet hatte. Er wollte nichts als baS echte Luthertum erneuern, so gut er eS verstand; wenn er auch katho­ lisch-mystische Literatur (der Quietisten) laS und allerlei mystische Einflüsse in sich ausgenommen hatte, so hatte er doch Angst vor schwärmerischer Unruhe. Sein Büchlein wurde auch von der Orthodoxie zustimmend ausgenommen, und noch konnte die Bewegung eine auSgesprochm lutherische und kirchliche bleiben. 2. August Hermann Francke (1663—1727) hat ihr eine andere Rich­ tung und Auswirkung gegeben. Er ist SpenerS größter Schüler und Mit­ arbeiter. Nachdem er bei Gellgenhell einer Gastpredigt in Lüneburg als junger, gründlich gelehrter Dozent eine plötzliche Bekehrung erlebt hatte, kam bet

$77

Spener und Aug. Hermann Franke

331

ihm bas Willensstärke, kämpferische Temperament voll zum Durchbruch. Zu­ erst wirkte er in Leipzig, wo er die gelehrten Vorlesungen in praktisch erbau­ liche Bibelauslegung umgestaltete, an der fast mehr heilshungrige Hand­ werker der Stadt als Studenten teilnahmen; sodann als Pfarrer in Erfurt, von wo er bald als „Unruhestifter" vertrieben wurde; schließlich als Pfarrer und Professor an der neugegründeten Universität zu Halle. Hier hat sein von einem cholerischen Temperament getragener Tatendrang sich glücklich und fruchtbar auSgewirkt in der Gründung der vielseitigen Anstalten deS Waisenhauses, dem ersten Unternehmen, daS nur auf dem Glauben seines Stifters und den freiwilligen Liebesgaben seiner Freunde und Anhänger ruhte. Damit legte er den Grund für die Werke der inneren Mission. Aber auch der äußeren Mission hat er als erster auf dem Boden der beusschen evangelischen Kirche seine Aufmerksamkeit gewidmet, indem er evangelische Missionare für die dänischen Kolonien in Ostindien auöbilbete. Endlich hat unter seiner Mithilfe die Cansteinsche Bibelanstalt durch Verwendung stehenden Satzes den Buchdruck verbilligt und so den Anstoß gegeben zu einer ungeahntm Verbreitung der Bibel. Lauter unvergängliche Denkmäler seines Glaubens und seiner Tatkraft. Als Erzieher hat Francke Großes geleistet: Er hat die jungen Leute methodisch für den Unterricht ausgebildet, hat die Realien (Naturwissenschaften) gepflegt, hat den Religionsunterricht durch die biblischen Geschichten belebt. Andererseits war seine Erziehung freilich durch­ aus unkindlich und unvolkstümlich, da er den Kindern alles Spielen und Tanzen untersagte und ihnen nur geistliche Lieder gestattete. Nach seiner Lüneburger Bekehrung hat er Spener persönlich ausgesucht und mit ihm Freundschaft und Bundesgenossenschaft geschlossen, die sich immer mehr zur Kampfgenossenschaft entwickelte. Jetzt erst trat der Gegen­ satz zwischen Pietismus und Orthodoxie deutlich in die Erscheinung. Die meisten Vertreter der Orthodoxie nahmen eS persönlich übel, daß sie aus ihrer theologischen und kirchlichen Selbstsicherheit aufgefchreckt wurden. Speners „Pia desideria“ sagen uns heute wenig, waS unS nicht selbst­ verständlich wäre. Wenn sie damals ein solches Aufsehen erregten, so be­ deutet das eine Anklage gegen die übliche Orthodoxie, weil sie naheliegende und unerläßliche Aufgaben versäumt hatte. Andererseits freilich konnten die Orthodoxen in dem heftigen theologischen Federkrieg, der jetzt entstand, nicht ohne Grund eine Reihe von begründeten Vorwürfen gegen den Pietis­ mus erheben: die Gleichgültigkeit gegen die reine Lehre, gegen die Gnaden­ mittel der Sakramente und das geistliche Amt, das gewalssame Drängen auf Bekehrung zu einem bestimmten Termin, die Einrichtung von Konventikeln, die zu hochmütiger und liebloser Absonderung führten, die summarische Verwerfung harmloser weltlicher Dinge, wie Spiel, Tanz und Theater, vor allem aber die mangelhafte Sicherung gegen schwärmerische Entartungen, die jetzt vielfach auftraten.

332

Das Zeitalter der Aufklärung: Pietismus

Semen großen Einfluß auf den Solbatenkönig Friedrich Wilhelm I. mißbrauchte Francke, um den aufgeklärten Philosophen Wolff aus Halle zu vertreiben, mit der auf die Denkart deö Solbatenkönigs klug berechneten Begründung, er lehre den Determinismus (die menschliche Willensunfreiheit), d. h. die sittliche Verantwortungslosigkeit und gefährde damit die Disziplin der Armee (vgl. S. 351 über den Konflikt beS Königs mit seinem Sohne wegen derselben Präbestinationslehre) — ein Unrecht, das der große Sohn bei seinem Regierungsantritt durch ehrenvolle Zurückberufung wieder flut machte. Wieder die alte Erfahrung: Die Verfolgten von gestern sind die Verfolger von morgen.

§ 78. Zinzendorf und die Brüdergemeine. 1. Eine eigenartige, den engen Rahmen beS schablonenhaften Pietismus ausweitende verheißungsvolle Gestalt fand die Bewegung ttv Nikolaus Lud­ wig Reichsgraf von Zinzendorf (1700—60). Er stammt freilich aus einem Hause, in dem pietistischer Einfluß wirksam war (Spener sein Pate), und hat auf dem Pädagogium zu Halle eine pietistische Erziehung empfangen. Er darf aber nicht als Pietist schlechthin bezeichnet werden, sondern ist in Frömmigkeit, Theologie und Kirchenausfassung eine selbständige und eigen­ wüchsige Erscheinung. Nach dem Willen seines Vormundes studiert er in Wittenberg die Rechte, lernt dort die Orthodoxie kennen und schätzen; er schließt sich ihr an und bemüht sich um ihre Versöhnung mit dem Piesismus. Auf seiner „Kavaliers­ tour" wird er in Düsielborf durch ein Bild des Gekreuzigten tief bewegt („Das tat ich für dich, was tust du für mich?"), verkehrt in Holland mit erweckten Calvinisten, in Paris mit einem frommen jansenistischen Kardinal. Zurückgekehrt, nimmt er in Dresden ein Amt als Hof- und Justizrat an, hält nebenbei private Erbauungsversammlungen. Auf seinem Gut Bertels­ dorf in der Lausitz siedelt er Zugewanberte der Mährischen Brüder an, widmet sich immer mehr der Pflege dieser Gemeinde und gibt deswegen sein Staats­ amt auf, erwirbt sich nachträglich theologische Ausbildung und empfängt von einem Bischof der Mährischen Brüder selbst die Bischossweihe. Als „Sektierer" aus Sachsen verbannt, gründet er in der Wetterau eine neue Gemeinde, bereist Deutschland und'seine Nachbarländer, fährt nach West­ indien und Nordamerika, überall reiche Anregungen ausstreuend, und kehrt schließlich in die Heimat zurück.

Zinzendorf ist von Temperament ein anderer als Spener sowohl wie Francke. Er ist ausgesprochener Sanguiniker, mit den Vorzügen und den Mängeln dieses Temperaments: Rege Unternehmungslust, Drang in die Weite und ins Große, Fähigkeit sich anzupassen und sich durch Mißerfolge nicht beugen zu lassen; daneben Sprunghaftigkeit und Neigung zu Extra-

5 78

Jinzendorf und die Brüdergemeine

333

vaganzen. Diese zeigen sich nicht selten peinlich in seiner Auffassung und Be­ handlung des Geschlechtslebens: der gesunde lutherische Grundgedanke der Anerkennung der gottgeschaffenen Natur wurde durch die grobgeschmacklose Bildersprache seiner Lieder und durch bedenkliche Bräuche entstellt. Seine Frömmigkeit ist von Jugend an durch zwei zielgebende Kräfte be­ stimmt : inniger, persönlicher Anschluß an die Gestalt Jesu und das Verlangen nach herzlicher Glaubensgemeinschaft mit anderen. Seine Jesusliebe führte ihn zu einem vielfach ungesunden Jesuskult, zu einer spielerischen und zu­ dringlichen Anbetung des Blutes und der Wunden des Gekreuzigten. Darun­ ter leiden besonders auch viele seiner Lieder. Und doch hat er in Glaube und Theologie viel mehr als die Pietisten und die durchschnittliche Orthodoxie echte Triebkräfte Luthers bewahrt und weitergegeben. Er betont, daß das Herz, das Gemüt den Sitz der Religion ausmache: „Das Wesen der Religion muß etwas ganz Anderes sein als eine Meinung. Ihre Wahrheit wohnt nicht im Gehirn, sondern nimmt den ganzen Menschen ein, und der Mund muß nicht von Gedanken, sondern von einer Herzensfülle übergehen, wenn er von der Religion reden will." Er zeigt ein wirkliches Verständnis für die reformatorische Kernlehre von der Rechtfertigung aus Gnade allein; er wiederholt Luthers Grundsatz, daß wir wirkliche Erkenntnis Gottes nur in Christus haben, und erklärt alle „natürliche Theologie" für ungültig. Wie Luther macht er Ernst mit der Menschheit Christi und lehnt das Disputieren und Spekulieren über die hohen Geheimnisse der Zwei Naturen ab. Er an­ erkennt auch den menschlichen Charakter der heiligen Schrift und läßt sich durch die Grenzen des Kanons nicht schrecken. Wie Luther einst Melanchthons Loci, so möchte er das Augsburger Bekenntnis und Luthers Katechismus in den Kanon mitaufnehmen. Die Glut seiner Empfindung, die lebendige Kühnheit seiner Bilder, die Ursprünglichkeit und der Schwung seiner Sprache bezeugen den echten Dichter. Doch fehlte es ihm an der strengen Selbsterziehung, er neigte zu eilfertigem Improvisieren; so ist unter der Menge seiner Lieder viel Ge­ schmackloses und Ungenießbares. Erst durch sorgfältige Auslese und vor­ sichtige Bearbeitung hat unser Gesangbuch aus seiner Liedermasse Perlen bekommen wie „Jesu, geh voran", „Herz und Herz vereint zusammen", „Herr, dein Wort, die edle Gabe", „Der Glaube bricht durch Stahl und Stein". 2. Die Brüdergemeine ist im wesentlichen seine persönliche Schöpfung. Er hat die mährischen Zugewanderten und die mancherlei pietistischen Flücht­ linge aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands auf dem Hutberge bei Bertelsdorf nicht nur äußerlich organisiert und wirtschaftlich gesichert, er hat aus der innerlich zerrissenen Kolonie eine in sich geschlossene, lebendige Gemeinde hergestellt, indem er ihr die Glut seiner Jesusliebe und seinen nie versagenden Willen zum Zusammenhalt einflößte.

334

DaS Zeitalter der Aufklärung: Pietismus

Sein Ziel war nicht eine separatistische Gemeinde, sondern eine ErbauungSgemeinschaft innerhalb der Pfarrgemeinde Bertelsdorf und der luthe­ rischen Landeskirche. (Dgl. Luthers Idee der Kerngemeinden ernster Christen.) Durch die Verhältnisse wurde er genötigt, eine Sondergemeinde zu gründen; doch hat er sie durch die Annahme der Augsburgischen Konfession an das lutherische Kirchentum angelehnt. Auch hat er ihr für alle Zeiten den gesamt­ kirchlichen (ökumenischen) Sinn eingestiftet, so baß die Herrenhutergemeinben immer ein freundschaftliches Verhältnis zu den großen Landeskirchen ge­ pflegt haben (sie traten 1922 sofort dem deutschen evangelischen Kirchenbund bei) und nach ihrem inneren Wesen in keiner Weise den Charakter einer „Sekte" tragen. Ihre größte Leistung bis auf den heutigen Tag ist die Heibenmission. Sie ist der Ausdruck der liefen Jesusliebe und des alle Verlorenen umfasienben Gemeinschaftswillens. Auch sie geht auf ZinzenborfS persönliche Anregung zurück. Seine Weltreisen haben ihr gedient. Die schwersten Auf­ gaben setzten sich die Brüder: Grönland, Westindien, Nordamerika. Heute noch ist die Herrnhutermission, getragen von einer zahlenmäßig verschwindend geringen Heimatgemeinde, ein weltweites Unternehmen, ein beschämender Aufruf an alle evangelischen Kirchen.

Die Brüberunität zählt heute in Deutschland 9400, in England gut 4000, in Nordamerika 25000, in Südamerika 9200, in Böhmen 6200 Mitglieder. Sie unterhält auf 13 Missionsgebieten 182 Hauptstationen mit 688 Neben­ stationen. Dort wirken 3240 Missionare, eingeborene Arbeiter und Gehilfen. 14800 Heibenchristen werden betreut. 3n 645 Tageschulen werden 46600 Kinder von 1480 Lehrern unterrichtet. Dazu kommen 5 höhere Schulen mit 460 Schülern und die Sonntagsschulen mit 26000 Kindern. Die Kosten beliefen sich 1926 auf 1107000 RM, von denen 519500 auf den Missions­ gebieten, 587500 in der Heimat aufgebracht wurden. $ 79. Der Ertrag der Bewegung. 1. Fruchtbare Anregungen mannigfaltigster Art hat der Pietismus vor allem in den Acker der lutherischen Kirche auSgestreut. Er hat die Predigt und die Jugendlehre neu belebt, den Ernst der Seelsorge geweckt, hat Großes geleistet für Bibeldruck und Bibelverbreüung, für biblischen Religions­ unterricht und Bibelstunden der Erwachsenen. Durch ihn erst ist die Bibel zum Volksbuch der evangelischen Kirche geworben. Mst der Armen- und Waisenfürsorge hat er die innere Mission begründet und hat die Heiden­ mission daneben gestellt. Er hat den Schatz unseres Gesangbuches endlich durch wertvolle Gaben vermehrt. Neben Iinzenborf ist Joachim Neanber zu nennen („Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren" und „Wunderbarer König, Herrscher von

§78f.

Der Ertrag der Bewegung: Erfolge und Gefahren

335

uns allen"), vor allem aber Gerhard Tersteegen, der mystisch fromme Banbwirker vom Niederrhein, der demütig gläubige Seelsorger ungezählter Angefochtener, der Prophet zarter und reiner Innerlichkeit („Gott ist gegen­ wärtig", „2ch bete an die Macht der Liebe", „Nun sich der Tag geendet") — beide der reformierten Kirche angehörig. 2. Bedenkliche Erscheinungen sind daneben festzustellen. Das Drän­ gen auf plötzliche, terminmäßig festzulegende Bekehrung gefährdet die Wahr­ haftigkeit des frommen Innenlebens. Die geistliche Anregung entartet oft zur Aufgeregtheit. Die Ausgeburten krankhaft überreizter Nerven werden für Krafttaten des hlg. Geistes gehalten. Der aus dem Calvinismus stammende Wunsch, die unsichtbare Gemeinde der Erwählten in einer äußeren Kirchen­ gestalt möglichst vollkommen darzustellen, führt zu einer äußerlichen Kirchen­ zucht und zu der Entstehung von pharisäisch gestimmten Konventikeln. Ge­ scheitert ist er an der Aufgabe, eine echtem Glauben entsprechende Stellung zubcrWelt,zu ihren Gaben und Aufgaben,zu finden. Der Pietismus hatte Recht, wenn er Betätigung des Christentums im Leben verlangte und gegen eine verweltlichte Kultur protestierte. Aber dieser Protest führte vielfach zu einer hochmütigen und glaubensschwachen Abkehr von der Welt. Man soll doch nicht nur Christ sein, solange man Gesang- und Gebetbuch vor sich hat oder den Heiden predigt. Die reformatorische Forderung, die christliche Voll­ kommenheit in den Aufgaben des täglichen Berufes zu bewähren (AugSb. Bek. Art. 16), wurde weithin vergessen, weil der auf Weltüberwindung zielende lutherische Wagemut fehlte. So hat der PiefiSmuS die große Aufgabe, ein Christenvolk zu erziehen, baS nicht von der Welt, aber doch für die Welt ist, ungelöst gelassen. Bedenklich war vor allem der pietistische Subjektivismus und die daraus entspringende Geringschätzung fester kirchlicher Formen, Sitten und Ordnungen. Alles das führte zur Gefahr einer Auflösung der Volkskirche. 3. Die Auswirkungen sind auch außerhalb des Raumes der Kirche deutlich zu beobachten. Die pietistischen Dichter und Schriftsteller haben ein großes Verdienst um die innere Belebung und Beseelung der deutschen Sprache. So wie die Mystik des Mittelalters der Bibelübersetzung und Sprache Martin Luthers vorgearbeitet hat, ähnlich der Pietismus unserer klassischen Dichtung. Der anschauliche Beweis sind Klopstocks Oden; aber auch Goethes Lieder, sein Werther und seine Iphigenie sind ohne diese sprachliche Vorbereitung nicht zu begreifen. Es handelt sich aber nicht um einen nur sprachlich formalen Einfluß. Soweit unsere klassischen Dichter vom Christentum innerlich berührt wurden, geschah es durch pietistische Ver­ mittlung. Das ist am augenfälligsten bet Goethe zu beobachten. Die Freund­ schaft mit der Herrenhuterin Susanne von Klettenberg hat ihn in den Monaten der Krankheit zwischen Leipzig und Sttaßburg in den Kreis der Erweckten gezogen und ihn dauernd gesegnet (das „Bekenntnis einer schönen

336

Das Zeitalter der Aufklärung: Pietismus

Seele" in „Wilhelm Meister"). Jahrelang war er auch in seiner Sturm- und Drangzeit mit dem genialen Züricher Bibelpietisten Lavater befreundet und dauernd mit dem gläubig frommen Augenarzt Jung-Stilling. Andererseits hat die willkürlich geniale, keineswegs „unparteiische" „Ketzer- und Kirchen­ geschichte" des Pietisten Gottfried Arnold, der nachweisen wollte, die Wahrheit sei stets bei den von den herrschenden Kirchen verfolgten kleinen Konventikeln gewesen, Goethe offenbar stark beeindruckt und damit ge­ hindert, die Kirche richtig zu würdigen (in den zahmen Xenien IX heißt es, die Kirchengeschichte sei nichts als „ein Mischmasch von Irrtum und Gewalt"). Im Pietismus vollzieht sich weithin ein Einströmen puritanisch-calvinischen Geistes in das Luthertum. Das ergibt eine Erweichung des Gegensatzes der Konfessionen und eine Geringschätzung ihrer Bedeutung. Das Betonen der persönlichen Bekehrung und des persönlichen Erlebnisses führt zu einer über­ steigerten Wertschätzung der Persönlichkeit und bereitet so den Individualis­ mus der Aufklärung vor. In derselben Richtung wirkt die mystische Hoch­ schätzung des inneren Lichtes der Erleuchteten und Erweckten: Wenn der Enthusiasmus verraucht, wird aus diesem inneren Licht die selbstherrliche Vernunft der Aufklärung. Andererseits ist es wohl dem Pietismus zu verdanken, wenn in die deutsche Aufklärung ein gut Teil Herzenswärme und Gemütskraft hineingerettet wird (Gellerts geistliche Lieder), die sie vor der ausländischen vorteilhaft auszeichnet. Gegen das orthodoxe Staats­ christentum im Zeitalter des Absolutismus, seinen harten Polizeizwang und seine dogmatische Verknöcherung, haben Pietismus und Aufklärung gemein­ sam gestritten.

§ 80. Die Erweckung unter den Angelsachsen: Der Methodismus. 1. Ähnlich wie das deutsche orthodoxe Luthertum war auch die angli­

kanische Staatskirche der Erstarrung und Unfruchtbarkeit verfallen. Sie ver­ sagte vor allem gegenüber den wirtschaftlichen und seelischen Nöten des Proletariats in den rasch herangewachsenen englischen Großstädten. Hier erfolgte um 1740 eine Gegenbewegung, deren Träger die beiden Brüder Wesley, Charles und John, und ihr Freund George Whitefield waren. Als Oxforder Studenten gehörten sie einem „heiligen Club" an, dessen Mitglieder sich von dem üblichen studentischen Treiben auffallend unter­ schieden. Weil diese jungen Leute es mit ihrer Aufgabe ernst nahmen und deshalb eine regelmäßige Methode des Studiums und der Lebensfühmng befolgten^ wurden sie von ihren Kameraden als „Methodisten" verspottet. Die Freunde waren angeregt durch Thomas von Kempens Buch von der Nachfolge Christi und mühten sich um strenge Gerechtigkeit der Werke, zu­ gleich um peinliche Befolgung der liturgischen Formen der Hochkirche. 1735 begaben sich beide Brüder nach Amerika zur Jndianermission und trafen

Der Methodismus

§80.

337

dort mit Herrnhutern zusammen, die das Werk schon vorher betrieben. Nach England zurückgekehrt, kamen sie auch unter den persönlichen Einfluß Zinzenborfs selber und damit unter den Einfluß der aus dem Luthertum stammenden Lehre von der Heilsgewißheit, die allein dem Glauben an GotteS freie unverdiente Gnade zu verdanken sei. Beide Brüder kamen zu der Über­ zeugung, dieser Glaube müsse ihnen zu einer bestimmten Stunde in einem Durchbruch geschenkt werden, und konnten auch später Tag und Stunde ihrer Bekehrung angeben, die John am 24. Mai 1738 83/4 Uhr Abends in einer Versammlung in London bei der Vorlesung von Luthers Römerbrief­ vorrede („der Glaube ein tätig schassend Ding") erlebt hat. In beiden entband dies Erlebnis ungeheure Kräfte des Handelns: sie strömten auö dem Be­ wußtsein der Verpflichtung zu dem „Beruf, Seelen zu retten", nachdem ihnen die eigene Seele geschenkt war. Mit ihnen verband sich der schon vorher durch ein ähnliches Erlebnis bekehrte Whitefield. Sie wollten zunächst innerhalb der anglikanischen Kirche, deren theologisch gebildete Priester sie waren, ihren neuerkannten Beruf ausüben. Erst als bürokratische Schwerfälligkeit ihnen die Kanzel versagte, wurden sie zu der öffentlichen Volksmission der Fcldpredigten genötigt und erzielten damit einen ungeheuren Erfolg. Die drei Freunde ergänzten einander auf das glücklichste: Whitefield hatte eine hinreißende Kraft der ErweckungSpredigt, war unermüdlich auf Reisen, 7mal in Amerika. Charles WeSley war der Dichter und Sänger der Bewegung, John aber der geniale Organisator. So wurde er zum Vater und Haupt der Bewegung. 2. Der Methodismus legt, wie das Quäkertum, kein Gewicht auf die theologische Lehre. Seine ganze Bemühung richtet sich auf die im Leben zu bewährende „Vollkommenheit der Heiligen". Von den Herrenhutern übernahm er unter anderem das deutsche Kirchenlied. DaS Gesangbuch wird zum Katechismus der Bewegung. John Wesley hat mit ebenso viel Eifer wie sprachlicher Kunst deutsche Kirchenlieder inS Englische übertragen, bis sein Bruder Charles mit eigenen Dichtungen hervortrat. Zlber noch in späterer Zeit hat John seine Kernlehre von der Vollkommenheit mit Versen aus Tersteegen und Paul Gerhardt belegt. Wenn somit der englische Methodismus auch durch den deutschen Piefismus angeregt und beftuchtet ist, so unterscheidet er sich von ihm doch schon äußerlich dadurch, daß er von Anfang an Massenbewegung ist, die wesentlich auf das Jndustrieproletariat gerichtet ist, und daß er eine Methode entwickelt, die Masten zu organi­ sieren, um sie durchgreifend und anhaltend zu erfasten. Er bildet Gemeinden, deren Mitglieder ihre Karte vierteljährlich zu erneuern, sich also ständig zu bewähren haben. Diese Gemeinschaften werden in kleine „Gruppen" von je 12 Mitgliedern eingeteilt, die wöchentlich einmal zusammenkommen, um ihre religiösen Erfahrungen auszutauschen. Der Gruppenleiter ist verpflichtet, die einzelnen Mitglieder fleißig zu besuchen, an der Rettung und Bewahrung 22

Schuster, 5ttrchengefchtchte

338

Das Zeitalter der Aufklärung

ihrer Seele zu arbeiten (das Urbild der heutigen „Gruppenbewegung"!). Wer in die Gemeinschaft aufgenommen werden will, soll öffentlich bezeugen, daß er ein Verlangen hat, dem Zorngericht Gottes zu entfliehen und von Sünden erlöst zu werden; er soll sich ernstlich bemühen, durch ein Gott wohl­ gefälliges Leben in Selbstzucht und Dienst an den Mitmenschen dies Ver­ langen zu bewähren. Trotz theologischer Meinungsverschiedenheiten, sofern John Wesley den strengen Glauben Whitefields an die Prädestination nicht mitmachte, wuchs die Bewegung unaufhaltsam und wurde genötigt, eigene kirchliche Organi­ sationen zu schaffen. Sie eroberte weite Gebiete, nicht nur in Großbritannien und Irland, sondern auch in Nordamerika und in allen englischen Kolonien; sie muß jetzt als die größte angelsächsische Religionsgemeinschaft gelten. Vor gut 100 Jahren hat sie auch in Deutschland Boden gewonnen und zählt hier etwa 40000 Mitglieder. Der Methodismus hat von seinem Ursprung her den fröhlich zuversicht­ lichen Willen zur Weltumgeftaltung behalten. Er hat tatkräftig und erfolgreich gegen die Sklaverei, gegen Trunksucht und andere Volksschäden gekämpft, hat auch die Heidenmission eifrig gefördert. Er ist so zum typischen Vertreter des kirchlichen Aktivismus der Angelsachsen geworden. Englische Geschichtschreiber schätzen die sozial versöhnende Wirkung des Methodismus so hoch, daß sie meinen, England habe ihm die Bewahrung vor den Schrecken der ftanzösischen Revolution zu danken. Den jüngsten und eigenartigsten Ableger der Bewegung bildet die Heils­ armee, die mit militärischer Organisation, mit soldatischen Titeln und Uni­ formen, aber auch mit soldatischer Tatkraft und Unerschrockenheit ihr Werk der Volksmission betreibt. So fremdartig dem zurückhaltenden, innerlich gestimmten deutschen Luthertum diese uniformierte Straßenmission erschei­ nen mag, ihre Leistungen und Erfolge sind nicht zu verkennen.

II. Die Aufklärung.

§ 81. Der Umschwung des geistigen Lebens. Die Aufklärung ist nach der Reformation der tiefste Einschnitt und die folgenreichste Wandlung im geistigen Leben der abendländischen, christlichen Welt. Sie ist nicht aus der Reformation entsprungen, sondern eher aus der Renaissance, deren Auswirkung in Deutschland durch den leidenschastlichm, die ganze Nation in Atem haltenden Kampf um Luthers Lehre abgeschnitten wurde, während sie in Nordwest-Europa (Frankreich, Niederlande, England) weiterging, wenn auch zum Teil unter der Oberfläche des geschichtlichen Lebens. So ist die Aufklärung kein deutsches, sondern ein westeuropäisches Erzeugnis.

4 81.

Die neue Wissenschaft — Descartes

339

1. Die Renaissance, aus der die Aufklärung entsprungen ist, erleidet dabei freilich eine starke innere Umbildung, indem die Leidenschaft für die Kunst, für den schönen Schein, die der italienischen Bewegung das Gepräge gab, zurücktrat hinter der Leidenschaft für die Wissenschaft, für die sachliche Er­ forschung von Welt und Mensch. Dieser Wechsel ist vielleicht bedingt durch den eigentümlichen Charakter der in Nordwesteuropa führenden nordischen Rasse, deren Begabung unter anderem gerade wissenschaftlicher Wagemut ist. Die führende Wissenschaft dieser Zeiten ist die Naturwissenschaft; und hier wieder stehen beherrschend voran die Zweige der Naturwissenschaft, die am deutlichsten der mathematischen Methode unterliegen, die gewisser­ maßen angewandte Mathematik darstellen: Astronomie und Physik. Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton führen das „klassische Zeitalter der Natur­ wissenschaft" herauf und damit zugleich eine ganz neue Erfassung und Wert­ schätzung der Wissenschaft: „Jetzt gab es zum ersten Mal seit der Philosophie der Hellenen, also zum ersten Male auf dem Boden des christlichen Kultur­ kreises, eine ihrer selbst sichere, freie Wissenschaft, und es entstand als neue Grundgesinnung das rücksichtslose Forschen nach Wahrheit, das Ethos wissen­ schaftlichen Wahrheitssinnes."(Troeltsch, vgl. Lessing S. 359.) Und diese wis­ senschaftliche Forschung verlangt als ihr Lebenselement Denkfreiheit, Tole­ ranz, die ihr zuerst in den von spanischer Tyrannei befreiten Niederlanden be­ schert wird. Damit entsteht der Geist der autonomen, d. h. der freien, nur den eigenen Gesetzen unterliegenden, wissenschaftlichen Forschung; freilich nicht ohne die Gefahr kritikloser Überschätzung, als ob die Wissenschaft an sich

schon tragende Weltanschauung zu schaffen und Religion zu ersetzen ver­ möge, während sie allein doch gar zu leicht zum Relativismus und Skeptizis­ mus führt (s. o. S. 199 u. 254 Erasmus sowie den „Positivismus" des 19. Jahrhunderts S. 419f.). 2. Diese neue Naturwissenschaft findet ihren Ausdruck und ihre Begrün­ dung in einer neuen Philosophie. Ihr Schöpfer ist der französische Edel­ mann Rene Des cartes (1596—1650), der sein wissenschaftliches Lebenswerk in stillster Zurückgezogenheit unter dem Schutz der holländischen Denkfreiheit vollbracht hat, aber am Hofe der Königin Christine von Schweden gestorben ist. Er ist der Begründer des philosophischen Rationalismus, d. b. jener Richtung der Philosophie, die in der Ratio, der reinen Vernunft, die Quelle wirklichen Wissens gegenüber dem täuschenden Schein der Sinne er­ blickte und aus ihr allein eine ganze Weltanschauung aufzubauen unternahm. Er ist auch der Mann, der die Autonomie der Wissenschaft (die Freiheit und Unabhängigkeit wissenschaftlichen Denkens, das nur seinen eigenen Gesetzen folgt) begründen wollte. Er geht aus von dem radikalen Zweifel an aller Überlieferung, aller sinnlichen Wahrnehmung und allen seelischen Vorstel­

lungen, rettet sich aber vor der Verzweiflung durch die vermeintlich sichere Entdeckung, daß in allem Zweifel doch immer das zweifelnde, d. h. denkende

340

DaS Zeitalter der Aufklärung

Ich als unerschütterlicher Fels bestehen bleibe: Cogito, ergo sum. Von hier aus meint er als zweiten Fußpunkt, durch Verbesserung des Anselmschm GotteSbeweiseS (vgl. S. 168), daS Dasein und Wesen GotteS vernunftmäßig beweisen zu können: Die Vorstellung eines unendlich großen und weisen WesenS, die wir alle in unS tragen, muß, da wir kleinen Menschen sie nicht selbst erfunden haben können, von außen, b. h. von Gott in unS gepflanzt sein. Von da auS endlich gelangt er zu einer Vorstellung von Welt und Seele („ausgedehnte" und „denkende Substanz"), die er für zuverlässig hält nach dem typisch französischen Prinzip, daß alle Erkenntnisse, die wir „klar und deutlich" im Bewußtsein ttagen, auch richtig und wahr sein müssen. So ist DeScarteS gewissermaßen der „klassische" Dertteter beS Rationalismus, der dm Menschen zu einer Denkmaschine und die Welt zu einer Verkörperung der Mathematik macht. Die Folge ist jene mechanistische Naturbetrachtung, die von Goethe bekämpft wurde und die heute erschüttert ist. Sein größter Schüler ist der in Holland lebende, auS einer portugiesischen Jubenfamilie stammmde Baruch Spinoza (1632—77). Auch er unterliegt dem Zauber, dm damals die Königin der Wissmschaftm, die Mathematik, auSübte, und schreibt eine Ethik nach mathematischer Methode (more geometrico demonstrata). Hier wird scheinbar der lebendige Gott von der mathematisiertm Natur verschlungen. Der Schöpfer und Herr beS Weltalls wird zum Weltall. Deus sive natura. Er wurde deshalb von der Nachwelt allgemein als Atheist bewachtet, und sein wahres Wollen blieb lange Zeit un­ bekannt. In diesem mathematisch formulierten System lebt aber der Geist quietistischer Mystik; denn daS Ziel seiner Ethik ist die Stillung aller Triebe und Leidenschaften durch die größere Leibmschaft der reinen, völlig selbstlosen GotteSliebe (Amor dei intellectualis). — Seine Ethik will nichts anderes sein als angewandte Psychologie; sie handelt in der Tat auch weithin nur von psychologischen Problemm. Diese psychologische Ethik wird fteilich schließlich auSgerichtet nach einem religiösen Endziel. Die Affekte, die leidmschaftlichm, unordmtlichm GemütSbewegungm sind eS, die dm Mmschm nicht nur um alle wahre Einsicht, sondem auch um alles echte Glück betrögen. Überwunden werbm diese Feinde aber nicht durch eine

theoretische Wahrheit, sondern nur durch einen stärkeren und reinerm Affeft (weil ihm allein bewegmde Kraft innewohnt). Dieser einzig reine, über­ mächtige Affekt ist die geistige GotteSliebe. Sie ist rein, roenn sie weiß: „Wer Gott liebt, kann nicht wollm, daß Gott ihn wieberliebe." Sie ist stark, bmn: „Diese Liebe zu Gott kann weder durch dm Affekt beS Neides noch dm der Eifersucht befleckt werbm, sondem wird umsomehr gmährt, je mehr Mmschm durch dasselbe Band der Liebe mit Gott verbundm Angenommen werden." Der erste Satz verkmnt im Wortlaut seiner Formuliemng die Lebmbigkeit christlichm GotteSglaubmS. Sein Sinn aber liegt in der War­ nung vor einer Frömmigkeit, die Gott als Mittel zum Zweck emiedrigt.

§81.

Spinoza — Bacon, Locke, Shaftesbury, Humc

341

3. Eine andere Art von Philosophie, die dem nüchternen Tatsachensinn der angelsächsischen Rasse entspricht, entwickelt sich auf der britischen Insel. Francis Bacon (1561—1626) bekämpft die damals immer noch einfluß­ reiche scholastische Methode, die mit logischen Schlüssen aus angeblich fest­ stehenden Glaubenswahrheiten neue Erkenntnisse ableiten will, und be­ hauptet statt dessen, zuverlässige und fruchtbare Erkenntnis könne nur aus selbstgemachter Erfahrung gewonnen werden. Er gibt der von Galilei ein­ geführten induktiven, auf Beobachtung der einzelnen Vorgänge beruhenden Methode der Naturwissenschaft die philosophische Begründung. John Locke (1632—1704) hat diese Methode auf die Philosophie angewandt und hier im Gegensatz zum Rationalismus DeScarteS' den Empirismus, die auf Er­ fahrung gestützte Weltanschauung, vertreten. Er bekämpft den Glauben (DeS­ carteS') an angeborene Ideen: Die menschliche Seele ist von HauS auS tabula rasa und bekommt den Inhalt ihrer Vorstellungen nur durch Erfahrung, der äußeren Sinne wie auch der inneren Erlebnisse (Sensation und Reflexion). Locke vertritt die typisch englische Art beS Philosophierens, sofern er ohne sichere wissenschaftliche Methode, geleitet durch den „gesunden Menschen­ verstand" (common sense), Erkenntnisse und Ergebnisse verschiedener Her­ kunft (aus äußerer und aus innerer Erfahrung, auS Vernunft und aus Offenbarung, auS Überlieferung und auS eigener Überlegung) geschickt mit­

einander verbindet und so eine Lehre entwickelt, die ansprechend und praktisch brauchbar ist, gerade weil sie überall vor den letzten Tiefen und Geheimnissen der Probleme Halt macht. DaS wurde die in der Aufklärung herrschende Denkweise, die auch auf die Fragen von Religion und Kirche angewandt wurde. Autonom (— selbstherrlich) will dieser Empirismus genau so sein wie der Rationalismus. Denn.wenn er sich auch auf die Erfahrung, zumal der Sinne, und nicht auf die reine Vernunft stützt, so soll doch vernünftige Erfahrung der Maßstab sein, an dem alles gemessen wird. ES bleibt also bei dem Satz der griechischen Sophistik: „Der Mensch ist daS Maß aller Dinge." — LockeS Schüler Lord ShafteSbury (f 1713) entwickelte, an­ geregt durch das antike Ideal beS schönen und guten Menschen, in edler Be­ geisterung für alles Wahre, Gute und Schöne, voll warmer Natur- und Menschenliebe eine künstlerisch gestimmte, optimistisch-eubämonistische Ethik: er verläßt sich auf daS angeborene Gefühl für Recht und Unrecht (moral sense) und sieht daS Wesen beö Sittlichen in der Harmonie beS natürlichen

Strebens beS Menschen mit seiner Umgebung. David Hume (f 1776) kri­ tisiert die entscheidenden Grundbegriffe der Philosophie, Substanz und Kausalüät, als bloße Geschöpfe der Gewohnheit und Denkbequemlichkeit. 4. Dieser Umschwung beS allgemeinen Denkens läßt sich auch an der Vor­ stellung der Zeit von Wesen und Aufgabe beS Staates und an den Methoden der Staatsführung beobachten: Der moderne Staat stellt sich auf seine eigenen Füße und löst sich völlig von der Autorität der Kirche und ihrer

342

Das Zeitalter der Aufklärung

Theologen. Er leitet seinen Ursprung nicht mehr von irgend einer göttlichen Stiftung und seine Vollmacht nicht von priesterlicher Weihe ab (vgl. die Salbung PippinS, oben S. 111), sondern begnügt sich mit Gründen der natürlichen Vernunft, wie der Theorie vom Staatsvertrag der ursprünglich freien und gleichen Bürger. Er sieht deshalb seine Aufgabe in rein irdischen Zielen, Begründung einer festen Macht und Pflege einer allgemeinen irdi­ schen Wohlfahrt. Je aufgeklärter der Absolutismus dieser Zeit ist, um so weniger läßt er sich in den Dienst kirchlich-konfessioneller Zwecke spannen. Der dreißigjährige Krieg um die rechte Religion hat den Fürsten und Staats­ männern eine unüberhörbare Lehre erteilt. Ludwigs XIV. Kirchenpolllik mit ihrer Hugenottenverfolgung ragt als Rest alter Methode in die Zell der Auf­ klärung. Das Toleranzpatent Wilhelms III. von England und die Ver­ söhnungspolitik des Großen Kurfürsten kennzeichnen die neue Staats­ führung. Dieser Staat gewinnt daneben durch Aufstellung stehender Heere und Ausbildung eines fest disziplinierten Beamtenkörpers eine bisher un­ bekannte Straffheit und durchgreifende Kraft der inneren Verwaltung. Jetzt erst erringt der Staat wirkliche Souveränität nach außen und nach innen; und dieser souveräne Staat „bient nicht mehr der Ehre GotteS, sondern seiner eigenen; die Souveränität Gottes wird zur Souveränität des Staates." (E. Troeltsch.) 5. DaS allgemeine Lebensgefühl wendet sich jetzt sehr viel stärker als bisher den irdischen Dingen zu, ihren Aufgaben und Genüssen. Der Ausblick auf das Jenseits verblaßt; in Llleratur und Kunst macht sich in zunehmendem Maße diese Verweltlichung und Kulturseligkeit bemerkbar. Die altkirchliche Lehre von den letzten Dingen (Eschatologie), jüngstem Gericht, Himmel und Hölle, der Glaube an Teufel und Hexen verschwinden allmählich aus der Dorstellungswelt der aufgeklärten Menschen. Die Welt wlld entdämonisiert, aber auch entgöttert. KlopstockS Messias ist ein Beweis, daß der Dichter und seine Leser noch nicht der typischen Aufklärung, sondern noch der Zeit deS altprotestantischen Hochbarock angehören.

§ 82. Die westeuropäische Aufklärung in Theologie und Kirche. 1. John Locke hatte noch versucht, die Gedanken der Aufklärung mit den überlieferten theologischen und kirchlichen Vorstellungen vorsichtig auszu­ gleichen. Er behielt z. B. den Glauben an göttliche Offenbarung in der Bibel bei, bettachtete sie auch als eine der Quellen der gültigen Moral (neben dem Staatsgesetz und der Meinung der guten Gesellschaft), entwertete sie aber durch die Erklärung, sie enthalte nichts, als waS die Vernunft auS eigener Kraft auch hätte finden können und im Laufe der Zeit auch gefunden habe. Seine Nachfolger stießen diese theologischen Reste bald ab und entwickelten als „Freidenker", vermeintlich aus reiner Vernunft, ein System der „na-

§81f.

Der moderne Staat — Deismus und Materialismus

343

türlichen Religion", daö sie von den geschichtlich überlieferten positiven Religionen deutlich unterschieden. In der Zeit beS beginnenden Weltverkehrs hatte man auch die Religionen des Ostens, vor allem die Systeme des Konfuzius und Buddhas, kennen gelernt. Man stellte baS Christentum in ihre Reihe und entdeckte als gemein­ samen Kern dieser Religionen die „natürlichen" Wahrheiten von Gott, Tugend und Willensfreiheit, göttlicher Vergeltung und Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Alles was darüber hinauSging, wurde als überflüssiges Beiwerk abgewertet oder als Priesterttug abgelehnt. Die Ausweitung der Welt durch die neue Astronomie zerstörte baS alte dreistöckige Weltbild und damit die naive Mittelpunktstellung beS Menschen im Weltgeschehen. Die Vorstellungen von Himmel und Hölle und von der den Menschen treffenden Heilsgeschichte, wonach der Sohn GotteS als Mensch auf der Erde erscheint, wurden zu unglaubwürdigen Mythen. Mit dem Wunder verschwand der Glaube an göttliches Eingreifen in das Weltgeschehen und an den Sinn des Gebets. Der Gottesgedanke verlor Leben und Kraft und verblaßte zu einer bloßen Aushilfe des menschlichen Verstandes: Gott ist der Schöpfer, d. h. er ist der Erfinder der Weltmaschine, die nun nach Newtons Physik ihren Weg allein läuft. Man pflegt diese rein verstandesmäßige Gottesvorstellung der Aufklärung als Deismus zu bezeichnen, im Unterschied von dem „Theis­ mus", dem Glauben an einen lebendigen Gott, dessen Odem die Welt erhält. 2. In Frankreich gewann die Aufklärung, die sich gegen den Druck von Kirche und Staat durchsetzen mußte, eben wegen dieses harten Widerstandes einen radikalen, kirchen- und staatsfeindlichen Charakter und entartete deshalb sehr bald zum grundsätzlichen Zweifel an allen Wahrheiten und Werten des Lebens, zum Atheismus und Materialismus. Die regierenden Gewalten ernteten damit, was sie durch ihre verständnislose, selbstsüchtige und frivole Politik gesät hatten. Der Kampf gegen die Kirche, die mit der Verfolgung von Hugenotten, Quietisten und Jansenisten ihre Unbußfertigkeit bewiesen hatte, traf natürlich auch Religion und Christentum. Die führenden Bücher des französischen Materialismus schrieben Lamettrie, ,,1’homme machine“, und Holbach, „Systeme de la nature“. Hier erscheint der körperliche Stoff als die einzige Wirklichkeit und der Geist nur als seine vorübergehende Funktion. Damit fallen Gott und die Seele, sittliche Verantwortung und echte Moral. Friedrich der Große hat diesen Materialismus aus ethischen Gründen verurteilt, Goethe ihn im Lebensgefühl des Künstlers fröhlich ver­ spottet. (Dichtung u. Wahrheit, Buch 11.) Der glänzendste Schriftsteller der französischen Aufklärung, Voltaire (1694—1778), darf freilich nicht als Materialist oder Atheist bezeichnet werben. Er ist vielmehr typischer Deist. Er war zu sehr von der Bedeutung seines eigenen Geistes überzeugt, um Materialist zu sein; er konnte die Welt, die solche Geister hervorbringt, nicht ohne Gott erklären: „Wenn es keinen Gott

344

Das Zeitalter der Aufklärung

gäbe, müßte man ihn erfinden !" — Aber Gott war ihm nicht der Herr und Vater der Schöpfung, zu dem man beten könne und den man über alle Dinge fürchten, lieben und verttauen müsse. Seine Schriftstellerei hat deshalb auf­ lösend gewirkt. Sein berüchtigtes Motto: „ecrasez Pinfäme" gilt der katholischen Kirche, ihrem Aberglauben und ihrer Intoleranz, sowie den daraus entsprungenen Justizverbrechen: Der Calvinist Jean CalaS zu Tou­ louse war um seines protestantischen Glaubens willen von fanatischen Priestern verleumdet worden, er habe seinen eigenen Sohn umgebracht, um dessen Übertritt zur katholischen Kirche zu verhindern, und war durch befangene Richter zum grausigen Tode auf dem Rad verurteilt. Voltaire erreichte die Aufnahme des Verfahrens und die Ehrenerklärung des unschuldig Gemor­ deten. Doch zeigt der ätzende Spott seiner Polemik, daß Haß und Hohn, aber nicht aufbauende Liebe seine Feder führen. Dazu kommen seine charakter­ lichen Mängel, um berenwillen Friedrich b. Gr. mit ihm brach. — Auch das große Standwerk der Enzyklopädie, die alles Wissen der Zeit bequem und geschmackvoll zusammenfaßte, hat durch die überwiegend zweifelsüchtigc oder materialistische Anschauung ihrer Verfasser zerstörend gewirkt und die Revolution vorbereitet. Zu den Sturmvögeln der Revolution gehörte auch I. I. Rousseau (1712—1778). In doktrinärer Begeisterung für den Aufbau von Staat und Gesellschaft nach den Prinzipien der reinen Vernunft (Ursprung des Staates aus dem „Gesellschaftsvertrag") wird er zum Wegbereiter der Revolution. Von ihm ist aber noch eine ganz andersartige Wirkung ausgegangen. Seine Losung „Zurück zur Natur!" war gemeint als Rückkehr zu der Kraft ur­ sprünglichen Gefühls und echter Empfindung. Seine schwärmerische Be­ geisterung für die Schönheit der Natur als Schöpfung und für die natürlichen Kräfte der Leidenschaft entfesseln in Deutschland die Naturpoesie des Stur­ mes und Dranges und entbinden die Kräfte der Phantasie gegenüber dem rechnenden Verstand (beide Wirkungen vereint in der Gestalt Karl Moors in Schillers „Räuber"). Seine Religionsauffassung ist aufllärerisch, wenn er nur bas als Wahrheit anerkennen will, was allen Menschen gemeinsam ist. Über die Aufklärung hinaus weist aber seine Erkenntnis, daß nicht im Ver­ stand, sondern im Gefühl des Herzens die Religion zu Hause sei. Von da aus kommt er zu einer warmen Würdigung der göttlichen Gestalt Christi: „Sollen wir etwa die evangelischen Geschichten für eine willkürliche Erdich­ tung auSgeben? Mein Freund, so erfindet man nicht!" Weit und tief­ reichend ist sein Einfluß auf die Männer der deutschen Bewegung beS „Sturm und Drang" und des Idealismus. (Kant nicht ausgeschlossen.) Vgl. Goethes ganz Rousseau'sches Glaubensbekenntnis im Faust!

§ 82 f.

Voltaire und Rousseau — Leibniz

345

§ 83. Die Aufklärung in der deutschen evangelischen Kirche.

1. Die führenden Männer der deutschen Aufklärung waren durch die evangelisch-christliche Überlieferung innerlich noch stark bestimmt und dem Radikalismus abhold. Sie haben deshalb die Aufklärung im allgemeinen Geistesleben wie in der Kirche vor den westeuropäischen Übertreibungen weit-

hin bewahrt. Das gilt vor allem von dem geistigen Bahnbrecher der neuen Zeit, Leibniz (1646—1716). Dieser Universalgelehrte, der auf fast allen Gebieten der Wissenschaft nicht nur gründlich bewandert war, sondern auch neue Entdeckungen machte und fruchtbarste Anregungen ausfireute, war Zeit seines Lebens erfüllt von dem Bestreben nach Zusammenfassung und Versöhnung der Gegensätze in Denken und Leben. Er war vertraut mit der neuen Naturwissenschaft und anerkannte ihre Methoden; aber sein innerstes Wesen sträubte sich gegen einen seelenlosen Mechanismus als Welt­ anschauung, wie er ihn richtig als Folge der Physik Newtons witterte. Ebenso bemühte er sich, gegenüber der mathematisch-logischen Philosophie Descartes' den Wert des Individuellen und Eigenartigen festzuhalten. So wurde er der Schöpfer eines kühnen Systems idealistischer Philosophie, indem er das Geistige als den Kern der Wirklichkeit behauptete.

Aus den toten Atomen der Physik wurden bei ihm „Monaden", lebendige, geisterfüllte Kraftpunkte. Aus dem mechanistischen Naturgesetz wurde die „prästabilierte Harmonie", die göttliche Leitung alles Geschehens. Seine Monaden sind nicht in öder Gleichförmigkeit gedacht, sondern in einer un­ endlichen Stufenfolge, je nach dem Maße ihrer geistigen Wachheit: „Die Seele schläft im Stein, sie träumt im Tier, sie wacht im Menschen." „Arm in Arme, höher stets und höher, vom Mongolen bis zum griech'schen Seher, der sich an den letzten Seraph reiht." (Schiller „Die Freundschaft".) So ent­ stand ein Weltbild von Mannigfaltigkeit, Reichtum und Fülle.

Leibniz war eine ausgesprochen religiöse Natur. Gott zu erkennen und zu lieben war ihm die würdigste Aufgabe des Menschen. Seine Religions­ auffassung war tatenfroh und weltoffen. Welterkenntnis und Weltsinude wollte er mit dem Glauben an göttliche Vorsehung und menschliche Ergebung in Gottes Willen innerlich ausgleichen; daher seine Bemühungen um eine „Theodizee", Rechtfertigung Gottes wegen der vermeintlichen Übel im Welt­ geschehen. Wenn ihm auch die Schranken der menschlichen Einsicht bewußt waren, so meinte er doch nachweisen zu können, baß diese Welt die „beste mögliche" sei. Denn das Natur-Übel sei nötig, um den Menschen zur Tätig-

keü anzuspornen; das Sittlich-Böse aber unvermeidlich, wenn anders auf der Grundlage freier Willensensscheidung das Sittlich-Gute zu Tage kom­ men solle. In den Zusammenhang dieser Gedanken gehört seine bedeutsame Lehre von den Compossibilia, von dem, was miteinander möglich ist: Nicht alle Dinge, die an sich denkbar und möglich sind, vertragen sich mitein-

346

DaS Zeitalter der Aufklärung

ander, so daß sie gleichzeitig möglich sind, wie z. B. die dem Menschen anheimgestellte freie Entscheidung zwischen Gut und Böse nicht zusammen möglich ist mit der Vörstellung einer Welt, in der eS keinen Irrtum und kein Unrecht gibt. Daher die „bestmögliche Welt"! Seine Aufmerksam­ keit galt nicht nur den grundsätzlichen Fragen deö Glaubens, sondern auch den praktischen Aufgaben der Kirche. Er wollte eine Mission in Ostasien anregen, da er Kultur und Moral der Chinesen schätzte. Er hat sich jahrelang um Wiedervereinigung der getrennten christlichen Kirchen bemüht, nicht nur der Lutheraner und der Reformierten, sondern auch der Protestanten und der Katholiken. Typische Züge der Aufklärung sind bei ihm unverkennbar, sein Indivi­ dualismus, sein rational gestimmter Optimismus, daher auch die Neigung, die dunklen Rätsel und die Tragik der Wirklichkeit (Luthers Lehre von der Sünde und vom verborgenen Gott) sich zu verdecken. Auch ist seine Religion ein Christentum ohne Christus. Und doch hat er Anstöße gegeben, die über die Aufklärung hinweg im Idealismus gewirkt haben. Seine Gedanken sind durch Christian Wolff (1679—1754, vgl. oben S. 332) in eine allgemeinverständliche, aber auch flache Form übersetzt und damit zu weitreichender Wirksamkeit gebracht. WaS ihm an Tiefe fehlte, hat er durch Breite ersetzt. Wolff war, wie sein Meister, ein Gegner beS Materialis­ mus und Atheismus. Er pflegte mit Eifer die GotteSbeweise, in denen Gott als die notwendige Ursache der vorhandenen Welt und als Schöpfer ihrer sinnvollen, dem Menschen dienlichen und nützlichen Zweckmäßigkeit beschrieben wird. Der optimistische Glaube an die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft erreicht bei ihm den Gipfel. Gerade daS aber verschaffte ihm den Einstuß bei den Zeitgenossen. Bezeichnend ist schon der Titel seines Haupt­ werkes: „Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt." In gleicher Richtung wirkte der gewandte und begabte Jurist Christian Thomasiuö, der gegen den Zwang der lateinischen Unterrichtssprache, gegen die pedantische Bindung an die Autorität beS Aristoteles, gegen Teufels- und Hexenwahn, gegen Folter, Barbarei und Aberglauben jeder Art einen kecken und erfolgreichen Feldzug führte. Der literarische Streit um die Aufklärung wird durch Lessing auf die Höhe geführt. In ihm lebt die Klarheit hellenischen Geistes, eine ungewöhn­ lich helle und scharfe Denkkraft und eine Lust am geistigen Ringkampf. Er ist der Feind alles Unklaren, Verschwommenen und Halbgedachten, ein Feind auch aller unduldsamen Anmaßung, die sich nur auf daS Herkommen, aber nicht auf wohldurchdachte Gründe stützen kann. Man könnte ihn unsern größten Aufklärer nennen; denn aufräumenb und die Luft reinigend hat er gewirkt und wollte er wirken. Doch, steht er in Wirklichkeit über den streitenden Parteien seiner Zeit, weil er keinem Dogma, auch nicht dem der Aufklärung,

§83.

Wolff, ThomasiuS, Lessing und Reimaruö

347

verhaftet ist. Er gibt sich nicht zufrieden mit dem halben und faulen Kom­ promiß, daS die übliche neumodische Theologie der Aufklärer mit der über­ lieferten Orthodoxie geschlossen hatte. Es erschien ihm als eine unehrliche Halbwahrheit, den Begriff der Offenbarung beizubehalten, aber die Sache preiszugeben, indem man in der Offenbarung nichts Anderes entdeckte, als was die menschliche Vernunft aus eigener Kraft auch finden konnte. Ebenso verwarf er die beliebten Kunststücke, mit denen man die Bibel preßte, um sie daS sagen zu lassen, waS der Aufklärungstheologie entsprach; er wollte seinerseits lieber zwischen der Religion und dem Buchstaben der Bibel unterscheiden, da diese mehr enthalte, als waS zur Religion gehöre, und hierin nicht unfehlbar sei. Er öffnet damit die Bahn für eine wirklich ge­ schichtliche Betrachtung der Bibel. In dem berühmten Brief an seinen Bruder vom 2. Februar 1774 erklärt er daS orthodoxe Lehrsystem für eine solide und gründliche Arbeit, daS System der neumodischen Theologie aber für ein „Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen". Auch möchte er an seinem Teil verhüten, baß man daS Alte beseitige, ehe man etwaö besseres Neues an die Stelle zu setzen habe; sonst gleiche man den Leuten, die unreines Wasser gedankenlos weggießcn, um „hernach das Kind in Mistjauche zu baden". AuS solchen Überlegungen veröffentlicht er große Bruchstücke aus den bisher geheim gehaltenen Schriften des Hamburger Professors ReimaruS (gest. 1768), die im Geiste radikalster Aufklärung gegen die Bibel beider Testamente die schärfsten Angriffe vortragen, z. B. die Auferstehung Jesu auf einen Betrug der Jünger zurückführen. Er veröffentlicht sie nicht ohne er­ hebliche eigene kritische Einwände. Er will die deutschen Theologen zu gründ­ lichstem Nachdenken und zu klarer Entscheidung nötigen. Er hofft, dieser radikale Angriff würbe auch eine ebenso radikale, eine gründliche und echte Verteidigung beS Christentums, seines Kerns und seines Wesens, hervor­ locken. Diese Hoffnung hat ihn getrogen. Er wurde stattdessen in einen wenig fruchtbaren Streit mit einem orthodoxen Eiferer verwickelt (Hauptpastor Goetze-Hamburg). 2. Da die Aufklärung behauptet, mit der Vernunft (ratio) alle Dinge, auch die beS Glaubens und der Kirche meistern zu können, so wird die theo­ logische Aufklärung zum Rationalismus. Seine Vernunft-Kritik läßt den Glauben an Gott und die Vorsehung, an Freiheit, Unsterblichkeit und jen­ seitige Vergeltung unangefochten. Die göttliche Vorsehung wird sogar mit rührseliger Sorgfalt auSgemalt und in allem Kleinen und Kleinsten auf daS leibliche Wohlergehen und den unmittelbaren Nutzen bezogen. Ein Kirchen­ lied der Aufklärung rühmt die weise und zweckmäßige Einrichtung beS mensch­ lichen Körpers und verdeutlicht eS an dem Bau beS AugeS, insbesondere der beweglichen Augenlider: „Ach, wie sauer würd' eö lassen, wenn man sie mit Händen fassen und mit Stäbchen stützen müßte; daS bedenke, lieber Christe!"

348

DaS Zeitalter der Aufklärung

Die göttliche Vergeltung dachte man überwiegend als Belohnung für tteir geleistete Tugend ober als Entschädigung für geduldig erttagene Entbeh­ rungen. Die Hoffnung auf das Wiedersehen nach dem Tode war baS beliebte Thema der Leichenprebigt und schmückte die Grabsteine. Daß ewiges Leben etwas anderes ist als natürliche Unsterblichkeit und baß vor ihm GotteS Gericht steht, schien ganz vergessen. Sünde, Schuld, Vergebung der Sünde und Erlösung waren für die meisten keine ernsten und erschütternden Wirk­ lichkeiten mehr. Fremd klang Luthers Katechismuswort: „Wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit." Jesus galt nicht mehr als der Gottessohn, dessen Kreuzestod die ver­ lorene Menschheit erlöst, sondern als der menschenfreundliche Lehrer der Bot­ schaft vom lieben Vater, von Tugend, allgemeiner Menschenliebe und Un­ sterblichkeit. Alles Fremdarttge in der Bibel wurde als kluge Anpassung Jesu und der Apostel an den Unverstand ihrer Zeitgenossen erklärt. Das Ärgernis, daS die Botschaft beS Evangeliums dem natürlichen Menschen bereitet, da sie zur Buße, zur radikalen GesinnungSänberung, auffordert, wurde nicht mehr verstanden ober als eine Barbarei beS finstern Mittelalters abgelehnt. Auö der Kreuzestheologie Martin Luthers wurde eine menschenfreundliche, mit allgemeiner Religiosität umrahmte Tugenblehre. Die Predigt der Aufklärung vermied die theologischen Spitzfindigkeiten und vor allem den konfessionellen Zank der Barockprebigt. Man dachte gering von strenger theologischer Gelehrsamkeit und von dem Unterschieb der Kon­ fessionen ; man legte größten Wert auf eine möglichst schlichte, volkstümliche Redeweise, verlor sich dabei aber bisweilen, weil man den unmittelbaren moralischen und wirtschaftlichen Nutzen erstrebte, in geschmacklose Platt­ heiten: WeihnachtSprebigt vom Nutzen der Stallfütterung, Osterprebigt vom Vorteil deS FrühaufstehenS. Die Kirchenlieder, die damals neu entstanden, reden nicht von Christus und den großen Tatsachen der HeilSgeschichte, son­ dern besingen Natur, Tugend und Pflichten; auch GellertS Lieber sind durch diesen Geschmack geprägt. So wie man in den Kirchen alte fromme Bilder, die dem Zeitgeschmack nicht entsprachen, mit grauer Tünche überdeckte, hat man sich auch nicht gescheut, die alten kernigen Kirchenlieder dem neuen Geist sentimentaler Vernünftigkeit anzugleichen: Luthers WechnachtSlieb lautet jetzt: „Gelobet feist du, JesuS Christ, der du Mensch geboren bist und unser Bruder worben hier. Anbetung, Preis und Dank sei dir!" Paul Gerhardts Abendlieb beginnt: „Nun ruhet in den Wäldern, in Städten, auf den Feldern ein Teil der müden Welt!" und schließt: „Schlaft ruhig bis zum Morgen! Der Herr wirb für euch sorgen, der immer unser Helfer war." 3. ES war also nur ein dürftiger Rest vom alten, kernigen lutherischen Christentum übrig geblieben. ES muß aber andererseits zur Ehre der Auf­ klärung gesagt werben, baß bieS Wenige, was in ihren Begriff paßte, von ihr wirklich ernst genommen wurde, baß sie damit gearbeitet hat in Er-

■§ 83.

Der Rationalismus in Theologie und Kirche — Pestalozzi

349

bauung und Seelsorge, sowie in vielerlei Anstalten der Erziehung und wohl­ tätigen Fürsorge. Dies Aufklärungschristentum ist, wie ihre Katechismen und

Erbauungsbücher zeigen, wirklich volkstümlich gewesen und hat als eine fittigende Macht gewirkt. Das Geschlecht der Freiheitskämpfer von 1813 ist durch diese Erziehung hindurch gegangen, wenn eS auch in den Stürmen

der Zeit Neues und Tieferes erlebte und lernte. Auch darf man Folgendes nicht vergessen: 1. Ein Volk lebt geistig nicht einfach von der vorgesetzten, sondern nur von der innerlich aufgenommenen Speise. 2. Die Tiefe und der Reichtum lutherischen Christentums ist immer nur von wenigen erfaßt wor­

den. 3. Der ungeheure Umschwung im ganzen geistigen Leben deS AbendlandeS stellte der Theologie und der Kirche eine Aufgabe der Umdenkung und Neuformung, deren Größe bis zum heutigen Tage nur von wenigen begriffen ist.

Von den alten Chorälen war in der Aufklärung keiner mehr beliebt als Paul Gerhardts Lied deS gläubigen Vertrauens: „Befiehl du deine Wege". Der dunkle Untergrund dieses frohen, zuversichtlichen Glaubens war wohl nur wenigen Zeitgenossen bewußt, wirkte aber doch noch nach. Den ergreifend­ sten Beweis dafür liefert der große Schweizer Pädagoge und Menschenfreund Pestalozzi (1746—1827), der, ungebeugt durch immer wiederholte Miß­ erfolge, in den politischen Stürmen der Zeit sein ganzes Leben für die Er­ ziehung armer, elender, vaterloser Kinder hingab, sich dabei als „Genie der Menschenliebe" bewährte und der ganzen deutschen Erziehungslehre eine neue Grundlage gab. Seine Religion ist wie die der besten Aufklärung Religion „innerhalb der Grenzen der Humanität". Er lebt von dem unbesieglichen Glauben, im Innern des jungen Menschen eine Kraft sittlichen BewußsseinS entdecken und wecken zu können, die zur Quelle des GotteSglaubenS wird. „Als das heilige Fundament einer jeden guten christlichen Schule muß das christliche HauSleben angesehen und anerkannt werden." Die Pietät gegen die Eltern ist die Übungsschule der PietaS gegen den himmlischen Vater.

„Der Glaube an Gott ist daS Band deS Fürsten und seines Volkes, das Band der inneren Vereinigung der SegenSverhälMisse der Menschheit, die Quelle alles reinen Vater- und Brudersinns, die Quelle aller Gerechtigkeit. Unglaube: Quelle der Vernichtung aller inneren Bande der Gesellschaft. Unglaube der Oberen: Quelle des Ungehorsams der Unteren. Der verlorene Kindersinn der Menschheit gegen Gott ist daS größte Unglück der Welt, indem es alle Datererziehung Gottes unmög­ lich macht. Der Mann Gottes, der mit Leiben und Sterben der Menschheit das allgemein verlorene Gefühl des KindersinnS gegen Gott wiederhergestellt hat, ist Erlöser der Welt, er ist der geopferte Priester des Herrn, er ist der Mittler zwischen Gott und der gotteSvergeffenen Menschheit." (Abendstunde eines Einsiedlers.) „Wir kommt eS, daß ich an einen Gott glaube, baß ich mich in feine Arme werfe und mich selig fühle, wenn ich ihn liebe, wenn ich ihm vertraue, wenn ich chm danke, wenn ich ihm folge? Ich glaube an meine Mutter, ihr Herz zeigt mir Gott, er ist

350

DaS Zeitalter der Aufklärung

der Gott meiner Mutter. Mutter, Mutter, du zeigtest mir Gott in deinen Befehlen, und ich fand ihn in meinem Gehorsam." (Wie Gertrud ihre Kinder lehrt.) Wie hoch Pestalozzi die Aufklärung überragt, wie nahe er an Luthers Christentum heranreicht und dadurch auch vom Idealismus sich abhebt, hat neuerdings Th. Litt durch eine sorgfältige Auslegung einer fast ver­ gessenen Schrift „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung beS Menschengeschlechts" aufgedeckt. Hierin bekundet Pestalozzi eine Anthropologie und eine Geschichtsbetrachtung, die ihn von dem flachen Optimismus seiner Zeit durch eine tiefe Kluft scheibet. Ihm ist eS unerträglich, mit der „monumentalen Historie" des Idealismus nur an die Heroen zu denken, die Geschichte machen. Ihm gehören zur vollen Realität der Geschichte auch die unzähligen, deren Namen keine Chronik meldet. Ihm ist eS HerzenSanliegen, sich dieser Übersehenen und Vergessenen anzunehmen. Andererseits sieht er mit verblüffender Klarheit die dunkle Kehrseite alles Menschentums und aller Menschengeschichte, die dämonische Macht der Versuchung, die mit Besitz, Wissen und Macht verbunden ist. Er hat den Mißbrauch gesellschaftlicher Überlegenheit und staatlicher Gewalt im Feuda­

lismus beS absoluten Staates gründlich studiert und erlebt dasselbe nun, allen mcnschheitSbeglückenben Phrasen zum Trotz, an der französischen Re­ volution. Er beobachtet diese Zweideutigkeit und Dämonie alles Menschen­ tums auch an seinen höchsten und reinsten Gestalten auf dem Gebiet der Sittlichkeit und der Religion (pharisäischer Tugendstolz und erbarmungs­ loser Fanatismus). Er hält diese menschliche Schwäche für unausrottbar. Aber Glaube und Liebe gebieten ihm, was auch sein Leben mit der Tat be­ weist, trotzdem für diese verlorene Menschheit zu arbeiten. Auch war innerhalb der Aufklärung Raum für die seelsorgliche und soziale Arbeit deS streng bibelgläubigen Pfarrers Oberlin im elsässischen Steintal (in den Vogesen) und für die gemütvolle, den Rationalismus bekämpfende, aber auch über das Schema von Orthodoxie und Pietismus erhabene Schriftstellerei des Matthias Claudius, beS „Wandsbecker Boten" (1740 bis 1815), der mit Liedern wie „der Mond ist aufgegangen" uns nicht nur Perlen der Lyrik, sondern auch Zeugniffe einer schlichten, kräftig gemütvollen, lutherischen Frömmigkeit geschenkt hat. Die begeisterte Aufnahme, die KlopstockS Messias fand, beweist, baß durch die deutsche Aufklärung der Sinn für die Bibel und die Gestalten großer christlicher Phantasie noch nicht ver­ schüttet war. Von Künstlern ersten Ranges, die auf dem Boden der Auf­ klärung, nicht unberührt von ihren Gedanken, gewachsen sind, müssen Haydn und Mozart genannt werben; beide katholischer Herkunft, aber beide in ihrer Kunstschöpfung überkonfessionell. HaydnS größte religiöse Kunstwerke sind die Oratorien „Die Schöpfung" und -„Die Jahreszeiten". Mozarts echte Frömmigkeit wirb nicht nur durch feine ausgesprochen religiösen Schöp­ fungen belegt (L-Moll-Mesie, Ave Verum und Requiem), sondern auch durch

§83f.

Glaubenszeugen in der Aufklärung — Friedrich b. Gr.

351

die erschütternde Schilderung des göttlichen Gerichts im „Don Juan" (vgl. hierzu die poetische Wiedergabe in Mörikes Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag"). Man soll sich deshalb hüten, die Aufklärung als Ganzes ge­ dankenlos zu verurteilen. Davor warnt uns besonders daS Bild ihres größten DertteterS auf dem Fürstenthron, Friedrichs II.

§ 84. Gott und der König. 1. Friedrichs persönlicher Glaube ist für sein ganzes Leben bestimmt durch die verfehlte Erziehung, die ihn mit einer gewalttätigen Einprefsung der kirchlichen Lehre überfütterte und abstieß. Die calvinische PräbestinationSlehre, vor der er gewarnt werden sollte, war ihm in dem schweren Konstikt mit dem königlichen Vater der lange Zeit harMäckig festgehaltene FelS in der Brandung, weil er nur so die erschütternden Erlebnisse dieser Zeit, insbesondere den Opfertod seines Freundes Satte, meinte begreifen und ertragen zu können. Der König dagegen wollte nicht dulden, daß der Sohn sich vor der eigenen Verantwortung hinter die Prädestination flüchte; sonst könne sich jeder Deserteur auf sie berufen. Der von dem Vater geforderte Widerruf entsprach kaum ehrlicher Überzeugung; so war der Boden bereitet

für die Aufnahme der Wolffschen Aufklärungsphilosophie. Ihr Einfluß wurde später durch Engländer und Franzosen (Voltaire!) abgelöst. AuS der treuherzigen Gläubigkeit der biederen deutschen Aufklärung wurde damit der unsicher tastende, zu frivolem Spott neigende Zweifel der westeuropäischen Aufklärung. Den ausgesprochenen Materialismus und Atheismus der Fran­ zosen hat er freilich zeitlebens abgelehnt: „Der Atheismus ist ein Dogma, dem nur ein Wahnsinniger huldigen kann. Man muß auf das Licht der Ver­ nunft und der Urteilskraft verzichten, die Augen schließen und sich die Ohren verstopfen, damit sie nicht Zeugnis zu Gunsten deö Schöpfers gegen daS Geschöpf ablegen." An Friedrichs Himmel leuchten die drei Sterne der Aufklärung: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit; aber öfter durch Wolken verdunkelt. Die gött­ liche Vorsehung, an die er anfangs im Geiste Wolffs glaubte, ist ihm später unsicher geworben, und er neigte zu einem trüben Schicksalsglauben, wenn auch in den schweren Kriegsjahren immer wieder die Hoffnung auf die Hilfe von oben durchbrechen wollte (vgl. daS berühmte Gespräch mit Ziethen im Hungerlager zu Bunzelwitz über den „himmlischen Alliietten"). Die menschliche WillenSfteiheit war ihm nicht so sicher wie der vulgären Aufklärung. Seine Menschenkenntnis zeigte ihm die Abhängigkeit der meisten von ihren eigenen Trieben und den Strömungen der Umwelt. Diese Menschen­ kenntnis steigerte sich später zur Menschenverachtung und reizte ihn zu bitterem Spott über die Rousseausche Schwärmerei von der angeborenen Güte der Menschennatur („Mein Freund, Sie kennen die verfluchte Raffe nicht ge-

352

Das Zeitalter der Aufklärung

nügenb, der wir angehören"). Er selber hielt sich immer mehr an baS un­ bedingte Pflichtgebot stoischer Philosophie und unterwarf sich trotz dem Zweifel an der Willensfreiheit praktisch stets dem Bewußtsein unbedingter Verantwortlichkeit für seine große Aufgabe. Die Unsterblichkeit der Seele schien Wolff ihm einst bewiesen zu haben. Die westeuropäffche Aufklärung

weckte ihm neue Zweifel. Doch hat er kurz vor dem Tode mit einem Blick nach der Sonne gemurmelt: „Vielleicht werde ich dir bald näher sein.". Aus seinem Zweifel wie aus der Art seines Glaubens, der sich nicht ver­ maß, die Natur Gottes zu erkennen, folgte für ihn bas Gebot der Toleranz. Über alle Metaphysik und Dogmatik stellte er die praktische Moral; des­ halb wollte er jeden seines Glaubens leben lasten, wenn dieser ihn zur Er­ füllung der Pflicht führte. Den Kirchen und Konfessionen stand er innerlich fremd gegenüber, doch bevorzugte er in jeder Beziehung den Protestantismus. Seine unbedingte Ablehnung jedes Zwanges und Druckes in Glaubens­ sachen, seine mit restloser Hingabe, mit einem förmlichen Arbeitsfanatismus, mit beispielloser Entbehrung bewiesene Berufömoral lasten ihn als Pro­

testanten erscheinen, nur daß ihm die frohe Zuversicht erlösender Gnade fehlte; nennt er sich doch selbst mit erschütternder Selbstbeurteilung „einen Verdammten, dem die Gnade des lebendigen Glaubens nicht zuteil wurde". Der bittere und frivole Spott, mit dem er gern den frommen, kirchlichen Glauben seiner Generale überschüttete, ist nur die Maske, hinter der sich das Bewußstein des Entbehrens verbarg; denn bisweilen brach das Einge­ ständnis des Neides gegenüber einem tapferen BekennMis ergreifend durch. 2. Friedrichs Religions- und Kirchenpolitik beruht auf dem dop­ pelten Grundsatz einerseits der Toleranz, der Sicherung der persönlichen Gewistensfreiheit, andererseits der unbedingten Überordnung der Jn-

teresten deS Staates über alle „Kirchen und geistlichen Gesellschaften". Die Toleranz kommt nicht nur den beiden großen, privilegierten Kirchen, der evangelischen und der katholischen, zugute, sondern auch allen kleinen Ge­ meinschaften und Sekten, wenn anders sie ihre staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen. Am Anfang seiner Regierung verfügt er den berühmten Rund­

erlaß: „Die Religionen müssen alle toleriert werben, und muß der Fiskal (Staat) nur das Auge darauf haben, daß keine der andern Abtrag tue; denn hier muß jeder nach seiner Fa^on selig werben." Dieser Erlaß bezieht sich auf die Weiterbewilligung katholischer Schulen für katholische Soldaten­ kinder, will aber Übergriffe katholischer Priester verhüten. Daß diese Toleranz

sich auf alle Religionsformen erstreckt, hat der König immer wieder bezeugt: „Alle diese Sekten leben hier in Frieden und tragen gleichmäßig zum Wohl des Staates bei. Hinsichtlich der Moral unterscheidet sich keine Religion erheblich von der andern; so können sie alle der Regierung gleich recht sein, die folglich jedem die Freiheit läßt, den Weg zum Himmel einzuschlagen, der ihm gefällt. Nichts weiter verlangt sie von dem Einzelnen, als daß er ein guter Staatsbürger ist. Der

§84

Friedrichs persönlicher Glaube, seine Kirchenpolitik

353

falsche Eifer ist ein Tyrann, der Länder entvölkert; die Toleranz ist eine zärtliche Mutter, die für ihr Wohlergehen und Gedeihen sorgt." Naturgemäß waren ihm die Protestanten lieber, teils weil sie weniger dem „Aberglauben" huldigten, teils weil sie arbeitsamer und staatstreuer seien. Er hat sich deshalb vorzüglich bemüht, evangelische Ansiedler, Bauern und Handwerker, aus den Ländern katholischer Bedrückung in seine Staaten zu holen. Er hat sich aber auch mit diplomatischen Mitteln bedrängter Pro­ testanten im Ausland angenommen; er hatte nicht vergessen, welchen Ein­ druck ihm als jungem Kronprinzen das Elend und die Standhaftigkeit der vertriebenen Salzburger gemacht hatte (Brief vom 11. 11. 1732). Begreif­ licherweise wurde er bei Beginn der schlesischen Kriege von den dortigen Pro­ testanten, die vom Hause Habsburg immer noch entrechtet und unterdrückt wurden, als gottgesandter Erlöser begrüßt, und der Siebenjährige Krieg er­ schien in ganz Norddeutschland weithin als ein Religionskrieg für Freiheit und Bestand des Evangeliums. In diesem Glauben lag auch eine starke Quelle zäher Widerstandskraft. Der König aber hat, trotz seiner Abneigung gegen die Katholiken, ihnen auf kirchlichem Gebiet peinliche Gerechtigkeit widerfahren lassen. Dafür forderte und erreichte er andererseits Anerkennung der Staatshoheit auch durch die päpstliche Kurie: Alle katholischen Geist­ lichen mußten ihm den Treueid schwören (während er sich bei den evangeli­ schen mit Handschlag begnügte), päpstliche Erlasse durften nicht ohne sein Placet veröffentlicht werden. Besonders auffallend ist sein Verhalten gegen­ über den Jesuiten: Obwohl er sie genau kannte und persönlich geringschätzte, hat er ihren Orden nach der päpstlichen Austösungsbulle (s. u.) in seinen Staaten erhalten. Er wollte sie als billige Lehrkräfte an höheren und Hoch­ schulen nicht entbehren und fühlte sich stark genug, keine staatsgefährlichen Umtriebe zu fürchten. Er unterwarf sie nur der bischöflichen und der staat­ lichen Aufsicht. Eine evangelische Kirche mit eigener Verwaltung gab es zu seiner Zeit nicht. Die evangelisch-kirchlichen Angelegenheiten wurden in einer Abteilung der allgemeinen Staatsverwaltung erledigt. Der König, der sich wohl scherzhaft als „Papst der Lutheraner und Oberhaupt der Reformierten" be­ zeichnete, bekümmerte sich persönlich auch um kleine und einzelne Dinge. Als der verschiedene Kalender mit dem verschiedenen Termin des Osterfestes in Schlesien Schwierigkeiten auch für das Wirtschaftsleben bereitete, ordnete

er an, daß die Evangelischen sich nach dem katholischen (gregorianischen) Kalender richten sollten, mit der Begründung, daß nach den Prinzipien der protestantischen Religion diese Sache ganz indifferent und nicht wichtig genug sei, um die katholischen Untertanen, die sich ein Gewissen daraus machten, zu ärgern (echt protestantisch, nach der Weisung des Apostels, Röm. 14, das Gewissen der Schwachen zu schonen!) Als er hört, daß in evangelischen Gemeinden manche Kinder durch bittere Armut, Mangel an Kleidung und 23

Schuster, Kirchengeschichte

354

DaS Zeitalter der Aufklärung

Schuhwerk, am Schulbesuch verhindert werben, verfügt er, baß die Pastoren eine Sparbüchse beschaffen, die bei Trauungen und Taufen zum Empfang milder Gaben herumgereicht werden soll, und deren Inhalt der Pastor für die ärmsten der Kinder verwenden soll. Fühlt man sich beim Lesen der Dokumente häufig an die Kirchenleitung Karls b. Gr. erinnert, so bleibt doch der wesentliche Unterschied, baß der große Kaiser mit starkem persönlichen Glauben hinter allen seinen Anordnungen steht, während hier immer wieder ein zweifelnder Glaube durch weltliche StaatSraison gestützt und ergänzt wird.

§ 85. Die katholische Kirche unter dem Einfluß der Aufklärung. Die Aufklärung ist nicht auS der Reformation hervorgegangen (obwohl sie selber sich irrtümlich als echtes Kind der Reformation fühlte). Aber die Reformation hat der protestantischen Kirche geistige Kräfte der Verinner­ lichung geschenkt, die sie befähigten, mit der Aufklärung besser fertig zu werden als die katholische Kirche, die durch den Sturm tödlich bedroht wurde. 1. Keine katholische Institution bereitete dem Geist der Ausklärung mehr Ärgernis als der Jesuitenorden. Er hatte in den romanischen Ländern von Sübosteuropa durch die Bedenkenlosigkeit seines kirchlichen Ehrgeizes und seiner privilegierten Handelsgeschäfte sich zu einem Staat im Staat entwickelt. Als nun die Väter im Jesuitenstaat Paraguay der portugiesischen Staatsgewalt, die vor kurzem dies Gebiet von Spanien übernommen hatte, offenen Widerstand leisteten, benutzte der führende Minister das als erwünsch­ ten Anlaß, den Orden auS Portugal zu vertreiben(1759) und sein Vermögen zu beschlagnahmen. Diesem Beispiel folgten baldigst auS denselben Gründen die Regierungen von Frankreich, Spanien, Neapel und Parma. Papst Cle­ mens XIV., ein Franziskaner, sah sich schließlich, nach langem Zögern, durch den Druck der katholischen Staaten genötigt, mit der Bulle „Dominus ac redemptor noster" (1773) den Orden für alle Zeiten aufzulösen. In der Begründung heißt eS, auS dem ganzen Erdkreis seien die belastendsten Aussagen über die Lehre der Gesellschaft und zahlreiche Anklagen wegen maßloser Gier nach irdischen Gütern gegen sie erhoben, auch habe der heilige Vater bemerkt, daß jene Gesellschaft die reichen und herrlichen Früchte nicht mehr bringen könne, zu denen sie gestiftet sei; ja, baß bei ihrer Erhaltung der wahre und bauernde Friede der Kirche nicht wieberherzustellen sei. 22000 Jesuiten wurden, heimatlos; sie mußten in anderen Orden Unterschlupf suchen. Nur im ketzerischen Preußen und im schiSmatischen Rußland wurden sie noch geduldet. 2. Mitteleuropa hatte in der ersten Hälfte deS Jahrhunderts in Österreich,

Salzburg, Ungarn und Schlesien, also im Herrschaftsbereich der Habsburger, noch barbarische Protestantenverfolgung und Bedrückung erlebt. Die Auf-

§85

Auflösung deö Jesuitenordens — Joseph II.

355

klärung kam hier als eine Erlösung. Ihre Umsetzung in die Tat war baS Werk Josephs II-, deS Sohnes der Maria Theresia. Er war ein begeisterter Verehrer deS aufgeklärten Absolutismus Friedrichs II., voll reinen Willens, aber ohne die besonnene Welt- und Menschenkenntnis seines Vorbildes. Durch das „Toleranzpatent" von 1781 gab er den evangelischen Einwohnern in seinen Staaten freilich nicht Gleichberechtigung, aber weitgehende Duldung. Gleichzeitig wollte er die katholische Kirche in den Dienst der Aufklärung, d.h. der Wohlfahrtspflege am Volke stellen. Alle Klöster, die nicht dem Unter­ richt oder der Krankenpflege dienten, wurden aufgehoben (738 von mehr als 2000). Die Priester sollten fortan in aufgeklärten, staatlichen Seminaren ihre geistliche Ausbildung erfahren. Joseph wollte letzten Endes der katholischen Kirche die Aufgabe zuweisen, ihre Glieder zum Evangelium Jesu zu führen. In Salzburg wurden deutsche Bibeln und deutsches Kirchenlied eingeführt, eine deutsche Nationalkirche schwebte ihm vor. Än Österreich gab eS Unruhe. Der bigotte belgische Klerus rebellierte. Papst PiuS VI. versuchte ver­ geblich, durch persönlichen Besuch den Reformeifer Josephs aufzuhalten. Er blieb fest. Erst seine Nachfolger haben den KurS wieder rückwärts gerichtet. 3. Gleichzeitig regten sich neue Gedanken auch in Deutschland. Der Trierer Weihbischof Nikolaus von Hontheim sprach vielen deutschen Katholiken auS dem Herzen, als er unter dem Decknamen JustinuS FebroniuS in einer lateinischen Schrift die Aufrichtung einer von Rom unabhängigen deutschen Nationalkirche forderte. AlS stattdesien in München zur Verstärkung deS päpstlichen Einflusses eine ständige päpstliche Nuntiatur (Gesandtschaft) errichtet wurde, wehrten sich dagegen die Kurfürsten von Köln, Trier, Mainz und der Salzburger Erzbischof in der Emser Punktation, die eine größere Selbständigkeit der deutschen Kirche gegenüber der römischen Obergewalt forderte. DaS Unternehmen scheiterte freilich an der Eifersucht der deutschen Bischöfe, die lieber dem fernen römischen Papst als den nahen deutschen Erzbischöfen gehorchen wollten! ES war der letzte ernstliche Versuch einer unabhängigen deutschen katholischen Kirche (1786). Die längst unzeitgemäß gewordene landesherrliche Stellung der deutschen Bischöfe wurde bald darauf unter den Auswirkungen der französischen Re­ volution durch den ReichSbeputationShauptschluß (1803) für immer aufgehoben. Die Nachwirkung der Aufklärung im deutschen Katholizismus ging noch lange weiter. Ihr Geist ergriff die katholische Theologie. Protestan­ tische Kritik drang in Bibelwissenschast und Dogmatik ein. Der Kurfürst von Köln gründet in Bonn eine aufgeklärte Universität, an die er auch Protestan­ ten beruft. Einrichtungen wie Prozessionen und Zölibat gerieten hier und da in Verfall. Die Grenzmauern gegen die protestantischen Ketzer wurden vielfach niedergelegt. Katholische Priester und protestantische Prediger be­ trachteten einander als AmtSbrüder und vertraten einander am Krankenbett

356

Daö Zeitalter der Aufklärung

und auf der Kanzel. Erst die Reaktion nach den Freiheitskriegen hat diesem Zustand ein Ende gemacht und wieder hohe Mauern aufgerichtet. 4. Die französische Revolution ist in gewissem Sinne die politische Verkörperung der wildgeworbenen, sich selbst vergötternden Aufklärungs­ vernunft. Nichts ist dafür bezeichnender als das unsinnige Unternehmen, auch den Kalender, der natürlichen Ordnung des Sonnenlaufes zuwider, nach dem Dezimalsystem zu rationalisieren. Aber als eine naturnotwenbige Folge der Aufklärung darf man die Revolution nicht bezeichnen; sie war nur deshalb geschichtlich unvermeidlich, weil die französische Kirche durch Ausstoßung der Hugenotten und Jansenisten sich selbst der erneuernden Kräfte beraubt hatte und daS französische Königtum, durch den Zustand der Kirche gelähmt, zu schwach und unentschlossen war, um rechtzeitig die nötigen Reformen einzuführen. Die weise Regierung der protestantischen Hohenzollern, vom Großen Kurfürsten bis zu Friedrich d. Gr., liefert den anschaulichen Gegenbeweis gegen solchen mutlosen Geschichtsfatalismus. Die verkommene französische Kirche hatte den führenden Schichten, dem Adel, den Prälaten und der Bildungsschicht des dritten Standes, den lebendigen, die Menschen in Demut und Gehorsam haltenden Gottesglauben genommen. Nur deshalb verfielen sie der übermütigen Vergötterung der Vernunft. Aberglaube füllt immer den Ort auS, den echter Glaube leer läßt! Unter diesen Umständen entwickelte sich das Drama in folgerichtigen Stufen: 1. Die Nationalversammlung erklärt das Kirchengut für National­ eigentum und beseitigt damit die wirtschaftliche Grundlage der Kirche. 2. Sie löst sämtliche Klöster und geistlichen Orden auf. 3. Sie verfügt die „Zivil­ konstitution deö Klerus". Damit wird die hierarchische Gliederung der Kirche zerstört und die kirchliche Verwaltung der staatlichen gleichgeschaltet: Er­ nennung der Bischöfe durch die staatliche Departementsregierung, Wahl der Pfarrer durch sämtliche politisch wahlberechtigten Bürger des Kantonö, Pro­ testanten und Juden eingeschlossen! Die Kirche ist also ein Instrument des Staates und ihre Geistlichen sind Staatsbeamte geworben. Daher der Wider­ stand der überzeugungstreuen schlichten Geistlichen. Sie verweigern den Eid auf diese Verfassung. 40000 eidverweigernde Priester werben vertrieben! Bürgerkrieg in den noch wirklich kirchlich gesinnten Provinzen. 4. Dadurch wirb der Nationalkonvent zum letzten Schritt gedrängt: förmliche Abschaf­ fung des Christentums, Einführung des „Kultus der Vernunft", Ein­ weihung von Notre Dartie zum „Tempel der Vernunft" mit einer Schau­ spielerin als „Göttin der Vernunft"; Kirchensturm im ganzen Lande. Der Stabtrat von Paris beschließt, alle Kirchtürme umzulegen, weil sie dem Grundsatz der 6galit6 widersprechen! Die Christenverfolgung beginnt mit den Septembermorden: „Die Revolution hat keine andere Gottheit als das Vaterland." Der ermordete Marat wird als ihr Märtyrer göttlich verehrt! 5. Jetzt greift Robeüpierre ein. Der Konvent muß bas Dasein

§85

Die französische Revolution — Napoleon

357

eines „höchsten Wesens" und der menschlichen Unsterblichkeit anerkennen. RobeSpierre amtiert als Hoherpriester beim „Fest des Höchsten Wesens" in Paris. Eine „Gottheit" von Gnaden der menschlichen Vernunft — das ist noch ruchloser als der ehrliche Atheismus! 5. Napoleon Bonaparte, durchaus irreligiös, nur vom Glauben an sich und seinen Stern erfüllt, aber von ungeheurer, durchdringender Ver­ standesschärfe, betrachtet die katholische Kirche als ein großartig organisiertes Polizeiinstitut, das er seinen politischen Zwecken dienstbar macht. Er hat als General der Republik den Kirchenstaat beseitigt und den greisen PiuS VI. gefangen nach Frankreich geführt (1798). Mit seinem Nachfolger, PiuS VII., schließt er 1801 ein Konkordat. Hier wird die katholische Kirche, weil sie „die Religion der großen Mehrheit der französischen Bürger" vertritt, staat­ lich anerkannt und finanziell sichergestellt, aber in ihrer ganzen Verwaltung der staatlichen Aufsicht unterworfen: Der Staat ernennt die Bischöfe, fordert von ihnen und allen Klerikern den staatlichen Treueid; die Veröffentlichung aller päpstlichen Erlasse, die Annahme aller Beschlüsse auswärtiger Synoden, auch ökumenischer Konzilien, ist an die Genehmigung der StaatSregierung

gebunden. Gleichzeitig bekommen die französischen Protestanten Glaubens­ freiheit und bürgerliche Gleichberechtigung, so baß jetzt endlich die reformierte und die lutherische Kirche sich öffentlich begründen können. DieS Konkordat hat in Frankreich bis 1905 bestanden; im Elsaß gilt eS heute noch. In religionSfeinblichem Sinne war unter dem Einfluß beS französischen Beispiels Trennung von Kirche und Staat in den von Frankreich ab­ hängigen Nachbarrepubliken, batavische (Niederlande), helvetische (Schweiz), cisalpinische (Oberitalien) eingesührt. 3n dem von den schwärmerischen Fran­ zosen verehrten Musterlanb moderner Staatsfreiheit, in der jungen nord­ amerikanischen Republik, war stattdessen diese Trennung in religions­ freundlicher Absicht eingeführt, weil man die Gewissensfreiheit der Bür­ ger und die Selbständigkeit von Religion und Kirche achten wollte. DaS ist dort auch bis heute so geblieben.

