Geschichte der Alten Kirche
 9783110830132, 9783110046250

Table of contents :
I. Die Anfänge
1. Palästina und das Römerreich
2. Das palästinensische Judentum
3. Johannes der Täufer
4. Jesus
5. Die Urgemeinde
6. Die jüdische Diaspora
7. Paulus
8. Die christlichen Missionsgemeinden
9. Das römische Weltreich und sein religiöses Lehen
10. Der Ausgang des Judenchristentum
11. Die nachapostolische Zeit
12. Johannes
13 Ignatius
14. Marcion
15. Die Gnosis
II. Ecclesia catholica
1. Das römische Weltreich im zweiten und dritten Jahrhundert
2. Die Kirche
3. Das Neue Testament 60
4. Glaubensregel und Theologie
5. Der Kultus
6. Das Christentum und die Welt
7. Die Apologeten
8. Klemasien und der Montanismus
9. Gallien
10. Afrika
11. Rom
12. Syrien und sein Hinterland
13. Ägypten
III Die Reichskirche bis zum Tode Julians
1. Zusammenbruch und Neubau des Reiches
2. Der Endkampf des Christentums
3. Der Donatistenstreit
4. Der arianische Streit bis zum Tode Konstantins
5. Konstantin
6. Der Geist der konstantinischen Zeit
7. Die Epigonen
8. Konstantius als Alleinherrscher
10. Julian
11. Der Kultus
IV. Die Zeit der Kirchenväter
1. Jovian, Valentinian und Valens
2. Theodosius I. und das Ende des arianisdien Streites
3. Der Westen unter Valentinian I. und Gratian
4. Ambrosius und Theodosius
5. Volksfrömmigkeit im vierten Jahrhundert
6. Das Mönchtum
Literatur
Register
Nachwort

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LIETZMANN · GESCHICHTE DER ALTEN KIRCHE

GESCHICHTE DER ALTEN KIRCHE VON HANS LIETZMANN

4./5. AUFLAGE I N EINEM B A N D

WALTER DE GRUYTER • BERLIN • NEW YORK 1975

Band I ι. 2. 3. 4.

Auflage Auflage Auflage Auflage

1932 1937 1953 unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1961 unveränderter Nachdruck der 2. Auflage

Band II 1. A u f l a g e 1936 2. A u f l a g e 1953 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 3. A u f l a g e 1961 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage

Band III 1. A u f l a g e 1938 2. A u f l a g e 1953 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 3. A u f l a g e 1961 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage

Band I V 1. A u f l a g e 1944 2. A u f l a g e 1953 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 3. A u f l a g e 1961 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage

Die 4-/5 · Auflage ist ein unveränderter photomechanischer Nachdruck der 3./4· Auflage 1961.

ISBN 3 11 004625 3 © 1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. GösAen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuch handlung * Georg Reimer • Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30 Alle Redite, insbesondere das der Übersetzung in fremde Spradien, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet, dieses Budi oder auch Teile daraus auf photomedianischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in the Netherlands Buchbinder: Wübben & Co., Berlin 42

Inhaltsverzeichnis I. Die Anfänge Seite

1. Palästina und das Römerreich Die römische Eroberung 1. Die hellenistische Zeit 2. Die Hasmonäer 3. Antipater 4. Herodes der Große 4. Die Söhne des Herodes 6. Die Prokuratoren 8.

1 [3]

2. Das palästinensische Judentum 10 Die Religion- als bindende Kraft 10. Daniel und die [12] Weltgeschichte 11. Das Reich Gottes 11. Die Messiashoffnung in den Psalmen Salomes 12. Die Frömmigkeit 16. Chasidim und Pharisäer 17. Sadduzäer 19. Amhaarez21. Essener 22. Henochbücher 24. Die Stillen im Lande 26. 3.

Johannes der Täufer 28 Die Volksüberlieferung 28. Taufe und Buße 30. Fasten [30] und Beten 32. Der Tod des Johannes 32. Die Johannesjünger 32.

4.