IN. Idealismus und Romantik. § 86. Der Frühidealismus. 1. Während die englische Aufklärung, vom Grundsatz deS praktischen Nutzens geleitet, den englischen Industrie- und Welthandelsstaat erzeugt, die ftanzösische Revolution, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schwär­ mend, den uniformierten Rechtsstaat der gleichberechtigten Bürger begründet, bringt die deutsche Aufklärung den patriarchalischen Absolutismus Fried­ richs II. und den deutschen Idealismus hervor. Beide Schöpfungen bedingen einander, die absolute Staatsführung drängt die aufquellenden Kräfte der

358

DaS Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

Nation zu geistiger Arbest nach innen und läßt ihr dafür freiesten Spielraum: das Volk der Dichter und Denker. Der Idealismus ist auf dem Boden der Aufklärung gewachsen. Er weiß sich, wie sie, von der Überlieferung unabhängig, frei und selbstmächtig.

Mer diese Freiheit ist tiefer und echter; deshalb kämpft der Idealismus nicht mehr mit der Überlieferung, verachtet ihre Güter nicht mit unreifem Hochmut,

sondern lebt von allem Großen und Schönen, was ihm innerlich wahl­ verwandt ist (Goethe: „Ein Quell, darin ich bade, heißt Überlieferung, heißt Gnade"). Diese Bewegung des Idealismus ist im Unterschied von der Aufklärung nicht von außen entscheidend angeregt. Stark eingewirkt hat lediglich Rousseau, von dem sie aber nur die über die Aufklärung hinausdrängenden Antriebe übernahm (s. o. S. 344). Die Bewegung ist wesenhaft auf deutschem Boden gewachsen. Fast ihre sämtlichen Träger sind lutherische Pro­ testanten. Lutherische Gedanken werden in untheologischer Form weiter­ geführt (Luthers „Freiheit eines Christenmenschen" in weltlicher Gestalt). Daher sowohl die positive Stellung zum Staat (Lessings „Minna von Barn­ helm", die „fritzische" Gesinnung in Goethes Elternhaus), wie auch das Schöpfen auS den innerlichsten Quellen des GemütS. Als „deutscher Idealis­ mus" ist diese Bewegung auch sehr bald vom Ausland geschaut und gewürdigt (Carlyle, Emerson).

Nach der abwertenden und auflösenden Kritik der Aufklärung beginnt der Idealismus, ein neues Weltbild von der seelischen Innerlichkeit her auf­ zubauen. Fichte schreibt an Goethes Freund Jacobi: „Auch Sie suchen alle Wahrheit da, wo ich sie suche, im innersten Heiligtum unseres eigenen Wesens." Dies innerste Heiligtum findet sich nicht im Verstand, sondern in den irra­ tionalen Kräften des Gemüts: Herz, Gefühl und Phantasie. Hier wird der Springquell frommer Ehrfurcht und echter Poesie aufgebohrt. (Herder: „Die Poesie ist nicht das Privaterbteil einiger feingebildeter Männer, sondern eine Welt- und Völkergabe.") Nicht materielle oder bloß intellektuelle Kultur nach dem Motto der Aufklärung: „Wissen ist Macht", oder gar die Glückselig­ keit der Sinne macht den Wert des Lebens aus ; der Idealismus sucht den letzten Lebenswert in der eine freie Persönlichkeit gestaltenden sittlichen Tat. Wenn Klopstock in seinen Liedern für Vaterland und Freundschaft, für die Größe der Natur und edle Frauenliebe schwärmt, gleichzeitig aber in seinem Messias die göttliche ErlösungStat verherrlicht, so bedeutet daS die Ver­ heißung einer wahren Vermählung von natürlicher Frömmigkeit und Christentum. Die ungeheure Größe der Aufgabe konnte indes noch nicht ermessen werden. „Der Frühidealismus führte als Rauch- und Feuersäulc die suchenden Geister durch die Wüste der Zeit, aber das gelobte Land selbst erschloß er noch nicht" (Stephan).

§86

Der FrühidealiSmuö: Lessing, Herder

359

2. Lessing (1729—1781) wächst auS der Aufklärung, deren beste Züge er offensichtlich trägt, über sie hinaus. Zunächst in seiner literarischen Arbeit: er überwindet den französischen AufklärungSgeschmack, zertrümmert die Vor­ herrschaft deS regelmäßigen französischen DramaS imt) stellt Shakespeares geniale Kraft als Vorbild auf. Er erkennt die Selbständigkeit der Kunst und befreit sie von moralisierender Nutzanwendung. Wenn auch schon Klopstock die Enge pietistischer Lebensführung sprengte (seine Ode „Der Züricher See"), daS große Beispiel einer auf sich selbst gestellten, freien Menschenbildung er­ scheint doch erst in Lessing (Goethes Urteil in Dichtung u. Wahrheit Buch VII). Seine Moral ist die vollkommen freie, folgerichtige Auswirkung des Grund­ satzes, daS Gute um seiner selbst willen zu tun. Auf dem Gebiete von Religion und Theologie will er die Aufklärung durch die Erkenntnis überwinden, daß der Glaube sich auf die im Gefühl erlebte Erfahrung stützt und keiner theoretischen Begründung bedarf: „Wenn der Gelähmte die wohltätigen Schläge deS elektrischen Funkens erfährt, was kümmert eS ihn, ob Rollet oder Franklin oder keiner von beiden recht hat." Ihm ist Religion also nicht Lehre deS Verstandes; er weiß, daß die ewige Wahrheit für menschliches Vermögen unbegreiflich ist: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die auf­ richtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert deS Menschen." Er will deshalb den Besitz der Wahrheit in Demut Gott überlasten und sich mit dem unablässigen Suchen begnügen. Er ver­ wechselt auch nicht wie die Aufklärung Religion mit platter Moral, sondern weiß, daß Demut, Ehrfurcht, Gottergebenheit zu echter Religion gehören („Nathan"). Die Bibel beider Testamente weiß er in seiner letzten Schrift „Erziehung deS Menschengeschlechts" in ihrem unterschiedlichen Wert zu wür­ digen, hofft aber mit den Apokalyptikern deS Mittelalters (f. o. S. 165) auf ein ewiges Evangelium deS Geistes, daS keines Buchstabens mehr bedarf, und endet mit einem Ausblick auf die Seelenwanderung, die ihn ins Reich der Ewigkeit führen soll. Christus und seine Offenbarung werden hier hoch­ geschätzt, aber nicht als daS Letzte und Abschließende betrachtet. 3. Herder (1744—1803) steht von allen Dichtern und Denkern dem bibli­ schen Christentum am nächsten. Er war von HauS auS Theologe und blieb es auch zeitlebens (Hofprediger in Bückeburg, Generalsuperintendent in Weimar). Er hat in Königsberg von dem dunkeln, geistvollen Autodidakten Hamann, dem ingrimmigsten Gegner aufklärerischer Vernunft und Kultur­ seligkeit, gelernt, daß „die Welt Wunder und Zeichen voll Sinnes, voll Gottheit" sei. Er hat selbst erlebt, wer Gott ist und was Offenbarung be­ deutet; in den Schriften seiner Bückeburger Zeit hat er diese Erfahrung warmherzig bezeugt. Später haben die Einflüsse von Weimar und seiner italienischen Reise ihn mehr in die eigentümlich idealistische Denkweise hinein­ gezogen. HamannS starken Anstoß, Luthers machtvollen Geist aufzunehmen

360

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

und seiner Zeit zu deuten, hat er deshalb nicht auözuführen vermocht. (ES ist das Grunbgebrechen deS Idealismus, baß keiner seiner Vertreter wirklich in Luther eingedrungen ist; freilich auch kein Theologe jener Zeit.) Als Führer im „Sturm und Drang" trat er Goethe in Straßburg gegen­ über. Seine Arbeiten über Shakespeare und Ossian, seine Preisarbeit über den Ursprung der Sprache, seine Volksliebforschung zeigen ihn hocherhaben über die Verstandeseitelkeit der Aufklärung. Verstehen heißt ihm: Einfühlung und intuitives Erfassen deS Wesentlichen. So entdeckt er den Zu­ sammenhang der Poesie, aber auch der Religion mit Land und Volksart (Blut und Boden). Von da aus kommt er zu einer lebendigen, den Erdgeruch der Wirklichkeit tragenden Auffassung der Geschichte („Ideen zur Philo­ sophie der Geschichte der Menschheit"). Mit dieser blutvollen geschichtlichen Auffassung betrachtet er auch die Bibel. Er entdeckt die heilige Poesie nicht nur der Psalmen, sondern auch der epischen Erzählungen deS Alten Testa­ ments („Vom Geist der hebräischen Poesie"). Neueste Erkenntnisie der Bibel­ forschung nimmt er vorweg, wenn er die Propheten nicht als Weissager und Verfasser dogmatischer Sprüche, sondern als „Führer deS Volkes, Sprecher deS Willens Gottes über diese Zeit, diese Stabt, diese Verbindung von Umständen" betrachtet, ebenso wenn er lehrt, die Evangelien seien auf keine Weise Biographien, sondern historische Beurkundungen deS christlichen Glau­ bensbekenntnisses, daß JesuS der Christ sei! Mit großer Freudigkeit leitet er seine Zeitgenossen an, die Bibel nicht als ein inspiriertes, vom Himmel gefallenes Buch zu betrachten und wie eine tote Reliquie zu verehren, sondern sie echt menschlich zu sehen und zu lieben. Denn Religion ist ihm höchste Blüte der Humanität und JesuS Christus das Vorbild der Humanität. Wenn er dabei auch Humanität im allertiefsten Sinne verstand, als die Art des Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, so wurden in diesem liebenswürdigen Optimismus doch die dunklen WesenSzüge menschlicher Gebrechlichkeit verkannt.

§ 87. Der Philosoph deS Protestantismus. Immanuel Kant (1724—1804), einem pietistisch frommen Elternhause entstammend, durch die Naturwissenschaft und die Philosophie der Aufklärung hindurchgegangen, erlebt in reifem ManneSalter eine Art von philosophischer Bekehrung: HumeS ätzende Skepsis weckt ihn aus dem „dogmatischen Schlummer" im Bannkreis Wolffscher Aufklärungsgläubigkeit; er wird da­ durch zum wirksamsten Überwinder der Aufklärung und zum Begründer

einer daS deutsche Geistesleben jahrzehntelang beherrschenden idealistischen Philosophie. AuS seiner „vorkritischen" Periode stammt die berühmte Theorie vom Ursprung deS Sonnensystems (Kant-Laplacesche Theorie). Dieser größte „Überwinder der Aufklärung" hat sich immer zu ihr bekannt. Er schreibt

§86f.

Herders Humanität — Kants Vernunftkritik

361

1784 die Programmschrift „Was ist Aufklärung?" Darin die berühmten Sätze: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschulde­ ten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist bas Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes «1 bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung." 1. KantS Vernunftkritik soll mithin keine Absage an die Pflicht mut­ vollen und selbständigen Denkens sein. Sie beruht- im Gegenteil auf der allerschärfsten und tiefsinnigsten Denkarbeit. Dor ihm war die Philosophie außerstande, baS Wesen wissenschaftlicher Erkenntnis richtig zu begreifen und zu werten. Auf der einen Seite stand eine dogmatische Gläubigkeit an daS Vermögen der Vernunft, aus dem bloßen Denken ein inhaltlich zu­ treffendes Weltbild herauszuspinnen (der Rationalismus Descartes'), auf der anderen Seite die zuversichtliche Behauptung, auS bloßer Erfahrung der Sinne sichere Erkenntnis gewinnen zu können (der Empirismus LockeS, der bei seinen Nachfolgern in den grundsätzlichen Zweifel führte, weil die Sinne uns erfahrungsgemäß oft täuschen). Kant zeigt demgegenüber, baß wirkliche Erkenntnis weder durch bloße rezeptive Erfahrung noch durch reines Denken zustande kommt, sondern nur durch eine Zusammenarbeit von Sinnlichkeit und Verstand: „Gedanken ohne Inhalt sind leer; Anschauungen ohne Be­ griffe sind blind." Wirkliche Erkenntnis kommt also nie ohne schöpferische Tätigkeit des menschlichen Geistes zustande: die Seele ist im Akt der wissen­ schaftlichen Erkenntnis nicht etwa eine passiv empfängliche photographische Platte! Diese Einsicht sichert die Überlegenheit deS Geistes gegenüber

der Natur, begründet also den Idealismus gegenüber allem Materialismus. Da aber andererseits jede wirkliche Erkenntnis an einen Stoff gebunden ist, der uns zugeführt wirb, und da dieser Erkenntnisstoff durch die Sinnesorgane ausgenommen und durch unsere geistigen Denkformen geprägt wird, so kommen wir niemals an den Gegenstand, wie er ohne unsere Erkenntnis­ tätigkeit „an sich" ist, heran. Unserer Erkenntnis sind also feste, unüber­ schreitbare Grenzen gezogen. Nicht bas „Ding an sich" vermögen wir zu er­ kennen, sondern nur die „Erscheinungswelt", d. h. die Welt, wie sie uns kraft unserer Sinnesorgane, der „reinen Anschauung" in Raum und Zeit und unserer Denksormen ober Verstandesbegriffe (Substanz, Kausalität) erscheint. Daraus folgt, baß Philosophie als Metaphysik, b. h. als dogmatische Lehre über bas letzte und eigentliche Wesen der Wirklichkeit, schlechterdings unmöglich ist. Die menschliche Vernunft findet ihre Grenze an der wissen­ schaftlich erforschbaren Erscheinungswelt. Über das „Transzendente", das was dahinter liegt, vermag sie nichts auözusagen (weder bejahend noch ver­ neinend). Alle Versuche, über die Welt als Ganzes etwas zu sagen, führen in unlösliche Widersprüche. Wir vermögen weder die Endlichkeit noch die Unendlichkeit der Welt uns wirklich vorzustellen. Damit fällt die ganze scholastische Philosophie, damit fallen alle Gottesbeweise. Die katholische

362

DaS Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

Theologie hat deshalb Kant als den „AüeSzermalmer" abgelehnt und bekämpft. 2. KantS zweite Leistung, der ersten mindestens ebenbürtig, besteht in der Entdeckung beS wahren Wesens echter Sittlichkeit. Natürlich hat eS von jeher Menschen gegeben, die sittlich echt empfunden und sittlich recht gehandelt haben. Mer daS wissenschaftliche Bewußtsein vom Wesen deS Sittlichen war bis auf Kant unklar geblieben. Die ganze griechische Philo­ sophie setzte den Sinn deS Sittlichen in die Glückseligkeit, und die Aufklärung betrachtete allgemein die Tugend unter dem Gesichtspunkt beö Nutzens, bestenfalls des Nutzens für die Allgemeinheit: „DaS größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl" (Dentham). Erst Kant erkannte deutlich, baß sitt­ lich nur die Handlung ist, die aus freiem Gehorsam gegen ein unbedingt gültiges Gebot erfolgt, ohne nach Nutzen und Erfolg zu fragen (vgl. Storm: „Der Eine fragt: WaS kommt danach? Der Andere fragt nur: Ist eS recht? Und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht"). Der reine Wille, diesem unbedingten Gebot der Pflicht, dem kategorischen, d. h. ohne Einschränkung gültigen Imperativ zu folgen, ist daS höchste Gut auf Erben. „ES ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer der­ selben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille... Der gute Wille ist nicht durch das, waS er bewirkt und auSrichtet, nicht durch feine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch sein Wollen, b. h. an sich gut. Wenn auch durch besondere Ungunst beS Schicksals ihm jede Verwirklichung versagt bleiben sollte, so würde er doch wie ein Juwel für sich selbst glänzen als etwas, das seinen vollen Wert in sich selber hat." Dieser gute Wille wird daran erkannt, baß er nur der Pflicht und nicht der Neigung folgt, baß er durch keine Neigung sich in Erkenntnis und Befolgung

der Pflicht beirren läßt; auch nicht im Geschäft der Wohltätigkeit, bei dem viele Leute Bequemlichkeit ober Gutmütigkeit mit echter Güte verwechseln. „Gerade da hebt der Wert beS Charakters an, der moralisch und ohne alle Vergleichung der höchste ist, nämlich baß er wohltue nicht auS Neigung, sondern auS Pflicht." Dieser „kategorische Imperativ" ist nur ein einziger und zwar dieser: „Handle stets nach derjenigen Maxime (Grundsatz), von der du zugleich wollen kannst, baß sie ein allgemeines Gesetz werde." (Dgl.

Mt. 7,12.) Eine so stolze und stählerne Ethik war bisher noch von keinem Denker geschaut und geschildert. Alles sittliche Handeln ist auf die Gesinnung zurückgeführt; diese Gesinnung aber ist vom Erfolg völlig unabhängig und auS Einem Ursprung abgeleitet. Echte „Moralität" wird nur dort anerkannt, wo daS vom Gesetz geforderte Handeln auch auS moralischer Gesinnung, auS reiner Achtung vor dem sittlichen Gesetz geschieht. Wird daS gesetzmäßige Handeln auS unechten Beweggründen wie Angst vor Strafe geleistet, so bleibt eS

§87

Kant: der kategorische Imperativ, Wissen und Glauben

363

auf der niederen Stufe der „Legalität". — Das moralische Handeln ist autonom, weil der sittliche Wille sich selbst sein Gesetz gibt, indem er sich dem sittlichen Gebot freiwillig unterwirft. Ausgeschlossen wirb alle Heteronomie, in der dem Willen ein fremdes Gesetz aufgedrängt würde, sei eS von fremder, innerlich abgelehnter Autorität, sei eS vom niederen Verlangen nach Glück. Mit diesen Grundsätzen war die weichliche und selbstsüchtige NützlichkeitSmoral der Aufklärung abgetan. Erledigt war auch jede schlechte vulgär­ kirchliche Moral, die den Menschen durch Verheißung himmlischen Lohnes ober durch Androhung ewiger Strafen, also durch unsittliche Mittel, sittlich erziehen, die ihn durch kleinliche Vorschreibung aller einzelnen Pflichten (die Kasuistik der Pharisäer wie der Jesuiten) gängeln und in Abhängigkeit halten und dadurch um die Freiheit der Tat betrügen wollte. Hier steht ganz deutlich Luthers großes Bild vom echt sittlichen Handeln (vgl. seine Schriften „Von guten Werken" und „Christliche Freiheit") wieder auf. Doch wirb Luthers Höhe nicht erreicht. Schiller hat richtig empfunden, daß Kants Ethik mit dem ständigen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung noch nicht bas letzte Wort sagt (vgl. sein Distichon: „Gerne bien' ich den Freunden..."). Luther hat diesen Widerspruch überhöht durch die Lehre von der Liebe Gottes, die mit der Kraft einer neuen Natur aus dem Glauben des Erlösten entspringt, wie Wärme und Licht aus dem Feuer (Vorrede zum Römerbrief). Er hat damit der Ethik auch einen bestimmten Inhalt gegeben, wozu die Formel des kategorischen Imperativs nicht imstande ist. 3. KantS Kritik der reinen Vernunft mit ihrer Zertrümmerung nicht nur aller Metaphysik, sondern auch aller Gottesbeweise war von manchen Zeit­ genossen dahin mißdeutet worden, als habe er auch den Glauben und die Religion bekämpfen wollen. Diesen Vorwurf hat Kant in der Vorrede zur 2. Ausgabe abgewehrt. „Ich mußte daS (vermeintliche) Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." Alle seine weiteren Schriften zeigen, wie ernst es ihm mit dieser Absicht war. In diesem einen Satz steckt min­ destens der Ansatz zu einem Verständnis für bas Wesen frommen Glau­ be n S, wie eS in der Reformation neu aufgebrochen war. Scholastik, Orthodoxie und Aufklärung waren einig in der Verwechselung von Glauben und Wissen, machten aus dem Wunder der Glaubenswahrheiten eine vernünftige Lehre; nur mit dem Unterschiede, daß die vulgäre Aufklärung den Respekt vor der unermeßlichen Größe dieser Lehre vergessen hatte. Kant wußte, daß man Gott und seine Weltschöpfung nicht wissenschaftlich verstehen, sondern nur im Glauben ahnend begreifen könne. ES ist vermessen und im Grunde gott­ los, Gott wie einen Satz der Mathematik ober der Naturwissenschaft be­ weisen und dadurch zu einem Gegenstände der Welt machen zu wollen. Wenn wir etwas von ihm.wissen wollen, muß er sich unS bezeugen. Er bezeugt sich unS nach KantS Lehre im Sittengesetz.

364

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

Das moralische Gesetz ist für Kant umso erhabener, als er im Unterschied von der Aufklärung den Menschen alsvonNaturböse beurteilt, ja einen unausrottbaren, „radikalen" Hang zum Bösen voraussetzt. Zum Beweis für diese den Zeitgenossen (auch Goethe!) ärgerliche Behauptung verweist er nicht nur auf die wilde Grausamkeit der angeblich paradiesisch unschuldigen Naturvölker, die er aus Reisebeschreibungen genau kannte, sondern auch auf die tägliche Erfahrung in unserer zivilisierten Welt: Jeder Wohltäter müsse darauf gefaßt sein, daß der Mensch den haßt, dem er verbindlich ist, und zutreffend sei die boshafte Bemerkung „es sei an dem Unglück auch unserer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz mißfällt". Deshalb: „Das mora­ lische Gesetz ist heilig. Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein." Das heißt, heilig ist nur die Idee der Menschheit, nicht ihre sichtbare Wirklichkeit, und an diese unsichtbare Idee sollen wir glauben: Idealismus! 4. Dies moralische Gesetz, an das wir trotz seiner unvollkommenen Ver­ wirklichung glauben, führt zu drei weiteren Ideen. 1. Es muß sittliche Freiheit geben, wenn anders der kategorische Imperativ einen Sinn haben soll: „Du kannst, denn du sollst" (Schiller). 2. Da vollendete Sittlichkeit erst in einer Ewigkeit zu erwarten ist, muß es für den Menschen Unsterblich­ keit geben. 3. Da irgendwann Glückswürdigkeit und Glückserfahrung (Moral und Lebenswirklichkeit) miteinander ausgeglichen werden müssen, glauben wir an die Existenz Gottes, der diesen gerechten Ausgleich schafft.

Freiheit, Unsterblichkeit und Dasein Gottes sind für Kant nicht Gegen­ stände eines zwingenden Beweises, sondern letzte Ideen. Er nennt sie „Postu­ late" (Forderungen), weil der kategorische Imperativ, den wir erleben, den Glauben an diese drei Ideen fordert. Kants berühmter „moraliscber Gottes­ beweis" ist also nicht den alten Gottesbeweisen gleichzusetzen, sondern nur als ein Hinweis gemeint auf den letzten Hintergrund des von uns im Ge­ wissen erfahrenen sittlichen Gesetzes *). Aber auch mit dieser Erläuterung bleiben die Postulate anfechtbar; am meisten das dritte. Hier taucht der von Kant grundsätzlich überwundene Eudämonismus der Aufklärung in leichter Verhüllung wieder auf. Hier setzte deshalb auch Fichtes scharfsichtige Kritik ein (vgl. unten § 90). Kant selber hat in der „Kritik der Urteilskraft "(§ 87) einen Beweis angedeutet, der seinen hohen sittlichen Grundsätzen besser ent­ spricht: Ein rechtschaffener Mann, dessen Wille dem Sittengesetz unbedingt dienstbar geworden ist, kann unmöglich im Atheismus verharren. Er stößt bei seinem Willen, das Gute in der Welt durchzusetzen, immer wieder auf J) Kant selber schreibt, Kritik der Urteilskraft, Fußnote zu § 87 (Reklam S. 347): „Dieses moralische Argument soll keinen objektiv gültigen Beweis vom Dasein GotteS an die Hand geben, nicht dem Zweifelgläubigen beweisen, daß ein Gott sei; sondern daß, wenn er moralisch konsequent denken will, er die Annebmung dieses Satzes unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse."

§ 87

Kant: die moralischen Postulate, Religion und Christentum

365

unüberwindliche Widerstände, die sein Tun anscheinend zu Erfolglosigkeit und Sinnlosigkeit verurteilen. Will er sich trotzdem wenigstens von der Möglichkeit des ihm praktisch vorgeschriebenen sittlichen Endzweckes einen Begriff machen, so muß er das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. h. Gottes, annehmen. Kant definiert die Religion als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote", und er unterscheidet nach dem Maßstab der Moral echte und falsche Religion: „Man kann alle Religionen in die der Gunstbewerbung (des bloßen Kultus) und die moralische, d. h. die Religion des guten Lebens­ wandels einteilen. Nach der ersteren schmeichelt sich der Mensch: Gott könne ihn wohl ewig glücklich machen, ohne daß er eben nötig habe, ein besserer Mensch zu werden. Alles was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes." 5. Diese Beschreibung der Religion als Verkörperung der Moral zeigt sich auch in seiner Auslegung der überlieferten christlichen Dogmen: Gottheit Christi als Urbild vollendeter Moral, stellvertretendes Leiden Christi als Schmerzen der Reue, die der moralische Mensch für die Verschuldung des unmoralischen erleidet, Kirche als Gemeinschaft aller Wohldenkenden, die im guten Lebenswandel ihren Gottesdienst üben usf. Damit ist selbstverständ­ lich das Wesen des christlichen Glaubens nach dem Neuen Testament und nach der Reformation verkannt und verkürzt. Kants Religionsauffassung bleibt in dieser Beziehung in den Grenzen der Aufklärung (bezeichnend der Titel seines Hauptwerkes: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft"). Daß Kant von der Religion in Wirklichkeit mehr gewußt hat, zeigen zwei berühmte Stellen aus der „Kritik der praktischen Vernunft". Am Ende des 1. Teils (Reclam S. 175 ff.) beschäftigt er sich mit der Frage, wie es zu ertragen sei, daß unser Erkenntnisvermögen nicht ausreiche, um Gott und die ewigen Dinge zwingend zu beweisen. Er antwortet: Diese Grenzen unserer Erkenntnis sind gut und heilsam; wenn nämlich jene ewigen Wahrheiten wie ein mathematischer Lehrsatz ganz unabhängig von sittlichen Voraussetzungen jedem denkenden Menschen logisch beweisbar wären, dann wären sie um ihren besten Wert gebracht. Denn Gott und Ewigkeit würden uns mit ihrer furchtbaren Majestät unablässig vor Augen liegen; die Über­ tretung des Gesetzes würde dann freilich vermieden, aber die echte Gesinnung, die Gott haben will, würde zerstört. Das vom Gesetz Gebotene würde ge­ leistet; in den meisten Fällen aus Angst vor Strafe, in manchen aus Hoffnung auf Belohnung, in keinem Fall aus reinem freien Gehorsam. Der ist nur möglich, wenn diese letzten Wahrheiten nicht zwingend beweisbar sind. „Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, daß die unerforschliche Weisheit, durcb die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist

366

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

in dem, waS sie und versagte, als in dem, waS sie und zuteil werden ließ." Diese kühne Ausführung erinnert an Luthers Lehre vom Glauben, der als ein Wagnis sich immer auf baS Unsichtbare richtet, und an den merkwürdigen Schluß deS Gleichnisses vom reichen Mann und armen LazaruS, in dem JesuS seine Zuhörer überrascht und ärgert mit der Versicherung, baß kein Schauwunder einer Rückkehr von den Toten, sondern einzig die unsichtbare Kraft deS göttlichen Wortes echten Glauben zu wecken vermöge (Luk. 16,31). Im „Beschluß" deS Werkes aber sieht baS große Bekenntnis (dem auch die Inschrift auf der Gedächtnistafel am Schloß zu Königsberg entnommen ist): „Zwei Dinge erfüllen baS Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich daS Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und baS moralische Gesetz in mir." Wenn er bekennt, daß der Anblick der zahllosen Welten­ menge „gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfes vernich­ tet", so ist er nicht nur ein großer Morallehrer gewesen, sondern auch ein Ehrfürchtiger im Geist der Psalmen und Propheten (Pf. 8; Jes. 6). Kant gibt die Theorie zu der Lebend- und StaatSführung deS großen Königs, den er so hoch ehrte, daß er baS Zeitalter der Aufklärung als das „Jahrhundert Friedrichs" bezeichnete. Wir dürfen also auch von Kant sagen, er sei ein „Protestant", wenn auch ohne daS Evangelium der Gnade. Protestan­ tisch ist die Tapferkeit seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit, der Verzicht auf Metaphysik und Gottesbeweise, die Begründung von Weltanschauung und Leben auf den Glauben an daS Unsichtbare (nach dem Vorbild von Hebr. 11,1), die heroische Strenge und Herbheit seiner Ethik. Der Ehrentitel „Phi­ losoph deS Protestantismus" ist redlich verdient — wenn wir der Gren­ zen dieser Form deS Protestantismus eingedenk bleiben: er verficht mit hohem Ernst die Majestät deS sittlichen Gesetzes, er weiß von der Ehrfurcht, die der Allmacht gebührt; ihm fehlt aber das Verständnis der Gnade Jesu Christi. So hat er seinen Platz zwischen der Stoa und dem Evangelium.

§88. Der Prophet deS Idealismus. 1. 3m volkstümlichen Urteil gilt Schiller (1759—1805) als der Idealist schlechthin und deshalb auch als „christlicher" Dichter. Dafür läßt sich auch Vieles anführen. 2n einem frommen Elternhaus aufgewachsen, als Knabe vom Stuhl den Geschwistern predigend, wollte er Theologe werden, ehe der Herzog rauh in sein Leben eingriff. Seine erste dramatische Dichtung „die Räuber" ist erfüllt von biblischen Anspielungen und Zitaten, wie sie auch ursprünglich den biblischen Titel trug „Der verlorene Sohn"; sie ver­ kündet am Ende mit hinreißender Gewalt die Majestät deS heiligen allmäch­ tigen GotteS, der den frechen materialistisch gesinnten Leugner zerschmettert und den irregeleiteten überheblichen Idealisten demütigt, so daß er die Ver-

§ 87 f.

Der Philosoph deS Protestantismus — Schillers Idealismus

367

geltung dem ewigen Richter überläßt. Spätere Dichtungen wie die „Glocke" und „Maria Stuart" schildern mit tiefster Einfühlung Geheimnis und Ge­ bräuche der christlichen Kirche. — Die „Jungfrau von Orleans" muß gesehen werden in ihrem radikalen Gegensatz zu der oberflächlichen Aufklärung, ins­ besondere zu der frivolen Spottdichtung Voltaires; bann erst erscheint ste in ihrer religiösen Größe, indem sie die Wunberkraft der Begeisterung eines echten, opferwilligen Glaubens feiert. — Die „Braut von Messina" könnte auf den ersten Blick als ein Bekenntnis des Dichters zum antiken Heiden­ tum verstanden werben; denn auS ihm hat er nicht nur den Chor, sondern auch die den Faden der Handlung tragende Schicksalsidee übernommen. Wer diese glänzende Dichtung so auffassen wollte, würde sie doch völlig miß­ verstehen; er muß ja am Schluß bekennen, baß der Dichter baS denkbar schärfste Vernichtungsurteil über dies Heidentum fällt; denn so trotzig und selbstsicher eS sich gebärdet, eS vermag nichts als Enttäuschung, Verzweif­ lung und Verstörung auszurichten. „DaS Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld." Von dieser Schuld aber weiß keine der handelnden Personen eine Erlösung zu schaffen. — Der „Teil" preist den Glauben eines frommen freien Volkes an das Walten göttlicher Gerechtig­ keit. — Von der Kraft des Glaubens als einem Wagnis und Wunder geben die schönsten philosophischen Gedichte Zeugnis: Columbus, die Worte des GläubenS, die Worte deS Wahns, Hoffnung, Sehnsucht. Aus ihr der be­ rühmte Schluß: Du mußt glauben, du mußt wagen; denn die Götter leih'n kein Pfand. Nur ein Wunder kann dich tragen in das schöne Wunderland.

Den christlichen Ritter, der Selbstüberwindung, Demut und Gehorsam mit kühnster Tapferkeit verbindet, verherrlicht er in den „Johannitern" und im „Kampf mit dem Drachen". Dazu endlich Goethes berühmtes Zeugnis: „Es war etwas ChristuSähnlicheS in ihm; er adelte alles, was er anrührte." 2. Andererseits steht fest, daß Schiller sich dem kirchlichen Christentum praktisch völlig entfremdet hatte. Sein Gedicht „Die Götter Griechenlands" klingt wie eine entschiedene Absage an daS Christentum. Sn der geschichts­ philosophischen Dichtung „Die vier Weltalter" (1802) lautet die Absage nicht so hart und herbe, aber doch deutlich genug; die Schilderung deS Christen­ tums ist beinah eine Karikatur: „Der Mönch und die Nonne zergeißelten sich, und der eiserne Ritter turnierte." Seine berühmteste philosophische Gedankendichtung „DaS Ideal und daS Leben" ist ein ergreifendes Bekenntnis zum Idealismus, zu der erhabenen Höhe beö Ziels und der unendlichen Mühe deS Kampfes. Aber von Erlöser und Erlösung in christlichem Sinne weiß sie nichts zu sagen. Sie preist Herakles als den Überwinder, als den Typus und das Vorbild der Selbsterlösung.

368

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

In einem Brief vom Z.Dez. 1793 an den Herzog von Augustenburg beschreibt Schiller mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Ausführlichkeit seine Auffassung von Religion und reiner Sittlichkeit. Er bekennt stch grundsätzlich zu dem Kantischen Prinzip der strengen Moral/ wonach das Gute nur um deS Guten willen geübt und durch nichts anderes motiviert werden darf, da «S durch jede andere Motivierung verfälscht würde. Dann aber macht er sich und seinem Leser klar, daß diese rein moralische Begründung nur bei den wenigsten und auch bei ihnen nur in den glücklichsten Augenblicken auSreiche. Sie pflege zu versagen, wenn es sich um den Tod und die ganze Existenz des Menschen handele. Die Moral müsse aber schon aus Gründen der StaatSraison in die Wirklichkeit umgesetzt werben; dazu bedürfe sie der Unterstützung entweder durch den guten Geschmack der Verfeinerten oder durch die Religion bei dem gemeinen Manne. Die entscheidenden Sätze lauten: „Ich habe hier nicht ohne Absicht Religion und Geschmack in eine Klaffe gesetzt, weil beide das Verdienst gemein haben, zu einem Surrogat der wahren Tugend zu dienen und die Gesetzmäßigkeit der Handlungen da zu sichern, wo die Pflichtmäßig­ keit der Gesinnungen nicht zu hoffen ist. Obgleich derjenige im Range der Geister unstreitig eine höhere Stelle verdiente, der weder die Reize der Schönheit noch den Glauben- an eine Vorsehung und Unsterblichkeit nötig hätte, um sich in allen Vorfällen deS Lebens der Pflicht gemäß zu bettagen, so nötigen doch die bekannten Schranken der Menschheit selbst den rigidesten (strengsten) Ethiker, von der Sttenge seines Systems in der Anwendung etwas nachzulaffen, wenn er demselben gleich in der Theorie nichts vergeben darf, und bas Wohl der Welt, das durch unsere zufällige Tugend gar übel besorgt sein würbe, noch zur Sicherheit an den beiden starken Ankern, der Religion und dem Geschmack, zu befestigen. Und zwar scheinen sich beide, wenn ich anders meinen Erfahrungen trauen darf, in den Menschen und in das Menschengeschlecht so zu teilen, baß die Religion demjenigen ihre Arme öffnet, an dem die Schönheit verloren ist... Die Religion ist dem sinnlichen Menschen, was der Geschmack dem Verfeinerten ist: der Geschmack ist für bas ge­ wöhnliche Leben, was die Religion für die Exttemität (ungewöhnliche Ausnahme­ fälle). An eine dieser beiden Stützen aber, wo nicht lieber an beide, müffen wir uns halten, solange wir keine Götter sind."

Dieser Brief zeigt, baß der Idealist Schiller mit einem beinah grausamen Realismus die Wirklichkeit der moralischen Welt betrachtete und bas Un­ zureichende des bloßen MoraliömuS deutlich erkannte. Er zeigt aber ebenso deutlich, baß Schiller damals von dem wahren Wesen deS Christentums keine richtige Vorstellung besaß. Religion und Geschmack sollen als Stütze der Moral bienen, um wenigstens die äußere Gesetzmäßigkeit der Handlung zu erreichen, wo die Pflichtmäßigkeit der Gesinnung nicht zu erwarten ist! Und zwar wird die Religion noch unter den Geschmack, den künst­ lerischen Sinn, gestellt. Sie ist für die breite Masse der Banausen da, denen der künstlerische Geschmack fehlt. Welche unbegreifliche Verkennung des Christentums!

§88

Schillers Verhältnis zum Christentum

369

3. Die Lösung des Konflikts ergibt sich unschwer, wenn man zweierlei bedenkt. 1. Schiller hat sich in seinen Jenaer Anfangsjahren mit bewunderns­ würdiger Hingabe in Kants Philosophie vertieft, zu der ihn eine „prästabilierte Harmonie" hinzog. Hier gewann er die gedankliche Klärung und Be­ gründung für die Idee der Freiheit, die von je seine Dichtung und fein Leben erfüllte: frei ist nur der Mensch, der sich durch nichts anderes als durch den reinen Begriff der Pflicht, durch die höchste Vorstellung vom Guten bestimmen läßt und das Leben daransetzt, diese Idee in die Wirklichkeit um­ zusetzen : „Nehmt die Gottheit auf in euern Willen, und sie steigt von ihrem Weltenthron." Sein hochfliegender Genius strebte noch über Kant hinaus. Er empfand richtig den Mangel in KantS Ethik darin, daß sie auf der Stufe deS „Gesetzes", wenn auch des großartigsten und erhabensten, stehen bleibt; er empfand ebenso richtig, daß im Christentum diese gesetzliche Haltung durch „freie Neigung" überwunden werde. Schreibt er doch (in dem Brief an Goethe vom 17. VIII. 1795): „Hält man sieb an den eigentümlichen Charakter des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes oder des Kan­ tischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will." Er stand also dicht vor dem Tore der apostolischen Er­ kenntnis : „Christus ist des Gesetzes Ende." Aber seine ästhetische Welt- und Lebensauffassung verführt ihn zu dem schwärmerischen Versuch, durch die Kunst das „Gesetz" zu überwinden; deshalb deutet er auch das Christentum als „ästhetische Religion". Den Gegensatz zwischen Pflicht und Neigung soll die Kunst überwinden, in der Stoff und Gedanke, Sinnlichkeit und Geist, Irdisches und Himmlisches, Gesetz und Freiheit sich vermählen.—Aber mögen wir auch den Begriff deS Ästhetischen bei Schiller noch so tief und wesentlich fassen, eS bleibt doch eine Hybris (ein überkühnes Unternehmen), ihn zum Maßstab nicht nur der Religionen, sondern auch deS christlichen GotteSglaubenS aufzurichten. 2. Schiller suchte nach dem Allerletzten und Höchsten, gab mit nichts Vorläufigem sich zufrieden. Än der landläufigen Verkündigung deS Christentums aber, mochte sie orthodox, pietistisch oder aufklärerisch sein, trat ihm eine Predigt entgegen, der eS an Weite und Größe fehlte, die auf niedrige Motive, Drohung mit irdischen und himmlischen Strafen, Aus­ blick auf Nutzen und Belohnung, nicht verzichten wollte. Ihn hätte überzeugen und gewinnen können nur die Predigt deS Apostels Paulus und Martin Luthers von der Freiheit deS gerechtfertigten Christenmenschen. Hier war das, was Kant suchte, ohne eS zu finden, und was Schiller bei seinem großen Lehrer mit Recht vermißte. So ist seine Verkennung deS Christentums, dem er nach Goethes berühmtem Zeugnis in innerster Seele wahlverwandt war, ein Gericht über die unzulängliche christliche Predigt seiner Zeit.

24

Schuster, Kirchengeschichte

370

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

§ 89. Der Weise von Weimar. 1. Goethe (1749—1832) hat mehr als irgend ein anderer deutscher Geistes­ held die wunderbare Begabung besessen/ sich durch alle Anregungen der wechselnden Zeiten befruchten zu lassen und in lebendiger Fortentwick­ lung immer jung zu bleiben und ein anderer zu sein/ ohne sich selber untreu zu werden. (Nietzsche: „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.") So haben bei ihm auch Frömmigkeit und Glaubensgedanken im Laufe seines langen Lebens unter dem Einfluß aller geistigen Mächte der Zeit gestanden. Altfränkisches lutherisches Kirchentum, westliche Aufklärung, pietistisches Gefühlschristentum, Sturm und Drang des Genietreibens, Antike, Natur­ wissenschaft, Kantische Philosophie, Romantik, moderne Wirtschafts- und Sozialnöte: alles hat seine Spuren in seinem Geist und Gemüt hinterlassen. Die Erziehung des Knaben in der streng lutherischen Reichsstadt Frankfurt a. M. hat den festen Grund zu seiner umfassenden und eindringenden Bibel­ kenntnis gelegt. Nach der gesundheitlichen und geistigen Krise im aufgeklärten Leipzig ist der genesende Jüngling in der Heimatstadt in den Bannkreis herrnhuterisch-pietistischer Frömmigkeit gezogen. Neuentdeckte Jugendbriefe belegen diesen Einfluß (Erbauungszirkel auch im Elternhause). Mit Susanne v. Klettenberg verbindet ihn eine innige Seelenfreundschaft noch über deren frühen Tod (1774) hinaus. In den „Bekenntnissen einer schönen Seele" (Wilhelm Meister) setzt er ihr noch später ein Denkmal dankbarer Verehrung. In Straßburg wird er durch Vertreter der engen halleschen Richtung vom Pietismus abgestoßen, gleichzeitig durch Herder in eine neue weite Welt und eine ungeheure Gärung geführt, in der die widersprechendsten religiösen Stimmungen, der Titanentrotz des Prometheus, die Sehnsucht Ganymeds und fromme Naturmystik miteinander ringen. Sie finden in Weimar ihre Klärung durch „strenger Pflichten tägliche Bewahrung" und durch die läu­ ternde Liebe zu Frau v. Stein, dem Urbild der Iphigenie. Die italienische Reise nähert ihn der Antike und entfremdet ihn dem Christentum („dezidierter Unchrist", „julianischer Haß"). Der Schwung des Schillerschen Idealismus befeuert seine Produktion, aber kaum seine religiöse Gesinnung. Mehr haben die Kantische Philosophie mit ihrer Aufzeigung der menschlichen Grenzen, die aufwühlenden Kräfte der Romantik, Versenkung in die Natur und per­ sönliche Erlebnisse ihm geholfen, den Abstand zu überwinden und eine neue, Gemüt und Geist erfüllende Hinwendung zu Religion und Christentum zu gewinnen, von der seine Altersweisheit ein unvergängliches Zeugnis ablegt. 2. Goethes Frömmigkeit kann nur begriffen werden im Gegensatz zu der Vernünftigkeit und dem Moralismus der Aufklärung. Für ihn hat Frömmig­ keit nichts mit aufgeklärtem Wissen, auch nicht unmittelbar mit Verbesserung der Moral zu tun, sondern ist Andacht, Anbetung, Ehrfurcht, Sehnsucht nach Stille und Frieden, dankbare Hingebung, Entsagung, dienende Liebe, tätige Aufopferung.

§89

Goethes religiöse Entwicklung, sein religiöses Grundgefühl

371

Der Dichter des Werther ist selber nichts weniger als ein Werther, der in Empfindungen schwelgt und nicht zum Handeln kommt. Ohne heroische Begriffe betätigt er eine strenge, sittliche Lebensführung, die neben Kants Ethik wohl bestehen kann: „Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. — Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages." Wer solche Worte, wer überhaupt Goethes Äußerungen über Religion und Christentum richtig würdigen will, muß ihre schlichte Aufrichtigkeit beachten. „Er sagt jeweils aus, was er als Gewißheit in sich trägt, aber nicht ein Wort mehr. Als Glauben läßt er gelten, was hier und jetzt erlebte Gewißheit ist, nicht die erquälte Aneignung von überlieferten Sätzen und Symbolen." (H. H. Schaeder.) Der Aufzug im Gewebe dieser Frömmigkeit war stets ein tiefes Gefühl für die Offenbarung Gottes im Leben der Natur. Damit verbindet sich Kenntnis und Hochachtung der Bibel, Verehrung der Persönlichkeit Christi und, trotz seiner Ablehnung aller kirchlichen Dogmen, doch ein die Aufklärung weit übertreffendes Verständnis für das Eigentümliche des Christentums als einer Glaubensform, die auch mit dem Leid des Lebens fertig wird. So bekundet er am Schluß seines langen und reichen Lebens seinen gewissen Glauben an die ewige Mission des Christentums für die Menschheit (S. 373). Religion ist für Goethe Gefühl des Überweltlichen, Abstand, Ehr­ furcht und Bescheidung. „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure. Ergriffen fühlt er tief das Ungeheure."

Die „Grenzen der Menschheit" erlebt schon der Stürmer und Dränger, „kindliche Schauer treu in der Brust". Im Gespräche mit Eckermann bekennt er: „Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Be­ greiflichen zu halten. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gott­ heit sind zwei sehr verschiedene Dinge." Deshalb auch „ist das schönste Glück des denkenden Menschen, das Erforschliche erforscht zu haben, und das Unerforschliche ruhig zu verehren." Überhaupt hat er je länger je mehr die Ehrfurcht für die Grundlage aller Menschenwertung und Menschenbildung erklärt (s. u. über Wilh. Meister). Er verabscheut allen Plebejerübermut, der sich nicht in den Grenzen hält. Mit richtigem Instinkt hat er deshalb von Anfang an die französische Revo­ lution abgelehnt. So liberal er war in dem Sinne, andere Leute gelten zu lassen und ehrlich anzuerkennen, so fremd war ihm ein zügelloser Liberalis­ mus, der keine Jucht und Ordnung kennt. „Alles was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich." „Nicht das

372

DaS Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

macht frei, baß wir nichts über und anerkennen wollen, sondern eben, baß wir etwas verehren, baS über und ist; denn indem wir es verehren, heben wir und zu ihm hinauf." (Eckermann 18.1.1827. — Das Thema für Carlyles Heldenverehrung.)

Ein tiefes Gefühl für Dankbarkeit gehört zum Wesentlichen seiner Fröm­ migkeit: „In unsers BusenS Reine wogt ein Streben, sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben." Auf der Harz­ reise im Winter wird ihm „Altar beS lieblichsten DankeS des gefürchteten Gipfels schneebehangener Scheitel", und er schreibt an Frau v. Stein: „Wad soll ich vom Herrn sagen mit Federspulen, was für ein Lieb soll ich von ihm singen!" Auf der Höhe des Lebend ist ihm Dank gegen den Geber aller guten Gaben tiefstes Bedürfen. Deshalb ist ihm auch jeder große Gedanke, jeder poetische „Einfall" ein Gottesgeschenk.

Für Goethe waren Naturforschung und Naturliebe ein und dasselbe. Seine tiefe Abneigung gegen die mathematisch-mechanische Berechnung der Natur ist ein Zeugnis dafür, daß ihm die Natur etwas Lebendiges war, etwas Beseeltes, etwas beinahe Persönliches, ein Wesen, bad nur dem ehrfürchtig Liebenden sein Geheimnis eröffnet; damit zugleich auch «ine Offenbarung der Größe und Herrlichkeit GotteS. Nicht nur im majestätischen Gang der leuchtenden Gestirne erschaut er sie (Prolog zum „Faust"); an jeder stillen Quelle, unter jedem blühenden Baum meint er Gott zu begegnen. Nicht nur „kalt staunender Besuch" im Königreich der Natur ist ihm erlaubt; ihm ist vergönnt, „in ihre tiefe Brust wie in den Busen eines Freunds zu schauen": „Du führst die Reihe der Lebendigen vor mir vorbei und lehrst mich, meine Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen." (Dgl. auch den be­ rühmten Brief im „Werther" vom 10. Mai.) Eine fromme Freude erfüllt ihn, als er bei seinen anatomischen Forschungen den Zwischenkiefer deS Menschen entdeckt. ES ist ihm, als sei er der Fußspur GotteS begegnet. Dem seelenlosen und unfrommen DeiSmuS erteilt er eine bewußte scharfe Absage: „WaS wär' ein Gott, der nur von außen stieße!" („Prooemion" Strophe 3.) Man be­ zeichnet Goethes Naturfrömmigkeit wohl als „Panentheismus", d. h. als den Glauben, baß alles in Ihm lebt, webt und ist, durch Seine Kraft und Seinen Geist besteht und wirkt. Er hatte eine zu große Vorstellung von der Unendlichkeit und Unbegreif­ lichkeit Gottes, als daß er menschliche Lehren, seien eS die der kirchlichen Orthodoxie, seien eS die der neumodischen Aufklärung, hätte ertragen können. Aber die absolute Gefühlsbestimmtheit in dem berühmten Glaubensbekennt­ nis beS Faust: „Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch, umnebelnd HimmelSglut", blieb doch nicht das letzte Wort. Dogmatische Lehren lehnte er ab, aber die Geschichten, Bilder und Gleichnisse der Bibel gaben seinem Glauben Gestalt und Inhalt.

§89

Goethes Naturfrömmigkeit, Verehrung der Bibel

373

3. Von Goethes Verehrung der Bibel legt sein ganzes Werk Zeugnis ab. Ammer wieder überrascht seine Kenntnis auch entlegener Stellen. Er war sich dessen wohl bewußt, ihr für seine sprachliche und sittliche Bildung daS Beste zu verdanken. „Ich für meine Person halte sie lieb und wert, denn fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig" (D. u. W. VII). Die Epik der Patriarchengeschichten, deren warmeS Licht im „Werther" leuchtet (Buch I 12. Mai), liebt er noch im Alter so innig, daß er bei Schilderung seiner Jugenderziehung ein halbes Buch mit ihrer Wiedergabe auSfüllt (D. u. W. IV). Er weiß das Ganze zutreffend zu würdigen: „Jene große Verehrung, welche der Bibel von vielen Völkern und Geschlechtern der Erde gewidmet worden, verdankt sie ihrem inneren Werte. Sie ist nicht etwa nur ein Volksbuch, sondern daS Buch der Völker, weil sie die Schicksale eines Volkes zum Symbol aller übrigen aufstellt" (Farbenlehre II). Er bemüht sich, die Bibel lebendig zu verstehen: „Ich bin überzeugt, daß die Bibel immer schöner wird, je mehr man sie versteht, d. h. je mehr man einsieht und anschaut, daß jedes Wort, das wir allgemein auffaffen und im besonderen auf uns anwenden, nach gewissen Umständen, Zeit- und OrtSverhältniffen einen eigenen besonderen, unmittelbar individuellen Bezug gehabt hat"; ein Finger­ zeig für jede richtige Bibelauslegung. Goethe wahrt dabei Abstand und Ehr­ furcht. Ihm ist „die Bibel ein ewig wirksames Buch, weil, solange die Welt steht, niemand auftreten und sagen wird: ich begreife eS im ganzen und ver­ stehe es im einzelnen. Wir sagen bescheiden: im ganzen ist eS ehrwürdig und im einzelnen anwendbar." In der bedeutsamen letzten Unterredung mit Eckermann, wenige Tage vor seinem Tobe, hat er nicht nur ein tiefsinniges Zeugnis abgelegt für seine Wertung der Evangelien, für seine Auffassung ihrer Echtheit und ihrer Offen­ barungsbedeutung, sondern auch ein Bekenntnis zur Person Christi: „Ich halte die Evangelien alle vier für durchaus echt; denn eS ist in chnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi auSging, und die so göttlicher Art ist, wie nur je auf Erden daS Göttliche erschienen ist. Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit ... Mag die geistige KulMr nur immer fortschrriten, mögen die Naturwiffenschasten in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen und der menschliche Geist sich erweitern, wir er will, über die Hoheit und sittliche Kultur deS Christentums, wie eS in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen." Er liebte eS im allgemeinen nicht, sich über sein Innerstes zu äußern, weil er fürchtete, daß die Gewalt deS Gefühls ihn fortreißen möchte. Seine Schwiegertochter berichtet, er sei eines Tages auf die Person Christi zu sprechen gekommen und dabei in solche Bewegung geraten, daß er in einem Sttom von Tränen endete.

An der protestantischen Kirche hat er als Künstler die Dürftigkeit des Kultus, den Mangel an Sakramenten (D. u. W. X) beklagt. Zlber zu

374

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

Martin Luther und zur Reformation hat er sich stets bekannt. Der katholische Reliquiendienst war ihm ein Ärgernis/ ebenso alle Gesinnungsknechtung: „Das selbständige Gewissen ist Sonne deinem Sittentag."

Die aufdringliche Art/ mit der in katholischen Ländern das Marterbild des Gekreuzigten zur Schau gestellt wird, sowie die zudringliche Wunden- und Bluttheologie Zinzendorfs beleidigten seinen Geschmack. Das kirchliche Erb­ sündendogma und Kants Lehre vom radikalen Bösen waren seinem optimisti­ schen Sinn, der überall mit Liebe das Gute suchte und anerkannte/ fremd und peinlich. Doch ist er in das letzte Geheimnis des Christentums tiefer einge­ drungen als die meisten seiner Zeitgenossen. Von Schuld/ Sühne und Erlösung wissen der „Faust" (die Gretchentragödie), der „Götz" (Weislingens Tod) und „Iphigenie" erschütternd zu reden. Dem Geheimnis des Kreuzes ist seine Stanzendichtung „die Geheimnisse" gewidmet. Vorzüglich aber legt seine Schilderung der drei Ehrfurchten in der Pädagogischen Provinz von „Wilhelm Meister" („Wanderjahre") Zeugnis ab für sein Ver­ ständnis des Christentums. Die christliche Religion beschreibt er als Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist/ und nennt sie ein „Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Förbernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu gewinnen."

In dieser pädagogischen Provinz wird die Jugend mit den Geschichten und Gleichnissen der Bibel religiös erzogen; die Leidensgeschichte und das Bild des Gekreuzigten sollen den Gereiften zur Passionszeit enthüllt werden. Die paulinisch-reformatorische Lehre von der „Rechtfertigung", in der Verkündigung jener Zeit fast verstummt, weil kaum mehr verstanden, findet sich auch bei Goethe nicht. Doch muß man anerkennen, daß dieser Mann, dem Dankbarkeit ein inneres Bedürfnis war, und der sich nicht schämte, sich be­ schenken und begnadigen zu lassen, wenigstens die Wege offen läßt, die in das Verständnis des Evangeliums nach reformatorischer Auffassung bineinführen.

§ 90. Romantik und spekulativer Idealismus.

1. Die Romantik, von der Goethe noch stark berührt wurde, ist zu be­ greifen als gesteigerter, ja übersteigerter Gegensatz gegen die Helle Vernünftigkeit der Aufklärung. Sie betont einseitig die irrationalen Kräfte der Natur und des Gefühls. Sie liebt das Unbegreifliche und Ge­ heimnisvolle, das Verschleierte und Dunkle. Der Gegensatz der Romantik zur Aufklärung wird ganz besonders deutlich an der unterschiedlichen Schätzung

§ 89 f.

Goethe und das Christentum — Wesen der Romantik

375

der Musik als Kunstgattung *). Tie Aufklärung rechnet die Musik überhaupt nicht mit, Belehrung und moralische Besserung sind ja von ihr nicht zu er­ warten ; auch Kant weist ihr nur einen bescheidenen Platz an, den untersten auf der Stufenleiter der Künste. Wesentlich höher ist die Einschätzung der Musik bei den idealistischen Denkern der Klassik, Herder, Goethe und Schiller; aber sie gilt doch wesentlich der Vokalmusik als begleitender Kunst. Umgekehrt die Romantiker (Novalis, Wackenroder, Fr. Schlegel, Tieck, E. Th. A. Hoff­ mann) : Ihnen ist die Musik die höchste aller Künste, und zwar denken sie dabei vorzüglich an die „reine", die Instrumentalmusik. In ihr offenbart sich unmittelbar das unergründliche und unausschöpfliche, ewig bewegte Leben seelischer Subjektivität, seine frei schaffende, alle Vernunft unter sich lassende Wundermacht. Das große Zeitalter deutscher Musik (Bach und Händel, Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert) findet erst in den Romantikern, ihre Spätlinge Schopenhauer und Nietzsche miteingeschlossen, ihre Lobpreiset unb Herolde. Nach zwei Richtungen entwickelt sich diese romantische Bewegung. Die unendliche Sehnsucht nach dem Übervernünftigen und Übernatür­

lichen führt zur Flucht aus der Wirklichkeit in das Traumreich des Mär­ chens (die Suche nach der blauen Blume), in die versunkene Welt des Mittel­ alters, in den phantastischen Bereich der Elfen, Zwerge und Luftgeister (Wie­ lands „Oberon"). Der Hang zum Übersinnlichen, Nächtlichen, Gespenstischen

führt öfter auf das Gebiet des Okkultismus (Justinus Kerner, „Die Seherin von Prevorst", Einflüsse der Art auch bei Kleist und Mörike). Daher Goethes bündiges Urteil: „Die Klassik ist das Gesunde, die Romantik das Kranke." Diese selbe Romantik gebärdet sich zumal im Anfang als übermütiger, zucht­ loser Subjektivismus, der alle Regeln von Kunst und Moral verachtet, fick über Männer wie Kant und Schiller töricht erhebt. (Friedrich Schlegel.) Gegen diese dreiste Zuchtlosigkeit stellt Goethe in den „Wahlverwandtschaften" sein Bekenntnis zum Ernst der Ebe. Andererseits ist die Romantik auf der vonRousseau undHerder gewiesenen Bahn (auch dies im Gegensatz zur vulgären Aufklärung) Versenkung in die bodenständige Wirklichkeit, neue Berührung mit Heimat und Land­ schaft, mit Blut und Boden, neuer Sinn für Sprache und Geschichte, für alles, was nicht gedankenmäßig konstruiert, sondern natürlich gewachsen ist, fi'ir das Organische und Ganze: die Volksliedersammlung von Arnim und Brentano, die Volksliedforschung von Uh land, die Sprach- und Mythen­ forschung der Gebrüder Grimm und Aug. Wilh. Schlegels, die Germanistik und Geschichtswissenschaft. Während jene Schicht der Romantik zum Mittel­ alter zurücksührt, bildet diese den Übergang vom Idealismus des 18. zum ’•) Die folgende Ausführung über die Bewertung der Musik ist angeregt durch einen ungedruckten Vortrag von Heimsoetb.

376

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

Realismus deS 19.Jahrhunderts. Durch ihren Geist sind Männer wie Arndt und Jahn befruchtet. Religiöse Kraft und Innigkeit strömt in die ursprünglich literarische Be­ wegung vor allem durch Novalis (Friedr. v. Hardenberg, 1772—1801). Der frühe Tod seiner jungen Braut hat in ihm ein merkwürdiges religiöses Erleb­ nis geweckt. Auf ihrem Grabe überfällt den Jüngling, der seiner Geliebten nachsterben wollte, das zuversichtliche Vertrauen in die Wirklichkeit und Wirksamkeit einer übersinnlichen Welt. Seine „Hymnen an die Nacht" sind der denkbar schärfste Gegensatz zur Tagesnüchternheit der Aufklärung. Gleich­ zeitig schafft er vollendete geistliche Lieder, die auch in unser Gesangbuch über­ gegangen sind: Das Osterlied: „Ich sag es jedem, baß Er lebt", die Christus­ lieber: „Wenn alle untreu werben", „Wenn ich Ihn nur habe". Sein Christus­ glaube entwickelt sich freilich in der Richtung einer theosophischen Mystik und verbindet sich mit mittelalterlichem Marienglauben und Marienliebern. Von da aus bekommt die Romantik ihre Richtung zu einer mystisch-schwärmerisch aufgefaßten katholischen Kirche. Friedrich Schlegel, Friedrich v. Stolberg und andere Romantiker treten folgerichtig zur katholischen Kirche über. Wenn diese Kirche damals auch durch die Kräfte der Zeit innerlich aufgelockett und bereichett war, so baß ein Dichter wie der Romantiker Eichendorff ihr ohne Beengung angehören konnte, so hat der Homerübersetzer Johann Heinr. Voß die vorliegende Gefahr doch richtig erkannt, als er gegen Romantik und katholische Kirche den Kampf eröffnete und gegen den einstigen Freund vom Göttinger Hain die Streitschrift verfaßte: „Wie warb Fritz Stolberg ein Unfreier?" 2. Kant hatte mit weiser Bescheidung auf Metaphysik verzichttt, hatte den Menschen als „Bürger zweier Welten", der empirischen (sichtbaren) und der ideellen (unsichtbaren), beschrieben und den Dualismus (Gegensatz) von Ver­ stand und Sinnlichkeit, sittlicher Freiheit und kausalgesetzlicher Abhängigkeit, Gott und Welt, Gott und Mensch in redlicher Selbstbeschränkung stehen lasten. Seine Schüler und Nachfolger drängten darüber hinaus. Sie meinten, Kant berichtigen und fottbilden zu müssen, indem sie wieder eine Metaphysik auf­ bauten, und zwar aus einem die ganze unerschöpflich reiche Wirklichkeit er­ klärenden Prinzip. So verließen sie den Boden der kritischen Philosophie und wurden Schöpfer monistischer (aus einem Grundgedanken abgeleiteter) idea­ listischer Systeme. Fichte entwirft einen Idealismus beS sittlichen Willens, Schelling des künstlerischen Gefühls, Hegel der denkenden Vernunft. Sie alle sind durch den überschwenglichen Geist der Romantik mehr oder minder befruchtet. 3. Johann Gottlieb Fichte(1762—1814) ist vielleicht das überzeugendste Beispiel, baß eine echte Philosophie nicht ein willkürlich gemachtes Gedanken­ gebäude ist, ein Produkt des bloß rechnenden und konstruierenden Verstandes, sondern baß sie genau wie ein großes Kunstwerk aus dem innersten Wesen

§90

Novalis — Fichte alö Ethiker

377

des Philosophen hervorwächst, also der naturgemäße Ausdruck des eigentlichen Menschentums ist — soweit dies in Worten und Begriffen überhaupt zum Ausdruck kommen kann. DaS hat Fichte auch gewußt: „WaS für eine Philo­ sophie man wähle, hängt davon ab, waS man für ein Mensch ist." Diesen berühmten Satz erläutert er dahin, ein philosophisches System sei nicht ein toter HauSrat, sondern sei beseelt durch die Seele beS Menschen, der eS hat. Der innerste Lebenskeim der Fichteschen Philosophie ist die Idee der Freiheit. Bon ihrer Erfassung hängt sein Dasein ab. Im Laufe seiner Studienzeit gerät er in schwerste innere Bedrängnis, weil sein stolzer Drang nach un­ bedingter Freiheit hart zusammenstößt mit der ihm aus der westlichen Auf­ klärung zuströmenden Lehre von der kausalgesetzlichen Abhängigkest aller Wirklichkeit, auch des seelischen LebenS (Determinismus). AuS diesem ver­ zweifelten Kampf erlöst ihn die Kantische Philosophie, die er nun aber in der Meinung, ihren letzten und eigentlichen Sinn zu entwickeln, erheblich um­ gestaltet: DaS reine Ich, der sittliche Wille ist ihm nicht nur der eine Pol der Wirklichkeit, sondern der alleinige Urgrund alles wahrhaftigen Seins, die schöpferische Kraft, die auS dem Nicht-Jch, der Nichtwirklichkeit, erst selber die Welt erzeugt. So allein meint er, einer die Freiheit vernichtenden Abhängig­ keit zu entrinnen. Er formt deshalb mit titanischer Übcrkühnheit den Idealis­ mus eines absoluten,schöpferischen sittlichen Willens. DaS „reine Ich", von dem Fichte auSgeht und um dessen grundlegende Bedeutung eS sich handelt, ist aber nichts weniger als das empirische Ich beS alltäglichen Menschen. Dieses empirische Ich, der Mensch, wie er von HauS aus ist, gehört vielmehr zu der Welt beS Nicht-Jch, die den Stoff unserer Tätigkeit bildet, und ist nichts anderes als das „versinnlichte Material unserer Pflicht". Die sinnlichen Triebe deS empirischen Ich gehen auf Behaglichkeit, Ruhe und Genuß; der sittliche Trieb dagegen auf Arbeit, Kampf und mühevolle Gestaltung. Selbstüberwin­ dung ist deshalb die Grundlage aller Sittlichkeit. Fichtes „Freiheit" ist also daS Gegenteil aller Willkür und Zuchtlosigkeit (hat er doch auch in seinen Jenaer Profefsorenjahren harte Kämpfe mit dem zuchtlosen Treiben der verwilderten Studentenschaft geführt). Seine Freiheit ist im denkbar höchsten Sinne, ist zunächst radikal einseitig sittlich gemeint. Sie ist so sehr bestimmt vom Gedanken beS unverbrüchlichen Sittengesetzes, baß sein „reines Ich" mit diesem Sittengesetz im Grunde identisch ist. Damit rückt eS nahe heran an daS absolute Ich, an die Gottheit, deren Sinn und Aufgabe nichts anderes ist als die Verwirklichung beS Sittengesetzes. Während Fichte zu Beginn seines Philosophierens im Anschluß an Kant den überlieferten Gottesbegriff noch hatte gelten lassen, freilich in durchaus moralischem Sinne — er nennt ihn den „Exekutor beS Sittengesetzes", den „unsichtbaren Richterstuhl" — hat er in den letzten Jenaer Jahren die moralische Weltanschauung so ausschließlich betont, daß für einen beson­ deren GotteSgebanken kein Raum mehr bleibt. Jetzt bekämpft er auch mit

378

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

schroffer Rücksichtslosigkeit die eubämonistische Begründung beS GotteSgedankenS in KantS „Postulaten" (vgl. o. S. 364). Mit dieser schroff antieudämonistischen Moral meint er, im Unterschied von Kant sowohl wie von der Kirchenlehre, daS ursprüngliche Christentum wiederherzustellen. DaS alles tritt in imponierender Erhabenheit, allerdings auch in gefährlicher BindungSlosigkeit, die keine objektive Grundlage kennt, in den Schriften zum AtheiSmuSstreit zutage (Sämtl. Werke Bd. 5). „Daß der Vernunftzweck wirklich werbe, kann nur durch daS Wirken des freien Wesens erreicht werden, aber eS wird dadurch auch ganz sicher erreicht, zufolge eines höheren Gesetzes. Rechttun ist möglich, und jede Lage ist durch jenes höhere Gesetz darauf berechnet; die sittliche Tat gelingt, zufolge derselben Einrichtung, un­ fehlbar, und die unsittliche mißlingt unfehlbar (vgl. gegen diese weltfremde Schwär­ merei die wirklichkeitSoffene, nüchterne Betrachtung bei Kant, in der Kritik der Urteilskraft, o.S. 364)... Dies ist der wahre Glaube; diese moralische Ordnung ist daS Göttliche, daS wir annehmen. Er wirb konstruiert durch daS Rechttun. Dieses ist daS einzig mögliche Glaubensbekenntnis: fröhlich und unbefangen vollbringen, was jedesmal die Pflicht gebeut, ohne Zweifeln und Klügeln über die Folgen... Der wahre Atheismus, der eigentliche Unglaube und Gottlosigkeit besteht darin, baß man über die Folgen seiner Handlungen klügelt, der Stimme seines Gewissens nicht eher gehorchen will, bis man den guten Erfolg vorher zu sehen glaubt, so seinen eigenen Rat über den Rat GotteS erhebt und sich selbst zum Gotte macht... Der eben abgeleitete Glaube ist aber auch der Glaube ganz und vollständig. Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir be­ dürfen keines anderen Gottes und können keinen anderen fassen. ES liegt kein Grund in der Vernunft, auS jener moralischen Weltordnung herauSzugehen und vermittelst eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen als die Ursache desselben anzunehmen." „Jeder Glaube an ein Göttliches, der mehr enthält als diesen Begriff der moralischen Ordnung, ist insofern Erdichtung und Aberglaube, welcher unschädlich sein mag, aber doch immer eines vernünftigen Wesens unwürdig und höchst verdächtig ist." „Wer da Genuß will, ist ein sinnlicher, fleischlicher Mensch, der keine Religion hat und keiner Religion fähig ist; die erste, wahrhaft religiöse Empfindung ertötet in unS auf immer die Begierde. Wer Glückseligkeit erwartet, ist ein mit sich selbst und seiner ganzen Anlage unbekannter Tor; eS gibt keine Glückseligkeit, eS ist keine Glückseligkeit möglich; die Erwartung derselben und ein Gott, den man ihr zufolge annimmt, sind Hirngespinste. Ein Gott, der der Begier dienen soll, ist ein verächtliches Wesen; er leistet einen Dienst, der selbst jedem erttäglichen Menschen ekelt. Ein solcher Gott ist ein böseS Wesen; denn er unterstützt und verewigt daS menschliche Verderben und die Herabwürdigung der Vernunft. Ein solcher Gott ist ganz eigent­ lich der Zürst der Welt^, der schon längst durch den Mund der Wahrheit, welchem sie die Worte verdrehen, gerichtet und verurteilt ist. Ihr Dienst ist Dienst dieses Fürsten. Sie sind die wahren Atheisten, sie sind gänzlich ohne Gott und haben sich einen heillosen Götzen geschaffen. Daß ich diesen ihren Götzen nicht statt beS wahren GotteS will gelten lassen, dies ist, was sie Atheismus nennen; dies ist, dem sie Verfolgung geschworen haben."

§90

Fichtes Religion/ der Atheiomusstreit

379

So einseitig das klingt, wir bedauern doch, daß bei Fichtes Amtsenthebung wegen dieses „Atheismus" Goethe als weimarischer. Staatsminister mitge­ wirkt hat, während die Elite der Jenaer Studentenschaft ihn wie einen Propheten Gottes ehrte. Freilich war das, was er vortrug, rein formell betracbtet, Gottesleugnung. Für den persönlichen Gottesbegriff war in seinem strengen Vernunftsystem der Moral kein Raum. Das Pathos seiner Ge­ danken geht aber deutlich und mit ecbter Leidenschaft gegen die unwürdigen, im Grunde unmoralischen Gottesvorstellungen der populären Religion, auch der Entgleisung in Kants „Postulaten". Dies Pathos erinnert den Leser an die höchsten Glaubensgedanken des jungen Luther und verrät uns, welch ein lebendiger, nur noch nicht ins Bewußtsein erhobener Gottesglaube in der Tiefe seines Herzens wirkte. Er kam wenige Jahre später deutlich zum Durchbruch. Etwa seit dem Jahre 1804 (vielleicht unter dem Einfluß Spinozas, den Schelling ihm vermittelte) gründet Fichte seine geistige Existenz nicht mehr auf die Moral des Sittengesetzes, sondern auf die Erfahrung göttlichen Seins und Lebens, das sich dem Menschen offenbart und in ihm wirksam wird. Diese neue Haltung bekundet sich vor allem in seinem geschichtsphilosophischen Hauptwerk „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" und in seinen grund­ legenden religiösen Reden „Anweisung zum seligen Leben". Än dem ersteren schildert er die Gegenwart als das „Zeitalter vollendeter Sündhaftigkeit", weil rohe Selbstsucht und kurzsichtiger Nützlichkeitsfanatismus alle echte Gemein­ schaft zerstören; er verkündet daher eine Katastrophe, die zur Umkehr führen müsse. Än der „Anweisung" malt er mit erschütterndem Ernst die den Men­ schen erfüllende echte Gottesliebe als so groß, daß sie alle sinnliche Selbstliebe schlechterdings verzehrt: „Der Ausdruck der steten Gesinnung des wahrhaft Moralischen und Religiösen ist das Gebet: Herr, es geschehe nur Dein Wille, so geschieht eben dadurch der meinige; denn ich habe gar keinen andern Willen als den, daß Dein Wille geschehe." Damit überwindet er auch den aus selbst­ süchtigem Glücksverlangen geborenen Hauptglaubenssatz der Aufklärung von der natürlichen Unsterblichkeit der Seele: Die ewige Seligkeit ist nicht eine unendliche Verlängerung irdischen Daseins, sondern ist die Hingabe deo Menschen an Gott in reiner Gottesliebe und braucht deshalb nicht auf ein anderes Leben zu warten (8. Vorlesung). Damit wächst er vollends über die großartige aber auch gewaltsame und inhaltsarme Kantische Moral und Kants unzureichenden Religionsbegriff hinaus; er überbietet beide durch den Ausweis der beseligenden Gotteskraft der Religion. Die männliche Philosophie Kants übertreffe freilich weit das leere und unerquickliche freigeisterische Geschwätz der Zeit. Manches kräftige Gemüt habe sich daran aufgerichtet und gestählt, aber voll zu beftiedigen ver­ möge sie nicht. Sie verstehe nicht, Liebe zur Pflicht zu wecken und ihren Inhalt wesenhaft zu beschreiben. Erst die Religion eröffne dem Menschen die Bedeu-

380

DaS Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

tung des einen, ewigen Gesetzes. Für den Gläubigen der Religion „kommt das gebietende Soll zu spät; ehe eS gebietet, will er schon, und kann nicht anders wollen. Wie vor der Moralität alles äußere Gesetz verschwindet, so verschwin­ det vor der Religiosität selbst daS innere; der Gesetzgeber in unserer Brust schweigt; denn der Wille, die Lust, die Liebe, die Seligkeit hat daS Gesetz in sich ausgenommen." „DaS richtige Handeln findet sich bann von selber, denn die Wahrheit kann nicht anders handeln als nach der Wahrheit; aber dieses richtige Handeln ist kein Opfer mehr, noch ein Dulden und Entbehren, son­ dern eS ist selber die Ausübung und Ausströmung der höchsten inneren Selig­ keit" („Grundzüge" 16. u. 17. Vorlesung). Diese Sätze zeigen, warum Fichte jetzt die Kantische Pflichtmoral nur für eine stoische Weltanschauung hält, die der wahrhaft Religiöse tief unter sich zurücklasse. Dieser religiöse Glaube bildet auch die Grundlage für seine berühmten „Reben an die deutsche Nation", lesen wir hier doch eins der schönsten Zeugnisse für die Kraft glaubender Liebe: „Wo mutig der Schweiß des Säens erduldet wird ohne einige Aussicht auf Ernte; wo wohlgetan wirb auch den Undankbaren und gesegnet werben mit Taten und Gütern diejenigen, die da fluchen, und in der klaren Vorhersicht, baß sie aber­ mals fluchen werben; wo nach hundertfältigem Mißlingen dennoch auSgeharret wirb im Glauben und in der Liebe; da ist cs nicht die bloße Sittlichkeit, die da treibt — denn diese will einen Zweck — sondern es ist die Religion, die Ergebung in ein höheres uns unbekanntes Gesetz, bas demütige Verstummen vor Gott, die innige Liebe zu seinem in uns ausgebrochenen Leben, welches allein und um sein selbst willen gerettet werden soll, wo bas Auge nichts anderes zu retten sieht."

Auf dieser Grundlage endlich erbaut sich die starke und stolze Zuversicht der „Reden an die deutsche Nation", daß Gott ein innerlich erneuertes Deutschland nicht werde untergehen lassen, und daß eS Pflicht sei, um der Menschhest willen, die deutsche Freiheit wieder zu erkämpfen. „Immer und notwendig siegt die Begeisterung über den, der nicht begeistert ist. Nicht die Gewalt der Arme noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft deS Gemütes ist eS, welche Siege erkämpft." Am Ende der dritten Rede weis­ sagt er mit einem Gleichnis deS alten biblischen Sehers (Hes. 37) die Auf­ erstehung der toten Gebeine deS zerschlagenen Volkes. So wächst er über sein eigenes System hinaus, nähert sich der biblischen Gedankenwelt und wird zu einer der größten, treibenden Kräfte für die preu­ ßisch-deutsche Befteiung von 1813. Und doch bleibt ein deutlicher Abstand von der christlichen GotteSerkenntniS. In ben„Grunbzügen", mehr noch in der „Anweisung" tritt immer wieder eine eigentümliche Metaphysik zutage, die in der Art deS Griechen ParmenideS das „reine Sein" als den göttlichen Urgrund und das Wesen aller Dinge feiert, und die nach dem Muster neuplatonischer Mystik daS Aufgehen deS Menschen, daS Verlieren seines Selbst in dies göttliche Sein fordert.

§90

Fichte und das Christentum — Schellings Naturphilosophie

381

Mit einer merkwürdigen Verbissenheit bekämpft Fichte immer wieder den Gedanken der Schöpfung und deS Schöpfers, ebenso aber auch die Lehre von Entsündigung und Versöhnung. Beide widerstreiten seinem immer wieder durchbrechenden Glauben an die Identität von Gott und Mensch. „In dem Bewußtsein dieser unserer Identität mit der göttlichen Kraft selig zu sein, ist Sache aller Menschen." „Der Mensch kann sich mit der Gottheit nie entzweien, und inwiefern er sich mit derselben entzweit wähnt, ist er ein Nichts, das eben darum auch nicht sündigen kann, sondern um dessm Stirn sich bloß der drückende Wahn von Sünde legt." Trotz seiner Hochschätzung des JohanneS-EvangeliumS ist ihm die neutestamentliche Anschauung, baß in JesuS Christus die Fülle der Gottheit erschienen sei, nur eine historische, also vergängliche Vorstellung, nicht eine metaphysische b. h. ewige Wahrheit. So stammt letztlich von ihm (durch Hegel vermittelt) die bekannte, den biblisch­ kirchlichen Christusglauben auflösende Krflik von D. Fr. Strauß (s.u.). End­ lich ist Fichte auch der Urheber der gröblichen Verkennung des Apostels Paulus, die über Lagarde zu der Tageöliteratur der Gegenwart führt. (Durch Paulus ist „der Grund zur Auflösung des Christentums gelegt". Grunbzüge, 7. und 13. Vorlesung. „Der Apostel Paulus und seine Partei halbe Juden geblieben." Anweisung, 6. Vorlesung.) „Fichte'S Absicht ist groß und gut: er will baS Lebendige in der Religion; aber er will eS durch Mittel, die dieses Leben in Frage stellen, ja, streng genommen, töten. Denn wenn das Aprio­ rische (d. h. baS Philosophische) allein beseligt, so schafft der Mensch sich seinen Gott, wie wir eS heute wieder erleben. Und dagegen hat, im Namen der Religion, niemand nachdrücklicher protestiert als Fichte selbst" (H. Scholz). 4. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775—1854), ungewöhnlich bis gabt und frühreif, den fünf Jahre älteren Genossen des Tübinger Stifts, Hegel, im reißenden Lauf seiner Entwicklung zunächst weit zurücklassenb, selbstbewußt bis zur Selbstüberhebung, ungemein vielseitig und wandlungs­ fähig, geistreich und phantasievoll, wurde als blutjunger Professor in Jena, nach Fichtes Fortgang, der geborene Führer der anspruchsvollen romantischen Schule, wie er in der Tat auch der philosophische Repräsentant der Romantik mit ihren Licht- und Schattenseiten gewesm ist. Sein systematisches Denken schloß sich zunächst an Fichtes Idealismus an: Die Natur war ihm nur Schöpfung und Schatten des Geistes, bis ihm 1801, „in der Philosophie baS Licht aufging", indem sich ihm die Realität der Natur aufdrängte. Geist und Natur sind gleich wahr und wirklich. Die Natur ist der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur. Aller Wirklichkeit zum Grunde liegt nicht etwa das reine Ich ober die Idee (Fichte, Hegel), sondern ein Urgrund der In­ differenz, der Beides, Natur und Geist in sich trägt. Durch seine Naturphilo­ sophie erregte er Goethes Aufmerksamkeit; war er doch wie Goethe ein Feind der mathematisch-mechanischen Naturerklärung Newtons: „Die Er­

fahrung ist wohl gut, wenn sie echte Erfahrung ist; aber ob sie daS ist und

382

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

inwiefern und was denn in der Erfahrung das eigentlich Erfahrene sei, ist die große Frage. So ist z. B. die Newtonsche Optik angeblich ganz auf Er­ fahrungen gegründet und nichts destoweniger in ihrer Grundansicht sowie in allen ihren weiteren Folgerungen als falsch erkennbar, sobald man zu­ vörderst die Idee des Lichtes hat." Der Vorzug seiner Naturbetrachtung, das was Goethe anzog, war ihr Grundgedanke, die gesamte Natur als einen großen lebendigen Organismus zu begreifen. Aber schon jene eben an­ geführte Äußerung beweist auch die Gefahr seiner Denkweise. Ihm fehlt die

Methode der sorgfältigen Beobachtung der Natur, des unermüdlichen Sam­ melns und Sichtens von Erfahrungen. Er möchte mit einer geistreichen In­ tuition („Idee") die geduldige Forschung überspringen. So kommt er zu einer phantasievollen Spekulation, die gar zu schnell bereit ist, etwaige Lücken der Naturerkenntnis mit voreiligen Hypothesen auszufüllen. Ihm fehlt die ruhevolle Besonnenheit Goethes und Kants, seiner beiden großen Vorgänger. Fichte hat ihn deshalb (in den „Grunbzügen" Rede 8, des. S. 124) als Typus des Schwärmers hingestellt, der die Erfahrung da verachtet, wo allein Erfahrung und Experiment zu sicherer Erkenntnis führt. Als die Höhe und Summe der Philosophie erscheint ihm in dieser seiner ersten Epoche die Philosophie der Kunst: „Die wahre Objektivität der Philo­ sophie in ihrer Totalität ist nur die Kunst." „In der obersten Wissenschaft ist alles eins und ursprünglich verknüpft, Natur und Gott, Wissenschaft und Kunst, Religion und Poesie" — eine echt romantische Formel. Da Schelling für die Kunst in der Tat ein ungewöhnlich tiefes und feines Gefühl besaß, so hat er seine Zeitgenossen durch die begeisterte Schilderung des Wesens und der Bedeutung der Kunst (seine Münchener Festrede vom 12.10.1807 über „die bildenden Künste und die Natur") in einen Rausch des Entzückens versetzt, von dem unsere nüchterner gewordene Gegenwart sich keine Vorstel­ lung mehr machen kann. In seinen Vorlesungen „über die Methode des akademischen Studiums" (im Druck erschienen 1803) hat er den vulgären Rationalismus unbarm­ herzig bekämpft und verächtlich gemacht. Er sei „nicht geistreich, aber un­ gläubig, nicht fromm, und doch auch nicht witzig und ftivol, ähnlich den Unseligen, wie sie Dante im Vorgrund der Hölle existieren läßt, die weder rebellisch gegen Gott noch treu waren." Er beklagt, daß die Rationalisten mit Hilfe einer sogenannten gesunden Exegese, einer aufklärenden Psychologie und schlaffen Moral alles Spekulative auS dem Christentum entfernt haben. Es geht ihm also keineswegs um ein biblisches Christentum, im Gegenteil, über die Bibel äußert er sich höchst abschätzig: „Die ersten Bücher der Geschichte und Lehre des Christentums sind selbst nichts als eine besondere, noch dazu unvollkommene Erscheinung desselben." Und: „Die christlichen Religions­ lehrer müßten es den späteren Zeiten Dank wissen, daß sie aus dem dürftigen Inhalt der ersten Religionsbücher so viel spekulativen Stoff gezogen und

§90

Schellings theologische Spekulationen, Altersphilosophie

383

diesen zu einem System ausgebildet haben." Auch die Symbole und die Dogmen betrachtet er nur als Rohstoff für die spekulative Konstruktion einer Jdentitätsphilosophie. „Don der Idee der Dreieinigkeit ist es klar, daß sie, nicht spekulativ aufgefaßt, überhaupt ohne Sinn ist. Die Menschwerdung Gottes in Christo deuten die Theologen ebenso empirisch, nämlich daß Gott in einem bestimmten Moment der Zeit menschliche Natur angenommen habe, wobei schlechterdings nichts zu denken sein kann, da Gott ewig außer aller Zeit ist. Die Menschwerdung Gottes ist also eine Menschwerdung von Ewig­ keit." Diese zum Pantheismus neigende Jdeenkonstruktion hat in ihrer spä­ teren Auswirkung die mythische Bibelbetrachtung von D. Fr. Strauß vor­ bereiter; zunächst freilich hat sie die spekulative Theologie seiner Tage angeregt und befruchtet (Daub und Mcrrheineke). Durch die Vermittlung des Theologen Lehmus und seines Schwiegersohns Thomasius erstreckt sich dieser Einfluß auch auf die Erlanger Schule. Schelling hat also durch seine philosophische Auslegung der altkirchlichen Dogmen den Theologen die gefährliche Neigung zu theologisch-abstrakter Spekulation Übermacht. Einen neuen Anlauf macht Schelling in den Schriften, die nach dem Tode seiner heißgeliebten Gattin Karoline entstanden sind („Menschliche Freiheit", „Die Weltalter"). Sein ftoher Jugendoptimismus war gebrochen. Er stand jetzt den starken Anregungen offen, die ihm durch den schwäbischen, pietisti­ schen Theosophen Oetinger von Jakob Böhme her übermittelt wurden. Die Böhme-Oetingersche Idee der Leiblichkeit als des Endes der Wege Gottes fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden. Sie verstärkte seinen Haß gegen den Rationalismus und seine Abwendung von allem wirklichkeitsftemden Idealismus. „Gott ist etwas Realeres als eine bloße moralische Welt­ ordnung und hat ganz andere und lebendigere Bewegungskräfte in sich als ihm die dürftige Subtilität abstrakter Idealisten zuschreibt." Bedeutsam ist auch seine Erkenntnis, daß das Böse nicht schon einfach aus dem Leib kommt. „Er ist vielmehr eine Blume, woraus der eine Honig, der andere Gift saugt." Das Böse ist geistigen Ursprungs. Es liegt im Willen, der die ursprünglich unschuldige Leiblichkeit mißbraucht. Das Irrationale der Wirklichkeit, ihre dämonisch-abgründige Bosheit hat er jetzt erschütternd zu schildern vermocht. „Bedenken wir das viele Schreckliche an Natur und Geisterwelt und das weit Mehrere, das eine wohlwollende Hand uns zuzudecken scheint, dann können wir nicht zweifeln, daß die Gottheit über einer Welt von Schrekken throne und Gott nach dem, was in ihm und durch ihn verborgen ist, im eigentlichen Sinne der Schreckliche, der Fürchterliche heißen könne." Von hier aus schien der Weg ftei zu der Macht und Tiefe des Religionsverständnisses Martin Luthers. Schelling ist diesen Weg doch nicht gegangen. Seine Altersphilosophie, die Philosophie „der Mythologie und Offenbarung" (Mythologie = Heidentum, Offenbarung = Christentum), von ihm als „posi­ tive" Philosophie seiner ftüheren „negativen" gegenübergestellt, steht, äußer-

384

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

lich betrachtet, dem Christentum sehr nahe, sofern sie Christus in den Mittel­ punkt rückt, von dem Sünbenfall ausgeht und mit dem Ausblick auf das Zeitalter des Heiligen Geistes endet. Sie gründet sich aber auf die für uns ungenießbare, philosophisch-theologische Algebra seiner Potenzenlehre, ist durchsetzt mit einer dunklen, verworrenen Theosophie und deshalb kein be­ freiendes Zeugnis deS Evangeliums. Er dachte nicht an Luthers Warnung, Gott nur in Christus zu erkennen und nicht nach seinem unergründlichen Urwesen, sondern nur nach seinem Heilandswillen und Wirken zu fragen. So ist Schellings geistiger Reichtum ziemlich fruchtlos verpufft, eine blei­ bende Warnung vor dem Irrweg geistreich glänzender Spekulation. 5. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770—1831) ist nach Temperament und seelischer Struktur gründlichst verschieden von seinem Landsmann und StiftSkameraben Schelling. Er hat sich Zeft gelassen und deshalb schließlich den jüngeren Vorläufer überholt und ausgestochen, indem er ein geistiges Werk errichtete, daS zwar weniger glänzte und schillerte, aber mehr geistige Ein­ heit und Substanz besaß und deshalb eine unvergleichlich größere und dauer­ haftere Wirkung auSgeübt hat. Von der Theologie war er bald zur Geschichte übergcgangen, Geschichte im weitesten Sinne deS Wortes, wenn auch die Antcke ihn zuerst angezogen und ständig feftgehalten hat. Langsam und gründlich durchforschte er mit unermüdlichem Fleiß und mit unerschrockenem Ernst die unendliche Fülle der geschichtlichen Wirklichkeit. Freilich erstrebte er überall statt verschwommener Gefühle und Stimmungen den klaren, vernünftig erfaßten Begriff, aber gesättigt mit konkreter Anschauung. „Wo wären je bei einem Philosophen die unendlichen Formen geschichtlichen, religiösen, philo­ sophischen, künstlerischen, rechtlichen, staatlichen, ja auch wirtschaftlichen und technischen Geschehens in diesem Maße, in ihrer ganzen konkreten Vielgestalt, so zu Worte gekommen wie in Hegels großen Werken!" (Th. Haering). Während Schelling sich wesentlich auf KantS „Kritik der Urteilskraft" stützt, um von dort seine Anregungen für die Betrachtung der organischen Natur und der künstlerischen Produftivität deS Genies zu empfangen, knüpft Hegel mehr an die „Krftik der reinen Vernunft" und vorzüglich an die „Kritik der praftischen Vernunft" an, auch an die ethischen Gedankengänge von Fichte, Rousseau und Herder; denn nicht Natur- sondern Geistesphilosophie ist sein eigentliches Anliegen. DaS Absolute, daS er zum Grunde legt, ist deshalb bei ihm nicht eine unbestimmte und indifferente Größe, in der alle Unter­ schiede verschwinden; spottet er doch über Schelling, der „sein Absolutes für die Nacht ausgebe, in der, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind". Hegels Absolutes ist Vernunft mit der Kraft innerer lebendiger Bewegung. An Stelle einer ruhenden „Identität" behauptet er die spannungSreiche Ein­ heit der Gegensätze (die Coincidentia oppositorum deS CusanuS, oben S. 182) als daS Grundprinzip der Wirklichkeit. Er teilt feine Philosophie in drei große Gebiete: 1. Logik, 2. Naturphilo-

§90

Hegel: Logik, Philosophie beS Geistes

385

sophie, 3. Philosophie deS Geistes. Seine Logik ist aber mehr als die for­ male Denkkunst deS Aristoteles, auch mehr als die transzendentale Logik (Erkenntnistheorie) KantS. Logik ist für ihn Lehre vom Logos, vom Geist, und da der Logos für ihn das eigentlich Wirkliche ist — die Wirklichkeit ist nichts „Handgreifliches", sondern etwas Gedankliches: „nur in seinem Begriff hat etwas Wirklichkeit" — so ist die Logik Lehre von der Geistsubstanz, die aller Wirklichkeit zu Grunde liegt; sie ist also daS, was wir Ontologie nennen würben, ist ausgesprochen Metaphysik.