Jesus 34 Die Quellen 34. Methoden der Forschung 36. Die Anfänge [36] 38. Forderung der vollen Hingabe 39. Wunder 39. Das Reich Gottes 41. Gottes Gerechtigkeit 43. Zöllner und Sünder 43. Der Messias 45. Der Todesweg 47. Sturm in Jerusalem 48. Die Passion 49.

5.

Die Urgemeinde 52 Die Auferstehung Jesu 52. Entstehung der Urgemeinde [54] in Jerusalem 53. Die „Armen" und „Heiligen" 54. Ihr Judentum 54. Brotbrechen 55. Taufe 55. Vaterunser 56. Fasten und Sabbath 57. Jakobus der Gerechte 58. Älteste und Apostel 58. Sonntagsfeier 60. Neuordnung der Woche 61. Die Hellenisten 62. Stephanus 63. Die erste Verfolgung 63. Anfänge der Mission 64. Die Urgemeinde in Jerusalem als Zentrale 65.

6. Die jüdische Diaspora 68 Dürftigkeit der Quellen 68. Ausbreitung der Juden 69. [70] Die Diaspora als Einheit 70. Rechtsstellung der Diasporajuden 71. Ihre Berufe 73. Missionsbestrebungen 74. Propagandaliteratur 75. Proselyten 77. Antisemitismus 78.

Inhalt

VI

Sdte

Tumulte in Alexandria unter Caligula und Claudius 79. Syrien 81. Der Geist des Diasporajudentums: die griechische Sprache 82. Die Septuaginta 84. Griechisch als Kultsprache 85. Die alexandrinische Exegetenschule 86. Philo 88. Der Aristeasbrief 94. Die Weisheit Salomes 95. Das vierte und dritte Makkabäerbuch 97. Gebete der griechischen Synagoge 98.

7. Paulus

102

Elternhaus und Jugend 102. Der Christenverfolger 103.[104] Die Bekehrung 103. Damaskus und Jerusalem 104. Erste Missionswirksamkeit 104. Das Problem des Ritualgesetzes 105. Der Apostelkonvent 106. Der Konflikt in Antiochia 106. Das Aposfeldekret 107. Kampf gegen die Judaisten 108. Zweite und dritte Missionsreise 109. Verhaftung und Prozeß 110. Seine Krankheit 111. Predigt und Briefe 112. Gotteslehre 113. Gottes Gerechtigkeit 114. Prädestination 116. Erlösung durch Christus 116. Glaube 118. Fleisch und Geist. Christusgemeinschaft 118. Taufe und Sündlosigkeit 120. Das Leben im Geist als Aufgabe 122. Abendmahl 124. Enthusiasmus 125. Der zweite Adam 127. Gesetz und Judentum 127.

8. Die christlichen Missionsgememden

132

Die ältesten Missionsgemeinden 132. Rom 133. Ägypten [134] 134. Stände in den Gemeinden 135. Sklavenfrage 136. Eheprobleme 136. Strafrecht 139. Privatrecht 140. Das Opferfleisch 140. Sakramentsmystik 142. Verfassung: charismatische Amter 145. Episkopen und Diakonen 147. Die Frauen 149. Gottesdienstordnung 150. Gegensätze in der Gemeinde 154.

9. Das römische Weltreich und sein religiöses Leben . . 158 Der lateinische Genius 158. Religiöse Restauration des [160] Augustus 159. Religiöses Leben im Osten 160. Das westliche Kleinasien 161. Artemis von Ephesus 162. Mysterien 164. Sabazios 165. Isis und Sarapis 167. Der Herrscherkult 168. Die Göttin Roma 170. Kaiserkult 171. Mysterienreligionen 174. Moralische Elemente 178. Epiktet 178. Poseidonios 180. Die Schrift „von der Welt" 182.

10. Der Ausgang des Judenchristentums

184

Verfolgungen in Jerusalem 185. Der jüdische Krieg 186. [186] Barkochba 189. Die Christen in Pella 189. Die Judenchristen als Ketzer 191. Nachrichten des 4. Jahrhunderts 192. Der Prophet Elxai 191 Reste in Cypern 197.

11. Die nachapostolische Zeit

200

Die neronische Verfolgung 200. Unruhen in Korinth 201-/202/ Der erste Clemensbrief: 202. Amterlehre 203. Das Alte Testament 204. Paulus 207. Liturgie 209. Das Christen-

Inhalt

VII Seite

tum der römischen Gemeinde 209. Der zweite Clemensbrief 211. Der Jakobusbrief 212. Die Didache 213. Paulinisches Christentum: der Hebräerbrief 216. Der erste Petrusbrief 223. Der Epheserbrief 226. Die Pastoralbriefe 227. Der Barnabasbrief 229.

12. Johannes

235

Das johanneische Korpus 235. Das Evangelium: Einheit- [237] lichkeit? 236. Wunder 237. Christus als Logos 237.· Zeit- und Ortsangaben 239. Mißverständnisse als Kunstmittel 240. Johannesjünger. Die Juden 241. Geburt von oben 242. Glaube und Liebe 243. Wahrheit, Licht und Leben 244. Parusie. Der Paraklet 245. Gericht und Auferstehung 246. Der Zebeda'ide und der ephesinische Johannes 247. Das religionsgeschichtliche Problem 248.

13. Ignatius

251

Die Briefsammlung 251. Martyrium des Ignatius 252. Got-[253] tesdienst und Abendmahl 253. Unsterblichkeit und Sehnsucht nach dem Märtyrertode 254. Glaube und Liebe 256. Die Christologie 257. Vater und Sohn 258. Erlösungstheologie 259. Der Mythos vom Stern 260. Gnostische Gegner 262. Klerus und monarchischer Episkopat 264.

14. Marcion

265

Die Allegorisierung des Alten Testaments 265. Marcions [267] Lebensgang 265. Quellen seiner Lehre 266. Gegensatz zum Alten Testament 267. Der gerechte Gott 268. Jesus und das Gesetz 268. Die zwei Götter 269. Paulus als Autorität 270. Die Verfälschung der Uberlieferung durch die Judaisten 270. Marcions Bearbeitung des Evangeliums 271 und der Paulusbriefe 272. Der neue Kanon 273. Die „Antithesen": Der fremde Gott und der Weltschöpfer 274. Christus 275. Höllenfahrt 276. Ethik 277. Ausbreitung der Marcionitenkirche 278. Schüler des Marcion 279. Apelles 279.

15. Die Gnosis

282

Ein persischer Mythos bei Dio Chrysostomus 282. Syn-[284] kretismus 284. Plutarch 284. Die Leidener Kosmogonie 285. Die Naassenerpredigt 289. Justin's Baruchbuch 291. Gnosis und Christentum 296. Christliche Systeme: Basilides 300. Isidor 303. Valentinus 309. Herakleon 314. Ptolemäus 315. Der Gott der Gnosis 316.

VIII

II. Ecclesia catholica Seite

1. Dae römische Weltreich im zweiten und dritten Jahrhundert 1 Grenzpolitik im ersten Jahrhundert 1. Trojans Feldzüge 2. 1323] Hadrian 3. Mark Aurel 4. Kriege mit dem Sassanidenreich 6. Der wirtschaftliche Niedergang 7. Das Soldatenregiment 9. Literatur unter Trajan 11. Die zweite Sophietik 13. Aristides 14. Lukian 15. Mark Aurel 16. Reliiosität bei Aristides und Plutarch 17. Philostrat 17. leroen- und Gespensterglaube 18. Orientalische Religionen in Rom 20. Syrische Götter 22. Pantheos 23. Ostia 24. Timgad 26. Dougga 27. Rheinische Kulte 29. Mysterienkulte 30. Das Judentum 33.

f

2.