AuS dem Vernunftprinzip leitet er die Wirklichkeit durch seine berühmte Methode der Dialektik ab. In jedem Denkakt wird ein bestimmter Zustand vorausgesetzt: die Thesis. In ihr wird aber zugleich sein Gegenteil mitgesetzt: die AntithesiS. AuS diesen beiden ergibt sich die höhere Einheit der Synthese, in der die beiden entgegengesetzten Zustände „aufgehoben", d. h. überwunden und ausbewahrt sind, so daß eine lebendige Spannung entsteht, die wieder den Anstoß zu weiterer dialektischer Entwicklung enthält.

Die Natur ist die Idee in der Form ihres Andersseins, also die Antithese zu der in der „Logik" behandelten Idee. Erst im Geist kehrt die Idee (als in der Synthese) zu sich selbst zurück; und in der Philosophie deS Geistes befindet sich Hegel auf seinem eigentlichen Arbeitsgebiet. DaS gilt freilich noch weniger von dem ersten Teil dieses wieder dreifach gegliederten Gebietes, von seiner Lehre nämlich vom „subjektiven Geiste" (d. h. von der Psychologie im weiteren Sinne deS Wortes); eS gilt vorzüglich von den beiden letzten Gliedern, der Lehre vom „objektiven" und vom „absoluten Geist". Sie bilden die eigentliche Substanz der Hegelschen Philosophie. Hier finden wir keine Füllsel, die der Vollständigkeit deS Schemas zuliebe ausgeführt sind, hier spricht der Denker mit seinem innersten Pathos sich selber auS. Der „objektive Geist" offenbart sich im Recht, in der Moralität und in der „Sittlichkeit". Der Sinn des Rechtes ist die Herstellung der echten Freiheit durch Einschränkung der Willkür und damit die Ermöglichung der LcdcnSgemeinschaft unter den zur Freiheit bestimmten Personen. Die „Mo­ ralität" vertieft daS Recht, indem sie nicht nur die Handlungen, sondern auch ihre Beweggründe beurteilt. Hegel wiederholt hier im wesentlichen KantS Unterscheidung von „Legalität" und „Moralität". Er geht auch mit Kant überein, wenn er fordert, daß die Pflicht um der Pflicht willen verwirklicht werde. Aber ähnlich wie Schiller erhebt er Einspruch gegen KantS Lehre von dem ständigen Konflikt zwischen dem moralischen Sollen und dem natürlichen Triebwillen (zwischen Pflicht und Neigung). Den Gedanken der Autonomie will er nicht gelten lassen, wenn er besagen soll, daß daS Gewiffen deS Einzelnen über Gut und Böse zu entscheiden habe. Deshalb er­ gänzt er die „Moralität" (die Jndividualethik) durch die starke Betonung der „Sittlichkeit", d. h. der sittlichen Gemeinschaften, die den Einzelnen 25

Schuster, Ktrchengeschichte

386

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

tragen und binden. Hier hat er den aus der Aufklärung stammenden Indi­ vidualismus KantS auf das wertvollste ergänzt und überhöht. Diese „Sittlichkeit" alö bindende Kraft der Gemeinschaft verkörpert sich in der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat. Und diesen hat Hegel, erfüllt von einer verklärten Borstellung des antiken Staates, als daS höchste Organ der Sittlichkeit mit überschwenglichen Wendungen ge­ feiert : Das Leben im Staat ist ihm die absolute Sittlichkeit. Der Staat ist ihm gewissermaßen die Verkörperung der Gottheit auf Erden. Er darf un­ bedingte Autorität beanspruchen. Als höchste Form der Staatsverfassung erscheint ihm die erbliche konstitutionelle Monarchie, deren Bild er in den Grundlinien von dem preußischen Staat seiner Jahre abzeichnet. Der End­ zweck des Staates aber soll die Verwirklichung der Freiheit sein. „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit": Die orientali­ schen Despotien kennen nur Einen „Freien", den Despoten; die Griechen und Römer einige Freie, die Oberschicht der Voübürger. „Erst die germanischen Nationen sind im Christentum zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch frei, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; dieses Bewußtsein ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber dieses Prinzip auch in das weltliche Wesen einzubilden, daS war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere, lange Arbeit der Bildung erfordert." Die Philosophie der Geschichte ist Hegels Glanzstück. Er geht von der Voraussetzung auS, daß Vernunft in der Welt herrsche: „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, baß die Vernunft die Welt beherrsche, baß eS also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei." Daß diesem Glauben an die Ver­ nunft unendlich Vieles widerspricht, ist dem gründlichen Kenner der Geschichte wohl bekannt. Er weiß, „baß nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist. Es sind zwei Momente, die in unserm Gegenstand eintreten; das eine ist die Idee, daS andere sind die menschlichen Leiden­ schaften ; das eine ist der Zettel, daS andere der Einschlag des großen Teppichs der vor uns ausgebreiteten Weltgeschichte." Er weiß auch, daß die Geschichte beinah wie „eine Schlachtbank zu betrachten ist, auf der daS Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer ge­ bracht wird." „Die Weltgeschichte ist ja nicht der Boden deS Glücks." Trotz­ dem wagt er zu sagen, es sei „die List der Vernunft, daß sie die Leidenschaften der Menschen für sich wirken läßt". Auch sind die großen Menschen der Ge­ schichte, ihre Heroen, ohne eS zu wissen, Werkzeuge der Vemunft, da „ihre eigenen partikularen Zwecke bas Substantielle enthalten, welches Wille deS Weltgeistes ist". (So erschien ihm 1806 in Jena Napoleon auf dem Ritt zur Schlacht von Jena als die Verkörperung deS Weltgeistes.) Der „absolute Geist" findet seine Verkörperung in der Kunst, sofern

§90

Hegel: GeschtchtSphilosophie, Verhältnis zum Christentum

387

sie die Idee in der Anschauung barstellt. Er findet sie in der Religion unter der Form der Vorstellung. Er findet sie in der Philosophie in der Form des Begriffs. Die Philosophie ist ihm also die höchste Verkörperung beS Absoluten, noch über der Religion. In seiner Beschreibung der Religion bekämpft er Schleiermachers Definition von dem „Gefühl der unbedingten Abhängig­ keit". Auf daS Gefühl, sagt er nicht ohne Grund, läßt sich keine Gemeinsam­ keit deS Bewußtseins bauen. Die unbedingte Abhängigkeit aber scheint ihm deS Menschen unwürdig zu sein. Religion ist ihm Hingabe des Menschen an Gott. Sie verwirklicht sich praktisch in der Hingabe an die sittlichen Gemein­ schaften, vor allem an den Staat. Deshalb sein Bekenntnis: „Hier muß nun schlechthin ausgesprochen werben, baß mit der katholischen Religion keine vernünftige Verfassung möglich ist" (weil er sie als einen Staat im Staat betrachtete). Aus einem ehrenfesten, frommen lutherischen Elternhaus hervorgegangen, hat Hegel sich immer als lutherischen Christen gefühlt. Er hat auch die Grunblehren lutherischen Christentums über Gott und Welt, Sünde und Versöhnung in sein System eingebaut; doch wie an der TrinitätSlehre be­ sonders anschaulich wirb, nicht ohne spekulative Umdeutung, die oft von dem ursprünglichen Sinn wenig übrig läßt. Wenn man auch sein System nicht ein­ fach als Pantheismus bezeichnen darf, so droht doch ständig die Gefahr, baß die „Idee" den biblischen Gottesgedanken verschlingt, daß der lebendige Gott, der Schöpfer, Richter und Erlöser der Welt, in der geschichtlichen Ent­ wicklung des Weltgeistes untergeht. Während Kant den Unterschied von Glau­ ben und Wissen philosophisch begründet und damit Raum schafft für daS Geheimnis echten Glaubens (ohne freilich imstande zu fein, diesen Raum des Glaubens mit wesentlichem Gehalt zu füllen!), will Hegel den Glauben zum Wissen d. h. zum begreifenden Erkennen erheben. Der religiöse Glaube erscheint dann nur als unvollkommene Erfassung des Absoluten, als eine Vorstufe, die durch die Philosophie erhöht und überwunden wird. Sein philosophisches Denken ist getragen von einer merkwürdigen Zuver­ sicht zum Vermögen d?r Vernunft, die Wirklichkeit der Welt, deren Kern vernünftig ist, fach- und sinngemäß zu erfassen. Seine berühmte Formel „alles Vernünftige ist wirklich, und alles Wirkliche ist vernünftig", ist freilich keines­ wegs im Sinne der kurzsichtigen Nützlichkeitsvernunft der Aufklärung ge­ meint, will aber doch die volle Übereinstimmung von Vernunft und Wirklich­ keit behaupten; stellt er doch in der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes" das kühne Programm auf: „ Daran mitzuwirken, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme — dem Ziel, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein — ist es, was ich mir vorgesetzt." Sie vergißt damit die demütige Selbstbescheibung Goethes: „Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge" (s. o. S. 371), geschweige Luthers warnende Predigt von

388

Daü Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

dem Deus absconditus. Deshalb mußte sich an ihm die Wahrheit feiner eigenen dialektischen Formel vollziehen, daß sein rationaler Optimismus ab­ gelöst wurde durch den schneidenden Gegensatz beS vom späteren Schlegel schon vorbereiteten irrationalen Pessimismus Schopenhauers (f. u. S. 427 f.). 6. Der deutsche Idealismus lebt von der Überzeugung, daß das Wesen der Wirklichkeit Geist ist — Geist im umfassenden Sinne, nicht bloß rechnender Verstand: „ES ist der Geist, der sich den Körper baut." Diesen Geist betrachtet er im Grunde als die letzte und einzige Wirklichkeit. Die Polarität, die Span­ nung zwischen Geist und Körper, zwischen Leib und Seele, die von dem christ­ lichen SchöpfungS- und Erlösungsglauben vorausgesetzt wirb (von der auch Goethe wußte), droht darüber verloren zu gehen. Die Denker beS Idealismus verlieren den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen, uneingebenk der Warnung Goethes in den „Grenzen der Menschheit":

Hebt er sich aufwärts und berührt mit dem Scheitel die Sterne, nirgends haften dann die unsicheren Sohlen, und mit ihm spielen Wolken und Winde. Zu der Wirklichkeit, die nicht voll ernst genommen wurde, gehört nicht nur die Bindung des Geistes an den Stoff, sondern auch die sündige Ver­ derbnis alles Menschentums. Dieser Idealismus weiß wohl von der Fehlsamkeit des Menschen und der Notwendigkeit einer Neugeburt; aber ihm fehlt Luthers Erkenntnis der unheimlichen Tiefe des Verderbens, das dem irdischen Menschen bis ans Grab anhaftet („Gerecht und Sünder zugleich"); ihm fehlt deshalb auch Luthers Glaube an die feligmachenbe Kraft Gottes, die tägliche Vergebung der Sünden. So glich diese Philosophie einem über­ mütigen JkaruSflug, und der stolzen Höhe sollte ein jäher, vernichtender Sturz folgen. ES rächte sich auch, baß man im Unterschied zu Kant und Goethe sich nicht ernsthaft mit der Naturwissenschaft beschäftigt hatte, sondern höchstens mit geistreicher Naturphilosophie; so trafen die neuen Methoden und Ergebnisse der exakten Naturwissenschaft auf ungerüstete und über­ raschte Träumer. „Die apriorische Deduktion der allgemeinen Inhalte der Erfahrungswelt auS dem Begriff ist der verhängnisvollste Schritt, den der deutsche Idealismus über Kant hinaus getan hat. Diese phantastischen Konstruktionen haben eS vor allem verschuldet, baß diese mächtige Philosophie nach einem kurzen Blütensommer so schnell dem Gegenstoß eines minderwertigen Positivismus erlag, und daß ihre großen, bleibenden Schöpfungen auf dem Gebiete des Ethischen und des Religiösen so schnell vergessen werden konnten" (H. Scholz).

§ 91. Schleiermacher. 1. Friedrich Daniel Schleiermacher (1768—1834), geboren als der Sohn eines reformierten Feldpredigers Friedrichs beS Großen, wurde in Anstalten

§ 90f.

Würdigung des Idealismus — Schleiermachers Lebensgang

389

der Brübergemeine (zu Niesky und Barby) erzogen und sollte für den Dienst an der Brüdergemeine vorbereitet werden. Dort wurde sein empfäng­ liches Gemüt tief angeregt und für die Dauer befruchtet, so daß er sich später gern als einen „Herrnhuter höherer Ordnung" bezeichnet hat; doch ging der Sinn des hochbegabten Jünglings auf selbständige Entwicklung, auf freie und ehrliche Auseinandersetzung mit dem geistigen Gesamtleben der Zeit. Weil dafür in der damaligen Erziehung der Brüdergemeine kein Raum war, so erlangte er von seinem Bater mit einem denkwürdigen Briefe, in dem kindliche Pietät und sittlicher Freimut sich verbanden, die nicht gern gegebene Erlaubnis, aus der Brüdergemeine auSzufcheiden und an der Universität Halle fein Studium zu beenden. Hier hat er die Aufklärungstheologie der Zeit, aber auch die Philosophie KantS und beS Altertums (Plato) gründlich kennen gelernt. Seinen LebenSkreiS erweiterte der Aufenthalt als Hauslehrer beim Grafen Dohna-Schlobitten. Ein Stück preußischer Gesinnung wird er dort eingesogen haben. Als Hilfsprediger an der Charite in Berlin trat er in enge Berührung mit der jungen romantischen Schule. Im Umgang mit übermütiger und geist­ reicher Jugend, Männern und Frauen, bewahrte er, bei aller Aufgeschlossen­ heit für die gebotenen Anrcgungungen, stets die sittliche Würde seiner Person und seines Amtes. Das Ergebnis dieser reichen Jahre sind seine berühmten „Reben über die Religion an die Gebildeten unter ihren Ver­ ächtern" (1799). Da er seine romantischen Freunde im Auge hat, redet er zu ihnen in ihrer Sprache über Wesen und Wahrheit von Religion, Christentum und Kirche. Diese Reden, geprägt von idealistischer und romantischer Auf­ fassung der Sache, stehen im Gegensatz zum Geist der Aufklärung. Sie sind der erste große Anlauf zur theologischen Überwindung dieses Geistes und haben auf empfängliche Gemüter einen starken Eindruck gemacht. Der junge fchleSwiger Theologe Klaus HarmS, später der kernige Vertreter eines selbst­ bewußten, strengen Luthertums, empfing von SchleiermacherS Reben den „Anstoß zu einer ewigen Bewegung". In jener Zeit nüchterner Verständig­ keit, wie unklaren, unsicheren Suchens, wirkten die „Reden" also als ein zielsicheres, ausgesprochen christliches Zeugnis. Die Katastrophe von Jena traf ihn als Professor und Prediger an der Universität zu Halle. Dee äußerlich unscheinbare und körperlich zarte junge Mann war aber von hohem Mut erfüllt und predigte unerschrocken von der Pflicht gegen Vaterland und König: „Schleiermacher predigt ziemlich häufig. Man wundert sich über seine Kühnheit, mit den eindringlichsten Worten seine Zuhörer an ihr Vaterland und ihren König zu erinnern." Am NeujahrStag 1807 hielt er (im Anschluß an Mt. 10, 28) eine machtvolle Pre­ digt über baS Thema: „WaS wir fürchten und waS wir nicht fürchten sollen", um seiner Gemeinde einzuprägen, baß die echte Gottesfurcht von aller Menschenfurcht frei mache. (Diese Predigt, deren Erinnerung den Frei-

390

DaS Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

Herrn vom Stein tröstete, als er, von Napoleon geächtet, aus Preußen flüch­ tete, findet ihr Echo in Bismarcks berühmtem Zeugnis: „Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts in der Welt.") Er hat Halle verlassen, als eS zum Königreich Westfalen geschlagen wurde, weil er nicht genötigt sein wollte, für König JerSme und die französische Sache zu beten. Er ging ohne Amt und Auskommen nach Berlin und suchte für die Befreiung Preußens zu wirken. Denn er war nicht der Meinung, baß Napoleons Sieg nach Gottes Willen Preußen-Deutschlands Untergang bedeuten solle, sondern vielmehr eine erschütternde Aufforderung zur Buße und zu redlicher Erneuerung sei, um Freiheit und Ehre wieder zu erobern. Er wurde später Prediger an der Dreifaltigkeitskirche in Berlin, hat mit Fichte und Wilhelm von Humboldt die Begründung der Universität Berlin bettieben und ist dann ihr gefeiertster theologischer Lehrer geworben. Die Freiheitskriege hätte er am liebsten als schlichter Soldat mitgemacht. Er segnete die Waffen der ausziehenden Männer. Als bedeutsamstes Werk seiner theologischen Arbeit erschien später die „Glaubenslehre", die erste wissen­ schaftliche Darstellung der christlichen Lehre in deutscher Sprache. Der Titel ist absichtlich bescheiden gewählt; denn nicht eine Lehre von Gott und seiner unergründlichen Majestät will et geben, sondern vom Glauben, der auf Grund des SchristzeugnisseS und eigener Erfahrung nach menschlichem Ver­ mögen Gott begreift. In seine auSgebreitete schriftstellerische Tätigkeit, die fast alle Gebiete der Theologie und Philosophie umfaßt, gehört auch die erste vollständige deutsche Platoübersetzung, ein Beweis für die idealistische Grundlage seines Denkens. 2. DaS Wesen der Religion beschreibt Schleiermacher in seinen „Reden" im Gegensatz zum Mißverständnis der Aufklärung (wie auch der Orthodoxie). Er will eS seinen Hörern nicht verdenken, wenn sie die „übel zusammengenäh­ ten Bruchstücke von Metaphysik und Moral, die man vernünftiges Christen­ tum nennt" als „ungereimt und vernunftwidrig" verspotten. Die wirkliche Religion ist etwas ganz anderes: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl... Sinn und Geschmack für baS Unend­ liche". Die Religion ist also nicht in erster Linie eine Lehre, nicht Weltanschau­ ung oder Philosophie; auch die kirchlichen Dogmen sind nicht ursprüngliche Religion, sondern nachträgliche Reflexion über die Religion. Ebensowenig darf die Religion mit der Moral verwechselt werden, wie eS in der Auf­ klärung üblich war. Die Religion darf also nicht deshalb empfohlen werben, weil sie die Moral befördere oder die Rechtsordnung stütze. Moral und Recht müssen auf eigenen Füßen stehen. 2lber auch die Religion ist eine Größe für sich selber; sie hat eine „eigene Provinz im Gemüte", in der Tiefe beS menschlichen Gefühls, in dem Untergrund alles geistigen Lebens. — Ihr Wesen ganz zutteffenb zu beschreiben, ist Schleiermacher in den „Reden" nicht gelungen. Sie wird als ein mystisches Erlebnis beschrieben und steht

§91

Schleiermacher: Auffassung vom Wesen der Religion

391

in gar zu naher Verwandtschaft mit ästhetischen Empfindungen. Schleier­ macher hat später sich selber berichtigt. In der „Glaubenslehre" beschreibt er Religion als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit". Damit ist gemeint die unbedingte Abhängigkeit von Gott. Denn eine solche unbedingte Abhängigkeit erleben wir niemals gegenüber einem Teilereignis des Welt­ geschehens, weil wir hierauf auch unsererseits irgendwie einzuwirken ver­ mögen. Unbedingte Abhängigkeit erleben wir nur gegenüber Gott, dem Schöpfer des Weltganzen. Diese Abhängigkeit von Gott aber macht unS von der Welt frei. Religion führt uns zu inniger Ehrfurcht und ungekünstelter Demut, aber auch zur Duldsamkeit gegenüber den Menschen; denn wir sind unS bewußt, baß wir von dem unerschöpflichen Reichtum deS göttlichen Wesens mit unserem beschränkten Sinn nur ein bescheidenes Teil aufnehmen können. Andererseits aber steht der wahrhaft fromme Mensch fest auf seiner eigenen Überzeugung: „Glauben, waS man gemeinhin so nennt, annehmen, waS ein anderer getan hat, nachdenken und nachfühlen wollen, waS ein anderer gedacht und gefühlt hat, ist ein harter und unwürdiger Dienst." Die Religion „ist kein Sklavenbienst und keine Gefangenschaft; auch hier sollt ihr euch selbst angehören, ja bieS ist sogar die einzige Bedingung, unter welcher Ihr ihrer teilhaftig werden könnt". Freilich bedarf jeder Mensch, wenige AuSerwählte ausgenommen, eines Mittlers und Anführers, der seinen Sinn für Religion weckt und ihm die Richtung gibt; aber bann soll er mit eigenen Augen sehen und aus eigenem Glauben stehen. Die heilige Schrift einer Reli­ gion nennt er „ein herrliches Erzeugnis, ein redendes Denkmal aus der heroischen Zeit der Religion; aber durch knechtische Verehrung wirb sie ein Mausoleum (also ein Grabmal) der Religion." Die Unsterblichkeit, von der Aufklärung und vielen Idealisten für daS letzte Ziel der Religion erklärt, will er besser und tiefer verstehen. Die gewöhn­ liche Art, von ihr zu reden, ist dem Geist echter Religion entgegen; denn über ihr steht geschrieben: „Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird eS erhalten; wer eS aber erhalten will, der wird eS verlieren." Der Tod ist die große Gelegenheit, von den engen Grenzen deS Menschlichen loSzukommen und sich dem Unendlichen hinzugeben. Die meisten aber „sträuben sich gegen daS Unendliche, sie wollen nicht (aus ihrer Endlichkeit) hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst und sind ängstlich besorgt um ihre Individuali­ tät." Diesen Knechten enger Selbstsucht sagt er: „Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die Ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit einS werben mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, daS ist die Unsterblichkeit der Religion." Damit ist richtig erkannt, baß ewiges Leben etwas anderes ist als unendlich verlängertes irdisches Dasein; aber wie der Mensch ewiges Leben gewinnt, vermag der Redner noch nicht zu sagen.

392

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

Schroff bekämpft er die Vorstellung der Aufklärung von einer sogenannten „natürlichen Religion". Er weist überzeugend nach, daß dies nur eine unhaltbare, willkürliche Gedankenkonstruktion ist. In der Wirklichkeit gibt es nur die einzelnen positiven geschichtlichen Religionen, unter denen die christliche die vollkommenste ist, weil ihr Mittler, Jesus Christus, der voll­ kommenste ist. Er bekämpft endlich den Individualismus seiner Zeit. Religion ist auf Gemeinschaft angelegt. Sie muß notwendigerweise „gesellig" sein. Mit leuch­ tenden Farben malt er baS Bild der „Stabt Gottes", in der alle gleichberech­ tigte Bürger sind, ohne den Gegensatz zwischen Priestern und Laien. Die Unvollkommenheit der vorhandenen Kirchen gesteht er freimütig zu, warnt aber davor, diese zu unterschätzen oder mutwillig zu zerstören. Mit großem Ernst fordert er ihre Unabhängigkeit vom Staate; denn so oft ein Fürst eine Kirche mit Gunst und Vorrechten bedacht habe, sei baS Verderben dieser Kirche beschlossen gewesen. — Sieht eS in dm „Reden" so auS, als wolle Schleiermacher lauter kleine Freikirchm, so hat er später umgelemt und sich für eine große, daS ganze evangelische Volk umfaffmbe Kirche eingesetzt. Er will also die Volkskirche, aber auch jetzt nicht als Staatskirche; gegen gefährliche Erscheinungen der Staatskirche ist er stets mannhaft aufgetreten. 3. DaS Wesen deS Christentums sollte in dm Redm nur angedeutrt werden. In seinen Predigten und seiner ganzen kirchlichen Tätigkeit hat eS lebmdige Gestalt gewonnen, und in der „GlaubmSlehre" hat er versucht, eS wifsmschaftlich zu beschreiben. Jetzt unterscheidet er eS deutlich von ästheti­ scher Frömmigkeit (die im künstlerischen Gefühl aufgeht) und bringt eS mit echter Sittlichkeit in innere Verbindung. Er beschreibt baS Christmtum als „eine monotheistische Glaubensweise teleologischer (b. h. sittlicher) Art, in der alles auf die von Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung bezogen wird". Diese Erlösung ist Erlösung von der Sünde. Die Sünde aber wird deutlich und richtig beschriebm als Trennung von Gott, als Gott­ losigkeit, also nicht in erster Linie als moralische Schwäche. Die göttliche Dollkommmheit des Erlösers besteht darin, baß in ihm die Verbindung mit Gott stets in vollem Bewußtsein und in ungebrochmer Kraft lebendig war; die Erlösung aber darin, baß der Erlöser die Gläubigm in die Kraft und Reinheit seines GotteSbewußtseinS aufnimmt. Damit will Schleiermacher daS Wesmtliche der altm kirchlichen Christuslehre, befreit von vergänglichm dogmatischm Formen, dm Mmschm seiner Zeit gesagt haben. Für die Union der Lutheraner mit den Reformiertm hat er sich auS Über­ zeugung eingesetzt, weil er die altm Lehmnterschiebe für überholt und un­ wesentlich hielt. Eine Union dagegen mit der katholischen Kirche, gar noch eine auS weltlich polüischm Gründm, wie man sie damals von der Kirchen­ politik Napoleons erwartete, hat er mit aller Entschiebmheit abgelehnt und dm Unterschieb der protestantischen Kirche von der katholischen dahin form»-

$ 91

Schleiermacherr Wesen des Christentums, Harmonie und Synthese

393

Kett, baß der Katholizismus das Verhältnis des Einzelnen zu Christus abhängig mache von seinem Verhältnis zur Kirche, während dem Protestan­ tismus umgekehrt daS Verhältnis zu Christus maßgebend sei für baS Ver­ hältnis zur Kirche. 4. Schleiermacher war wie Leibniz und Goethe eine Natur, die auf Syn­ these, auf Zusammenfassung und Ausgleichung der Gegensätze angelegt war. Er scheute nötigenfalls den Kampf nicht, weder den militärisch-politi­ schen, noch den geistig-wissenschaftlichen. Sein Schwager Ernst Moritz Arndt schrieb deshalb bei seinem Tobe nach Würdigung seiner sonstigen Leistung: „Woher will man den freien starken Mann und den redlichen Bürger nehmen, der immer aus einem Guß sein muß? So gehen die Großen und Starken einer nach dem andern dahin, und die mitten in großen Gefahren ermattende und hinbämmernde Zeit schleppt sich fort." Arndt hatte den rechten Maßstab für das Große und Starke, auch für Tapferkeit und Kampf. Aber das End­ ziel war für Schleiermacher der Friede, die Versöhnung, die Harmonie in der Fülle. Er wünschte die Versöhnung von Religion und Bildung. Dafür sind seine „Reben" ein lautes Zeugnis, wollte er doch mit ihnen den Trägern der feinsten und höchsten Bildung, feinen romantischen Freunden, den Weg zur Religion eröffnen, die sie um ihrer Bildung willen meinten verachten zu müssen. Dabei ist er freilich den Romantikern ein Romantiker geworden, in sehr viel höherem Maße als Paulus den Griechen ein Grieche, um sie für Christus zu gewinnen. Das Übermaß beS Entgegenkommens hat er später

überwunden und abgestreift. Vorbildlich ist die Art, wie er Religion und Vaterland miteinander zu verbinden wußte. Ihm ist Religion nicht patriotischer Idealismus; er redet nicht vom „deutschen Gott" oder von einem besonderen Bund, den Gott mit dem deutschen Volk geschlossen habe; ihm ist nicht Gott um deS Volkes wil­ len da, als ob er alle seine Wünsche unbedingt erhören müsse, ihm ist daS Volk um Gottes willen da. Mer sowie er überzeugt ist von dem Wert jeder menschlichen Individualität, weil erst auS der Mannigfaltigkeit der Indi­ vidualitäten der Reichtum einer Menschengemeinschaft besteht, so ist er auch überzeugt von dem DaseinSrecht und dem Wert der deutschen VolkSinbivibualität; er verwirft den KoSmopolitiSmuS, den Verzicht auf staatliche Existenz und Freiheit, als gegen den Willen GotteS verstoßend. Seine KriegSpredigten wollen die Hörer dahin bringen, baß sie durch die Furcht gegen Gott frei werben von aller Menschenfurcht, frei von der Sorge um Genuß und Besitz, baß sie Kraft gewinnen, baS Unglück unerschüttert zu ertragen, an die Zukunft des Vaterlandes zuversichtlich zu glauben und ihm alle Kräfte des Geistes und des Leibes freudig hinzugeben. Ihm ist es stets ein hohes Anliegen gewesen, Religion und Wissenschaft in rechtem Einklang mlleinanber zu halten. Wenn sein und Goethes Freund

394

Das Zeitalter der Aufklärung: Idealismus und Romantik

Jacobi das resignierte Bekenntnis ablegt/ er sei „mit dem Herzen ein Christ, mit dem Kopf aber ein Heide", so setzt Schleiermacher dagegen in aller Bescheidenheit die feste und zuversichtliche Behauptung, er sei mit dem Kopf ein Philosoph, mit dem Herzen aber ein schlicht gläubiger Christ, und beides vertrage sich in ihm wohl miteinander. Er hat gegen Ende seines Lebens mit Sorge beobachtet, daß eine rückwärts gewandte Theologie sich verpflichtet glaubte, allerlei naturwissenschaftliche Vorstellungen der biblischen Zeit als wesentliche Glaubensstucke des Christentums festhalten zu müssen, und hat demgegenüber erklärt, wir würden (auf dem Gebiete der Naturwisienschast) noch lernen müssen, uns ohne vieles zu behelfen, was man gewohnt gewesen sei unzertrennlich zum Wesen des Christentums zu rechnen (er dachte an das 6-Tagewerk der Schöpfung und mancherlei naive Wundergeschichten der Bibel). Er hat aber besorgt die Frage aufgeworfen: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?" Er wünschte das um des Christentums und um der Wissenschaft willen zu vermeiden. Er hat damit der Nachwelt eine unendliche Aufgabe hinterlassen. 5. Bei Schleiermachers Tode hat einer seiner Berliner Kollegen geurteilt: „Heute ist der Mann dahingeschieden, von dem man künftig eine neue Epoche in derTheologie datieren wird." Es wird auch allgemein so geurteilt, daß er in der protestantischen Theologie die größte und einflußreichste Gestalt nach Luther sei. Heute freilich, wo die Theologie mit besonderem Ernst und Eifer sich um eine neue und tiefere Erkenntnis Luthers bemüht, wird der Abstand Schleiermachers von Luther deutlicher gesehen als bisher. Er besteht in der Hauptsache wohl in Folgendem: Für Luther bildeten die Heilstatsachen der Versöhnung und Erlösung durch Person und Werk Christi ein erschütternd großes Drama, während Schleiermacher hier mehr eine weise göttliche Fügung und Entwicklung erblickt. Luther nimmt die Sünde so schwer und ernst, daß Gottes Zorn und Gericht die unausbleibliche Antwort ist und ohne den für uns gekreuzigten Christus an Versöhnung und Erlösung nicht zu glauben ist, während Schleiermacher die Erlösung mehr auf das Lebens­ werk Christi zurückführt und den Kreuzestod nicht besonders hervorhebt. Für Luther ist der Glaube an die Erlösung und das Gotthaben des Glaubens deshalb ein unbegreifliches Wunder. Der Glaube aber, den der Herr Christus in uns weckt, ist ein trotzig wagendes Vertrauen auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit, für Schleiermacher mehr eine demütige Ergebung in Gottes ewige Weisheit. Dieser Unterschied ist unverkennbar. Aber Schleiermachers Leistung muß aus seiner Zeit heraus verstanden werden. Man darf ihn nicht einfach, ohne den Unterschied der Zeiten zu beachten, neben Luther stellen und an seinem Maße messen. Luther kam aus dem Mittelalter, das, wie ungezählte Gemälde aus der Zeit um 1500 belegen, im Ganzen noch in

§91

Schleiermacher: Gesamtwürdigung und Ausblick

395

Angst und Erschrecken vor Teufel/ Tod/ Hölle und ewigem Gericht lebte und mit seinen kirchlichen Einrichtungen den empfänglichen Menschen in erschüt­ ternden Bußernst hineintrieb. Schleiermacher kam aus einer „aufgeklärten"/ optimistischen, welt- und zukunstsfreudigen Zeit und muß auf dem Hinter­ gründe dieser Zeit gesehen werden (Schillers Lied: An die Freude!). Es muß gestagt werden, was er geleistet hat, um die Gefahren der Aufklärung und des allzu optimistischen Idealismus an seinem Teil zu bekämpfen. Dann wird deutlich, daß er wie kein anderer Theologe schon in seinen „Re­ den" die Gefahren der Aufklärung für echte Religion erkannt und scho­ nungslos gegeißelt hat. Nicht zum mindesten ist auch das an seiner Glaubens­ auffassung zu rühmen, baß sie frei ist von jeder Art von Eudämonismus (Nützlichkeitsstreben). Das beweist schon sein scharfer Kampf gegen die übliche eudämonistische Wertung der Unsterblichkeit in der Aufklärung. Mit dem Idealismus ist er natürlich wurzelhaft verwandt. Aber wenn heute dem Idealismus zum Vorwurf gemacht wird, sein Gottesgedanke sei monistisch bestimmt, weil Gott in die Welt und das Ich hineingezogen und sogar die Einheit von Gott und Welt behauptet werde (s. o. das Schlußurteil über Fichte), so ist dagegen für Schleiermacher Folgendes festzustellen: 1. In der Reife seiner theologischen Entwicklung lehrt er nicht die Identität (Einheit von Gott und Mensch) der Mystik, sondern den Unterschied und Abstand zwischen Mensch und Gott. 2. Die Religion zielt für ihn nicht mehr auf künstlerisches Gefühl und Stimmung (wie noch in den „Reden"), sondern durchaus auf sittliches Handeln, wofür ja auch sein ganzes Leben und Wirken (nicht zum mindesten für Volk und Staat) ein lautredender Beweis ist. Also ist er kein „Schwärmer". 3. Er beschreibt das Christentum als eine Religion, in der alles bezogen ist auf die Gestalt Jesu von Nazareth; also läßt er kein Christentum ohne Christus gelten und ist kein geschichtsloser Mystiker. 4. Im Mittelpunkt seiner Glaubenslehre stehen die Worte Sünde und Erlösung; auf ihrem Gegensatz ist alles aufgebaut. Das unterscheidet ihn wieder deut­ lich von Mystik und einseitig künstlerischem Idealismus. Es bleibt selbstverständlich der Abstand gegen Luther und deutliche Mängel im Vergleich mit seiner Lehre. Entscheidend aber ist, daß bei ihm überall zum mindesten die Ansätze und die Wege gewiesen sind zur endgültigen Über­ windung der Gefahren nicht nur der Aufklärung, sondern auch einer un­ frommen Mystik und eines zur Menschenverherrlichung neigenden Idealis­ mus. Sein Werk war ein Aufruf an die kommende Generation, zu vollenden, was er eingeleitet hatte. Wir legen heute weniger Wert auf theoretische Systeme als Schleiermacher und die Männer des Spätidealismus. Wir beherzigen die Warnung Carlyles (in seiner „französischen Revolution"), bas Weltall sei uns nicht zu unserer logischen Verdauung gegeben, es müsse genügen, hier und da einen festen Pfeiler einzuschlagen. Wir sehen die unlösbaren Rätsel und Widersprüche der

396

Die Neuzeit: die katholische Kirche

Wirklichkeit tiefer als jene Zeit und scheuen uns, in demütiger Selbstbeschei­ dung, davor, sie voreilig auflösen und einebnen zu wollen. Vor allem sind wir in der Gefolgschaft Luthers und des Apostels Paulus wieder mehr bereit, das dem natürlichen Menschen Unbegreifliche und Ärgerliche der Bot­ schaft des Evangeliums anzuerkennen und zu betonen. Man hat Schleiermacher wohl mit Melanchthon verglichen, damit also den Abstand von Luther hervorgehoben. Dann soll man sich aber doch hüten, ihn in undankbarer Überheblichkeit zu verurteilen. Melanchthon ist im Grunde mehr an den Humanismus gekettet geblieben als Schleiermacher an Roman­ tik und Idealismus, und doch hat Luther bis zu seinem Ende jenen als seinen Mitarbeiter behalten und geschätzt, und niemand hat Protest erhoben, als Melanchthon ihm in der Wittenberger Stadtkirche im Auftrag der Universität die Gedächtnisrede hielt. Was aber den Idealismus angeht, so dürfte über ihn baS Urteil eines unserer besten Sachkenner richtig sein: „Das idealistische Denken hat tatsächlich seine Sterblichkeit vergessen. Dennoch halte ich es für unmöglich, einfach Nein zu sagen zu der idealistischen Philosophie. Sie bleibt doch die tiefste, die reichste, die dem Christentum nächste Philosophie, die bas europäische Denken hervorgebracht hat" (E. Hirsch). Wer aber die ganze geistige Entwicklung seit dem Beginn der Aufklärung durchstreichen und hinter sie zurückgehen möchte, der muß sich sagen lasten, daß dies eine glaubenslose Geschichtsbetrachtung ist, und baß er damit andere zu dem Versuch ermächtigt, nicht 300, sondern 500 ober 1500 Jahre durchzu­ streichen und hinter die Reformation und die Christianisierung der Germanen zurückzugehen!

Die Neuzeit Erneuerung der Kirche. Neue Nöte und Aufgaben I. Die katholische Kirche im 19. Jahrhundert. Der Umschwung im geistigen Leben, den die Freiheitskriege sowohl be­ zeugten, wie auch bewirkten, tritt am auffallendsten an der römisch-katholi­ schen Kirche zutage. PiuS VI. war in unwürdiger Gefangenschaft gestorben. Sein Nachfolger PiuS VII. hatte sich von Napoleon noch im Frühjahr 1813 auf den Rang eines französischen HofbischosS herunterbrücken lasten (im sog. Konkordat von Fontainebleau) und mußte erst durch die unzerbrechliche, geschmeidige Tatkraft seines Staatssekretärs Consalvi auS dem Bann mut­ loser Nachgiebigkeit erlöst werben. Der Kirchenstaat war eingezogen, der Jesuitenorden aufgelöst, und auch moralisch schien die römische Kirche so entleert, daß weltnfahrene Männer ihr nahe bevorstehendes Ende voraus-

§92

Restauration der Papstkirche

397

sagten. Nach Napoleons Sturz aber erhob sie sich wie mit einem Zauber­ schlage in neuer Glaubenskraft und Zuversicht aus ihrer schweren Niederlage und gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts eine organisatorische Macht und einen geistigen Einfluß, wie die Welt ihn seit den Tagen des dritten Innozenz nicht gesehen hatte. Diese Restauration der römischen Kirche ist viel merk­ würdiger alö die der Gegenreformation in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zwei Tatsachen sind bezeichnend für die geschichtliche Entwicklung beö römischen Katholizismus seit 1813: Die mit unbeirrbarer Sicherheit durchge­ führte Bekämpfung aller „modernistischen" Zeitströmungen, aller freiheit­ lichen Ideen innerhalb und außerhalb der Kirche, und die mit ebenso klarer Folgerichtigkeit sich vollziehende Fortbildung der geistlichen Autorität des Papsttums zu einem schrankenlosen Absolutismus. Wohl haben Rückschläge nicht gefehlt, und Verluste sind nicht ausgeblieben; immer enger und einförmi­ ger gestaltet sich allmählich das geistige Leben der Gläubigen, der weltliche Be­ sitz der Päpste geht verloren. Aber diese Einbuße an Mannigfaltigkeit und un­ mittelbarer politischer Macht wird reichlich ausgewogen durch eine unge­ wöhnliche Schlagkraft und eine virtuose Handhabung der Mittel indirekten Einflusses auf Staaten und Völker. Der Anfang des 20. Jahrhunderts findet die Papftkirche trotz aller Anfeindungen in einer durchaus gesicherten, zu großen Hoffnungen berechtigenden Stellung.

§92. Das Erstarken der Papstkirche. 1. Die Herrschaft des Rationalismus war fürs erste gebrochen. Noch unter den Erschütterungen der großen Revolution und des Kaiserreiches trat eine neue Geisteshaltung ihren Siegeszug durch Europa an, die alle jene Kräfte aufrief und förderte, denen die Aufklärung den Tod geschworen hatte. Gegen die Diktatur der Vernunft erhob sich das Gefühl, gegen die Absage an die Vergangenheit ein neuer Sinn für Geschichte, gegen verstanbeskalte Gleichmacherei der Wille zur Einordnung in bas organisch Geworbene. Kein Wunder, daß die Romantik mit ihrer tiefen Ehrfurcht vor der Geschlossenheit

der mittelalterlichen Kultur und vor dem Reichtum mittelalterlicher Mystik, mit ihrer Sehnsucht auch nach einer starken und verehrungswürbigen Füh­ rung besonders liebevoll sich dem letzten überlebenden Zeugen dieser großen Vergangenheit, der katholischen Kirche, zuwanbte. DaS Zeitalter der Restau­ ration ist nicht zuletzt gekennzeichnet durch den Übertritt hervorragender Künstler und Denker zum Katholizismus (Overbeck, Fr. Stolberg, Fr. Schle­ gel, Z. Werner) und durch eine Neubelebung katholischer Frömmigkeit. Fast schien es, als sollte im Zusammenhang damit der Gedanke einer deutschen katholischen Nationalkirche, den das Ende des 18. Jahrhunderts trotz mancher Anläufe nicht zu verwirklichen vermocht hatte, nunmehr in bi« Tat übersetzt werden. Denn der romantische Katholizismus, zumal im Rheinland,

398

Die Neuzeit: die katholische Kirche

war anfangs so weit und reich, daß er den wertvollen Ertrag der Aufklärung und des Idealismus, den Toleranzgedanken, sich anzueignen vermochte, — das neue Verständnis für die ursprünglichen Kräfte der Volksseele und des Volkslebens führte zum Versuch einer Eindeutschung des Kultus und der Mesie und zu dem Wunsche, den deutschen Bischöfen eine weitgehende Selb­ ständigkeit gegenüber dem Papsttum zu sichern. Ihr Sprachrohr fanden diese Bestrebungen in dem besonders rührigen Generalvikar von Konstanz, dem Freiherrn von Wessenberg, der auf dem Wiener Kongreß mit Entschieden­ heit die Ideale der alten Reformkonzilien in zeitgemäßem Gewände vertrat. Aber die Bischöfe, für deren Recht er sich einsetzte, die Fürsten, an die er sich wandte, hatten wenig Verständnis für derartige Pläne. Durch den Reichs­ deputationshauptschluß (1803) war die Verbindung von geistlicher und welt­ licher Macht, die gerade dem deutschen Episkopat seine besondere, verhältnis­ mäßig unabhängige Stellung gegenüber Rom gewährleistete, gelöst worden. Die geistlichen Fürsten hatten ihre landesherrlichen Befugnisie eingebüßt. Die Folge war, daß je länger je mehr an Stelle des Hochadels bewährte Männer aus dem Volke zur Bischofswürde gelangten, die sich mangels anderer Stützen von vornherein darauf angewiesen sahen, ihren Halt am Papst zu suchen, und sich dafür seinen Wünschen gefügig zeigen mußten. Die große Politik aber stand im Zeichen der Heiligen Allianz. Einzig ein übernationaler Zusammenschluß der großen Herrscherhäuser des Abend­ landes schien Sicherung gegen die freiheitlichen Ideen zu bieten, die von Frankreich aus ihren Weg durch ganz Europa genommen hatten. Da lag es nahe, diesem Bunde die älteste absolute Macht, das universale Papsttum, cinzufügen, dessen erbitterte Gegnerschaft gegenüber allem Jakobinismus bekannt war und dessen Vertreter (Pius VI. und VII.) selbst gegenüber einem Napoleon ihr Recht zu wahren sich bemüht hatten. Jetzt wurden die Päpste für die Leiden der letzten Jahrzehnte reichlich entschädigt: Der Wiener Kongreß stellte den Kirchenstaat in vollem Umfange wieder her; durch eine Reihe von Konkordaten (Verträgen) und konkordatähn­ lichen Abmachungen ordneten fast alle Staaten ihre kirchlichen Verhältnisie neu. Es ist bezeichnend, daß man für diese Verhandlungen nicht die Bischöfe, sondern den Papst als Vertragspartner wählte. Von vornherein hat dabei die sehr geschickt geleitete Kurie verstanden, sich einen starken Ein­ fluß auf die Kirche der einzelnen Länder zu sichern und den national-kirch­ lichen Gedanken zurückzudrängen. Immerhin retteten die deutschen Länder­ regierungen noch wesentliche Rechte. Das Konkordat mit Bayern (1817), obwohl es von der kurialistischen Auf­ fassung des Verhältnisses von Staat und Kirche ausging, überließ doch dem Landesherrn die Ernennung der Bischöfe und eines Teiles der Pfarrer, sowie das Placet für alle kirchlichen Erlasse. In Preußen wurde die Abgrenzung und Besetzung der Bistümer durch eine konkordatsähnliche Abmachung ge-

§92

Konkordate — Jesuitenorden und Ultramontanismus

399

ordnet (niedergelegt in der Bulle: ,,De salute animarum“ 1821): Die Bischöfe werden von den Domkapiteln gewählt, vom Papst nur bestätigt. Vor der Wahlhandlung ist die Liste der Kandidaten dem König vorzulegen; dieser kann etwaige unwillkommene Personen („minus gratas“) von der Liste strei­ chen. Die Domkapitel aber ergänzten sich, indem neue Domherren abwechselnd(!) vom König ernannt oder vom Kapitel berufen wurden. Endlich galt immer noch die alte Bestimmung des Wormser Konkordats, daß die Wahlhandlung unter Vorsitz eines königlichen Beamten stattfand. Ähnlich war die Regelung in Hannover (für Osnabrück und Hildesheim) und in der oberrheinischen Kirchenprovinz (Freiburg i. Br., Rottenburg, Fulda, Mainz, Limburg). Alle diese starken staatlichen Rechte hat eine schwache Staatsregierung nach dem Weltkrieg beinahe kampflos preisgegeben (s. u. S. 495). 2. Wenn etwas bezeichnend ist für die sich vollziehende Wandlung, so die Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu(1814), die seit ihrer Grün­ dung der schärfste Vorkämpfer des zentralistischen und universalistischen Ge­ dankens innerhalb der Kirche gewesen war. Noch wenige Jahrzehnte vorher hatten gerade die Wortführer des romanischen Katholizismus die Beseitigung der Jesuiten burchgesetzt. Jetzt fand das Vorgehen des Papstes in dieser Sache vornehmlich in Frankreich starken Beifall. Denn eben im Mutterlande der Revolution war die Absage an die Ideen von 1789 am leidenschaftlichsten. Daß das Papsttum die sicherste Stütze auch aller weltlichen Ordnung sei, daß ihm allein die entscheidende Macht innerhalb der Kirche gebühre, daß jede Arbeit gefördert werden müsse, die für einen päpstlichen Absolutismus sich einsetze, das waren Gedanken, die gerade im Frankreich der Restaurations­ zeit mit besonderer Schärfe und Folgerichtigkeit ausgesprochen wurden (de Maistre f 1821; Du Pape. — Chateaubriand f 1848; Genie du Christianisme. — Lamennais fl854). Der später sogen. Ultramontanismus, der den Schwerpunkt alles kirchlichen und nicht nur des kirchlichen Lebens in dem jenseits der Berge (ultra montes) gelegenen Rom suchte, ist seinem Wesen nach eine ausgesprochen romanische Bewegung. Nur langsam hat er auch in Deutschland Eingang zu finden vermocht. Chateaubriand: „Rom ist wieder zu jener evangelischen Armut hcrabgeftiegen, die einst sein Schatz war. Durch eine merkwürdige Gleichheit der Umstände gibt cs auch jetzt wieder Heiden zu bekehren, Völker zur Eintracht zu ermahnen, Helden zu besänftigen, Tränen zu trocknen und Wunden zu heilen. Wenn Rom seine Stellung richtig erkennt, muß es einsehen, daß es nie größere Hoffnungen fassen konnte. — Die Kirche ging in Reichtum und Ruhe zu Grunde, sie erinnerte sich des Kreuzes nicht mehr. Daö Kreuz ist wieder erschienen, die Kirche ist gerettet."

De Maistre: „Es wird eine Zeit kommen, wo die verschriensten Päpste, wie Gregor VII., in allen Ländern als Freunde, Beschützer der Menschheit und als wahre Begründer Europas bastehen werden." — „Ohne Papst keine Souveränität,

400

Die Neuzeit: die katholische Kirche

ohne Souveränität keine Einheit/ ohne Einheit keine Autorität, ohne Autorität kein Glaube." 3. Urbild und Triebkraft der Wendung beS katholischen Deutschland zum UltramontaniSmuS ist Joseph (von) GörreS (i 1848). Einst Anhänger der französischen Revolution und ein Schwärmer für die rheinische Republik, wird er durch den Einfluß Herders und der Romantik für die Sache deutschen VolkStumS und deutscher Freiheit gewonnen, vertritt im „Rheinischen Mer­ kur" mit heißer Leidenschaft den Volkskrieg gegen Napoleon, zugleich auch das Programm eines freiheitlich verfaßten Großdeutschland unter österreichi­ scher Führung. Durch die preußische Reaktion bedrängt, flüchtet er schließlich nach Straßburg (1819); hier ergibt er sich, in seinen nationalen und freiheit­ lichen Hoffnungen gründlich enttäuscht, unter dem Einfluß von de Maistre, der ultramontanen Welt- und Staatsauffassung, um nachher in diesem Sinne als Profeffor in München zu wirken. — Bezeichnend ist auch die Entwicklung des Vollblutromantikers Brentano, den die Dichterin (und Konvertitin) Luise Hensel aus romantischer Zerrissenheit zum schwärmerischen Katholizis­ mus zurückführte, so daß er fünf Jahre am Bett einer stigmatisierten Nonne weilte, um ihre Leiben und Gesichte zu einem AnbachtSbuch zu gestalten. 4. Der Gedanke der Heiligen Allianz hat keine lange Lebensdauer gehabt. Schon Ende der zwanziger Jahre erzitterte daS alte Staatensystem unter dem Ansturm des jungen europäischen Nationalismus, der durch sein Bünd­ nis mit dem westlerischen, die Ideen von 1789 wieder aufnehmenden Liberalis­ mus an Stoßkraft gewann, gleichzeitig allerdings damit auf gefährliche Abwege geführt wurde. Und sofort zeigte sich, wie ablehnend das ultramontane Papsttum den neuen Gedanken beS Jahrhunderts gegenüberstand. Bereits 1832 hatte Gregor XVI. in der Enzyklika (— Rundschreiben): „Mirari vos" die Schale seines Zornes über alle freiheitlichen Regungen auSgegofsen. In PiuS IX. (1846—76) fand der reaktionäre Katholizismus seinen schärfsten Vertreter. Ursprünglich liberalen Ideen zugeneigt, ja revolutionär und natio­ nal im Sinne der italienischen Einheitsbewegung, hatte der Papst im Stuxmjahr 1848 aus seiner Hauptstadt fliehen müssen. Als ein Verwandelter kehrte er nach Rom zurück. Jetzt galt sein Hauptaugenmerk nicht mehr der Ver­ waltung beS Kirchenstaates, der bald dem Zugriff beS Königreiches Italien zum Opfer fiel (1870), sondern dem Ausbau seiner innerkirchlichen Macht­ stellung. 1854 verkündete er aus eigenem Recht, ohne Hinzuziehung eines Konzils, daS Dogma von der unbefleckten Empfängnis der Maria, nach dem auch die Mutter Jesu von jeder Erbschuld frei sein soll. 1864 folgte die Enzyklika: „Quanta cura“, „die klassische Urkunde deS Ultramonta­ niSmuS", der ein Verzeichnis (SyllabuS) von 80 verdammungswürdigen Sätzen angehängt ist. Sie war ein einziger Kampfruf gegen den Geist der Zeit, gegen die neue Wissenschaft und den neuen Staat. Und wenige Jahre später holte der Papst zum entscheidenden Schlage auS: DaS vatikanische

$ 92

Görres — PLuS IX. und bas vatikanische Konzil

401

Konzil (1869/70), eine glanzende Heerschau des Weltkatholizismus, brachte bas Dogma der Unfehlbarkeit der Päpste. Pius IX. stand am Ziel. Umsonst, baß eine um die Zukunft der Kirche besorgte Minderheit, vor allem deutscher und österreichischer Prälaten, zunächst heftigen Widerstand leistete. Die meisten von ihnen vollzogen am Schlüsse ihre Unterwerfung. Aus der Enzyklika: „Mirari vos“: „Der Jndifferentismus ist die verkehrte Meinung, daß ein Mensch bei jedem Glaubensbekenntnis selig werden könne, wenn er nur ein ordentliches und anständiges Leben führt. Aus dieser stinkenden Quelle des Jndifferentismus stammt die Irrlehre, oder vielmehr der Wahnwitz, baß jeder Mensch Gewissensfteiheit haben muß. Daher kommt die Verderbnis der Jugend, die Verachtung der heiligen Dinge und heiligen Gesetze im Volke, daher, kurz gesagt, die Pest, die dem Staatswesen den Tod bringt." Irrtümer, die der Syllabus von 1864 verdammt: 13. Die Methode und die Prinzipien, nach denen die alten scholastischen Lehrer die Theologie aus­ gebildet haben, entsprechen keineswegs den Bedürfnissen unserer Zeit und dem Fortschritte der Wissenschaften. 15. Jedem Menschen steht es ftei, die Religion zu ergreifen und zu bekennen, die jemand, durch das Licht der Vernunft geleitet, für wahr hält. 18. Der Protestantismus ist nichts anderes als eine verschiedene Form derselben wahren christlichen Religion, in der eS ebenso gut wie in der katholischen Kirche möglich ist, Gott wohlzugefallen. 24. Die Kirche hat nicht die Macht, Gewalt anzuwenben, und keine direkte oder indirekte weltliche Machtbefugnis. 42. Beim Widerstreit der Konflikte beider Gewalten (Staat u. Kirche) geht bas bürgerliche Recht vor. 51. Die weltliche Regierung hat das Recht, Bischöfe von der Ausübung ihres geistlichen Amtes abzusetzen. 55. Die Kirche ist vom Staat und der Staat von der Kirche zu trennen. Aus der Unfehlbarkeitserklärung des Vatikanischen Konzils. „Wenn einer behauptet, der römische Papst habe nur bas Aufsichts- und Leitungsamt, nicht aber die volle und höchste Herrschergewalt über die gesamte Kirche, und zwar nicht nur in Sachen des Glaubens und der Sitte, sondern auch in denjenigen, die die Zucht und die Verwaltung der über den ganzen Erdkreis verbreiteten Kirche be­ treffen, oder baß derselbe nur einen hervorragenden Anteil, nicht aber den Vollbesitz dieser höchsten Gewalt habe, ober baß diese seine Gewalt nicht ordentlich und un­ mittelbar sei, sowohl über alle und jegliche Kirchen, als auch über alle und jegliche Hirten und Gläubigen, der sei verflucht." (Aus Kap. 3). „In Übereinstimmung mit der von Anbeginn des christlichen Glaubens über­ kommenen Überlieferung lehren und erklären wir unter Zustimmung des heiligen

Konzils dies als ein von Gott geoffenbartes Dogma: daß der römische Papst, wenn er ex cathedra spricht, baö heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten apostolischen Vollmacht eine von der gesamten Kirche zu beachtende Lehre über Glauben ober Sitten festsetzt, baß er dann durch den göttlichen ihm im heiligen Petrus verheißenen Beistand die Unfehlbarkeit besitzt, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei Festsetzung einer 26 Schvfier, Kirchevgeschtchte

402

Die Neuzeit: die katholische Kirche

den Glauben ober die Sitten betreffenden Lehre hat ausgestattet wissen wollen, und baß daher derartige Entscheidungen des römischen Papstes an und für sich, nicht aber erst durch die Zustimmung der Kirche unabänderlich sind." (Aus Kap. 4.)

Praktisch haben die Päpste die unfehlbar« Lehrautorität schon lange vor 1870 geübt, nur ihre dogmatische Festlegung stand noch auS. — Welche Papsterlasse jeweils als Kathedralverfügungen zu gelten haben, bleibt nach dem Text der Urkunde unsicher. Damit ist die Möglichkeit gegeben, ältere, unzulängliche oder bedenkliche Entscheidungen aufzuheben mit Hinweis dar­ auf, baß sie nicht ex cathedra ergangen sind. Aber auch für Gegenwart und Zukunft vermeidet man es, sich unnötig festzulegen.

§ 93. Der Kampf der Kurie um den preußisch-deutschen Staat. Mit dem vatikanischen Konzil war der ultramontane Katholizismus zum vollen Bewußtsein seiner Stärke und seiner Ziele gelangt. Er zögerte keinen Augenblick, seine Ansprüche auch dem modernen Staat gegenüber nachdrück­ lich geltend zu machen. Vorgefechte hatte bereits die erste Hälfte des Jahr­ hunderts gebracht. DaS Erscheinen beS jungen, protestantisch geführten Deut­ schen Reiches im Kreise der Weltmächte bot Gelegenheit zu einer Kraftprobe großen AuSmaßeS. 1. 1815 waren Westfalen und das Rheinland zu Preußen gekommen. Die Einbeziehung der beiden ihrem Bekenntnis nach vorwiegend katholischen Provinzen in baS Gefüge der Hohenzollernmonarchie stellte an sich schon er­ hebliche Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der preußischen Beamten­ schaft; seit mit dem Ende der zwanziger Jahre ultramontane Gedankengänge sich auch am Rhein geltend machten, wuchsen die Schwierigkeiten. Der Zu­ sammenstoß war unvermeidlich, als die preußische Regierung in völliger Unkenntnis der Lage, entgegen dem Wunsche deS Domkapitels, zur Verwunde­ rung selbst deS Kardinalstaatssekretärs, den Freiherrn von Droste-Vischering als Erzbischof von Köln vorschlug, einen radikalen Ultramontanen, der jede nationalkirchliche Regung mit äußerster Strenge verfolgte und sehr bald auch gegen die von seinem milderen Vorgänger geübte Zulassung von „Misch­ ehen" (zwischen Protestanten und Katholikinnen, wobei nach geltendem Rechte die Nachkommen der Religion beS Vaters folgten) Front machte. Dem Verlangen des Staates, daß die Geistlichkeit Verlobte verschiedener Kon­ fession anstandslos traue, trat er — gestützt auf päpstliche Weisungen — ent­ gegen mit der Erklärung, solche an sich unerwünschten Verbindungen seien für die Kirche nur tragbar, wenn vorher die verpflichtende Zusage katholischer Kindererziehung gegeben werde. Alle Vermittlungsversuche schlugen fehl. Schließlich (1837) setzte die Regierung Droste-Vischering und den Erzbischof Dunin von Gnesen-Posen, der sich dem Vorgehen beS Kölners angeschlossen hatte, gefangen, erregte damit aber einen Sturm der Entrüstung innerhalb

§ 93

Der Streit um die „Mischehen" — Das Zentrum

403

deS gesamten Katholizismus und sah sich nach mehrjährigen erbitterten Auseinandersetzungen genötigt cinzulenken (1840). ES ist nicht zufällig, daß der Rückzug des Staates in dieser Sache mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. zusammenfällt. Unter seiner Re­ gierung wuchs im Zuge der politischen Reaktion auch der Einfluß der katho­ lischen Kirche in Preußen: Der Streit um die „Mischehen" wurde zugunsten der Kurie beendet; die Bischöfe hatten fortan ein entscheidendes Wort in Sachen der theologischen Fakultäten, der PriesterauSbilbung und deS Reli­ gionsunterrichts mstzusprechen. Eine besondere katholische Abteilung im Kultusministerium wurde eingerichtet. Diese erwies sich sehr bald als Ver­ fechter deS ulttamontanen Gedankens. So konnte eS geschehen, baß die im 18. Jahrhundert in der Nähe von Posen angesiedelten Bamberger polonisiert wurden, gegen ihren Wunsch, trotz ihrer Eingaben an die Regierung, weil die Reaktion die Schulaufsicht in der Ostmark fast durchweg in die Hände katholischer, d. h. polnischer Geistlicher legte. — Nach Olmütz vollends (1851) gewann die Sprache der klerikalen Kreise Preußens an Anmaßung und Sieges­ zuversicht. Sie tritt grell zutage in der Rede des Bischofs Ketteler von Mainz bei der BonifatiuSfeier 1855: „Wie Las Iudenvolk seinen Beruf auf Erden verloren hat, als es den Messias kreuzigte, so hat das deutsche Volk seinen hohen Beruf für bas Reich Gottes verloren, als eS die Einheit im Glauben zerriß, welche der heilige Donifattus ge­ gründet hatte. Seitdem hat Deutschland fast nur mehr dazu betgettagen, bas Reich Christi auf Erden zu zerstören und eine heidnische Anschauung hervorzurufen. Seitdem ist mit dem alten Glauben auch die alte Treue mehr und mehr ge­ schwunden, und alle Schlösser und Riegel, alle Zuchthäuser und Zwangsanstalten vermögen uns nicht bas Gewissen zu ersetzen."

2. Der Aufstieg deS von BiSmarck geführten PreußenstaateS feit Anfang der 60er Jahre ist für die Kurie von vornherein ein Gegenstand deS Miß­ trauens und der Sorge gewesen. AlS vollends 1866 die junge protestantische Großmacht sich mit Italien, dem Gegner deS Papsttums, verbündete und dann nacheinander -Österreich und daS ebenfalls mit Rom verbundene napoleonische Kaiserreich niederwarf, da bezog der UltramontaniSmuS feste Kampfstellungen. Der auS dem Kriege zurückkehrenbe Gründer deS Reiches sah sich 1871 einer neuen Partei gegenüber, die ihre Politik bewußt unter konfessionellen Gesichtspunkten trieb und sich sofort anschickte, dem Staat ihr Gesetz aufzuzwingen. Schon im ersten deutschen Reichstag verfügte bas von Windthorst äußerst geschickt geleitete „Zentrum" über eine stattliche Zahl von Sitzen; eS suchte und fand Fühlung mit den „ReichSfeinben", den Gruppen der Polen, Welfen und Elsässer. Der Kanzler, der hier eine ernste Gefahr für sein Werk Heraufziehen sah, nahm den Fehdehandschuh entschlossen auf. Er gewann einen Bundesgenossen in dem (parlamentarisch von den „Nationalliberalen" und der „Deusschen Fortschrittspartei" geführten) Libes6*

404

Die Neuzeit: die katholische Kirche

ralismus, der seinerseits durch die Beschlüsse des vatikanischen Konzils sich herausgefordert fühlte. Der Kampf, den Bismarck mit dem Ziel der Zerschlagung des Zentrums und der Einführung einer Staatsaufsicht über den Klerus führte, — den Ausdruck „Kulturkampf" hat der berühmte Pathologe Rudolf Virchow, einer der Begründer der Fortschrittspartei, in einem Wahlaufruf geprägt — wurde 1871 im Reich eröffnet durch das Verbot politischer Kanzelreden (Kanzelparagraph) und fortgesetzt mit dem Jesuitengesetz (1872) und der Zivilstandsgesetzgebung. Zu voller Schärfe wuchs er sich in Preußen aus, wo 1872 die katholische Abteilung im Kultusministerium fiel und 1873 mit den Maigesetzen das Recht staatlicher Kontrolle über die Ausbildung der Geistlichen und staatlicher Schulaufsicht ausgesprochen wurde. Als die vom Papst zum Widerstand aufgerufene Geistlichkeit den geforderten Huldigungs­ eid verweigerte und sich gegen die Kulturkampfgesetzgebung als Ganzes auf­ lehnte, schritt der Staat mit Sperrung der Gelder, mit Verhaftungen und Ausweisungen ein. Zeitweilig waren 12 Bistümer im Reiche unbesetzt; die Erbitterung ging so tief, daß auf der Höhe des Kampfes ein Attentat auf Bismarck verübt wurde (1874). Zuletzt ist doch von beiden Seiten eingelenkt worden: Bismarck brauchte das Zentrum für seine Zollpolitik, die bei den Sozialdemokraten und Liberalen auf harten Widerstand stieß, und der neue Papst Leo XIII. (1878—1903), einer der bedeutendsten Diplomaten seiner Zeit, zeigte sich zum Frieden geneigt. Allmählich wurde die gesamte Kampf­ gesetzgebung bis auf die Jesuitenparagraphen beseitigt. Es blieb die Zivilehe (Standesämter) und eine Vermehrung des staatlichen Einflusses auf das Bilbungswesen (Schulaufsicht). Der Kanzler hat die Absichten, mit denen er den Kulturkampf begann, nicht verwirklichen können. Aus den Erschütterungen dieser Jahre, die das noch junge Reich bis in seine Wurzeln gefährdeten, ging das Zentrum ver­ mehrt und organisatorisch gefestigt hervor; enger als je war das Gefühl der Verbundenheit zwischen Klerus und Laien, zwischen der deutschen Kirche und der römischen Kirchenleitung. Damals ist sich der politische Katholizismus seiner Machtstellung in Deutschland voll bewußt geworden. Es hat sich bitter gerächt, daß dem Protestanten Bismarck das Verständnis für die religiöse Mächtigkeit des Katholizismus fehlte, und daß er meinte, mit den Mitteln des Staates und der Bundesgenossenschaft des weithin glaubenslosen Liberalismus den Kampf gegen ein trotz all seiner Mängel von starker Gläubigkeit getragenes Kirchentum aufnehmen zu können.

§ 94. Die katholische Kirche im Zweiten Reich.

Die großen Erfolge des Papsttums in der zweiten Jahrhunderthälfte konnten nicht errungen werden, ohne daß gelegentliche Revolten im Inneren

§ 93 f.

Der Kulturkampf — Die altkatholische Kirche

405

und Absplitterungen erfolgten. Die Kampfkraft des Ultramontanismus zeigt sich nicht zum wenigsten in der Art, wie er mit solchen Rückschlägen fertig geworden ist.

1. Bereits 1844 hatte die Ausstellung des „Heiligen Rockes" in Trier heftige Protestkundgebungen und die Bildung einer Reihe von „deutschkatholischen" Gemeinden veranlaßt; an der inneren Unsicherheit ihrer dem liberalistischen Zeitgeist hörigen Führung war diese Bewegung rasch zu Grunde gegangen. — Wesentlich gefährlicher erschien zunächst der Widerstand, der anläßlich der Unfehlbarkeitserklärung vornehmlich in Deutschland aufbrach. Seine Träger waren Männer von ernster Frömmigkeit und hohem wissen­ schaftlichen Range; sein Wortführer Ignaz v. Döllinger, galt als der be­ deutendste Theologe des deutschen Katholizismus. Aber eben der Umstand, daß es sich hier zunächst um eine Angelegenheit literarisch gebildeter Kreise handelte, hat dem „Altkatholizismus" den Weg zur Wirkung auf die breite Masse der Gläubigen verlegt. Gerade durch den Kulturkampf kam sie wieder fester in die Hand ihrer Priester. Auch vermochte er sich nicht eindeutig genug gegen die Weltkirche abzusetzen. Als vollends der Staat unter dem Druck des Zentrums seine anfangs aus politischen Erwägungen geleistete Unter­ stützung einstellte, verlor dieser Versuch, dem national-kirchlichen Gedanken zu neuem Leben zu verhelfen, rasch an Bedeutung. Immerhin besteht heute in Deutschland eine altkatholische Kirche mit bischöflicher Verfassung. Bezeichnend für sie sind: Beteiligung der Laien an der Kirchenleitung, deutscher Gottesdienst, Aufhebung des Zölibats, rege Teilnahme am nationalen Leben. Durch die „Los-von-Rombewegung" in Österreich (ab 1898) hat sich die Zahl ihrer Anhänger vermehrt. Neuerdings

wirbt eine selbständige „Katholisch-nationalkirchliche Bewegung" auch in den Reihen der römischen Katholiken für ihre Ideen. 1936 wurde Bischof Kreuzer durch den Reichskirchenminister feierlich vereidigt und damit die altkatholische Kirche vom Staat öffentlich anerkannt. Aus dem altkatholischenGlaubensbekenntnis von 1889: „Als mit dem Glauben der alten Kirche in Widerspruch stehend und die kirchliche Verfaffung zerstörend verwerfen wir die vatikanischen Dekrete vom 18. Juli 1870 über die Unfehlbarkeit und den Universal-Episkopal oder die kirchliche Allgewalt des römi­ schen Papstes. Das hindett uns aber nicht, den historischen Primat anzuerkennen, wie denselben mehrere ökumenische Konzilien und die Väter der alten Kirche dem Bischof von Rom als dem primus inter pares zugesprochen haben mit Zustimmung der ganzen Kirche des ersten Jahrtausends. Wir nehmen das Konzil von Trient nicht an in seinen Entscheidungen, welche die Disziplin betreffen, und wir nehmen seine dogmatischen Entscheidungen nur insoweit an, als sie mit der Lehre der alten Kirche übereinstimmen."

2. Noch einmal erhob sich dann zu Ende des Jahrhunderts in der katholi­ schen Kirche selbst eine Reformbewegung gegen die Drosselung der Geistes-

406

Die Neuzeit: die katholische Kirche

freiheit, die seit dem Vatikanischen Konzil immer stärker um sich griff. Wieder machten Gelehrte und Schriftsteller die Sprecher, hinter ihnen standen dies­ mal fast ausschließlich Kreise gebildeter Laien. Hier empfand man die Tat­ sache, daß Glaube und Wissenschaft, Dogma und Kulturleben sich ständig mehr voneinander entfernten, als unerträglich; man forderte vom Papsttum, daß es eine freie Auseinandersetzung mit dem Geist der Zeit gestatte und zu den großen Gegenständen des modernen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens positiv Stellung nehme. Auch die Frage nach dem Verhältnis von universaler Kirche und völkischer Verpflichtung tauchte wieder auf. Die Träger der Bewegung waren Deutsche, Italiener und Franzosen. 2lber unerbittlich trat Rom diesen „modernistischen" Bestrebungen ent­ gegen. Unmittelbar nach dem Kulturkampf (1879) hatte Leo XIII. mit ein­ deutiger Wendung gegen Kant die Scholastik des Thomas von Aquino zur katholischen Normalphilosophie erhoben; sein Nachfolger Pius X. (1903—14) verschärfte die Bücherzensur (Index) und brachte einen neuen Syllabus heraus, in dem er zahlreiche gesicherte Ergebnisse der Bibel- und Religionswissenschaft verdammte und die Modernisten als Ärrlehrer maß­ regelte. Alle Geistlichen im Pfarr- und Lehramt müssen seit 1910 den „Anti­ modernisteneid" ablegen. Seitdem ist es um diese Reformbewegung still geworden. Leo XIII. über Thomas von Aquino (1879): „Unter den Lehrern der Scholastik ragt weit hervor der Fürst und Meister aller, Thomas von Aquino. — Indem er genau zwischen Vernunft und Glauben unterschied, beide aber in einem Freundes­ bunde einte, hat er sowohl die Rechte beider gewahrt als für beider Würde Sorge getragen, so zwar, daß die Vernunft, auf den Flügeln des hl. Thomas zu ihrer höchsten menschlichen Vollendung emporgetragen, nun kaum mehr höher zu steigen vermag und der Glaube von der Vernunft kaum weitere oder triftigere Beweise fordern kann, als er schon durch Thomas erlangt hat. — Daher ermahnen Wir dringend euch alle, zum Schutz und Schmuck der katholischen Lehre, zum Besten der Gesellschaft, zum Wachstum aller Wissenschaften die goldene Weisheit des hl. Thomas wieder einzuführen und so weit als möglich zu verbreiten." Pius X. über Thomas von Aquino (1907): „Wir verordnen in aller Form, daß die scholastische Philosophie zur Grundlage der kirchlichen Studien gemacht werde, vor allem die, welche der hl. Thomas von Aquino gelehrt hat. Auf dieser philosophischen Grundlage soll man mit größter Sorgfalt das Gebäude der Theo­ logie errichten." Eine reform-katholische Stimme (Prof. Ehrhardt) über den Neuthomismus: „Thomas ist ein Leuchtturm, nicht ein Grenzstein, und es wäre ein Verbrechen an der theologischen Wissenschaft, ihn aus jenem in diesen verwandeln zu wollen! Jede Zeit muß jenen Versuch (Vereinigung der Offenbarung mit der Wetterkenntnis) neu anstellen mit Rücksicht auf ihre spezifischen Bedürfnisse, die immer wechseln und sich niemals wiederholen. — Besiegung der modernen antichristlichen Philo­ sophie durch die Anerkennung ihrer Wahrheitselemente und die Ausscheidung ihrer Irrtümer, das ist das Losungswort der katholischen Theologie der Gegenwart,

§94

AntimoberniSmuS, Neuthomismus, BorromäuS-Enzyklika

407

nicht die Verwerfung derselben in Bausch und Bogen, noch die Aufstellung beS 13. Jahrhunderts als einer künstlichen Grenzscheibe für das katholisch« Denken."

3. Der ultramontane Katholizismus hatte die Mauern der Kirche gedichtet, neue Stützen eingezogen und mit dem modernen Staat erfolgreich die Waffen gekreuzt. Jetzt fühlte er sich stark genug, die alten universalen Ansprüche beS hochmittelalterlichen Papsttums zu erneuern. Seit dem Kulturkampf war

das Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander wieder gespannter geworden; ohne große Achtung sah man an der Kurie auf den Protestantismus, der uneinheitlich in seiner kirchlichen Gestalt, erschüttert durch die Angriffe anti­ christlicher Strömungen und geschwächt durch allzu starkes Entgegenkom­ men gegen den Geist der Zeit, seinen Weg in das neue Jahrhundert suchte. Die Borromäus-Enzyklika (1910) bewies mit ihren massiven Schmähun­ gen, wie unversöhnlich der Ultramontanismus den Erben der Reformation gegenüberstand. Bei feinem Amtsantritt (1903) hatte Pius X. in unzwei­ deutiger Weise auch das Recht politischer Führung für daö Papsttum zurück­ gefordert: „Jeder billig Denkende anerkennt, daß der römische Papst von dem Lehramt«, das er in Bezug auf Glauben und Sitten besitzt, das Gebiet der Politik keineswegs trennen kann. Unseres Amtes ist es, jeden einzelnen, nicht nur die Gehorchenden, sondern auch die Herrschenden im privaten, wie im öffentlichen Leben, in sozialer wie in polittscher Beziehung zu leiten."

§ 95. Katholizismus und soziale Frage. Die ungewöhnlichen Fottschritte des Katholizismus nach 1815 sind nur zum Teil in der zwingenden Gewalt der ultramontanen Gebankengänge und der Führerautorität des Papsttums begründet. Sie werden voll ver­ ständlich erst, wenn man sich deutlich macht, mit welcher Großzügigkeit die Kirche stets für die ihr zugehörigen Masten gesorgt hat. Gerade das Jahr­ hundert der wiederaufsteigenden Jesuitenmacht und deS Kulturkampfes bringt einen starken Aufschwung der katholischen LiebeStätigkeit. Zugleich wird mit sichtbarem Erfolge versucht, die soziale Frage als eine in erster Linie sittliche

Ausgabe zu begreifen und zu lösen. 1. Auö dem Grunde des neuerstarkten kirchlichen Bewußtseins erwächst seit etwa 1840 ein weitverzweigtes Liebeswerk, dem die orden- und kloster­ ähnlichen Gemeinschaften Rückhalt und Organisationsform geben, das aber bald — in geschickter Anpassung an die demokratische Bewegung der Zeit — auch weiteste Kreise der katholischen Laienschaft in seinen Dienst stellt und in Vereinen unter geistlicher Führung zusammenfaßt. Allmählich werben auf diese Weise alle Gebiete der Wohlfahrts- und Krankenpflege in Betteuung genommen. 1897 tritt der — heute in 27 Diözesanverbände untergeteilte — „Deutsche Caritasverband" (Leitung: Freiburg i. Br.) an die Spitze

408

Die Neuzeit: die katholische Kirche

der Arbeit; er ist von der DischofSkonferenz als Zentrale für sämtliche Werke der Nächstenliebe unter den Katholiken Deutschlands anerkannt worben. Man kann in der Caritas eine Entsprechung zum Werke WichernS und Bobelschwinghs, im deutschen Caritasverbanb ein Gegenstück zum ZentralauSschuß für Innere Mission erblicken. Man wird dann aber den wesentlichen Unterschied protestantischer und katholischer LiebeSarbeit nicht übersehen dürfen. Auch heute noch stellen die Orden und Kongregationen die maßgeb­ lichen Träger deS Caritaswerks, feine Stärke ruht in der straffen, nahezu klösterlichen Organisation der Anstalten und in der großartigen Geschlossen­ heit seines Aufbaues. Die freie persönliche und gemeindliche Hilfeleistung wiegt dem gegenüber nicht schwer. Und im Hintergründe erscheinen doch oft als mitwirkende Motive das Streben nach Ausbreitung kirchlicher Macht und der Glaube an die Verdienstlichkeit guter Taten. Umgekehrt sucht die äußerlich weniger hervortretende protestantische „Innere Mission" ihre eigentlichen Stützen in der Gemeinde und in der Freiwilligkeit deS Kirchenvolkes; sie nimmt für sich in Anspruch, ihre Arbeit ohne irgendwelche Nebengedanken zu tun. Das hindert uns nicht, die Hingabe und Opferfreudigkeit anzuerken­ nen, die sich innerhalb der katholischen CaritaS auswirkt. Wenn irgend­ wo, so tritt hier zutage, wie sehr auch in der katholischen Kirche der Geist der Nachfolge Christi lebendig ist. Der Caritasverbanb für bas BiStum Berlin umfaßte 1930 u. a. 20 Caritasbezirksstellen in Berlin, 151 Pfarreien und Kurateien, 91 am­ bulante Krankenpflegestationen mit 203 Schwestern, 19 Krankenhäuser mit 3928 Plätzen, 20 Alters- und Siechenheime tnit 550 Plätzen, 13 Erholungs­ heime für Erwachsene mit 365 Plätzen, 5 Erholungsheime für Kinder mit 495 Plätzen, 37 Kindergärten mit 1621 Plätzen, 20 Kinderhorte mit 797 Plätzen, 10 Säuglingsheime mit 557 Plätzen, 30 Waisenhäuser mit 2446 Plätzen, 16 Hospize und Mädchenheime mit 571 Plätzen, 8 Fürsorgeheime für Mädchen mit 1406 Plätzen, 5 Heime für Mutter und Kind mit 215 Plätzen. 2. Bereits mit der Romantik, die unter Hinweis auf die berufsstänbische Gliederung deS Mittelalters eine organische Staatsauffassung befürwortete und darüber zu einer Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems gelangte, war in daS politische Denken führender katholischer Kreise ein stark sozial­ reformerischer Zug gekommen. Mer erst die Erschütterungen des Sturmjahres 1848 veranlaßten die Kirche als solche, sich mit der Arbeiterfrage ernsthafter zu befassen. Mag sein, daß der damals beginnende Kampf beö Papsttums gegen den Liberalismus aller Schattierungen (auch gegen den wirtschaftlichen) diese Wendung wesentlich gefördert hat. Entscheidend wirkte doch auch hier das Austreten bedeutender Führerpersönlichkeiten. Ein großer Kirchenfürst, der westfälische Edelmann und Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler (f 1877) ist es gewesen, der mit voller Klarheit die Not des Proletariats erkannte und positive Vorschläge zu ihrer Überwindung machte.

§95

Katholische Caritas und katholischer Sozialismus

409

Ein Priester, der selbst einmal als Handwerksbursche gewandert war, Adolf Kolping (-f 1865) gründete die ersten katholischen Gesellenvereine. Das durch Ketteler beeinflußte Programm der Zentrumspartei enthielt bereits eine Reihe sozialpolitischer Forderungen: Gesetzlicher Schutz der Arbeiterkinder und -frauen gegen Ausbeutung, Schutz der Arbeiterkraft durch Gesetze über Arbeitszeit und Sonntagsruhe u. a. Der „Volksverein für das katho­ lische Deutschland" (1890) übernahm die Aufgabe, von hoher Warte aus die soziale Bewegung zu beobachten und soweit möglich zu leiten. Als vollends Leo XIII., bis in sein hohes Alter ein sorgsamer „Beobachter des Lebens", den päpstlichen Stuhl bestieg, kam in all diese Bemühungen ein großer Zug. Die Enzyklika „Rerum novarum" (1891) gab das Signal zum Sturmlauf gegen die Herrschaft des wirtschaftlichen Individualismus und entwarf das Programm einer von Kirche und Staat, Arbeitergeberschaft und Arbeiter­ organisationen gemeinsam durchzuführenden Sozialreform. Auch auf diesem Gebiete bewährte die Kirche ihre Fähigkeit zur Organi­ sation und Massenführung nach großem Plane. Sie schuf unter Anleitung der Bischöfe die ausgesprochen „katholischen Arbeitervereine", sie förderte auch das Wachstum interkonfessioneller „christlicher Gewerkschaften". Daß viele ihrer Priester den ärmsten Schichten des Volkes entstammen, gewähr­ leistet ihr ein weitgehendes Verständnis für die Nöte und Notwendigkeiten des Proletariats. So ist es ihr gelungen, große Teile der Arbeiterschaft vor der Beeinflussung durch den internationalen Sozialismus zu schützen. E. v. Ketteler „Die Arbeiterfrage und das Christentum" (1864): Die Ursachen der bedrängten Lage der Arbeiter haben ihren wesentlichen und tiefsten Grund in dem Abfall vom Geiste des Christentums, der in den letzten Jahrhunderten statt­ gefunden hat. Weil nicht mehr der Geist und die Kraft des Christentums den Egois­ mus und seine Leidenschaften im Zaume hält, darum sehen wir auf dem sozialen Gebiete sich so gefahrdrohende Zustände entwickeln. Hier kann und wird daher die Heilung nur von innen heraus erfolgen. In dem Maße, wie die göttlichen Wahr­ heiten des Christentums wieder die Geister erleuchten, wird man auch auf dem Gebiete der Volkswirtschaft und dem ihm so nahe verbundenen der Politik die richtigen Prinzipien und die rechte Weise ihrer Durchführung wiederfinden. Dann werden auch Regierungen und Gesetzgebungen, anstatt so vielfach zerstörend oder auch hemmend zu verfahren, durch eine der wirklichen Lage der Dinge entspre­ chende Organisation der Gewerbe und weiterhin der Gemeinden und aller lebenskräffigen Verbände eine gesunde Neugestaltung der gesellschaftlichen und ökonomi­ schen Verhältnisse möglich machen und befördern. Aus Leos XIII. Enzyklika „Rerum Novarum“ (1891): Es ist vor allem an der bestehenden Ordnung der menschlichen Verhältnisse festzuhalten; die Unter­ schiede von hoch und niedrig in der bürgerlichen Gesellschaft aufzuheben, ist un­ möglich. Das streben die Sozialisten an; aber gegen die Naturordnung kämpft man vergeblich an. Immerdar werden in der Menschheit die größten und vielfälfigsten Ungleichheiten bestehen: ungleich sind bei den einzelnen die Geistesanlagen,

410

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

ungleich der Eifer, ungleich die Gesundheit, ungleich die Kräfte. Diese Ungleichheit hat zur notwendigen Folge die Verschiedenheit des materiellen Besitzes... Jene geträumte Gleichheit würbe in Wirklichkeit nichts anderes sein als eine Ver­ elendung, von welcher alle unterschiedslos betroffen werden würden. Aus all dem ist klar ersichtlich, baß der Grundsatz des Sozialismus, der die Umwandlung des Privatbesitzes in Gemeingut will, durchaus zurückgewiesen werden muß. Sucht man also die Lage des Volkes zu verbessern, so muß vor allem als Grundsatz fest­ gehalten werden, daß das Privateigentum unantastbar sei. Den Arbeitenden und Besitzlosen gelten die folgenden Vorschriften (der Kirche): vollständig und gewissenhaft die Arbeit zu verrichten, — dem Arbeitsherrn keinen Schaden zuzufügen; — bei der Vertretung ihrer eigenen Interessen sich der Gewalt zu enthalten und niemals Aufruhr zu stiften; sich von Verbindungen mit schlechten Menschen fernzuhalten, die sich ins Maßlose gehender Aussichten und Versprechun­ gen als künstlicher Agitationsmittel bedienen, aber meist nur leere Enttäuschung und materiellen Ruin in den Geblendeten zurücklassen. Den Arbeitgebern und Reichen schärft die Kirche andere Pflichten ein: die Arbeiter nicht wie Sklaven zu behandeln; die persönliche Würde in ihnen zu achten, die ihren Adel aus dem Christentum herleitet... Unmenschlich und unehrenhaft ist es, Men­ schen wie eine Ware nur zum eigenen Gewinn auszubeuten und sie nur nach dem Maße ihrer Arbeitskräfte zu werten... Weiter verbietet das Christentum, die Arbeiter über ihre Kräfte anzustrengen oder ihnen Leistungen aufzuerlegen, die ihrem Alter und Geschlecht nicht enssprechen. Zu den wichtigsten Pflichten der Arbeitsherren gehört es aber, jedem das Seine zu geben. Vor allem soll die Höhe des Lohnes nach den Grundsätzen der Billigkeit bemessen werden ... ES ist überdies die wichtige Wahrheit vor Augen zu behalten, daß der Staat für alle da ist, in gleicher Weise für die Niederen wie für die Hohen. — Wenn es also unzulässig ist, nur für einen Teil der Staatsangehörigen zu sorgen, den anderen aber zu vernachlässigen, so muß der Staat durch öffentliche Maßregeln sich in gebührender Weise des Schutzes der Arbeiter annehmen.

II. Vie evangelische Kirche des 19. Jahrhunderts. Reich an hoffnungsvollen Ansätzen in den ersten Jahrzehnten, voll starker Bewegung auf der Höhe des Jahrhunderts und auch noch gegen sein Ende hin, zeigt die Geschichte des deutschen Protestantismus nach Schleiermacher evangelisches Kirchentum eng verbunden mit dem Schicksal der Nation: — ihre erschütternden Stunden finden auch die Kirche im Aufbruch, ihre Miß­ erfolge und Nöte treffen als Mahnung und Vorwurf das evangelische Christentum. Das letzte, Richtung und Halt gebende Wort vom Glauben her zu den Fragen eines durch den Ansturm auflösender Mächte in seiner Lebenskraft gefährdeten Volkstums hat der Protestantismus doch nicht sprechen können. Es war sein Verhängnis, daß er, trotz wiederholter Versuche, zu kirchlicher Geschlossenheit und zu den Wurzeln seiner Kraft nicht hinzu­ finden vermochte.