Die Kirche 37 Weltgeschichte bei den Griechen 37 und Juden 39. Christ- [359] liehe Apokalyptik 40. Die Ekklesia als Ziel der Weltgeschichte 40. Die Kirche als überirdisches Wesen 42. Die „Propheten" 44. Neue Offenbarungen 46. Die Amter der Episkopen und Diakonen 47. Der Bischof 48. Bischof und Presbyter 50. Bischofslisten: Rom 51. Antiochia und Jerusalem 53. Alexandria 54. Bischöfliche Mutter- und Tochterstädte 55. Synoden 58. 3. Das Neue Testament 60 Spruchtradition der Herrenworte 60. Synoptische Evan- [382] gelien 61. Agrapha 62. Apokryphe Sprüche und Evanelien 64. Kinaheitsevangeiien 65. Marienlegenden 66. ilatusakten 67. Veronika 67. Abgar 68. Die Apostelgeschichte 68. Apokryphe Apostelgeschichten 70. Petrusakten 71. Paulusakten 73. Johannesakten 75. Andreasakten 77. Thomasakten 77. Asketische Stimmung 79. Das Christusbild 80. Gnosis in der Kirche 80. Christliche Apokalyptik 81. Die Offenbarung des Johannes 82. Der Hirte des Hermas 84. Die Petrusakopalypse 85. Die Epistula Apostolorum 86. Die Briefliteratur: Paulus 87. Sammlung der Paulusbriefe 88. Katholische Briefe 89. Die apostolische Autorität 90. Der Kanon der apostolischen

f

Inhalt

IX Seite

Evangelien 91. Ausscheidung der apokryphen Evangelien 92. Das Diatessaron Tatians 93. Pauluskanon des Marcion 94. Der Kanon der katholischen Briefe 95. Apostelgeschichte 96. Kanon der Apokalypsen 97.

Glaubeneregel und Theologie

100

Bekenntnis und Akklamation 100. Das älteste Christus-/422/ bekenntnis 101. Grundformen und Erweiterungen 102. Zweigliedriges Bekenntnis 104. Dreigliedriges Bekenntnis 105. Bekenntnis in Rom 106 und im Orient 107. Ausbau des zweiten Artikels 108. Der dritte Artikel 109. Bekenntnisformel und Lehre 110. Gott der Vater 111. Gottes Sohn 112. Die Geburt aus der Jungfrau 113. Adoptianismus 115. Pneumatische Christologie 116. Der heilige Geist 118 und die Kirche 119.

Der Kultus

120

Liturgie der Didache 120. Agapen 121. Sonntagsfeier bei 1442) Justin 122. Hippolyts Liturgie 123. Die Eucharistie als Opfer 125. Die Taufe 126. Exorzismus 127. Erweiterungen des Rituals 128. Wochenfasttage 129. Passahfeier 129. Quartodezimaner 130. Osterfeier am Sonntag 131. Osterstreit unter Victor von Rom 131. Pfingsten 132. Totenkult 133. Märtyrerkult 134. Katakomben 135. Die Anfänge der christlichen Kunst 137. Symbolische Figuren 138. Jüdische Bilder 140. Neutestamentliche Darstellungen 141. Die Basilica von Porta Maggiore in Rom 144. Die Aureliergruft in Rom 144.

Das Christentum und die Welt

145

Die Mission und ihre Ansatzpunkte 145. Anmeldung zum [467] Katechumenat 148. Verbotene Berufe 149. Christliche Lebenshaltung 150. Die Christen als „Feinde der Menschheit" 152. Plinius und Trajan über Christenprozesse 154. Staatliche Grundsätze 155 und Gesetze 156. Erste Verfolgungen 158. Lyon und Vienne 159. Der Märtyrer als Enthusiast 160. Perpetua 161. Märtyrerakte in Protokollform 162. Die syrische Dynastie 163. Neue Verfolgungen im 3. Jahrhundert 164. Verfolgung des Decius 164. Gallus und Valerian 169. Toleranzedikt des Gallienus 171.

Die Apologeten

172

Kritik am Christentum 172. Celsus 172. Die ersten Apo-[494] logeten: Quadratus 175. Aristides 176. Justin 178. Dämonenlehre 179. Weissagungsbeweis 179. Logoslehre 180. Christentum als wahre Philosophie 182. Ethik 184. Gemeindelehren 184. Tatian 186. Athenagoras 187. Theophilos. Brief an Diognet. Minucius Felix 188.