$96

Die Frömmigkeit der Freiheitskriege

411

§96. Neues Leben und neue Fragen. 1. Die Jahre der napoleonischen Knechtschaft und der Freiheitskriege bedeuten einen tiefen Einschnitt auch in der Geschichte deS evangelischen Christentums. Wie immer, wenn schwere Schläge die Völker treffen, sank alles Unechte, Halbe und bloß Erdachte zusammen vor der Gewalt der er­ schütternden Ereignisse; nur ein Glaube, auf den hin sich sterben ließ, konnte diesem Geschlechte helfen. „ES war", sagt einer der Studenten deS WartburgfesteS (H. Leo), „ein Geisterkampf, dieser Krieg, ein Kampf der Scharen deS lebendigen Gottes wider den Erdgeist. In dieser Zeit ist eS, daß die abgetragenen Kleider des schalen Rationalismus in Deutschland zuerst in Lumpen zerrissen worden sind, daß Gottes lebendiger Hauch die Menschen wieder allgemeiner und mächtiger berührt hat". Die Religion, aus der der Freiherr vom Stein mit großartiger Selbstverständlichkeit lebt, die der Königin Luise Kraft gibt, die in den Liedern des reifen Arndt, Körners und Schenkendorfs ihren Ausdruck findet und schließlich zum BekennMiS der vaterländischen Jugend wird (die Burschenschaft wurde 1815 als „Werk deS Herrn" gegründet), hat nichts mehr zu tun mit der flachen Vernünftig­ keit und der selbstzufriedenen Natur- und Geschichtsdeutung der Aufklärung: — man weiß wieder um die Majestät Gottes, um das Geheimnisvolle und Unbegreifliche seines Willens; die Fragwürdigkeit deS vom Rationalismus entworfenen optimistischen Menschenbildes tritt klar zu Tage. Dafür er­ wacht ein neues, auS eigenen Erfahrungen erwachsenes Verständnis für die Kraft und Tiefe lutherischer Gottverbundenheit und für daS Heldische gläu­ biger Lebensführung. Auch ein echtes Gemeinschaftsbewußtsein, daS zur Gemeinde drängt, wird allenthalben spürbar. Die große Geistesbewegung der Romantik, die dem ProtestanfiSmuS im allgemeinen kühl gegenübersteht, hilft doch zur Verinnerlichung der Frömmigkeit und führt zur Überzeugung eines Zusammenhanges von Christentum und Volkstum.

Während der Freiherr vom Stein den kernigen, sittlich gesunden luthe­ rischen Glauben vergangener Zeiten in und durch die auflösenden Kräfte der Aufklärung hindurch bewahrt hat, um auS ihm seine feste Unerschrockenheit gegenüber Menschen und Schicksalen zu schöpfen, ist bei anderen führenden Gestalten dieser Zeit die Vertiefung ihres Glaubens durch die lebendige Sprache GotteS im Geschehen der Tage deutlich zu spüren. Die Königin Luise hat in der Katastrophe, die ihr königliches HauS und ihren preußischen Staat erschütterte, den Ruf GotteS deutlich vernommen. Auf der Flucht nach Tilsit erlebte sie daS Dichterwort: „Wer nie sein Brot mit Tränen aß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte." Sie wuchs im Unglück zu der heldenhaften Größe, die Heinrich v. Kleist in seinem stolzen Sonett gefeiert hat. DaS schönste Denkmal aber hat sie sich selbst gesetzt in dem Brief, den sie ein Jahr vor ihrem Tode an ihren Vater schrieb. Sie ergibt sich mit heiterer

412

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

Fassung in die Schickung, die Gott verhängt hat, aber sie glaubt fest an den lebendigen Gott und damit an eine sittliche Weltordnung. Sie weiß deshalb, daß die Herrschaft der nackten Gewalt nicht von Dauer sein kann: „Wie Gott will; alles, wie er will. Aber ich finde Trost, Kraft und Mut und Heiterkeit in dieser Hoffnung, die tief in meiner Seele liegt. Ist doch alles in der Welt nur Übergang. Wir müssen durch. Sorgen wir nur dafür, daß wir mit

jedem Tag reifer und besser werden." Theodor Körner wird durch den ehernenKlang des beginnenden Freiheits­ krieges aus idealistischer Schwärmerei, aus dem Jugendrausch des Dichtens und der Liebe aufgeweckt und zum männlich festen Entschluß getrieben (den auch Goethes unmutige Warnung nicht beirren kann), sein junges Leben, geschmückt mit allen Blütenkränzen der Hoffnung, dem Vaterland zum Opfer zu bringen, weil Gott es will. Das überzeugendste Symbol aber der erneuern­ den Macht großer Zeit ist der getteue Wander- und Arbeitskamerad des Reichs­ freiherrn, der Herold des preußisch-deutschen Freiheitskrieges, Ernst Moritz Arndt. Wenn irgend ein Mann dieser Zeit Luther verstanden und von ihm gelernt hat, so ist er es gewesen. Luthers Losung „das Wort muß es tun, das Wort allein", ist von ihm im innersten Herzen begriffen, bezeugt er doch von Luther: „Er hat durch das lichteste und geistigste aller Werkzeuge, entstammt von einem Feuer, das ihm oft selbst überlegen war, das Ungeheuerste gewirkt und vollbracht. In diesem einen Mann ist die Allgewalt des Wortes er­ schienen, und wie es mächtiger ist als Schwerter und Spieße, Ketten und Bannstrahlen... Martin Luther ward geboren, ein deutscher Mann im Herzen von Deutschland, und rief: das Wort und nichts als das Wort und die Freiheit der Kinder Gottes! Und zündete einen Weltbrand an, einen Brand derart, von welchem der Heiland einst gesprochen: Ich wollte, es brennete schon! Und dieser Brand brennt noch fort, und ist nicht erloschen und darf nicht erlöschen." Den Reichtum und die Gewalt der Luthersprache hat er mit echter Kongenialität empfunden: „Was auf deutsch lieblich oder furchtbar, donnernd oder säuselnd, mild oder rauh, stark oder weich, zornig oder freundlich geredet und geklungen werden kann, das hat dieser seltsame Mann uns in seinem großen Vorbild hinterlasien, in seiner Bibelübersetzung und in seinen deutschen Schriften." Von ihm bekennt er selber deutsch reden gelernt zu haben: „Vor allen deutschen Männern hat dieser große Unsterb­ liche der Sprache den rechten Schritt und Klang zu deutschen Herzen ge­ wiesen; und wenn mir hin und wieder gelungen ist, deutsch sprechen, reden und ein weniges singen zu können, so verdanke ich das mit vielen andern, die deutsch empfinden, denken und darstellen können, am meisten der von Kind auf geübten fleißigen Lesung der Lutherbibel." Diese eigene Beobachtung wird durch sorgfältige Nachprüfung vollauf bestätigt; es ist vorzüglich die Sprache des Alten Testaments Martin Luthers, an der Arndt sich gebildet hat. So wie Luthers Lieder alle Dichtung seines Jahrhunderts hoch über-

§96

Königin Luise, Th. Körner, Ernst Moritz Arndt

413

ragen, ähnlich heben sich auch Arndts vaterländische und christliche Lieder über alle andern Dichtungen der Freiheitskriege empor durch urwüchsige Kraft der Empfindung und des Ausdrucks. Wie sehr aber seine Prosa durch Luthers Bibel sachlich und sprachlich befruchtet ist, belegen schon die nach­ folgenden Proben aus dem „Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann". Sie zeigen auch, daß Arndt (trotz dem großen Rheinländer Görres) der wirksamste deutsche Publizist großen Stils nach Luther geworden ist. In ihm bricht Geist und Kraft der alten Propheten wieder auf. „Weil die Menschen den himmlischen Ursprung verleugnet haben, müssen sie mit dem Bösen kämpfen ihr Leben lang, und das Übel begegnet ihnen auf den Land­

straßen, auch wo sie es nicht suchen: und ist seit Adams Fall keine vollkommene Freude mehr in der Welt gewesen. Darum sehen wir dieses Leben nur als eine Wanderschaft an, und der Himmel heißt unser Vaterland und die Liebe Gottes das Ziel, wonach wir streben sollen." „Der Soldat soll ein Christ sein; er soll es tief in seinem Herzen empfinden und glauben, daß über ihm und seinem Schicksal ein heiliges Wesen waltet, das zu seiner Zeit einem jeglichen geben wirb, was seine Taten verdient haben." „Der Krieg zeigt in jedem Augenblick Wunden, Verstümmelungen, den Tod: Schmerzen und Qualen, vor welchen die menschliche Natur oft erschrickt und erblasset; der Christ erschrickt und erblasset davor nicht. Sein Bewußtsein, daß er auf dem Wege der Pflicht wandelt, daß er für Recht und Freiheit streitet, ist sein Schirm und Schild; sein Glaube, baß Gott ihn hier und dort erhält, sein fester Hort. Der Christ weiß: dieses Leben, auch wenn eö am besten war, ist nur ein flüchtiger Traum, kaum ein Schatten des Glücks; er kennt keine Angst, er zittert vor keinem Tode, denn er hat die Zuversicht eines besseren Daseins. Der Christ ist ftöhlich im Leben, ftöhlich im Tode, fteunblich gegen die Freunde und mutig gegen die Feinde; der Christ hat allein den rechten Stahl der Seelen, die rechte eiserne Festigkeit, welche Sieg und Glück bringt und selbst das Unglück überwindet. Denn im Unglück erscheinet die Probe, was ein Mann ist, und wie er glaubt". „Die Liebe ist die Meisterin und Schöpferin aller Dinge und Gottes älteste Gesellin, und hat Gott alles mit der Liebe geschaffen, und ist nichts ohne die Liebe, was gut ist, und wird ohne die Liebe nichts sein. Und nach der Liebe werden wir genannt, weil wir Christen heißen, und unsere Religion heißt die Religion der Liebe, und Jesus Christus, Gottes einiger Sohn, unser Heiland, gab sich aus Liebe für uns in den bittersten und schmählichsten Tob am Kreuze. Also sollen wir auch lieben, wie er geliebt hat, und tun, wie er getan, und uns hingeben und jede Stunde bereit sein, das Letzte zu tun und zu leiden, ehe wir in bas Unrecht willigen."

2. Der Abstand dieser Haltung von der Aufklärung, ihre Nähe zu dem edelsten Streben des Idealismus, vor allem aber ihre Verwandtschaft mit der Glaubensgewißheit der Reformatoren und der Schlichtheit pietistischer

414

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

Frömmigkeit liegt auf der Hand. Unmittelbar nach den Befreiungskriegen erlebte der Pietismus einen großartigen Aufschwung in den Formen einer ErweckungSbewegung, die allenthalben in Deutschland (Mittelpunkte: Württemberg, Pommern, daS Ruhr- und Wuppertal, die Lüneburger Heide) Menschen der verschiedensten Kreise um die Gestalt Jesu sammelte und für ein entschieden bibelgläubiges Christentum gewann (1814 Gründung der „Hauptbibelgesellschaft" in Berlin). Den konfessionellen Unterscheidungs­ lehren wurde hier zunächst wenig Bedeutung beigemessen. Gleichzeitig aber führte die Sehnsucht der Zeit nach festen Autoritäten, nach geistiger und geist­ licher Führung zu einem Wiebererstarken der Orthodoxie, die den über­ natürlichen Offenbarungscharakter des Christentums betonte und mit Nach­ druck auf die Bedeutung der Schrift als der Norm und Richtschnur christ­ lichen Lebens hinwieS. Und bald empfanden auch die Erweckten, baß mit der Frömmigkeit die bekenntniSmaßige Ausprägung der religiösen Wahrheit und der Wille zu kirchlicher Gestaltung sich vereinigen müßterr. Im Zeichen ge­ meinsamen Ringens um die Erneuerung der durch die Aufklärung weithin zerstörten Kirche kam eS jetzt zu einem Bündnis der beiden alten Geg­ ner, durch daS der Pietismus viel von seiner weltstüchtigen Haltung verlor und zum Wirken in breiterer Öffentlichkeit befähigt wurde, durch daS anderer­ seits die Orthodoxie an Wärme und seelischem Reichtum gewann. Hier traten wirklich junge Kräfte anS Werk, deren mitreißender Schwung sich in den Gestalten beS Wortführers eines konfessionellen Luthertums, Klaus HarmS in Kiel (t 1855) und deS Schöpfers der Hermannsburger Mission Louis HarmS (t 1865) verkörpert. Ihre Wirkung wird auch im Leben Ottos von BiSrnarck spürbar; denn im Kreise pommerscher Pietisten erlebte er seine „Be­ kehrung". AuS KlauS HarmS' 95 Thesen zum Reformationsjubiläum 1817.

1. Wenn unser Meister und Herr JesüS Christus spricht: Tut Buße! so will er, baß die Menschen sich nach seiner Lehre formen sollen; er formt aber die Lehre nicht nach den Menschen, wie man jetzt tut, dem veränderten Zeitgeist gemäß.

3. Mit der Idee einer fortschreitenden Reformation, so wie man diese Idee ge­ fastet hat, reformiert man daö Luthertum inS Heidentum hinein und daS Christen­ tum aus der Welt hinaus.

21. Die Vergebung der Sünden kostete doch Geld im 16. Jahrhundert; im 19. hat man sie ganz umsonst, denn man bedient sich selbst damit. 25. Die sogenannte Vernunftreligion ist entweder von Vernunft ober von Religion oder von beiden entblößt. 51. Auch die Worte unsrer geoffenbarten Religion hallen wir heilig in ihrer Ursprache und betrachten sie nicht wie ein Kleid, welches man der Religion auSziehen könnte, sondern als ihren Leib, mit welchem vereint sie ein Leben hat. 52. Eine Übersetzung aber in eine lebende Sprache muß alle 100 Jahre revidiert werben, damit im Leben sie bleibe.

§96

Erweckung, Klaus HarmS — Orthodox und Liberal

415

75. Als eine arme Magd möchte man die lutherische Kirche jetzt durch eine Kopulation (b. h. durch die Union) reich machen. Vollzieht den Akt ja nicht über Luthers Gebein! Es wirb lebendig davon und bann — weh euch!

Die entscheidende Frage an die Zukunft war, ob diese in der Erweckung ausgebrochenen Kräfte christlichen Glaubens selbstsicher und weit genug sein würden, alle wertvollen Strömungen innerhalb deS Protestantismus an sich zu ziehen und zu gemeinsamer Arbeit zu vereinigen. ES wurde baS Schicksal der deutschen evangelischen Kirche deS 19. Jahrhunderts, daß die Geschichte diese Frage nicht bejaht hat. Die Epigonen der Erweckung haben sich gegen die Wirklichkeit deS Lebens, auch deS christlichen GlaubenSlebenS, dogmatisch zu rasch verkrustet und abgesperrt. Sie haben den berechtigten und nötigen Gegensatz zur Ausklärung (und zum Idealismus) so mißver­ standen, als ob nichts auS ihr zu lernen sei. Deshalb kehrte der Geist der Auf­ klärung mit sieben Genossen wieder und wurde nun erst zum wahrhaft bösen Geist. Jetzt begann die verhängnisvolle Entfrentdung zwischen einer verengten Kirche und dem geistigen Leben der Nation (vgl. § 99: Die Ge­ schichte der deutschen protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert). 3. Denn noch standen breite Schichten deS Volkes unter den Nachwirkungen deS Rationalismus, der durchaus keine einheitliche Größe darstellte, sondern in seinem Verhältnis zum Christentum die verschiedensten Schattierungen aufwieS; eben jetzt gewann die Geschlossenheit deS Hegelschen Systems, das ja christliche Weltanschauung geben wollte, entscheidenden Einfluß aus die Kreise der Gebildeten bis hinein in die Reihen der Theologen. — Und un­ übersehbar ragten Gestalt und Werk SchleiermacherS in baS neue Jahr­ hundert hinein. Wenn einer, so war er dem Ziel nahegekommen, die verschie­ denen wertvollen Anregungen der Vergangenheit zu einem einheitlichen Gedankenbau zu verarbeiten, der Glauben und Wissen versöhnte. Hier wurde Ernst gemacht mit dem Grundsätze, baß die moderne wissenschaftliche For­ schung auch auf die Bibel auSzubehnen sei, daß baS alte Wort eine zeitentsprechenbe Auslegung zu erfahren habe. Aber eben diese weitherzige Haltung mußte mit den Ansprüchen der neuen Orthodoxie zusammenstoßen, die die Span­ nung zwischen Idealismus und Christentum wieder stark empfand und Schleiermacher eine Verwischung wesentlicher christlicher Züge zum Vorwurf machte. Und doch kam alles darauf an, baß der „positive" Protestantismus den „liberalen" in seinem berechtigten Anliegen zu verstehen und zu dulden vermochte in diesen Jahren, da man zum Aufbau einer neuen Kirche schreiten wollte. § 97. Die Neuordnung der evangelischen Kirchen Deutschlands im 19. Jahrhundert.

1. Seit langem hatten Pietismus und Aufklärung, von ganz verschiedenen Voraussetzungen her kommend, an der Abtragung der dogmatischen Schran-

416

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

ken zwischen den beiden großen evangelischen Konfessionen gearbeitet. Der seelische Aufbruch der Freiheitskriege, der anfangs bte zum Hochbilde einer einheitlichen deutschen Nationalkirche vortastete, weckte allenthalben den Wunsch, trotz der Bekenntnisunterschiede zu einer engeren Verbindung von Lutheranern und Reformierten zu kommen. Wieder war eS Schleiermacher, der gegenüber den auflösenden Tendenzen deS 18. Jahrhunderts betonte, daß alle Religion „gesellig" sei, und gleichzeitig darauf hinwieS, daß die starre Trennung in den Formen der ReformationSzeit mit gutem Gewissen nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Die Stein-Hardenbergische Gesetz­ gebung, die von einem neuen StaatSgedanken her nicht nur die politischen, sondern auch die kirchlichen Ordnungen in Preußen nach großem Plane zu wandeln gedachte, sah bereits eine Volkskirche vor, die auf dem Gedanken deS allgemeinen Priestertums aufgebaut und unter starker Hinzuziehung der Laien freiheitlich verwaltet werden sollte. Jedenfalls war der Boden wohl vorbereitet, als König Friedrich Wilhelm III. anläßlich der 300-Jahrfeier der Reformation 1817 einen Aufruf zur Union der beiden protestan­ tischen Kirchen erließ und die Durchführung deS Gedankens mit starkem per­ sönlichen Einsatz in die Wege leitete. Andere deutsche Staaten, zumal die vor­ wiegend reformierten, folgten diesem Beispiel (Anhalt, Baden, HessenDarmstadt, Nassau, Pfalz). Die ausgesprochen lutherischen Landeskirchen (Bayern, Hannover, Sachsen u. a.) und einige preußische Gebietsteile wahrten ihre Sonderart. ES bewies jedenfalls Verständnis für die geschichtlichen Gegebenheiten und sicherte dem Vorgehen deS Königs reichen Beifall, daß Friedrich Wilhelm III. in seinem Aufruf lediglich eine durch äußere Kirchengemeinschaft sich be­ kundende Verbindung auf der Grundlage deS gemeinsamen evangelischen Bewußtseins vorschlug, eine „Vereinigung, in welcher die reformierte nicht zur lutherischen und diese nicht zu jener übergeht, sondern beide eine neu belebte evangelisch-christliche Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters werden". So durfte man hoffen, daß eine mechanische Verschmelzung der Konfessionen in Lehre und Bekenntnis nicht angestrebt werde und die Mannigfaltigkeit organisch gewordener Eigenformen im Rahmen dieser neuen Volkskirche ihren Platz finden könne. Eine allmähliche Angleichung und gegenseitige Befruchtung mochte sich mit den Jahren von selbst einstellen; sie ist tat­ sächlich in mehreren Provinzen praktisch geworden. 2. Aber sehr bald zeigte sich, daß eS Friedrich Wilhelm III. nicht gegeben war, die Dinge hier ruhig wachsen zu lassen. In der Proklamation von 1817 hatte die Erklärung gestanden, der Staat sei weit davon entfernt, „in dieser Angelegenheit etwas verfügen und bestimmen zu wollen". Als aber in einigen Gegenden (zumal in Schlesien) die Union abgelehnt wurde, setzten die Behörden sie mit Waffengewalt durch und verursachten so die Absplitterung der „Altlutheraner". Die alten Rechte und Freiheiten sollten geachtet werden;

§97

Einführung der Union — Synodale Selbstverwaltung

417

als aber hier und da gegen eine vom König selbst entworfene Agende (Gottes-, dienstordnung) sich Widerspruch regte, wurde sie unter Zwang eingeführt, obwohl Schleiermacher laut seine warnende Stimme erhob. In dem Maße, wie der aus den Freiheitskriegen nachwirkende Schwung ermattete, versandete neben dem politischen auch das kirchliche Reformwerk. Als vollends in Preußen der Geist der Reaktion tonangebend wurde, hörten die Bemühungen, das lutherische Erbe eines landesherrlichen Kirchenregi­ ments mit dem reformierten Gedanken der synodalen Selbstverwaltung zu verbinden und so den Laien Einfluß auf die Gestaltung der Kirche zu ge­ statten, nahezu ganz auf. Nur in Westfalen und dem Rheinland nahm die Entwickelung einen erfreulicheren Verlauf. Hier, wo seit langem (auf reformiertem Boden) eine Synodalverfassung vorlag, wurde 1835 eine Kirchenordnung erlassen, die neben die staatlichen Konsistorien Gemeinde­ vertretungen, Kreis- und Provinzialsynoden setzte und das Recht freier Pfarrerwahl anerkannte. So kam wenigstens im Westen der Monarchie der Grundsatz der Selbstverwaltung voran. Vierzig Jahre sollte es noch dauern, bis nach der Reichsgründung auch die anderen Provinzen Preußens eine in allen wesentlichen Teilen nach dem Muster von 1835 entworfene Kirchen­ verfassung erhielten (1876). Die Kirchenordnungen im Zweiten Reich sind ein weiterer Beweis dafür, daß die evangelischen Kirchen Deutschlands in ihrem Aufbau zumeist eine Gleichartigkeit mit der jeweiligen Staatsform gewahrt haben. Der konstitu­ tionellen Monarchie mit ihrer Verknüpfung von Beamtentum und Parlamen­ tarismus entspricht auf kirchlicher Seite eine Mischung von Konsistorialund Synodalverfassung. So stehen in Preußen neben den Vertretern des landesherrlichen Kirchenregiments (Oberkirchenrat, Konsistorien, General­ superintendenten, Superintendenten) die Organe der Gemeindeselbstverwal­ tung (Generalsynode, Provinzial- und Kreissynode, Gemeindekirchenrat und Gemeindevertretung). Auch die übrigen deutschen Landeskirchen wurden nach ähnlichen Grundsätzen geleitet. 3. Wenn das von breitesten Schichten des Volkes erhoffte Werk des Kirchen­ neubaus gegen alles Erwarten rasch zum Stocken kam, so lag das keines­ wegs nur an der Unbeholfenheit eines Königs und der Ungunst der politischen Verhältnisse. Es ist das Unglück des deutschen Protestantismus gewesen, daß ihm die reformatorische Persönlichkeit nicht geschenkt wurde, die das Nebeneinander konfessioneller und theologischer Richtungen innerhalb des evangelischen Christentums zu meistern und durch eine schöpferische Neu­ formung zur Einheit zu fassen vermocht hätte. Statt dessen brachen, je mehr das Jahrhundert voranschritt, die verschiedenen Gruppen auseinander. Die von dem Strome der Erweckungsbewegung mächtig vorwärtsgetragene, von einer Reihe charakterfester und tief gläubiger Männer geführte Ortho­ doxie lehnte auf ihrem Siegeszuge gegen die Aufklärung jede Verständigung 27

Schuster, Kirchengeschichte

418

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

mit milder denkenden theologischen Richtungen ab, sie steigerte, vielleicht aus Mangel an einer letzten inneren Sicherheit, ihr Zurück zur alleinigen Autorität der Bibel und der Bekenntnisse bis zu den äußersten Folgerungen eines Buchstabenglaubens (Verbalmspiration) und geriet sehr rasch in die Gefahr einer rein verstandesmäßigen Rechtgläubigkeit und einer erbarmungs­ losen Ketzerrichterei. Am folgenschwersten aber war, daß sie ihren Kampf um die Kirche nicht mit geistigen Waffen allein führte, sondern sich in das Fahrwasser der Reaktion begab und allmählich politische Züge annahm. Bald waren alle maßgebenden Stellen innerhalb der kirchlichen Verwaltung und alle wichtigeren theologischen Professuren in ihrer Hand, das Schul­ wesen wurde streng konfessionell ausgerichtet, der Gedanke der Union von den höheren Kirchenmännern selbst um seine Wirkungskraft gebracht. Es gewann den Anschein, als sollte jede freiere Regung, als sollten all die Kräfte, die sich auf Schleiermacher berufen konnten, aus der Kirche herausgedrängt werden. Indem nun auch die Gegner sich organisierten und ihrerseits mit den Mitteln der Presse und des jungen Parlamentarismus sich zur Wehr setzten, begann schon Ende der 30er Jahre innerhalb des deutschen Protestan­ tismus ein kirchenpolitisches Treiben, das die Gemeinden verwirrte und auf die Dauer dem Ansehen des Christentums schweren Schaden tun mußte, zumal der ständig wachsende Haß gegen den reaktionären Staat sich bald auch gegen die ihm verbündete Kirche wandte („Thron ».Altar"). Und das geschah zur selben Zeit, da der ultramontane Katholizismus immer angriffslustiger wurde und jenseits seiner Wälle im geistigen Leben der Nation sich Kräfte bemerkbar machten, die ausgesprochen religionsfcindlich gegen die Grund­ lagen der christlichen Überlieferung überhaupt anzurennen begannen.

§ 98. Das Christentum im Weltanschauungskampf des 19. Jahrhunderts.

1. Immer deutlicher wurde seit Anfang der 30er Jahre, daß die Periode der RestaurationSpolitik und der reaktionär-beharrenden Staatsführung, zu­ gleich aber auch das Zeitalter des klassischen Idealismus und der Romantik ihrem Ende entgegengingen. Eine neue Unruhe kam über die Menschen, ein starker Drang zur Eroberung und Umgestaltung dieser Erde, an Kraft und Energie dem Streben der voraufgegangenen Epoche ebenbürtig, nach Ziel und Weg grundsätzlich von ihr verschieden. Gegen die konservative Idee erhob sich in immer treuen Entladungen die liberale, gegen Metternichs System ein freiheitlicher, mit dem nationalen Gedanken eng verbundener Radikalismus. Gleichzeitig aber zerriß das Band, das die idealistische Philo­ sophie der Hegelzeit um die Wissenschaften geschlungen hatte. Im Schatten der Romantik war eine neue Geschichtsforschung groß gewachsen, die ihre besonderen Methoden der Erkenntnis und Quellenkritik ausbildete und.

§ 97f.

Kirchliche Reaktion — Das Zeitalter der Maschine

419

geleitet von dem Wunsche, festzustellen, „wie es wirklich gewesen sei", un abhängig von philosophischen Voraussetzungen eigene Wege zu gehen begann. Und eben jetzt geschahen die ersten großartigen Leistungen der exakten Naturwissenschaft, die weitab von aller philosophischen Spekulation allein auf Beobachtung und Versuch sich gründete. Mit einer wahren Leidenschaft warf man sich nun auf die Erfassung der einzelnen Erscheinungen des Lebens, auf die Ergründung ihres Zusammenhangs und ihres gesetzmäßigen Ablaufs. Wieder, wie schon in der Renaissance, nur zäher noch und bewußter, erhob sich der Wille, den ganzen Umkreis der Nätur bis in den kleinsten Winkel zu durchleuchten, zu beherrschen und den Zwecken des Menschen untertänig zu machen. Das Zeitalter der Maschine begann und mit ihm ein titanischer Glaube an die Möglichkeiten und den Fortschritt des Menschengeschlechts, der durch immer neue wissenschaftliche und technische Erfolge bestätigt, durch das im Zusammenhang der Industrialisierung anhebenbe Elend der Massen zunächst noch nicht überzeugend widerlegt wurde. Diese Zeit mit ihrem nüchternen Realismus, mit ihrer Hinwendung zum positiv Gegebenen, hatte kaum noch Muße für die Befassung mit philosophischen und religiösen Fragen. Wo man sich ihnen doch näherte, da geschah es zumeist im Zeichen einer naturalistischen Einheitslehre (Monismus), die die rein kausale Be­ trachtung der Naturwissenschaften auch auf die Zusammenhänge des geistigen Lebens anwandte und alles Werden und Vergehen auf mechanische Vorgänge zurückführte. Es gewann den Anschein, als seien Idealismus und Romantik nur ein Zwischenspiel gewesen, als nehme man eine Entwicklung wieder auf, die bereits im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung angehoben hatte. Nur daß allmählich auch die große Masse des arbeitenden Volkes jetzt für diese weit­ gehend vom Auslande her beeinflußten Gedankengänge gewonnen wurde. Das war das rechte Feld, auf dem dann, in der zweiten Hälfte des Jahrhun­ derts, der jüdischem Denken entsprungene „ökonomssche Materialismus" sich ansiedeln konnte. Als dieser Geist seit den 70er Jahren das Proletariat zu verstören und gegen alle gewachsenen Ordnungen vorwärts zu treiben begann, da war der Rausch der Kulturseligkeit im Bürgertum bereits erheblich verflogen. Es hatte sich doch gezeigt, daß die Naturwissenschaften mit ihren Mitteln eine zureichende Lösung der „Welträtsel" nicht zu bieten vermochten, baß der rasend schnelle technische und wirsschaftliche Aufschwung keineswegs einen Kulturfortschritt der Menschheit bedeutete. Eine starke innere Unrast trotz äußeren Glanzes, ein müder Relativismus, der an allgemein verbindlichen Lösungen ver­ zweifelt, ist typisch für das geistige Leben um die Jahrhundertwende; — die edleren Naturen erheben sich zu entrüstetem Protest gegen den flachen Ratio­ nalismus der „Bildungsphilifter" und zu einer „Umwertung aller Werte". Aber auch in ihrem Wesen und Werk spiegelt sich die Zerrissenheit dieses Zeitalters wider. Und wenn nun auch eine neue Ahnung übernatürlicher

420

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

Zusammenhänge spürbar wird und ein Bedürfnis nach Religion und Philo­ sophie in den mannigfaltigsten Formen sich bemerkbar macht, — zu einer klaren, wirklich Halt gebenden Antwort auf die letzten Fragen des Lebens vermögen die Menschen vor dem großen Kriege nicht mehr zu gelangen. Die weltanschaulich müde Stimmung des 19. Jahrhunderts, die den na­ türlichen Gegenschlag zu der hochfliegenden Spekulation des deutschen Idealis­ mus bildet, findet ihren weitverbreiteten Ausdruck in dem metaphysikfeind­ lichen Positivismus dieses Zeitalters. Der Positivismus im engeren Sinne des Wortes ist die von dem Franzosen Auguste Comte (1798—1857) be­ gründete Lehre. Er verwirft Kants Unterscheidung von „Erscheinungswelt" und „Ding an sich". Der Mensch soll sich mit den Erscheinungen zufrieden geben und auf den Glauben an eine Welt höherer Wirklichkeit hinter ihnen völlig verzichten. Er soll also alle Metaphysik aufgeben und sich mit den wirklich oder vermeintlich „positiven" Tatsachen der Erfahrung begnügen. Diese Betrachtung werde uns durch die Entwicklung der menschlichen Geistes­ geschichte aufgenötigt; denn diese verlaufe offensichtlich indreiStabienrDas erste ist das theologische, in dem der Mensch mit ungezügelter Phantasie die Welt mit Göttern und Geistern erfüllt als den vermeintlichen Urhebern der Naturvorgänge. Der Monotheismus bildet den Übergang zum zweiten Sta­

dium, dem metaphysischen, in dem Reflexion und Spekulation herrscht und die Götter durch abstrakte Begriffe ersetzt werden (Substanzen und Attribute, Monaden und Ideen). Das dritte Stadium ist das positivistische, das alle Träume abschüttelt und sich bemüht, mit dem Grundsatz der Erfahrung die Wirklichkeit nüchtern zu beschreiben. Es ist das Zeitalter der Wissenschaft, womit zunächst die mathematische Naturwissenschaft gemeint ist. Sie er­ möglicht uns durch das Vertrauen auf die Unwandelbarkeit der Naturgesetze aus dem Vergangenen das Zukünftige zu berechnen (savoir pour prevoir, prevoir pour regier) und damit der menschlichen Wohlfahrt zu dienen. Comte ordnet demgemäß die wichtigsten Wisienschaften nach der Reihenfolge ihrer mathematischen Klarheit und Berechenbarkeit: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, Soziologie. Diese, die Gesellschaftslehre, ist freilich die letzte, aber praktisch die wichtigste; denn das Zeitalter der Wissenschaft ist zugleich auch das Zeitalter der Wirtschaft und Industrie, während das erste das Zeitalter des Kriegeradels und der Hierarchie, das zweite das der Juristen war (schon an dieser Einteilung scheitert die Konstruktion, denn in Wirklichkeit bringt das dritte Zeitalter erst den konsequenten und totalen Militarismus). Für Comte war seine Lehre so etwas wie Religionsersatz; denn er fügte ihr noch einen Kultus mit einem Priestertum von Philosophen, Ärzten

und Dichtern, mit Sakramenten und Festen hinzu, in denen das „große Wesen" der Menschheit verehrt wird. Darauf verzichtet der Positivismus im weüeren Sinne des Wortes, wie er außerhalb Frankreichs sich verbreitet hat. In

§98

Comte und der Positivismus — L. Feuerbach

421

England verband er sich durch Stuart Mill und Herbert Spencer mit dem Darwinschen Evolutionismus; in Amerika formte er sich zumPragmatis mus, zu jener typisch amerikanischen Lehre, die nur das praktisch Brauch­ bare für „wahr" erklärt. In Deutschland berührte er sich mit dem meta­ physikfeindlichen Neukantianismus und wurde am Ende des Jahrhun­ derts die herrschende Stimmung bei den Männern der Wissenschaft, die zu gebildet und zu vorsichtig waren, um dem rohen Materialismus oder auch dem Monismus beizufallen. 2. Nirgends wird die jähe Krise, in die das Denken des Jahrhunderts mit den dreißiger Jahren fällt, so deutlich wie am Schicksal der von Hegel ausgehenden Schule. Unter der Führung dieses größten Vertreters des speku­ lativen Idealismus hatte der deutsche Geist alle Weiten und Tiefen der Welt durchmessen und zusammengeschaut, — jetzt plötzlich bemächtigte sich der Jüngeren ein Gefühl der Übersättigung am Transzendenten, das sich in einer

scharfen Hinwendung zu nüchterner Tatsachenforschung aussprach und die Menschen antrieb, mit den Mitteln der jungen Geschichts- und Naturwissen­ schaft dem Gottesglauben und vor allem dem dogmatischen Christentum zu Leibe zu gehen. Es bedeutete eine Revolution, als Ludwig Feuerbach (t 1872; „Wesen des Christentums", „Wesen der Religion") in gefährlicher Übertreibung Schleiermacherscher Gedanken es unternahm, die Religion als einen ganz und gar innerseelischen Vorgang zu erklären, als ein Produkt der Sehnsucht des Menschen, über die ihm von der Natur gesetzten Schranken binauszukommen. „Der Mensch glaubt Götter nicht nur, weil er Phantasie und Gefühl hat, sondern auch, weil er den Trieb hat, glücklich zu sein. Er glaubt ein seliges Wesen nicht nur, weil er eine Vorstellung der Seligkeit hat, sondern weil er selbst selig sein will; er glaubt ein vollkommenes Wesen, weil er selbst vollkommen zu sein wünscht; er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst nicht zu sterben wünscht. Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor; die Götter sind die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen; sein Gott ist der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeits­ trieb des Menschen."

Dann war also der „Inhalt und Gegenstand der Religion ein durchaus menschlicher, das Geheimnis der Theologie die Anthropologie"; dann handelte es sich beim Glauben an Gott und das Jenseits lediglich um eine „Illusion". Feuerbach hat sich in der Tat zu solchen Folgerungen bekannt. Er forderte, daß man sich von diesen Wahnbegriffen frei mache und endlich das „ungetrübte Licht der Wahrheit" hereinlasse: — daß nämlich echte Sitt­ lichkeit nur in entschlossener Diesseitsgestaltung sich erfülle. An die Stelle der Religion habe die gesunde Selbstliebe zu treten, die nach der eigenen Glückseligkeit trachtet, erweitert zur allgemeinen Menschenliebe, die dem irdischen Wohl der Menschheit dient.

422

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

Feuerbachs Religionstheorie übertrifft an Verständnis für das Wesen der Religion alles, »vaS bisher vom Boden alter oder neuer Aufklärung aus zur Erklärung der Religion vorgebracht war. Während diese Aufklärungstheorien Religion mit Weltanschauung verwechseln und deshalb auS dem Kausalitäts­ bedürfnis erklären (so auch Aristoteles mit seiner Lehre vom „unbewegten Beweger" und von der „letzten Ursache"), wußte Feuerbach, daß eS sich in der Religion um ein praktisches Anliegen des Menschen handelt und konnte deshalb die lebendigen Erscheinungsformen wirklicher Religion: Opfer, Kultus und Gebet, einleuchtend erklären. Auch erfaßte er richtig die große Rolle der Phantasie in der AuSgestalMng religiösen Glaubens. 3n Feuer­ bachs Satz: „Wie der Mensch, so seine Götter", steckt in der Tat eine kräftige Wahrheit: Die Göttergestalten emhüllen die verborgenen Wünsche und damit baS geheimste Selbst deS Menschen. Feuerbach hatte wirklich im Unterschied zu dem nüchternen Intellektualismus der Aufklärung die Religion mit der „Existenz" des Menschen in Verbindung gebracht. Und auch das muß rund­ weg zugestanden werden, daß eS sehr viele Erscheinungen von Religion gibt, für die Feuerbachs scharfblickende psychologische Kritik einfach vernichtend ist. DaS Allermeiste von dem, was sich „Religion" nennt, waS sich als Religion betrachtet und fühlt, alle Religion, die zur Befriedigung menschlicher Be­ dürfnisse da ist(biS hin zu sublimsten Erscheinungen pietistischer und mystischer Gefühlsseligkeit), die ganze eudämonistisch gemeinte Vulgärreligion, in der die Gottheit, baS Gebet und der Kultus in den Dienst menschlicher, natür­ licher Wünsche gestellt werden, fällt unter daS Verdammungsurteil seiner Kritik. Aber schon an Goethes Weltfrömmigkeit der Ehrfurcht (Wilhelm Meister, Marienbader Elegie) reicht sie nicht heran. Wie soll ein Gebet als Illusion erwiesen werden, wenn die Anweisung lautet: „Große Gedanken und ein reines Herz ist eS, was wir uns von Gott erbitten sollen." Noch weniger wird Fichtes oder deS reifen Schellings Glaube durch Feuerbach berührt. Wer aber gar aus der Bibel, auS Martin Luther oder auch aus Rudolf OttoS Buch „DaS Heilige" gelernt hat, daß Gott zunächst für und der Erhabene und Furchtbare ist, der unsern Gehorsam fordert, und der gerechte Richter, der unsern Ungehorsam straft, der lebt in einer Welt, die Feuerbach nicht geahnt hat. ' Feuerbachs Naturalismus bedeutet die Umkehrung deS Hegelschen Idealismus. Hegel wollte von der obersten Vernunft aus, von der „Idee" oder dem „absoluten ©etil" aus die sinnliche Wirklichkeit verstehen und ab­ leiten. Feuerbach will umgekehrt von dem leiblich-sinnlich existierenden Men­ schen auS Gott und die Religion als Seifenblasen der Illusion erweisen. DaS Pathos seiner Betrachtung und ihr Recht besteht darin, daß er die vom Idealismus übermütig verachtete Wirklichkeit der Natur und der Leiblich­ keit (FichteS eigensinniger Kampf gegen den Gedanken deS Schöpfers und der Schöpfung!) wieder zur Geltung brachte. Daher auch der überwältigende

§98

Beurteilung Feuerbachs — D. Fr. Strauß

423

Eindruck, den ein Dichter wie Gottfried Keller nach anfänglichem Sträu­ ben von den Vorträgen Feuerbachs empfing. Hätten diese Idealisten nicht in ihrer abstrakten Übergeistigkeit die göttliche Schöpfung der Natur verleug­

net, so hätte Feuerbach nicht „gleich einem Zaubervogel im einsamen Busch den Gott aus der Brust von Tausenden hinwegzusingen" vermocht. Auch der betörende Einfluß, den er auf die Väter der Sozialdemokratie geübt hat, und die Rolle, die er als Stifter einer ausgesprochen atheistischen Diesseits­ gläubigkeit in ihr gespielt hat, ist nur auf diese Weise zu erklären. „Feuer­ bachs Kritik ernst nehmen, aushalten und überwinden, heißt: den Ernst und die Gewissenhaftigkeit der religiösen Überzeugung bewähren" (Kurt Leese). 3. Wurde durch Feuerbach jedem Gottesglauben als einer für die Auf­ klärung der Zeit nicht mehr tragbaren Wahnvorstellung das Lebensrecht be­ stritten, so erhob sich in dem Jugendwerk des seinen Tübinger Lehrer F.Chr. Baur ungestüm überbietenden Theologen David Friedrich Strauß (f 1874; „Leben Jesu", „Der alte und der neue Glaube") die Kritik eines Außenseiters der neuen Geschichtswisienschaft gegen die Glaubwürdigkeit der evangelischen Berichte und die Kernlehre des christlichen Glaubens. Sein glänzend geschriebenes Erstlingswerk „Leben Jesu" 1835 (das ihn seine Tübinger Repetentenstelle kostete und ihm die akademische Laufbahn für immer verschloß) bedeutete die folgerichtige Anwendung Hegelscher Geschichts­ betrachtung auf die Evangelienforschung. Er geht aus von der (am Schluß entwickelten) Voraussetzung, es sei nicht die Art der Idee, „ihre ganze Fülle in ein Exemplar auszuschütten", sie verwirkliche sich vielmehr in der ganzen Geschichte der Menschheit. Also nicht das Individuum Jesus Christus von Nazareth, dessen geschichtliche Existenz er nicht bestreiten will, sondern die gesamte Menschheit ist der legitime Träger der hohen Prädikate (Zweinaturen, Gottcssohnschaft usw.), die das Dogma dem Menschen Jesus zuschreibt. Deshalb hält er die gesamte Überlieferung der Evangelien (nicht nur einzelne

Stücke, wie jungfräuliche Geburt, leibliche Auferstehung und Himmelfahrt) für durchaus ungeschichtlich. Er bekämpft die krampfhafte Bemühung der Aufklärung, durch gewaltsame Auslegung einen geschichtlichen, wunberlosen Kern aller Berichte zu retten, genau so wie die überlieferte supranaturale Wundergläubigkeit; er selbst erklärt alle evangelischen Erzählungen für Mythen, ohne zwischen Mythos, Sage und Legende zu unterscheiden und ohne die Vorarbeit einer sorgfältigen, wisienschaftlichen Quellenkritik. Die kecken Behauptungen, denen ein fester Kern richttger Beobachtungen zu Grunde lag, konnten nur deshalb so aufwühlend wirken und ein so hilfloses Erschrecken erzeugen, weil eine besonnene, wahrhaft unbefangene historische Bibelkritik damals erst eben im Entstehen war (de Wette) und die Öffentlichkeit noch nichts von ihr wußte. Sttauß ist, von der gesamten Wissenschaft seiner Zeit geächtet, später innerlich verarmt und hat in einer platten, problemlosen Kulturgläubigkeit

424

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

geendet/ so baß der junge Nietzsche ihn als Typus des satten Bildungsphili­ sters beißend verspotten konnte. Man darf allerlei radikale, halbwissenschaft-

liche Schriftsteller vom Jahrhundertende als Nachfolger seiner Denkweise be­ trachten, obwohl sie dazu fortschritten, auch die Existenz Hesu völlig zu be­ streiten. So sah der Bremer Pastor Kalthoff (f 1906, „Das Christus­ problem") in der Person Jesu eine Schöpfung der Sehnsüchte, die das römische Proletariat der beginnenden Kaiserzeit bewegten; der Philosoph Arthur Drews (-f 1934, „Die Christusmythe") wollte das Christusbild der Evan­ gelien als einen Ableger der vorderasiatischen Mysteriendichtungen von sterbenden und auferstehenben Gottheilanden erklären. Alle diese phantasti­ schen Versuche, bei denen der Wunsch der Vater des Gedankens war, sind durch die ernsthafte historisch-kritische Forschung als Trugbilder entlarvt. Heinrich von Treitschke überD.Fr.Strauß. „Er versuchte nicht einmal den Charakter des — rein wissenschaftlich betrachtet — größten aller Männer barzustel­ len und zu zeigen, warum dies wunderbare kurze Leben die Weltgeschichte in zwei Teile gespalten und eine schlechthin unvergleichliche Wirkung auf die Geschicke der Menschheit ausgeübt hat. Statt eines Lebens Jesu gab er lediglich scharffinnige kritische Einzeluntersuchungen, die in beständiger Wiederholung immer nur das eine erwiesen, daß die Evangelien keine reine Geschichte enthalten — ein armseliges Ergebnis, woran denkende Historiker nie gezweifelt hatten. Die bewegende Kraft aller Geschichte, die Macht der Persönlichkeit und ihres lebendigen Schaffens, blieb diesem Kritiker unfaßbar; an ihre Stelle setzte er ein doktrinäres mythenbildendes Prinzip, das aus nichts etwas geschaffen haben sollte, mithin noch viel wunder­ barer war als die Wundergeschichten der Evangelien." Dennoch enthalten die Aufstellungen von Feuerbach, Strauß und ihren Nachfolgern wichtige Wahrheitsmomente. Feuerbach nötigt uns zu ernster Beachtung der Tatsache, daß jede menschliche Aussage über Gott an die Schranken menschlicher Vorstellung und Ausdrucksweise gebunden bleibt und in Symbolen reden muß, die man nicht mit der abstrakten Sprache weltlicher Wissenschaft verwechseln und nicht als absolute Begriffe nehmen darf. Sttauß aber bleibt das Verdienst, mit radikaler Entschlossenheit das Problem Religion und Geschichte neu gestellt und eine gründliche, wissen­ schaftliche Durchforschung der urchristlichen Überlieferung eingeleitet zu haben.

Das wahre Wesen christlichen Glaubens, in dem der Mensch von einer überlegenen Wirklichkeit erfaßt, in die Entscheidung gestellt und oft gegen sein Wünschen und Wollen geführt wird, war dem blutleeren Intellektualis­ mus dieser Männer doch ebenso verschlossen wie die Geschichtsmächtigkeit einer großen Persönlichkeit. Es ist kein Wunder, daß Feuerbach und Strauß

zuletzt beim Atheismus und Materialismus angekommen sind. 4. Bei der materialistischen Naturphilosophie landete in der Tat alles, was in diesen Jahren mit Christentum und Kirche zerfiel. Es rächte sich nun, daß unter den Einwirkungen der Romantik die Naturforschung in Deutschland

§98

Kritik an Strauß — Materialismus, Haeckel

425

sinter der des Auslandes zurückgeblieben und vielfach zur Schleppenträgerin der Philosophie gemacht worden war. Mit einer unerhörten Plötzlichkeit unterwarf sich jetzt das Denken und Forschen dem Zwang ihrer Methoden; zugleich aber wurde die Bahn frei für eine neue Welle radikaler Aufklärung, die wieder starke Anregungen von Frankreich und England empfing. Darwins (t 1882) Deszendenztheorie, seine Lehre von der „natürlichen Zuchtwahl" mußte den Hintergrund abgeben für eine umfangreiche weltanschauliche Schriststellerei, die alle Welt- und Daseinsfragen im Sinne eines dogmatischen Materialismus zu lösen unternahm. Moleschott (t 1893; Kreislauf des Le­ bens), Vogt (t 1895; Köhlerglaube und Wissenschaft) und vor allem Ludwig Büchner (f 1899; Kraft und Stoff 1855) leugneten Gott, Jenseits und Un­ sterblichkeit; ihnen waren Geist und Seele lediglich Funktionen der Gehirn­ substanz, die Gedanken nur „Schweiß der Materie", der Mensch selbst erschien als „die Summe natürlicher körperlicher Anlagen und äußerer Einwirkungen". Die richtige, erst heute wieder ganz ernst genommene Erkenntnis, daß Körper, Seele und Geist in einem gesetzmäßigen Zusammenhang stehen, wurde hier zur Entwertung alles Rationalen und Irrationalen mißbraucht. Ein Kritiker spottete später mit Recht, jenes Geschlecht habe viel Geist verbraucht, um nachzuweisen, daß der Mensch keinen Geist besitze. Aber eben an der Leugnung eines eigenständigen Seelenlebens, an der ftivolen Herabwürdigung des den­ kenden Geistes ist dieser naturalistische Monismus, der tatsächlich in den fünfziger Jahren die Philosophie breitester Schichte war und noch um die Jahrhundertwende in Ernst Haeckel (f 1919; Welträtsel) einen weithin wirksamen Vertreter fand, schließlich gescheitert. In der wissenschaftlichen Welt hat sich Haeckel nie recht durchsetzen können; nach den ersten Überrumpelungssiegen traf ihn dort bald überlegene Abferti­

gung. Der große Physiologe Du Bois-Reymond (f 1896), selber ein über­ zeugter Anhänger der Darwinschen Entwicklungstheorie, deren Schwächen und Schwierigkeiten er aber nicht verkannte, hat die voreilige dogmatische Weiterbildung der Darwinschen Lehre durch Haeckel schroff abgelehnt; ins­ besondere hat er die phantasievolle Aufstellung von Stammbäumen, in denen die Entwicklung von den niedersten Lebewesen bis zum Menschen vorgeführt wurde, unbarmherzig verspottet: „Jene Stammbäume unseres Geschlechtes, welche eine mehr künstlich angelegte als wissenschaftlich geschulte Phantasie in fesselloser Überhebung entwirft, sie sind etwa so viel wert wie in den Augen

der historischen Kritik die Stammbäume homerischer Helden. Will ich ein­ mal einen Roman lesen, so weiß ich mir etwas Besseres als Schöpfungs­ geschichten." All den pseudophilosophischen Aufstellungen dieses kecken Monis­ mus stellt er sein berühmtes „Ignoramus — Ignorabimus" gegenüber. Die groben kirchengeschichtlichen Entgleisungen Haeckels hat Friedrich Loofs in seinem „Anti-Haeckel" an den Pranger gestellt, indem er nachwies, daß Haeckel sich abgeschmackteste Märchen von einem unwissenden ausländischen

426

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

Sudler hat aufbinben lassen, statt irgend einen ernsthaften deutschen Kirchen­ historiker einzusehen. Vernichtend aber sind die Urteile, die von philosophischer Seite über ihn gefällt wurden. Friedrich Paulsen beendet seine Streitschrift „Ernst Haeckel als Philo­ soph" mit folgenden Sätzen über die „Wclträtsel": „Ich habe mit brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres Volkes. Daß ein solches Buch möglich war, baß «S geschrieben, gedruckt, gekauft, gelesen, bewundert, geglaubt werden könnte bet dem Volk, daS einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer besitzt, das ist schmerzlich. Indessen: nosce te ipsum!" (Philosophia militans S. 211.) Wilhelm Wunbt endlich schreibt in der „Kultur der Gegenwart" über Haeckels Philosophie: „Sie bewegt sich in einer Reihe willkürlicher Einfälle und unbestimmter Analogien, bei denen man sich trotz moderner Anspielungen in die Zeit zurück­ versetzt fühlt, wo die Kunst des strengen logischen Denkens noch nicht entdeckt war und die positive Wissenschaft sich noch auf ihrer KindhettSstufe befand. — Grade in diesen Eigenschaften besitzen aber die „Welträssel" doch wieder einen typischen Wert. Sie zeigen an einem mustergültigen Beispiel, baß, wenn jemand, ohne sich viel um das zu kümmern, was die Geschichte des Denkens bis dahin geleistet hat, frisch und ftöhlich drangeht, sich seine Weltanschauung nach eigenem Bedürfnis zu modeln, er immer wieder da anfängt, wo auch die Philosophie angefangen hat, mit Dichtung und Mythus."

Haeckel wurde dadurch gefährlich, daß ihm auf der Höhe beS Jahrhunderts «ine ausgesprochen egoistische und praktisch-materialistische Gesinnung ent­ gegenkam, die von ihm ihre theoretische Rechtfertigung erwartete. Die Men­ schen dieser auf Gewinn und Besitz eingestellten Zeit hörten eS gern, wenn ihnen gesagt wurde: „Jeder tut, waS seiner Natur entspricht, und folgt den Anstößen, welche ihm entweder diese oder äußere Umstände erteilen; er tut waS ihm vorteilhaft, passend für sich selbst und sür die Erreichung seiner Zwecke erscheint" (Büchner). Daß ihnen durch die Zurückführung aller geisti­ gen und seelischen Vorgänge auf Umlagerungen der Atome die Freihest der sittlichen Entscheidung und damit recht eigentlich ihr Adel genommen wurde, ließen sie hingehen. Schlimm aber mußten die Folgen sein, wenn diese zu­ nächst im liberalen Bürgertum sich auSbreitende Lebensauffassung, die Feuer­ bach einmal in die Worte faßte: „Menschliche Kost ist die Grundlage mensch­ licher Bildung und Gesittung. Wollt ihr daS Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen. Der Mensch ist, was er ißt", die große Masse der Arbeiterschaft ergriff, deren letzter Halt bisher ein starker GotteSglaube gewesen war. Mit dem Aufkommen deS marxisti­ schen Sozialismus hat sich diese Wendung vollzogen. 5. Von Anfang an ist daS Heranwachsen der Großindustrie und Groß­ wirtschaft begleitet gewesen von sozialistischen Unterströmungen. 2lber erst dieses Jahrhundert der rasend schnellen Technisierung, daS Jahrhundert des

§98

Kritik an Haeckel — Karl Marx — Schopenhauer

427

Darwinismus, der die Gesetze des Kampfes um bas Dasein schonungslos enthüllte, rückte die soziale Frage breit in den Vordergrund. Entwurzelt und in großen Städten zusammengedrängt, der Willkür deS Kapitalismus auSgeliefert und — wie eS schien — von Staat und Kirche im Stiche ge­ lassen, schrie daö Proletariat nach einer Wegweisung in seiner Not. Daß ihm diese mit den Denkmitteln deS ökonomischen Materialismus von einem Juden gegeben wurde, ist baS Verhängnis der Völker geworden. Durch den Juden Karl Marx (f 1883) erfolgte der Einbruch deS Materia­ lismus in den Bereich der Geschichtsbetrachtung und der politischen Wissen­ schaft. AuS dem Studium der Vergangenheit folgerte er, „daß RechtSverhälmifse wie Staatsformen weder auS sich selbst zu begreifen sind, noch auS der sogen, allgemeinen Entwickelung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln. Die Produktions­ weise deS materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen LebenSprozeß überhaupt." Hinter allem, was im Laufe der Jahrtausende an Staatsschöpfungen und Rechtssatzungen, an Weltanschauungen und Reli­ gionen geworden ist, hinter diesem ganzen „Oberbau" steht die zwingende Gewalt der wirtschaftlichen Vorgänge; ihre Veränderung wandelt auch die Ideenwelt, bei ihnen muß einsetzcn, wer die Menschheit aufwärts führen will. DaS Proletariat aber weiß, daß der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsform und damit aller von ihr getragenen Kultur nahe bevorsteht; eS hat die Pflicht, sich international zusammenzuschließen, um den Sturz der bourgeoisen Gesellschaft revolutionär zu beschleunigen. „Die Gesetze, die Moral, die Religion, sind für ihn (den Arbeiter) ebenso viele bürgerliche Vor­ urteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken." Die Religion vor allem ist „daS Opium des Volkes". Wer sie beseitigt, reißt der Masse die letzte Binde von den Augen und verhilft ihr zur Erkenntnis ihrer wirklichen Aufgaben. Durch Lenin hat dieser Wahn eine apokalyptische Schreckensgestalt ge­ wonnen, deren Propaganda mehr als den Untergang deS christlichen AbendlandeS in ihr Programm geschrieben hat. 6. ES kennzeichnet die Vielspältigkeit deS 19. Jahrhunderts, daß in dieser vorwärts stürmenden und fortschrittsgläubigen Zeit eine Stimme sich er­ heben und starken Widerhall finden konnte, die dem Dasein jeden Sinn und jedes Ziel absprach und das Leid als einzigen Inhalt des Lebens verkündete. Arthur Schopenhauer (f 1860; „Die Welt als Wille und Vorstellung") fand daS eine die Welt tragende Prinzip nicht im Bereich der Erscheinungen, dic nur in der Vorstellung des Menschen existieren, sondern in einem dunklen unbewußten Willen, der aller Wirklichkeit zugrunde liegt. Ungestüm und ziellos stürzt sich der ewige Willensdrang inS Dasein, er „objeftiviert" sich im Menschenleben und in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und kann doch an ihnen niemals zur Ruhe kommen. Alles Leben ist Leid, eS schwankt

428

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

zwischen schmerzhaftem Begehren und furchtbarer Leere, sobald es das Ziel seines Begehrens erreicht. Unb die Welt ist ein Ort der Qual, der lediglich vorübergehende Betäubung in der Kunst (Musik) gestattet; eine Aufwärts­ bewegung der Kultur und eine Verbesserung des Menschen gibt es nicht. Auch der Tod bringt keine Erlösung, denn hinter ihm steht die Seelenwande­ rung. Nur eines bleibt: die Verneinung des Willens zum Leben. Sie allein gibt dem Einzelnen Frieden, „gänzliche Meeresstille des Gemüts, un­ erschütterliche Zuversicht und Heiterkeit". Sie allein gewährleistet der Mensch­ heit und mit ihr der Welt bas Untergehen im ewigen Nichts, den Trost der Vernichtung. Schopenhauers Lehre von der Willensverneinung mit ihrer zermalmenden Menschen- und Kulturkritik steht fremdartig vor dem Hintergründe dieses Zeitalters voll leidenschaftlichen Tatendranges. Die Naturwissenschaften hatten den alten mythisch geformten Glauben zerstört; nun standen die vielen, denen der Materialismus keinen Ersatz bot, vor dem Nichts, zu dem Schopenhauer in weitgehender Übereinstimmung mit dem Buddhismus hinführte. So wurde er, obwohl sein Hauptwerk schon 1819 vorlag, der Modephilosoph erst der siebziger und achtziger Jahre. Dem vulgären, kulturseligen Christen­ tum, zumal der wissenschaftlich Gebildeten, hat seine Lehre schwer zu schaffen gemacht; denn sie mißdeutete Jesus „als das Symbol oder die Personifika­ tion der Verneinung des Willens zum Leben", von dem das spätere Christen­ tum in plattem Optimismus sich entfernt habe, und verwies über ihn hinaus auf den konsequenteren Pessimismus der indischen Religionsphilosophie. Damit entsprach sie der Resignation jener Jahre, die wohl Religion begehrte, aber zur evangelischen Tapferkeit Luthers nicht hinzufinden vermochte. — Auf Richard Wagners Denken und seine letzten Werke („Tristan und Isolde", „Ring des Nibelungen", „Parzival") hat Schopenhauer einen starken Ein­ fluß ausgeübt. 7. Dieser Schopenhauersche Pessimismus, an dem um die Jahrhundert­ mitte in den Zeiten der Reaktion und Stagnation weite Kreise der „Gebil­ deten" sich ästhetisch ergötzten und berauschten, hat den schärfsten und kühn­ sten Denker, den rücksichtslosesten Kulturkritiker der 2. Hälfte des Jahrhun­ derts, Friedrich Nietzsche (1844—1900), an dem einst vergötterten Meister R. Wagner völlig irre gemacht und ihm den Anstoß zur Ausbildung seiner eigenen Gedanken gegeben, mit denen er als prophetischer Gesetzgeber eine neue Zeit heraufzuführen hoffte. Weil Nietzsche kein philosophisches System hinterlassen hat, meinte man lange Zeit, ihn als philosophischen Denker nicht ernst nehmen zu müssen, ihn als „Dichter" und „Künstler" beiseite schieben zu können. Das geschah unter dem Banne einer pedantisch schulmäßigen Vor­ stellung von Philosophie, als sei sie ein künstlich geschmiedetes System von abstrakten Gedanken, während in Wirklichkeit jede echte Philosophie ein aus heißer Liebe zur Weisheit geborenes leidenschaftliches Suchen nach dem Ge-

§98

Die Schopcnhaucrmobe — Nietzsches Grundgedanken

429

heimniü des Lebens und den Kräften zur Lösung der Lebcnsrätsel sein sollte, so baß der echte Philosoph immer ein Stück vom Seher und Lebensdeuter in sich trägt. Nietzsche hat in der Tat kein philosophisches System bauen wollen: „Ich haste alle Systematiker und gehe ihnen aus dem Wege; denn der Wille zum System ist der Wille zur Unehrlichkeit." Er spürte ganz richtig, daß der Systematiker immer in Versuchung steht, die rätselhafte, widerspruchsvolle Wirklichkeit sowohl der Welt draußen wie die unserer Seele zu fälschen, indem er gewaltsam zusammenbiegt, was nicht zusammen paßt, oder einen Teil der Wirklichkeit verdeckt oder verdunkelt, weil er sich in das System nicht fügen will. Er hat deshalb, während er Goethe auftichtig verehrte, Kant, Fichte und Hegel vorschnell abgelehnt und niemals gründlich studiert. Der Positivist begnügt sich aus Mangel an intelleftuellem Mut mit der Fest­ stellung der vermeintlich positiven Tatsachen der inneren und äußeren Er­ fahrung. Nietzsche verzichtet auf jede Metaphysik aus einer Art von intellek­ tueller Redlichkeit: er will sich nicht voreilig auf ein System festlegen und bei ihm beruhigen. Er ist, um einen beliebten modernen Ausdruck zu ge­ brauchen, der ausgeprägteste Typus der „dynamischen", der kraftvoll vor­ wärtsdrängenden Art des Denkens und der abgesagte Feind jeder Art von „statischem" Denken, das sich mit vermeintlich feststehenden Ergebnissen behaglich beftiedigt.Er ist zu sehr erfüllt von dem Gefühl der unergründlichen Tiefe der Wirklichkeit, als daß er sich mit einem System, einem ftemden oder eigenen, beruhigen könnte: „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir ver­ wandt." In ihm lebt der leidenschaftliche Protest gegen alle Verlogenheit und Feigheit. Die äußersten Formulierungen sind ihm die willkommensten, weil sie am ersten seinem sehnsüchtigen Suchen Ausdruck geben. Um schlimme Mißverständnisse ist der tapfere Mann dabei ebensowenig bekümmert wie Martin Luther in vielen seiner Äußerungen. Er haßt als Künstler das will­

kürliche Konstruieren aus leeren unanschaulichen Begriffen. Als unerbitt­ licher Wahrheitssucher aber empört er sich über die unechten, konventionellen Begriffe der Bildung und Moral. Sein angeborener Sinn für geistige Tapfer­ keit macht ihn im Zeitalter des aufsteigenden Sozialismus und der Ver­ massung der Menschen zum radikalen Aristokraten, zum Verächter der Masse und ihrer konventionellen Moral. Er predigt das Pathos der Distanz, aber nicht im Sinne eines Vorzuges im Genießen (er weiß wie Goethe „ge­ nießen macht gemein"), sondern im Sinne eines Vorzugs harter Pflichten: „Zeichen der Vornehmheit: Nie daran denken, unsere Pflichten zu Pflichten für jedermann herabzusetzen; die eigene Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht teilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen." Diese Sehnsucht findet ihren Ausdruck in der be­ rühmten Formel vom Übermenschen, den er als das Ziel der Menschheits­ geschichte verheißt. Wer Nietzsche für einen Individualisten im Sinne Stirners

430

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

hält, mißversteht ihn. Im „Zarathustra" predigt er den Gehorsam als die höchste Mannestugenb: „Auflehnung — das ist die Vornehmheit am Skla­ ven. Eure Vornehmheit sei Gehorsam! Euer Befehlen selber sei ein Ge­ horchen! Einem guten KriegSmann klingt 'du sollst' angenehmer als 'ich will'. Und alles, waS euch lieb ist, sollt ihr euch erst noch befehlen lassen." Im Mittelpunkt seiner späteren Gedanken steht die Unterscheidung von Sklavenmoral und Herrenmoral. Als Jmmoralisten freilich darf man ihn deshalb nicht schelten. Den Gegenbeweis bildet schon der Gesang von Kind und Ehe im „Zarathustra". Die überströmenden Lobpreisungen der großen geschichtlichen Typen vom Herrenmenschentum, baö bis zu den großen Verbrechern reicht, müssen verstanden werben als Protest gegen die Maske der Heuchelei, in die bas allermeiste dessen sich verkleidet, waS üblicherweise als Moral gilt. 3m tiefsten Grunde seiner Seele war er ein Sehnsüchtiger und ein Liebender, wie seine Hymnen und Lieber ergreifend zeigen. Und seine tiefste Sehnsucht ging aus echte Ehrfurcht. Dafür hat er mehr als ein bewegend 'großes Zeugnis abgelegt. Am schönsten vielleicht „Jenseits von Gut und Böse" 263: „Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auSzuforschcn, der wirb sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den letzten Wert einer Seele, die unverrückbare eingeborene Rangordnung, zu der sie gehört, festzustellen: er wird sie auf ihren Instinkt der Ehrfurcht hin auf die Prob« stellen. Die Gemeinheit mancher Natur spritzt plötzlich wie schmutziges Wasser hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäß, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des großen Schicksals vorübergetragen wirb; und andrer­ seits gibt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern beS AugeS, ein Stille­ werben aller Gebärden, woran sich ausspricht, baß eine Seele die Nähe des DerehrungSwürbigsten fühlt. Die Art, mit der im Ganzen bisher die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wirb, ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitten, bas Europa dem Christentum verdankt: solche Bücher der Tiefe und der letzten Bebeussamkeit brauchen zu ihrem Schutz «ine von außen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von Dauer zu gewinnen, welche nötig sind, sie auSzuschöpfen und auSzuraten."

Den Übermenschen hat er selber als schärfsten Gegensatz zur Idee des Christentums betrachtet.Dieses hat er deshalb als das große Hemmnis auf dem Weg zum Übermenschen ingrimmig gehaßt und bekämpft, insbesondere

den Apostel Paulus hat er, wie gleichzeitig Lagarde, völlig verkannt und bitter gehässig abgelehnt. Und doch liegt eine tiefe Tragik darin, daß er seinen Sehnsuchtstraum vom Adel der Vornehmheit im Kampfe gegen ein Schopenhauerisch-bubbhistisch mißverstandenes Christentum als ausgesprochener „Antichrist" glaubte verwirklichen zu müssen, wo doch allein die echte christ­ liche Demut den Adel der Vornehmheit verkörpert, während ein naturalistisch verstandenes Übermenschentum nichts als übelste Karikatur ist. In Wirklich­ keit ist bas Beste an Nietzsches Ethik, seine absolute Verwerfung des Trachtens nach Glück, seine Ehrfurcht und seine Sehnsucht nach hohem, freien, stolzen

§98

Nietzsche und baS Christentum

431

Menschentum, auf dem Boden gewachsen, den Luthers Lehre von der Frei­ heit eines Christenmenschen bereitet hat. So finden sich denn auch in seiner schärfsten Kampfschrift,im „Antichrist",erschütternb große Stellen, die deutlich zeigen, baß er JesuS Christus als „die gute Botschaft" wenigstens ahnte und sein hitziger Kampf, mochte er eS auch selber nicht wissen, im Grunde der Verweltlichung des landläufigen Christentums galt. Den scharfen Gegen­ satz der echten Gestalt und Botschaft Christi gegen dies verweltlichte Christen­ tum hat er tiefer gespürt als alle Theologen seiner Zeit, ausgenommen einzig Kierkegaard, von dem Nietzsche aber nichts wußte. „Im Kampf gegen die Kirche und daS Christentum seiner Zeit entdeckt also hier Nietzsche wieder die radikale Ausschließlichkeit, die Dynamik deS ursprünglich Christlichen, vor der sich alle gewöhnliche Wirklichkeit in ein schattenhaftes Gleichnis verwan­ delt und die in dem Wissen lebt, daß dieses neue Leben notwendigerweise in einem tödlichen Konflift mit dem gewöhnlichen Leben enden muß" (Ernst Benz*). Eine „Umkippung ins Christliche" war im Anzug: Der „Antichrist" kündigt sie an; denn nur „weil er sich gegen einen inneren Feind wehren muß", bekämpft er daS Christentum mit so leidenschaftlichem Haß (Th. Ziegler). 8. Die Wissenschaft hatte sich im Verlaufe deS Jahrhunderts auf weite Strecken in einen heftigen Gegensatz zur christlichen Offenbarung hineinge­ steigert und der Kirche und dem Christentum schwere Wunden geschlagen. Sie hatte die Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen, wohl gar die Sinn­ losigkeit allen GotteSglaubenS behauptet und mit einem enormen Kraft­ aufwand eine neue, daS Religiöse auSschaltenbe Lösung der DaseinSftage in Angriff genommen. DaS Evangelium aus dem deutschen Lebensstrom zu tilgen, ist ihr doch nicht gelungen. Am Verhalten der bobenbeständigen Be­ völkerung zeigte sich, wie eng im Laufe eines Jahrtausends Deutschtum und Christentum zusammengewachsen waren, wie wenig der gesunde Teil deS Volkes für den Religionsersatz von Professoren und Literaten sich ge­ winnen ließ. Und gerade unter den Stürmen deS Atheismus offenbarte sich, daß daS in der Lutherzeit geschlossene Bündnis zwischen Protestantismus und Wissenschaft ein echtes und dauerhaftes war. Die großen Historiker (Ranke, Treitschke) erhoben ihre Stimme gegen den Versuch, „die ganze wundervolle Kirchengeschichte, die so viele Jahrhunderte mit Geist und Leben erfüllt hat", lediglich als eine „entsetzliche Krankheit" hinzustellen (Treitschke). Die Wortführer der nach dem ersten Schwall deS Materialismus allmählich wieder sich Gehör erzwingenden idealistischen Philosophie (Fechner, Lotze, Paulsen, Wundt, Eucken, Dilthcy) und eine Reihe bedeutender Natur­ forscher und Ärzte (Du-BoiS-Reymond, von Bergmann) betonten die *) Sri seiner Abhandlung „Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums", Z. f. Kirchen­ geschichte 1937 Heft 2/3, jetzt auch im Sonderdruck. Dort weitere Belege. Man vgl. auch unsere Anführung aus der Abhandlung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", oben S. 134.

432

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

Grenzen der Naturerkenntnis und die Unzulänglichkeit des mechanistischen Weltbildes. Hand in Hand mit ihnen arbeitete die deutsche protestantische Theo­ logie. Sie überwand die zersetzende Evangelienkritik von D Fr. Strauß und seinen Nachfolgern, indem sie die Methoden der modernen Geschichtswissen­ schaft auf die Kirchen- und Religionsgeschichte übertrug und mit den Mitteln gewissenhaftester Quellenforschung ein klares Bild vom apostolischen Zeit­ alter und vom Gange des Christentums durch die Weltgeschichte gewann. Sie gelangte von Feuerbachs Anstoß her und unter Auswertung Schleiermacherscher Gedankengänge zum Aufbau einer in die letzten Gründe des seelischen Lebens hinabsteigenden Religionspsychologie. Gegen den natur­ wissenschaftlichen Materialismus machte sie die Eigenständigkeit des geistigen Lebens geltend und die Tatsache, daß religiöse Glaubensüberzeugungen in ihrem Kern von Wandlungen des wissenschaftlichen Weltbildes nicht berührt werden können. Gegenüber dem Dogma des historischen Materialismus ver­ wies sie auf die großen Knotenpunkte religiöser Entwicklung, auf die christ­ lichen Genien von Paulus bis Luther, deren Fühlen und Denken aus Klassen­ kämpfen und ökonomischen Interessen schlechterdings nicht ableitbar ist. Dem Schopenhauerschen Pessimismus stellte sie den neuen und tiefer gesehenen Lebenstrotz Luthers gegenüber und entkräftete mit einwandfreien Belegen Nietzsches Behauptung, das Wesentliche am Christentum sei die Weltverneinung. Gerade in diesem Jahrhundert erbitterter Auseinandersetzung ist die deutsche protestantische Theologie zu wissenschaftlichem Weltruhm empor­ gewachsen. Um so mehr muß es erstaunen, daß all dieser Arbeit der letzte Erfolg, zu dem sie doch hinstrebte, die unmittelbare und wirkungsvolle Durchdringung des Geisteslebens der Zeit mit evangelischem Glauben, nicht beschieden gewesen ist. Man versteht dieses Versagen nur, wenn man sich mit aller Deutlichkeit vor Augen führt, wie sehr das ganz nach außen gewandte Jahr­ hundert sich gegen alle Besinnung auf die „Hinterwelten", gegen alle philo­ sophische und religiöse Berührung der letzten Fragen zur Wehr setzte. Es besteht heute kein Zweifel mehr, daß über der unerhörten Inanspruchnahme durch technische, wirtschaftliche und politische Aufgaben den Menschen damals gewisse innere Organe verkümmert sind. Dazu kam die Abneigung des indi­ vidualistischen Liberalismus gegen den Gemeinschaftsgedanken, die seit Börne und Heine von jüdischen Literaten planmäßig gefördert und zum Haß gegen alle gewachsene Form, nicht zuletzt gegen die Kirche gesteigert wurde. Nur ein in seinen Gliedern wahrhaft einiger, fest um das Evangelium ge­ schlossener Protestantismus hätte sich gegen solche Widerstände siegreich durchsetzen können. Aber eben diese Einigkeit war nicht vorhanden. Die verhängnisvolle Auf­ spaltung in „positiv" und „liberal" wurde während des Jahrhunderts nicht

Leistung und Versagen der Theologie

433

überwunden. Die „positive" Theologie sah die vom Zeitgeist drohende Ge­ fahr, sie meinte ihr durch klare Herausstellung des Offenbarungscharakters deS Christentums und durch genaue Absteckung der Grenzen zwischen Bibel­ glauben und weltlicher Wissenschaft begegnen zu sollen, geriet darüber aber in einen verhängnisvollen Rückzug aus dem drängenden Leben der Zett und verlor den Zugang zu wetten Schichten deS Volkes, sowohl zur Oberschicht der Gebildeten wie zur handarbeitenden Masse. Die „Liberalen" wiederum, denen vor allem die glänzenden Leistungen der neueren protestantischen Theo­ logie zu verdanken sind, büßten bei ihrem Bestreben, die Fühlung mit den Methoden und Ergebnissen der „vorauSsetzungSlosen" Forschung unbedingt festzuhalten, an religiöser Kraft und Vollmacht ein. Der Unterschieb zwischen OffenbarungSglaube und idealistischer Religionsphilosophie wurde nicht selten verwischt, Luthers christliche Freiheit ost yu einer naiven Lebensgläubigkeit verharmlost. Die meisten dieser freieren Theologen haben die Tatsache, daß christlicher Glaube nicht religiöse Weltanschauung, sondern GotteSkrast der Er­ lösung ist, nicht deutlich genug erkannt. Theologie und Gemeindeglaube kamen nicht zu gegenseitiger Befruchtung und Reinigung zusammen. Der Gemeindeglaube wehrte sich in unevangelischer Ängstlichkeit und Buchstaben­ anbetung gegen jede, auch die ehrfürchtig gemeinte Bibelkritik. Die Theologie aber vermochte, trotz aller auftichtigen Bemühung, der Gemeinde daS ver­ pflichtende und tragende GotteSwort in der Geschichtsgestalt der Bibel nicht überzeugend aufzuweisen. So war die an schönen Einzelleistungen überreiche Arbeit deS wissenschaft­ lichen Protestantismus doch nicht imstande, diesem Jahrhundert ein wttklich erlösendes Wort zu seinen tiefsten Fragen zu schenken. ES bedurfte erst eines Umbruchs der Zeiten, um eine Wandlung anzubahnen. Trotzdem wäre eS kurzsichtig, die gewaltige gewissenhafte Leistung dieser historisch-kritischen Theologie zu schellen oder auch nur zu verkleinern. Man kann von Einem Geschlecht nicht Alles verlangen. Jene Generation von Theologen hat die ihr gestellte Aufgabe der historischen Bibelforschung ehrlich angefaßt und nach Menschenvermögen gelöst. DaS wttd im Ausland heute noch voll an­ erkannt und darf auch nicht verloren gehen.

§ 99. Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert*).

1. Die Aufklärung hat nicht nur auflösend und zersetzend, sie hat auch auflockernd und befteiend gewirkt. Die harten dogmatischen Bindungen *) Für diesen ganzen § bitte ich zu vergleichen daS bevorstehend« (mir in der Handschrift z. T. schon zugänglich gemachte) Buch von Kurt Leese: „Der Protestantismus im Wandel der neuen Zeit, Texte und Charakteristiken zur deutschen Geistes- und Frömmigkeitsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart." Außerdem Horst Stephan: „Die Geschichte der evangelischen Theologie fett dem deutschen Idealismus" u. F. Kattcnbusch: „Die deutsch« evangelische Theolo­ gie seit Schlciermacher" I6. 28 Schuster, Kircheugeschichte

434

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

mußten fallen, wenn eine Bibelwissenschaft und eine wirkliche Dogmen­ geschichte entstehen sollte. Die Aufklärung hat diese Schranken zerbrochen und damit den Grund zu der historischen Kritik gelegt, ohne die wir und jetzt Theologie als Wissenschaft nicht mehr denken können. Daß dabei die Bedeu­ tung der beiden großen Tatsachen Offenbarung und Glaube zunächst ver­ dunkelt wurde, liegt in den engen Schranken menschlicher Art beschlossen (Leibnizens Lehre von den compossibilia; kein Mensch, auch keine Generation kann alles gleichzeitig miteinander leisten!) und bars und nicht verführen, die zellgeschichtliche Notwendigkeit-dieser Leistung zu verkennen. Der eigentliche Begründer dieser kritisch arbeitenden und geschichtlich orien­ tierten Theologie ist Johann Salomo Semler (1725—91, Professor der Theologie in Halle). Durch die bedeutsame Unterscheidung von Theologie und Glaube sichert er sich die Möglichkeit unbefangener wissenschaftlicher Kritik. Er entdeckt die natürliche Entstehung des Kanons der biblischen Schriften und betont den unterschiedlichen Wert der einzelnen Bücher. Mit verblüffender Sicherheit erkennt er schon bad Wesentliche am Prozeß der Kanonsbildung: „Die Bischöfe tauschten die bisher einzeln baseienden Urkunden auS, und so entstand eine Sammlung aller jener Urkunden unter dem Namen Kanon, oder ein kllchliches Verzeichnis aller der Schriften, welche die Bischöfe als rechtmäßige Urkunden wollten gelten lassen." Don jetzt an verdrängt daS historische Interesse, zunächst vor­ züglich auf die Bibel gerichtet, die einseitig betriebene Dogmatik. Dieser Vor­ gang war nötig und nützlich. Es waren verborgene Schätze der geschichtlichen Überlieferung ans Licht zu ziehen, kritisch zu ordnen und auszuwerten. Die Fruchtbarkeit der hier in Angriff genommenen Arbeit wird uns erst dann voll bewußt, wenn wll sie mit der Unfruchtbarkeit der gleichzeitigen, unter dem Einfluß idealistischer Philosophie (Schelling) betriebenen spekulativen Theo­ logie der Zeitgenossen SchleiermacherS vergleichen. Don ihr ist nichts übrig geblieben als einige ehrwürdige, aber verstaubte Namen. Dagegen haben ausgesprochene Rationalisten Werke von bleibendem Wert geschaffen. GeseniuS (1786—1842) hat mit seinem hebräischen Wörterbuch, das in immer neuer Bearbeitung bis in die Gegenwart ragt, und mit seiner Gram­ matik (GeseniuS-Kautzsch) der ganzen alttestamentlichen Wissenschaft die solide philologische Grundlage gegeben. Für bas Neue Testament haben Winer (1789—1858) mit seiner Grammatik des neutestamentlichen Zeitidioms und Wilke (1788—1854) (Wilke-Grimm) mit seinem lateinischen Wörterbuch zum Neuen Testament (Clavis NoviTestamenti Philologica) die Zusammen­ arbeit von Theologie und Philologie für die Erforschung deS Urchristentums verheißungsvoll eröffnet und den wissenschaftlichen Charakter der Bibelarbeit gesichert. Derselbe Winer hat mit seiner „Comparativen Darstellung des Lehr­ begriffs der verschiedenen christlichen Kllchenparteien" ein noch heute nütz­ liches Hilfsmittel zum Quellenstudium der Symbolik geschaffen. Und wenn

§ 99

Die Theologie der Rationalisten — Nachwirkung Schleiermachers

435

auch das Resormationsjubiläum von 1817 bewies, daß man damals bas Tiefste und Beste von Luther noch nicht wieder entdeckt hatte, — feierte man ihn doch wesentlich als den Erlöser vom Joche des Papsttums und den Be­ gründer neuzeitlicher Kultur — so haben doch Männer der Aufklärung den Anfang gemacht mit der Erforschung der deutschen Reformation: Bretschneider (1776—1848) begründete die große Quellensammlung des Cor­ pus Reformatorum, in der zunächst Melanchthons Werke erschienen; auch mag hier schon auf de Wettes (1780—1848) Sammlung der Lutherbriefe verwiesen werden. 2. Schleiermachers Nachwirkung darf nicht überschätzt werden. An den soeben beschriebenen Leistungen der Bibelwissenschaft ist er nur wenig be­ teiligt. (Er hat den Anstoß zur kritischen Bearbeitung der Pastoralbriefe ge­ geben.) Aus der Ferne rückblickend, erkennen wir heute deutlicher seine Schran­ ken. Er hatte kein lebendiges Verhältnis zum Alten Testament. Er hatte keinen Blick für Eigenart und Bedeutung der synoptischen Evangelien; er stützte sich durchaus auf Johannes, als ob sein Christusbild das selbstverständlich histo­ rische sei. Er hat den wirklichen Luther wenig gekannt, wurde auch nicht durch die Kantische Philosophie zum Verständnis der erschütternden Majestät des Ge­ setzes und damit zum vollen Verständnis der Erlösung geführt. Er war zu stark ästhetisch gestimmt, um Kants erhabene Ethik voll zu würdigen. Vor allem aber war er ganz überwiegend spekulativ eingestellt. In ihm lebte eine tiefe, leidenschaftliche Liebe zum System (dagegen Nietzsches Warnung vor den Systematikern!) und zum vorzeitigen Ausgleichen und Harmonisieren. Und doch darf seine Wirkung auch nicht unterschätzt werden. Allein die Tatsache, daß dieser Mann, trotz seiner Liebe zur Philosophie (seine PlatoÜbersetzung!), nicht nur überzeugter Prediger war, sondern auch mit Be­ wußtsein das Amt eines Theologen ergriff und ausfüllte, daß er Religion und Christentum als eine Größe eigener Art, als das Höchste und Beste, beschrieb und feierte, hat den kommenden Geschlechtern den Mut gegeben, sich als Theologen zu fühlen und theologische Arbeit zu treiben, hat somit die Theo­ logie als selbständige Wissenschaft vor dem Untergehen in Philosophie oder Historie bewahrt. Auch sind sie insofern alle von ihm bestimmt, als sie die Theologie nicht als ein Geschäft betrachten, das man mit bloß theoretischer Bemühung erledigen könne, das vielmehr eine persönliche Erfahrung, ein eigenes Jnnewerden Gottes voraussetze (Kattenbusch). 3. Die Theologen der Erweckungsbewegung (s. o. S. 414) stellen eine neue Form des Pietismus dar, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: 1. Diese Theologen stehen alle unter dem Eindruck des großen geschicht­ lichen Erlebniffes der Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft, die in der Reformationsfeier von 1817 als ein Gottesgeschenk gerühmt wurde. 2. Sie leben in einem innigen Verhältnis der Seele zu Christus (die Christus­ liebe und Christusmystik von Novalis!), sowie 3. in einem gegen die Auf28*

436

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

klärungSzeit wesentlich vertieften Sünbengefühl, so baß ihnen Jesus Christus der Heiland, Erlöser und Versöhner ist. 4. Dieser Christus wird ihnen bezeugt durch die Bibel, die sie ohne historische Kritik mit ungebrochener Gläubigkeit lesen, so daß der alte Jnspirationsglaube in neuen Formen erweckt wirb. Die mit dem geschichtlichen Erleben zusammenhängenden freiheitlichen und wirklichkeitsoffenen Kräfte der Bewegung sind leider bald durch eine künst­ liche Repristination vergangener Denk- und Lehrweise überwuchert und erstickt worben. Man wollte freilich aus Luther zurückgehen; in Wirklichkeit aber war eS mehr der Geist MelanchthonS und der von ihm abhängigen Orthodoxie der Epigonen, den man jetzt erneuerte. So entstand ein neuer KonfeffionaliSmuS, der fteilich die Derwafchenheit der Aufklärung hinter sich ließ, aber in «ine gefährliche Verengung und Absperrung vom ftischen Leben hineinführte. Die Predigt der Aufklärung war wohl ost flach bis zur Trivialität, aber wirklichkeitsnah und volkstümlich; die Kirche stand damals mitten im Volksleben. (Die Pfarrergestalten in Voß' Luise, in Goethes Hermann und Dorothea!) Der Rationalismus entsprach der natürlichen bäuerlichen und kleinbürgerlichen Denkweise. (In Hannover gab eS Revo­ lution im Kirchenvolk, als man [1862] den eingebürgerten rationalistischen Katechismus durch kirchenregimentliche Verordnung abschaffte!) Der neue KonfessionaliSmuS, der sich seiner Zeit spröde verschloß, erreichte doch nur be­ grenzte, am vorwärtstreibenden Leben wenig beteiligte Kreise. Die Nation als Ganzes begann damals, bewußt ober unbewußt, an der Kirche vorbei­ zuleben. „Der neue KonfessionaliSmuS war nicht modern genug, und er war nicht reformatorisch genug... So erhielt die neue Orthodoxie einen ängst­ lich reaktionären Zug. Kirchlichkeit wurde weithin gleichbedeutend mit Ab­ geschlossenheit gegen den Luftzug deS modernen Lebens und Denkens" (von Loewenich). Leistung und Versagen sind hier, wie ost, unlöslich miteinander verquickt. Wilhelm Löhe (1808—72), der in Neuendettelsau eine Diakonissenund Missionsanstalt von Weltruf geschaffen hat (s. ü. S. 460 u. 479), vertrat zugleich ein Kirchenideal, daS mehr katholisch als protestantisch war; feierte er doch daS Luthertum als „die rechte Mitte" zwischen den Einseitigkeiten katholischer und reformierter Kirchlichkeit und pflegte eine Liturgie, die ent­ weder dem Katholizismus ober dem hochkirchlichen Verständnis der anglika­ nischen Kirche entnommen war. —Luthers Lehre von der Kirche als einer un­ sichtbaren GlaubenSgröße wurde verdeckt durch eine naive oder anmaßende Gleichstellung dieser sichtbaren Kirche deS neulutherischen KonfessionaliSmuS mit der einen heiligen Kirche deS Glaubens. Zu dieser Katholisierung gehörte auch die übermäßige Betonung des Sakramentes als einer dem Worte min­ destens gleichgeorbneten, selbständigen Größe. (Dagegen Luther $ 53.) ES war ungesunde, unlutherische Romantik, wenn man die Taufe feierte als Einsenkung deS neuen geistlichen LebenSkeimS, das Abendmahl aber als Er-

§99

Theologie der Erweckung und des KonfessionaliSmuS

437

nährung des Auferstehungsleibes durch die verklärte Leiblichkeit Christi. Der­ selbe Vilmar, der in seiner Literaturgeschichte die große deutsche Dichtung des Mittelalters wie auch der klassischen Zeit (Nibelungenlied, Klopstock) mit tief einfühlendem Verständnis zu schildern wußte, der in seiner Person ein männliches Luthertum charaktervoll verkörperte, vertrat zugleich eine weltfremde Theologie, mit der keine neue Kirche zu bauen war. Das geistliche Amt übersteigerte er so gewaltsam, baß er die Ordination nach katholischem Vorbild als eine „sakramentale Handlung" beschrieb, die kraft der Hand­ auflegung in aller Realität den heiligen Geist verleihe und damit das Ver­ mögen, Sünde zu vergeben und zu behalten, bas Wort zu verkündigen, die Sakramente zu verwalten, und gar die nötige Weisheit zur Kirchenregierung! Diese unlutherische Zurückstellung des „Wortes" wurde vollendet durch die Überbetonung der alten Bekenntnisschriften, die jetzt eine unheil­

volle, die Wahrheit verbiegende und bas Leben hemmende Bedeutung er­ langten; stellte man sie doch in Wirklichkeit über die heilige Schrift, die nach ihrem Maße gemessen wurde. Dabei vergaß man völlig, daß die letzte und abschließende jener alten Bekenntnisschriften, die Konkordienf ormel (s. o. S. 302) vor einem solchen Mißbrauch ausdrücklich gewarnt hatte; beginnt sie doch mit der folgenden Erklärung:

„Wir glauben, lehren und bekennen, baß die einige (einzige) Regel und Richt­ schnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werben sollen, sind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Alten und Neuen Testaments Andere Schriften aber der alten ober neuen Lehrer, wie sie Namen haben, sollen der heiligen Schrift nicht gleich gehalten, sondern alle zumal miteinander derselben unterworfen und anders ober weiter nicht angenommen werben, denn als Zeugen, welchergestalt nach der Apostel Zeit und an welchen Orten solche Lehre der Propheten und Apostel erhalten worden^" Diese Einleitung schließt mit dem denkwürdigen Satz: „Die andern Symbol« aber und angezogenen Schriften sind nicht Richter wie die Heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie jederzeit die Heilige Schrift in streitigen Artikeln in der Kirche Gottes von den damals Lebenden verstanden und auSgelegt, und derselben widerwärtige (widersprechende) Lehre verworfen und verdammt worben."