X

Inhalt Seite

8. Kleinasien und der Montaniemue 190 Ausbreitung des Christentums in Kleinasien 190. Oster- [51'2] streit 191. „Dynamistische" und „monarchianische" Theologie 191. Praxeas 191. Sakramentstheologie 193. Inschrift des Aberkios 193. Die „neue Prophetie 195. Montanus 196. Eschatologische Stimmung 197. Asketische Forderungen: Ehelosigkeit. Fasten 199. Opfergaben 200. Spätere Formen 201. Martyriumssehnsucht 201. Ablehnung von Seiten der Kirche 202. Versöhnungsversuche 203. 9.

Gallien 206 Beziehungen zu Kleinasien 206. Irenaeus 208. Sein „Elen- 1*28] chos" 208. Abwehr der Spekulation 210. Kanon und Glaubensregel 211. Die bischöfliche Tradition 211. Gott und sein Logos 212. Erlösung durch „Rekapitulation'4 213. Sakramentslehre 214. Die ldrchliche Frömmigkeit als Grundlage der Theologie 216.

10. Afrika 219 Berber, Punier, Römer 219. Lateinische Literatur 219. La-[541] teinische Bibel 220. Ausbreitung des Christentums 221. Märtyrer von Scilli 221. Tertullian.222: sein Stil 223. Gelehrsamkeit 223. Temperament 224. Apologetik 225. Ethik; der Montanismus 225. Kampf gegen die Kirche 226. Seine Grunderkenntnis 227. Unspekulative Theologie 227. Glückliche Formulierungen 228. Sein Ausgang 228. Cyprian 229. Die Verfolgung des Decius 230. Einigung mit Rom über die Frage der Gefallenen 231. Opposition der Konfessoren und Presbyter 232. Novatus und Felicissimus 233. Cyprians Schriften de lapsis und de unitate ecclesiae 234. Die Synode vom Mai 251: 235. Schisma des Fortunatus in Carthago, des Novatian in Rom 236. Cyprian und Cornelius 236. Cyprian und Stephan von Rom 238. Der Ketzertaufstreit 239. Tod des Stephan 241 und des Cyprian 242. 11. Rom 244 Blüte der Stadt 244. Einheit der Gemeinde 245. Gnostiker [566] in Rom. Osterfragen 246. Viktor und der Osterstreit 247. Die „Kleinasiatisclte Frage" 248. Theologische Bewegungen 248. Monarchianismus. Sabellius 249. Kallist und Hippolyt 250. Hippolyt als Schriftsteller 251. Das Bußedikt des Kailist 253. Ausgang des Hippolyt und des Pontian 254. Fabian 254. Neuordnung des Klerus. Die „Ordines minores" 255. Die Verfolgungszeit 257. Novatian und Cornelius 258. Verbreitung der Novatianer 259. Die Grundsätze des Stephanus und die Theorie des Cyprian 261. Dionysius von Rom 263.

Inhalt

XI Seite

12. Syrien and sein Hinterland

264

Antiochia als christliches Zentrum 261 Tritt erst seit 2501*86] hervor 266. In Syrien entsteht ein nationales Christentum: Edessa 266. Bardesao.es 267. Seine Lehre 267. Palut erster Bischof von Edessa 271. Harmonios 271. Christentum in der Osroene. Tatians Einfluß 272. Arbela. Syrisches Christentum bei Afrahat 273. Ausbreitung am östlichen Tigrisufer 274. Krisis im Judentum 275. Mani 276. Seine Lehre 277. Der Mythus 279. Ausklang 282.

13. Ägypten

283

Gnostisches Christentum der FrOhzeit 283. Bischof Demt-[605J trius 284. Pantainos und die Katechetenschule 284. Klemens Alexandrinus 285. Schriften 286. Stil 287. Der Protreptikos 288. Der Paidagogos 291. Vom Reichtum 295. Die Stromateis 297. Origenes 305. Der mittlere Piatonismus 308. Schriften des Origenes 311. Die Hexapla 313. Sein System 317. Origenes als Bibelforscher 325.

XII

ΠΙ. Die Reichskirche bis zum Tode Julians Seite

1.