Nach der unmißverständlichen Aussage dieser symbolischen Schrift sollen also die Symbole, die offiziellen Bekenntnisfchriften der Kirche, nicht mehr sein als ein Zeugnis dafür, wie zu einer bestimmten Zeit auf Grund der heiligen Schrift „strittige Glaubensartikel in der Kirche von den damals Lebenden verstanden und ausgelegt worden sind." Demnach können und sollen sie nicht für alle Zeit ohne weiteres verbindlich sein. Sie sind vielmehr zeit­ geschichtlich gebunden; dienen sie doch der Abwehr von Irrlehren, die in einer bestimmten Zeit auftreten und die Substanz der in der Bibel nieder­ gelegten Botschaft bedrohen. Die Erhebung der Bekenntnisfchriften zu rechts­ verbindlichen Lehrnormen des 19. Jahrhunderts widersprach also dem Geist und Wortlaut eben dieser Bekenntnisschriften! ES wurde auch kein Ver-

438

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

such gemacht, dieses Buchstabenjoch auf den Nacken der ganzen Gemeinde zu legen; nur den Amtsträgern wurde es aufgeladen, die dadurch in unbib­ lischer und unlutherischer Form über die Gemeinde erhoben wurden. Kein Wunder, daß ein so bibelgläubiger und ehrlicher Theologe wie Tholuck gegen Ende seines Lebens bekannte (1867): „Wir haben eine gläubige Pastoren­ kirche, doch ohne Gemeinde hinter sich." Zurückblickend begreifen wir diese Entwicklung zur „Pastorenkirche" voll­ auf. Was sollte unser Volk im realistischen Zeitalter der Naturwissenschaft und der Technik, im Zeitalter der Realpolitik Bismarcks mit einer so reaktio­ nären Theologie und Kirche anfangen! Es war doch auch wohl kein Zufall, daß die allermeisten Vertreter dieser Theologie, Vilmar und Löhe an der Spitze, auch Preußenhasser und politische Eigenbrötler waren. Der große Ansatz Schleiermachers, der Männer der Freiheitskriege (Fichte, Arndt, Stein, Jahn) und der deutschen Burschenschaft war in dieser politisch geistigen Reaktion untergegangen. Die Auswirkung dieses strengen Konfessionalimus konnte nichts anderes sein als die Vorherrschaft eines geistes- und gemüts­ armen Liberalismus im Leben der Nation. Das Endschicksal des hoch­ begabten D. Fr. Strauß, dessen Jugendwerk vielleicht das meiste zur wissen­ schaftlichen Überwindung der Aufklärung geleistet hat, ist dafür ein über­

zeugender Anschauungsunterricht (s. o. S. 423). 4. Man pflegt in der Theologie nach Schleiermacher drei Gruppen oder Richtungen zu unterscheiden, die konfessionelle, die sog. liberale und die Vermittlungs-Theologie. Der Ausdruck „liberal" freilich ist irreführend; denn mit dem politischen Liberalismus hat diese freie Theologie nichts zu schaffen, war doch ihr radikalster Außenseiter, Bruno Bauer (1809—82), dessen Kritik alles zerstörte und der sich folgerichtig zum Atheismus bekannte, politisch streng konservativ (Mitarbeiter der Kreuzzeitung!), während anderer­ seits Hofmann, das Haupt der Erlanger konfessionell-lutherischen Theologie, zur bayrischen Fortschrittspartei gehörte. Die konfessionelle Theologie erschöpfte sich nicht in der vorhin ge­ schilderten rückläufigen Fehlentwicklung. Neben dieser hat sich in Erlangen eine unabhängige und eigentümliche Schule gebildet, als deren geistvollster Vertreter I. Chr. K. von Hofmann zu nennen ist (1810—77). Bei ihm ist der Anschluß der Methode an Schleiermacher besonders deutlich; nimmt er doch wie jener die religiöse Selbstbeobachtung zum Ausgangspunkt für die Erfassung und Beschreibung des theologischen Sachverhaltes (statt ein­ fach voraussetzungslos die Bibel als Grundlage und Stoff der Glaubens­ lehre zu verwerten). Das kommt zum Ausdruck in seinem berühmten Satz: „Ich, der Christ, bin mir, dem Theologen, eigenster Stoff meiner Wissen­ schaft." So wie er meint, daß der gegenwärtige Christus den historischen Christus zu seiner Voraussetzung habe und auf diese historische Vor­ aussetzung seiner Gegenwart zurückweise, so habe auch der christliche

§99

Die Erlanger Schule: Hofmann — Freie Theologie

439

Theologe das fromme christliche Bewußtsein zur Voraussetzung. Die hierin liegende Wahrheit wurde aber bedenklich übersteigert, wenn diese Bewußtseinstheologie sich vermeintlich allein auf die Erfahrung der Wiedergeburt stützte und daraus alle Wahrheiten des Glaubens und der Bibel, dazu noch in stark konservativ dogmatischer Ausprägung, glaubte ableiten zu können; ohne an Luthers Warnung zu denken, daß ein Christ immer im „Werden" sei und nicht im „Gewordensein". (In Wirklichkeit muß die eigene subjektive Erfahrung, die immer unsicher und begrenzt bleibt, durch die objektive Macht der Bibel wie der Gemeinde er­ gänzt und befruchtet werden). Hofmann war redlich bemüht, Mängel und Härten der überlieferten kirch­ lichen Lehre zu überwinden. Sein Schriftbeweis wollte nicht, wie die alte Orthodoxie und ihr Erneuerer Hengstenberg, die mechanische Erfül­ lung einer möglichst großen Zahl vereinzelter Dorhersagungen des A. T. äußerlich nachweisen. Für ihn waren jene Weissagungen nicht Mantik oder Wahrsagung, sondern lebendige Kräfte, die wie ein Keim die Zukunft in sich tragen und deshalb im Voraus darstellen (etwa das Versöhnungsopfer Christi im unschuldigen Leiden des Gottesknechtes von Jesaja 53). Alles Gotteswirken in der Geschichte ist Weissagung; und die Bibel nicht ein Buch erfüllter Wahrsagung, sondern Zeugnis einer organischen Heilsgeschichte. Auch den Kern lutherischer Lehre, die Versöhnung durch Christus, hat er dar­ gestellt ohne die überlieferte Lehre vom Strafleiden Christi, da diese weder schrift- noch bekenntnisgemäß sei. Daß die fruchtbaren Ansätze seiner Theo­ logie freilich zu einer umfassenden Kritik am alten Dogma hätten führen müssen, hat er nicht erkannt. In der sachlichen Ausführung blieb es im Wesent­ lichen beim Alten. So konnte seine Theologie die oben geschilderte verhängnis­ volle Auswirkung der Reaktion nicht verhüten. Sie ist auch nicht verhütet worden durch die freie Theologie. Denn so gewiß diese von äußerlich kirchlichen Fesseln frei sein wollte und war, ohne Voraus­ setzungen und Bindungen, ohne Belastungen war auch sie nicht. Ein ver­ heißungsvoller Vorläufer war W. Martin Leberecht de Wette (1780—1849) durch seine selbständige besonnene Bibelkritik wie durch seine innerlich ver­ stehende religionspsychologische Würdigung des Dogmas. Sein redlicher Trostbrief an die Mutter Sands, des Kotzebue-Mörders, kostete ihn seinen Berliner Lehrstuhl und versperrte ihm jedes deutsche Amt. Basel gab ihm (1822) eine neue Lehrstätte, wo er die verdiente Anerkennung fand. Der Mann, der dieser freien Theologie die Bahn gebrochen und sie auf eine be­ wundernswerte Höhe geführt hat, Ferd. Chr. Baur (1792—1860, seit 1826 Prof, in Tübingen), war freilich von Schleiermacher ausgegangen und von Semler angeregt, war dann aber auf Hegel gestoßen und dauernd in den befruchtenden, aber auch einengenden Bannkreis seiner Ideen geraten. Er vertritt den vornehmsten Typ eines deutschen Professors, unermüdlich

440

Die Neuzeit: die evangelische Kirch«

fleißig, gewissenhaft in der gründlichen Erforschung seiner Quellen, frei von eitlem Ehrgeiz, der Sache unbedingt hingegeben. Hegels Leitgedanke von der Idee, die ihre Verwirklichung sucht, Hegels Methode, wonach im Dreitakt von Satz, Gegensatz und höherer Einheit der Fortschritt der Entwicklung verläuft, haben ihn befähigt, Dogmen- und Kirchengeschichte vom Neuen

Testament aus mit wissenschaftlicher Strenge zu erfassen und darzustellen und zum erstenmal ein großzügig und einheitlich aufgefaßtes Bild der Ge­ schichte deS Christentums zu entwerfen und geistvoll durchzuführen. Wenn er dabei im Verlauf der Darstellung der späteren Kirchengeschichte, durch den Stoff genötigt, auf daS Hegelsche Schema mehr und mehr verzichtete, so gereicht daS seiner wissenschaftlichen Redlichkeit nur zum Ruhme. Sein Werk steht ebenbürtig neben der großen Profangeschichte der Zeit. — Größtes Auf­ sehen erregte er durch seine Darstellung deS apostolischen ZeitafterS, das er ganz nach Hegels Methode auffaßte: auS dem Gegensatz deS petrinischen JudmchristentumS und deS paulinischen Heidenchristentums habe sich als höhere Einheit daS nachapostolische Christentum deS 2. Jahrhunderts ent­ wickelt. Diese zunächst bestechende Konstruftion ist später durch Albrecht Rstschl berichtigt worden (s. u.). BaurS Lebensarbeit wurde durch die Tübinger Schule fortgesetzt und hat noch stark gewirft auf die historisch-kritische Theologie der 2. Hälfte deS Jahrhunderts. Wie die systematische Selbstbesinnung dieser von Hegel abhängigen Theologie auSsah, wie weit sie sich von Schleiermacher entfernte und auf dessen die letzte Klarheit aushaltende Vermittelungen verzichtete, ist an ihrem wissenschaftlichen Hauptwerk, der Dogmasik deS Schweizers Biedermann, vorzüglich zu beobachten. Er war wirklich ein christlicher Denker, den der Geist unbedingter Freihest erfüllte. Doch wollte er Theologe bleiben und erklärte, Theologe könne nur sein, wer auch ein Kirchenamt zu übernehmen imstande sei. Die dritte Gruppe trägt den Namen „DermittlungStheologie" mit Recht, wollte sie doch zwischen biblischer Offenbarung und idealistischer Speku­ lation vermitteln, Schleiermacher mit dem NeupietiSmuS versöhnen; auch liebte sie eö, Luther und Melanchthon ohne Beachtung ihrer starken Unter­ schiede in einS zu sehen. AuS ihren Kreisen stammt daS beliebte Gleichnis von dem Sohne deS Waffenschmieds, der das vom Bergmannssohn geförderte Erz erst zum blanken Schwert geschliffen habe. Kein Wunder deshalb, daß diese Theologen alle überzeugte Anhänger der Union waren. Hauptsitz dieser Theo­ logie ist Halle. Die Frömmigkeit der Erweckung vermittelte ihr der weit­ herzige und innerlich lebendige A. Tholuck, der grundgütige Studenten­ vater. — Man kann die drei theologischen Gruppen kennzeichnen nach ihrem unterschiedlichen ChristuSbild. Schleiermacher schuf sich eine romantische Phantasiegestalt, die bei den von Hegel abhängigen „Liberalen" zum „idealen Christus" (Verkörperung der religiösen „Idee") wurde; die Konfessionellen

§ 99

Die Tübinger Schule: Baur — Dermittlungstheologie: Rothe

441

meinten im Grunde nur den dogmatischen Christus; die Dermittlungstheologie dagegen wollte aus den „Quellen" den geschichtlichen Christus erkennen und schildern. Dieses Bemühen hat später in den „Leben Jesu" von Hase und Keim, Beyschlag (t 1900) und Bernhard Weiß (f 1917) eine seiner Zeit hochgeschätzte Gestaltung gefunden (zur Kritik vgl. u. S. 445). Die reichste und anziehendste Gestalt unter diesen Vermittlungstheologen ist Richard Rothe (1799—1867), den Kuno Fischer wegen seiner persönlichen Lauterkeit als „Inkarnation des Christentums" bezeichnet hat. Trotz seiner unkritischen, supranaturalen Betrachtung der Bibel trat er dem Pro­ testantenverein bei, weil er die Lebenssremdheit der Restaurationstheologie erkannte und überzeugt war, christliche Religion und sittlich geführte Welt­ kultur müßten einander gegenseitig durchdringen. Die entgegenstehende Hal­ tung des Urchristentums schien ihm nicht verbindlich für die historische Lage und Aufgabe seiner Zeit. Im Gegensatz zu der romantisch katholisierenden Verherrlichung der Kirche bei Löhe und Vilmar (s. o. S. 436f.) betonte er die grundsätzliche Gefahr aller Verkirchlichung des Christentums und be­ zeichnete es als eine Hauptaufgabe der Gläubigen, „Christum frei machen zu helfen von der Kirche". Das Kirchentum erschien ihm als eine wohl geschichtlich unvermeidliche, seinem innersten Wesen aber widersprechende Gestalt des Christentums. Als Endziel erwartete er (hier vielleicht durch Hegel beeinflußt) eine christliche Kultur im Rahmen eines durch und durch versitt­ lichten Staates. — Das war, von Luther aus gesehen, doch offenbar eine „Schwärmerei". Für die kirchliche Praxis erstrebte er aber nicht jenes Endziel, sondern im Gegensatz zur Pastorenkirche der Restauration eine wirkliche Volkskirchc; er kämpfte deshalb für baS Lebensrecht der Gemeinde, für Synodalvcrfasiung, Lehrfreiheit und Überwindung der Kluft zwischen Theo­ logie und Wissenschaft, zwischen Kirche und Volksleben. Seine Beurteilung der Lage in der Reaktion nach 1848 bekundet der folgende Satz: „ES ist glatterdings unmöglich, baß in der Entwicklungspcriode der Christenheft, in der wir stehen, die altkftchliche Vorstellung der hl. Schrift und ihrer Inspiration, die athanasianische oder ftgendwelche TrinftätSlehre, die chalkedonensische Lehre von der Person Christi, die anselmische oder ftgendwelche andere juristische Genugtuungslehre, die Lehre von einer wie auch immer verhüllten Magie der Sakramente usw. je wieder im großen die ehrliche Überzeugung der Gebildeten werden." — Sein theologisches System ist mit

merkwürdigen spekulativen theosophischen Ideen durchsetzt, und deshalb trotz der Fülle ftuchtbarster Gedanken als Ganzes heute vergangen. Wie Rothe so überragt auch der von romantischem Idealismus befruchtete Carl von Hase (1800—1890), jahrzehntelang der gefeiertste Lehrer der Universität Jena, die Grenzen der Schule. In seinen Anfängen hatte er durch einen siegreichen Waffengang mit dem Haupt der Rationalisten (Anti-Röhr) berechtigtes Aussehen erregt. Seinen dauernden Ruhm hat er sich

442

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

durch seine geistvolle, von Künstlerhanb gezeichnete, Kirchengeschichte erwor­ ben, wobei er zum erstenmal mit feiner Einfühlung auch die Kunst in ihren verschiedenen Zweigen für seine Darstellung würdigte. — Der echteste Schüler SchleiermacherS war der feinsinnige Systematiker Alexander Schweizer (Prof, in Zürich). Gegen den Bekenntniszwang der Konfessionellen prägte er die bittere Formulierung: „Die Väter haben ihren Glauben bekannt, und wir sollen ihr Bekenntnis glauben!" 5. Die Theologie der Jahrzehnte um die Jahrhundertmitte hat eine be­ trächtliche Zahl wertvoller Leistungen aufzuweisen, keine aber, die so groß gewesen wäre, daß sich alle um dies Werk hätten sammeln müssen; keine, die so groß gewesen wäre, baß sie Epoche gemacht und durch ihre eigene Kraft überzeugt hätte; keine, die in der Kirche ober im allgemeinen Geistesleben Führung hätte beanspruchen können; keine deshalb auch, die imstande ge­ wesen wäre, einen schützenden Wall aufzurichten gegen die von Feuerbach und den Materialisten, von Marx oder von Schopenhauer herkommenben Angriffe auf Christentum und Kirche. Auch die mit Eifer und Liebe betriebene Apologetik (Lutharbt, Apologetische Vorträge, 4 Bde.) hat hier nichts Wesent­ liches auSgerichtet; bemühte sie sich doch größtenteils um unfruchtbare klein­ liche Ausgaben wie die Vereinbarkeit beS biblischen SechStagewerkeS mit der modernen Naturwissenschaft und verzehrte ihre Kräfte in aussichtslosen RückzugSgefechten. Man dachte nicht an Goethes große Weisung, daß eS zwecklos sei, baS Schlechte schlecht zu nennen, sinnvoll aber, etwas Großes und Gutes zu schaffen, baS mit eigener Kraft überzeugend wirke (Eckermann 24.2.25). In diese verworrene Lage trat die Theologie Albrecht RitschlS (1822 bis 1889) und mußte schon deshalb befreiend und fruchtbar wirken, weil sie wie alle große Leistung ein Abstoßen überflüssigen Ballastes, eine Beschrän­ kung auf große wirksame Hauptsachen bedeutete; beweist doch sein entschei­ dendes Werk schon durch seinen Titel „Rechtfertigung und Versöhnung", daß eS sich nicht mit dem „Vorhof der Heiden" der dogmatischen Prälimina­ rien aufhalten, sondern sogleich in die Mitte der lutherischen Theologie führen will. Ritschl hat als Historiker, der von Baur lernte, aber über ihn hinauSging, begonnen und ist von da zur Systematik übergegangen, ohne die Historie zu vernachlässigen („Geschichte beS Pietismus"). Denn aus den Schatzkammern der Geschichte, Bibel und Reformation voran, nahm er Waffen und Werk­ zeuge. Er hat auch als Historiker Bedeutsames geleistet. Die Disziplin der Dogmengeschichte hat er mit dem 1. Bd. seines systematischen Hauptwerkes erneuert, indem er die Geschichte der Lehre schilderte. Selber befruchtet durch die große Profangeschichte seiner Zeit, hat er die Kirchengeschichte von dem schließlich lähmenden Bann der Hegelschen Methoden und Begriffe be­ freit. Seine „Entstehung der altkatholischen Kirche" (2. Ausl. 1857) hat nicht nur Begriff und Namen „altkatholische Kirche" geschaffen, sondern auch

§99

Albrecht Ritschl

443

ihren Ursprung gegen Baur richtiger erklärt, alö hervorgegangen aus dem Heidenchristentum der apostolischen Zeit ohne wesentliche Mitwirkung des bald bedeutungslos gewordenen Judenchristentums. Er hat den neuplatoni­ schen, also nicht-christlichen, Ursprung der Mystik aufgedeckt, hat die Legende von den „Dorreformatoren" vor der Reformation zerstört, hat Melanchthon von Luther deutlich abgesetzt und mit Beidem die Bahn frei gemacht für eine wirkliche Würdigung der Eigenart und Größe Luthers. Als Systematiker ist er ausgegangen von dem unerträglichen Wiberxspruch, in dem der Mensch sich der Natur gegenüber vorfindet, sofern er als geistige Persönlichkeit die Natur beherrschen soll und doch ihr unselbständiger Teil ist, abhängig und gehemmt von den Dingen. Über diesen Druck der

Naturwelt soll die Religion ihn erheben. Als Religion aber kommt für R. nur der geschichtlich offenbarte, in der Bibel bezeugte christliche Glaube in Betracht. Alle Metaphysik lehnt er ab, ihre Hilfe ist eitel und nichtig; er scheidet sich damit von allen vorangegangenen theologischen Gruppen, deren Unterschiede nur darin bestanden, in welchem Maße sie metaphysische Speku­ lation, vielleicht unbewußt und ungewollt, dem christlichen Glauben bei­ mischten. Er lehnt damit auch alle „natürliche Theologie" radikal ab und beruft sich mit größerer Entschiedenheit als einer seiner Vorgänger, auch als Schleiermacher, auf den Christus des Neuen Testaments, für dessen Verständ­ nis ihm Luther (neben den Bekenntnisschriften) wegweisend sein soll. Die umstrittene Formel von den „Werturteilen", in denen sich die Glaubens­ aussage vollziehe, will nicht etwa im Sinne des Feuerbachschen Illusionismus verstanden sein, sondern soll den Unterschied der Glaubensaussagen gegen die Sätze theoretischer Wissenschaft ausdrücken. Weder über das ontologische Geheimnis Gottes noch über die Rätsel der Christologie will er grübeln. Das wäre unfruchtbare metaphysische Spekulation. Die festgehaltene Formel von der „Gottheit Christi" meint nur die Glaubensaussage, daß wir in Christus, in ihm allein und vollzureichend, Gottes erlösende Liebe erkennen und ergreifen. Statt wie die Erlanger Bewußtseinstheologie aus der christ­ lichen Erfahrung des Individuums die ganze Theologie abzuleiten, betont er die christliche Gemeinde, als Ort und Objekt der Wirksamkeit Gottes, als die Mutter des Glaubens und der Gläubigen. Die Sünde beschreibt er religiös als Unglauben und Widerspruch gegen Gott. Eine Spekulation über die Erbsünde lehnt er ab; er redet stattdessen wirklichkeitsoffen von einem „Reich der Sünde", das dem „Reiche Gottes" entgegensteht. Dies Reich Gottes hat er fteilich nicht, wie die spätere neutestamentliche Wissenschaft, eschatologisch gemeint, sondern als eine Wirklichkeit, die wir im Glauben jetzt schon erleben: der Begriff „Reich Gottes" wird also spiritualisiert und ethisiert. Von Luther hat er endlich die Lehre von der christlichen Vollkommenheit übernommen, die sich in tätiger Berufstreue bewähren soll. Man hat gegen Ritschl eingewandt, er sei von Kantischer Philosophie ab-

444

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

hängig (Unterscheidung von Glauben und Wissen, Primat der praktischen Vernunft) und verberge sich vergeblich die Notwendigkeit einer offenen Aus­ einandersetzung mit der Philosophie (Troeltsch); er betone das Ethische über­ stark und verkürze damit die Glaubenssubstanz (doch rechnet er zur christ­ lichen Vollkommenheit stark betont auch Vorsehungsglauben, Demut, Ge­ duld und Gebet neben dem sittlichen Handeln im Beruf); er habe den Pietis­ mus zu hart verurteilt (doch geschah es im Dienste eines besseren Derstänbniffes Luthers und seiner Kirche); seine Theologie trage einen ausgesprochen bürgerlichen Charakter und sei von den drohenden sozialen Erschütterungen noch nicht berührt. Das letztere ist zweifellos richtig; doch hat der Grund­ gedanke vom Reiche GotteS als einer Gemeinschaft echter Liebe, die das Wohl des andern zum Selbstzweck macht, den Schülern des Meisters den Weg gewiesen zum sozialen Aktivismus. 6. RitschlS Wirkung ist groß und mannigfaltig gewesen, aber eben des­ halb nicht ganz leicht zu beschreiben. Er hat durch die männliche Wucht seiner Gedanken, wie durch die eigene charaktervolle Persönlichkeit auch außer­ halb des Bezirks von Theologie und Kirche stark gewirkt. So wählte die Göttinger Universität für ihr ILOjährigeS Jubiläum (1887) den Theo­ logen zu ihrem Rektor! (Wie wenige Jahre später Halle für seine 200-Jahrfeier den Theologen Beyschlag!) Eine eigentliche Schule, wie etwa die Tübin­ ger oder Erlanger, hat er nicht begründet und in seiner strengen Ablehnung aller Kirchenpolitik (dreimal hat er eine Berufung nach Berlin abgelehnt) auch nicht begründen wollen. Wenn es nachher Ritschlianer und eine Ritschlsche Theologie gab, so waren ihre Vertreter doch lauter selbständige Theologen. Nicht wenige sind als schon gereifte Männer aus der restaurativen ober der Vermittlungstheologie zu ihm gestoßen. Was sie zu Ritschl führte, war seine theologische Methode, die von den Künsten der Spekulation und der Dewußtseinstheologie erlöste, die den Pietismus durch baS Neue Testament, die Repristination der lutherischen Orthodoxie durch Luther selbst ablöst« und über­ wand. Ritschl hat damit einer ganzen Generation von Theologen neuen Mut und Freudigkeit zum kirchlichen Dienst gegeben; wollte seine Systematik doch nichts sagen, was nicht unmittelbar in kirchliche Verkündigung und Seel­ sorge umgesetzt werden könnte. Unter diesen wesentlich systematisch interessier­ ten Theologen hat Wilhelm Herrmann (f 1922) am stärksten gewirkt. Ursprünglich von Tholuck stark beeinflußt, wurde er erst als ZOjähriger Dozent Ritschls Jünger. Er vertritt die folgerichtigste Weiterbildung von Ritschls Theologie. Bei ihm ist die innere Sammlung und Vereinfachung zur Voll­ endung geführt. Von natürlicher Theologie will er so wenig wissen, daß er erklärte, ohne Christus Atheist zu sein. Die Wissenschaft leistet dem Glauben nur den einen Dienst, alle falschen Stützen des Aberglaubens zu zerbrechen. Der Glaub« stützt sich auf nichts als auf das eigene Erleben, bas ihm ge-

§99

Ritschlö Wirkung — Bibeltheologen

445

schenkt wirb im Anblick des „inneren Lebens" Jesu von Nazareth, dessen Ge­ stalt unS erhebt, indem sie uns richtet. Die Ethik, die er im Geiste Kantischer Reinheit und Herbheit ausführt, soll uns vor die Höhe einer Forderung stellen, die unS in innere Not und Verzweiflung führt und bereit macht, die Erlösung in Christus zu erleben. Diese großen und einfachen Gedanken werben mit dem stillen Pathos tiefster Überzeugtheit vorgetragen und wirken um so stärker, weil ihre Wahrheit nicht äußerlich aufgenötigt wird: Herrmann läßt keine Glaubensentscheidung gelten, die den Menschen nicht zu unbedingter Wahrhaftigkeit führt. „Der Mensch, der Gedanken, von denen seine Seele nichts weiß, doch für sich in Anspruch nimmt, beweist damit nicht seine innere Lebendigkeit und gewinnt sie nicht auf diese Weise, sondern unterdrückt sie. Der wirklich christliche Glaube aber bedeutet gar nichts anderes als innere Lebendigkeit." Die dogmatisch „liberalen" Theologen haben Ritschl wegen seiner Feind­ schaft gegen alle metaphysische Spekulation im ganzen verständnislos ab­ gelehnt (Pfleiderer: „Die Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant"). Nur LipsiuS näherte sich ihm. Ablehnend blieben auch die ausgesprochenen Bibeltheologen (Cremer, Kähler, Schlatter). Kähler gebührt baö Verdienst, daS Problem der wissenschaftlichen Erforschbarkeit beS historischenJesuü erkannt und formuliert zu haben(„Der so­ genannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus" 1892). Er hat gesehen, baß die Schriften beS Neuen Testaments, auch die synop­ tischen Evangelien, sehr viel mehr als die Vermittlungstheologen(s. o.S.440), auch Ritschl und manche „kritische" Forscher meinten, durch den Glauben an den erhöhten Christus geformt sind; deshalb sei eü unmöglich, hinter diesem Glaubensbild eine davon unabhängige, geschichtliche Menschengestalt hervorzuholen. Er machte freilich aus der Not eine Tugend, indem er auf diesen historischen Jesus von Nazareth völlig verzichtete; ohne zu bedenken, daß die geschichtliche Forschung sich niemals ein Halt! anbefehlen läßt, und daß ein solcher Machtspruch auch den Weg bereiten kann für höchst un­ erwünschte Hypothesen, für die Behauptung von Arthur DrewS und Genossen („Die Christusmythe"), Jesus von Nazareth sei nichts als ein Erzeugnis mythenbildenber Phantasie. 7. RitschlS Auswirkung auf die Theologie zeigt sich auch bei denen, die seine noch stark konservative Betrachtung der Bibel durch rücksichtslose Kritik ersetzten. Männer wie Weizsäcker und Holtzmann, die aus der Tübinger Schule stammten, haben die Hegelschen Leitideen dieser Schule abgestreift und sich redlich bemüht, die Quellen voraussetzungslos zu lesen und mit philo­ logischer Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit zu verstehen und auszuwerten. Der Unterschieb zwischen der alten „liberalen" und der neuen historisch­ kritischen Theologie ist nicht zu verkennen. Während jene geneigt war, ihre eigenen Gedanken in die Bibel hineinzutragen und sie dadurch unbewußt

446

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

zu modernisieren, hat sich diese von solchen Versuchen völlig gelöst: Sie er­ kannte immer deutlicher und lebendiger das Andersartige der biblischen Vorstellungswelt und hielt es für historische Pflicht, das um so schärfer herauszuarbeiten, je ärgerlicher es dem eigenen Empfinden sein mochte. Das Befremdliche und zunächst Unverständliche wurde beinahe zum Merkmal der Echtheit! Der Realismus des positivistischen Zeitalters ist hier spürbar. Die kritische Bibelarbeit, die um das Ende des Jahrhunderts in Deutschland geleistet wurde, hat kirchlich fromme Gemüter oft bekümmert oder entsetzt; denn sie löste sich von allen dogmatischen Voraussetzungen, von jeder Art von Jnspirationstheorie, und zerbrach grundsätzlich auch die Schranken des Kanons beider Testamente. Sie betrachtete das Buch der Bücher wie irgend ein Erzeugnis weltlicher Literatur. So verschwand auch die Vorstellung, als gäbe es ein besonderes heiliges, biblisches Sprachidiom, wo doch die Schriften des Neuen Testamentes alle irgendwie durch die hellenistische Sprachform der „Koine" (der nachklassischen abgeschliffenen Gemeinsprache) bestimmt sind. Besonders ärgerlich erschien zunächst bas Unternehmen der sogenannten religionsgeschichtlichen Schule (Gunkel, Bousset, Heitmüller u. a.), das Neue Testament in die Welt der Religionen des östlichen Mittelmeeres hineinzustellen, seine Personen, Bräuche und Leh­ ren, die Sakramente nicht ausgenommen, mit den Erscheinungen der helle­ nistisch-orientalischen Religionsgeschichte zu vergleichen, Zusammenhänge und Abhängigkeiten zu entdecken oder gar das „Christentum" als eine „synkre­ tistische Religion" zu beschreiben und scheinbar zu einem Produkt der Religions­ mengerei und damit zu einem menschlichen Erzeugnis herabzusetzen. Doch ist in Wirklichkeit, wenn auch mit menschlicher Fehlsamkeit, in der peinlich gewissenhaften, philologisch-historischen und religionsgeschichtlichen Durch­ forschung der Bibel eine bewundernswürdige und unvergängliche Leistung deutscher Wissenschaft vollbracht worden: eine unerläßliche Voraussetzung einer vom Jnspirationsdogma gelösten, wahrhaften Würdigung der Bibel als Wort Gottes. Wie der Erlöser selbst in echter Menschlichkeit erschienen ist, so auch das Buch, das von ihm zeugt. Durch das Feuer der Kritik mußte die Bibel hindurchgehen, um zu neuer Glaubwürdigkeit zu gelangen. In dieser Arbeit sind auch feste Ergebnisse erreicht worden, und wir erkennen teilweise schon heute, daß sie wohl irrige menschliche Vorstellungen von der Bibel umgestürzt, ihren Reichtum aber erst recht aufgeschlossen und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu sondern uns gelehrt hat. Für das Alte Testament hat Wellhausens (f 1918) geniale Pentateuch­ kritik die von- seinen Vorgängern (de Wette!) vorbereitete Erkenntnis zum Siege geführt, daß die in der Priesterschrift, der jüngsten Quelle des Penta­ teuch, gesammelte Kultus- und Zeremonialgesetzgebung, die durch Esra zum Staatsgrundgesetz der nachexilischen Gemeinde gemacht wurde, nicht von Mose herrührt, sondern späteren Ursprungs ist, so gewiß alte Stücke darin

§ 99

Historisch-kritische und religionsgeschichtliche Bibelwifsenschast

447

überliefert sind. Dadurch wurden die Propheten als Kern und Höhe des Alten Testaments erkannt, auch Mose selber neu gesehen. Die spätere umfassende Arbeit zur vorderasiatischen Religionsgeschichte, sowie die lehr­ reichen neueren Ausgrabungen haben dies Bild in Einzelheiten berichtigt, im ganzen aber bestätigt. Damit hat ein Pauluswort eine unerwartete Bekräftigung gefunden: „Das Gesetz ist zwischenein gekommen" (Röm 5, 20; Gal. 3). Die zwischen A.T. und N.T. klaffende literarische Lücke wurde durch an­ gespannten Fleiß sprachkundiger Forscher ausgefüllt. Die bunte Welt der Pseudepigraphen (und Apokryphen) wurde durch Ausgaben und Übersetzungen

erschlossen. Emil Schürer, der Begründer der Theolog. Literaturzeitung, des vornehmsten, auch im Ausland hochangesehenen kritischen Organs protestantischer Theologie, schildert in seinem Standwerk die Geschichte und Religion des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi als wesentliche Vor­ aussetzung für das Verständnis des Neuen Testaments. Der „große Tischen­ dorf" (seine romantische Auffindung des Codex sinaiticus, 1859 zu Ende ge­ führt) und der „kleine Nestle" veranschaulichen den unvergleichlichen Fleiß und Scharfsinn zweier Generationen deutscher und ausländischer Forscher; ihr Ergebnis ist ein in allem Wesentlichen zuverlässiger Text des Neuen Testaments. Die Unterscheidung des Johannes-Evangeliums von den Synoptikern als den älteren, den wirklichen Begebenheiten näher stehenden Schriften, setzt sich durch; ebenso für letztere die Priorität des Markus­ evangeliums und die Zwei-Quellen-Theorie, Markus und die Redensamm­ lung als Hauptquellen für Matthäus und Lukas (H. I. Holtzmann). Adolf Jülicher schildert überzeugend die Eigenart der „Gleichnisreden" Jesu im Unterschied von der Allegorie. Johannes Weiß und Albert Schweitzer er­ kennen die ungeheure Bedeutung der eschatologischen Erwartung für die Reichsgottespredigt Jesu und die Glaubenswelt des Apostels Paulus. Das Problem Jesus und Paulus ruft eine leidenschaftliche Debatte hervor. Der dogmatisch ungebundene Jülicher verteidigt gegen Wredes überspitzten Scharf­ sinn den wesentlichen Zusammenhang des Apostels mit dem Meister. Die übertriebene Skepsis Baurs und der „liberalen Theologie" gegen die Echtheit der neutestamentlichen Schriften sowie deren Einspannung in das Tendenz­ schema wird durch die historische Kritik ermäßigt und berichtigt. Adolf Harnack schreibt mit großer Bestimmtheit das dritte Evangelium und die Apostel­ geschichte dem Paulusschüler Lukas dem Arzt zu, ohne sich freilich in der kriti­ schen Theologie damit durchzusetzen. Die Arbeit historischer Kritik erzieht durch Wucht und Bedeutung der erforschten Tatsachen die wissenschaftlichen Arbeiter zu Respekt und Objek­ tivität, auch immer mehr zur Überwindung der dogmatischen Richtungs­ unterschiede und zu einer gewissen communis opinio. Einseitigkeiten und Übertreibungen berichtigen sich bald, sowie ein strömender Fluß sich selber

448

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

reinigt. Zu diesem Erfolg hat die Mitarbeit ausgezeichneter Philologen (P. Wenbland, Eduard Schwartz, Norden, Reitzenstein) Wesentliches beigetragen. Diese Arbeitsgemeinschaft ist zugleich ein Zeugnis für die hohe Achtung, die sich die deutsche protestantische Theologie in der wissenschaftlichen Welt beS In- und Auslandes erworben hat. Die Kirchengeschichte war durch Ritschl vom Banne deS Hegelschen Idealismus gelöst und konnte sich deshalb frei entfalten. Nachdem die Kir­ chen selber in ihrer empirischen Gestalt als weltliche Gebilde erkannt waren, mußte auch die Kirchengeschichte nach den Methoden profaner Geschichts­ wissenschaft betrieben werden. Die größten Anregungen sind von Adolf Harnack (1851—1930) auögegangen, der mehr als ein anderer Wissen­ schaftler zum Repräsentanten des geistigen Deutschland im Zeitalter Wil­ helms II. geworden ist. Seine wissenschaftliche Hauptleistung ist die epoche­ machende Dogmengeschichte, in der er baS altkirchliche Dogma als eine Schöp­ fung hellenischen Geistes auf dem Boden beö Evangeliums schildert und Nachweisen will, daß eS sich in der Dogmengeschichte um ein« im 16. Jahr­ hundert abgeschlossene Epoche beS Christentums handele. Die Geschichte der Entwicklung beS Dogmas ist also der immanente Nachweis seiner Erledigung. HarnackS Geschichtsauffassung scheibet sich damit deutlich von der voran­ gehenden Hegelschen Geschichtsphilosophie; denn der Scheinglaube einer folgerichtigen Selbstentfaltung und Vollendung der Idee auS ihrem Keim ist hier zerstört. — Derselbe Mann, der sich als Fachgelehrter auf ein besonderes Forschungsgebiet (die christliche Kirche der ersten Jahrhunderte) streng kon­ zentriert, umfaßt zugleich mit einer ungemein elastischen Spannweite alle Probleme der Wissenschaft und beS sozialen LebenS: 1890 wirb er Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften, 1903—12 Präsident deS ev.-soz. Kongresses, 1905—21 Generaldirektor der preußischen Staatsbibliothek; seit 1910 Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissen­ schaften, deren naturwissenschaftliches Programm er persönlich entworfen hat. Für die 200-Jahrfeier der Preußischen Akademie der Wissenschaften hat er ihre Geschichte geschrieben und die Festrede gehalten. Ein klassischer Philo­ loge, der hohe Ansprüche stellte, kam mit dem Urteil zurück: „Ein Mann wie Mommsen!" Und doch zeigt sein „Wesen deS Christentums", baß er die Zeitenwende, der wir entgegengingen, nicht vorausfühlte. Im Geiste HarnackS hat Karl Müller die Geschichte der christlichen Kirche geschrieben und bis an den Beginn der Aufklärung geführt. Eine überaus reiche Arbeit ist in Spezialuntersuchungen geleistet; besonders wandte sich, unter Ritschlö Einfluß, die Forschung Luther und der ReformationSzeit zu: Die Schriften beS Vereins für Reformationsgeschichte und die monumentale Weimarer Lutherausgabe (seit 1883) sind Zeugnisse dieses gelehrten Fleißes. Albert Hauck hat in seiner „Kirchengeschichte Deutschlands" (bis 1374) eine auch in ihrer sprachlichen Form klassische Leistung geschaffen.

H 99

Ktrchengeschichte: A. Harnack — Systematische Theologie: E. Troeltsch 449

Die systematische Theologie hat auf konservativer Seite wertvolle Bemühungen/ aber kein voll überzeugendes Werk gebracht. Man empfand die Aufgabe, unfruchtbare Repristination zu überwinden, und stellte das Programm einer „modern positiven" Theologie auf. Ihr bedeutendster Ver­ treter ist Reinhold Seeberg, der gleichzeitig in seiner Dogmengeschichte eine ungewöhnliche Vertrautheit mit der mittelalterlichen Scholastik, be­ sonders auch der Spätscholastik, bewies und deshalb das Verständnis der Theologie Luthers fördern konnte. Das jüngere Geschlecht der von Ritschl befruchteten Theologen hat sich um systematische Probleme im ganzen wenig bemüht (doch siehe Rudolf Otto S. 501). 3m Anfang des 20. Jahrhunderts findet das systematische Anliegen der freien Theologie seinen großartigsten Vertreter in Ernst Troeltsch (1865—1923). Dieser genial begabte, mit fortreißender Wucht wie mit feinstem Empfindungsvermögen ausgestattete Mann überragte auf der Höhe seiner Kraft alle Theologen durch Auf­ geschlossenheit für die verschiedensten Probleme und durch kühnen Wage­ mut bohrender Forschung. Wenn er seine „Glaubenslehre" nicht selbst herauSgegeben hat (sie ist erst nach seinem Tobe auf Grund von Kollegdiktaten und Nachschriften veröffentlicht), so offenbar deshalb, weil er die Zeit noch nicht für gekommen erachtete. Alle vorhandene Dogmatik, welcher Richtung auch immer, mußte ihm als voreilig und naiv erscheinen gegenüber der ungeheuren Größe deS Gegenstandes. Wenn er auch eigentliche geschichtliche Quellen­ forschung weniger getrieben hat — für solch eine epische Versenkung in ver­ gangene Zeiten hatte der zum systematischen Denker berufene Mann weder Gemüt noch Muße — so übertraf er doch an historischem Sinn, an seherischem Vermögen, baS Eigentümliche vergangener Zeiten zu erfassen und daS Zu­ sammenwirken der verschiedensten Triebkräfte (politischer, wirtschaftlicher, künstlerischer und wissenschaftlicher, neben den religiösen und weltanschau­ lichen) zu überblicken und abzuwägen, alle Fachgelehrten. Hat er auch Luther, alle naive Modernisierung korrigierend, gar zu einseitig als mittelalterlichen Menschen geschildert: die ungeheure, kaum in Angriff genommene Umbenkung der Vorstellungsformen deS Christentums auch gegenüber der Reformationszeit, wie sie ünS durch die Aufklärung auferlegt ist, hatte noch nie ein Theologe so tief erschüttert gefühlt wie er. DaS Problem deS Historis­ mus, in dessen Bearbeitung sein LebenSwerk abgebrochen ist, empfand er schwerer und tiefer als irgend ein Zeitgenosse. Den Zusammenhang christlicher Ideologie mit den realen Tatsachen der sozialen Wirklichkeit hat er, durch Max Weber angeregt, forschend durchleuchtet. RitschlS und seiner Schüler Metaphysikfeindschaft erkannte er als bedenklich. Wer diese Skylla vermeiden will, gerät leicht in die CharybdiS eines ideenlosen Positivismus. Eine GeschichtSphilosophie der Religion erstrebte er: daher seine heiße Bemühung um baS „religiöse Apriori". Eine bewußtseinS-notwendige Beziehung aller gültigen Werte auf den letzten Urgrund der Wirklichkeit, biblisch gesagt: die 29

Schuster, «trcheageschichte

450

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

Gottesebenbildlichkeit des Menschen wollte er aufweisen. In seiner Schrift über die „2lbsolutheit des Christentums" hat er die übliche, vorschnelle Zu­ versicht, die Absolutheit wissenschaftlich beweisen zu können, überlegen ad absurdum geführt. Er begnügte sich mit der Gewißheit, daß für uns keine andere Möglichkeit des Gottesglaubens als die christliche in Frage komme, weil „wir in Jesus die höchste uns zugängliche Gottesoffenbarung verehren". Sein Lebenswerk ist vorzeitig abgebrochen. Sein Übergang von der Theo­ logie zur Philosophie bei seiner Berufung nach Berlin ist wie ein ttagisches Symbol für das Versagen der ganzen zeitgenössischen Theologie. So not­ wendig ihre wesentlich historisch eingestellte Arbeit, so rein und redlich ihr Wille war, sie blieb doch dem Zeitgeist allzusehr verhaftet. Die psychologische Kunst, alles historisch zu verstehen, brachte die Gefahr mit sich, daß alles relativiert wurde und kein absoluter Wertmaßstab bestehen blieb. Die Geistes­ verwandtschaft jener Theologie mit dem zeitgenössischen Individualismus, dem naturwissenschaftlichen Darwinismus und Positivismus sowie dem künstlerischen Impressionismus drängt sich uns jetzt auf, wenn wir aus der Entfernung Rückschau halten. Die nicht fehlende Gegenbewegung (die eben einsetzende Luther-Renaissance) wurde durch die Kriegskatastrophe jäh unter­ brochen.

§ 100. Der deutsche Protestantismus und das künstlerische Schaffen im 19. Jahrhundert.

Die ganze Dielspältigkeit und Zerrissenheit des Jahrhunderts, sein In­ dividualismus und seine religiöse Unsicherheit, seine seelische Erstarrung zu­ mal in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren — all das offenbart sich noch einmal, wenn die Frage nach dem Verhältnis des evangelischen Christentums zum künstlerischen Schaffen jener Zeit gestellt wird. Wohl be­ wirkt die Bewegung der Freiheitskriege auch hier junges Stteben, die Roman­ tik läßt neue Möglichkeiten und Tiefen ahnen. Aber sehr bald entfernt sich die künstlerische Arbeit wieder aus dem Kreise der Kirche; ihr religiöser Gehalt bleibt im ganzen gering. Erst um die Jahrhundettwende tritt eine Wandlung ein, ohne daß doch dies individualistische Geschlecht zu starken Leistungen binzufmden vermochte, in denen die Erfahrungen der Gemeinde in eindrucks­ vollen Symbolen sich aussprachen. 1. Am deutlichsten zeigt sich dieses Versagen im Bereich des Kirchen bau es. Die große Aufgabe einer Raumgestaltung, die der Eigenart evange­ lischen Gemeindebewußtseins gerecht wird, ist während langer Jahrzehnte überhaupt nicht gesehen, geschweige denn in Angriff genommen worden. Der Klassizismus Schinkels erwies sich letztlich als ungeeignet für die Umsetzung in einen christlichen Kirchenstil; die ebenfalls mit Schinkel und unter dem Einfluß der Romantik anhebende Neugotik bedeutete im Grunde eine Flucht

§100

Kirchenbau — Religiöse Malerei

451

vor der Forderung der Stunde. Aus der zeitgenössischen, sämtliche Stile der Vergangenheit in bunter Abfolge nachahmenden weltlichen Architektur ließen sich Hilfe und Anregung nicht gewinnen. Bunter und vielfältiger, auch künstlerisch wesentlich ertragreicher ist das Schaffen der religiösen — und das heißt hier der christlich bestimmten — Malerei. An Versuchen, die evangelischen und kirchlichen Glaubensinhalte mit den gerade in diesem Jahrhundert mannigfach erprobten Mitteln der Farbe und des Lichts wiederzugeben, hat es nicht gefehlt. Die Einsicht aber, daß jede ernsthafte religiöse Gestaltung aus dem Bekenntnis erwachsen muß und Symbol des Glaubenslebens ist, daß es einen grundsätzlichen Unter­ schied macht, ob man eine Landschaft oder ein Altarbild zu schaffen hat, ging weithin verloren. Der Kirchenmalerei wurde es zum Verhängnis, daß ihre Haltung auf lange Zeit nicht durch das Vorbild der tief frommen großen Romantiker C. D. Friedrich („Das Kreuz im Gebirge") und Ph. O. Runge („Tageszeiten") oder durch die Anregungen des geistesmächtigen P. Cornelius („Die apokalyptischen Reiter") bestimmt wurde, sondern durch die altertümelnde Schule der „Nazarener" (Overbeck, Führich, Steinle), deren stark katholisierende, die Zartheit der Italiener aus dem 15. Jahrhundert nach­ ahmende Werke das Wachstum einer eigengeprägten evangelischen Kunst empfindlich gestört haben. Ihre letztlich kraftlosen Gemälde gaben das offi­ zielle Schema her, nach dem fortan in der Kirche gearbeitet wurde (vgl. die Bibelbilder von Schnorr von Carolsfeld), — dem Volke boten die schlichten, gemütvollen Illustrationen Ludwig Richters einen gewissen Ersatz. Die großen Meister der zweiten Jahrhunderthälfte: Böcklin („Der Heilige Hain", „Pieta"), Feuerbach („Pieta") und Klinger („Christus im Olymp") hatten trotz gelegentlicher Wahl christlicher Motive kaum noch ein näheres Ver­ hältnis zum evangelischen Glauben. So erklärt sich die große Wirkung, die der überzeugt protestantische Künstler E. v. Gebhardt ausübte, als er sich mit Ernst der biblischen Stoffe an­ nahm und sie — damals ein kühnes Unterfangen — ins Gewand der deut­ schen Reformation kleidete (Wandgemälde im Kloster Loccum). — Der Durchbruch zu einer echten, die Gegenwart wirklich ansprechenden Vereini­ gung von Deutschtum und Christentum in der Malerei aber gelang erst Fr. v. Uh de, dessen reifste Werke („Lasset die Kindlein zu mir kommen", „Die heilige Nacht" u. a.) ganz beherrscht sind von der einen großen Sehnsucht nach der in Christus erschienenen „Verkörperung des äußeren und inneren Lichts", — und seinen beiden bedeutenden Zeitgenossen H. Thoma und W. Stein hausen. Fest und unmittelbar verbindet Thoma („Hg. Familie auf der Flucbt", „Religionsunterricht") den Jesus der Evangelien mit dem Leben des Volkes und der Schwarzwaldlandschaft; Steinhausen dagegen hat uns Selbstbekenntnisse einer frommen Seele, Zwiegespräche mit dem Heiland gegeben, „stille Themen, wie sie Tauler liebt und der Pietismus schlichter

452

Die Neuzeit: dir evangelische Kirche

Art" (H. Preuß). Drei deutsche Meister stehen so an der Jahrhundertwende als Zeugen dafür, baß die religiösen Kräfte des Protestantismus trotz allem nicht erstorben waren und auch der bildenden Kunst Wesentliches zu sagen hatten. Und wenn man zu bedenken gibt, daß in diesen Werken der Offen­ barungscharakter deS Christentums zu kurz komme, — ein Einwand, der ähnlich für L. Corinths „Golgatha" (Triptychon von Tapiau) gilt — so ist daran zu erinnern, wie sehr selbst die starken Gestalter dieser Zeit in der dünnen Luft deS PositiviSmuS lebten. ES bedurfte der Erschütterung des Weltkrieges, um die Tiefen aufzureißen und eine neue Begegnung mit dem Ewigen auch in der Kunst anzubahnen. Der im Kriege aufbrechende malerische Expressionismus hat wenigstens ernstlich versucht, sich auf die eigentliche Aufgabe der Kunst zu besinnen, den Zeitgenossen etwas Wesentliches und WerwolleS zu sagen, ein echtes inneres Erlebnis künstlerisch auszudrücken. Doch was er zu sagen hatte, war zu gering­ wertig oder zu unklar und verworren, um auf religiösem Gebiet eine über­ zeugende Leistung hervorzubringen. Im Kirchbau dagegen haben im Gebiet der katholischen wie der protestantischen Konfession junge Meister, gelöst von aller Bindung an alte Stile und überkommene Konvention, kühne Ver­ suche unternommen, einen KultuSraum zu schaffen, der in dem neuzeitlichen Stadtbild nicht wie ein Museum aus vergangenen Zeiten wirkt, sondern den Menschen deS technischen Zeitalters zur Andacht rufen will. Den erfreulichsten Beweis echten künstlerischen Wollens und Vermögens aber liefern hin und her in Stadt und Land die Gefallenen-Denkmäler, die ebenso zu Ehren der Toten wie zur Bezeugung deS ungeheuren, den Menschen erschütternden Geschehens aufgerichtet sind. Sie überragen an Echtheit und Innigkeit alles, was nach dem Kriege 70/71 schablonenmäßig hingestellt wurde. 2. Ähnlich wie die Malerei bewährt sich die Dichtung als Spiegel und

Gradmesser deS religiösen Lebens der Zeit; — der Gleichlauf der Entwicke­ lung fällt ohne weiteres in die Augen. Hier wie dort zunächst Werke von reicher, ausgesprochen subjektiv gestimmter Religiosität; hier wie dort dann eine Entfremdung gegenüber Religion und Kirche, die erst in den 90er Jahren neuem Suchen weicht. Dabei wird offenbar, daß in der Lyrik religiöse Bewegung sich besser ausspricht als im Drama und Roman. Wahrhaft geistliche Dichtung ist in diesen Jahren sehr selten. Die Lieber der Romantiker Novalis, Eichendorff und Schenkendorf sind Zeugnisse einer oft ergreifenden, aber durchaus individualistischen Frömmig­ keit. Dann wirb der reiche Chor abgelöst durch die Stimmen großer Einzel­ gänger wie Mörike, Annette Droste-von Hülshoff und Hebbel. Letzterer hat in feiner Neudichtung der Nibelungen ein seherisches Bekenntnis zum Christentum als der Formkraft deutschen VolkStumS und deutschen Staates abgelegt. In folgerichtiger Ausführung der Motive des mittelalterlichen Epos

§100

Expressionismus — Religiöse Dichtung

453

schildert er, wie daS Heidentum der Burgunder und der Hunnen, verkörpert in Hagen Tronje, Kriemhild und Etzel, weil eS Vergeltung und Blutrache bis zum äußersten für die höchste Ehrenpflicht hält, zur gegenseitigen AuSmordung großer, ruhmreicher Völker führt und somit an der Aufgabe schei­ tert, Ordnung und Frieden auf der Welt zu stiften. Der christliche Goten­ könig, Dietrich von Bern, übernimmt sie „im Namen dessen, der am Kreuz erblich". Von den großen Erzählern des Jahrhunderts sind drei wesentlich vom Geist des Christentums berührt. JeremiaS Gotthelf (Schriftstellername für Albert Bitzius 1797—1854), Pfarrersohn und selber Pfarrer im Berner Land, wurde durch seine ungewöhnlich große Gestaltungsgabe und die Liebe zu seinem Volk, dessen innere Mängel und Nöte er mit Hellem, tapferen Blick erkannte, zu schriftstellerischer Wirksamkeit als Ergänzung seines pfarr­ amtlichen Wirkens geführt. Seine Erzählungen schildern mit derber, rea­ listischer Anschaulichkeit das bäuerliche Dasein des Berner Landes bis in alle Einzelheiten des Wirtschaftsbetriebes. Dabei weiß er alles Besondere des alltäglichen Arbeitslebens in die große göttliche Lebensordnung einzu­ fügen. Er ist Gegner des polüischen und des theologischen Liberalismus, kon­ servativ im besten Sinne deS Wortes, unbelastet durch theologische Dokttinen. In seinen Dichtungen werden herzhafte christliche Gläubigkeit und fester, sittlicher Lebensernst durch eine unerschrockene und frische Erfassung der sinnlichen Wirklichkeit deS Lebens verkörpert. Sein jüngerer Landsmann C. F. Meyer (1825—1898), Kulturpoet großen Stiles, gründlicher Kenner und geistvoller Schilderer der Renaissance, beweist zugleich sein inneres Ver­ hältnis zu protestantischem Christentum. Seine historischen Novellen und Gedichte, sowie sein Balladenkranz „Huttens letzte Tage" bewegen sich immer wieder um die Macht frommen Glaubens in der Geschichte. Die gewaltige Größe Martin Luthers, bas echte Heldentum der Hugenotten hat kein Theo­ loge seiner Zeit so sicher geschaut und geschildert wie dieser spät reif gewordene Dichter. Auch hat er in tief empfundenen lyrischen Gedichten („In Harmes­ nächten", „Ein Pilgrim", „Friede auf Erben", „Alles") seinen persönlichen Glauben ausgesprochen. Wilhelm Raabe (1831—1910) hat den Geist des Christentums so innerlich aufgesogen und seinem tiefsten Wesen eingewebt, daß er durch das Ganze seiner Gestalten hindurchleuchtet, auch wenn er selten in ausdrücklichen Zeugnissen in die Erscheinung tritt, wie in der Weihnachts­ predigt im „Hungerpastor". Wenn Innerlichkeit, Schlichtheit, Echtheit, Wert­ schätzung der Kinder, der Kleinen und Geringen, der Armen an Gut und Geist, wenn sieghafter Humor, der alles Elend verklärt, gütiges Erbarmen, das auch vor den Verirrten und Verlorenen nicht halt macht (die Mutter der Aus­ sätzigen in der Novelle „des Reiches Krone", Phoebe in den „unruhigen Gästen") zum Wesentlichen des Christentums gehören, dann ist Raabe einer seiner überzeugtesten und überzeugendsten Künder. Daß in seinem Humor

454

Die Neuzeit: die evangelische Kirche

etwas lebt von dem Glauben, der die Welt überwindet, wird besonders deut­ lich durch den Gegensatz zu dem ingrimmigen Humor von Wilhelm Busch, der hinter seinem bissigen Witz seinen Weltschmerz und seine Menschenverach­ tung mühsam verbirgt: er kann die Menschen nur ertragen, wenn er sie komisch nimmt. Um die Jahrhundertwende hat Peter Rosegger (I.N.R.I. Frohe Botschaft eines armen Sünders) die Frage nach dem Wert des Evangeliums für die Gegenwart mit tiefem Ernst aufgeworfen, während Gerhart Hauptmanns „Emanuel Quint" beinah als eine Karikatur, wenn nicht als eine Verspottung des Heiligen wirkt und aufs neue bewies, daß dieser lange Zeit überschätzte Dichter wohl mystische Naturfrömmigkeit zu fühlen vermag, dem Christen­ tum aber fremd gegenübersteht. Wie echt erscheint daneben die Jünger­ gestalt in Emil Strauß' Erzählung „Der Gartenäre" (s. u. S. 504). Aus liebevoller Anschauung ist Schönherrs Drama „Glaube und Heimat" ge­ boren, wogegen Shaws „Heilige Johanna" den ironischen Skeptiker nicht verkennen läßt. Gleichzeitig begann eine reiche Gottsucherlyrik sich zu entfalten, die in Christian Morgenstern, Stephan George und Rainer Maria Rilke ihre stärksten Vertreter fand. Doch ist diese Lyrik, so gewiß sie persönlich ernst zu nehmen ist, mehr allgemein religiös mystisch gestimmt und kann nicht als eigentlich christlich angesprochen werden. Das Kriegserlebnis hat verschüttete Quellen neu geöffnet. Mit Walther Fl ex (der einen jungen Theologen zum Helden seiner Dichtung „Der Wanderer zwischen beiden Welten" macht), Gustav Schüler, R. A. Schröder, Hermann Stehr, Paul Ernst kommt eine protestantische Dichtkunst auf, die an Stelle unsicheren Tastens Gewißheit des Glaubens setzt und sich nicht scheut, in Anbetung, Lob und Dank Gott zu dienen. Unter den „Arbeiterdichtern" sind Karl Bröger, Heinrich Lersch und Hermann Claudius als Männer christlich gläubiger Hal­ tung hervorzuheben. Von daher ist auch eine Wiederbelebung der eigentlichen Kirchenlied­ dichtung zu erwarten. Sie hat trotz des Aufschwungs im Zeitalter der Freiheitskriege (E. M. Arndt) und trotz beachtlicher späterer Ansätze (H. Knapp, I. Ph. Spitta, K. Gero!) es nicht vermocht, sich künstlerisch auf der Höhe der allgemeinen religiösen Lyrik dieses Jahrhunderts zu halten. Ge­ messen an der Macht des klassischen protestantischen Chorals erscheint sie arm. Heute wissen wir den Grund: — nur wo der Einzelne fest in seiner Gemeinde steht und aus ihrem Geiste spricht, können echte Kirchenlieder erwachsen. Nicht zufällig hat gleichzeitig mit der Überwindung des religiösen Individua­ lismus und des nur subjektiven Gefühlserlebens eine Neubesinnung auf das Wesen geistlicher Dichtung eingesetzt. 3. Es läßt sich leicht nachweisen, daß auch das musikalische Schaffen vom Einbruch der religions- und christentumsfeindlichen Strömungen nicht unberührt geblieben ist. Aber das Jahrhundert, an dessen Anfang als eines

§100

Kirchenlied und Kirchenmusik

455

der großartigsten und reinsten Zeugnisse des deutschen Idealismus Beetho­ vens ,,Missa solemnis“ aufklingt, hat doch niemals daS Gefühl für die enge Beziehung der Musik zur Religion verloren. Dafür zeugen neben anderen bescheideneren Kompositionen Richard WagnerS Erneuerung des „Parsifal"MysteriumS und HanS PfitznerS „Palestrina"; vor allem aber die mächtigen frommen Schöpfungen deS überzeugten Katholiken Anton Bruckner (Messen, „Tedeum"), der alle Mittel der modernen Tonkunst in den Dienst seiner Ver­ herrlichung Gottes stellte. Johannes BrahmS „Deutsches Requiem", „Deutsche Fest- und Gedenksprüche" und der große Orgelmeister Max Reger („Der 100. Psalm") haben die protestantische Kirchenmusik stark und nach­ haltig beeinflußt. Die Wiedererweckung vollends deS unvergänglichen, aber langhin kaum gewürdigten ErbeS der Schütz, Händel und Bach, die gleichzeitig anhob und im 20. Jahrhundert fortgesetzt wurde, mußte notwendig auch dem Kultus zugutekommen. Noch freilich stehen wir erst im Beginn jener Erneuerung der evangelischen Kirchenmusik, deren Notwendigkeit nach einer langen „liturgischen Ver­ ödung" nun allgemein zugegeben ist. Wohl hatten bereits die Menschen der Befreiungskriege erkannt, daß eS nicht im Sinne deS Reformators gehandelt war, als man Luthers deutsche Messe immer mehr durch den PredigtgotteSdienst nach reformierter Art verdrängen ließ; während deS ganzen Jahrhun­ derts dauern nun die von König Friedrich Wilhelm III. persönlich eingeleiteten Bestrebungen, hier in Anlehnung an die großen Vorbilder der Vergangenheit zu bessern. Heute wissen wir doch, daß eS bei der Wiederbelebung alter Formen nicht sein Bewenden haben darf, daß auch auf kirchenmusikalischem Gebiet der Individualismus der hinter uns liegenden Epoche Wesentlichstes zerstört oder gar nicht gesehen hat. „Alle Kunst im Gottesdienst und für den Gottesdienst muß auS dem Gemeindeleben heraus sich entfalten" (Ulmer). Die „Orgelbewegung" unserer Zeit (Straube, Ramin) sagt allem äußer­ lichen Virtuosentum ab und begreift daS Orgelspiel wieder als daS, waS eS seinem Wesen nach ist, als Dienst; die „Singbewegung" lehrt, die mäch­ tigen Kräfte deS GemütS und der Gemeinschaft erkennen, die auS Choral und Volkslied lebendig zu unS sprechen. In der „Berneuchener Bewegung" endlich bemüht sich ein Kreis von Pfarrern und Laien um neue Formen kirchlichen Lebens, besonders der Liturgie. Es steht zu hoffen, daß solchen Ein­ flüssen auch die deutschen evangelischen Kirchengesangvereine sich nicht ent­ ziehen werden. Im Zuge deS für die letzten Jahre bezeichnenden SttebenS zur Vereinheitlichung ist bereits ein Deutsches Evangelisches Gesang­ buch geschaffen worden, daS einen Kern von 342 Liedern enthält und der Besonderheit der verschiedenen Landschaften durch Beifügung von Anhängen Rechnung trägt.

456

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

III. Dienst am Volk au» der Kraft evangelischen Glauben«. Da» zähe Ringen um eine Neugestaltung der Kirche hatte den Willen deS deutschen Protestantismus zur Gemeinde auch in den Tagen deS extremsten Individualismus kunbgetan. Die lebendige Anteilnahme am Geisteskampf der Zeit erhärtete seine unlösbare Verbundenheit mit den großen Kagen der Kultur. Aber nur eindeutige Zeugnisse eines praktischen Christentums „der Gesinnung und der Tat" (Goethe) vermochten ihn vor dem Kitischen Blick dieses tatenfrohen Jahrhunderts in seinem Dasein wirklich zu rechtfertigen. DaS Werk der „Inneren Mission" hat diesen Kraftbeweis erbracht. $ 101. Die Innere Mission.

1. Die „Innere Mission" ist die große und entscheidende Lebensbewegung innerhalb der evangelischen Kirche deS 19. Jahrhunderts. Der ihr Ziel und Gestalt gab und sie in der Öffentlichkeit durchsetzte, der Niedersachse Johann Hinrich Wichern (1808—1881), wird immer zu den anziehendsten Er­ scheinungen der christlichen Kirchengeschichte gehören. Denn von Anfang an finden wir in diesem Leben, baS ganz unter dem Wort vom sieghaften, welt­ überwindenden Glauben (l.Joh. 5,4) steht, die beiden Kräfte gleichmäßig rege, die dem Christentum eigentümlich sind, den Drang zur EvangeliumSDerkündigung und den Willen zum Dienst am Nächsten. Mit einer RettungStat beginnt sein Weg: im „Rauhen HauS" bei Hamburg schafft er verwahr­ losten Großstabtjungen ein Heim, baS sie durch „Liebe — Freiheit — Freude" zu tüchtigen Menschen erziehen soll (1833). AuS dem Institut der „Gehilfen" erwuchs bann die männliche Diakonie. Bald folgen weitere AuSgriffe in den gesamten Bereich deS eben furchtbar sich auSbreitenben sozialen Un­ heils: um eine geordnete Armenfürsorge müht er sich, um Betreuung der wandernden Hanbwerksburschen, der Eisenbahnarbeiter und der Auswan­ derer, um Hilfe auch für die von der Gesellschaft AuSgestoßenen: die Sträf­ linge und Prostituierten. Und wie nun Blick und Erfahrung sich wetten und vertiefen, stößt er vor ins Zentrum der öffentlichen Not; als erster hat Wichern die Gefahren für Staat, Kirche und Volkstum erkannt und gekenn­ zeichnet, die im Gefolge des Kapitalismus und der Großindustrie mit der Proletarisierung der Arbeiterschaft, ihrem WohnungSelenb und ihrer Aus­ lieferung an materialistisches Denken heraufzogen. Ihnen entgegenzutreten und durch hingebungsvollen Dienst an Seele und Leib der Massen eine arge Versäumnis wieder gutzumachen, sei unabweisbarer Beruf der christlichen Gemeinde und jedes einzelnen in ihr. Auf dem Wittenberger Kirchentage des SturmjahreS 1848 wurde unter dem unmittelbaren Eindruck der Worte WichernS die Bildung deS „Zentralausschusses für die Innere Mission" beschlossen und sofort entsprechend den Anregungen seiner „Denkschrift" in die Wege gelettet.

$101

Wichern und die Innere Mission

457

Damit hatte man den Grundstein zu einem Werke gelegt/ daS nach dem Willen seines Schöpfers in der Geschichte deS evangelischen Christentums und zugleich deS deutschen VolkStumS Epoche bilden mußte. Denn daS war WichernS Meinung: indem die Kirche den gottentfremdeten Proletarier suchte und nicht rastete, bis sie ihn mit dem heilbringenden Wort gefunden hatte, indem sie jedermann in lebendiger Fühlung mit der Bewegung der Zeit daS Evangelium verkündete, indem sie auch die geringfügigsten Nöte deS öffentlichen Lebens in ihre praktische Arbeit einbezog, würbe sie sich selbst erneuern und die ersehnte Einheit gewinnen. „Die Innere Mission sollte daS Panier werden, um daS sich alle scharen konnten, die auf dem Boden der Reformation standen" (Gerhardt). Dann aber hatte die Stunde der über tätigen Gemeinden sich aufbauenden Volkskirche geschlagen. In ihr mußten die besonderen Eigentümlichkeiten eines jeden Volkes „verklärt" zur Geltung kommen. ES ist WichernS „bleibendes Verdienst, daß er durch die Forderung der Wahrung nationaler Eigenart daS Werk der Inneren Mission vor ver­ waschenem Internationalismus bewahrt hat" (Gerhardt). Nur an Einer Schwäche leibet dieser groß angelegte Bau, einer Schwäche allerdings, die sich aus einem Fehler der Grunbeinstellung herleitet. Trotz lautersten Willens zur Gerechtigkeit, unbeschadet seines tiefernsten Ringens um die Seele aller Volksgenossen hat Wichern sich nicht völlig von der Vor­ stellung lösen können, baß Revolution immer satanisch bleibe und jeder Revolutionär gegen den christlichen Staat demnach auch ein Gottesfeind — daß umgekehrt die verfaßte, obrigkeitStreue Kirche einen festen Kern geistlich Besitzender enthalte, die zur Mission an den Verlorenen berufen seien. Wohl möglich, daß seine ganz und gar aktive Art, ein pietistischer Zug in seinem Wesen ihn zu dieser vereinfachenden Auffassung drängten, — Tatsache ist doch, baß er dadurch allmählich wieder in die BunbeSgenosienschaft deS politischen Konservatismus geriet und sich eine ganz offene, unmittelbare Begegnung mit den Gottentfremdeten erschwerte. Und daS, obwohl er selbst „die innere Berechtigung der Sehnsucht nach sozialer Wiedergeburt" erkannte. Hier, in der allzu scharfen und ein wenig äußerlichen Abgrenzung der von Gott Berufenen gegen die Unerlösten, sowie in dieser Verwischung der Gren­ zen zwischen politischer und religiöser Sicht erkennen wir heute eine zeitbe­ dingte Unzulänglichkeit deS sonst die Mitlebenden weit überragenden Mannes. Der „Revolutionär der Liebe" ist von seinen Zeitgenossen trotz starken Widerhalls nicht voll verstanden worden. Seine letzten Ziele durfte er nicht verwirklichen. Erst die Gegenwart erfaßt die Bedeutung der Tatsache, baß in einerStunbe, die den Individualismus auf ganzer Linie im Vormarsch fand, hier einer auftrat, der an das Volk als gottgewollte Einheit zu erinnern wagte, baß in dem Augenblick, wo die Auffpaltung in Klassen reißend fortschritt und der Staat sich seiner Verpflichtungen gegenüber der sozialen Not noch nicht bewußt war, ein einzelner aus der Kraft christlichen Glaubens den

458

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

Ruf zur Gemeinschaft ertönen ließ. Während die Arbeit allenthalben zur Ware wurde, hat Wichern — von Luthers Ansatz her — auf den ihr inne­ wohnenden Adel verwiesen; während Materialismus und selbstsichere Genuß­ sucht wahre Orgien feierten, hat er das Recht des Heiligen in der Welt und die Notwendigkeit der Heiligung dieser Welt verfochten. 1848 war das Jahr, in dem Karl Marx sein „Kapital" zu drucken begann. In diesem selben Jahre hat der Protestantismus sich durch Wichern als volkstumbewahrende Tat begriffen.

Es war ein gutes Zeichen für die Kraft evangelischen Glaubens und den Ernst des neu erwachsenden kirchlichen Verantwortungsbewußtseins, daß in der Spanne zwischen 1813 und 1848 allenthalben in Deutschland stille und starke Menschen aufstanden, bereit, das durch den Pietismus einge­ leitete Werk des praktischen Christentums fortzuführen und zu vertiefen. Gewiß hat keiner von ihnen Wichern an Genialität des Herzens und Weite der Schau erreicht. Aber die Knaben-Rettungs- und Erziehungsanstalten des Grafen von der Recke-Volmerstein in Düsseltal bei Düsseldorf (seit 1819) und des Dichters von „O du fröhliche" Johannes Falk in Weimar (seit 1813) — zwei besonders bekannte Beispiele aus einer ganzen Reihe ähnlicher Gründungen — weisen doch bereits in die Richtung des „Rauhen Hauses". Es muß auch erwähnt werden, daß gleichzeitig im Bereiche der Erweckung die ersten evangelischen Jugendvereine entstanden — Bollwerke gegen die immer spürbarer werdende Auflösung der Familie. Die Laien regten sich und drängten hinein in die Liebesarbeit der Kirche. Worte Wicherns: „Die in der Kirche Gottes den lebendigen Glauben haben, sind die Mutigen; denn sie sehen das Angesicht und hören die Herz und Freudigkeit schaffende Stimme dessen, der uns zurust: Fürchte dich nicht! Flucht und Feigheit ist Schande, denn immer ist sie Nichtglaube oder Unglaube. Wer glaubt, flieht nicht. Der Glaube verteidigt und greift an; der siegeSgewiffe Kampf ist seine Ehre, denn er ist Zeuge seiner göttlichen Herkunft; der rechte Kampf bis in den Tod bleibt sein Gebot. Es gibt keinen Feind des Glaubens, der nicht den Mut deS Glaubens steigerte." — „Wir glauben nach dem göttlichen Wort, daß nicht bloß die Individuen sondern auch die Völker als solche eine Verheißung haben, daß einst nach Ausschei­ dung aller Ungerechtigkeit auch das Leben der Völker durch Gottes Gnade geheiligt und verklärt werden wirb, daß nicht bloß in einzelnen Gläubigen sondern auch in gläubigen Nationen die von Gott ihnen verliehenen Eigentümlichkeiten, Anlagen und nationalen Güter zu einer Wiedergeburt-Melangen sollen." — „Es tut eines not, daß die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit anerkenne: die Arbeit der Inneren Mission ist mein! daß sie ein großes Siegel auf die Summe dieser Arbeit setze: die Liebe gehört mir wie der Glaube. Die rettende Liebe muß ihr das große Werk­ zeug, womit sie die Tatsache deö Glaubens erweist, werden. Diese Liebe muß in der Kirche als die helle Gottesfackel flammen, die kundmacht, daß Christus eine Gestalt in seinem Volke gewonnen hat." — „Die Innere Mission will in der Kraft der aus dem Glauben geborenen Liebe diejenigen Massen in der Christenheit innerlich

§101

Worte Wicherns — Die Frau im Dienst christlicher Liebe

459

und äußerlich erneuern, welche der Macht und Herrschaft des aus der Sünde direkt oder indirekt entspringenden Verderbens anheimgegeben sind, und die nicht so, wie es zu ihrer christlichen Erneuerung nötig wäre, von den geordneten christlich­ kirchlichen Ämtern erreicht werden. Da ist chr kein innerer oder äußerer Notstand fremd, dessen Hebung Aufgabe christlich rettender Liebe sein kann; da erfaßt sie die in Christo gewonnene und unzerstörbare Einheit des Lebens in Staat und Kirche, Volk und Familie, in allen Gliederungen der christlichen Gesellschaft mit ihren rettenden Lebenskräften; da erkennt sie selbst in den eigentümlichen Mißbildungen und verzerrten Zuständen der Gegenwart (Kommunismus), denen gegenüber die Obrigkeiten machtlos sind und die Kirchen verstummen, das Fragen des Volkes nach ihrer rettenden Arbeit und hofft unter Gottes Hilfe auf eine solche Rettung der Gesellschaft, aus welcher Kirche und Staat zu einem neuen Leben auferstehen werben."

2. Der Gedanke der Inneren Mission zündete rasch und stark, weil ein genialer Mensch ihn trug und weil er dem tiefsten Leiden dieser Zeit Heilung verhieß. Alle Bereiche protestantischen Lebens sind allmählich direkt oder indirekt von ihm berührt und gewandelt worden. An einer Stelle hat er indes besonders umwälzend gewirkt. Erst durch ihn wurde die Möglichkeit für einen umfassenden Einbau von Frauen in die evangelische Kirchenarbeit geschaffen. Die großen geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen zu Beginn des Jahrhunderts hatten auch hier den Boden bereitet. Der klassische Idealismus und noch mehr die Romantik forderten und bewirkten eine aktive Anteilnahme der Frauen an der geistigen Bewegung, das heraufziehende Maschinenzeitalter schloß ihnen das Tor zum Einttitt in die Berufe und zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit auf. Man gewöhnte sich bald, die Frau im öffentlichen Leben ernst zu nehmen. So beftemdet es nicht, daß in den zwanziger Jahren die Quäkerin Elisabeth Fry von England herüberkam

und auf Vortragsreisen durch Deutschland für ihre Pläne warb. Sie hatte bereits 1813 die Betreuung der bis dahin völlig vernachlässigten, von der bürgerlichen Gesellschaft verfemten weiblichen Sttäflinge von Newgate in Angriff genommen und tatsächlich eine Gefängnisreform und die Gründung von Fürsorgevereinen durchgesetzt. Ihr Beispiel weckte die Herzen. Als wieder einmal die Cholera durchs Land ging (1831), da rief in Hamburg Amalie Sieveking den ersten deutschen Verein für weibliche Liebestätigkeit ins Leben, das Vorbild und Muster der evangelischen Frauenvereine. Stärker und nachhaltiger nocb als das Beispiel der tapferen hanseatischen Patriziertochter wirkten Auftuf und Tat des Kaiserswerther Diaspora­ pfarrers Theodor Fliedner (f 1864), der — genau eine Woche nach der Gründungsversammlung des „Rauhen Hauses" — im September 1833 die ersten weiblichen Hilfskräfte in den kirchlichen Dienst einstellte. Auch ihn hatte der Anblick des Gefangenenelends, die Not verwaister und verwahrloster Kinder nicht ruhen lassen. 1836 legte er den Grundstein zum Diakonissenmutterhaus in Kaiserswerth.

460

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

Fliedncr ist der erste Protestant gewesen, der planmäßig und aus lange Sicht Frauen zu geordneter Gemeinbearbeit heranzog. Vis dahin finden wir nur innerhalb des engumgrenzten pietistischen Raumes hier und da Dia­ konissen; zur Eigenart der Reformation gehört eS gerade, baß fie die Frau zunächst wieder mit allem Nachdruck auf ihr gottgewolltes Amt in HauS und Familie hinwieS. Wie wenig doch auch beim Protestantismus der innere Zusammenhang mit der urchristlichen Übung weiblichen GemeindebiensteS

und dem Beispiel der Barmherzigen Schwestern verlorengegangen war, wie starke Anziehungskraft die neuen Wirkungsmöglichkeiten boten, bewies der Zustrom von Kräftm, der nun erfolgte. FliednerS Werk wuchs rasch ins Weite. 1853 stellte ihm Wilhelm Löhe, eine der stärksten Persönlichkeiten des bayrischen Luthertums, baS glänzend auSgebaute, zunächst für die spezifisch kirchliche Gemeinbepflege bestimmte Diakonissenhaus in Neuendettelsau zur Seite (vgl. o. S. 436). Um die Schwesternorganisationen herum legte sich, je weiter baS Jahr­ hundert fortschritt und je furchtbarer zumal in den Großstädten die Ver­ elendung und Verwahrlosung wurde, ein weiter KreiS von Frauenvereinen und Verbänden, die alle eö sich zur Aufgabe gemacht hatten, zu helfen und zu heilen. Ob cS sich um Mütterberatung handelte oder um Jugendfürsorge, um Dienstbotenbetreuung ober um Förderung der Heimarbeiterinnen, überall standen Frauen aller Gesellschaftsschichten zur Verfügung, wenn der Ruf der Kirche an sie erging. Die „Frauenhilfe deS Evangelisch-kirchlichen HilfövereinS" hat diesem großzügigen freiwilligen Einsatz dann Rückhalt und Ordnung gegeben. ES war nur ein Gebot der Gerechtigkeit und ein Zeichen deS DankeS für uner­ müdliche stille und segensreiche Arbeit, daß die evangelischen Landeskirchen nach dem großen Kriege auch den Frauen das aktive und passive Wahlrecht für die Gemeindekörperschaften und die Synoden schenkten. Die deutschen Diakonissen-Mutterhäuser deS KaiserSwerther Verban­ des bilden Schwestern für sämtliche Gebiete der Wohlfahrtspflege aus und entsenden sie überall dorthin, wo ihre Dienste in der Armen- und Kranken­ fürsorge, im Kleinkinderschulwesen usw. benötigt werden. ES wäre ein Miß­ verständnis, zu denken, daß die Diakonisse allein für Zwecke der Krankenpflege da sei. „DaS Mutterhaus ist Geistesgemeinschaft und Lebensgemeinschaft" (Lauerer), ihm bleiben die einzelnen Glieder als ihrem Rückhalt und dem Ort ihrer Verantwortung dauernd verbunden. AuS derselben Gesinnung — wenn auch in einer Form, die der Selbständigkeit der Schwestern mehr Spiel­ raum gewährt — arbeitet der Evangelische Diakonieverein (seit 1894). 3. Keiner unter den führenden Männern der Inneren Mission ist dem Geiste und den Absichten WichernS so nahe gekommen wie Friedrich von Bodelschwingh (1831—1910). Und keinen hat man doch im Grunde so häufig mißverstanden. Der Irrtum, als ob Innere Mission eS weient-

$101

Frauenvereine — Fr. v. Bodelschwingh

461

lich mit lebensunwertem Menschentum zu tun hab«, klammert sich vor allem an das Werk des Schöpfers der „Elenden-Stabt" Bethel bei Biele­ feld. Aber dieser Ministersohn und Landwirt, der plötzlich Geistlicher wird, Diasporapfarrer in Paris und Felbprebiger im deutsch-französischen Kriege, ist nicht nur „der größte Virtuose der Nächstenliebe", sein Bild trägt Züge, die eindeutig den entschlossenen sozialen Reformer erkennen lassen. Gewiß steht im Mittelpunkte seines Schaffens immer die Sorge für die Epileptik« und die anderen Kranken, die in Bethel Zuflucht finden; hier, auf scheinbar verlorenem Posten, kann sein alle Hindernisse überwindender Wille zum Dienst aus Dankbarkeit gegen Gott am umfassendsten ansetzen. Doch die Art, wie das geschieht, wie da ein Haufe Verlorener und Aufgegebener unter sicherer Führung zu einer festen Gemeinschaft zusammenwächst, in der auch daS geringste Glied entsprechend seinen Kräften zur Selbstbetätigung und Mitwirkung am Ganzen angehalten wird — so baß allmählich die Gemeinde der Elenden „das Gepräge einer in Lob und Dank, in Tragen und Arbeiten über allen Erdenjammer hinausgehobenen Schar von erlösten Kindern Gottes" gewinnt (Mahling) — diese Art zeigt bereits das unlösbare In­ einander von Nächstenliebe und völkischer Verpflichtung im Wesen des großen Tatchristen. Und bald legt sich um das zu unbestrittener Vorbildlichkeit für die gesamte Innere Mission Heranwachsende Bethel ein Kranz von Anstalten und Hilfswerken, die alle, so verschieden auch ihre Abzweckung sein mäg, dem Gedanken der Volkserneuerung aus den Kräften des Evangeliums dienen. Arbeiter- und Moorkolonien (zuerst Wilhelmsdorf 1882) führen die Entwurzelten und Enterbten zur Scholle und damit zum Selbstbewußtsein zurück — „Arbeit statt Almosen!" — Wanderarbeitsstätten wehren dem Vagabundenelend, ein Siedlungsverein wirb gegründet und die Wohnungs­ not erfolgreich angegriffen. Das alles geschieht in stetem Ringen mit der „gewaltigsten Zerstörungsmacht, die an den Grundlagen beS Staates rüttelt, der Hoffnungslosigkeit." Zuletzt geht der afte Mann noch selbst inS Parlament, um als Landtagsabgeordneter einen Ausbau der Gesetzgebung in christlich­ sozialem Sinne zu betteiben. Wenn etwas die lähmenden Wirkungen deS individualistisch entarteten Liberalismus beweist, so eben die Tatsache, daß diese wahrhaft ftuchtbaren Ansätze und Anregungen der Inneren Mission schließlich doch nicht Gemeingut der gesamten deutschen Öffentlichkeit geworden sind. Wohl blieb bis heute der Sinn für selbstlosen Dienst und opferbereite Hingabe unter den Erben Wicherns und BodelschwinghS lebendig, ihr entschlossener Kampf gegen die Mächte der Zersetzung und Vergiftung leiblicher wie seelischer Volks­ gesundheit trug reife Frucht. Aber schon die politisch stark gebundene Kirche des Kaiserreichs hat dem Ruf, der von daher kam, nicht immer in dem wün­ schenswerten Maße entsprochen: der Staat, mit dem man vor allem im Zusammenhang der Iugendfürsorgegesetzgebung weitgehend Fühlung nahm.

462

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

sah naturgemäß zunächst die technische Seite der Aufgabe und schenkte der sittlich-religiösen Fragestellung oft nicht die nötige Aufmerksamkeit. Die praktische Hilfeleistung der Inneren Mission geschieht in drei verschie­ denen Formen: als „geschlossene Fürsorge" (Krankenhäuser, Anstalten,

Heime) — als „halboffene Fürsorge" (Tageshorte, Nachtasyle, Kinder­ gärten usw.) und als „offene Fürsorge" (freie Betreuung von einzelnen in ihrem privaten Dasein, Beratungsstellen für Mütter, Kranke usw.). 1935 gab es in Deutschland 4381 Einrichtungen der geschlossenen und 3147 der halboffenen Fürsorge, 4465 Gemeindepflegestationen und 75000 Berufs­ arbeiter der Inneren Mission (Diakonen, Diakonissen, Wohlfahrtspflegerin­ nen). Daneben steht der volksmissionarische Dienst (Frauen- und Männer­ werk Stadtmission, Seemannsmission usw.). Seit dem 18. 10. 1933 ist der „Zentralausschuß für die Innere Mission" der Deutschen Evangelischen Kirche eingegliedert.

Universitätsprofessorvr. Lehmann-Filhes (Berlin) schreibt: „Von einem Vertreter der astronomischen Wiffenschaft erwartet man vielleicht, daß er die Entdeckung des Planeten Neptun oder die Erfindung der Spektralanalyse oder eine andere große Entdeckung auf naturwissenschaftlichem Gebiet als die größte Tat des Jahr­ hunderts feiert; dennoch liegt nach meiner tiefsten und innersten Überzeugung die bedeutendste Tat des Jahrhunderts auf einem völlig anderen Gebiete als auf dem der Wissenschaft. Ich bekenne, daß ich für das Größte und Bedeutendste, waö dieses Jahrhundert hervorgebracht hat, das Erwachen und kräftige Aufblühen christlicher Liebestätigkeit, besonders die Einrichtung der Inneren Mission ansehe."

§ 102. Die evangelische Kirche im Ringen um die soziale Frage.

In Wicherns geistigem Erbe waren Antriebe enthalten, die weit über den Bereich der Inneren Mission hinaus auf Entfaltung in der ganzen Breite des öffentlichen Lebens drängten. Als nach dem deutsch-französischen Kriege schwere Schäden am Körper der Nation sich zeigten und vor allem die wach­

sende Not des vierten Standes erschreckend sich offenbarte, während gleich­ zeitig eine durch den materialistischen Marxismus mächtig emporgetriebene Austrittsbewegung den Abstand der Wirklichkeit vom Ideal der Dolkskirche eindeutig vor Augen führte, wurde der Ruf nach einer christlichen Antwort auf die soziale Frage, nach einem „christlichen Staatssozialismus", unüber­ hörbar. Zweimal hat dann um die Jahrhundertwende der Wille des deutschen Protestantismus, die bestehenden Formen der Wirtschaft und Gesellschaft vom Evangelium her auf ihr inneres Recht zu prüfen, sich in starken, weithin sichtbaren Persönlichkeiten verkörpert. Weg und Schicksal beider sind be­ zeichnend für die egoistische Verhärtung der damals führenden Klassen und für die tragische Verstrickung dieses Luthertums, das in einem entscheidenden Augenblick vaterländischer Geschichte den Weg der protestantischen Ver-

§ 101 f.

Leistung der Inneren Mission — Adolf Stöcker

463

anttvortung nicht zu gehen vermochte, weil es sich zu stark an den alten kon­ servativen Staat gebunden fühlte. 1. 1874 kam Adolf Stöcker (1835—1909) alö Hofprediger nach Berlin. Gerade war im Zusammenhänge des Kulturkampfs die Zivilstandsgesetz­ gebung in Kraft getreten und hatte erschreckende Zustände in der Hauptstadt offenbart: 80 v. H. aller Ehen blieben ohne kirchliche Trauung, 40 v. H. der Kinder ohne Taufe. Den tiefgläubigen und leidenschaftlichen Mann traf das mit der Gewalt eines Befehls: er übernahm die Berliner Stadtmission und baute sie — in seinem Wirken ein „lebendiger Kommentar zu Wichcrns Gedanken" (Mahling) — binnen kurzem so großartig aus, daß diese Tat allein schon genügen würbe, ihn „auf eine Höhe mit den bedeutendsten katho­ lischen Ordensstiftern" zu stellen (Nippold). Aber bald trieb ihn sein Wunsch, die Kluft zwischen Proletariat und Kirche zu schließen und — als Voraus­ setzung dafür — dem Arbeiter ein würdiges Dasein zu schaffen, weiter. „Durch die Innere Mission kann die Sozialdemokratie nicht überwunden werden. Es bedarf einer sozialpolitischen Partei." Als er allenthalben auf seinem Wege den Widerstand des Marxismus und dahinter die Spuren des Judentums fand, tat er entschlossen den Schritt in die praktische Politik. Der Hofprediger wurde zum Volkstribun. 1878 stellte er sich — damals ein unerhörtes Wagnis — in der berühmten Eiskellerversammlung den sozialisti­ schen Massen persönlich. Unmittelbar danach gründete er die „Christlich­ soziale Arbeiterpartei". Ein erbittertes Ringen um die Seele des deutschen Menschen hob an, in dessen Verlauf der große Agitator weit in die Reihen des Gegners vorstieß. 1890 trat zum ersten Male der „Evangelisch-soziale Kongreß" zusammen, der die Aufgabe hatte, auch die Kirchenführung und die gesamte protestantische Öffentlichkeit in den Bann der neuen Idee zu

ziehen. Aber noch im selben Jahre mußte Stöcker aus seinem Hofpredigeramt scheiden. Unter Auswertung gewisser Motive WichernS hatte er das Hochziel eines nationalen Sozialismus, einer vom Geist des Evangeliums bestimmten gerechten Wirtschaftsordnung vor den Massen aufgerichtet, hatte erbittert für eine organische Gesetzgebung, eine Reform des Börsen- und Aktienwesens, gegen die Vergiftung des öffentlichen Lebens durch Presse und Demagogie und gegen die Gefährdung des Grundbesitzes gefochten und sich nicht gescheut, Marxismus und Judentum in ihrer ganzen Gefährlichkeit zu entlarven. Er hatte doch nicht gesehen, daß der vom Kapitalismus weitgehend abhängige Staat bet Hohenzollern selbständige sozialpolitische Regungen des Protestan­ tismus mißbilligte und daß vor allem die diesem Staat bis zur Hörigkeit verpflichtete Kirchenführung sich dem christlich-sozialen Gedanken versagte. Zwar hallte die entschieden neue Wege der Sozialpolitik weisende kaiserliche Botschaft vom 17.11.1881 auch im kirchlichen Raume wieder (Bekämpfung der Sonntagsarbeit, Eintreten für gesetzlichen Arbeiterschutz, Gründung „Evan-

464

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

gclischer Arbeitervereine"), und die von hoher sittlich-religiöser Verantwortung getragenen Erlasse Wilhelms II. von Februar 1890 mit ihrer starken Empfeh­ lung der „Fürsorge für den wirtschaftlich schwächeren Teil des Volkes im Geiste christlicher Sittenlehre" hatten eine Verfügung deS Evangelischen OberkirchenratS zur Folge, die dieGeistlichen zur Beteiligung an der sozialen Arbeit aufrief. ES ist aber bezeichnend, daß beide Male der Staat die Führung hatte. Und als 1895 der Kaiser offen auf die Seite der Gegner Stöckers trat — „Christlich-sozial ist Unsinn!" — da warnte derselbe Oberkirchenrat gehorsam vor weiterer sozialpolitischer Bttätigung. Um den alternden Stöcker wurde es einsam. Im Grunde war für ihn die Politik stets nur „ins Große getriebene Seelsorge" (Naumann) gewesen. Nun gab er seine letzte Kraft in daS Werk, das immer sein reinstes Glück geblieben ist: — in die Stadtmission. Worte Stöckers: „ES ist der Kirche große und heilige Aufgabe, bas öffentliche, Leben für sich zuttickzuerobern. So wirb sie dem Volke wieder ein« Burg der Wahr­ heit, ein Hott der Gerechtigkeit, ein Quell des heiligen Lebens sein." — „Eine neue StaatSibee bahnt sich an, eine Staatsibee, welche offen anerkennt, daß der Arbeiter in seiner unsichttrn Lage, wie sie durch die gegenwärtige Wirtschafts­ ordnung geschaffen ist, einen bttechtigten Anspruch hat auf die Fürsorge des Staates, welche eS zu den dringendsten und ersten Aufgaben des Staates rechnet, sich der Bedrängten anzunehmen." — „Es ist meine Überzeugung, baß wir die Gefahren des sozialistischen Systems nur überwinden werben, wenn wir mit den berechtigten Elementen desselben uns auöeinanbersetzen, baß wir der sozialistischen PhaMasie, das Privateigentum aufzuheben, nur begegnen können, wenn wir mit zwei Ge­ danken des Sozialismus vollkommen Ernst machen, mit dem einen: das wittschaftliche Leben wieder in eine organische Form zu bringen, und mit dem andern: die Kluft zwischen arm und reich mehr zu schließen." — „Es genügt nicht mehr, den nichtbesitzenben Klaffen aus Erbarmen Almosen zu geben, wir müssen aus Liebe und Gerechtigkeit tijnen mit Freuden zu allem verhelfen, was sie fordern dürfen, und wir müssen es tun im lebendigen Geist des ChristeMums und des Patriotismus. Dieses Ziel hat mir bei der Begründung der christlich-sozialen Arbeiterpatt« vorgeschwebt."

2. Die Bewegung, die Stöcker ausgelöst hatte, dauerte und tastete nach neuen Ufern. Friedrich Naumann (1860—1919) kam vom „Rauhen Hause"und auS der Inneren Mission, er hatte Stöcker ein gutes Stück Weges begleitet. Doch seine verbindliche Natur suchte letztlich nicht den Kampf, sondern den Ausgleich, sein lebendiger DemokratismuS stieß sich an der konservativen Gebundenheit deS HofprebigerS, sein tieferlebtes undogmatisches Christen­ tum, daS ihn JesuS mit Vorliebe „als Volksmann" sehen ließ und sich vor­ züglich in den Jahrgängen seiner gehaltvollen, künstlerisch geformten An­ dachten aussprach („GotteShilfe"), spannte sich häufig gegen die in ihrer Notwendigkeit, aber auch in ihrer irdischen Bedingtheit klar von ihm er­ kannte kirchliche Form. Schon früh wurde eS seine Überzeugung, baß man

„den uralten Bund deS Christentums mit den Mühseligen und Beladenen"

§102

Worte Stöckers — Friedrich Naumann

465

erneuern müsse/ daß wohl die gottfrembe Weltanschauung der Sozialdemo­ kratie, nicht aber der politische Gedanke des Sozialismus zu verwerfen sei. Dann ging ihm die Einsicht auf, daß uns das Christentum des N.T. nur die Kraft zum sozialen Handeln schenken, nicht aber die Form dieses Handelns vorschreiben kann. Als vollends die Kirchenführung sich seinem Aufruf, die Sache der Armen, auf die Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem satten Bürgertum, zu der ihren zu machen, verständnislos verschloß, schwand ihm der Glaube, das moderne Leben sei mit Hilfe des unter ganz anderen wirt­ schaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen entstandenen Evangeliums zu ordnen. Sein protestantischer Aktivismus drängte hinaus aus dem kirch­ lichen Raum. Er glaubte als echter Erbe Luthers zu handeln, wenn er sowohl dem Staat wie der Wirtschaft eine besondere Gesetzlichkeit zubilligte und seine persönliche Religiosität in politische Energien umsetzte. Zu der grund­ sätzlichen Erkenntnis Luthers, daß man die Welt nicht mit dem Evangelium regieren kann und doch im Geist des Evangeliums in der Welt wirken soll, auch wenn sie mit Undank lohnt, ist auch er nicht gelangt. Die von ihm begründete „national-sozialePartei" ging, da ihm die trotzig-harte Geduld des Wartens fehlte, nach kurzer Dauer in der „fteisinnigen Vereini­ gung" auf. Es war die Tragik Naumanns, daß er auch in der Politik wohl fruchtbare Anregungen ausstreuen, aber niemals zu einer grundlegenden Tat gelangen konnte. In die Herzen empfänglicher Jugend hat er aber Samen gepflanzt, der nicht untergegangen ist. Mit Recht urteilt sein Biograph (Th. Heuß): „Die Substanz seines Wesens war und blieb die Religion; aus einer religiösen Mächtigkeit traf er seine letzten Entscheidungen, in einer reli­ giösen Bindung ruhte seine freie Heiterkeit." Worte Naumanns: „Jesus Christus war und ist und bleibt der größte Volksmann, der für bas Volk einen Kampf geführt hat, der unvergeßlich ist. Wenn einmal Jesus wieder verstanden wird, wenn man allen bloßen Wortkram und Kanzelton beiseite wirst und ihn schaut, wie er war und ist, dann wird die große innerliche Erneuerung des Volkes kommen, ohne welche alle soziale Reform nur rote Außenarbeit ist." — „Wer die Armen verachtet, verachtet Jesus, mag er Mönch oder Bischof oder Prediger sein. Christentum ist Armenhilfe. Armenhilfe! Ist das etwa soviel wie Almosen, wie Bettelsuppe, wie Volksküche? Hier ist ein Punkt, wo das Mißtrauen der Arbeiterschast gegen alles, was christlich heißt, sehr groß ist. Das Wort Almosen hat beim Arbeiter keinen guten Klang, und mit Recht, denn wer heute noch sagen kann, der Masienarmut sei mit bloßem Almosen abzu­ helfen, der muß ein bißchen unklar sein, oder er will sozialen Wind machen. Weder das Wunder noch das Almosen sind unsere Mittel. Das Wunder liegt in Gottes Händen, und das Almosen ist auf Erden altersschwach geworden, aber der Geist, in dem Jesus Wunder und Almosen zu den Mühseligen und Beladenen ttug, dieser Geist ist das Erbe, das Jesus uns vermachen will. "

Gerade eine Betrachtung dieses entscheidenden Abschnittes der Vorkriegs­ geschichte zeigt, wie verhängnisvoll dem deutschen Protestantismus seine 30

Schuster, Kjrchengeschtchte

466

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

historisch bedingte enge Verbindung mit dem Staate geworben ist. Selbst Wichern wurde dadurch bei der Verwirklichung seiner Ziele gehemrnt, dem Hofprebiger Stöcker vollends war das Königtum der Hohenzollern schlecht­ hin unantastbar. Naumann resignierte, und die Arbeit des „Evangelisch­ sozialen Kongresses" blieb wesentlich akademisches Gespräch. „Das Er­ gebnis war, baß der soziale Kampf scheiterte, weil er gegen den .christlichen Staat' politisch angesetzt werden mußte" (Beyer), eine Folgerung, die man in kirchlichen Kreisen einfach nicht zu ziehen vermochte. Erst der Weltkrieg brachte die große Wandlung der Herzen und der öffentlichen Einrichtungen. Indem er den Bund von Thron und Altar zerschlug und ein neues völkisches Verantwortungsbewußtsein weckte, machte er den Weg frei für alle die Kräfte, die auf eine planmäßige Ansassung der sozialen Frage hinbrängten.

$ 103. Soldaten und Staatsmänner. 1. Der preußische Soldat trug auf seinem Koppelschloß die Inschrift „Mit Gott für König und Vaterland". Er trug sie nicht umsonst. Der von dem Großen Kurfürsten und Friedrich Wilhelm!, der brandenburgisch­ preußischen Armee eingestiftete Geist der Gottesfurcht,der sichim Sieben­ jährigen Kriege in geduldig zähem Aushalten bewährte und in den Freiheits­ kriegen als eine Helle Flamme der Begeisterung lohte, hat sich mit fast un­ verminderter Kraft, allen zersetzenden Einflüssen zum Trotz, auch durch bas 19. Jahrhundert erhalten. Beinahe sämtliche großen Erzieher und Führer der Armee bis Schliessen, Hindenburg und Mackensen sind dafür aufrichtige Zeugen. Beim Ausbruch deS Krieges 1866 schreibt der Kriegsminister von Roon an seinen Freund Perthes: „Preußens Kraft ist der schweren Aufgabe deS Kampfes wohl gewachsen, trotz der Trichinen in den eigenen Eingeweiden. Wir haben 550000 Mann wohl ausgerüsteter und trotz parla­ mentarischen Haders von bestem Geist beseelter Truppen auf den Beinen, gewiß genug, um den aus vielen Schlacken und wenig Gold und Silber for­ mierten, vielzungigen Goliath umzuwerfen." Wenn Roon den Geist der Truppen so hoch rühmt, so denkt er dabei in erster Linie an die auf Gottes­ furcht gegründete Manneszucht; ist er doch selber von tief demütiger Gottes­ furcht erfüllt. Denn in jenem Brief fährt er folgendermaßen fort: „Und dennoch tonnen wir — ist es Gottes Wille — geschlagen werben und unterliegen. DeS Herrn Wege sind nicht die unsrigen, und wenn wir auch in unserer Kurzsichtigkeit den heilsamen Zweck einer solchen Niederlage nicht erspähen können, so bleibt sie doch möglich und—vor Gottes Augen gerecht. Wohl bitten wir daher um Sieg und danach um einen ehrlichen Frieden, b. h. wenn'S Gottes Wille ist; aber gerechter erscheint im Herzen das Gebet um Bewahrung vor Schmach und Schande, bas wir täglich im Herzen bewegen sollten."

Bekannt ist ja auch Bismarcks prächtiges Zeugnis, das er aus diesem Feld­ zug den preußischen Soldaten in einem Brief an seine Gattin ausgestellt hat:

$103

Christliche Soldaten: Roon, Moltke

467

„Unsere Leute sind zum Küssen, jeder so todesmutig, ruhig, folgsam, gesittet, mit leerem Magen, nassen Kleibern, nassem Lager, wenig Schlaf, abfallenden Stiefelsohlen, freundlich gegen alle, kein Plündern und Sengen, bezahlen was sie können und essen verschimmeltes Brot. Es muß doch ein tiefer Fond von Gottesfurcht im gemeinen Mann bei uns sitzen, sonst könnt« baS alles nicht sein."

WaS unS an den großen KriegSmännern der preußisch-deutschen Geschichte immer wieder am meisten auffällt, ist ihre aufrichtige, tiefe Demut, die sich nicht anmaßt, der Vorsehung ihre Wege vorzuschreiben, die für die aller­ größten Erfolge der Gnade GotteS Dank und Ehre gibt und sich innerlich immer darauf rüstet, auch Unerwartetes und Widriges in tapferer Geduld zu tragen. Dafür möge ein Brief RoonS, wieder an seinen Freund Perthes, nach dem überwältigend großen Sieg von Königgrätz, der den ganzen Feld­ zug entschied — „die Welt bricht zusammen", hieß es damals an der römischen Kurie! — als Beleg dienen: „Wenn Sie wie ich wüßten, wie viel Nichtigkeiten und Erbärmlichkeiten — eigene wie fremde — an den großen Erfolgen haften, die die Welt anstaunt, wahr­ lich, Ihre Bewunderung würbe eher zur Verwunderung werben. Sie würben sich darauf beschränken, Gott zu preisen für unverdiente Gnade und nicht irgend einen armen Menschen, der sich in seinen besten Stunden doch nur als ein schwaches, zerbrechliches Werkzeug in des Herrn Hand fühlt."

Der diesen Brief schrieb, war ein stolzer, trotziger, konservativer Mann, der wie ein ragender Fels gegen die parlamentarische Sintflut in der Konflikts­ zeit gestanden hat und, nach menschlichem Maß gemessen, sich wohl seiner Standhaftigkeit und seiner Erfolge hätte rühmen können. In unsern Tagen aber hat der Felbmarschall beS Weltkrieges und letzte Reichspräsident eben diese Verbindung von unerschütterlicher Standhaftigkeit und auftichtiger, tiefer Demut in monumentaler Größe bargestellt.

ES wirb vielleicht manchen überraschen zu hören, daß der schweigsame Moltke, der siegreiche Feldherr der deutschen Einigungskriege, sich mehr als einmal über seinen christlichen Glauben im Sinne eines undogmatischen, durch die sittliche Tat geprägten Christentums geäußert hat. Auf eine Umfrage nennt er unter den fünf Büchern, die auf ihn den größten Einfluß auSgeübt haben, an erster Stelle die Bibel. Dem Pfarrer Baumann aber bekennt er in einem Brief vom 10. 5. 1878, groß sei die Zahl derer, welche die Wahrheit redlich suchen, aber nicht zu der Erkenntnis gelangt sind, die ge­ wöhnlich als der korrefte Standpunft bezeichnet werde. Es seien nicht Leugner und Zweifler, die ehrlicherweise nicht behaupten könnten, baß alle jene Punkte ihre eigene Überzeugung bildeten; er selbst gehöre zu diesen! — Ihm

liegt alles an der Lauterkeit und Redlichkeit beS Strebens. „Nicht der Glanz des Erfolges, sondern die Lauterkeit beS Strebens und daS treue Beharren in der Pflicht, auch da wo baS Ergebnis kaum in die äußere Erscheinung trat, wird über den Wert eines Menschenlebens entscheiden. Welche merk-

468

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

würdige Umrangierung von Hoch und Niedrig wird bei der großen Musterung vor sich gehen!" Der neunzigjährige hat „Trostgedanken über das irdische und Zuversicht auf bas ewige Leben" niebergeschrieben. Sie sind wohl das um­ fassendste Bekenntnis seines persönlichen Glaubens. Hier heißt es: „Das Christentum hat die Welt aus der Barbarei zur Gesittung emporgehoben. Es hat in hundertjährigem Wirken die Sklaverei beseitigt, die Arbeit geadelt, die Frau emanzipiert und den Blick in die Ewigkeit geöffnet. Aber war es die Glaubenslehre, das Dogma, welches diesen Segen schuf? Man kann sich über alles verständigen, nur nicht über Dinge, an welche das menschliche Begriffs­ vermögen nicht heranreicht, und gerade über solche Begriffe hat man achtzehn Jahrhunderte hindurch gestritten, hat die Welt verheert, von der Vertilgung der Arianer an durch dreißigjährige Kriege bis zu den Scheiterhaufen der Inquisition, und was ist das Ende aller dieser Kämpfe — derselbe Zwiespalt der Meinungen wie zuvor!" „Sie (die Liebe) ist die reinste, die göttliche Flamme unseres Wesens. Nun sagt uns die Schrift, wir sollen vor allem Gott lieben, ein unsichtbares, uns völlig unfaßbares Wesen, welches uns Freude und Glück, aber auch Entbehrung und Schmerz bereitet. Wie können wir es anders, als indem wir seine Gebote befolgen und unsere Mitmenschen lieben, die wir sehen und verstehen. Wenn, wie der Apostel Paulus schreibt, einst der Glaube in die Erkenntnis, die Hoffnung in die Erfüllung aufgeht, und nur die Liebe besteht, so dürfen wir hoffen, auch der Liebe eines milden Richters zu begegnen."

In Moltkes Gedanken, mit denen er den letzten innersten Ertrag eines langen, in unermüdlicher äußerer und innerer Arbeit verbrachten Lebens zusammenfaßt, findet Kants Lehre von Moral und Religion ihre schlichte, aber große und ehrliche Erneuerung. Pflichterfüllung ist ihm Kern und Stern seines Daseins. Sie ist das Gebot der Vernunft sowohl wie des Ge­ wissens. „Die Vernunft steht nirgends in Widerspruch mit der Moral, das Gute ist schließlich auch das Vernünftige." „Vernunft und Weltordnung sind konform, sie müssen gleichen Ursprungs sein." Auch darin geht er mit Kant einig, daß das Gute im Innern des Menschen stets im harten Kampf mit dem Bösen liegt; aber auch in der Hoffnung auf den endlichen Sieg in diesem Kampf. Vor allem seine Ausführung über das Gewissen erinnert beinah im Wortlaut an den Königsberger Denker. „Das Gewissen ist der unbestechliche, unfehlbare Richter, welcher sein Urteil in jedem Augenblick spricht, wo wir ihn hören wollen, und dessen Stimme auch endlich den er­ reicht, der sich ihr verschließt, wie sehr er sich dagegen sträubt". Er stellt nicht wie Kant Postulate auf; er lebt in sittlicher Verantwortung und Freiheit und glaubt an persönliche Unsterblichkeit und an Gott, den ewigen Richter. „Gibt es einen überzeugenderen Beweis für das Dasein Gottes als dies allen gemeinsame Gefühl für Recht und Unrecht, als die Übereinstim­

mung eines Gesetzes wie in der physischen so in der moralischen Welt." —

§ 103

Moltke — Christliche Staatsmänner: Wilhelm L, Bismarck

469

So fteht der Königsberger Philosoph, der die Abhandlung vom ewigen Frie­ den geschrieben hat, zwischen den beiden größten Feldherrn der neueren deutschen Geschichte. Er überträgt Friedrichs d. Gr. Lebensleistung der Pflicht­ erfüllung in ein philosophisches Moralsystem und findet selber in Moltke seinen größten Jünger. 2. Alle diese großen Soldaten der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts scharten sich um den König, der selber ein Soldat war an Sachkenntnis und Umsicht, Pflichtgefühl und Tapferkeit. Wilhelm I. ist kein Genie gewesen, bildete sich auch nicht ein, es zu sein. Er ist wahrhaft groß gewesen durch seine sittliche Lauterkeit, durch die unbedingte Zuverlässigkeit seines Wesens. Es war seine Größe, daß er große Männer um sich haben konnte, Männer, die ihn an genialer Begabung und ungestümer Kraft weit überragten, und die doch in unerschütterlicher Treue und Ehrfurcht an ihrem König hingen. Der lebendige Quell dieses einzigartigen Treueverhältnifies zwischen dem Herrscher und seinen Paladinen war die schlichte, männlich feste Frömmigkeit des Königs. Weil er einen Gott und Herrn über sich wußte, der ihn zum Dienst verpflichtete für Volk und Staat, so fragte er zuletzt nicht nach seinem Ehrgeiz, sondern nach dem Wohl der Gesamtheit. Der fromme Gottesglaube bildete das Fundament seines eigenen Lebens wie des Zusammenlebens mit seinen Mitarbeitern und damit das Fundament der gesamten Staatsführung. Das kommt am überzeugendsten zum Ausdruck in seinem Verhältnis zu dem größten seiner Diener, dem Gründer und Kanzler des zweiten Reiches. Bismarck ist deshalb unter allen Soldaten und Staatsmännern weitaus der größte Zeuge für die formende Kraft christlichen Glaubens, weil sein Temperament und seine Leidenschaft von dämonischer Gewalt waren und an sich der christlichen Lehre und Haltung heftig widerstrebten. Er könnte als eine Verkörperung des Christophorus gelten, dem nur der Stärkste, der Allmächtige, gut genug war, um ihm zu dienen. Man darf vielleicht sagen, daß sich in seiner Person das geschichtliche Schauspiel der Christianisierung der Germanen, die Überwindung einer unbändigen, trotzigen Urkraft und ihre Bekehrung zum Adel des Dienens noch einmal wiederholt hat. Wir erinnern an den ergreifenden Bekenntnisbrief (s. o. S. 218), in dem er seiner innig und warm geliebten Schwiegermutter die ost noch wieder durchbre­ chende Ungebärdigkeit seines natürlichen Menschen auftichtig gesteht und abbittet. Wir wundern uns nicht, wenn wir bei ihm immer wieder dem Ausdruck der heldenhaften Tapferkeit seines Glaubens begegnen. Wenn die Braut für ein sentimentales Gedicht von Byron schwärmt, setzt er ihr den Vers des Reiterliedes entgegen: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein!" und fügt hinzu: „Was ich mir so erläutere in meiner Art: in ergebenem Gottvertrauen setze die Sporen ein und laß das wilde Roß des Lebens mit dir fliegen über Stock und Block, gefaßt darauf.

470

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

dm Hals zu brechen, aber furchtlos, da du doch einmal scheiden mußt von allem, waS dir auf Erben teuer ist, doch nicht auf ewig." Ebensowenig wun­ dern wir uns über die Zeugnisse seines religiös begründeten Pflichtbewußt­ seins: „Wir sind nicht auf dieser Welt, um glücklich zu sein und zu genießen, sondern um unsere Schuldigkeit zu tun, und je weniger meine Lage eine selbstgemachte ist, um so mehr erkenne ich, baß ich baS Amt versehen soll, in bas ich gesetzt bin." „Ich bin Gottes Soldat, und wo er mich hinschickt, da muß ich gehen, und ich glaube, baß er mich schickt und mein Leben zu­ schnitzt, wie er es braucht." Wir erinnern auch an die berühmte Tischrede aus dem Kriege 70: „Wenn ich nicht mehr Christ wäre, bliebe ich keine Stunde auf meinem Posten. Wenn ich nicht auf meinen Gott rechnete, gäbe ich gewiß nichts auf irdische Herren." All das entsprach dem großen Zug seiner Natur und wurde durch die christliche Gläubigkeit nur erhöht und geadelt. Was uns aber überrascht und die christliche Art seines Glaubens über­ zeugend belegt, das sind die immer wieder durchbrechenden Zeugnisse seiner tiefen Demut und Ergebung in Gottes unbegreiflichen Willen. Auch auf der höchsten Höhe des Erfolges bleibt er sich der engen Grenzen seiner Macht wie alles Menschentums bewußt. „ES war seine Frömmigkeit, die ihn vor der Überhebung bewahrte. Sie gehört mit zu seiner Größe alü Staatsmann. Sein vielbewunberteS Maßhalten auf der Höhe des Sieges war nicht nur kluge, politische Berechnung, sondern zugleich Demut vor Gott. Hier ist die Einheit des Menschen und des Staatsmannes mit Händen zu greifen: Politik und Religion stehen restlos im Einklang" (A. O. Meyer). Das mit Recht bewunderte Beispiel dieses bewußten MaßhaltenS ist sein Verfahren gegen Österreich nach dem Sieg von Königgrätz: Die den meisten unbegreif­

liche Mäßigung mußte er der Generalität und seinem König mit Aufbietung der letzten Nervenkraft abringen. Noch beredter aber ist ein Vorgang aus dem Kriege 70. Der berühmte Brief vom 3. September 70, in dem er seiner Gattin mit der Anschaulichkeit eines epischen Dichters und zugleich mit der tiefen Demut eines frommen Christen die Begegnung mit dem von Gott geschlage­ nen Kaiser Napoleon schildert, wurde bekanntlich von Franktireurs aufge­ fangen und im „Figaro" in Facsimile veröffentlicht. Der französische Schrift­ leiter fügt daran ein Nachwort, bas ihm selber alle Ehre macht: „Beim ersten Durchlrsen dieses Schreibens hat man ein Gefühl des Erstaunens, und dies Gefühl ist begründet. In dem ganzen Schriftstück kommt keine berechnete Wendung vor, die eine Glanzwirkung vorbereiten soll; die Tatsachen und Gedanken folgen sich ganz zufällig und ohne jede Prahlerei. Mit Mühe nimmt man hier und da, gleichsam unter der Oberfläche verborgen, den Ausdruck einer innigen Freude wahr, aber fast ängstlich unterdrückt. Man könnte sagen, «S sei eine Freude, die Beklommen­ heit vor sich selbst empfindet und durch ihren Ausbruch den Wandel des Geschicks herauSzuforbern fürchtet. Wie jemand die Hand vor die Augen hält, um sie vor

$103

Bismarcks lutherisches Christentum

471

einem blendenden Lichtstrahl zu schützen, so sucht sich der preußische Kanzler durch einen Hinweis auf den Gottesgedanken vor der Verblendung durch die SiegeSfreube zu bewahren. Der Sieger demütigt sich vor einer unbekannten Macht, die sich für ihn erklärt hat. Er erkennt weder sich selbst noch anderen den Ruhm des Sieges zu. Frei von allem marktschreierischen Wesen, wie von der Sucht binzureißen, äußert er weder Begeisterung noch Geringschätzung; nicht ein Wort der Schmeichelei für die Seinen, nicht ein Wort der Verspottung seiner Feinde entschlüpft seiner Feder: die Hand Gottes hat alles zerschmettert, was zusammengestürzt ist."

Diese strenge Selbstbescheibung leuchtet um so heller, wenn man sie mit der Maßlosigkeit anderer Heroen der Weltgeschichte vergleicht. Bon Talleyrand, dem klügsten Franzosen seiner Zeit, wirb uns berichtet, er habe Na­ poleon schon 1808 auf der Höhe seines Erfolges verloren gegeben, weil er sich sagte, ein Mensch von solcher unbändigen Maßlosigkeit müsse notwendig scheitern. BiSmarck war durch seine tiefe Frömmigkeit davor behütet. Ihm war die Lehre von der Vergänglichkeit deS Menschen auS Ps. 90 gerade im Glück gegenwärtig. Ergreifend ist auch daS Bekenntnis der menschlichen Nichtigkeit in dem Petersburger Brief vom 2. Juli 1859, als BiSmarck meinte, eine verhäng­ nisvolle Fehlleitung der preußischen Politik beklagen zu müssen: „Wir wollen unS nicht verbittern gegen daS Land, in dem wir geboren sind, und gegen die Obrigkeit, um deren Erleuchtung wir beten. Nach 30 Jahren, vielleicht viel frühex, wird eS uns eine geringe Sorge sein, wie eS um Preußen und Österreich steht, wenn nur Gottes Erbarmen und Christi Verdienst unsern Seelen bleibt. Ich schlug mir gestern Abend beliebig die Schrift auf, um die Politik aus dem sorgenvollen Herzen loszuwerden, und stieß mit dem Auge zunächst auf Ps. 110 VerS 5 („Der Herr steht zu deiner Rechten, er zerschmettert Könige am Tag seines Zorns")* Wie Gott will, eS ist ja alles doch nur eine Zeitfrage; Völker und Men­ schen, Torheit und Weisheit, Krieg und Frieden, sie kommen und gehen wie Wasser­ wogen, und daS Meer bleibt. Was sind unsere Staaten und ihre Macht und Ehre vor Gott anders als Ameisenhaufen und Bienenstöcke, die der Huf eines Ochsen zertritt, oder daS Geschick in Gestalt eines Honigbauern ereilt."

Dem entspricht endlich daS berühmte Bekenntnis, in dem er eS ablehnt, durch seine weise Voraussicht daS Werk der deutschen Einheit geschaffen zu haben, und statt dessen versichert, ein Staatsmann könne nichts tun, als darauf achten, ob er den Herrgott durch die Weltgeschichte schreiten sehe, und dann zuspringen, um einen Zipfel seines Mantels zu erhaschen und sich fort­ reißen zu lassen, so weit eS gehen solle.

BiSmarckS Frömmigkeit erinnert in ihrer merkwürdigen Mischung von tollkühnem Wagemut und tiefer Demut an den ihm geistesverwandten Martin Luther. Sie trägt auch sonst ausgesprochen lutherische Züge. Wie Luther gegenüber aller Schwärmerei resolut erklärt, man könne die Welt nicht mit dem Evangelium, sondern nur mit dem Schwert regieren, so hat auch BiSmarck, vermutlich ohne Luthers Äußerungen bei ihm selbst

472

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

gelesen zu haben, auS gleicher Grundauffafsung heraus beinah wörtlich dasselbe gesagt. „Er hat nie geglaubt unchristlich zu handeln, in Widerstreit mit Gottes Wort zu geraten, wenn er Politik nach den LxbenSgesetzen des Staates machte und nicht nach den Vorschriften beS Evangeliums, die sich an Menschen und nicht an Staaten richten" (A. O. Meyer). Und doch war er tief überzeugt, er dürfe Staatspolitik nur im Bewußtsein der Verantwor­ tung vor Gott machen. Er sowohl wie sein König haben die Anfänge der sozialen Gesetzgebung aus ihrer christlichen GewisienShaltung abgeleitet. Auch das ist gut lutherisch gedacht, wenn er es entschieden ablehnt, Krieg und Politik unter den Gesichtspunkt der Vergeltung und der Strafe zu stellen. Seine Aufgabe ist Herstellung der deutschen Einheit und Sicherung der deutschen Wohlfahrt. Die Bestrafung aber etwaiger Versündigungen von Fürsten und Völkern überläßt er dem allmächtigen Gott; sein ist die Rache. Andererseits hat sein Lutherglaube ihm den Mut gegeben, ungeheure Verantwortung zu tragen, in der Zuversicht, für die unvermeidlichen Fehler Gottes Vergebung zu finden. Sein Glaube war untheologisch und laienhaft im besten Sinne beS Wortes. Er ließ sich selber nicht auf starr formulierte Dogmen festlegen und hat auch gewarnt, andere damit zu belasten. Er war ein Beter und ein Bibelleser; die Losungen der Brübergemeine begleiteten ihn ständig. Doch unterschied er deutlich zwischen dem Buchstaben und dem göttlichen Gehalt der Bibel.

„Ich weiß nicht, ob ich Dir etwas Neues sage, wenn ich erkläre, baß auch ich nicht alles bisher habe annehmen können, waS in der Bibel geschrieben steht. Ich glaube zwar, baß sie Gottes Wort enthält, aber nur so, wie es uns durch Menschen, die, wenn auch die heiligsten, doch der Sünde und dem Mißverständnis unter­ worfen waren, hat übermacht und mitgeteilt werden können." „Ich begreife nicht, wie rin Mensch, der über sich nachdenkt und doch von Gott nichts weiß ober wtffen will, sein Leben vor Verachtung und Langeweile tragen kann, rin Leben, bas bahinfährt wie ein Strom, wie ein Schlaf, gleich wie ein Gras, bas doch bald welk wirb; wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz. Ich weiß nicht, wie ich baS früher ausgehalten habe; sollte ich jetzt leben wie da­ mals, ohne Gott, ohne Dich, ohne Kinder — ich wüßte doch in der Tat nicht, warum ich dies Leben nicht ablegen sollte wie ein schmutziges Hemde; und doch sind die meisten meiner Bekannten so, und leben."

Doch war sein Glaube kein mystisches Gefühl, sondern eine starke Zu­ versicht und ein unzerbrechliches Pflichtbewußtsein. Er liebte besonders die Mahnung beS JakobuSbriefeS: „Seid Täter beS Worts!" Wenn er auch um manche Gedanken christlicher Überlieferung immer wieder suchend gerungen hat: „In den großen und einfachen Grundlagen der Religiosität BiSmarckS, im Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Macht, im Glauben an einen Sinn beS Lebens bank einer göttlichen Vorsehung, in der Überzeugung eines

tiefen Zusammenhangs zwischen geoffenbarter Religion und Sittlichkeit, endlich in der Unterwerfung unter das göttliche Sittengesetz findet sich keine

§ 103f.

Bismarck und die Bibel — Gustav-Adolf-Verein, Ev. Bund

473

Wandlung und kein Schwanken durch Bismarcks ganzes Leben seit seiner Bekehrung" (A. O. Meyer). § 104. Die Arbeit an der Diaspora. 1. Es ist bezeichnend für die Tatenfreubigkeit dieses Jahrhunderts und nicht das geringste seiner Verdienste um Evangelium und Volkstum, baß eS erstmalig auch die Bedeutung des Protestantismus in der Diaspora erkannt und seine Betreuung bewußt und mit großer Hingabe in Angriff genommen hat. Wieder — wie bei der Inneren Mission — erfolgt hier der Einsatz gleichzeitig von verschiedenen Stellen her, wieder verschwinden die Unterschiebe der Parteien gegenüber der praktischen, drängenden Aufgabe. Der „Gustav-Adolf-Verein", dessen Gründung bereüS 1832 bei der 200-Jahrfeier der Schlacht von Lützen geplant, 1842 in umfassenden Formen verwirklicht wirb, steckt sich baS Ziel, bedrängte evangelische DiasporaGemeinden innerhalb und außerhalb Deutschlands durch Zuwendungen aller Art (Bau von Kirchen, Schulen usw.) zu stärken und zu fördern; daß er sich mit seinem Liebeswerk auf den Boden der Union stellte und die Schran­ ken der protestantischen Sonderbekenntnisse durchbrach, hat ihm sofort eine große Gefolgschaft und weite Wirkungsmöglichkeiten gesichert. Bald trat ihm «ine Reihe ausgesprochen lutherischer Vereinigungen ähnlicher Art zur Seite, die, 1932 im „Martin-Luther-Bund" zusammengefaßt, den Nachdruck bei ihrer Arbeit nicht so sehr auf die Beschaffung äußerer Mittel als auf die Ausbildung und Aussendung geeigneter Prediger legen. Als bann nach dem Kulturkampf der katholische Einfluß mächtig stieg, da riefen im Jahre 1887 Männer aller kirchlichen Lager den „Evangelischen Bund" ins Leben. Er sollte zunächst in Wort und Schrift ultramontanen Übergriffen und christen-

tumsseinblichen Bestrebungen wehren und hat sich dieser Aufgabe (zumal durch Betteuung der gesamten Presse- und Aufklärungsarbeit) nachdrücklich angenommen. Allmählich aber wirkte sich seine die innerprotestantischen Fron­ ten überhöhende Tätigkeit auch in Richtung aus eine Stärkung des evange­ lischen Gemeinbebewußtseinö aus. Die österreichische LoS-von-Rom-Bewegung (1898) vollends führte ihn auf ein neues Arbeitsfeld und gleich­ zeitig in eine enge Werkgemeinschaft mit dem Gustav-Abolf-Derein. AuS dem „Wartburgprogramm" des „Ev. Bundes" (Mai 1922). „Der Evangelische Bund will das Erbe der Reformation wahren und mehren. Er sieht in dem Evangelium das höchste ewige Gut, die Kraftquelle und den Gesund­ brunnen jedes VolkStumS und in dem beuffchen Volkstum baS höchst« zeitliche Gut. Er stellt seine ganze Arbeit unter das Lutherwott: „Für meine lieben Deut­ schen bin ich geboren, ihnen will ich bienen" und hält fest an dem in Luthers Person und Werk vollzogenen Bund zwischen Evangelium und beuffchem Geist. Der Evangelische Bund will sammeln und einigen, waS deutsch und evangelisch ist. Er will eine GesinnungSgemeinschast der bewußt deutsch und evangelisch

474

Dir Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

empfindenden Männer und Frauen aufrichten. Er erfüllt seine Aufgaben als Dienst am deutschen Volkstum, am deutschen Protestantismus und an der evange­ lischen Kirche." 2. Der Protestantismus des 19. Jahrhunderts kann für sich in Anspruch nehmen, die GlaubenSbrüber draußen für die deutsche -Öffentlichkeit ge­

wissermaßen neu entdeckt zu haben. Aber erst die Zeit nach 1918 ließ erkennen, welche reichen Kraftquellen gerade diese einsamen Gemeinden bilden. Als ganze Provinzen in die Gewalt fremder, dem evangelischen Christentum feind­ licher Nationen kamen, als allenthalben in der Welt ein Kesseltreiben gegen daS Land und die Sprache Luthers einfctzte, als das Bekenntnis zum Erbe der Reformation Bedrückung, Verfolgung und im Machtbereich des Bolsche­ wismus sogar den Tod bedeutete, da zeigte sich, daß Diaspora keineswegs vornehmlich „Zerstreuung" ist, sondern — ähnlich wie die Mission — „Kirche in Bewegung", „auSgestreute Saat". In zwei unvergeßlichen Menschen hat zumal der standhafte Christensinn der Evangelischen im Baltikum vorbild­ liche Gestalt gewonnen: — in Mathilda Wrede (f 1928), „dem Engel der Gefangenen", deren großartig schlichtes und gütiges Leben sich verströmte im Dienst an den Sträflingen und Strafentlassenen Finnlands und zuletzt an den Opfern der roten Flut, — und in Professor D. Traugott Hahn (t 1919), der die Treue zu seiner Dorpater Gemeinde und seinen festen Glau­ ben an den Gekreuzigten mit dem Märtyrertode besiegelte. 31 Baltische Pastoren starben 1918/19 mit ihm in den Gefängnissen der Roten, 8 weitere erlagen den Folgen des über sie verhängten Terrors. Der Rigaer Märtyrer­ stein verzeichnet ihre Namen. Er ist zum Mahnmale der deutschen evangelischen Christenheit geworden. Und daS Außerordentliche geschah, daß diese Inseln deS deutschen Pro­ testantismus im nahen Osten mitten unter den Erschütterungen der NachkriegSjahre nicht nur ihren Bestand in der Hauptsache wahrten, sondern an mehreren Stellen sogar ihr durch die Not vertieftes Verständnis deS Evan­

geliums mit sichtbarem Erfolg weiterttugcn. (Die evangelische Bewegung in der Ukraine z. B. ist daS Werk der von D. Zöcklcr-StaniSlau geführten galizischen Diasvora). Zugleich aber erwiesen sie sich als zuverlässige Stütz­ punkte völkischen Lebens jenseits der Reichsgrenzen. ES ist der bleibende Erttag der deutschen Geschichte Siebenbürgens, einer Geschichte, die im hohen Mittelalter anhebt, mit den Schulgründungen der Lutherzeit einen Gipfelpunkt erreicht und in den schweren Kämpfen um die nationale Selbst­ behauptung zu Ende deS 19. Jahrhunderts ihren Sinn bewährt, daß evange­

lischer Glaube ohne Volkstum und Volkstum ohne evangelischen Glauben für die „Sachsen" dort schlechterdings undenkbar sind. So ist eS gekommen, daß die Bemühungen des Gustav-Adolf-VereinS und seiner Nachbarorganisationen, ursprünglich gedacht als Hilfswerk deS protestantischen Heimatlandes für alle evangelischen Gemeinden ohne Unter-

§ 104

Deutsch-evangelisch im Ausland — Die Siebenbürger Sachsen

475

schied der Nation, die aus Mangel an kirchlichen Mitteln in ihrem Glauben gefährdet sind, neuerdings sich vorzüglich an die deutsche Auslanbsdiaspora wenden. „Vielleicht läßt sich der Zusammenhang von Deutschtum und evan­ gelischer Kirche nirgends so deutlich beobachten wie im evangelischen Aus­ landsdeutschtum" (H. Pflugk). Nachdem Österreich und Böhmen, Memelland und Danzig, Westpreußen, Posen und Oberschlesien, sowie das Elsaß zum Reich zurückgebracht sind und die Deutsch-Balten die Randstaaten verlassen haben, bestehen starke deutsch-evangelische Auslandsgemeinden noch in Galizien, Rußland, Ungarn, Jugoslavien und Rumänien (Siebenbürgen und Dobrudscha); dazu über See in Südafrika, Argentinien, Chile und Brasilien. Durch das GustavAdolf-Werk wurden 1934 1463 Gemeinden oder Anstalten mit insgesamt 1118326RM unterstützt. Die völkische Bedeutung dieser evangelischen Auslandögemeinden kann gar nicht überschätzt werden, haben sie doch überall, zumal über See, deutsche Gemeindeschulen errichtet und damit den Kindern ihre Muttersprache erhalten, die Grundlage ihrer völkischen Kultur und Ge­ sinnung. „Was verdanken die Siebenbürger Sachsen ihrer evangelischen Kirche? In trotziger Wucht ragen die Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen mit den mächtigen Verteidigungsanlagen düster empor. Schon ihre äußere Erscheinung zeigt, daß die Kirche in der glorreichen, fast 800jährigen Geschichte des Deutschtums in Siebenbürgen eine ganz besondere Rolle gespielt hat. Die Glocken dieser Kirchen riefen jahrhundertelang die Gläubigen nicht nur zum Gebet, sondern ebenso zum Kampf. Diese Kirchen sind wirkliche Burgen, mit gewaltigen Verteidigungsmauern und Türmen, Schießscharten und Pechnasen, festen Toren, wohlausgebauten Wehr­ gängen und geräumigen Vorratskammern, in denen noch heute vielfach die Speck­ vorräte der sächsischen Dorfbevölkerung aufbewahrt werden. Die Kirche war der sicherste Ort. Die Kirchenburg verteidigen hieß sächsisches Leben verteidigen. Denn wehe, wenn die Kirchenburg dem feindlichen Ansturm nicht standhielt!

Jeder Blick auf seine Kirche erinnert den Siebenbürger Sachsen an seine große, oft so harte, aber auch so rühmliche Vergangenheit und mahnt ihn, eingedenk zu sein, was die Kirche seines Dorfes für das Geschlecht, dern er zugehört, bedeutet. Die Siebenbürger Sachsen besitzen in ihrer Kirche etwas, was die Deutschen im 9)wtterlande nicht haben: eine Volkskirche im Sinne einer Nationalkirche. Diese Kirche hat schon bei der Volkwerdung der Siebenbürger Sachsen eine sehr wichtige Rolle gespielt, eine noch bedeutsamere fiel ihr für die Erhaltung und Lebens^ gestaltung des Volkes zu. In der Zeit der Reformation nahm das ganze siebenbürgisch-sächsische Volk den evangelischen Glauben in lutherischer Form an. Da­ durch wurde diese deutsche Kirchengemeinschaft ein selbständiges Kirchenwesen, an dessen Spitze ein sächsischer Bischof trat. Damit hatte das sächsische Volk seine eigene selbständige Kirche geschaffen. Es hob sich als ein in sich geschlossenes Kirchen­ volk von allen übrigen Kirchengemeinscbaften des Landes ab. Mit sicherem Gefühl begegneten die Siebenbürger Sachsen den Katholisierungsbestrebungen des habs­ burgischen Staates. Sie empfanden die Treue zu ihrer Volkskirche zugleich als

476

Die Neuzeit : evangelischer Dienst am Volk

völkische Pflicht. Umgekehrt erhielt ihre kirchliche Treue die Einheit des Volkes. AuS der Volkskirche auStreten, gilt als gleichbedeutend nut dem Austritt aus der sächsischen Volksgemeinschaft. Der Siebenbürger Sachse verdankt aber seiner Nationalkirche mehr als den Schutz seines völkischen Daseins. Er verdankt ihr den ganzen Schatz deutschevange­ lischer Kultur. Durch seine Kirche hat daS sächsische Volk den Anschluß an die große Geistesbewegung der deutschen Reformation gewonnen. Die Kirche hat diese Verbindung zum deutschen Mutterland seit der Zeit der Reformation bis in die Gegenwart auftechterhalten. Damit öffnet sich der Blick für die unschätzbar große Kulturarbeit der Kirche innerhalb deS sächsischen Volkes, daS seiner Kirche geradezu sein geistiges Gepräge verdankt. Die Heilighaltung der Ehe, die christliche Zucht im Hause, die Gediegenheit im Beruf, die Redlichkeit im Handeln, die pflicht­ bewußte, opferbereite Hingabe an daS Volksganze sind einige Lichtstrahlen aus dem Geist, in welchem diese Nationalkirche durch Jahrhunderte gearbeitet und die Volks­ seele geformt hat. Tatsächlich verdankt daS sächsische Volk seine gesamte Volks­ bildung der Kirche. Alle Schulen des sächsischen Volkes sind Kirchenschulen. Wer hier seine Kinder deutsch-evangelisch erziehen lassen will, kann dieS nur in den sächsischen Kirchenschulen tun. DieS ist den Reichsdeutschen, die hier wohnen, sehr wohlbekannt. Sie alle schicken ihre Kinder in unsere Kirchenschulen. Eine andere Möglichkeit deutscher Schulbildung besteht hier nicht. Ein Bild von dem Reichtum unseres kirchlichen Schulwesens bietet die Kronstädter Stadtpfarrgemeinde. Diese Kirchengemeinde von 9000 Seelen besitzt folgende Kirchenschulen: fünf Kindergärten, fünf Volksschulen, ein Mädchenuntergymna­ sium, ein Knabenvollgymnasium, eine höhere Handelsschule für Knaben, eine Handelsschule für Mädchen, eine weibliche hauSwirtschastliche Fortbildungsschule. Dazu kommen andere kirchliche Einrichtungen: ein Tagesheim für Kinder, deren Eltern außer Hause beschäftigt sind, ein Waisenhaus, eine Stelle für ärztliche Mütterberatung, eine Fürsorgestelle, ein großzügiges Heim für sächsische Gewerbeund HandelSlehrlinge, ein Altftauenheim, zu dem gerade jetzt ein sächsisches Altmännerheim treten soll, eine Krankenpflegeanstalt. Ich weiß nicht, ob man eine kleine deutsche Provinzsiadt von knapp 9000 Seelen nennen könnte, welche all diese Anstalten besitzt." (Stadtpfarrer v.vr. GlondyS in Kronstadt, jetzt Bischof in Hermannstadt.)

§ 105. DaS Tatchristentum der äußeren Mission. Wer die LiebeSarbeit der Kirche zwischen 1815 und 1914 näher betrachtet, bet stößt sehr bald auf eine Reihe von Linien, die von dort hinüberführen zu dem Riesenwerk der Mission in Übersee. Denn eS ist doch nicht so,

daß innere und äußere Mission beziehungslos nebeneinander ständen, wohl gar sich gegenseitig den Rang streitig machten. Vielmehr muß umgekehrt gesagt werden, daß dieselben Kräfte deS Glaubens in beiden sich auSwirken, dieselben Kreise, ja oft dieselben Menschen (so Bodelschwingh) beide Auf­ gaben angegriffen haben. Bei einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten (A. Schweitzer) scheint eS fast unmöglich, die Grenze zwischen innermissionari-

$105

Werben und Entwicklung der Äußeren Mission

477

scher Haltung und äußermissionarischem Tun zu ziehen. Mil Recht hat man das 19. Jahrhundert als daS „Missionsjahrhundert" der evangelischen Kirche bezeichnet.

1. Wohl hatte der Pietismus von Halle und Herrnhut den Missions­ auftrag gehört und befolgt (S. 331 u. 334), doch erst im Zusammenhang der Erweckungsbewegung erhebt sich in Deutschland ein allgemeiner Und leiden­ schaftlicher Wille zur Evangelisation in Übersee. Nichts wohl liefert einen so eindeutigen Beweis für die Kraft und Hingabefähigkeit der Erweckungs­ zeit wie der Aufschwung, den nun in kürzester Frist die Missionssache nimmt. In allen Teilen Deutschlands entstehen Missionsgesellschaften (so die Baseler 1815, die Berliner 1824, die Rheinische 1828, die Norddeutsche 1836, die Hermannsburger 1849), die bald neben denen Englands, Hollands und Dänemarks (diese haben schon seit dem 17. Jahrhundert in ihren Kolonien missioniert) eine geachtete Stellung einnehinen, obwohl sie sich nur auf private Hilfe stützen können und von den Landeskirchen zunächst beargwöhnt werden. „Aber das Bekenntnis zur Missionösache wurde geradezu zu einem Merkmal der Erweckten" (R. Seeberg). Die Voraussetzungen für eine großzügige Planung werden dann durch die geographischen Entdeckungen und die ge­ waltigen technischen Fortschritte des Jahrhunderts geschaffen. Als das BiSmarck-Reich 1884 in die Reihen der Kolonialmächte tritt, da hat sich die äußere Mission — getragen durchweg von den positiv gläubigen Kreisen deS schlichten Volkes — längst die Anerkennung und Förderung der Kirchen­ leitungen und die Achtung des Staates errungen.

2. Die Erfahrungen eines an Dienst und Erfolg ungemein reichen Jahr­ hunderts haben die Gestalt der evangelischen Hcibenmission immer deutlicher ausgeprägt und die Wesenszüge sichtbar werden lassen, die sie von katho­ lischer Mission unterscheidet. WaS zunächst auffällt, ist das Vielerlei der Vereinigungen, die hier in der Arbeit stehen: die wesenhafte Mannigfaltigkeit des Protestantismus, der individualistische Grundzug des 19. Jahrhunderts — nicht gehemmt durch die Kirchenbehörden, die sich lange Zeit bedächtig zu­ rückhielten — ließ eine große Menge voneinander unabhängiger, völlig selb­ ständig arbeitender Missionsvereine entstehen. Das hat viel Kräfteverschwen­ dung bedeutet und die Gefahr der Zersplitterung mit sich gebracht, während die organisatorisch einheitliche und fest geführte katholische Mission stetig ihren graben Weg ging. Es hat aber auch daS Missionsinteresse mächtig belebt und den Eifer der Missionare gefördert. Die Verwaltungen derdeutschenKolonien haben, wie aus ihren Jahres­ berichten hervorgeht, öfter über den Wettbewerb katholischer und protestan­ tischer Mission zu klagen gehabt und deshalb mehrfach mitgewirkt, zwischen beiden feste Grenzen abzustecken. Sm übrigen haben sie in steigendem Maße die Bedeutung der Mission nicht nur für schulische und ärztliche Betreuung,

478

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

sondern auch in ihrem innerlich sittigenden Einfluß auf die eingeborene Be­ völkerung rühmend anerkannt. Vor der so nahe liegenden aber gefährlichen Verbindung mit Politik und staatlicher Gewalt hat sich die protestantische Mission immer gehütet. Sie hat bei ihrem Aufbau deshalb auch keine äußeren Lockmittel überlegener Zivilisation eingesetzt. Sie ist von Anfang an nicht auf Massenbekehrungen ausgegangen (wie etwa die Jesuiten bei ihrer Paraguay-Mission), sondern auf innerliche Gewinnung der Einzelnen. Die Methode freilich, die solchem Ziel gemäß ist, hat man erst allmählich, durch Erfahrung und Selbstkritik belehrt, erkannt und richtig anwenden gelernt. Am Anfang hat man meistens nach der Art eines etwas aufdringlichen puritanischen Pietismus gepredigt und Bibeln (natürlich in die betreffende Volkssprache übersetzt) verbreitet, ohne ausreichende, sorgfältig vorbereitende Arbeit und ohne die nötige Anknüpfung an Brauch und Vorstellungswelt jener fremden Völkerschaften. Man hat damit vielfach nur auf Suggestion be­ ruhende äußerliche Erfolge ohne echte Bekehrung erzielt, hat die Getauften innerlich nicht umgewandelt, so daß die der Mission abgünstigen AuslandEuropäer oft nicht ohne Grund klagen konnten, die getauften Farbigen seien anspruchsvoll, aber arbeitsunwillig und unbrauchbar geworden. Auch ver­ folgte man ohne viel Überlegung das Ziel, dort Gottesdienst und kirchlichen

Brauch der heimischen Missionskirche möglichst unverändert einzuführen und so die Missionsgemeinden zu einer (mißlungenen) Kopie der Heimatkirche zu machen. Die deutsche evangelische Mission hat als eine der ersten mit deutscher Gründlichkeit und Selbstkritik die Mängel dieses Verfahrens erkannt und überwunden. Da sie als protestantische Mission (mindestens grundsätzlich) immer das Ziel der christlichen Mündigkeit erstrebte, so hat sie mit der Zeit gelernt, auch die kirchliche Selbständigkeit der christlich gewordenen Eingeborenen nicht nur anzuerkennen, sondern ihrerseits zu fordern und zu fördern. Sie berücksichtigt jetzt die natürliche Ungleichheit der Rassen und Völker als die gegebene Voraussetzung. Sie weiß, daß Sittlichkeit an Sitte gebunden ist, und pflegt deshalb alle gesunden Ansätze völkischen Brauchtums der Landschaften. „Wenn die Mission seit zwei Menschenaltern mit Wort und Schrift für die Entstehung von Volksküchen in fremden Erdteilen eintritt, so tut sie dies in der Überzeugung, daß die Unterschiede von Völkern und Rassen dem Willen Gottes nicht widersprechen, sondern vielmehr als von Gott gewollt geachtet werden müssen" (Knak). 3. Durch den Weltkrieg sind die fremden Erdteile in Unruhe geraten. Ihre Bewohner haben das erschütternde Schauspiel einer sich selbst zerflei­ schenden weißen, „christlichen" Menschheit erlebt, erleben es zum Teil heute noch. Der Zauber des Abendlandes ist ihnen dadurch gründlich zerstört worden. Während die primitiven Völker in immer steigendem Maße in den Strudel

§ 105

Die MissionSmethobc — Albert Schweitzer — Neuendettelsau

479

moderner Weltbewegung und europäisch-amerikanischer Zivilisation!) hin­ eingezogen wurden, die ihnen die Stützen ihrer bodenständigen Sittlichkeit und Kultur wegschlug und sie seelisch auftz schwerste erschütterte, gerieten umgekehrt die Kulturvölker OstasicnS (von Vorderindien bis Japan) in eine revolutionäre Unruhe, die ihnen den Abstand von der europäischen Welt vor­ nehmlich in den Formen des Raffengegensatzes bewußt machte. Damit wurde auch eine Renaissance der alten nationalen Religion auSgelöst ober befördert (der Kaiserkult in Japan). Diese bedrohlich erscheinenden Bewegungen haben die echte Mission, die nichts wollte, als christlichen GotteSglauben und Er­ lösung durch daS Evangelium verkündigen, nicht zu beirren oder aufzuhalten vermocht. Die Arbeit ist also nach vorübergehender Unsicherheit erfolgreich weitergegangen. Auch die durch den Feindbund, aller Christlichkeit zum Hohn, von den meisten Arbeitsplätzen brutal verttiebenen deutschen Missionare haben großenteils zurückkehren und ihre Arbeit mit neuer Freudigkeit und

neuem Erfolg wieder aufnehmen können. In Japan bedeutet Kagava, der sich wie Wichern oder Bodelschwingh mit glühender Liebeshingabe und unbesieglichem Mut der Ärmsten und Elendesten annahm, ein überwältigendes Zeugnis für die Missionskraft echten Christentums. Am Ogove in französisch Jnnerafrika hat Albert Schweitzer, der Theologe, Philosoph, Orgelkenner und -künstler und Arzt, ohne jedes Pathos, in schlichter Selbstverständlichkeit das Wort des Evange­ liums verwirklicht: „Wer mein Jünger sein will, verlasse alles und folge mir nach", indem er Sicherheit und Behaglichkeit europäischer Kultur, wissenschaftlichen und künstlerischen Ruhm zurückließ, um in Jesu Nachfolge mit seiner ärztlichen Kunst den von grausigen Krankheiten und abergläubi­ schen Wahnvorstellungen gequälten schwarzen Menschen zu dienen. Er begann an seinem Teil wiedergutzumachen, waS Gedankenlosigkeit und Habgier europäischer Zivilisation unablässig an jenen Unglücklichen verbricht. Die lutherische Mission von Neuendettelsau hat seit mehr als einem Menschenalter in aller Stille und Bescheidenheit auf Neuguinea in der ehe­ maligen Kolonie KaiserwilhelmSland das Muster einer wahrhaft protestan­ tischen neuzeitlichen Mission ausgestellt, die nicht auf Massen- und Schein­ erfolge auSgeht, um mit den Zahlen der Getauften zu prunken, sondern nach dem Bibelwort arbeitet: „Laßt euer Licht leuchten vor den Menschen, daß sie eure guten Werke sehen und euern Vater im Himmel preisen." Die christ­ liche Lebenshaltung der Missionare und vor allem ihrer braunen Helfer soll die Heiden mit der Tat überzeugen, so daß die Tause nur daS Siegel einer echten Bekehrung ist und Gemeinden begründet, die in christlicher Zucht sich selber regieren. Diese Mission hat den braunen Eingeborenen, die seit Jahrhunderten durch Zauberwahn und den Fluch der Bluttache in ständiger Angst und Fehde und sprachlicher wie volklicher Zersplitterung lebten, die verheißungsvollen Ansätze einer Friedenstiftung und sprachlichen Verständi-

480

Die Neuzeit: evangelischer Dienst am Volk

gung und damit erst die Möglichkeit einer Volkwerdung gebracht. — Eben­ bürtig steht neben ihr mit der gleichen Arbeitsmethode die Bethel-Mission in der alten Kolonie Deutsch-Ostafrika, die an den dortigen Negerstammen ein bewunderungswürdiges Werk christlicher Erziehung zu völkisch-kirchlicher Eigenständigkeit vollbracht hat, das auch die Stürme des Weltkrieges nicht zu erschüttern vermochten. Diese Beispiele genügen, um den alten Einwand zu widerlegen, als ob jene glückseligen Naturvölker der Mission nicht bedürften; aber auch um die neuerdings aufgetauchte Frage zu erledigen, ob die Mission nicht eine bedenkliche Rasten- und Völkermischung betreibe. Sie beantworten auch das nur scheinbar berechtigte Bedenken, ob die Heidenmission nicht Kräfte auf­ sauge, die für den Dienst am eigenen Volk unentbehrlich seien; sind es doch gerade die beiden großen Anstalten evangelischer Innerer Mission, die der Heidenwelt mit der Liebe Jesu Christi gedient und gleichzeitig ihr heimisches Werk nicht nur fortgeführt, sondern immer noch erweitert haben! 4. Mission treiben oder auch verstehen kann nur, wer von der erlösendell Kraft des Evangeliums ergriffen ist und weiß, daß wir sie der ganzen Menschheit schulden. Im Zentrum der Mission muß deshalb die Arbeit stehen, die Menschen zum Glauben an Gott und sein Reich zu führen. Das schließt aber nicht aus, sondern ein, daß die Mission, wie der Heiland selber, sich auch der leiblichen Nöte jener fremden Völker annimmt. Die ärztliche Mission hat deshalb in den letzten zwei Menschenaltern mit Recht eine stets wachsende Bedeutung gewonnen. Daneben hat die Mission für die äußere Gesittung und Erziehung der primitiven Völker unschätzbare Dienste ge­ leistet. (Der Ethnologe Mühlmann schreibt, sie bedeute den „Puffer", der jenen Völkern ermögliche, die europäisch-amerikanische Zivilisation zu ertragen und die Anpassung an die neue Lage zu finden.) Sie hat für die europäische Wissenschaft, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachenkunde (Bibelübersetzung!) ein unübersehbar reiches Material gesammelt und gesichtet, von dem diese Wissenschaften weithin leben. Sie dient endlich mit kirchlicher, schulischer und ärztlicher Betreuung den vielen über See zerstreuten deutschen Siedlern und beweist auch damit ihre völkische Treue. Sind das alles auch nur Zugaben (Mt. 6, 33) so haben sie doch die warme Anerkennung aller wirklich Sach­ verständigen redlich verdient. ♦

5. Indes weder diese schönen Leistungen des Tatchristentums Innerer und Äußerer Mission noch die ernste Bemühung der protestantischen Theologie ver­ mochten der Kirche einen neuen Auftrieb und sieghafte Kraft zu verleihen. Wenn auch die ausgesprochene Christentumsfeindschaft der Jahrhundertmitte zurück­ getreten war und die Kirche an Achtung wenigstens unter den Gebildeten wieder gewonnen hatte, wenn auch die lärmende Agitation der Freireligiöser; und Freidenker ihr keinen merklichen 2lbbruch tat imb die Kirchenaustritts-

§ 105

Die Leistung der Mission — Die Lage der Kirch« vor dem Weltkrieg

481

bewegung vor dem Weltkrieg in engen Grenzen blieb, so hat doch die Kirche auch weiterhin an wirklichem Einfluß auf Volk und Volksleben eher verloren als gewonnen. Die Masse sowohl der Handarbeiterschast wie der Gebildeten hatte nur noch ein loseö und äußeres Verhältnis zu ihr. Man ließ sich die kirchlichen Amtshandlungen bei Geburt, Hochzeit und Tod gefallen, aber kirchlicher Sinn und kirchliche Sitte wurden nicht neu begründet. Der Geist des praktischen Materialismus und der Diesseitsgesinnung behielt die Ober­ hand. AuS diesen Tatsachen erklärt sich das Aufkommen und die weite Verbrei­ tung der sog. Gemeinschaftsbewegung. Menschen, die mit Ernst Christen sein wollten, vermißten an der Kirche daS Heimatgefühl einer wirklichen Gemeinschaft; denn trotz der umfasseichen Kirchbautätigkeit, vor allem in Berlin, und trotz den redlichen Bemühungen deS „Gemeindetages" war eS im ganzen in den übermäßig angewachsenen Großstädten des so plötzlich industrialisierten Deutschland nicht gelungen, lebendige ober auch nur über­ sichtliche Gemeinden zu schaffen. Man vermißte an der Kirche den Ernst der Heiligung im christlichen Leben, man vermißte die Fähigkeit, die Bibel ohne kritische Reflexion zur Erbauung zu lesen, man vermißte den Abstand von der „Welt", von weltlicher Denkweise und Lebensführung. Von aus­ ländischen Sendboten angeregt, gewann diese GemeinschastSbewegung viele Zehntausend« als Anhänger und drohte in manchen Gegenden die Landes­ kirchen auSzuhöhlen, indem sie ihnen die besten Kräfte entzog. Sie gewann in einem Manne wie EliaS Schrenk (f 1913) einen mit Herz und Gewissen redenden Vertreter von großem Einfluß. In ähnlichem Sinne roteste der glaubensmutige Evangelist Samuel Keller (f 1925). Unter englischem oder amerikanischem Einfluß entartete diese Bewegung vielfach zu einem schwär­ merischen Enthusiasmus mit Neuerweckung von Zungenreden und ähn­ lichen vermeintlichen Pfingstgaben. Doch wurde diese „Pfingstbewegung" nach heftigen Kämpfen ausgeschieden, und die ganze Gemeinschaftsbewegung gewann überwiegend ein fteundlichereS Verhältnis zu den Landeskirchen. Ein schöner Beleg dafür ist die Deutsch-christliche Studentenvereinigung, die im Schrifttum des Furcheverlags ein weitreichendes Werbemittel schuf. AuS dem Ungenügen der Landeskirchen erklärt sich auch daS Überhand­

nehmen von allerhand Sekten, die fast sämtlich auS dem angelsächsischen Ausland importiert waren. Zu den älteren Baptisten und Methodisten kamen jüngere Bewegungen, die wesentlich von der schwärmerischen Hoff­ nung auf die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi und daS Ende aller Dinge lebten, in denen urchristliche Vorstellungen, öfter im judaisti­ schen Sinne, künstlich erneuert wurden, so die Jrvingianer und als ihre Nach­ folger die Neuapostolischen Gemeinden, die Adventisten vom 7. Tage, die von der Sabbatfeier daS Heil erwarten, und die sog. Ernsten Bibelforscher, die durch willkürliche Bibelauslegung jüdische Vorstellungen pflegten. 31

Schuster, Kirchengeschlchte

482

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

Eine eindrucksvolle, charaktervolle Gestalt fand der von biblischer Frömmig­ keit gespeiste württembergische Pietismus in Leben und Wirken von Vater und Sohn Blumhardt (Johann Christoph 1805—1880, Christoph 1842 bis 1919), Der ältere Blumhardt erlebte mit der Gebetsheilung eines durch schwere Krankheit gebundenen Mädchens in seiner Gemeinde Möttlingen bei Kalw die Siegeskraft Jesu Christi. Daran schloß sich eine tiefgehende Buß­ bewegung, sowie eine Fortsetzung der von ihm begehrten Heilungen, so daß er nach Bad Boll übersiedeln mußte. Hier trat der Sohn an seine Seite, um nach dem Tode deS DaterS die Leitung zu übernehmen. Im Gegensatz zu der matten und dünnen Gläubigkeit deS üblichen Christentums ihrer Zeit lebt in den BlumhardtS ein kräftiger biblischer Realismus wieder auf, der die Wirklichkeit Gottes im Kampf gegen Sünde und Not mutig vertritt und sich nicht scheut, konventionelle Vorurteile beiseite zu schieben.

Auf dem Boden deS UngenügenS an der Landeskirche wuchsen endlich eine Reihe von theologischen Einzelgängern, die doch durch ihr Schrifttum und ihre starke Persönlichkeit in der Schicht der Gebildeten weiten Einfluß gewannen, so der Württemberger Christoph Schrempf, der um deS Aposto­ likums willen auS der Kirche auStrat, so Heinrich Lhotzky, der ursprünglich mit Johannes Müller zusammen arbeitete, später aber von diesem ganz über­ flügelt wurde, und Arthur Bonus, der das Stichwort von der Germanisierung deS Christentums auSgab. Den weitaus größten Einfluß von ihnen gewann Johannes Müller, nicht nur durch die unerschöpfliche, fteilich mit der Zeit immer breiter werdende und sich stark wiederholende Produktivität seiner Schriftstellerei und Beredsamkeit, sondern auch durch seine Gabe, die Menschen zu einer lebenSftohen und weltoffenen Frömmigkeit zusammen­ zubringen. Kräfte zu einer Erneuerung der Kirche sind von ihnen nicht auSgegangen. Sie haben eher, wenn auch ohne eS zu wollen, auflösend gewirkt.

IV. Nach dem Weltkrieg.

§ 106. Zeichen einer GeisteSwende. 1. Bereits die letzten Jahre vor 1914 hatten im Zeichen einer neuen Ahnung gestanden. ES war für die Wachäugigen ein ergreifender Anblick, als damals instinktiv und fast traumhaft die Jugend in ihren besten Teilen zum Protest ansetzte gegen die starr gewordene bürgerliche Konvention und auf dem Ho­ hen Meißner (1913) daS blaue Banner ihrer Hoffnung aufpflanzte. Eine Wiedergeburt deutschen Heimatgefühls hob damit an, revolutionär und eksta­ tisch oft in ihren Formen, konservativ doch in ihrem Grundcharakter, in der gefühlssicheren Unterordnung unter daS alte LebenSgesetz, daß ein Erbe nur dann Wert besitzt, wenn eS von jeder frisch antretenden Generation neu erworben wird. Gegen die herandrohende Herrschaft der Masse und Maschine

§ 105 f.

Blumhardt — Geistevwende: die Jugendbewegung

483

erhob sich der Wille zu Selbstverantwortlichkeit und wahrer Eigenart, gegen den bindungslosen Individualismus die Sehnsucht nach ursprünglicher Ge­ meinschaft ; Wälle wurden durchstoßen, die zwischen den einzelnen Ständen aufgeschüttet lagen, und Gräben überbrückt, die den städtischen Menschen von der Natur trennten. Der Wandervogel entdeckte die Schönheit der Hei­ mat neu und den Reichtum der Volkslieder und -tänze, die Tiefe der Mysterien­ spiele und den Zauber deS Märchens. Allenthalben brach ein Drängen zu echten Formen und letzten Werten auf, das hinter der Fülle der Erscheinungen ein tiefes Geheimnis spürte und verehrte. Mit dem großen Kriege schlug auch für die Jugendbewegung die Stunde der Prüfung. WaS unklar und verschwärmt an ihr war, ging nun zu Bruche. Aber herrlich bewährte sich gerade in der höchsten Not der Kern ihres Wesens, der unbeugsame Wille zum „rein bleiben und reif werden", wie Walter Flex (-f 1917) ihn in seinem „Wanderer zwischen beiden Welten" bezeugt hat. Und eines trugen die meisten als sicheren Gewinn auS den Schützengräben mit nach HauS: ein starkes Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Ganzen, gegenüber Volk und Reich. Die sich hier fanden und banden, alle die, denen daS Jahr 1918 den Glauben an die deutsche Sendung nicht zerschlagen, sondern geläutert hatte, trugen in sich die Elemente eines neuen Nationalismus, der weder Imperialismus noch Chauvinismus war und keinesfalls Reaktion fein konnte. Sie alle forderten ungestüm, daS Gemeinschaftserlebnis der vier Jahre in seiner Riesengröße dürfe nicht verschüttet werden unter den Trümmern einer ab­ sterbenden Zivilisation, eS müsse vielmehr in eine tiefe Erfassung und Er­ neuerung deS VolkStumS auSmünden. Sie fühlten zugleich, daß sie mit diesem ihrem Wollen an die Bereiche rührten, wo Gottes Hand in der Ge­ schichte sichtbar wird. 2. Allen diesen Strömungen gemeinsam war die entschiedene Absage nicht nur an den Materialismus in jeder Form, sondern auch an den dahinterstehen­ den übermütigen und ehrfurchtslosen Intellektualismus. Eine tiefgreifende Revolution der gesamten Wissenschaft hatte sich seit der Jahrhundert­ wende vorbereitet und in den führenden Köpfen weithin durchgesetzt. DaS gilt zunächst grundsätzlich und methodisch. Die Zeit, da man meinte, die Wissenschaft sei daS Erste und daS Letzte, in der man sie vergötterte und alles üetl von ihr erwartete, wird durch ein tieferes Denken abgelöst. Die Göttlich­ keit der Wissenschaft ist fragwürdig geworden. Man sieht, daß sie oft unnützen Ballast auftürmt, daß eS einen LuxuS der Gelehrsamkeit gibt, der mit wahrer Weisheit und echter Bildung nichts zu tun hat, sondern ihr hindernd im Wege ireht. Man erfährt, daß die Wissenschaft nicht die tiefsten Quellen ergräbt, daß sie den wirklichen Lebenshunger nicht zu stillen vermag. Der Aberglaube von der Allmacht der Wissenschaft als Menge deS stofflichen Wissens — über wie viele Schulen hat man nickt damals geschrieben „Wissen ist Macht"! — 3i*

484

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

kennzeichnet das zu Ende gehende Zeitalter des Positivismus. Wenn er der Wissenschaft daS Ziel setzte: „Savoir pour prßvoir, prSvoir pour regier“ (s. o. S. 420), so war damit die Vergötterung der Wissenschaft auf eine kurze Formel gebracht. Mit dieser Rationalisierung und Mechanisierung wurde aber dem Leben daS Blut auSgesogen. Karl JaSperS hat daS in dem GöschmBand „Die geistige Situation der Zeit" eindrucksvoll und überzeugend ge­ schildert. Als Ziel galt, den Menschen mit allen äußerlichen Lebensgütern: Wohnung, Nahrung, Sport und Vergnügen „reichlich und täglich zu ver­ sorgen", ihn gegen alle gesundheitlichen Gefahren „zu behüten und zu bewahten", so daß er keine Not und keine Sorge mehr kennt — um den Preis freilich, haß alles in Apparat und Betrieb aufgeht, was der Philosoph als fachlich geschulter Mediziner an der Rationalisierung des ärztlichen Betriebes (Kran­ kenkassen) wirklich erschreckend zu schildern versteht. Der Weltkrieg hat diesen Aberglauben erschütternd Lügen gestraft. Wir beobachten den Wandel an der modernen Naturwissenschaft. Der starre Mechanismus der sogenannten klassischen Naturwissenschaft, dem­ gegenüber Kant Innerlichkeit und Freiheit deS Menschen durch die Unter­ scheidung zwischen der empirischen und der intelligibelen Welt retten wollte, ist durch die neueste Entwicklung der Physik schwer erschüttert; verwandelt sich ihr doch die Materie, die daS geistige Leben zu ersticken drohte, zu bloßen elektri­ schen Vorgängen, deren letztes Wesen völlig rätselhaft bleibt. Wenn Max Planck, HarnackS Nachfolger als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, daS anerkannte Haupt der neuen Physik, der er durch seine Quanten­ theorie die Wege in die Zukunft gewiesen hat, von den Aufgaben und Proble­ men seiner Wissenschaft redet, so geschieht daS in einem Geist tiefer Bescheiden­ heit, die unS neben der klassischen Schönheit der Sprache unmsttelbar ergreift. Seine Rede über daS Weltbild der neuen Physik (18. gebe. 1929 in Leyden) beschließt er mit dem Bekenntnis: „Vielleicht haben wir sogar allen Grund, die Endlosigkeit dieses stetigen Ringens um die aus unnahbarer Höhe win­ kende Palme als einen besonderen Segen für dm forschenden Menschmgeist zu betrachten. Dmn sie sorgt unablässig dafür, daß ihm seine beiden edelsten Antriebe erhaltm bleiben und immer wieder von neuem angefacht werden: die Begeisterung und die Ehrfurcht." Und Hans Driesch, Naturforscher und Naturphilosoph, betont immer wieder, baß alle mechanistische Theorie gegmüber dem Geheimnis des LebmS in der Biologie scheitere. Dmn bei dem Geschehm am Organismus handelt es sich um ein geheimnisvolles Etwas, von dem die selbst geheimnisvolle Materie im Sinne einer „Tenbmz zum Ganzm" organisiert wirb. Diese Tenbmz zum Ganzm ist das mtscheibenbe neue Stichwort. Sie beherrscht auch die neue Psychologie; dmn diese will nicht mehr einzelne Vorgänge seelischm LebmS durch Ausweis ihres ZusammmhangS mit körperlichem Geschehm beschreibm und erklärm, soubem sie möchte daS seelische Geschehm als eine Einheft und Ganzheft erfassm.

§ 106 Revolution der Wissenschaft: Naturwissenschaft, Medizin, Philosophie

485

Die moderne Gestaltpsychologie (Spranger, Lebensformen; Kretschmer Körperbau und Charakter) steht also in scharfem Gegensatz zu der AfsoziationSpsychologie wie der Psychophysik des 19. Jahrhunderts, die ein Seelen­ leben erklären wollte, bas es so gar nicht gibt, und an der geheimnisvollen Mannigfaltigkeit und Ganzheit des wirklichen Seelenlebens wie blind vor­ überging. Diese neue Sicht des Ganzen hat auch in der angewandten Naturwissen­ schaft, in der Medizin, eine tiefgreifende Wandlung hervorgerufen. Der wissende Arzt will heute nicht mehr Störungen einzelner Organe ober Funk­ tionen als isolierte Vorgänge behandeln, sondern will jedesmal, auch bei rein körperlichen Schädigungen, bei ausgesprochen chirurgischen Fällen, den ganzen Menschen beobachten und heilen. Denn immer muß der ganze Mensch mit Leib und Seele behandelt und geheilt werden, und diese Behandlung kann nur zum Ziele führen, wenn der organisierende Kern beS Ganzen ge­ troffen, b. h. wenn der Wille zur Gesundung geweckt und gestärkt wird. Ein neuer sachlicher Ernst ist endlich auch in der Philosophie festzuftellen. Während es im 19. Jahrhundert lange Zeit so aussah, als habe sie außer einer formalistischen Logik und einer äußerlichen Psychologie, die sich fast nur mit peripheren Vorgängen beschäftigte, nichts zu tun, als ihre eigene Geschichte $ti schreiben, wird seit der Jahrhundertwende doch wieder deutlich, daß die Erforschung und Lösung großer Lebensfragen ihre eigentliche Auf­ gabe ist. Das gilt nicht nur von der Phänomenologie, die über das Konkrete und Zufällige der Phänomene zur „Schau" ihres wahren Wesens vordringen will und deshalb, angeregt durch den dänischen Grübler Kierkegaard, nach den letzten Gründen der menschlichen Existenz fragt; es gilt auch von der Arbeit eines Mannes wie Ludwig KlageS, denn seine Lehre vom „Kampf der Seele wider den Geist", so wenig sie unmittelbar religiös ober gar christlich ist, muß doch als ein verheißungsvolles Zeugnis für die Überwindung des daö Leben entseelenden Rationalismus gewertet werden. Wer die Philosophie der Gegenwart überschaut und ihre Summe zieht, muß feststellen, baß hier wieder Lebensraum und Atemfreiheit für lebendigen Glauben zu finden ist. Mehr können und sollen wir von der Philosophie nicht erwarten. Gottes­ beweise soll sie dem Glauben nicht liefern! In dieser Beurteilung werden wir auch durch die Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers nicht irre gemacht. Der Titel seines großen Werkes hat viele Nichtleser irregeführt, als ob er den äußeren Untergang deö Abendlandes in Revolutionen und KriegSwehen prophezeien wolle, während er doch nur an den Untergang echter Kultur und ihre Ablösung durch Technik, Zivilisation und Militärdiktatur denkt. Er rechnet freilich zur Kultur auch die Religion, obwohl wir jetzt den Unterschieb beider Größen wieder sehen gelernt haben. Sein tiefer Pessimismus führt ungewollt auf den Weg zur Religion. Denn auch sie, wofern sie echt ist, will nichts wissen von dem Aberglauben an die

486

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

angeborene Güte der Menschennatur. Wer den noch teilt nach den Erfahrungen des letzten Menschenalters, ist freilich stockblind. Spengler sagt: „Man kann nicht Menschenkenner sein, ohne Menschenverächter zu sein." Unausweichlich richtig für jeden, der nichts weiß von dem christlichen Glauben an erlösende Liebe. Stimmen deutscher Ärzte und Naturforscher.

Prof. Dr. G. v. Bergmann, Berlin: „Wir kämpfen darum, daß endlich auch vom Mediziner und Naturwissenschaftler das eiserne Band der geistigen Beschrän­ kung genommen werde, in das unsere Generation durch Jugendlektüre von Büchners Kraft und Stoff oder Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte geengt ist. Wir haben im letzten Menschenalter materialistische Dogmen nachgeschleppt, die sich nicht gescheut haben, ganz vage und falsche Hypothesen uns als erwiesene Wahrheit zu suggerieren. Es ist höchste Zeit, daß Kritik da einsetze, daß der Rausch wie herrlich weit wir es gebracht haben' verschwinde, und daß wir der jungen Generation die Grenzen zeigen, die der Erkenntnis der Gegenwart gesetzt sind, ja die Grenzen zeigen, die allezeit unüberwindlich sein müssen." („Seele und Körper in der inneren Medizin". Frankfurter Universitätsreden. 1922.) Prof. Dr. Driesch: „Die Vergangenheit sah im lebenden Individuum eine automatische Maschine; in ihrem Ursprung sowohl, im Ei, als auch im fertigen Organismus, einschließlich seines Benehmens. Das Gegenstück zu diesem Mechanis­ mus pflegt man „Vitalismus" zu nennen. Nicht als ob heute alle Biologen „Vita­ listen" wären; aber es gibt doch kaum noch einen ganz überzeugten Mechanisten. Alle erkennen eine Grenze für die naturwissenschaftliche Erforschung des Lebendigen an, reden von einem X, bas in Frage komme, und dessen Klärung dann dem Philo­ sophen überlassen wird. Das genügt mir von seiten des reinen Naturforschers. Beim Geschehen am Organismus ist also Materie beteiligt und noch etwas; dieses Etwas „benutzt", bildlich gesprochen, die Materie, und zwar im Sinne einer Tendenz zum Ganzen. („Unser Bild von der Natur einst undjetzt"in: „Das geistige Bild der Gegenwart." 1930.) Prof. Dr. Grote, Frankfurt a. M.: „Der Arzt ist bei jedem Kranken und bei jedem einzelnen Fall immer vor das unerforschte Ganze der kranken Per­ sönlichkeit gestellt, der er gerecht werden muß. Seitdem wir genau wissen, baß es überhaupt keine isolierten Krankheiten irgendeines Organes gibt, sondern daß bei der leichtesten Erkrankung immer der ganze Mensch leidet, seitdem also die rein lokalistische Pathologie der Historie angehört, drängt sich dieser synthetische Ganzheitsgedanke immer mehr in den Vordergrund im ärztlichen Denken. Es ist gar kein Zweifel, daß der verständige Arzt einer Hilfe rein vom Seelischen her bei so unendlich vielen anscheinend rein körperlichen Krankheiten bedarf und sie sicher zum Heile der Kranken noch viel mehr suchen würde, als das in der Wirklichkeit geschieht." („Über die Beziehungen der Medizin zur Theologie vom Standpunkt der Praxis" in: „Arzt und Seelsorge". Heft 19.) Prof. Dr. Sauerbruch, Berlin: „Es gibt keine wirkliche ärztliche Kunst ohne weltanschauliche demütige Bindung an Gott. Aus dieser Demut entspringt eine gewaltige Kraft, die wir haben müssen, um diesen unsern Beruf ausüben zu können

§ 106 f.

Zeugnisse von Ärzten und Naturforschern — Ersatzreligionen

487,

in aller Verantwortung vor dem einzelnen Kranken wie vor unserm Volk. Und ich weiß, daß ich bad im Namen vieler Ärzte aussprechen darf. Das ist die Überzeugung jedes echten Arztes, der weiß, daß Seele und Körper eine Einheit sind — auf manchen Gebieten der Medizin sogar mit betonier Überordnung des Seelischen über das rein Körperliche bis hin zu den Fällen, wo man von einer völligen Herr­ schaft der Seele über den Körper reden kann. („Die Nationalkirche" 1937.)

§ 107. Wege und Abwege religiösen Suchens.

1. Die Erschütterung, die das Erleben der vier Jahre Weltkrieg für jeden ernsthaften Menschen bedeutete, war zu beispiellos, der Niederbruch der alten Kulturseligkeit zu vollkommen, die innere Not der vielen, die wieder nach ewigen Gütern suchten und sie in den Konfessionskirchen nicht mehr finden konnten, zu brennend, als daß nicht jede sich anbietende religiöse Botschaft ihre Hörer, jeder Heilbringer seine Anhänger hätte finden sollen. Eine Inflation von Erkenntnislehren, Prophezeiungen und Kulten brach herein, die in ihrer sinnverwirrenden Buntscheckigkeit den Übergangscharakter dieser Zeit grell

zum Ausdruck brachte. Vielleicht hat es niemals eine Epoche in der Geschichte gegeben, in der so viele geistige Bewegungen der mannigfaltigsten Art als Surrogate für echte Religion aufgetreten sind. Irgendein in angemessener Begrenzung richtiger Gedanke wurde aufgebläht, als sei er das Ganze, von dem Weltanschauung und Lebensführung zu bestimmen seien. So entstehen die Ersatzreligionen, die ihre Anhänger mit der Gläubigkeit und dem Fanatismus echter Religion erfüllen. Hierher gehören außer den verschieden­ sten Sekten auch örtliche Bewegungen wie die der Weißenbergianer in Berlin, wo Zehntausende betörter Menschen einem Charlatan als ihrem Heiland nachliefen. Aber auch politische Parteien sowie alle möglichen geistigen oder halbgeistigen Bewegungen: Psychoanalyse, Abstinenz, Bodenreform, Roh­ kost, Körperkultur wurden von haltlosen Menschen, denen es an echtem Glau­ ben fehlte, durch Übertreibung und falsche Verabsolutierung zu Ersatz­ religionen emporgesteigert.

2. Einmal im Zuge, griff man bald nach jeder Botschaft, in der eine Inner­ lichkeit sich der Entseelung des Lebens entgegenstemmte oder eine — wie immer geartete — Erlösung verheißen wurde. Es schien, als sollten sich alle Heils­ lehren und Fremdreligionen auf deutschem Boden ein Stelldichein geben. Tolstoi (gest. 1910) — schon vor dem Kriege gelesen und geliebt — wurde zeitweilig die große Mode; seine radikale Kulturkritik, seine das Evangelium mißbrauchende Verherrlichung des demütigen Verzichts auf Tat und Ver­ antwortung schien müde Gewordenen eine Bestätigung. Es folgte ein Dosto­ jewski-Rausch (gest. 1881; „Die Brüder Karamasow"), der weniger den genialen Künstler und ringenden Menschen als vielmehr den Propheten einer geheimnisvoll berauschenden Lehre des Büßens und Leidens feierte.

488

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

3. Über alle Kulturen der Erbe griff damals der Trieb zur Versenkung und Verschmelzung mit dem Urgrund der Dinge, zur Unmittelbarkeit einer über­ geschichtlichen GotteSerfahrung, die jetzt vorwiegend pantheistisch-monistische Züge trug; — in der Lyrik von R. M. Rilke (t 1926) fand er seinen zeit­ gemäßen Ausdruck. Nun beschwor man die Kraft des Meister Eckehart und die Innigkeit der Tauler und Geuse, — die naturphilosophischen Visionen Jakob BöhmeS und die Spekulationen deS Idealismus — indische Motive klangen an (TagoreS Tournee im Abendland!), und neuplatonische Gedanken wurden erneuert. Daß in dem allen viel echtes frommes Sehnen sich kunbgab, daß zugleich eine längst empfundene Unzulänglichkeit deS Protestantismus, der diesem Bedürfnis nicht zu dienen vermochte, anS Licht kam, muß aner­ kannt werden. Bedenklich blieb daS Hinübertasten auch zur Gnosis, zum Poga und zum Buddhismus, die Wiederbelebung ganz ferner und wesens­ fremder Systeme. 4. Dazu kam, durch den Kriegsaberglauben genährt, eine Hochflut der Astrologie, deren Zeitschriften phantastische Auflagen erreichten; ferner die Menge der okkultistischen und spiritistischen Sekten, die ein mediales Wissen von geheimen Möglichkeiten der Menschenseele und einen Zugang zum Reiche der Geister versprachen. Alle diese Bestrebungen überbot an Glanz der Verhei­ ßungen und Brestenwirkung die Theosophie, die nun in der Aufmachung deS Dr. R. Steiner (t 1925) als „Anthroposophie" vor die Öffentlichkeit trat. Was je und irgendwo sich einflußreich erwiesen hatte an gnostischen Geheimlehren und naturphilosophischen Spekulationen, war hier zur Einheit gefaßt durch einen bestrickenden Magier, der letzte ErkennMiS der Urkräfte für sich in Anspruch nahm und Selbsterlösung durch Selbstvergottung verkündete. Auf Grund der von Steiner entwickelten anthroposophischen Weltanschauung hat Friedrich Rittelmeyer eine religiöse Gemeinde, die Christengemeinschast, begründet und bis zu seinem Tode (1938) als „Erz­ oberlenker" geleitet. In einem neuen Kultus, der an alte Mysterien und an die römische Messe anknüpft, der „Menschenweihehandlung", findet diese Gemeinde ihren Mittelpunkt. In ihr sollen die Sonnenkräste deS anthroposophischey Christus, der mehr eine sinnlich-übersinnliche Kraft der Welt­ erneuerung als ein Heiland der Sünder ist, in den Dienst der Erden-Aura gezogen werden. Daß derselbe lutherische Pfarrer Rittelmeyer, der einst ge­ meinsam mit seinem Freunde Christian Geyer in Nürnberg das Vorbild einer im besten Sinne neuzeitlichen, protestantisch christlichen Predigt aufgestellt hatte, seine lutherische Kirche verließ und sich einem modernen Gnostizismus zuwandte, ist vielleicht daS beredteste und schmerzlichste Symbol für das Versagen des üblichen protestantischen KirchentumS gegenüber dem lebendigen Anliegen der deutschen Menschen jener Tage. 5. Nordische Mythologie und nordischer Urglaube (häufig, wie einst bei Klopstock, mit deutschem Brauch und deusscher Art verwechselt!), GermaniS-

§ 107

Anthroposophie — Völkische Weltanschauung und Religion

489

mus und Antisemitismus galten vielfach nicht nur als Weltanschauung oder politische Forderung, sondern wurden zum Range einer Religion erhoben. Zu Unrecht beruft man sich für diese Verwechselung auf Lagarde und H. St. Chamberlain. Letzterer wurde für Deutschland der eigeMliche Begründer rassischer Kultur- und Geschichtsbetrachtung. Aber die vom Hause Lubendorff aus völkischen Gründen vertretene Ablehnung der Bibel und des Christen­ tums belastet ihn nicht; hat er doch, im Gefolge der zeitgenössischen Theo­ logie, auf die er sich immer wieder beruft, nicht nur an Jesus Christus als an die höchste GotteSoffenbarung geglaubt, sondern auch den Apostel Paulus als Zeugen Jesu und Ahnherrn der deutschen Reformation aufrichtig ge­ würdigt („Gott und Mensch" V, Paulus). Lagarde dagegen hat zwar Paulus sowohl wie Luther völlig verkannt und leidenschaftlich gehaßt und deshalb auch den Protestantismus für überwunden erachtet; Jesus aber und sein Evangelium hat er innig geliebt und verehrt. Dieser Jesus steht ihm zwar im schärfsten Gegensatz zum Judentum seiner Zeit, aber im engen geistigen Zusammenhang mit den großen Propheten Israels. Und die neue nationale Kirche, die er ersehnt, hat einen übernationalen Sinn und Zweck; denn er lebte der Überzeugung, „daß Staat, Vaterland, Wissenschaft, Kunst niemals Selbstzweck, sondern immer nur Mittel und Material für bas Wachsen der Gotteskindschaft der einzelnen Menschen sind." Der große Orientalist wollte immer auch Theologe und Jünger Jesu Christi sein.