Zusammenbrach und Neubau dee Reiches 1 Angriffe der Germanen und der Perser 1. Rheinisches Reich [655] des Postumus 2. Das palmyrenische Reich 3. Claudius der Gotensieger und Aurelian 3. Neuer Sonnenkult 4. Diokletian 5. Die Tetrarchie 6. Hofzeremoniell 9. Neugliederung des Reiches 9. Steuerreform 10. Münzwesen 11. Preistarif 11. Heeresreform 12. Bauten 13. Bildende Kunst 15. Literatur 17. Plotin 17. Porphyrius 24. Seine Askese 27. Schrift gegen die Christen 28. Chaldäische Orakel und Theurgie 32. Hermetische Schriften 33. Jüdischer Einfluß 37. Zauberpapyri 38.

2.

Der Endkampf des Christentums 42 Wachsende Ausbreitung des Christentums 42. Kirchen- [696] bauten 43. Vereinzelte Konflikte 44. Edikt des Diokletian 45: seine Vorgeschichte 45. Galerius 46. Edikte gegen Verwandtenehen und Manichäer mit altrömischer Motivierung 47. Palastbrand und Unruhen. Zweites und drittes Edikt. 49. Blutige Verfolgung 50. Viertee Edikt 52. Abdankung des Diokletian und Maximian 53. Erhebung des Konstantin und des Maxentius 53. Die zweite Tetrarchie 54. Verfolgung unter Maximin 55. Toleranzedikt und Tod des Galerius 57. Weitere Verfolgung durch Maximin 58. Konstantin gegen Maxentius 59. Schlacht am Ponte Molle 60. Legenden 60. Mailänder Toleranzbeschlüsse 62. Licinius' Sieg auf dem Campus Serenus 63. Maximins Tod 64. Des Licinius Rache. Diokletians Tod 64. Licinius gegen die Christen 65. Sein Sturz. Konstantin Alleinherrscher 66.

3.

Der Donatistenstreit 68 Gunstbeweise des Kaisers gegen die Christen in Afrika 68. [722] Protest der Donatisten 69. Die Vorgeschichte 69. Wahl des Caecilian 70. Konstantin zur Entscheidung genötigt 71. Synode zu Rom (313) 72. Synode zu Arles (314) 74. Die Donatisten appellieren an den Kaiser 75. Entscheidung in Mailand (315) 77. Gesetze gegen die Donatisten 77. Zurückweichen der Regierung 78. 4. Der arianischc Streit bis zum Tode Konstantins . . . . 80 Das Vorspiel in Ägypten unter Dionysios v. Alexandria 80. [734] Vorstoß der Sabellianer 81. Dionys von Rom hereingezogen 82. Apologie des alexandrinischen Dionys 83. Pietätsverhältnis zu Rom 84. Das Homousios 85. Paulus von Samosata Bischof von Antiochia 85. Synode von 268 in Antiochia setzt ihn ab 87. Seine Lehre 87. Homousios 88. Das meletianische Schisma 89. Bußvorschriften des Petrus von Alexandria91. Opposition und Kirchengründung des Meletios 92.