§ 108. Christentum und Kirche nach dem Weltkrieg. 1. Der Weltkrieg ist nicht nur in Deutschland, sondern über die ganze Breite der Erde als „Bankrott des Christentums" beurteilt worden. Aus diesem Urteil spricht ein sehr begreifliches, ursprüngliches Empfinden. ES war in der Tat ein grauenvolles Schauspiel, daö die führenden Völker beö christ­ lichen Abendlandes der Welt boten, indem sie nicht nur über vier Jahre lang alle Mittel einer höchst entwickelten Technik in den Dienst der Vernich­ tung vieler Millionen blühender Menschenleben sowohl wie zahlloser unersetzlicher Kulturwerte stellten, sondern mit Flugzeugen und Hunger­ blockade den Krieg auch auf die friedliche Zivilbevölkerung, auf Frauen und Kinder, Kranke und Greise ausdehnten, dazu mit einem schamlosen Lügen­ feldzug die ganze geistige Atmosphäre vergifteten, mit sadistischer Grausam­ keit die „Armeen hinter Stacheldraht" noch jahrelang nach dem Kriege quäl­ ten und verkommen ließen und schließlich ein Hölleninstrument von „Friedens­ vertrag" aufsetztcn, das keinen andern Zweck verfolgte als die Verlängerung des Krieges mit andern Mitteln und die dauernde Störung des Weltfriedens und des Weltverkehrs. Es war in der Tat die grausigste Illustration zu Luthers berühmtem Satz, daß der Mensch ein Tier sei, das (entweder von Gott oder) vom Teufel geritten wird (vgl. S. 253).

490

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

In Wirklichkeit ist gerade dies herbe Urteil vom Bankrott des Christentums ein Beleg dafür, daß das Christentum nicht Bankrott gemacht hatte. Denn auch wenn die Masse der Kritiker es nicht wußte, so stammte doch die sittliche Empörung über die Greuel des Krieges, wenn anders sie echt war, aus dem Geist des Christentums. Der erbarmungslose Kampf aller gegen alle ist, wie die Mission das z. B. bei den Papuas auf Neuguinea heute noch anschau­ lich erlebt, der Naturzustand der Menschheit; er erfüllt ja mit dem ritter­ lichen Faustrecht noch das ganze „christliche" Mittelalter. Und wenn weder nach dem Dreißigjährigen oder dem Siebenjährigen Kriege, noch nach den napoleonischen Kriegen ernsthaft vom „Bankrott" des Christentums geredet ist, sondern diese Rede erst jetzt die Gemüter erschüttert hat, so ist das ein Beleg dafür, daß der Geist des Christentums an innerer Stärke zugenommen hat: Er läßt die Menschen unserer Tage nicht mehr ertragen, was früheren Geschlechtern beinahe selbstverständlich erschien. 2. Da für solche Bettachtung aber in der grauenvollen Not des Kriegs­ endes kein Raum war, so wandte sich die bittere Enttäuschung der in aus­ sichtsloses Elend gestoßenen Volksmassen in Deutschland begreiflicherweise weithin gegen die amtliche Vertretung des Christentums, gegen die Kirche. Indem man einzelne Übertreibungen oder Entgleisungen der Kriegspredigt kritiklos oder böswillig verallgemeinerte, verlästerte man die Kirche, zumal die evangelische, als mutwillige Kriegstreiberin. Der landläufige Pazifismus verbrämte sich dabei bisweilen mit dem Mantel christlicher Friedensliebe. Die Kirche schien vielen doppelt schuldig, weil sie mit dem verhaßten „alten System" eng verbunden war. Der Haß gegen den „Thron" traf auch den „Altar". Trennung von Staat und Kirche, Entfernung des Religions­ unterrichts aus der Schule, religionslose oder weltliche Schule wurde des­ halb für große Parteien die politische Forderung. Kommunisten und sozial­ demokratische Freidenker agitierten lebhaft für den Kirchenaustritt, und Zehn­ tausende, besonders in den Großstädten, folgten dieser Parole. Es ist anders ausgegangen, als die meisten hofften oder fürchteten. Die Kirchenausttittsbewegung wurde nicht entfernt so populär, daß sie irgendwo auch nur die Existenz einer Gemeinde, geschweige einer Kirche, erschüttert hätte. Der Angriff auf den Religionsunterricht und den christlichen Charakter der Schule scheiterte an dem Widerstand der christlichen Elternschaft, die, in christlichen Elternbünden gesammelt, mit vielen Millionen Stimmen die Erhaltung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen forderte. Es machte großen Eindruck, daß die geistige Elite der Nation, die führenden Männer der Hochschulen aus allen Fakultäten, sich mit einem klaren Be­ kenntnis für die christliche Schule einsetzten. Die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 brachte deshalb auch keineswegs eine völlige Trennung von Staat und Kirche. Sie befreite die „Religionsgesellschaften" von der bisher üblichen Gängelung und Bevor-

§108

Bankrott des Chriftentulns? — Neue Festigung der Kirche

491

mundung durch den Staat: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und ver­ waltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates

oder der bürgerlichen Gemeinde". Es besteht keine Staatskirche; allen Staats­ bürgern wird volle Glaubens- und Gewissensfreiheit und staatlicher Schutz der Religionsübung zugesichert. Die Religionsgesellschaften bleiben Körper­ schaften des öffentlichen Rechts oder können dies Recht erwerben, soweit sie es noch nicbt besitzen. Die bisherigen Staatsleistungen an die Kirchen bleiben bestehen, bis sie durch ein Reichsgesetz mit einer Dotation abgelöst werben. (Im preußischen Landtag hat die Sozialdemokratie freilich immer mit den Kommunisten gegen die Staatszuschüsse für die Kirchen gestimmt; eine nichtige Geste, da eine sichere Mehrheit für die Zuschüsse vorhanden war.) Die kirchlichen Feiertage werden geschützt. Die Seelsorge im Heer und in den Gefängnissen wird weitergeführt. Die theologischen Fakultäten bleiben er­ halten. Der konfessionelle Religionsunterricht wird in seinem Bestände ge­ schützt. Freilich soll kein Lehrer zur Erteilung des Religionsunterrichts und kein Schüler zu seinem Empfang gezwungen werden. Aber der Religions­ unterricht ist „ordentlicher Lehrgegenftand", d. h. wie ein Reichstagsbeschluß interpretiert hat, die Teilnahme wird als das Gegebene vorausgesetzt; andern­ falls bedarf es einer ausdrücklichen Abmeldung zu festen Terminen, durch die Eltern oder die religionsmündigen Schüler. Von dieser Möglichkeit wurde an höheren und mittleren Schulen so gut wie gar kein Gebrauch gemacht, auch an den Volksschulen nur in unerheblichem Maße. Der doktrinäre Partei­ fanatismus nötigte zu der Bildung von Sammelklassen für die abgemeldeten Kinder. Aber diese „weltlichen Schulen" standen auch in der Lehrerschaft in geringem Ansehen. Es waren ausgesprochene Proletarierschulen der Groß­ städte. Da kein Reichsschulgesetz zustande kam, blieb fast in ganz Deutschland die Konfessionsschule die Regel. Diese Ordnung der Dinge wurde für die christlichen Kirchen ein — ungewollter — Gewinn: Lästige Schranken und eine unerwünschte Bevorzugung waren gefallen. Volle Bewegungsfreiheit und starker Rechtsschutz waren geblieben. Die Babn war frei für fruchtbare kirchliche Arbeit. 3. Die drohende Katastrophe des Weltkrieges zu verhüten, hatten deutsche Theologen durch ihre Friedensfahrt nach England vergeblich versucht. Wäh­ rend des Krieges hat der Berliner Neutestamentler Adolf Deißmann mit seinen evangelischen Wochenbriefen (Advent 1914 bis Ende 1921) sich un­ ablässig bemüht, das Verständnis der Neutralen für die deutsche Sache zu wecken. An Treue gegen das Vaterland hat sich der Stand evangelischer Theologen von keinem anderen übertreffen lassen, stehen dock die Todes­ opfer der Theologiestudenten im Kriege mit 36% nicht nur über denen der andern Fakultäten, sondern auch über dem Satz der aktiven Offiziere(25 %; Ge­ samtdurchschnitt 14%). Die Kirche hat sich dessen so wenig gerühmt, daß diese

492

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

Zahl erst spät als Antwort auf gehässige Verleumdung bekannt gegeben ist. Der Wille, die Haßatmosphäre zu durchbrechen, wachte aus beiden Seiten in ernsthaften Kirchenmännern bald wieder auf. Ein Weltfreundschaftsbund der Kirchen, zu Konstanz am Tage des Kriegsausbruchs 1914 begründet, erwarb sich das Verdienst, zum ersten Mal verantwortliche Kirchenführer der eben noch durch den Krieg getrennten Völkergruppen zu brüderlicher Beratung in Holland zu sammeln (1919). Hier wurde die Einberufung einer Welt­ konferenz für praktisches Christentum beschlossen. Sie hat vom 19.—31. August 1925 (also 1600 Jahre nach Nicäa) unter dem Motto ,,for life and work" zu Stockholm stattgefunben.

Das Hauptverdienst an ihr gebührt dem schwedischen Erzbischof Söderblom, der den deutschen Teilnehmern umsomehr Vertrauen einflößte, als er eine Reihe von Jahren als Professor für Religionswissenschaft in Leipzig gewirkt uftb durch seine deutsch geschriebenen Bücher bei allen deutschen Theologen sich hohes Ansehen erworben hatte. Wenn es auch nicht gelang, dem deutschen Volk durch eine Erklärung gegen die ehrenrührigen Behauptungen des Versailler Diktats eine moralische Genugtuung zu verschaffen, so wirkte doch diese Zusammenkunft der 661 Vertreter aus sämtlichen christlichen Kirchen, ausgenommen die römische, berichtigend und Friede stiftend schon durch ihr einfaches Dasein, zumal in der Presse der ganzen Welt ausführlich und an­ erkennend darüber berichtet wurde. Wenn die römische Kirche ihre Teilnahme versagte, so hat sie damit weniger bas Ansehen der Stockholmer Konferenz als ihren eigenen christlichen Ruf geschädigt. Obwohl diese Konferenz nicht eine Einheft der Lehre herzustellen bezweckte, durfte sie doch mit Recht eine stillschweigende Einheft in dem „Glauben, der in der Liebe tätig ist", voraus­ setzen und sich deshalb darauf beschränken, die christlichen Grundsätze für die soziale Erneuerung der Gesellschaft festzulegen und in einer Botschaft an das christliche Gewissen der Völker zu appellieren. Hauptzweck war, das klein­ mütige Vorurteil zu durchbrechen, als gäbe es Gebiete des praftischcn Han­ delns, deren „Eigengesetzlichkeit" eine moralische Beurteilung nach christ­ lichen Grundsätzen nicht zulasse. Um die Arbeit fortzuführen, wurde ein Fortsetzungsausschuß gewählt, aus dem dann ein sozialethisches Forschungs­ institut (jetzt in Genf) hervorgegangen ist.

Um die in Stockholm ausgeschaltete Glaubensftage hat sich zwei Jahre später die Lausan ner Welt k o n fe ren z, ,0n kaitb and Order* * (um Glauben und Kirchenverfassung) bemüht. Es geschah wohl in richtiger ahnender Vor­ aussicht, daß die deutschen evangelischen Kirchen hier nicht amtlich vertreten waren. Denn wenn in erster Linie das n icänische Symbol als für die Lehr­ entwicklung maßgeblich hingestellt wurde, so entsprach das wohl dem Herzen der morgenländisch-orthodoxen wie der anglikanischen Teilnehmer, aber nicht den Aufgaben der deutschen kftchlichen Gegenwart.

§ 108f.

Ökumenische Bewegung — Die römische Wellkirche

493

§ 109. Der römische Katholizismus nach 1918. 1. Die große Erschöpfung, die nach dem Weltkrieg über der Menschheit lag, weckte — wie stets in solchen Zeilen — die Sehnsucht nach der Heiligkeit des Symbols, nach dem Trost mystischer Versenkung und der tragenden Kraft hierarchischer Ordnungen. Wieder einmal schienen die seelischen Vor­ aussetzungen für einen Angriff des Katholizismus gegeben. Die Gelegenheit, die ihr damit zugespielt wurde, fand die römische Kirche nicht unvorbereitet. — Noch mitten unter den Erschütterungen deS Völker­ ringens hatte man eine juristisch hervorragende Neufassung des corpus juris canonici (1917) herausgebracht, die alle Macht dem Papst überschrieb und ohne Rücksicht aus staatliche Belange erheblich verschärfte Anforderungen in Sachen der „gemischten Ehen" formulierte. Die kuriale Politik während des Krieges, in ihrem Gebaren streng neutral, dem deutschen Schicksal gegenüber jedoch kühl bis zum äußersten und vielfach geradezu einsichtslos, hatte es trotzdem verstanden, Benedikt XV. den Ruf eines „Friedenspapstes" und damit gesteigertes moralisches Ansehen zu gewinnen. Noch die Dczembertage 1918 vernahmen dann als Losung für die neue anhebende Periode den Ruf zu einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden actio catholica, mit der Priester und Laien, straff geführt und organisatorisch eng zusammengeschlossen, in die ganze Breite der öffentlichen Aufgaben, auch der Kultur, Wirtschaft und Politik, vorftoßen sollten. Pius XL hat diese Pläne seines Vorgängers technisch durchgeführt und ihnen bereits 1923 eine deutliche gegenreformatorische Spitze gegeben. In­ zwischen war die kirchliche Diplomatie und Mission mit äußerster Kraft­ anstrengung am Werk. Sie griff hinaus nach den Vereinigten Staaten, in denen sie ein umfangreiches Schulwesen organisierte, nach England, wo ihr eine anglo-katholische Bewegung entgegenkam, sie siedelte sich in Holland an, sie sandte ihre Legaten nach Skandinavien und den neugeschaffenen baltischen Randstaaten, fand einen höchst beachtlichen Stützpunkt in Polen und konnte bald eine erhebliche Verbesserung ihres Verhältnisses zu der lange Zeit hindurch antikatholisch geleiteten Republik Frankreich buchen. Auch Länder, die sich im Zusammenhang der großen politisch-sozialen Umwälzungen ganz oder teilweise dem Bann derKirche entzogen, wurden mit zäher Folgerichtigkeit um­ worben : die Tschechei, Rumänien und Iugoslavien, Portugal und Spanien, Mexiko und Guatemala. In einer langen Reihe von Konkordaten fand die so geleistete Arbeit ihren politischen Ausdruck. Konkordate wurden nach dem Kriege abgeschlossen mit Lettland 1922, Bayern 1924, Polen 1925, Litauen 1927, Rumänien 1927 (29), Preußen und Italien 1929, Baden 1932, Öster­

reich und dem Deutschen Reich 1933. Keines von diesen Ereignissen aber bat ähnlich eingeschlagen wie der Abschluß des Lateranvertrages (nebst Konkordat) vom 11. April 1929. Unter der überlegenen Führung eines genialen Staatsschöpfers war das nach

494

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

Kriegsende in voller Auflösung begriffene italienische Volk zu sich selbst und den Wurzeln seiner Kraft zurückgekehrt. Der Faschismus, der Demokratie, Liberalismus und Freimaurerei austilgte und die römischen Traditionen machtvoll wieder in den Mittelpunkt des nationalen Lebens stellte, wußte um den „sittlichen Wert der religiösen Gesinnung", er nahm von vornherein eine bejahende Haltung zur katholischen Kirche ein, in der er einen lateinischen Kulturfaktor hohen Ranges erkannte. Im Lateranvertrag von 1929 stellte das Königreich Italien die volle Souveränität des Papsttums über die kleine' sogenannte Vatikanstadt her, garantierte ihm außerdem einen exterritorialen Bereich mit mehreren Kirchen, Palästen usw., erklärte die Person des Papstes für heilig und unverletzlich und gestand ihm das aktive und passive Gesandtschaftsrecht zu. Der Heilige Stuhl seinerseits verzichtete dafür auf jeden Widerspruch gegen die Säkulari­ sierung des Kirchenstaates (ein besonderes Finanzabkommen entschädigte die Kirche für ihre Verluste mit 1750 Millionen Lire) und erkannte das König­ reich Italien mit Rom als Hauptstadt an. — Das gleichzeitige Konkordat beseitigte die alte kircbenseindliche Gesetzgebung, bestätigte den Katholizismus als Staatsreligion, sicherte die Freiheit des bischöflichen Amtes und stellte die christliche Eheschließung, die christlichen Schulen und die religiösen Genossen­ schaften unter staatlichen Schutz. Der Klerus verpflichtete sich, keiner politi­ schen Partei beizutreten oder sich in ihr zu betätigen. Mussolini in seiner Antrittsrede vor dem Parlament: „Das italienische Volk muß seiner Natur nach beim Katholizismus bleiben und wird es auch. Ich bin Katholik. Und ich glaube, daß zum Wohl des Landes und der Kirche der Katholizis­ mus bleiben muß, wie er ist, nicht eingeengt zur Staatsreligion. Italien wird politisch reformiert, religiös nicht!"

2. Als der Duce und der Kardinalstaatssekretär im Lateran einig wurden, war die actio catholica in Deutschland bereits seit Jahren in vollem Gange. Den leidenden Massen kam ein weitschichtiges soziales Bemühen entgegen, — den suchenden Geistern eine betriebsame apologetische Literatur, die gegen­ wartsnahe Fragestellung mit kluger Gedankenführung und einer oft blen­ denden Sprache verband; der religiösen Sehnsucht antwortete ein „monastischer und liturgischer Frühling" und dem Drängen der jungen Menschen eine konfessionelle Jugendbewegung („Quickborn", „Neudeutschland"). Das gesamte Dereinswesen wurde straffer organisiert und zumal den Sport­ verbänden tätiges Interesse zugewandt. Besondere Akademiker- und Exerzitienwochen dienten der Gewinnung weiter Laienkreise für die Ziele der katho­ lischen Aktion. Unter der Jugend zeigen die „Marianischen Kongregationen", eine jesuitische Einrichtung zur Pflege des Marienkults, ein starkes Wachstum. Hinter alledem stand der ausgesprochene Gedanke einer neuen Germanen­ mission; ihr biente ein riesiger Apparat, der zu einer immer weiter fort­ schreitenden Vollkommenheit entwickelt wurde. Bereits 1917 — im Jahre

$109

Die römische Kirche in Italien und Deutschland

495

des Reformationsjubiläums — waren die Jesuiten nach Deutschland zurück­ gekehrt. Andere Orden folgten ihnen auf dem Fuße. Über die Gaue zwischen Köln und Königsberg legte sich ein engmaschiges Netz von Klöstern und Kongregationsnieberlasiungen,von dem aus eine zielsichere Propaganda vor­ stieß. Nebenher ging ein rascher Ausbau der Hierarchie, die zusammengefaßt, um einige bedeutsame Bischofssitze vermehrt und in ihrem Glanz gesteigert wurde. 1920 hielt der erste Nuntius bei der Reichsregierung seinen Einzug in Berlin. Die Umgestaltung der Hierarchie nach 1918 brachte die Erhebung von Breslau und Paderborn zu Erzbistümern und die Gründung neuer Bistümer in Meißen (1922), Danzig (1925), Aachen und Berlin (1929). — Nach dem „Kirchlichen Handbuch für das katholische Deutschland" gab es 1930 im Reiche 7506 Ordensniederlassungen mit insgesamt 85907 männ­ lichen und weiblichen Mitgliedern und 7924 Novizen. — Die Konkordate von 1924 (Bayern) und 1929 (Preußen) haben damals mit gutem Grund stärkstes Befremden erregt. In dem bayrischen anerkennt der Staat „das Recht der Kirche, im Rahmen ihrer Zuständigkeit Gesetze zu erlassen und An­ ordnungen zu treffen, die ihre Mitglieder binden; er wird die Ausübung dieses Rechtes weder hindern noch erschweren". Den Orden gewährt er un­ beschränkte Freiheit, den Bischöfen maßgebenden Einfluß auf das gesamte katholische Schul- und Erziehungswesen. — Das wesentlich vorsichtigere Preußenkonkordat beseitigt doch jeden staatlichen Einfluß auf die Zusammen­ setzung der Domkapitel, lähmt die Mitwirkung der Regierung und der Dom­ herren bei der Bischofswahl zugunsten der päpstlichen Ernennung und erlaubt grundsätzlich die Ausbildung deutscher Geistlicher an einer römischen Hoch­ schule. — Damit waren wichtige staatliche Rechte, die bis dahin noch be­ standen hatten (s. o. S. 399), preisgegeben. Katholische Hochschulen und Weltanschauungsprofeffuren wurden gegrün­ det, ultramontane Vertrauensmänner besetzten die wichtigsten öffentlichen Ämter, in den eindrucksvollen Demonstrationen der „Katholikentage" fand

der neue „Aktivismus" seinen lautesten Ausdruck. So zeigt das erste Jahrzehnt nach 1918 die römische Kirche im Zeichen einer Sammlung ihrer Kraft und eines siegreichen Fortschreitens. Aber mit welchen Opfern wurden diese Erfolge erkauft! Es war noch nicht daü Schlimmste, baß man — im Zuge einer auf allen Lebensgebieten feststellbaren Zeit­ erscheinung — dem Rausche der Organisation und der Zahl verfiel und dar­ über die Tatsache der anhaltenden Kirchenaustrittöbewegung und der äußerst niedrigen Konvrrsionsziffern wenig beachtete. Entscheidend wurde, baß der Katholizismus nach 1918 innerpolitisch sofort in die Führung deS Staates ging, sich weitgehend dem Parlamentarismus verschrieb und deswegen vor der Weltgeschichte mit einem wesentlichen Schuldanteil an der Zersetzung unseres Volkes belastet bleibt. Einst hatte das Zentrum immerhin baS Recht

496

Di« Neuzeit: nach dem Weltkrieg

ehrlicher Überzeugung und kulturpolitischer Grundsätze für sich in Anspruch nehmen können. Jetzt artete diese Opposition gegen den Reichsgedanken immer mehr in eine Geschäftemacherei aus, die oft auch irdische Zwecke ihrer Kirche über daS Vaterland stellte.

§ 110. Die Ostkirche unter dem Kreuz. 1. Während der römische Katholizismus im Vollgefühl seiner Macht und seiner Möglichkeiten zur Verwirklichung weltumspannender Pläne ansetzte, sank über die Kirche bes Ostens daS Grauen. Ihr bedeutete der große Krieg den Zusammenbruch Jahrtausende hindurch gehaltener Stellungen. Wohl behauptete sich auf dem Balkan daS griechische Christentum in neuen national­ kirchlichen Formen, — auch die alten Patriarchate von Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem blieben dem Namen nach bestehen. Mer praktisch wurden sie durch die Folgen der Friedensverträge von Sövreö (1920) und Lausanne (1923), vor allem aber durch die türkisch-griechischen Kämpfe (1922/23) jeden Einflusses entkleidet, die blühende orthodoxe Kirche in Kleinasien wurde völlig vernichtet. Und während dem ging auf den stärk­ sten Bereich der orthodoxen Welt — auf Rußland — ein Schicksal hernieder, daS alle Christenverfolgungen der Geschichte in den Schatten stellte. Sofort nach seinem Machtantritt zeigt« der Bolschewismüs sein wahres Gesicht. Noch im Januar 1918 wurde die Trennung von Staat und Kirche ausge­ sprochen, das Christentum als „gegenrevolutionär", die Religion als „Opium für das Volk" herabgesetzt. Das öffentliche Leben verlor alle sakralen Sym­ bole, die Schule den Religionsunterricht; die Kultstätten und sonstigen Besitz­ tümer sämtlicher Konfessionen verfielen der Beschlagnahme. Dann folgte daS Verbot der „religiösen Propaganda", die bürgerlich« Entrechtung der Geistlichen, die Mschaffung der Sonn- und Feiertage, die Zerstörung der Ehe und der Familie. — Die „kämpfenden Gottlosen" kamen zur Macht und erfüllten das Land mit Schrecken. Die äußere Organisation der ortho­ doxen Kirche wurde restlos zerschlagen. Schätzungsweise 31 Bischöfe, 1600 Geistliche, 7000 Mönche mußten im ersten Jahrzehnt der Bolschewisten­ herrschast ihre Treue zur Kirche mit dem Leben bezahlen; — die doppelte Zahl verkam in den Gefängnissen. Die fünftägige Woche zerstörte bewußt die Möglichkeit eines gemeinsamen Gottesdienstes, da die verschiedenen Arbeitsgruppen auch verschiedene Feiertage bekamen. 2. Im Innersten dieses KirchentumS aber, bas man sich gewöhnt hatte, als formalistisch verknöchert, als starr geworben im Zauber seiner Ikone und seiner staatlichen Gängelung abzutun, saß eine verborgene Kraft, die jetzt anS Licht kam. Über die Zwangs- und Hungerlager der deportierten Bauern, über die Massenstiedhöfe gemordeter Kinder, über die Kerkerqualen der Arbeiter aller Berufe schwang sich der Glaube empor, wissend und verkündend von einer Wirklichkeit, die größer ist als alle Gewalt. Daß Gottes Reich hier und

$110

Die Ostkirche unter dem Kreuz: Traugott Hahn

497

heute unter uns ist, baß es Zeit und Ewigkeit umfaßt und verklärt, baß eS Persönlichkeit fordert und Gemeinschaft wirkt, bas haben die vielen Tausende namenloser Märtyrer in Sowjetrußland bezeugt. Auch hier heißt es: „Man kann wohl alle Kirchen schließen, doch nicht die Kirche im Gewissen." Die große Mehrzahl der orthodoxen Gotteshäuser ist geschloffen; neuerdings auch die letzte protestantische Kirche in Moskau, so daß auch die Botschaften evangelischen Bekenntnisses, die deutsche, britische, nordamerikanische uff. kirchlich heimatlos sind. Doch mußte die Gottlosen­ liga in ihrer Festschrift zum 20. Jahrestag der Trennung von Staat und Kirche den mangelnden Erfolg ihrer Ausrottungsarbeit bekennen: Etwa die Hälfte der Bevölkerung befindet sich noch „in den Klauen religiöser Organi­ sationen verschiedener Konfessionen". „Es hat sich erwiesen, baß die Religion mehr Lebenskraft besitzt, als man allgemein annahm." In den Gefängnissen von Riga, Januar 1919 (aus O. Schaberi: „Baltisches Märtyrerbuch"). „Der milgefangene griechisch-orthodoxe Bischof Platon hatte wenige Tage vor seiner Verhaftung Hahn (Prof. D. Traugott Hahn) und einem jungen Amtsbruder gegenüber eö ausgesprochen: »Deutlicher denn je sehen wir jetzt das, was wir schon längst hätten sehen sollen, baß die Unterschiede zwischen den Konfessionen nichts anderes sind als Mauern, von Menschen errichtet, doch diese Mauern sind nicht hoch, über ihnen thront ein Gott — unser aller himmlischer Vater.' Hier wurde es wahr, über den Mauern fanden sich die betenden Hände. Die Eine heilige Kirche, die wir glaubend bekennen, hatte hier Gestalt gewonnen, nicht durch eine Union der Konfessionen, sondern der Leiden um des Christen­ namens willen. Als einer der lutherischen Pastoren dieses Kreises von einer er­ niedrigenden Arbeit zurückkehrte und, erschüttert über die Gemeinheit, zusammen­ brach, ttöstete ihn ein griechischer Priester mit den Worten: »Bruder, alles für Christus.' Wie denn auch spater bei der Beerdigung der Opfer die griechischen Priester am Sarge Hahns, »dieses Gottesmenschen', und die lutherischen Pastoren am Sarge Platons in beredten Worten dem Ausdruck verliehen, was sie miteinander in diesen Tagen, die so ganz dem Verkehr mit Gott geweiht gewesen. Großes erlebt und fürs Leben gewonnen haben. Hier war die wahre Unio sancta, da alles Scheidende zrrrücktrat vor dem einen Großen: dem Kreuz um Christi willen."

§ 111. Der deutsche Protestantismus nach dem Weltkrieg. 1. Der deutsche Protestantismus stand im November 1918 zunächst einmal vor der alle seine Derfaffungsgrundlagen umstürzenden Tatsache, baß mit der Monarchie auch der nahezu vier Jahrhunderte alte Summepiskopat der Fürsten beseitigt und durch die Republik die Verbindung zwischen Staat und Kirche gelockert und stark bedroht war, — vor der schwerwiegenden Aufgabe also, mitten im Chaos, eingekeilt zwischen Katholizismus und Marxismus, ein völlig neues und weitgehend selbständiges Gemeinwesen aufzubauen. Zeitweilig schien es angesichts der offenen Feindschaft mancher Länderregie­ rungen (Sachsen, Thüringen, Braunschweig), der kommunistisch-freibenkeri32

Schuster, Klrchengefchichtt

496

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

schen Angriffe und der Anklagen, die auch aus dem Bürgertum sich erhoben, als habe die Stunde des Zusammenbruchs geschlagen. ES bleibt ein Beweis für die Lebenskraft des deutschen evangelischen Christentums, daß trotz alle­ dem binnen kurzem der Bestand der Kirche wieder gesichert und ihr eine trag­ fähige Ordnung gegeben wurde. Bis 1925 war der Neubau der einzelnen Landeskirchen vollzogen, das Wahlrecht auf die Frauen ausgedehnt, Wesen und Zuständigkeit der Synoden geklärt. Das Verfasiungswerk etwa der „Altpreußischen Union" (1923) legte die Kirchenhoheit in die Hände der aus Gemeindewahlen hervorgegangenen Körperschaften (Kreis-, Provinzialund Generalsynode) und der von diesen eingesetzten Ausschüsse (Provinzial­ kirchenrat, Kirchensenat). Als ständige Behörden verblieben die Konsistorien und der Evangelische Oberkirchenrat. Wenn auch die Umstellung auf den Stil der staatsfreien selbständigen Volkskirche gelungen war, so ist doch nicht zu verkennen, daß der Aufbau der Verfassung hier wie in andern Landes­ kirchen verwickelt und schwerfällig war. Er ließ dem verantwortungsfreudigen Handeln glaubensstarker führender Männer nicht genug Raum. Noch während diese Aufbauarbeiten liefen, geschah unmittelbar aus der Not der Stunde heraus ein bedeutsamer Schritt zur Errichtung einer brauch­ baren Gesamtorganisation für alle deutschen Protestanten: am HimmelfahrtStag 1922 wurde in Fortsetzung der Bemühungen der „Eisenacher Kirchenkonferenz" (1852) und des „Deutschen Evangelischen Kirchenausschus­ ses" (1903), vorbereitet durch die Kirchentage von Dresden und Stuttgart, zu Wittenberg der „Deutsche evangelische Kirchenbund" geschaffen. Sein Zweck ist Wahrung und Vertretung der deutschen evangelischen Landeskirchen, Pflege eines Gesamtbewußtseins des deutschen Protestantis­ mus, Einsetzung der zusammengefaßten Kräfte der deutschen Reformations­ kirchen für die religiös-sittliche Weltanschauung der deutschen Reformation. Der Bund bildete drei Organe, 1. den Kirchentag (210 Mitglieder) als die beschließende Körperschaft (alle 3 Jahre zusammentretend), 2. den Kirchen­ bundesrat (aus Abgesandten der Landeskirchen bestehend) als beratende Be­ hörde, 3. den Kirchenausschuß (in den 1 und 2 je 18 Mitglieder entsenden) als das geschäftSführenbe und vollziehende Organ des Bundes. Zu den Aufgaben des Kirchenbundes gehörte z. B. der Verkehr mit der Reichsregierung, mit ausländischen Körperschaften, die Fürsorge für die große deutsch-evangelische Diaspora in Europa und Übersee; aber auch die Schaffung eines einheitlichen Gesang- und Choralbuches und dergl. Wenn auch der Kirchenbund das 1919 wieder aufgebrochene Ideal einer Reichskirche nicht erfüllte, so hat er doch in der kurzen Zeit seines Bestehens viel gewirkt für die Herstellung eines echten innerlichen Einheitsbewußtseins des deutschen Protestantismus. 2. Mit der Erschütterung nahezu aller bisher gültigen Werte schlug auch für die deutsche protestantische Theologie eine neue Stunde — fruchtbar und gefährlich wie kaum eine andere. Sie sah sich überschüttet mit einer Unmenge

§ 111

Der Deutsche evangelische Kirchcnbund— Die dialektische Theologie

499

von Fragen, die aus den letzten Gründen des Lebens aufstiegen und lebenSgültig, „existentiell", beantwortet werden wollten. „Existenz" wurde nicht ohne Grund das herrschende Kennwort; denn es ging jetzt um den letzten Sinn deS menschlichen Daseins in der Welt vor dem Angesicht Gottes. Mit unerwarteter Raschheit verlagerte sich das Schwergewicht der theologi­ schen Arbeit. Während eben noch historische Kritik, religionspsychologische Analyse, religionswisienschaftliche Vergleichung und religionsphilosophische Spekulation das Feld beherrscht hatten, trat nun die Systematik sichtbar in den Vordergrund. Wir wurden nach dem Kriege mit einer kaum mehr zu übersehen­ den Fülle systematischer Arbeiten in Zeitschriften-Aufsätzen, Broschüren und schweren Büchern beschenkt. (Wobbermins Systematische Theologie, seine fruchtbare Methode des religionspsychologischen Zirkels). Die neue theolo­ gische Haltung setzte an Stelle der bisher üblichen Harmonisierung von Kul­ tur und Christentum eine sorgfältige Unterscheidung, wenn nicht strenge Son­ derung beider Größen. Historismus, PsychologiSmus und Relativismus wur­ den bekämpft; Wort Gottes, Offenbarung und Kirche auf den Schild gehoben. Souveränität und Transzendenz GotteS, menschliche Vergänglich­ keit und Sünde, Rechtfertigung und Versöhnung durch Christus, die Kirche und ihre Sakramente, die überragende Bedeutung der „letzten Dinge" — das waren die Hauptgegenstände des theologischen Denkens. Eine Lutherrenaiffance kam in Gang (Karl Holl's „Luther"), die das zentrale Glaubens­ erlebnis des Reformators innerhalb der Kirche wieder wirksam machen wollte. Mit ihr verband sich ein heißes Bemühen um reformatorisches Schrifwerständnis („pneumatische" ober „theologische" Bibelauslegung!). Der Unterschied zwischen biblischem Glauben und idealistischer Gläubigkeit wurde kenntlich gemacht, die Schwächen der Mystik und damit auch die Grenzen Schleiermachers aufgewiesen. Nirgends sprach sich die Absage gegen den „Kulturprotestantismus" so laut und schneidend aus wie im Kreise der sogenannten dialektischen Theologie oder Theologie der Krisis (Karl Barth, Emil Brunner, Gogarten, Bultmann). Der Name „Theologie der Krisis" ist sinnvoll, weil sie den Menschen unter dem Gericht Gottes erblickt und deutliche Scheidung von Welt und weltlicher Kultur verlangt. Der Name „dialektische Theologie" ist anfechtbar; denn eine echte Dialektik in der Behandlung der Probleme, Würdigung von These und Antithese, ist gerade bei diesen Theologen wenig zu finden; sie ent­ scheiden gern apodiktisch, ohne sich um Gegengrünbe zu kümmern. Die „dia­ lektische" Theologie ist der leidenschaftlichste und darum auch der wirksamste Angriff gegen die Mängel der alten, sowohl der historisch-fintischen als der kirchlich-traditionellen Theologie. Sie hat unserer Zeit endgültig deutlich ge­ macht, worum es geht: nicht um die Frage, ob wir mit den Methoden einer an naturwisienschaftlichen Vorbildern geschulten, exakten historisch-kritischen Wissenschaft feststellen können, was einst gedacht und geglaubt wurde, in der

500

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

Zeit der Bibel oder der Reformation; auch nicht darum, die überlieferten kirchlichen Positionen unter allen Umständen zu verteidigen — denn auch die empirische Kirche ist ein Stück „Welt" und mit ihr vergänglich — sondern einzig darum, daß wir den Sinn unseres zestlichen Daseins vor dem Angesicht der Ewigkest begreifen, daß wir die tiefe Fragwürdigkeit unserer irdischen Existenz durchschauen und den allmächtigen Gott als den begreifen, dem wir unbedingten Gehorsam schulden und von dessen Gnade allein unser Leben Sinn und Inhalt empfängt. Als Anstoß zur kritischen Besinnung ist die Theologie der Krisis zur rechten Zeit gekommen. Ob sie das Fundament für einen theologischen Neubau zu liefern vermag, ist schon heute mehr als fraglich. 1. An dem Bemühen, allem Liberalismus gegenüber eine feste und klare Lehre zu brin­ gen, verfällt sie der Gefahr einer neuen Orthodoxie im üblen Sinne des Wortes, einer Versteifung auf Formeln und Schlagwörter und einem Rückfall in scholastische Begriffsbildung (Karl Barths Dogmatik). Auch ver­ führt sie viele ihrer jungen Anhänger zu einer bedenklichen Unfähigkeit, andere Meinungen zu verstehen, und zu einer bedauerlichen Überheblichkeit im Urteil, wenn z. B. Schleiermacher als Verderber der Theologie bezeichnet wird, ohne die geringste Einsicht in die geistige Lage seiner Zeit und in die Größe seines zeitgeschichtlichen Verdienstes. 2. So notwendig der Aufruf an die Bibelauslegung war, durch die historische, archäologische und religions­ geschichtliche Gelehrsamkeit zum erlösenden Sinn des Wortes durchzudringen, so bedrohlich ist schon in Barths „Römerbrief", geschweige in der neuesten Mißhandlung des Alten Testaments durch seine Schüler, die schwere Gefahr, an Stelle aufrichtigen Hörens auf den Sinn des geschriebenen Wortes eine geistreich-willkürliche und zuchtlose Auslegung zu setzen und, unbekümmert um Luthers Mahnung: „Der natürliche Sinn ist Frau Kaiserin", eine alle­ gorische und typologische Ausdeutung zu betreiben, die den vom allegorischen Rausch Ernüchterten ins Bodenlose stürzt. Die Dialektik des Problems „Bibel und Wort Gottes" wird hier völlig verkannt. Die Bibelauslegung wird um Jahrhunderte zurückgeworfen. 3. Das Bedenklichste beinahe ist, daß diese Theologie, die sich gern als einzig reformatorisch gebärdet, den letzten Sinn der Reformation Martin Luthers in entscheidenden Punkten verfehlt. Luthers Glaube ist nicht, wie Karl Barth immer wieder behauptet, ein „Hohlraum"; der Dialektiker verkennt auch hier die Dialektik der Sache, wonach Gott und Glaube zusammengehören. Der Gegensatz zwischen Heiligkeit und Sünde darf nicht mit dem zwischen Zeit und Ewigkeit verwechselt werden. So nütz­ lich eS weiter war, einer Zeit, die in oberflächlichem Optimismus schwärmte, Luthers strenge Lehre vom unbekannten Gott vor Augen zu stellen, das letzte Wort hat Luther damit nicht sagen wollen, sein letztes Wort ist vielmehr die Lehre von dem Gnädigen und Barmherzigen, der unö in Christus nahe kommt.

§111

Karl Barth — Bibelwifsenschaft — Rudolf Otto — P. Tillich

501

Die historische Theologie hat inzwischen, unbeirrt durch diese Krise, mit den alten bewährten Methoden ihre Arbeit fortgesetzt: Die Forschungen zur Kirchen- und Geiftesgeschichte, herausgegeben von E. Seeberg, dessen eigene Lutherforschung, sowie die von ihm geleitete große Ausgabe der Werke Eckeharts (s. o. S. 187); die Geschichten des Papsttums von Erich Caspar und dem Historiker Haller; Lietzmanns Geschichte der alten Kirche. Die Bibelwissenschaft hat im Ganzen den Zusammenhang mit der historisch-kritischen Forschung der Vorkriegszeit bewahrt. Den Beweis dafür liefern nicht nur die Neuauflagen des Lietzmannschen Handbuchs zum Neuen Testament und das neue Handbuch zum Alten Testament, sondern auch das neue populäre Göttinger Bibelwerk (das Neue Testament deutsch), das sich in der Methode, vielfach auch in den Ergebnissen, von den „Schriften des Neuen Testaments", begründet von Johannes Weiß, herausgegeben von W. Bousset und W. Heitmüller, nicht wesentlich unterscheidet. — Eine neue Bahn in der Evangelienforschung hat die formgeschichtliche Methode eröffnet (M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums; R. Bultmann, Die Geschichte der synopt. Tradition, Die Erforschung der synopt. Evangelien), indem sie mit spürendem Scharfsinn die Entwicklung des Berichtes von Jesus und seiner Botschaft in der mündlichen Überlieferung der Gemeinde erforscht hat, eine heilsame Ergänzung zu der bisher üblichen literarkritischen Methode. Die von Lagarde angeregte wissenschaftliche Ausgabe der griechischen Über­ setzung des A.T. (Septuaginta) ist durch den unermüdlichen Fleiß und Scharfsinn von Alfred Rahlfö unmittelbar vor seinem Tode zu einem vor­ läufigen Abschluß gebracht. Kittels Biblia hebraica ist uns in neuer ver­ vollkommneter Gestalt geschenkt; damit sind die Grundlagen der wissenschaft­ lichen Weiterarbeit am A.T. gelegt. Zu immer größerer Reife und innerem Reichtum ist in diesem Zeitraum die Theologie Rudolf Ottos (f 1937) gewachsen. Davon zu schweigen, daß er sich in die neue Naturwissenschaft einarbeitete („religiöse und naturwissen­ schaftliche Weltansicht") und die Grundsprache der indischen Religionen lernte, um deren Dokumente uns zu erschließen, hat er uns ein maßgebliches streng theologisches Buch geschenkt, „Das Heilige", 1917 zuerst erschienen, immer wieder neu aufgelegt und in alle Kultursprachen übersetzt, so daß £tto jetzt im Auslande der angesehenste und meist gelesene deutsche Theologe ist. Er hat schon vor der dialektischen Theologie, durch einbringendes Studium der Bibel wie Luthers und durch ausgebreitete religionsgeschichtliche Forschung belehrt, das Göttliche (das Numinose) als das Überweltliche und das Heilige, das den

Menschen erschüttert und überwältigt, mit hinreißender Kraft beschrieben. Neben ihm hat der systematischen Theologie ein Vertreter der jüngeren Generation, Paul Tillich, besonders ftuchtbare Anregungen gegeben. Er geht aus von der unerschrockenen Erfassung der „Grenzsituation" des Men­ schen, d. h. der ständigen „unbedingten Bedrohtheit des menschlichen Daseins",

502

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

die dem Sehenden verbietet, sich auf irgendwelche „Sicherungen" wie Kirche, Sakramente und Priester, Bibelinspiration oder den Buchstaben von Dogma und BekenMniv zu verlassen. Es ist Ausgabe der „prophetischen Kritik" (d. h. einer mit dem Blick auf baS Ewige, überweltliche geübten Kritik), darüber

zu wachen, daß kein irdisches Ding, bas man festlegen und besitzen, über das man verfügen könnte, »ergötzt und zum Absoluten erhoben werde. Denn freilich ist die im Evangelium aufgebrochene Gnade Gottes die menschliche Rettung; aber sie ringt stets um neue Verwirklichung, und ihre Gestalt darf mit keiner irdischen Größe gleichgesetzt werden. Die Gnade ist nicht in toten Dogmen, sondern nur in lebendigen Symbolen zu ergreifen. Sie kann auch nicht in einen wohlbehüteten „heiligen Bezirk" eingeschlosien werden. Gläu­ biger Realismus, evangelische Profanität sind unser Ziel. Prophetische Kritik und Gestalt der Gnade bilden in diesem Gedankenkreis eine echt dialektische SyMhesc, sofern durch prophetische Kritik die Gestalt der Gnade vor der immer drohenden Verwechselung mit Irdischem und Vergänglichem bewahrt wird. Auch er hat im Ausland viel Beachtung gefunden. Das protestantische Aus­ land betrachtet die deutsche Theologie der letzten 100 Jahre immer noch als ein einheitliches Werk und als die größte deutsche Kulturleistung neben der deutschen Musik. Trotzdem bleibt der Theologie noch eine unendliche Arbeit zu leisten, um den Schutt überlebter Gebankengebilde von zwei Jahrtausenden, der baS Evangelium zu ersticken droht, wegzuräumen und die Neuformung des christlichen Denkens zu vollenden, die das große Erbe der Reformation in die Zukunft rettet. Das hat ein Schüler von Ernst Troeltsch, Kurt Leese, in seinen grundlegenden Büchern („Die Krisis und Wende des christlichen Geistes" 1932, „Die Religion des protestantischen Menschen" 1938) an­ schaulich geschildert. Auch die wiederholten Mahnungen von E. Hirsch („Der Weg der Theologie") dürfen nicht überhört werden. Vor allem muß Kierke­ gaards eindringliche Warnung vor der Verweltlichung des ganzen land­ läufigen Kirchen- und Christentums gehört und beherzigt werden. Es ist ernstlich zu fragen, ob er nicht Recht hat, wenn er die gesamte Christenheit, wie sie heute wirklich ist, als eine ungeheure Täuschung betrachtet, mit der Gott zum Narren gehalten werde, und erklärt, dies Christentum habe nichts mehr gemein mit dem Christentum des Neuen Testaments. Erst wer durch dies Fegefeuer hindurchgegangen ist, darf dem Programm Lagardes einer deutschen Gestalt des Evangeliums (das der Helianddichter einst verheißungs­ voll eröffnete, S. 115 ff.) nähertreten. 3. Um den Gedanken der Volkskirche, der als rettend empfunden wurde, sammelten sich nach dem Weltkrieg zahlreiche Laien, die bisher abseits gestan­ den hatten, durch die große Krise hindurch aber zur Gewißheit der evangeli­ schen Wahrheit und zur Hoffnung auf die gemeinschaftbildende, die Klassen­ gegensätze überbrückende Kraft der christlichen Liebe gekommen waren. Ihrem

§111

Die theologische Aufgabe — Ev. Jugend — Religionsunterricht

503

Suchen antworteten neue Bewegungen, vor denen die alten kirchenpolitischen Gegensätze zurücktraten. Der starke Wille zur Form und Liturgie, dm das junge Geschlecht in sich trug, fand Gestalt in der Arbest der Berneuchener; die Sehnsucht nach fester Leitung und strengem Aufbau führte zur Bildung „hochkirchlicher" Gemeinschaften, die freilich der Gefahr zu katholisieren nicht entgingen. AlleMhalben regte sich das Bestreben, die Predigt aus veralteter Form zu erlösen, sie zu „verdeutschen und zu vergegenwärtigen" und bis in den dunkelsten Großstabtwinkel vorzutragen. Eine Fülle besonderer Vereini­ gungen entstand, die jenem echten Gegenwartsbedürfnis, nicht zuletzt dem Ruf der Jugend gerecht werden wollten. Die evangelischenJugendbünbe nahmen einen verheißungsvollen Aufschwung. Hunderttausende frischer Ju­ gend fanden sich hier in ernster Bibelarbeit und fröhlich reinem Jugendleben zusammen. Sie erweckten die Aussicht auf einen festen Kern der Gemeinden und auf einen starken Nachwuchs für die leitenden Posten im kirchlichen Leben. Daß die Kirchenführung diesen Neubildungen größte Aufmerksamkeit schenkte, daß sie überhaupt ganz anders als früher sich der freien Vereins­ arbeit annahm, innere und äußere Mission als ihr Werk anerkannte und för­ derte, ist ebenfalls bezeichnend für die Entschlossenheit, mit der man sich den Aufgaben der Zeit stellte. Ein erfreulich frisches Leben beobachten wir in dieser Zeit im Religions­ unterricht der Schule, zumal der höheren. Es bezeugte sich in der sachlichen Gediegenheit und dem pädagogischen Geschick der Lehrbücher, die jetzt ge­ schaffen werden: die trockene Langeweile und Lehrhaftigkeit vergangener Zei­ ten wird durch lebendige Anschaulichkeit überwunden, so daß Schüler und Lehrer angeregt und gefesselt werden; es bezeugte sich auch in dem Gedeihen der Zeitschriften, die dem Religionsunterricht dienen, in der Fülle, beinah Überfülle eines wertvollen pädagogischen Schrifttums, sowie endlich in der fruchtbaren Arbeit bei den Zusammenkünften der Religionslehrer in ihren Verbänden. Die dialektische Theologie hat dem Religionsunterricht keine pädagogisch« Amegung zu geben vermocht, hat aber neben der Neuentdeckung Luthers als eine Mahnung zur christlichen Substanz des Religionsunterrichts gewirkt. Die Religionslehrer mußten sich ihre Methode selbst erarbeiten; die kirchliche Katechetik konnte ihnen nicht helfen. Während die Lehrer der Volks­ schule weithin noch durch die Erinnerung an die schwer getragene „geistliche Schulaufsicht" gehemmt waren, ist bei den theologisch gebildeten Lehrern der höheren Schule der kirchliche Sinn offensichtlich im Wachsen: sie wissen, daß Religionsunterricht und Kirche zusammengehören, daß der Religions­ unterricht in der Kirche sein Daseinsrecht hat und deshalb die Schüler zur Kirche erziehen soll. Verheißungsvoll für den nachdenklichen Betrachter ist auch der Zustand der deutschen Dichtung unserer Tage. Ricarda Huch, die Führerin der neuen Romantik, hat in gedankenschweren Schriften große Gegenstände des

504

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

Glaubens behandelt („Luthers Glaube", „Der Sinn der Heiligen Schrift")

und hat im 2. Bande chrer Deutschen Geschichte Martin Luther und die deutsche Reformation mit warmem Verständnis gewürdigt; doch kann die Weltunb Lebensanschauung, die in ihrem dichterischen Gesamtwerk zutage tritt, nicht gut als christlich angesprochen werden. — Die große Balladendichterin Lulu von Strauß und Torney schildert in ihren bodenständigen Romanen religiöse Gestalten und Probleme mit tief eindringendem Verstehen und ungewöhnlicher Kraft („Das Meermänneke", „Lucifer", „Der Judashof", „Der jüngste Tag"); ihre Dichtung erwächst aus einer starken religiös­ metaphysischen Sehnsucht. — Kolbenheyers historisches Schauspiel „Gregor und Heinrich" hat, wenn auch mehr unter völkischem als kirch­ lichem Gesichtspunkt, ein Stück deutscher Kirchengeschichte, das ein ewiges Menschheitsproblem enthält, mit einfühlendem Verständnis und großem sittlichen Ernst dargestellt. In Gertrud Bäumers geschichtlichen Erzäh­ lungen („Männer und Frauen im geistigen Werden des Volkes", „Adelheid, Mutter der Königreiche") werden die erhabenen Gestalten vornehmer christ­ licher Männer und Frauen aus der Frühzeit unseres Volkes einem weiten Leserkreis lebendig nahe gebracht; ohne aufdringliche Absicht wird Ehrfurcht geweckt vor der Glaubenskraft, durch die jene führenden Persönlichkeiten in ihrem innern Leben wie in ihrem Dienst am Volk bestimmt wurden. August Winnig, Maurer, politischer Schriftsteller, Oberpräsident von Ostpreußen, beschreibt in dichterisch geformten Berichten sein Leben als Heimkehr zum christlichen Gottesglauben. Zu ihm hat sich auch der Deutschbalte Wer­ ner Bergengruen, der Schöpfer starker historischer Romane, klar bekannt („Die Feuerprobe"). Ina Seidel, die schon mit dem „Wunschkind" sich als epische Dichterin großen Stils neben Hans Grimm („Volk ohne Raum") gestellt hatte, hat jetzt mit ihrem „Lennacker" ein Ehrenbuch des protestanti­ schen Pfarrerstandes geschaffen, das an historischer Echtheit wie an dichterischer Gestaltungskraft seinesgleichen sucht. Emil Strauß, seit langem be­ währt als feinsinniger Kenner und Künder der Tiefen des menschlichen Lebens, hat im „Nackten Mann" eine Episode aus dem Konfessionshader der altprotestantischen Zeit zu unserer Belehrung und Beschämung anschaulich geschildert; in seiner Novelle „Der Gartenaere" (in dem Sammelband „Der Schleier") zeichnet er in aller Kürze und Schlichtheit in der Person eines jungen katholischen Pfarrverwesers (ob bewußt oder unbewußt) eine ergrei­ fend echte Christusgestalt, die dem Theologen schwer zu denken gibt, ob nicht auch heute noch das „Wort" nur dann wirksam wird, wenn es in einem lebendigen Menschen Fleisch wird. Das Leben eines Musikers, der sich mit unermüdetem Ernst, zuerst im Kloster, dann in der Welt, um die Echtheit der Nachfolge Christi müht, schildert er im „Spiegel". Am meisten unter allen hat vielleicht Ernst Wiechert den Theologen unserer Tage zu sagen, nicht etwa weil seine Schriften unmittelbar als christliche Verkündigung wirken

§ 111

Die Dichtung der Gegenwart — Deutsch-evangelisch im Ausland

505

könnten, sondern weil er ein wirklicher Dichter ist, der sein Heimatland, zumal das Geheimnis der tiefen Wälder, inbrünstig liebt, und der mit den Augen eines Sehers das Innerste der Menschenherzen erforscht und zugleich mit der ganzen Kraft seines aufgeschlossenen Herzens nach einer letzten Ge­ wißheit und einem ewigen Sinn des Menschenlebens unermüdlich sucht. An seinen Dichtungen mag deutlich werden, welches Recht und welche Grenzen die Naturfrömmigkeit hat; insbesondere wird hier deutlich, daß der Mensch ohne das Evangelium nicht über den Deus absconditus hinauskommt und daß er einer Christusverkündigung bedarf, die nicht im Glanz der Erfolge, sondern in der stillen Passion die Offenbarung der ewigen Güte entdeckt, daß er also der Kreuzestheologie Martin Luthers bedarf. 4. Durch die Lösung vom Staate wurde die Kirche nicht nur rechtlich, sondern auch innerlich freier und selbständiger. Der staatsfreien Kirche wurde die Möglichkeit geschenkt, die vom Reich losgerissenen Gebiete des Ostens (Oberschlesien, Posen, Danzig, Memelland) in ihrem organisatorischen Ver­ band zu behalten. Dadurch schon wurde ihr Blick über die Reichsgrenzen hinausgelenkt auf die ungeheuer große evangelisch-deutsche Diaspora in Europa und Übersee. Sie hat sich dieser evangelischen und völkischen Aufgabe mit großer Treue gewidmet, wenn auch der Erfolg dieser Arbeit durch bös­ willige Widerstände, vor allem im Osten des Reiches, schwer beeinträchtigt wurde. Von den 2416000 Rußlanddeutschen, größtenteils evangelisch-lutherisch, sind jetzt höchstens noch 900000 übrig; die andern sind geflüchtet oder durch Hunger, Zwangsarbeit und Erschießung zu Grunde gegangen. Von den 300 lutherischen Geistlichen sind heute in Rußland noch 79 am Leben, nicht einer mehr im Amt! In Polen wurden seit 1918 bis Herbst 1939 allen Vorstellungen zum Trotz evangelisch-deutsche Gemeinden und Schulen drangsaliert und zerstört. Die evangelischen Pfarrer haben im Herbst 1939 ihre Treue zu Kirche und Volkstum mit Verschleppung, Mißhandlung, viele auch mit dem Leben bezahlt. In Österreich machte die Los-von-Rom-Bewegung trotz be­ hördlicher Mißgunst schon bis 1938 kräftige Fortschritte. Die beiden Kirchen Augsburger und helvetischer Konfession schlossen sich hier zu einem einheit­ lichen Körper zusammen. 5. Während die theologische Wissenschaft sich mühte, den Fragen eines Geschlechtes zwischen den Zeiten die verpflichtende und sinngebende Antwort zu finden, führte die Front der Kirche einen erbitterten Kampf gegen die Mächte der Zersetzung. Ein Blick auf die Kundgebungen der Kirchentage zeigt, mit welcher Sorge dort das Schicksal der Nation begleitet, mit welcher Liebe die vaterländische Not umfaßt und getragen wurde. Wo immer das gesunde Volksleben zu zerbröckeln und damit dem Ansturm des Kommunis­ mus nachzugeben drohte, haben protestantische Christen in der vordersten Linie der Abwehr gestanden. Die Zahl der Vereinigungen und Verbände, die

506

Die Neuzeit: nach dem Weltkrieg

vor allen Dingen das Wirtschaftselend zu lindern und den sittlichen Zusam­ menbruch aufzuhalten bestrebt waren, wuchs zeitweilig derart ins Breite, daß mahnende Stimmen sich gegen diese Überorganisation wenden mußten. Die zumal vom Judentum betriebene Zersetzung der Ehe und der Familie stieß auf die entschlossene Gegnerschaft der Kirche, — die Gefahr des ständigen Geburtenrückgangs wurde erkannt und zum Inhalt dringlicher Ermahnungen und Eingaben an den Staat gemacht. Durch die Presse („Ev. Presseverband für Deutschland") und den Film, durch weitgreifende Volksmission und inten­ sive Jugendpflege suchte man Dämme zu bauen gegen die Auflösung und das Gewissen der Öffentlichkeit wachzurufen. Und eines kann die Kirche der Refor­ mation für sich in Anspruch nehmen, — daß sie wie kaum eine andere öffent­ liche Körperschaft von aller Korruption dieser schlimmen Jahre frei geblie­ ben ist. Aber für eine wirklich den ganzen nicht-katholischen Volksteil umfassende Erneuerungsarbeit reichten ihre Kräfte nicht zu. Auch nach ihrer Umgestal­ tung blieb sie zu locker gefügt und daher zum Angriff ungeeignet; das Bürger­ tum, auf das sie sich vorwiegend stützte, verhielt sich müde und tatenscheu, die Arbeiterschaft war für ihren Ruf kaum noch erreichbar. Im ganzen machte sich gerade jetzt wieder spürbar, daß die Stärke evangelischen Kirchentums in Predigt und Seelsorge besteht, daß Propaganda, eindrucksvolle Aufmachung und Machtkampf seinem Wesen ferne liegen. Seine Wirkung in den öffentlichen Raum hinein wird daher immer eine mehr indirekte bleiben. Aus der Botschaft des Deutschen evangelischen Kirchentages in Bethel (vom 17. Juni 1924): „Eigentum, wenn ehrlich erworben, ist nicht Dieb­ stahl; aber es ist für den Christen keine Sache, mit der er beliebig schalten und walten darf, sondern ein anvertrautes Gut, über das er Gott Rechenschaft zu geben hat und daö eine Quelle des Segens nicht nur für den Besitzer, sondern auch für seine Mitmenschen sein soll. Die Arbeit ist nicht einfach eine Ware, die man kaust und verkauft, sondern pflichtmäßiger Dienst am Volksganzen und bei aller Müh­ seligkeit das gottgewollte Mittel, sein ehrlich Brot zu erwerben, sich in Fleiß, Treue und Selbstüberwindung zu bewähren und im Bewußtsein der Bedeutung seiner Arbeit für das Wohl der Gesamtheit innere Befriedigung zu gewinnen. Darum hat jede ehrliche Arbeit auch ein Recht auf Anerkennung und darf nicht zum Fron­ dienst herabgewürdigt werden. Es müssen Kraft und Zeit zur Pflege des feelischen Lebens übrigbleiben. Zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sehen wir mit ernster Sorge wieder Kämpfe entbrennen deratt, daß sie die Volksgemeinschaft, die gegenwättig doppelt nottut, zu zerreißen und Deutschlands Gesundung und Aufstieg zu vereiteln drohen." „Die Arbeiterschaft kann sich dem nicht verschließen, was die schwere wirtschaft­ liche Lage von allen Volksgenossen zwingend fordett. Sie darf die Mitverantwortung für das Volksganze, dem sie als wichtiges, gleichberechtigtes Glied angehött, nicht vergessen. Aber auch von falschen Schlagwotten sollte sie sich endlich fteimachen, wie denen, daß das Christentum eine Pattei- oder Klassensache sei.

§111

Dienst der Kirche am Volk

507

Den Arbeitgebern aller Art legt die größere wirtschaftliche Macht, die sie in Händen haben, um so größere Verantwortung auf. Ist auch chre Lage vielfach unter den obwaltenden Verhältnissen schwierig, so ist es doch eine zwingende sittliche Pflicht für sie, sich vor einer Ausnutzung ihrer Macht gegenüber wirtschaft­ lich Schwächeren zu hüten, vielmehr bis an die Grenze der Möglichkeit Opfer zu bringen, um nicht ohne Not Arbetter brotlos werden zu lassen, um nicht unnötig die ArbettSzett heraufzusetzen oder den Lohn herabzudrücken. Die Arbeiter sind nicht eine Masse, die nur abgelohnt zu werden braucht, sondern gleichzuachtende Volksgenossen, die um ihre soziale Gleichberechtigung ringen und ein Recht auf Anerkennung, Verständnis und Würdigung ihrer Lage und auf Berücksichtigung ihrer materiellen und seelischen Bedürfnisse haben und denen auch die Frecheit zu gewerkschaftlichem Zusammenschluß nicht unterbunden werben darf. Wtt sehen in der Verworrenheit unserer Lage viel irrende Gewissen. Die mancherlei Änteressenverbände, von denen unser Volk bis in den letzten Winkel durchorganisiert ist, wehren dem Egoismus des einzelnen, tragen aber die Gefahr in sich, einen Gruppenegoismus zu erzeugen, der dem Ganzen schädlich ist. Die Lasten, die wir tragen müssen, sollen wtt nicht auf die Schultern deS Nächsten laden, sondern: »Einer trage deS andern Last!'" AuS der Kundgebung des Königsberger Kirchentages (1927): „Wtt sind Deutsche und wollen Deutsche sein. Unser VolkStum ist uns von Gott gegeben. ES hoch zu halten ist Pflicht, zwiefache Pflicht in einer Lage wie der gegenwärtigen. Ein Weltbürgertum, dem das eigene Volk gleichgültig ist, lehnen wtt ab. — Die Kirche verkündigt, daß eS über der irdischen Heimat eine ewige gibt. Aber das ver­ kettet sie nicht, Heimat und Vaterland gering zu schätzen. Wie sie den Frieden unter den Völkern sucht, so tritt sie ein für Freiheit und Recht deS eigenen Volkes. — Sie will, daß jeder sich seiner Mitverantwortung bewußt ist und sich für alles einsetzt, was Volk und Staat stärkt, bessert und fördert. Solcher VaterlanbSdienft ist auch Gottesdienst."

Die nationale Revolution von 1933 hat auch für Christentum und Kttche in Deutschland eine neue Lage geschaffen. Noch treibt alles im Fluß der Entwicklung. Der für em historisches Urteil nötige Abstand fehlt noch. Am Anfang steht verheißungsvoll die feierliche Kundgebung der Reichs­ regierung vom 23. März 1933: „Indem die Regierung entschlossen ist, die politische und moralische Entgiftung unseres öffentlichen Lebens vorzunehmen, schafft und sichert sie die Voraussetzung für eine wirklich tiefe Einkehr religiösen Lebens. Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Konfessionen die wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums. Sie wttd die zwischen ihnen und den Ländern abgeschlossenen Verträge respektieren. Ihre Rechte sollen nicht angelastet werden. Sie erwartet aber und hofft, daß die Arbeit an der nationalen und sittlichen Erneuerung unseres Volkes, die sich die Regierung zur Aufgabe gestellt hat, umgekehrt die gleiche Würdigung erfährt. Sie wttd allen anderen Konfessionen in objektiver Gerechtigkeit gegenüber­ treten."

Aus dem Schrifttum Allgemeine Kirchengeschichte. K.v.Hase: Kirchengeschichte auf der Grundlage akad. Vorlesungen. Hrg. v. G. Krüger. 3 Bde. 1890—93. — W. Möller (G. Kawerau, H. v. Schubert): Lehrbuch b. Kirchengefch. 3 Bde. 1889—1902. — K. Müller: Kirchengeschichte. 3 Bde. 1892—1919. (Bb.1, 1 19292; 19413.) — G. Krüger u. a.: Handbuch der Kirchengeschichte. 4 Bde. 21923—32. — Ge­ schichte der christlichen Religionen Kultur der Gegenwart)21909. —Joh. v. Walter: Die Geschichte des Christentums. 4Dde. 1932—38. — A. v. Harnack: Lehrbuch der Dogmen­ geschichte. 3 Bde.51931 f. — F. LoofS: Leitfaden zum Studium der Dogmengefchichte. *1906. — R. Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte. 4 Bde. 1908ff. III. *1930. — W. Koehler: Dogmengeschichte als Geschichte des christlichen Selbstbewußtseins. 1938. — G. Aulän: Das christl. Gotteöbild in Vergangenheit u. Gegenwart. Deutsch 1930. — K.Heussi: Kom­ pendium der Kirchengeschichte. 91937. — H. v. Schubert: Geschichte des deutschen Glaubens. 1924. — Derselbe: Grunbzüge der Kirchengeschichte. 101937. — W. v. Loewenich: Die Geschichte der Kirche 21939. — Funk-Bihlmeyer: (kath.) Kirchengerichte. 101936 (I, 1940"). — Die Religion in Gesch. u. Gegenwart2. 1927—32.

Apostolisches Zeitalter (§ 1—4). W. Bousset (H. Greßmann): Die Religion b. Judentums im späthell. Zeitalter. 81926. — H. Pretsker: Neutestamentliche Zeitgeschichte. 1937. — W. Förster: Neutestamentliche Zeitgeschichte. l.Halbbb. 1940. — R. Otto: Reich GotteS und Menschensohn. 1934. — R. Bultmann: Jesus. 1926. — M. DibeliuS: Jesus. Sammlg. Göschen. 1939. — A. Deißmann: Paulus. 21925. — P. Feine: Der Apostel Paulus. 1927. — H. Winbisch: Paulus u. das Jubentum. 1935. — K.Holl: Urchristentum u. Religionsgeschichte. 1924. — W. Kümnel: Jesus und Paulus. Theol. Blätter 1940 Nr. 8/9 (mit Besprechung beS gesamten neueren Schrifttums). — H. St. Chamberlain: Mensch u. Gott 31933.

Die alte Kirche (§ 5—17"). Allgemeines:

K. Müller, Kirchengeschichte 1, 1. 31938ff. — H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche. I 21937. II 1936. III 1938. — Alb. Ehrhard: Die Kirche der Märtyrer. 1932. Zu §5. Ab. v. Harnack: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten fcei Jahrhunderten. *1924. Zu § 6. Die Dogmengeschichten von Harnack, R. Seeberg u. W. Köhler (f. oben). — Ab v. Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott.21924. Zu §7. Wilh. Schepelern: Der MontaniSmuS und die phrygischen Kulte. 1929. Zu § 8. W. Bauer: Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum. 1934. — 2ie Dogmengeschichten s. zu § 6. Zu §10. P.de Labriolle: La reaction paienne. 1934.— A. Miura-Slanfer CelsuS und OrigeneS. Das Gemeinsame ihrer Weltanschauung. 1926. — Hal Koch,Prowia und PaibeusiS. Studien über OrigeneS und sein Verhältnis zum Platonismus. 1932. Zu § 11. K. Müller: Konstantin d. Gr. Und die christl. Kirche. 1929. — Ed. Schwartz, Kaiser Konstantt'n und die christl. Kirche.21936. — Karl Hönn, Konstantin der Große. 19t0.

Aus dem Schrifttum

509

Zu § 12. Labriolle bei § 10. — I. Bibez: Julian der Abtrünnige dt. 1940. — K. Voigt, Kaiser Julian und das Judentum. 1939. — Chrys. Baur: Der hl.Johannes ^hrysostomuS und seine Zeit. 1929 s. Zu § 13. W.Neuß: Die Kunst der allen Christen. 1926. — K.Heussi: Der Ursprung des Mönchtums. 1936. — Zu $ 14. Tor Anbrae: Mohammed. 1932. Zu §15. Ab. v. Harnack: PossibiuS: Augustins Leben. 1930. — K. Holl: Augustins innere Entwicklung. 1922. — R. Guarbini: Die Bekehrung des Aurelius Augustinus. 1935. Zu § 16. E.Caspar: Geschichte deS Papsttums I. II. 1930. 1933. — Joh. Haller: DaS Papsttum. I. 1934.

Zur germanischen Religion (§ 18—20). W. Daelke: Art und Glaube der Germanen. 1934. — Derselbe: Die Religion der Ger­ manen in Quellenzeugnissen. *1938. — Carl Clemen: Urgeschichtliche Religion. 1932. — Derselbe: Allgermcmische Religionsgeschichte. 1934. — Derselbe: Fontes historiae religionis germanicae, 1928.—K.Helm, Altgerman.ReligionSgeschichle.I. 1913. II1939.— O. Höfler: Kultische Geheimbünbe der Germanen. 1934. — E. Mögt, Die Menschenopfer der Germanen. 1909. — HanS Naumann: Germanischer Schicksalsglaube. 1934. — G. Neckel: Die Überliefemngen vom Gotte Balder. 1920. — Carl Schuchhardt: Vorgeschichte uon Deutschland. 21934. — Jan de VrieS: Altgermanische ReligionSgeschichle. 1935.

Germanenbekehrung und frühmittelalterliche Kirchengeschichte (§ 21—32). K. D. Schmidt: Die Bekehrung der Germanen -um Christentum. I. S. 87—146. — Alb. Hauck: Kirchengeschichte Deutschlands. I—III. * 1904ff. — K. Maurer: Die Bekehrung des norwegischen Stammes zum Christentum. 1855s. — K.Müller: Kirchengerichte. I, l8 f. o. vor §5. — K.D. Schmidt, f.o.— H. von Schubert, Geschichte der christlichen Kirche im Frühmittelaller. 1921. — ErichCaspar: Geschichte deS Papsttums. Bd.2 s.o. § 16. — Robert Holtzmann: Kaiser Otto d. Gr. 1936. — H. DörrieS: Germanische Religion und Sachsen­ bekehrung. 81935. — Derselbe: Heliandfragen (Zeitschrift für niebersächs. Kirchengeschichte 1935). — Derselbe: Heinrich I. und baS altsächsische Christentum. Ebba 1938. — Derselbe: AnSgar und die älteste sächsische Missionsepoche. Ebba 1940. — Derselbe: Gottschalk, ein christlicher Zeuge der deutschen Frühzeit (Junge Kirche 1937).—Derselbe: Germanische Vationalkirchen (Ebda 1938).

Die Kirche im deutschen Mittelalter (§ 33—47). Allgemeines: Alb. Hauck: Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. 3—5. 1920ff. — Joh. Haller: Das Papsttum. II, 1 u. 2. 1937 u. 1939. — W. v. Giesebrecht: Geschichte der deutschen Kaiserzeit. 6 Bde.— K. Hampe: Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier u. Staufer. ”1929. — Joh. Bühler: Deutsche Geschichte. Bd.II. 1935. — G.Dehio: Geschichte der deutschen Kunst. *1930ff. § 33 u. 34. G. Flade: Vom Einfluß des Christentums auf die Germanen. 1936. — P. Hoffmann: Der mittelalterliche Mensch. 21937. — Joh. Haller: Nikolaus I. u. Pfeudotsidor. 1936. — G. Tellenbach: Liberias, Kirche u. Weltordnung im Zeitalter des Jnvestiturstreites. 1936. — P. E. Schramm: Die deutschen Kaiser u. Könige in Bildern ihrer Zeit. 1928. — E.Sackur: Die Cluniazenfer bis zur Mitte des 11. JhdS. 2 Bde. 1892 u. 94. §35 u. 36. D.Kugler: Geschichte der Kreuzzüge. 21891. — K.Erbmann: Die Ent­ stehung des KreuzzuggedankenS. 1935. — M.Heimbucher: Die Orden u. Kongregationen der kath.Kirche. 3 Bde. 31932ff. — H.Prutz: Die geistlichen Ritterorden. 1908.

510

Aus dem Schrifttum

§ 37 u. 38. K. Müller: Die Waldenser. 1886. — H. Böhmer: Waldenser (R. E. 3XX. 799ff.). — K. Müller: Die Anfänge des MinontenorbenS. 1886. — P. Sabatier: Vie de S. FranQois. Deutsch 1897. — R. Saitschick: Franziskus von Assisi. 31931. — E. Benz: Ecclesia spiritualis, Kirchenidee u. Geschichtstheologie der franziskanischen Refor­ mation. 1934. § 39 u. 40. 21. Stolz: Anselm von Canterbury. 1937. — M. Grabmann: Thomas von Aquino.61935. — R. Seeberg: Die Theologie LeS Ioh. DunS Scotus. 1900. — H. Preuß: Die deutsche Frömmigkeit im Spiegel der bildenden Kunst. [1926]. — E. Lippelt: Das Geheimnis des Naumburger Meisters. 21939. § 41—43. H. Finke:Aus den Tagen Bonifaz' VIII. 1902. — Nikolaus v. Cues: Schriften deutsch. 3 Bde. Philosoph. Bibl. 1936—1940. — I. Haller: Papsttum und Kirchenreform. 1903. — I. Loserth: HuS und Wiclif. 21925. — Melchior Vischer: Jan HuS, sein Leben u. seine Zeit. 1940. — I. Schnitzer: Savonarola. 2 Bde. 1924. § 44—47. Meister Eckehart: Die deutschen und lateinischen Werke (Hrsg, von E. See­ berg). 1936ff. — F.Pfeiffer: Deutsche Mystiker des 14. Jhd.S. 2 Bde. 1906f. — R. Otto: WestöftlicheMystik.21929. — H. Bornkamm: Eckhartu.Luther. 1939.— I.Burckharbt: Die Kultur der Renaissance üi Italien. "1925. — K. Bürbach: Deutsche Renaissance. 1916. — Erasmus: Ausgew. Werke. Hrsg, von A. u. H.Holborn. 1933. — Erasmus von Rotterdam: Briefe deutsch. Hrsg, von W. Köhler. 1938. — Ioh. Huizinga: Erasmus. 1928. — Derselbe: Herbst des Mittelalters. 21928. — W. Andreas: Deutschland vor der Reformation. 1934. O. Clemen: Die Volksfrömmigkeit des ausgehenden Mittel­ alters. 1938. — O. Scheel: Luther. Bd. I. 31921. — I. Lortz: Die Reformation in Deutsch­ land. Bb. 1. 1939.

Reformation und Gegenreformation (§48—74). Allgemeines: L. v. Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. 6 Bde. 71894. — Derselbe: Die röm. Päpste im 16. u. 17. Jahrh. 3 Bde.101910. — K. Brandt: Deutsche Reformation u. Gegenreformation. 2 Bde. [1927—30]. — Derselbe: Karl V. 21938. — Ioh. Bühler: Deutsche Geschichte. Dd. III. Das Reformationözeitalter. 1938. — Ricarda Huch: Deutsche Geschichte. Db. II. Das Zeitalter der Glaubenöspaltung [1937]. — I. Lortz: Die Reformation in Deutschland. 2 Bde. 1939s. — G. Wolf: Quellenkunde der deutschen Reformationsgeschichte. 1915—22.

Martin Luther (§48ff.). J.Köstlin u. G.Kawerau: M. Luther. 2 Bde.31903. — A. E. Berger: M. Luther in kulturgeschichtl. Darstellung. 3 Bde. 1895—1921. — A. Hausrath: Luthers Leben. 2 Bde. 31913f. — H.Böhmer: Luther im Lichte der neueren For­ schung.31918.— Derselbe: Der junge Luther. 21921. — H. Grisar S. I.: Luther. 3 Bde. 31924s. — O. Scheel: M.Luther. Bd. I. 31921. II. 81930. — G.Ritter: Luther, Gestalt u. Symbol.21928. — R. Thiel: Luther. 2 Bde. 1933—35. — H. Preuß: Luther der Künstler. 1931. — Derselbe: M. Luther der Prophet. 1933. — Derselbe: M.Luther der Deutsche. 1934.—Th.Harnack: Luthers Theologie. Dd. 1. 1862. II. 1886. Neudruck 1927.—K.Holl: Luther (ges. Aufsätze). *1932. — R. Seeberg: Die Lehre Luthers (D. G. IV. 1). *1933. — P.Wernle: Der evangel. Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren. I. Luther. 1918. — E.Seeberg: Luthers Theologie. I. 1929. II. 1937. — E.Troeltsch: Die Bedeu­ tung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. 1906. — W. v. Loewenich: Luthers Theologia crucis. 31939. — Ioh. Meyer: Hist. Kommentar zu Luthers Kl. Kate­ chismus. 1929. — G. Hoffmann: Luthers Streit mit EraSmus. Z.f.Syft.Theologie. 1936. Heft 4. — Derselbe: Luther und Melanchthon, ebenda 1938, Heft 1. — W. Stolze: Bauernkrieg u.Reformation. 1926. — H.v. Schubert: Revolution u. Reformation im 16. Jhd. 1927. — Derselbe: BekenntniSbilbung und ReligionSpolitik 1529/30. 1910. — Derselbe: Die Anfänge der ev. Bekenntnisbildung bis 1529/30. 1928. — J.Kühn: Die

Aus dem Schrifttum

511

Geschichte deS Speyrer Reichstages von 1529. 1929. — H. v. Schubert: Der Reichstag zu Augsburg im Zusammenhang der Reformationögeschichte. 1930. — H. H. Wendt: Die Augs­ burger Konzession. 1927. — LutherauSgaben von O. Clemen u. A. Leitzmann. 8 Bde. 1929—35; von H.H. Borcherdt u. Georg Merz. 7 Bde. u. bisher 3 ErgänzgS.Dde. a1934—40. Zwingli und Calvin (§ 58 u. 66). W. Köhler: Huldrych Zwingli. 1923. — P. Wer.nle: Der ev. Glaube. Bb. 2. Zwingli. 1919. — Ulrich Zwingli: Auswahl aus s. Schriften, hrSg. von G. FinSler, W. Köhler, A. Ruegg. 1918. — F. W. Kampschulte: Johann Calvin. Seine Kirche u. sein Staat in Genf. 2 Bde. 1869/99. — A. Lang: Johann Calvin. 1909. — K.Holl: Calvin. 1909. — P.Wernle: Der ev. Glaube. Bb. 3. Calvin. 1919. — Calvins Lebenswerk in seinen Briefen, Auswahl von R. Schwarz. 2 Bde. 1909. — E. Doumergue: Calvins Wesen. Der Mensch — der Staat, dt. 1933. — Jmbart be la Tour: Calvin. Der Mensch, die Kirche, die Zeit. bt. 1936. — I. Bohatec: Calvins Lehre von Staat u. Kirche. 1937. Gegenreformation (§ 69—72). H.Böhmer: Studien z. Geschichte der Gesellschaft Jesu. I. 1914. — Derselbe: Die Jesuiten.41921. — P. v. HoenSbroech: Der Jesuiten­ orden. 2 Bde. 1926f. — K. Holl: Die geistl. Übungen deS Ignatius von Loyola. 1905 (ges. Aufs. Bd. 3). — K. Müller: Calvin u. die Anfänge der französ. Hugenottenkirche. — Der­ selbe: Die Bartholomäusnacht 1572. — Derselbe: Auö den Aufzeichnungen ftüchtiger Hugenotten (in K. Müller: AuS d. akad. Arbeit: Dorträge u. Aufsätze 1930). — I. Loserth: Die Reformation u. Gegenreformation i. d. inneröfterreichischen Ländern. 1898. — G. Lösche: Geschichte deS Protestantismus in Österreich. 31930. — C. Fr. Arnold: Die Dettreibung der Salzburger Protestanten. 1900. — Derselbe: Die Ausrottung deS Protestantismus in Salz­ burg. 1901. §73. W. Elert: Morphologie deS Luthertums. 2 Bde. 1931 f. — H. Petrich: Paul Ger­ hardt. 1914. — E. KochS: Paul Gerhardt. 1926. — A. Schweitzer: Joh. Sebastian Bach. "1937.

Das Zeitalter der Aufklärung (§75—91). §75. L. v. Ranke: Englische Geschichte im 16. u. 17. Jahrh. a9 Bde. 1877—79. — H. Weingarten: Die Revolutionskirchen Englands. 1868. — A. O.Meyer: England u. die kathol. Kirche unter Elisabeth. 1911. — Oliver Cromwell: Briefe u. Reben; deutsch v. Marg. Stähelin. 1911. — A. O. Meyer: Oliver Cromwell (Meister der Politik). 21924. — H. Oncken: Cromwell. 1935. Mystik U.Pietismus (§76—80). H. Bornkamm: Luther u. Böhme. 1925.—Der­ selbe: Jakob Böhme-Brevier. 1936. — Kurt Leese: Don Jakob Böhme zu Schelling. 1927. — Blaise Pascal: Gedanken; deutsch von W. Rüttenauer. 1937. — Derselbe: Über die Religion u.a.; deutsch von Ew. WaSmuth. 1937. — E. Buchholz: Bl. Pascal, ein Lebens­ bild. 1939. — H.Platz: Pascal, der um Gptt ringende Mensch. 1938. — A.Ritschl: Ge­ schichte des Pietismus. 3 Bde. 1880—86. — P.Grünbcrg: Spener. 3 Bde. 1893—1906. — S.Hirzel: Der Graf u. die Brüder. *1937. — O. Uttenbörfer: Iinzendorfs religiöse Grundgedanken. 1935. — S. Eberhard: Kreuzesiheologie, das reformat. Anliegen in Z.'S Derkünbg. 1937. — E. Seeberg: Gottfried Arnold. 1934. — I. Nuelsen, Th. Mann, I. Sommer: Kurzgefaßte Geschichte des Methodismus. 21929. — M. Schmidt: I. WeSleyS Bekehrung. 1938. (Dgl. Lutherjahrbuch 1938.) AufNünmg (§81—85). E.Troeltsch: Artikel „Aufklärung", „Deismus", „Mora­ listen, englische" aus R.E.8inT.'Sges.Schriften. IV. 1925. — Derselbe:Protest.Christen­ tum u. Kirche in der Neuzeit (Kultur b. Gegenw. I, 4, 1). 21909. — W.Dilthey: Welt­ anschauung u. Analyse deS Menschen seit Renaissance u. Reformation (ges. Werke.21914). — H. Hoffmann: Die Aufklärung. 1912. — K. JasperS: DeScatteS u. die Philosophie. 1937. — K. Aner: Die Theologie der Lessingzeit. 1929. — H.Schmalenbach: Leibniz. 1921. — H.Heimsoeth: Leibniz' Weltanschauung, Kantstudien. 1917. — R. Unger:

512

Aus dem Schrifttum

Hamann u. die Aufklärung. 2 Bde. * 1925. — L.Zscharnack: Lessing u. Semler. 1905. — Th. Litt: Protest. Geschichtsbewußtsein (Pestalozzi). 1939. — H. Jessen: Gott u. d. König, Friedrichs d. Gr. Religion u. Religionöpolitik. 1936. — Stephan Hirzel: Des großen Königs Weg zu Gott.

JdealiSmuS U. Romantik (§ 86—90). E. Troeltsch: Der deutsche Idealismus R. E. 3@cf. Schr. IV. 1925. — W. Lütgert: Die Religion des deutschen Idealismus u. ihr Ende. 3 Bde. 1922/26. — K.Leefe: Der deutsche Idealismus u. das Christentum. 1927. — J.G. Hamann: Die Hauptschriften; hersg. v. O. Mann (o. I.). — K. S e l l: Die Religion der Klassiker.31910. — E. Franz: Deutsche Klassik u. Reformation. 1937. — P.Wernle: Lessing u. baS Christentum. 1912. — G. Fittbogen: Die Religion Lessings. 1923. — H. Stephan: Herber in Bückeburg. 1905. — O. Baumgarten: Herders LebenSwerk. 1905. — E. Kühne­ mann: Herber. 31927. — H.Schmalenbach: KantS Religion. 1928. — H. Stephan: Kant u. die Religion. (Kantstudien 1924.) — H. Rust: Kant u. das Erbe deö Protestantismus 1928. — I. Bohatee: DieReligionöphilosophieKantS i. d. „Religion innerh. b. Grenzen b.bl.D." 1938.— G. Fricke: Der religiöse Sinn der Klassik Schillers. 1927. —G. Krüger: Die Religion der Goethezeit. 1931. — H.v.Schubert: Goethes rel. Jugendentwicklung. 1925. — E. Neubauer: Goethes rel. Erleben. 1925. — E. Franz: Goethe als rel. Denker. 1932. — H. Schaeber: Goethes Erlebnis des Ostens. 1938. — R.Heim (O. Walze!): Die romantische Schule. *1928. — E.Hirsch: FichteS Religionsphilosophie. 1914. — Der­ selbe: Die idealistische Philosophie u. daS Christentum. 1926. — H. Rickert: FichteS Atheis­ musstreit u. die Kantische Philosophie. 81924. — Ausgabe der „Anweisung z. seligen Leben" von H. Scholz i. d. „Deutschen Bibliothek" 1912. — Fr. Büchse!: Paulus bei Fichte. Th. Blätter 1938, Nr. 5. — K. Leese:Von Böhme zu Schelling. 1927.—Th. Häring: Schelling u. Hegel in „Stiftsköpfe". 1938. —Derselbe: Hegel, sein Wollen u. sein Werk. I. 1928. II. 1938. — H. Glöckner: Hegel. 1.1929. II. 1940. §91. W.Dilthey: Leben Schleiermachers. I. (1870). 2.A. von Mulert. 1922. — G. Wehrung: Schleiermacher in der Zeit seines Werbens. 1927. — E. Brunner: Die Mystik u. daS Wort. 81928. — E. Hirsch: FichteS, Schleiermachers u. Hegels Verhältnis zur Re­ formation. 1930. — A. von Ungern-Sternberg: Freiheit u. Wirklichkeit, Schl.'s Philo­ soph. Reifeweg durch den deutschen Idealismus. 1931. — F. Kattenbusch: Schl.'s Größe und Schranke. 1934.

Die Neuzeit (§92—111). Die rath. Kirche int 19. Jhd. § 92—95. — H. v. Trcitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jhd. Neudruck 1927. Bb. 3—5. — F. Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jhd. 4. Db. Die religiösen Kräfte. 1937. — C. Mirbt: Gesch. der kath. Kirche v. b. Mitte des 18. Jhd.S bis z. vatik. Konzil (Göschen). — De Maistre: Du Pape 1/2.1819, dt. v. I. Bernhatt. 1923. — I.A.Möhler: Symbolik. 1832. 101921. — I.v.Döllinger: Akab. Dorttäge. I—III. 1888 91. — I. Friedrich: Gesch. d. Batik. Konzils. I—III. 1877f. — E. Foerster: Adalbert Falk. 1927. — K. Holl: Der Modernismus. 1908 (ges.Aufs. Bd. III). Die ev. Kirche im IS. Jhd. §96f. Treitschke u. Schnabel s. o. — R. Seeberg: Die Kirche Deutschlands im 19. Jhd.31910. — M. Lehmann: Freiher vom Stein. 31928. — H. Schreiner: E.M.Arndt. 1935. — W.Kohlschmrdt: Luthers Sprachgeist u. Sprach­ form bei E.M.Arndt. Lutherjahrbuch. 1937. — K.Holl: Die Bedeutung der großen Kriege f. b. rel. u. kirchl. Leben. 1917 (ges. Aufs. III.) — Cl. Th. PertheS: Friedrich PettheSLeben. 3 Bde. 81896. — E. Foerster: Die Entstehung der preuß.Landeskirche. 2 Bde. 1905. §98. Th. Ziegler: Die geistigen u. sozialen Strömungen des 19. Jhb'S.71921. — W. Lütgert: DaS Ende des Idealismus im Zeitalter Bismarcks. 1930. — A. Hausrath: D. F. Strauß. 2 Bde. 1876,78. — Th. Ziegler:D. F. Sttauß. 2 Bde. 1908. — F. P a u l se n: Philosophia Militans. 41908. — F. LoofS: Anti-Haeckel. 61906. — E. Bertram:

Aus dem Schrifttum

513

Nietzsche. 71929. — K. Jaspers: Nietzsche. 1936. — Derselbe: Herkunft der gegenw.

Philosoph. Situation. (Die gesch. Bedeutg. Kierkegaards u. Nietzsches) in „Vernunft u. Exi­ stenz". 1935. — Fr. Rittelmeyer: Fr. N. u. die Religion. *1920. — E. Benz: N.S Ideen z. Gefch. beS Christentums. 1938. — W. Michel: Nietzsche in unserm Jhdt. 1940. §99. Außer den S. 433 Anm. genannten noch die folgenden Schriften: W. Elert: Der Kampf um das Christentum. 1921.— W. Nigg: Geschichte deö religiösen Liberalismus. 1937. — A.HauSrath: Richard Rothe u. f. Freunde. 2 Bde. 1902—06. — O.Ritschl: Albrecht RitschlS Leben. 2 Bde. 1892—96. — Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. 5 Bde. 1925ff. — A. v. Zahn-Harnack: Adolf Harnack. 1936. — A. Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. 41926. — Derselbe: Geschichte der paulinischen Forschung. 1911. —Derselbe: Aus meinem Leben u. Denken. § 100. W. Köhler: C. F. Meyer als rel. Charakter. 1911. — K. GuggiSberg: JexemiaS Gotthelf, Christentum u. Leben. 1939. — O. Frommel: Neuere deutsche Dichter in ihrer religiösen Stellung. 1903. — W. KnevelS: Das Religiöse in der neuesten lyrischen Dichtung. 1927. — Vgl. auch die Stichwörter der Dichter in R. i. G. u. G. 2. Aust. $ 101 u. 102. Fr. Mahling: Die innere Mission. 2 Bde. 1937. — M.Gerhardt: Joh. Hinrich Wichern. 3 Bde. 1927/31. — Derselbe: Theodor Fliebner. Bd. 1. 1933,11. 1937. — G.v. Bobelschwingh: Friedrich v. Bodelschwingh. 1922 u. o. — D.von Oertzen: Adolf Stöcker. 2 Bde. 1910. — W. Frank: Hofprediger A. Stöcker. *1935. — Th. Heuß:

Friedrich Naumann. 1937. § 103. R. Hübner: Roon, Glaube u. Soldatentum. 1939. — O. Baumgarten: Bis­ marcks Religion. 1922. — A. O. Meyer: Bismarcks Glaube. 41936. — H. Kittel: Alfred Graf Schliessen. 1939. — Preußischer Choral. Dt. Solbatenglaube in drei Jhdten. (K. Ihlenfeld) *1935. § 104 u. 105. B.Geißler: Ev. Diaspora u. Gustav-Adols-Verein (Franz RendtorssFeftschrift). 1930. — Auslandsdeutschtum u. cvang. Kirche. Jahrbücher, Hrsg. v. E. Schubert. — I. Richter: Das Buch der deutschen Weltmission. 1934. — W. Freytag: Die junge Christenheit im Umbruch deö OftenS. 1938. — S. Knak: Zwischen Nil u. Tafelbai. 1931. — Chr. Keyßer: Anutu im Papualande. *1929. — C.Ronicke: Afrika ruft (Dethelmtssion in Oftafrika). — A. Schweitzer: Zwischen Wasser u. Urwald. —Derselbe: Mit­ teilungen aus Lambarene. — Th.Devaranne: Christus an Toni u. Pagode. 1931. — C. Barth: Kagava. 1936. — W. Mühlmann: Raffen- u. Völkerkunde. 1936.— Fr. Zündel: Joh. Christoph Blumhardt. 101926.

Rach dem Weltkrieg. § 106—111. Ekklesia. Eine Sammlg. v. Selbftbarstellgn. der christl. Kirchen. HrSg. v. Fr. Siegmund-Schultze. 1934ff. — M. Schian: Die deutsche evang. Kirche im Weltkrieg. I. 1921. II. 1926. — Kriegsbriefe g efallener Studenten, Hrsg. v. Th. Witkop. 1928. — W. Flex: Der Wanderer zwischen beiden Wellen. — v. Rohden: Zwei Brüder. 1917. — Fr. Heiler: Der Katholizismus, seine Idee u. seine Erscheinung. 1923. — H. Hermelink: Protestantismus u. Katholizismus i. b. Gegen­ wart. 31926. — C.Schweitzer: Das religiöse Deutschland der Gegenwatt. I. 1928. II. 1929. — H. Frick: Deutschland i. b. religiösen Weltlage. * 1941. — M. Planck: DaS Welt­ bild der neuen Physik.41930. — DerselberWege zur physikal. Erkenntnis. 1934. — B. Bavink: Die Naturwissenschaft auf d. Wege zur Religion. 61941. — A.TitiuS: Natur u. Gott. *1931. — Fr. Rittelmeyer: Aus meinem Leben. 1937. — Anni Hahn: Traugott Hahn. 1928 u. ö. — Jngeborg Maria Sick: Mathilda Wrede, ein Engel der Gefangenen. — O. Schubert: Baltisches Märtyrerbuch. 1926. — A.Deißmann: Die Stockholmer Welt­ kirchenkonferenz. 1926. — Tor Andrae: Nathan Söderblom. 1938. — K. Leese: Die Krisis u. Wende des christlichen Geistes. *1941. — Derselbe: Die Religion deö Protestant. Men­ schen. 1938. — E. Geiömar: Sören Kierkegaard. 1929. — Die Verhandlungen der beutschevang. Kirchentage von 1919—1930. — Die Stunde deS Christentums. Eine dt. Be­ sinnung (K. Ihlenfeld). 1937. 33

Schuster, Kirchengeschichte

Namen- und Sachregister Die wichtigsten unter zahlreichen Stellen sind durch * kenntlich gemacht

Aachen, Pfalzkap. 172f. Abälard 172 Abendmahl 2. 5. 18. 20.* 23. 36. 40. 57. 125. 145.* 147. 171. 183f. 194. 223ff.* 226. 240. 249.* 251. 261. 265 f. 281. 300. 302. 308. 436 f. Aberglaube 11. 19. 41. 56. 106. 129. 146 f. 152. 172. 207. 248. 344. 346. 353. 356. 378. 479. 485. 488 Ablaß 87 f. 92. 149. 151 f. 169. 179. 198.205. 210ff.* 217. 221. 234. 287. 299. Absichtslenkung 297 Actio catholica 493 f. Adelheid, Kaiserin 140 Adiaphora 278 Adventisten 481 AbventSzeit 57 Agende 417 Agnes, Kaiserin 140 Ahnenkult *84 Aktivismus 281. 338. 495 Alamannen 103 f. 111 Alba, Herzog 304 Albert v. Buxthövben 158 Albertus Magnus 168. 172 Albigenser 162 Albrecht d. Bär 157 Mrecht v. Mainz 202. 210f. 234 Albrecht v. Preußen 264 Alcutn 107. 139 Aleander 231 Alexander d. Gr. 5. 11 Alexander III. 144 Alexander VI. 185. 197. 203 Allegorische Schriftausleg. 30. 190. 236f.* 447. 500

Allianz, heil. 398. 400 Alpirsbach 175 f. Altar 174f. 178. 200. 205. 249. 289. 293. 315. 318. Altaristen 205 Altes Testament 3. 23. 26. 30. 114. 122. 133. 139. 207. 235 f. 241 ff.* 269. 275. 281. 318. 321. 360. 412. 435. 439. 446f. 500f. Altkatholizismus 405 Altlutheraner 416 AmbrosiuS 53. 57. 64. 255. 266. Amen 95 Amerika 296. 305. 321. 332. 334. 336ff. 357. 421. 493 AmienS, Kathedrale 177f. Angelico, Fra 288 Angelsachsen 69.101 f. 104 ff. Angelus Silesius s. Ioh. Scheffler Anglikanische Kirche 286. 320ff. 436 Anna, Heilige 206. 209 Anonyme Anzeigen 41 Anselm v. Canterbury 168.* 311. 340. 441 Ansgar 124. 131 Anthropologie 350. 364. 421 Anthroposophie 488 Antichrist 165. 180. 183. 221. 305. 430 Antike 44. 68.113f. 115.168. 179. 196 ff.* 249. 370. 384 Antimodernisteneid 406 Antiochia 3. 14 AntoniuS Eremita 59.65.167 Apokryphen 33 f. 447 Apollos 18 Apologeten 42 f.

Apologetik 442 Apologie der (Eons. Aug. 302 Apostelkonvent 15 Apostolikum 34.* 133. 261. 302. 482 Apostolische Sukzession 36 Apsiö 57. 175. 177 Arbeiterdichter 454 Arbeiterfrage 408ff. 456. 462 ff. 506 f. Arbeiterkolonicn 461 Arianismus 52 f. 68. 94ff. 97. 99. 103 Ariovist 74. 82. 97 Aristoteles 8.64. 168 s.* 172. 209. 346. 385. 422 Anus 51 f. Armada 304 Armenpflege f. LiebeStätigkeit ArminiuS 197 Armut, apostol. 2. 160 s. 162 ff. 183s. Arn v. Salzburg 111 Arndt, E. M. 231. 376. 393. 411 ff. 454 Arndt, Ioh. 324. 330 Arnim, L. A. v. 375 Arnold, Gottfr. 328. 336 Arnold v. BreScia 160 Arnulf v. Löwen 255 Afam, Gebr. 316 Äsen 76 Askese 31 f. 45. 58f. 155s. 164. 167. 194. 196. 213. 217. 295. Astrologie 7. 10. 207. 488 Astronomie 339. 343 Athanarich 93 Athanasios 21. 51 ff. 55. 59 Äthan. Symbol 302

2ltheismuS343.351.357. 364. 378.422ff. 438. 444 Attila 68. 86. Attis 10 Auferstehung 1. 12. 23. 34. 347 Aufklärung 6f. 9. 42. 90. 169. 200. 203 f. 218. 275. 320. 336. 338ff.* 342 f. 346 ff. 361.374f. 379.389 ff. 395. 411. 415. 422. 425. 433 Augsburg. Interim 277 Augsburg. Konfession 223. 264ff.* 302. 333 f. Augsburg. Relig. Friede 278. 303 August d. Starke 307. 330 Augustin 37. 45. 64 ff.* 68 f. 115. 118. 120. 165. 168. 171. 199. 210. 224. 237f. 266. 328 f. Augustiner-Chorherren 209 Augustiner-Eremiten 167. 209. 219 Augustus 7. 11 Auölanbsbeutfchtum 475. 498. Aussätzigenspitäler 167 Autonom(ie) 339. 341. 363. 385 Ave Maria 206 Avignon 180. 204 Awaren 111 Bacchanten 9 Vach, I. S. 313. 375. 455 Backsteingotik 200 Bacon, Fr. 341 Bähr, G. 317f. Balder 88 Baltikum 287 Bamberg 138. 177ff. 302. 316 Bankrott b. Christent. 489 f. Bann(bulle) 121. 142. 181. 183. 221. 320 Baptisten 323. 481 Barfüßer 164. 327 Barmh. Brüder 301 Barmh. Schwestern 305. 460 33*

Namen- und Sachregister

515

Barock 313 ff. Barozzi 314 Barth, K. 499 f. Bartholomäusnacht 304 Bartolomeo 185 BasileioS v. Caef. 59 Basilika 57. 173. 314 Bauer, Br. 438 Bauernkrieg 244ff. Bäumer, G. 504 Baur, F.CHr. 423. 439f. 442 f. 447 Baxter 327 Bayern 103 f. 111. 302. 317. 398. 416 Bayly 327 Beda Dener. 102 f. Beethoven 375. 455 Beginen 167. 185 Beichte 145. 165. 211. 226. 296 Bekehrung 279. 330f. 335. 337. Bekenntnis(-schriften) 20. 34. 48. 51. 53. 94f. 97. 125. 264. 299. 302.* 344. 437. 442. 502 Benedikt XV. 493 Benedikt v. Nursia 59 Benediktiner 59. 106. 136 f. 305 Dentham 362 Benz, E. 431 Dergengruen, W. 504 Bergmann, G. v. 431. 486 Berlin 390. 408 Bern 250. 279 Berneuchener Bewegung 455. 503 Bernhard v. Clairvaux 151. 153 ff.* 157. 160.162.174. 210. 255 Bernward v. HildeSh. 174. 176 Berthold v. RegenSb. 165 Bethel 461. 480 Bettelmönche 162ff. 168.178. 200. Bewußtseinstheologie 439. 443 Beyschlag, W. 441. 444

Beza, Th. 282 Bibel 4f. 33s.* 70. 92. 94. 105. 112. 161. 172. 183s. 190. 197. 199. 215. 233. 235ff.* 239. 244. 248. 275. 280. 310s. 321. 323. 325. 331. 334. 342. 347s. 355. 359s. 370. 373. 382. 391. 414s. 418. 422. 430. 436. 445 f.* 467. 478. 481. 500 Dibelanstalt, Canst. 331 Bibelauölegung 499 Bibelforscher, ernste 481 Bibelkritik 30. 236. 347. 360. 423. 433f. 439. 445f.* 501 Bibelstunben 330 Bibelübersetzung 34.94,115 f. 161.197. 234ff.* 259. 300. 335. 478. 480 Bibelverbot 199. 243. 329 Biedermann 440 Bilderdienst 56. 114. 183. 243. 299. 327 Bildersturm (u. -verbot) 238. 241. 243 Bischöfe 19. 35.* 49. 58. 101. 105. 112. 121 f. 124. 132. 135. 137. 140s. 143. 145. 148. 181. 183. 202. 262. 278. 299. 355. 357. 398f. 401. 403. 434. 495 DischosSweihe 171. 203 Bismarck 104. 218. 231. 258. 272. 390. 403 f. 414. 438. 466. 469 ff.* Blumharbt, I. Chr. 482 Blutrache 72. 87f. 116. 133. 453. 479. Böcklin, A. 451 Bobelfchwingh, Fr. v. 408. 460s. BoethiuS 193 Böhme, I. 305. 325 f.* 383. 488 Böhmen 287. 334 Böhmische Brüder 161. 184 Dollandisten 305 Bolschewismus 496 Bonifatius 104 ff. 114. 146. 403 BonifaziuS VIII. 153. 179 f.

516

Namen- und Sachregister

Bonn 350 Bonus, A. 159. 482 Bora, K. v. 268 Borgia 197. 230 BorromäuS-Encyklika 407 Borromeo 301 Bossuet 328 Botticelli, S. 290 Bousset, W. 446. 501 DrahmS, I. 455 Bramanle, D. 197. 291 Brandenburg 123. 157 Brentano 375. 400 Bretschneider 435 Brevier 299. 327 Briten 101 Bröger, K. 454 Bronzezeit 72. 75 Bruckner, A. 455 Bruderschaften 206 f. 217 Brüder b. gem. Lebens 194f. 215 Brüder, böhm. 161. 184. 308 Brüder, mähr. 161. 184. 305. 332 Brübergemeine 333 f. 389. 472 Brukterer 107 BrunelleSchi 291 Brunhilbfage 88 Brunner, E. 499 Buchmalerei 176 Büchner, L. 425 f. 486 Buddha 45. 343. 428. 488 Bugenhagen 270. 287 Bulle, goldene 180 Bullen: Unam sanctam 179 Z

Bußsakrament 181. 212. 224. 226 f. Buxtehude, D. 313

Dominus ac redemptor noster 354; De salute animarum 399 Bullmann, R. 499. 501 Bund, Evang. 473 Bunyan, I. 327 Burgunder 98 Burschenschaft 411. 438 Dusch, W. 454 Bußbücher 113 Buße u. Bußbisziplin 36.* 146. 171. 212. 226. 240. 282 f. 300

Caesar 11 f. 73 f. 80. 197 Cajetan 219 CalaS, I. 344 Calixt, G. 309 Calvin 134. 205. 226. 272 ff. 278—285 Calvin u. Luther 272. 280. 283 Calvinismus 302. 308. 310. 320f. 329. 337 Campegio 267 CanisiuS 296 Canossa 142 CaritaS(verbanb) 305. 407 f. Carlyle, Th. 272. 275. 358. 372. 395

Catechismus Romanus 299 Chalzedon 55 Chamberlain, H. St. 489

Character indelebilis 223 Chartres 177 Chateaubriand 399 China 305. 346 Chlodwig 98 f. Chlothachar 99 Choral 312 f. Chorin 156. 200 Chriftengemeinschaft 488 Christentum, Wesen deS 20 ff. 51 f. 65 f. 153 f. 213 ff. 346. 392. 430f. 468. 490. 497 ff. Christenverfolgung 2.38.46 ff. 96. 496f. Christian II. 286 Christine von Schweben 339 Christlich-sozial 461. 463 f. Christophorus 288 Christus (u. Christologie) 3. 21.29. 51ff.* 97. 117. 154. 169. 188. 195 f. 215. 222. 226. 249. 254. 333. 344. 348. 359f. 365. 371. 373. 392. 394f. 423 f. 431. 435. 439f. 443. 445. 464 f. 488 Christusbild 57. 292. 318 Christusmonogramm 48

Chrysostomos 54 f.

Church of England 286. 323 Cicero 8. 64 Cisterzienser 153. 155 ff. Citeaux 153 Claudius, H. 454 Claudius, M. 350 Clemens XIV. 354 Cluniazenser 137. 139. 141. 148. 155f. 175 Cluny 136. 141. 175

Codex argenteus 94 Coifi 84

Coincidentia oppos. 384 Coligny 260. 286. 304

Collegium germamcum 296 Colonna, D. 287 Columban d. I. 103 Comeniuö, A. 308

Common Prayer Book 286 Compagnie Jesu 295 Compossibilia 345. 434 Comte, A. 420

Concomitantia 172 Confutatio 266 Consalvi 396 Corinth, L. 452 Cornelius, P. 451

Corpus christianum 139f. Corpus juris canonici 493 Cotta, U. 209 Cremer, H. 445 Cromwell 260. 306. 321 ff.

326 Cuius regio, eius religio 82. 99. 108. 110. 182. 262 ff. 302. 308 Cyprian 36f. 47. 58. 68 Dämonen 77. 90. 116. 174 Dänemark 123 f. 286 Dankbranb 127.130 Dante 144. 163. 191. 196. 382 Danzig 200 Darwin, Ch. 230. 421. 425. 450 DeciuS, Kaiser 7. 46. 58. 92 Deciuö, N. 256 DeiSmuS 343. 372 Deißmann, A. 491

Dekalog 220. 241 ff. 261 Dekretalien, pseudo-Lfid. 137 DeScartes, R. 339 f. 345. 361 Deszendenztheorie 425 Determinismus 332. 377 Deus absconditus 170.217 s. 234. 253.* 255. 346. 388. 500. 505 Deutsch-chriftl. Stubentenvereinig. 481 Deutsch-evangel. Kirchen­ bund 271. 498 Deutschkatholizismus 405 Deutschritter 158. 166f. 192 Deutschtum u. Chriftent. 117. 121. 151. 157 ff. 431 Diakonen 18. 35. 282. 456. 462 Diakonieverein 460 Diakonissen 41. 436. 459. 462 Dialektik 22. 385. 499 Diaspora 473 ff. 498. 503. DibeliuS, M. 501 Dibachc 26f. 34. 58 Dicntzenhofer 316 Dietrich v. Bern 159. 453 Dilthey, W. 431 Diognetbrief 43 Diokletian 47. 58 Dionysos 5 Dogma(tik) 53. 55 f. 97. 221. 272. 276. 299. 323. 342. 365. 370. 383. 390. 448f. Dogmengeschichte 434. 442. 448 f. Döllinger, I. v. 235. 405 Dolmen 71 Dominicuö 166 Dominikaner 166.* 169.184ff. 192. 198. 203. 210. 219 Donar 74 f. 105 Donatello 288 DonatiSmuS 49 Donauwörth 303 Dostojewski 487 Dreißigjähr. Kneg 302ff. 308. 310f. 319. 342 Orews, A. 424. 445 Driesch, H. 484. 486 Droste-HülShoff, A. v. 452 Oroste-Dischen'ng, Frh. v. 402

Namen- und Sachregister

517

Druiden 81 Dualismus 8.10.29.45.161. 376 Du BoiS-Reymond 425. 431 Dunin 402 Dunkelmännerbriefe 198. 203 DunS ScotuS 170 Dürer, A. 202. 234. 291 ff

EraSmuS v. Rotterd. 9. 13* 198f.* 234. 236. 252f.* 291. 324. 339 Erbsünde 65. 213 ff. 249. 272. 299. 443 ErfölgSanbetung 216f. 275. 457 Erich v. Schweden 132 Erigena, Joh. 115 Erinyen 5 Erlanger Schule 383. 438 Erlösung 10f. 28f. 117. 155. 214ff. 392. 395. 487 Ernst b. Bekenner 264 Ernst b. Fromme 308 Ernst, P. 454 Erotik, geistl. 154. 333 Erweckungsbewegung 18. 32. 337. 414.* 435. 477 Eschatologie 342. 447 (s. a. Enderwartung) Estland 158 Ethik 161. 189. 229. 340 f. 385. 445. Eucharistie s. Abendmahl Eucken, R. 431 Eudämonismus 274. 341. 358. 362 ff. 395 Eugen III. 153. 155 Eugen, Prinz 306 EufebioS 33. 44 Evang. Presseverbanb 506 Evangel. soz. Kongreß 463. 466 EvolutioniSmuS 421 „Ex cathedra“ 401 f. Expressionismus 452 Externsteine 78 Eyck, Gebr. v. 201

Echter v. Mespelbrunn, Jul. 302 Eck 219f. 265 Eckehard IV. v. St. Gallen 136 Eckehart, Meister 186 ff. 194f. 233. 488. 501 Edda 91 Eduard VI. 286 Edwin 101 Egmont 304 Ehe 106. 135. 171. 247. 249. 268. 300. 506 Ehrfurcht 370f. 374. 391. 422. 430. 484 Eichenborff, I. Frh. v. 376. 452 Eid 47. 142. 146. 324 (s. a. Treueid) Eigenkirchen 78. 95. 101. 112. 134t* 147. 203 Eisenzeit 73 EiSleben 208. 269 Ekstase 9. 32. 151. 163 f. 185. 189. 321. 337 Elisabeth v. Engl. 286. 320 Emerson 358 Empfängnis, unbefl. 35. 299. 400 Empirismus 341. 361 Emser Punktalion 355 Enderwartung 2.17. 22 f. 27. 31. 33. 69. 88f. 342 England u. engl. Ehristent. 183. 236. 286. 319ff. 326. 338. 421 Enttverbung d. Seele 188 Enzykliken 400 f. 409 Epiktet 8 Epileptikerfürsorge 167. 461 Epikur 5 EpiskopaliSmuS 181 f. 299f. 355. 398

Falk, Joh. 458 Farel 279 Fastenzeit 147 Fegefeuer 69. 198. 210. 213. 300 Felszeichnungen 73 Fönelon 328 Ferdinand I. 264. 299 Ferdinand II. 302f. Feste, kirchl. 57.205 Feuerbach, A. 451

518

Namen- und Sachregister

Feverbach, L. 227.274.421f.*

Friedrich Wilh. III., König

Geschichtsbetrachtung 350.

426. 442 Fichte, I. G. 275. 358. 364.

416. 455 Friedrich Wilh. IV., König,

376ff.* 381. 390. 422.429 fitioque 147 Firmian, Erzb. 307

403 Friedrich der

360. 386. 418 Gesenius 434 Gesetz (u. Evangel.) 2. 13.

Firmung 171. 300 Fischer, I. M. 316 FlaciuS, Matthias 305 Flex, W. 454. 483 Fliebner, Th. 459 f. Folgegeister 84 Formalprinzip b. Ref. 298 Formgesch. Methode 501 Fox, G. 323 Franck, Seb. 276. 324 Francke, A. H. 328. 330ff. Franke, P. 293 Franken 75. 98 ff. 103 Frankreich 250. 286. 338. 354. 419. 493 Franz I. 260. 265. 279. 285. 301 Franz V. Assisi 153.162ff. 167 Franz v. Sales 327 Franziskaner 163 ff. 170.187.

203 Frau i. d. Kirche 305. 459 f.

468. 498 FreboniuS, I. 355 Freiburg i. B. 178. 399. 407 Freidenker 342. 490 Freiheit, evang. 9. 20. 215. 230f. 248. 322 Freiheit, sittl. 351. 364. 369. 377. 386 Freiheit des Willens 65. 252f.* 332. 343. 351 f. Frey(r) 73. 76. 79. 83 f. Friedrich I., Kaiser 144. 151.

185. 202 Friedrich II., Kaiser 145. 152f. Friedrich III., Kaiser 182 Friedrich b. Gr. 332. 343 f. 351 ff.* 355 ff. 388. 469. Friedrich Wilh. b. Gr. Kurf.

306. 309. 312. 342. 356. 466 Friedrich Wilh. I., König, 307f. 332. 351. 356. 466

Weise, Kurf.

205. 210. 219. 231. 234. 238. 262. 264 Friedrich, C. D. 451

Friesen 107 Fritigern 93 Fronleichnamsfest 278.299 ff. Frührenaissance 288

Fry, E. 324. 459 Fugger 211. 293 Fulda 107. 302 fultrui 83 f. 154

Furcheverlag 481 Fylgjen 84 Galater 16 GaleriuS 48 Galilei 339. 341 Gallen, St. 136. 173. 255 Gallio 16 .

Gallus 103 Gebhardt, E. v. 451 Gefallenen-Denkm. 452 Gegenreformation 294ff. 323 Geheimreligion b. Gebild. 9. 200 Geiler v. KaiserSberg 204 Geißlerfahrten 205. 256 Gellert 336. 348 Gemeindeordnung 481 GemeinfchaftSbewegg. 481 Generalfynobe 417. 498 Georg, Heil. 148s. 288 Georg v. Sachsen 277 George, St. 454 Gerechtigkeit Gottes 22.214ff. Gerhardt, P. 154. 231. 255. 309. 312ff.* 337. 348f. Gericht, jüngstes 2. 22. 33.

202 Gerichtsbarkeit, geistl. 204 Germanisierung b. Christent. 92. 134. 147 f. 482. 502 Gerok, K. 454 Gerokreuz 173 Gesangbuch 257. 309. 312. 328. 334ff. 376. 455. 498

15. 23. 27. 31.70. 91. 112. 127. 133. 161. 183. 213 ff. 218. 228. 236. 239—242.* 248. 369. 379s. Gethsemane 292 Gewerkschaften, christl. 409

Gewissen 50. 145. 181. 217. 233. 238s. 248. 264. 296f. 306. 322. 353. 357. 374. 385. 403. 468 Geyer, Chr. 488 Ghirlandajo, D. 290 Giotto 163. 290 Glaube 22. 65. 70. 168. 170. 215. 217. 221 f. 226ff.* 228f. 251. 274. 300. 310s. 344. 349s. 359. 363. 371. 387. 391. 394. 444. 480 496. 500 Glaubenslehre 390 Glaubenszwang 38 ff. 43. 46 f. 50. 61. 82. 110. 118. 125. 127. 239. 250. 263 Glaube u. Wissen 168 ff. 363. 387. 394. 406. 431. 444 Glapion 231 Glarus 250 Gnade 23. 31. 65f. 118ff. 155. 170s. 188. 190. 212.* 214f. 217. 225. 227 f. 236.

240. 252. 267. 273. 299. 394. 461. 502 Gnefen 124 Gnosis 11. 27 ff. 161. 488 Goethe 9. 154. 187f. 218.

235. 258. 275. 328. 335s. 340. 343 f. 358ff. 364. 367. 370ff.* 375. 379. 381 f. 387f. 393. 412. 422. 429.

436. 442. 456 Goetze, Hauptpastor 347

Gogarten 499 GörreS, I. v. 400. 412 Gotik 177ff. 200s. 289s. 315 Gott (auch GotteSbegriff) 7 f. 11. 21. 28. 30. 45. 51 f.

Namen- und Sachregister 61. 187. 193. 196. 214.* 216 f. 218. 222. 227.* 234. 238. 280. 340. 343. 351. 357. 359. 363 ff. 371. 377 ff.* 499 ff. Götter 3f. 42. 89. 105. 116 Götterbilder b. Germ. 77.130 Gottesbeweise 8. 168.* 340. 346. 361. 363 f.* 468. 485 Gottesdienst 2. 5. 18 f. 23. 26. 39 f. 57.113.145. 204 f. 249. 299. 405. 417. 455. 503 Gottesfreunbe 192 Gottesfrieben 138. 148 Gottesmutter 56. 199. 201. 206 Gottesstaat 66 Gottesurteil 129. 144. 185 Gottfried v. Bouillon 151 Gotthelf, I. 453 Gottlosigkeit 84f. 116 Gottschalk 115. 118 ff. Gral 159 Gran 124 Gravamina d. dtsch. Nation

202. 234 Grebel, I. 250 Gregor I. 68. 101 Gregor VII. 141 ff. 144.150f.

153. 399 Gregor IX. 145 Gregor XIII. 302 Gregor XVI. 400 Greuelmärchen 39 Griechische Studien 197 Grimm, Gebr. 375 Grimm, H. 504 Grote, Dr. meb. 486 Grünewald, M. 289 Gruppenbewegung 338 Gudrunsage 88 Gunkel 446 Gustav Adolf 260. 274. 303. 314 Gustav-Adolf-Derein 473 f. Gustav Wasa 286 Guyon, Frau v. 328 Häckel, E. 425 f., 486 Haering, Th. 384

Hagen 87. 158f. 453 Hagia Sophia 58 Hahn, Tr. 474. 497 Hakem, Sultan 149 Hakenkreuz 73 Hakon, Jarl 78. 126 Hakon d. Gute 126 Halfred 127 Halle-Wittenberg 270.

519 Heiliges Blut 206 Heiliges Grab 149 f. 152

Heiliges Jahr 179 Heilsarmee 313. 338 Heilsgeschichte 439 Heilsgewißheit 22. 66. 69.

330.

217. 253 Heimsoeth 375 Heinrich I. 121. 124. 136.

389. 440. 444 Hallenkirchen 200 Haller, Joh. 142. 501 Hamann, I.G. 359

139. 156 Heinrich II. 138 Heinrich III. 138ff. Heinrich IV. 140. 142 f. 150.

Hamburg 124 HamerSleben 176 Händel, G. Fr. 313. 375. 455 Hannover 399. 416 Harald Blauzahn 124 Harald Schönhar 125

176 Heinrich V. 143 Heinrich VI. 144 f. Heinrich d. Löwe 144. 157 Heinrich VIII. v. Engl. 286 Heitmüller, W. 446. 501 Hekate 5 Heliand 108. 110.115ff. 206.

Harmö, Kl. 389. 414 HarmS, L. 414 Harnack, A. v. 447 f. Hase, C. v. 441 f. Hauck, A. 448 HauptbibelgeseNschaft 414 Hauptmann, G. 454 HauSanbacht 330 Hausbuchmeister 201 HauSrath, A. 260 Havelberg 123 Haydn, I. 350. 375 Hebbel, Fr. 159. 452f. Hebräerbrief 236 Hebräische Studien 197 Heermann, I. 311 Hegel, 376. 381. 384ff. 415. 421 f. 429. 439 f. Heidelberger Katechismus 308 Heidenchristen 3 Heidentum i. Christent. 150.

203. 207. 213. 222. 226. 248 Heiler, Fr. 295 Heilige 38. 56. 62. 114. 148f. 152. 165. 183. 199. 201. 206. 212. 216f. 288. 299.

314 Heilige Allianz 398. 400 Heilige Lanze 121. 152 Heiliger Krieg 148f. 152 Heiliger Rock 206. 405

502 Hengstenberg 439 Hensel, L. 400 Heraklit 6 Hercules 74 Herder 358ff. 370. 375. 384.

400 Hermann, Nik. 256. Hermann v. Salza 158 HerodeS Agrippa I. 4 Herrmann, W. 444f.

Herrnhuter 184. 333 ff. 337. 389. 472. 477 HerSfeld 173 Herz-Jefu-Kult 329 Hesiod 6 Hessen 105. 107. 111 Hessen-Darmstadt 416 Hexen 72. 77. 83. 91 f. 109. 203 f.* 342. 346 Hexenbulle 203 Hexenhammer 203 Hidschra 61 Hieronymus 34.* 199. 224.

238. 266. 292 Hierarchie 67 ff. 495 Hildegard v. Bingen 185 Hildesheim 174. 176 Himmelfahrtsfest 57 Hindenburg 466 f.

520

Namen- und Sachregister

Hinkmar v. Reims 118. 121 Hirsau 175 Hirsch, E. 396. 502 Histor. krit. Theologie 445 f. Historismus 259. 449. 499 Hochaltar 315 Hochrenaissance 291 „Höchstes Wesen" 357 Hofmann, Chr. v. 438f. Hohenzollcrn 308. 356. 402. 466 HoheSlieb 154 Holbach 343 Holbein 202. 291. 317 Holl, K. 499 Holtzmann, H. I. 445. 447 Homer 5f. 73 Homiliare 113 Homousie 52 HonoriuS IIL, Papst 153 Hontheim, N. v. 355 HoruS 10 Hraban 118 Hrafnkel 84 Hrolf Kraki 85 Huch, R. 503 Hugenotten 274. 286. 304 ff. 312. 343. 356. 453. Humanismus 197 ff. 249. 250ff. 261 Humanität 349. 360 Humbert 140 Humboldt, W. v. 390 Hume, D. 341. 360 Hünengräber 71 f. Hunerich, König 96 HuS, Joh. 183 f. 220 f. 231 Hussiten 184 Hutten, U. v. 159. 197 ff. 202f. 220. 231. 252 Hymnen 24. 57. 257

Japan 305. 479 JasperS, K. 484 Idealismus275. 346. 357ff.* 361. 364. 395. 415. 488 Jena 270. 377. 379. 381. 386. 389. 441 Jesuiten 194. 294ff.* 298. 305. 307. 313 f. 320. 328 f. 353 f. 363. 399. 404. 407. 478. 494 f. Jesuitenstil 316 JesuS s. Christus Ignatius v. Loyola 294 ff. 314. 327 Illusion 227. 315. 421 f. 443 Imitatio Christi 162. 164. 194. 196. 295 Independenten 321. 323 Inder 299. 406 Indien 305 Individualismus 11. 336. 342. 386. 391. 450. 455. 457 Innozenz III. 144f. 163 Innozenz IV. 145 Innozenz VIII. 203 Innozenz XI. 327 Inquisition 144 f. 161 f. 166. 203.287. 301. 328 Jnspirationölehre 281. 310.* 418. 436. 441. 446. 502. Interdikt 183. 204 Interim 277f. Investitur 122. 138 ff. 142 f. Joachim v. Fiore 165 Johann XXIII. 183 Johann b. Deständ. 264 Johann Friedrich 277 Johann Sigismund 308 Johannes, Apostel 2. 4. 293 Johannes v. Kreuz 327 Johannisfeuer 92 Johanniter 157. 159 f. 167 JonaS, JustuS 269 Joseph II. 355 Irenäus 92 Irland 102. 322 Ärvtngianer 481 Isabella v. Kastilien 287 Jsenheimer Altar 289 Isidor 137. 140

Jacobi, Fr. 358. 394 Iaeopone da Tobi 255 Jahn, L. 376 Jakob I. v. Engl. 320 Jakobiner 166 JakobSbrüder 206 JakobuSbrief 34. 236 Jansen(iSmuS) 305.328.332. 343. 356

Isis 7. 10 Islam 61 f. Island 75. 81 f. 125. 129 Isländer Sagas 159f. Italien 287. 296. 301 Jubeljahr 179 Judaismus 13. 16. 30 JudaSbrief 34. 236 Juden u. Judentum 3.4.12f. 15. 17. 23. 25f. 30. 38f. 40. 43. 61. 63. 198. 222. 242. 269. 281. 287. 356. 419. 427. 463. 489. 506 Judenchristen 2. 26 Jugendbewegung 482 ff. 494 Jugendbünbe, evang. 503 Jugendfürsorge 456. 461 Jugenduntcrricht 113. 194. 250. 261. 296. 308. 331. 355 Julian b. Abtr. 50 Jülicher, A. 447 Julius II. 182. 197. 291 Jung-Stilling 328. 336 Jus reformandi 308 f. Justin d.Märt. 26. 42 Justinian 51. 56

Kadavergehorsam 137. 294 f. 297 Kagava 479 Kähler, M. 445 Kaiserkrönung 112. 122f. Kaiserkuli llf. 21.38.46.479 Kaiserswerth 459 f. Kalender 353. 356 Kalixtiner 184 Kalthoff 424 Kanon 33 f. 236. 434. 446 Kant, I. 219. 243. 275. 296. 344. 360ff.* 368ff. 375 f. 378ff. 384f. 387. 406. 419. 429. 443. 468. 484 Kanzel 293 Kanzelpqragraph 404 Kappel 250. 275. 285 Kapuziner 301 Karl b. Gr. 67. 106 f. 108 f. lllff.* 122 f. 124. 137. 140. 168. 172. 203. 354 Karl IV 180

Namen- und Sachregister Karl V. 205.231 ff. 260.265 ff. 276 ff. 283. 286. 296. 298 f. 313 Karl I. v. Engl. 320 Karl VIII. v. Frankr. 184 Karl XII. v. Schw. 307 Karl Martell 107 Karlmann 106 Karmeliter 167. 327 Kasuistik 297. 363 Katakomben 38. 57. 173 Kategor. Imperativ 296. 362 f. 369 Katechismus Luthers 34. 217. 225. 227. 242f. 254. 261.* 280. 302. 310f. 333. 348. 436 Katharer 161. 166 Katharina v. Siena 181 Katholikentag 495 Kattenbusch, F. 433. 435 Keim, K. Th. 441 Kelchentziehung 171. 224 Keller, G. 244. 423 Keller, S. 481 KelsoS 43 f. Kelten 73 Kepler 339 Kerner, I. 375 Ketteler, Frh. v. 403. 408 f. Ketzer 35. 40. 51. 66. 145. 147.* 157.161s.* 166.263. 273. 282. 327. 355 Kjartan 127 Kierkegarb 431. 485. 502

Kilian 103 Kinberauösetzung 80. 131 Kindertaufe 19. 49. 227 .Kirche 1. 25. 37. 65 f. 68 ff. lll.114.121ff.134ff.144f. 159. 161. 169. 171 f. 175. 186. 217. 220ff.* 233. 237. 250. 309f. 353. 365. 392. 401. 436. 490. 502 Kirchenbau 57 f. 156. 173 f. 200. 291. 314ff. 450. 452. 481 Kirchengeschichte

305.

440.

442. 448. 501 Kirchenbunb, btsch.-ev. 271. 334. 498

Kirchengut 143. 356 Kirchenjahr 57 Kirchenkonfer., Eisenacher

498 Kirchenlied 41. 57. 255ff.* 311 ff.* 333 ff. 337. 347f.

355. 454 Kirchenmusik 293 f. 309. 312f.* 455 Kirchenpolitik 250. 418. 444 Kirchenrecht 115 Kirchenstaat 111. 137. 396. 400. 494 Kirchensteuer 109 Kirchentage 498. 505 ff. Kirchentrennung 147.181 Kirchenverfassung 26. 181. 248. 262. 299. 309. 320. 353. 417. 490f. 498. Kirchenvisitation 112. 156. 260 Kirchenzucht 36.* 105 f. 249. 280. 282.* 335 Kirche und Krieg 148f. 152. 245 f. 324 Kirche u. Kultur 100. 113. 156. 441 Kittel, R. 501 KlageS, L. 485 Klara v. Assist 164 Klarissen 164 Kleist, H. v. 375. 411 Kleriker 35. 69. 202ff. Klettenberg, Sus. v. 335. 370 Klinger, M. 451 Klopstock 235. 335. 342. 350.

358 f. 488. Klöster 59. 122. 136f. 166. 175. 202. 249. 299. 355f.

495 Knapp, H. 454 Knox, I. 286 Knud d. Gr. 125. 133 KoinL 446 Kolbenheyer 504 Köln 177f. 302 Kolping, A. 409 Kommunion 145 Kommunismus 184. 244. 490 f. 505 Konfesstonalismus 436

521 Konfessionelle

Theologie

438 f. Konfuzius 343 Kongregationen 167 Kongregationalisten 321 Königsweihe 138f. 171. Konkordate 143. 357. 398f. 493. 495 Konkordienbuch 302 Konkorbienformel 302. Konkubinat 135 Konrad II. 138. 176 Konrad III. 151 Konrad v. Marburg Konsistorien 282. 417. Konstantin 48. 49f. 52.

342 396.

437

162 498 127.

148. 181 Konstantin. Schenkung 111. 137. 149 Konstantinopel 53. 58 Konventikel 331. 337. Konzile s. Synoden KopernikuS 339 Koran 62 Körner, Th. 411f Kraft, A. 289 Krankenpflege 18. 37. 59. 157f. 167. 194. 249. 301. 305. 355. 407. 460f. Krell 309 Kreuz (u. KreuzeStheologie) 1.23. 154. 195. 215f.* 223. 348. 374. 394. 497. 505 Kreuzer, Bisch. 405 Kreuzgewölbe 177 Kreuzzüge 148ff. 155. 159 Krieg, heil. 148 ff. 246 Krieg u. Christentum 148f.

246. 489 f. Kriegerheilige 148f. Kriegsdienst 47. 148. 246 Kriemhild 88. 159. 453 Kruzifix 173. 327 Krypta 173 ff. Kulturkampf 404. 406 f. KulturprotestantiSmuS 499 Kultus 26. 57. 147. 249. 373 (f. a. Gottesdienst) Kultus der Vernunft 356 Kultusministerium 403 Kunst u. Kirche 57 f. 172 ff.

522

Namen- und Sachregister

200. 287 ff. 296. 313 ff. 382. 450ff. Kuppelbau 291. 314 Kurfürst/ b. Gr. f. Friedr. Wilhelm Kurland 158 Kybele 10

Lettner 175. 315 Leutpriester 205 Lex gotica 94. 96 Lhotzky, H. 482 „Liberale" Theologie 433. 438. 445 Liebestätigkeit 2f. 18. 37. 50. 59. 69. 167. 194. 249. 353f. 407. 460. 465. 476. Lietzmann, H. 501 Liga 303. 314 Limburg, Dom 175 Lippi, Fil. 288 LipsiuS, R.A. 445 Litauen 158. 287 Litt, Th. 350 Liturgie 26. 57. 95. 136. 255. 323.436. 503. (s.a. Messe) Liudger 107 Livland 158 Loccum 156 Lochner, St. 201. 287f. Loci communes 251 Locke, I. 341 f. 361 Logau, Fr. v. 304 Löhe, W. 436. 438. 441. 460 Lohngebanke 61. 189. 216. 229. 273. 348 Lollarben 183 LoofS, Fr. 425 LoS-von Rom-Bewegung 405. 473. 505 Lothar v. Sachsen 144 v. Löwentch 436 Ludendorff 489 Ludwig XIV. 305f. 329. 342 Luise, Königin 41 lf. Lund 125 Luthardt 442 Luther 13. 17. 24. 60. 66. 92. 97. 106. 115. 134. 147. 152. 155. 160. 170. 172. 182 f. 189. 190 ff. 194ff. 197. 199 f. 202. 206 f. 208—276.* 279. 285. 288. 292. 319. 325. 333f. 337. 346. 348. 358ff. 363. 366. 369. 374. 383 f. 387f. 394. 411. 422. 431. 435 f. 439. 441. 443. 448f. 458. 465. 471. 489. 499 ff.

Lagarde 23. 259. 381. 430. 489. 501 f. Laken 69. 101. 113. 135f. 139 ff. 145 f. 159. 162. 167. 171 f. 175. 199. 204. 226. 256. 301. 330. 405 ff. 417 Laienbrüder 157 Laienkelch 171 f.* 184. 224. 239. 267. 278 Lamettrie 343 Lamennaiö 399 Landesherren u. Kirche 262 ff. Landessprache 95 Laplaee 360 Lateranvertrag 493 f. Lavater 336 Leben Jesu 423. 441. 445 Leese, K. 423. 435. 502 Lehmann-FilhöS 462 LehmuS 383 Lehnin, Kloster 156 Lehre,reinell4.310.331.437 Lehrmeinung 221. 299 Leibniz 345 f. 393 Leichenpredigten 348 Leichenverbrennung 72 f. Leipziger Disputation 220f. 252 Leipziger Interim 277 f. Leisen 255. 257 Lenin 427 Leo I. 68 Leo IX. 139ff. 147. 149 Leo X. 180. 210. 287 Leo XIII. 404. 406. 409 Leo, H. 411 Leonardo da Vinci 290 Leopold I. 305 ff. Lersch, H. 454 Lessing, G. E. 153. 168. 339. 346f. 358 f. Letten 287

Luther als Deutscher 218.233. 235. 267. 271 ff. Luther als Dichter 258 ff. Luthers Bibelübersetzung 234 ff. Luthers Briefe 258. 267. 269 Luthers Ehe und HauS 268 Luthers Grab 270 Luthers kath. Reste 275 Luthers Kirchenlieder 256 f. Luthers Lebensauffassung 229 f. Luthers Persönlichkeit 214. 218. 246. 271. 275 Luthers Thesen 211 Luthers Tischreden 269 Luthers Tob 269f. Luther und Arndt 412 f. Luther und Bismarck 218 f. 258. 272. 471 f. Luther und Calvin 226. 272 f. 274.280.283 Luther und EraSmuS 252 ff. Luther und die Juden 242. 269 Luther und Melanchthon 251. 266. 396. 440. 443 L. u. Nietzsche 230. 431 Luther und Schleiermacher 394ff. Luther und Zwingli 225. 248. 273 f. Luther in 2lugSburg 219 Luther in Leipzig 220 Luther in Koburg 265. 267 Luther in Rom 210 Luther a. d. Wartburg 234 f. Luther in Wittenberg 209. 238. 268 f. Luther in Wormö 231 f. 266 Luthers Schriften Don den guten Werken 220. 228 f. An den christl. Adel 220. 224. 245. 263. 298 Don b. babyl. Gef. d. Kirche 220 f. 225 Von d. Freiheit e. Chr. 215. 221. 230. 244. 273 Vom Papsttum z. Rom 222

Kl. Katechismus 225. 242. 261. 302. 348 Gr. Katechismus 227. 254. 261. 280. 302. 310 Sermon v. Beichte u. Sakr. 226 Senbbrief v. Dolmetschen 235 Vorreden z. Bibel 236 Vorreden z. Gesangbuch 257 Predigten 237 ff. Unterricht, sich in Mose zu schicken 241 f. Geg. d. himml. Propheten 242 Ermahnung z. Frieden 245 Wider d. mörd. Rotten d. Bauern 245 Sendbrief v. d. harten Büchlein w. d. B. 245 Don weltlicher Obrigkeit 263 Ob Kriegsleute i. sel. Stande sein k. 246 Dom geknechteten Willen 253 f. An b. Bürgerm. u. Rats­ herren 261 Deutsche Messe 260 Mackensen 466 Madonna 290f. 317 Magdeburg 123. 278 Magdeburger Zenturien 305 Maigesetze 404 Mainz 107. 177. 179. 399 Majeftätsbrief 303 Malteser 157 de Maistre 399 f. Mänaden 9 Managlaube 150 Manichäiömus 45. 63 f. 161 Marat 356 Marburg, Elisabethkirche 178 Marburger ReligionSgespräch 265 Margarete v. Navarra 286 Marheineke 383 Maria 35. 56. 155. 199. 201. 206. 376

Namens und Sachregister

523

Marianische Kongreg.167.494 Maria Laach 175 Maria Stuart 280 Maria Theresia 307. 355 Marienklage 201 Markion 23. 30f. Mars 74 Martin, Heil. 126. 148. 179 Martin V. 181 Martin-Luther-Bund 473 Märtyrer 3. 40. 46f. 56. 109. 149f. 173. 259. 311. 497 Marx, K. 427. 442 Marxismus 2. 245. 426f. 462. 497 Massachusetts 321 Materialismus 343. 351.361. 419. 424f. 427. 442. 458. 481 MathesiuS, Ioh. 256 Mauritier 305 Mauritius 148 f. Maximilian I. 198 Maximilian v. Bayern 302 Mechthild v. Magdeb. 185 Mecklenburg 157 Mediceer 184 Mebiceerkapelle (Florenz) 291 Medizin 485 f. Meißen 123. 157 Meister E. S. 201 Melanchthon 51. 197. 207. 217.235.251s.* 260. 265ff. 270. 277 f. 281. 293. 298. 302. 308. 333. 396. 435 f. 440. 443 Menschenopfer 74 f. 77. 79 f.* 104. 109. 125. 130 Menschenverachtung 351.454. 486. Merkur 74 f. MerseburJ 123 Merseburg. Zaubersprüche 88 Messe 26. 113. 145. 163. 203. 205. 217. 222. 226. 239. 299. 301 Metaphysik 361. 376. 380. 385. 420. 429. 443 Methodismus 336f. 481 Meyer, C. F. 152. 224. 258. 306. 453

Meyfart, I. M. 311. 313 Michael, Erzengel 130. 288. 292 Michelangelo 197. 291. 317f. Militia christiana 148f. 295 Mill, I. St. 421 Miltitz 219. 221 Milton 321 Minoriten 164f. MinuciuS Felix 39. 42 f. Mischehen 402. 493 Mission 3.14f. 25. 93f l01f. 103 f. 107 f. 124 ff. 156. 294. 296. 305. 331. 334. 338. 346. 436. 476ff. Mission, ärztliche 480 Mission, evang. u. kath. 477 Mission mit Gewalt 104. 108f. 127. 155. 287 Mission, innere 296. 408. 456 ff. Missionsbeurteilung 477 ff. Missionsmethobe 16 f. 93 f. 101 f. 128. 296. 478 MithraS 7.10. 73 Modernismus 397. 406 Mohammed 45. 60ff. Mobammebanermission 294 Mole schott 425 Molinos, Mich, de 327 Moltke, H. v. 468 Mönchtum 58ff. 103. 113. 136f. 153. 155 ff. 164 ff. 196. 203. 239. 294ff. 495 Monismus 419. 421. 425 Monophysiten 56 Monotheismus 26. 45 Montaniömus 31 f. 36 Montecassino 59 Morgenstern, Chr. 454 Mörike, E. 351. 375. 452 Moritz v. Oranien 304 Moritz v. Sachsen 270. 277 f. 298 Mosaik 58. 172 Moses 241 ff. 293. 446f. Mozart 350. 375 Müller, Heinr. 326 Müller, Ioh. 482 Müller, Karl 306. 448 Münster 276. 302

524

Namen- und Sachregister

Münzer, Th. 244f. Muspilli 88 Mussolini 494 Mysterienreligionen 9f. 19f. 23 f. Mystik 10f. 19. 21. 45. 90. 145. 154. 169. 185 ff. 191. 194 ff. 213. 215 f« 221. 255. 296. 304f. 321. 323 ff. 326ff. 335. 380. 390. 395. 435. 443. 454. 488. 499 Mythologie 383 Mythoö 29. 423

Neuplatonismus 44 f.* 50. 64f. 154. 187. 191. 216. 325. 380. 488 Neuthomismus 406 Newton 339. 343. 345. 381 Nibelungenlied 87.116.158 f. 437 Nicäa 51 Nicänum 51 ff. 147. 302 Nicäno-Constant. 53 Niederlande 286. 304. 306. 320. 338. 357 Nietzsche, Fr. 9. 134. 230. 258f. 275. 370. 375. 424. 428ff.* 435 Nikolai, PH. 311 Nikolaus I. 115. 121. 137f. Nikolaus V. 197 Nikolaus v. CueS 182. 384 Norbert v. Xanten 156 Norden, E. 448 Normannen 115. 148 ff. 151. 173 Norwegen 75. 81. 125 ff. 286 Notbischöfe 262 Notker 255. 257 Novalis 376. 435. 452 Novizen 294 Nuntiatur 355 Nürnberger Anstand 276 Nürnberger Reichstag 264

NaassenerhymnuS 28 f. Nachtmahre 77. 91 Nantes, Edikt v. 304 Napoleon I. 316. 357.* 386. 390. 392. 396 f. 398. 400. 471 Napoleon III. 470 Nationalkirche 95. 100. 114. 122. 306. 355. 397. 405. 416. 475 Naturfrömmigkeit 9. 372. 454. 505 Natürliche Religion 9. 42. 169. 342f.* 371. 392. 443 f. Naturphilosophie 381. 388. 488 Naturwissenschaft 168. 331. 339. 388. 394. 419. 480. 484 Naumann, Fr. 464 f. Naumburger Meister 179. 318 Nazarener 451 Neander, I. 334 Neresheim 316 Nero 40 NerthuS 76 Nestle, E. 447 Nestorianer 56 Neuapostol. Gemeinde 481 Neuendettelsau 436.460. 479 Neues Testament 30. 33 f.* 199. 207. 234 ff.* 241. 281. 287. 434. 444. 446 f. Neugotik 178. 450 Neukantianismus 421 Neumann, B. 316f.

Oberkirchenrat 417. 498 Oberlin 350 Oblate 118 Obrigkeit 241. 245 f. 263. 276 Occam, Wilh. v. 170 Odin 89 f. Oetinger 383 Offenbarung 11. 23. 30ff. 170. 244. 254. 324. 342. 347. 359. 371. ^83. 414. 499 Offenbarung Johannis 34. 236. 292. 322 Okkultismus 375. 488 Olaf Schloßkönig 132 Olaf Tryggvafon 126. 133 Olaf II. 128. 133 Ölung, letzte 171. 181. 300 Ontologie 385

Opfer 23. 46ff. 72. 74. 77. 78 ff. 124f. 205. 224. 226 Opitz, M. 312 Optimismus 200. 341. 346. 351 f. 360. 388. 411 Orakel 74.77.81f. 85.91.132 Orden 156. 163 f. 166. 294 f. 356 Ordination 437 Orgel 249. 293. 318 Orgelbewegung 455 Oriental. Religionen 7 OrigeneS 44 Orthodoxie 252. 309ff.* 324s. 330f. 347. 363. 390. 414. 417 f. 436. 439. 500 OfiriS 10 Ostasien 296. 305. 343. 346 Osterfest 57 Osterfeuer 91 Ostertermin 103 Ostgoten 94 Ostkirche 496 f. Ostpreußen 308 Otto I. 121 ff. 138. 139 f. 145. 156. 202 Otto II. 123. 156 Otto III. 124 Otto v. Bamberg 157. 176 Otto v. Wittelsbach 144 Otto, Rud. 422. 501 Ottobeuren 316 Overbeck 397. 451 Pachomius 59 Paderborn 302 Panentheismus 372 Pantheismus 8f. 154. 186. 383. 387 Papsttum 67 f. 106.122f. 134. 137 ff. 141 f. 144. 146f. 149f. 153. 159 f. 165 f. 169. 179 ff. 185. 217. 222. 266. 299. 397ff. 401 ff. 494 Papstwahl 123. 139. 141 ParaeelfuS 325 Paraguay 305. 354 Paraklet 32 ParmenideS 380 Parzival 159 Pascal, Bl. 328 f.

Passion 24. 154. 195 Passionsbarstellungen 57. 179. 292 Pastorenkirche 309. 325. 438 Patarta 141. 149. 161 Paul III 276. 298. 301 Paul IV. 301 Paulinzelle 176 Paulsen, Fr. 426. 431 PauluS2.4.6.12ff.*30f.38. 67. 120. 147. 154. 188 ff. 193. 199. 204. 213 ff.* 218. 225ff. 228. 230. 236ff. 240. 242f. 246. 293. 324. 369. 381. 393. 396. 430. 447. 468. 489 Pazifismus 250. 490 PelagianiSmuS 65. 252 Penn, William 323 Pergamon 5 Perthes, Fr. 466 f. Pessimismus 10. 388. 428. 432. 485 Pestalozzi 349 f. PeterSkirche 173. 291 Petrus 2ff. 15. 38. 67. 102. 146f. 236. 238« 293 Petrus Damiani 143 Petrus LombarbuS 171. 210 Petrusbrief II. 34. 236 Pfarrer 112. 260. 330. 356 Pfarrhaus, ev. 268. 311 Pfefferkorn 198 Pferbefleischeffen 79.126.131 Pfitzner, H. 455 Pfleiderer, O. 444 Phänomenologie 485 Philipp v. Hessen 250. 264 f. 277 Phillpp v. Schwaben 144 f. Philippi, v.Frankr. 150 Philipp IV. d. Schöne 179f. Philipp II. v. Span. 286 Philosophie, neue 485 Pia desidena 326. 330f. Piccolomini, E. S. 182 PLetL 201 Pietismus 274. 327. 329ff.* 332. 334f. 370. 414. 435. 444. 482 Pilgerväter 321

Namen- und Sachregister

525

Pippin 106. 108. 111 Pirmin 103 Pius II. 182 PiuS VI. 355. 357. 396. 398 PiuS VII. 357. 396. 398 PLUS IX. 400f. PiuS X. 406 f. PiuS XI. 493 Planck, M. 484 Plato 6. 11. 199. 390. 435 Platon, Bischof 497 PliniuS 16. 40 Plotin 187 Polen 287. 307. 493. 505 Polyglottenbibel 287 Polytheismus 5 ff. 29. 97 PompejuS 11 Port Royal 328f. Portugal 354 PofeibonioS 8 „Positive" Theologie 415.433 Positivismus 339. 388. 420.* 450. 452. 484. Postille, Luthers 239 Postulate 364. 378f. Prädestination 65 f. 85.118 ff. 183. 213. 215. 253 f. 280f. 284f. 302. 308f. 332. 338. 351 Praeceptor Germamae 251 Pragmatismus 421 Prämonstratenfer 156 Predigermönche 166 Predigt 3. 17. 26. 54. 57. 95. 102t 105. 108. 112. 129f.156.161.162ff.164f. 166. 183. 185 t 192. 204. 223. 239.261 f. 287. 296. 311. 323. 330. 334. 337. 348. 436. 490. 503. 506 Prebigtamt 223 Prebigtkirchen 178. 200. 317 Presbyter 35 Presbyterianer 320ff. 323 Preußen 159. 264. 398 Priester 26.81.159.171 f. 175 181. 205. 217. 223 f. 226. 239. 355t Priesterinnen 81 Priestertum, ölig. 135. 222.* 235. 330. 416

Priesterweihe 171. 300 Primat Roms 67 ff., f. a. Papsttum ProbabiliSmuS 297 Prophetie 19. 32. 60 Prolestantenverein 441 Protestantismus 264. 352. 360. 366. 401. 407. 410f. 417. 465 f. 474 Prozessionen 175. 205. 278. 299ff. 355 Psalmen 198. 257 f. 270. 360 Pseudepigraphen 447 Pseuboisidor 137. 140 Psychologie 484 f. Puritaner 275. 320f. Quäker 323 t QuempaSlieder 255 Querfchiff 173 QuiettSmuS 328. 330. 343 Raabe, W. 453 Rabbiner 13 f. Radbod 104 Raffael 197. 290 RahlfS, A. 501 Ranke, L. v. 431 Raffe u. Religion 37. 480 RathramnuS 115 Rationalismus 339.* 347. 361. 382. 411. 415. 436. 485. Reaktion 418 Rechtfertigung 22.* 154. 210. 227f.* 251. 267.271. 298 ff. 311. 325. 333. 374. 442 Recke-Volmerstein, Graf 458 Redemptoristen 329 Reformkonzile 181 f. Reger, M. 455 Reichenau 176 ReichSdeputationShauptfchluß 355. 398 Reichstage Paderborn 108. Köln 202. Worms 231t Speyer I 260. Speyer II 264. Nürn­ berg 264. Augsburg 265 ReimaruS 347 ReimS 177

526

Namen- und Sachregister

Relativismus 339. 419. 499 Religion (Begriff) 365. 371. 378 ff. 387. 389ff. 421. 424 Religion u. Ästhetik 368f. 391 f. Religion u. Kultur 113. 156. 393 f. 441. 499 Religion u. Politik 81 f. 107. 109. 131. 148 ff. 184. 246. 250. 403 f. 407. 409. 418. 462ff. 474 f. 478 Religion u. Sittlichkeit 11.22. 32. 58. 62. 70. 133. 227ff.* 249. 267. 362. 365. 368. 390. 472 Religion u. Vaterland 393. 475. 491. 505 ff. Religionsersatz 420. 431. 487 ff. ReligionSgeschichtl. Schule 446 Religionskriege 104. 108. 148 ff. 246. 270. 277. 302 ff. 353 Religionsunterricht 331.490f 496. 503 Reliquienverehrung 57.62.70. 147. 152. 175. 183. 205. 217. 234. 299. 373 Rembrandt 288. 318 f. Renaissance 196. 290. 293. 315. 338 f. 453 Renate v. Ferrara 287 Reservatio mentalis 297 RestaurationSzeit 397 ff. Restitutionsedikt 303 Reuchlin, I. 197. 251 f. Reue 21 Off. Revolution, franz. 350. 356f. 371 Rheinland 402. 417 Rhodiser 157 Richter, L. 451 Riemenschneiber, T. 288 f. Rilke, R. M. 454. 488 Rinckart, M. 312 Rippengewölbe 177 Ritschl, A. 440. 442 ff. 449 Rittelmeyer, Fr. 488 Ritter, christl. 148. 158. 160 Ritterorden 157f.

Ritterweihe 149 Robert GuiScard 149 RobeSpierre 356 f. Rom 6f. 11.17. 38.67ff. 173. 241. 314. (f. a. Papsttum) Romanischer Stil 176f. Romantik 143. 370. 374ff. 397. 408. 411. 436. 451 f. 503 Roon, A. v. 466 f. Rosegger, P. 454 Rosenkranz 206. 217. 327 Rößner, Bürgerm. 307 Rothe, R. 441 Rottenburg 399 Rousseau, I. I. 344.* 351. 358. 375. 384 Rubens, P.P. 317. 319 Rüdiger v. Bechlaren 159 Rundbogen 177 Runen 75. 81. 97 Runge, PH. O. 451 Rupert 103 Rußland 354. 475. 496f. Sabbatfeier 241. 243 Sachsen 76. 104. 108 ff. 111. 416 Sachsenspiegel 242 Sacrificium intellectus 170 Sadolet 281 Sakramentalien 171 Sakramente 11.49 f. 70. 139. 161. 169 ff. 181. 183. 186. 213. 218. 220. 223 ff. 226. 249. 265. 275. 299f. 323. 331. 373. 436f. 441. 446 Sakramentierer 265 Salesianerinnen 327 Salzburg(er) 111. 302. 307. 353. 355 San Jago bi Compostela 206 Sanctuarium 315 Sarazenen 115. 148 Sauerbruch 486 f. Savonarola 184. 250. 290 Schaitberger, I. 307 Scheffler, Joh. (Ang. SilesiuS) 188f. 304 Schelling 325. 376. 379. 381 ff. 422. 434

Schenkendorf 411. 452 Scherer, W. 260 Schicksalsglaube 8. 61. 85 ff. 116. 118. 253. 367 Schiller 5. 159f. 219. 235. 258. 275. 344f. 363 f. 366 ff. 375. 385. 395 Schinkel 450 Schisma 95. 147. 181 Schlatter 445 Schlegel, A. W. 375 Schlegel, Fr. 375 f. 397 Schleiermacher 231. 387. 388ff.* 415ff. 435. 438. 440. 499 f. Schlesien 157. 303. 307. 353 Schlieffen 466 Schmalkalden (Wilhelms­ burg) 293 Schmalkald. Artikel 240. 276. 302 Schmalkalb. Bund 276 Schmalkald. Krieg 270. 277 f. Schmerzensmann 173 Schnorr v. Carolsfeld 451 Scholastik 9. 167 ff. 185.187. 197 f. 361. 363. 401. 449 Scholastik, Protest. 310 Scholz, H. 381. 388 Schönborn, v. 316 Schönherr 454 Schongauer, M. 201 Schopenhauer, A. 375. 388. 427 f. 442 Schöpfung 28 Schottland 286 Schrempf, E. 482 Schrenk, E. 481 Schröder, R. A. 454 Schubert, Fr. 375 Schüler, G. 454 Schulpforte 156 Schulwesen 113. 261 f. 296. 308. 331. 490f. 495 Schürer, E. 447 Schütz, H. 313. 455 Schwärmer, 19. 32. 223 f. 234ff.* 238f. 241. 244ff. 263. 265. 273. 322 ff. 331. 383. 395. 441. 481 Schweben 76. 81. 131 f. 286

Namen- und Sachregister Schweitzer,Alb. 447.477.479 Schweiz 285. 357 Schweizer, Alex. 442 Schwertbrüber 158 Schwertmission 104. 155.287 Scriver, Chr. 326 Sebastian, Heiliger 148 f. Seeberg, E. 501 Seeberg, R. 449. 477 Seelenwanberung 359. 428 Seelsorge 70. 113. 185. 192. 205. 296. 334. 491. 506 Seibel, I. 204. 504 Semler, I. S. 434. 439 Seneca 8f. 279 Septemberbibel 235 f. Septuaginta 501 Sequenzen 255. 257 SergiuS IV. 149 Servet 282 Geuse, H. 195. 488 ShafteSbury 341 Shakespeare 320. 359f. Shaw, B. 454 Sickingen 199. 231. 252 Siebenbürgen 287. 474 f. Siebenzahl, heil. 171. 300 Siegfried 159 Sieveking, A. 459 Sigismund 181. 183 f. Sigurd, Bischof 127. 132 Simonie 138 ff. Singbewegung 455 Sittengesetz 362 ff. 379 Sixtin. Kapelle 291 Skeptizismus 339 Sklavenmoral 230. 430 Slawenmission 111. 123 Söderblom 313. 492 Sokrates 6. 199 Sonnenverehrung 72 f. Sonnin 318, Sonntagsfeier 26. 41. 49. 104. 112 Sonntagsheiligung 249 Sonnwendfeier 80 Sophisten 6. 341 Soziale Frage 37. 249. 407 ff. 426f. 463 ff. 506f. Sozialdemokratie 423. 463. 465. 490f.

Sozialismus 409 f. Spalaiin 197. 256 Spanien 17. 287. 296. 301. 354 Spätgotik 287. 289f. Spener,PH.J.326. 329f. 332 Spencer, H. 421 Spengler, O. 485 SperatuS, P. 256 Speyer, Dom 174. 176f. Speyer, Reichstage 260. 264 Spinoza 340. 379 Spiritismus 488 Spiritualen 165 Spiritualisten 244. 320f. 326 Spitalorben 167 Spitta, I. PH. 454 Staat u. Kirche 48. 54. 67. 106f.109ff.114.122f.125. 133. 137. 138 ff. 169. 180. 247.250. 262 f. 320 ff. 341. 352t 356f 387.392.401 ff. 407.416s. 441. 461. 463ff. 466.490.495.497. 505. 507 StaatSsozialiSmuS 462 Staupitz, I. 195. 210. 215 Stehr, H. 454 Stein, Frau v. 370. 372 Stein, Frhr. v. 390. 411 Steiner, R. 488 Steinhaufen, W. 451 Steinhaufen, Wallfahrtök. 316 Steinle 451 Steinzeit 71. 75 Stephan, H. 358. 433 Stephanus 3 ' Stigmatisation 24. 163. 165. 203 Stirner 429 Stöcker, A. 463 f. 466 Stoische Philosophie 8.* 42. 169. 196. 199. 249. 253. 352. 366 Stolberg, Fr. v. 376. 397 Storm, Th. 204. 362 Stoß, Veit 289 Sttafen, kirchl. 204 Straßburg, Münster 178 Strauß, D. Fr. 381, 383. 423 f.* 432. 438

Strauß, E. 454. 504 Strauß u. Torney, L. v. 504 Stuartö, die 320. 322 Sturmi 108 Stützenwechsel 174 Subjektivismus 335. 375 Suidbert 107 Sukzession, apost. 36. 67 Summepiskopat 497 Sünde u. Sündenbewußtfein 11. 23. 28. 117. 128. 135. 190. 192s. 195. 213ff.* 218 f. 239. 348. 381. 388. 392. 395. 436. 443 Sündenvergebung 32. 36. 42. 49. 133. 146. 151. 154. 210. 215.* 223. 225. 348. 381. 388 Sutri 138 Swein Gabelbart 124f. 129 Syllabuö 400f. 406 Sylvesterfeier 106 Synkretismus 12. 96. 309 Synodalverfasiung 320. 417 Synoden (Konzile) 37 Basel (1431) 182. 184. 299. — Chalzedon (451) 55. — Frankfurt (794) 114. — Hohenaltheim (916) 121. — Köln (1307) 205. — Konstantinopel (381) 53. — Konstanz (1414 ff.) 181. 183 f. 220 t 231. 299. — Lateran (1215) 144. — Nicäa (325) 51. — Pisa (1409)181.—Rom (1046) 138. — Rom (1870) 400. — Sutri (1046) 138. — Trient (1545—63) 298 ff. — Whitby (664) 102 System, gebundenes 177 Taboriten 184 TacituS 73 f. 77. 81. 197 Tagore 488 Tannhäuser 146 Taufe 2. 10. 19. 22 f. 34. 36.49.108f. 125.127.170t 183. 215. 223ff. 229f. 249. 300. 436 Täufer s. Wiedertäufer

528

Tauler 190. 192.* 210. 256. 324. 488 Tempel 77 f. Tempelherren 155. 157 Tersteegen 305.328.335.* 337 Tertianer 164. 167 Tertullian 35.* 39. 67 Tetzel 210f. Teufel 90. 119. 203.213.219. 254. 258. 273. 289. 292. 342. 346. 395 Textkritik 30. 447 Theismus 343 Theoberich 94 f. 98 Theodizee 253. 345 Theodor v. Canterbury 103 Theodosius 53 f. 94 Theologia crucis f. Kreuz Theologia, deutsch 192f. 195. 210. 324 Theologie, bialekt. 499 f. 503 Theologie, histor. krit. 439 ff. 445 ff. 501 Theologie, system. 390ff. 438 f. 443 ff. 449 f. 499. 501 f. Theologieftubenten 491 Theophano, Kaiserin 140. 174 Theosophie 383f. 488 Theresa de Jesus 327 Thesen Luthers 21 Of. Thiel, R. 217 Tholuck 438. 440. 444 Thoma, H. 451 Thomas v. Aquino 169 ff. 181. 203. 255. 406 Thomas v. Celano 255 Thomas v. Kempen 194f. 336 ThomasiuS, Chr. 346. Thomasius, G. 383 Thor 73. 78. 80. 82. 84f. 126. 128. 130. 150 Thora 243 Thorgeir 131 Thorner Blutgericht 307 Thorwald 129 Thron u. Altar 418. 466. 490 Thüringen 105. 111 Tillich, P. 501 f. Tilly 303 Tischendorf 447

Namen- und Sachregister

Todesstrafe f. Ketzer 263 Toleranz 82. 96. 319. 321 f. 339. 342. 352f. 355. 398 Toleranzakte 323. 342 Toleranzpatent 355 Tolstoi 487 Tonnengewölbe 177. 314 TönnieSherren 167 Torgau, Schloßkapelle 293 Torstenson 260 Totenkult 72f. 84 Totentanz 202. 291 Tradition 35. 168. 247. 358 Trajan 16. 40 f. Transzendenz 361 TranSsubftantiation 145.* 183. 205. 226. 299. 300. Treitschke, H. v. 424. 431 Treueid 353. 357. 404 Tridentinum 298. 405 Trier, Liebfrauenkirche 178 Trinitar. Streit 51 ff. TrinitätSlehre 169. 249. 261. 282. 383. 387. 441 Troeltsch, E. 339. 342. 444. 449 f.* 502 Tschechen 183 Tübinger Schule 440. 445 Tugendkuli 348 Türme d. Kirchen 156. 175. 177. 316. 356

Überlieferung s. Tradition Übermensch 230. 429 Übertritt z. Kathol. 397 Übungen, geistl. 295 Uhde, Fr. v. 451 Uhland 375 Ukraine 474 Ulm 178 UltramontaniömuS 399 f. 402 ff. Unduldsamkeit 303 ff. 306 ff. 320. 344 Unfehlbarkeit b. Papstes 35. 169. 221. 299. 401 Ungarn 115. 123 f. 148. 173. 287. 306. 475. Unio mystica 11 Union, kirchl. 392. 415 s. 440. 473. 498

Union, pol. 303. 314 Universitäten 166 Unni 133 Unsterblichkeit 348.351 f. 364. 379. 391. 394 Unterricht i. Christent. 279. 283 ff. Urqpostel 3. 15 Urban II. 15Of. Urgemeinde 2. 15 Ursulinerinnen 301 Utraquisten 184

DaldeS 161 f. Vandalen 65. 94. 96 Banen 76 Vaterlandsliebe 197 Vaterunser 113. 206. 261 Vaticanum 400f. Vatikanstadt 494 Verborgener Gott s. Deus absconditus Verbum visibile 224 Derben 109 Verdienste 169. 195. 212. 214. 239. 251. 312 Vergil 12 Vergottung 53 Vermittlungstheologie 169. 440 f. 445 Derrocchio 288 Vicarius Christi 68 Vierung 175. 177 Dierzchnheiligen 206. 316 Vilmar, A. 437 f. 441 DincentiuS v. Paulo 305 Vinzenz v. Lerinum 35 Virchow 404 Virginia 321 Vischer, P. 289 VitaliSmuS 486 Vogt 425 Völkische Renaissance 197 VolkSkirche 49. 227. 287. 322. 335. 392. 416. 441. 457. 462. 475. 498. 502 Dolkömission 337 f. Volksreligion 5. 40. 45. 57 f. 89. 91. 171. 248 Volksverein, kath. 409 Voltaire 343 f.* 351 f. 367

529

Namen- und Sachregister

439.* 446 Whitby 102 Whitefield, G. 336ff. Wichern, I. H. 408. 456 ff.

Wormser Dom 177 Wormser Edikt 232. 248. 264 Wormser Konkordat 143 Wort Gottes 223. 236 ff. 275. 330. 499 f. Wrebe, M. 474 Wulfila 93 f. Wunbt, W. 426. 431 Würd (Urbr.) 86 Würzburg 103. 302. 316 Wynfrith s. Bonifatius

466 Wiclif 13. 182f. 236 Widukind 109

LenophaneS 6 LimLneS 287

Völuspa 77. 88 Vorbehalt, geistl. 278. 297

Wessel, Gansfort 195 Wellenberg, Frh. v. 398

Dorreformatoren 163. 183. 190. 236. 292. 443 Vorsehungsglaube 8. 347

Westfalen 402. 417 Westfäl. Friede 303 Westgoten 92 ff. Westindken 332 de Wette, M. L. 423. 435.

Voß, I. H. 376. 436 Vulgata 34.235.251.298.300 Wagner, R. 257. 428. 455 Walbburg, Gebh. Truchseß v. 302 Waldenser 161.*

163.

179.

184. 305. 306 Walhall 89. 91 Walkenried 156 Wallenstein 303 Wallfahrten 56.206. 217.316 Waller v. L. Vogelw. 145.

152. 159 Walther, I. 257 Wandervogel 483 Wandmalerei 176 Wartburg 234 Wartburgfest 411 Weber, Max 499 Weihnachtsfest 57 Weiß, V. 441 Weiß, I. 447. 501 Weißenbergianer 487 Weizsäcker 445 Wellhausen, I. 446 Welt, Stellung zur 10. 28f. 37. 45. 58 ff. 97. 103. 141. 148. 156. 160 ff. 164. 167. 184. 188. 196. 202. 230. 246f. 295. 322. 335. 338. 342. 345. 428. 481 Weltenburg 315 f.

Weltfreundschaftsbund 492 Weltkonferenz f. prakt. Cbristentum 492 Weltliche Schulen 491 Welträtscl 419. 425 f. Wenden 155 ff. Wergeld 87 f. 169 Werke, gute 60. 69. 170. 189. 213 f. 217. 227 ff. 229 Werner, Z. 397 Werturteile 443 Werwolf 77. 91 Wesley, CH. u. I. 336ff. 34

Schuster, Kirchengeschlchte

Wtechert, E. 504 Wied, Herrn, v., Erzb. 277 Wiedergänger 72. 83 Wiederkehr Christi 2. 17.

22. 27. 33. 481 Wiedertäufer 244. 250. 263 276. 320. 326 Wielaird 375 Wiener Kongreß 398 Wies, Wallfahrtskirche 316 Wikinger 83. 85ff. 125ff. 131. 133 Wilhelm I. 469 Wilhem II. 448. 464 Wilhelm v. Bayern 266 Wilhelm d. Eroberer 150 Wilhelm v. Kleve 277 Wilhelm v. Oranien 260. 304 Wilhelm III. 323. 342 Wilke 434 Willehad 107 Williams, R. 321 Willibrord 104 f. Windthorst 403

166.

Zacharias, Papst 111 Zarathustra 10. 45 Zauberwesen 83.129.204.479 Zebar 78 Zehntausend heil. Jung fr. 206 Zeitz 123 ZenttalauSsch. f. J.Miss. 408 Zentralbau 173. 314 Zentrum 403. 409 ZeuS 5 Ziegler, Th. 431 Ziethen 351 Zimmermann, D. 316 Zinzendorf 154. 224. 332ff. 337. 374 Zisterzienser 155 f. Siu 74 Zivilehe 404 Zöckler-StaniSlau 474 Zölibat 135 f. 138. 171. 183.

202. 239. 267s. 278. 355.

Winer, G. B. 434 Winnig, A. 504

Wissenschaft 6.

Vnglinga Saga 79 Voga 488

168s.

196f. 250. 275. 287. 295. 305. 339.* 393. 431. 483 Wittelsbacher 144. 266. 302.

310 Witz, K. 288 Wobbermin, G. 499 Wodan 74 ff. 82. 85. 104 Wolff, Chr. 332. 346. 351 f.

360 Wolfram v. Eschenb. 159

405 Zungenreden 19. 32. 481 Zweifel 84. 339. 343. 351 f. Zweinaturenlehre 55 ff. 169. 249. 261. 333 Zweischwerterlehre 180

Zwickauer Propheten

238 f.

244 Zwtebelhauben 316

Zwingli 13. 134. 225. 244. 247 ff.* 251 f. 265. 273 f. 276. 281. 285

Anzeigen

Bisher erschienene Bände der

Sammlung Töpelmann: Reihe I: Die Theologie im Abriß Einführung in das Alte Testament. Geschichte, Literatur und Religion Israels.

Von Prof. Joh. Meinhold. 3., neubearb. Ausl. XII, 372 S. 1932. RM 8.—, geb. 9.75 Einführung in das Neue Testament. Bibelkunde deS NTS. Geschichte und Religion

des Urchristentums. Von Prof. R. Knopf (t). 4., neubearb. Aufl. von Prof. H. Ltetzmann und Prof. H. Weinel. XVI, 408 S. 1934. RM 9.—, geb. 10.75 Glaubenslehre. Der evangelische Glaube und seine Weltanschauung. Don Prof.

H. Stephan. 3., neubearb. Aufl. 1941. Ethik. Der evangelische Weg der Verwirklichung deö Guten. Von Prof. 2tlfred

Dedo Müller. XIV, 468 S. 1937.

RM 7.50, geb. 8.50

Konfessionskunde. Die christlichen Kirchen und Sekten von heute. Von Prof.

Hermann Mulert. 2., neubearbeite Aufl. XX, 457 S. 1937. RM 10.75, geb. 12.50 Grundriß der Praktischen Theologie. Don Prof. M. Schian. 3., neubearb. Aufl.

XX, 428 S. 1934.

RM 9.—, geb. 10.75

Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion. Don Prof. Gustav Hölscher.

XVI, 267 S. 1922.

RM 4.—, geb. 5.40

Geschichte der evangelischen Theologie feit dem Deutschen Idealismus. Don

Prof. Horst Stephan. XV, 343 S. 1938.

RM 5.80 geb. 7.80

Als Ergänzung zu den Abrißbänden erscheinen die

Theologische MkSbücher Katechetik. Einführung in die Grundfragen des kirchlichen Unterrichts der Gegen­

wart. Von Prof. Leonh. Fendt, vm, 108 S. 1935.

RM 2.40, geb. 3.50

Neutestamentliche Zeitgeschichte. Von Prof. Herbert Preisker. VHI, 306 S. Mit

3 Karten. 1937.

RM 7.—, geb. 8.—

Vie Welt des Alten Testaments. Einführung in die Grenzgebiete deralttestament-

lichen Wissenschaft. Von Prof. Martin Noth. XVI, 268 S. Mit 4 Tafeln. 1940. RM 8.—, geb. 9.—

Alfred Töpelmann Verlag / Berlin W 35

Heinrich Frick

Deutschland innerhalb der religiösen Weltlage Zweite, veränderte Auflage. Mit 10 Karten im Text

Groß-Oktav. VIII, 276 Seiten. 1940. Geb. RM 6.— „... ohne Frage eine der bedeutendsten und anregendsten Untersuchungen der

letztjährigen Erscheinungen auf religiös-weltanschaulichem Gebiet... Wir Theo­ logen tun gut, diesem Buch unsere volle Beachtung zu schenken. Es hat aber den seltenen Vorzug, baß es von jedem, auch dem Nichttheologen, der sich mit­

verantwortlich weiß für die künftige religionspolitische Entwicklung unseres Volkes und Staates, mit großem Gewinn für eine wirklichkeitsgemäße Urteils­

bildung gelesen werden kann..."

Deutsches Pfarrerblatt

♦ Ulrich Iltmann

Von heimlichen Leben der Keele Eine Einführung in die Frömmigkeit der deutschen Mystik

2., verbesserte Auflage. Oktav. 152 Seiten. 1939. Geb. RM 3.—

„In den letzten Kapiteln seines Buches zeigt der Verfasser, welch wichtigen Dienst gerade heute die mystische Frömmigkeit leisten kann. Sie verwandelt die von außen herangebrachte, kirchliche Religion in innerlichsten Besitz, seelisches Eigen­

leben in das „selige Haben Gottes". Äst dem aber so, dann wird die erste Be­

deutung echter Mystik klar. — Das vorliegende Buch handelt einfach und ver­ ständlich von der deusschen Mystik; wer Erweiterung seiner Kenntnis ober Ver­

tiefung seines geistlichen Lebens sucht, wird Hilfe und Wegweisung daraus

empfangen. Geschickt gewählte Anführungen aus den klassischen Mystikern geben einen zutreffenden Eindruck von der Tiefe, der sie entquellen und locken den

Empfänglichen zu näherer Bekanntschaft. — Sehr beachtenswert ist, baß der Verfasser die Beschlagnahme der Deutschen Mystik für ein „Deutsches Christen­

tum" eigener Art entschieden ablehnt, indem er ihre enge Verwandtschaft mit der mystischen Erkenntnis anderer Rassen hervorhebt."

Das Bücherblatt 1939.

Alfred Töpelmann Verlag / Berlin M 3$

Liiderblom

Worte für jeden Tag Zusammengrstrllt auö btn Schriften Nathan Söberblomü. Ins Deutsche über­ tragen von Tona Baur

Oktav. VII, 392 Seiten. 1940. Geb. RM 6.—

»Hier in diesem Buch fühlt man sich geradezu persönlich angesprochen von dem

Seelsorger und Kirchenmann. Dem Seelsorger selbst vermag dieses Buch sonder­ Deutsches Christentum 4/1940

lich zu nützen." *

Tor Andrse

Hathsn Köderblom Autorisierte Übersetzung auö dem Schwedischen von Emmy Gröning und Dr. Albrecht Dölklein

Oktav. Mit 4 Bildtafeln. VII, 232 Seiten. 1938. Geb. RM 4.80

„Andraes Lebensbild hat die Vielfalt der Lebenöbeziehungen dieser außergewöhn­ lichen Persönlichkeit, den Eifer seines Wirkens in anschaulicher Darstellung ein­

gefangen. Besonders aber läßt es uns teilnehmen an dem geistigen Werben

dieses Mannes, der, der kirchlichen Tradition entstammend, bas Gewicht der wissenschaftlichen Einwände gegenüber dem christlichen Glauben, das Gewicht

der sozialen Frage gegenüber der kirchlichen Tradition an sich selber erleidet. Im Durchdringen des Problems von Glaube und Wissen, im Ernftnehmen

aller geistigen Entwicklung, in der Ehrfurcht vor der kirchlichen Überlieferung, in der Achtung vor ftemder Glaubensüberzeugung und in einem übermensch­

lichen Tatendrang, die Kraft des Christentums in allen Fragen zu bewähren,

schließlich in der echten Herzenseinfalt einer christlichen Persönlichkeit gewinnt Söderbloms Bild unsere Teilnahme."

Hannoverscher Kurier 2.4. 39

Alfreö T-pelmann Verlag / Berlin W 35

Ksn« Lletzmann Seschtchte der Alten Ltrche Bb. 1. Die Anfänge. Oktav. VIII, 326 Seiten. 2. Auflage. 1937. Geb. RM 4.80

Bb. 2. Ecclesia catholica. Bb. 3. Die Reichskirche.

Oktav. VIII, 339 Setten. 1936. Geb. RM 4.80 Oktav.

VIII, 346 Setten.

1938.

Geb. RM 4.80

Das grunblegenbe Werk zur Erkenntnis ber Anfänge und des innersten Wesens der christlichen Religion

Inhalt von Banb 1:

Palästina und bas Römerreich — Das palästinensische Judentum — Johannes der Täufer — Jesus — Die Urgemeinde — Die jüdische Diaspora — Paulus —

Die christlichen Mtssionsgemeinden — Das römische Weltreich und sein religiöses

Leben — Der Ausgang des Judenchristentums — Die nachapostoltsche Jett — Johannes — Ignatius — Mareion — Die Gnosis — Literatur — Register. Inhalt von Banb 2:

Das römische Weltreich im -wetten und dritten Jahrhundert — Die Kirche — Das Neue Testament — Glaubensregel und Theologie — Der Kultus — Das

Christentum und die Welt — Die Apologeten — Kleinasien und der Montanis-

mus — Gallien — Afrika — Rom — Syrien und sein Hinterland — Ägypten —

Literatur — Register.

Inhalt von Band 3:

Zusammenbruch und Neubau des Reiches — Der Enbkampf des Christentums — Der Donatistenstrett — Der arianische Stteit bis zum Tode Konstantins — Konstantin — Der Geist ber konstantinischen Zett — Die Epigonen — Kon­

stantins als Alleinherrscher — Der Geist ber Epigonenzett — Julian — Der

Kultus — Ltteratur — Register — Zeittafel. Jeder Band ist in sich abgeschlossen und einzeln käuflich.

Verlag Walter de Gruyter & Co / Berlin W 3$

«Sustsv KkannmüHer

Jesus im Urteil der Jahrhunderte die bedeutendsten Auffassungen Jesu in Theologie, Philosophie, Literatur und Kunst bis zur Gegenwart

Zweite, verrnehrte und verbesserte Auflage. Oktav. Mit 20 Tafeln und XI, 574 Seiten. 1939. Geb. NM 6.80

„Auf 574 Seilen gibt Pfannmüller in einem gut ausgestalteten und handlichen Buch, das dem Andenken Heinrich WeinelS gewidmet ist und zwanzig Christus­ bilder alter und neuer Meister enthält, viel mehr, als der Titel deS Buches erwarten läßt, nämlich eine christliche Literaturgeschichte von den ersten Anfängen bis zur neuesten Gegenwart. In klarer und lichtvoller Darstellung wirb auch dem Laien die komplizierte Entwicklung vom Jesus der Evangelien zum Christus der Kirche verständlich gemacht, und besonders werwoll wird daS Buch durch die Darbietung der Quellen selbst, die sonst nicht jedermann so leicht zugänglich find. Wir haben hier ein kirchengeschichtliches Lesebuch, in dem auch Theologen jüngeren und älteren Semesters gern blättern werben. Die vollständige Über­

sicht über die moderne Jesusliteratur zeigt die große Belesenheit deS Verfassers. Religionslehrern und -lehrerinnen höherer Schulen erscheint mir Pfannmüllers Werk schlechthin unentbehrlich; werben sie doch hier an der Hand eines erfahre­ nen Kenners der einschlägigen Probleme, der unvoreingenommen, aber doch in maßvoller Kritik an die Dinge herangeht, in vorbildlicher Weise an den Fragenkreis einer christlichen Literaturgeschichte herangeführt und durch die Fülle des bargebotenen Materials in bie Lage versetzt, sich selbst ein Urteil zu bilden ♦.."

Prolestantenblatt 17.12. 39 *

Martin Dibellus

Jesus Sammlung Göschen Banb 1130. 134 Seiten. Kl.-Oktav. 1939. Geb RM 1.62

(Waller be Gruyter & Co.) „Ich habe selten etwas für bie menschliche Erkenntnis wie für den Glauben so Wertvolles und Fesselndes gelesen, wie dies kleine Büchlein, bas man nicht nur einmal, sondern wiederholt lesen muß, um es ganz zu erfassen und zu erleben; ich sehe in ihm den Erttag und Extrakt der ganzen bald hundertjährigen For­ schungsarbeit der protestantischen Theologie." Bad. Pfarrvereinsblätter 1939

Alfred Töpelmann Verlag / Berlin W 35