Inhalt

XIII Seite

Arius wird angezeigt und verurteilt 93. Die Lukianisten für ihn 94. Seine Lehre 94. Alexanders Gegenthesen 97. Eingreifen der Lukianisten 99. Konstantin vermittelt durch Ossius 100. Synode zu Antiochia (324) 102. Generalsynode nach Nicaea (325) einberufen 103. Eröffnung 105. Das Homousios 106. Die Synode unterwirft sich 108. Die Opponenten 108. Die Kanones 109. Regelung der Osterberechnung 109. Staatliche Durchführung der Konzilsbeschlüsse 111. Schwierigkeiten in Ägypten und zweite Tagung von Nicaea (327) 111. Eustathios von Antiochia abgesetzt 113. Antiochenische Kanones 115. Alexander von Alexandrien stirbt (328) 116. Athanasius gewählt 117. Meletianer gegen Athanasius 118. Arius nicht aufgenommen 119. Konstantin und Arius 119. Die „Ermordung des Arsenius 120. Synode zu Caesarea (334) von Athanasius abgelehnt 121. Synode zu Tyrus (335) 122. Athanasius flieht nach Konstantinopel 123. Kirchweih in Jerusalem 123. Athanasius nach Trier verbannt 124. Konstantins Tod 125. 5. Konstantin 126 Grenzsicherung 126. Aufstand des Calocaeros 126. Cris-[780] pus 126. Dalmatius und Hannibalianus 127. Verwaltungsreform 127. Reichs- und Hofämter 128. Heerwesen 129. Steuern 130. Münzwesen 130. Rechtsreform 132. Neue Gesetze 132. Augustus und Konstantin 134. Konstantinopel gegründet 134. Kirchenbauten in der Hauptstadt und in der Provinz 136: im Abendland 138. Verfall der Tempel 139. Zukunftsdeutung des Haruspex verboten 139. Der Tempel inHispelluml40. Konstantins Stellung zum Christentum 141. Die Schlacht am Ponte Molle bei Christen und Heiden 141. Briefliche Äußerungen Konstantins 143. Zurückhaltung auf den Münzen 145. Konstantin als Prediger 147 und Theologe 149. Seine Bluturteile 152. Friede auf Erden 153. 6. Der Geist der konstantinischen Zeit 154 Eusebius von Caesarea 154: Chronik 155. Praeparatio und [808] Demonstratio svangelical57. Apologetik 158. Bibelkommentare 159. Kirchengeschichte 159. Eusebs Kulturideal 161. Lebensbeschreibung Konstantins 161. Theophanie 162. Gregor der Wundertäter 162. Methodios von Olympoe 163. Scriptores Historiae Augustae und Panegyriker 164. Arnobius 165. Laktantius 166: seine Apokalyptik 169. Optatianus Porphyrius 172. 7. Die Epigonen 174 Konstantins Söhne 174. Erbteilung und Verwandten- [828] mord 175. Tod Konstantins II. 176. Konstantius 176. Rückkehr der Verbannten 178. Athanasius in Alexandria 179. Eusebius von Nikomedia wird Bischof von Konstantinopel. Neue Absetzungen 179. Pistos „Arianerbischof" in Alexandria 180. Anklagen gegen Athanasius 180. Verhandlungen mit Julius v. Rom 181. Athanasius vertrieben, Gregor in Alexandria (339) 182. Enzyklika des Athanasius 183: er geht

XIV

Inhalt Seite

nach Rom 184. Marceil von Ankyra 184. Julius schreibt an die Eusebianer 185. Antwort des Euseb 186. Römische Synode: Brief des Julius an die Orientalen 187. Marcell in Rom für rechtgläubig erklärt 190. Kirchweihsynode zu Antiochia 191. Die Bekenntnisformeln 191. Tod des Euseb von Konstantinopel. Unruhen in der Hauptstadt 193. Die „vierte antiochenische Formel" 194. Synode von Serdika (342) 195: ihre Kanones 199; dieHuldigung für Rom 200. Protestaktion derOrientalen20LDie abendländische Gesandtschaft in Antiochia203. Gregor von Alexandria stirbt. Athanasius zurückberufen 203. Seine Heimkehr (346) 204. Die Formula makrostichos205. Synode zu Mailand. Photinvon Sirmium verurteilt 205. Athanasius bricht mit Marcell 206. Synode zu Sirmium (347). Ursacius und Valens schließen sich an Rom an 207. 8.

Konstantius als Alleinherrscher 208 Aufstand des Magnentius. Vetranio 208. Schlacht bei Mur- [862] sa 209. Absetzung des Photin von Sirmium 210. Klagen gegen Athanasius 210. Liberius von Rom greift ein 211. Konstantius fordert Verdammung des Athanasius 212. Synode zu Mailand (355): die Oppositionsführer verbannt 213, Athanasius aus Alexandria vertrieben (356) 214: Georg eingesetzt 215. Der Caesar Gallus in Antiochia beseitigt 215. Julian an den Rhein geschickt 216. Die Einheitsformel von Sirmium (357) 217. Eudoxios von Antiochia 217 und der Neuarianismus des Aetios und Eunomios 218. Homousios als Stichwort der Gegner 219. Die Homoiusianer in Ankyra (358) 219. Athanasius und das Homousios 220. Basilius von Ankyra siegt über Eudoxios und seinen Anhang 222. Synode zu Sirmium (358) 222. Liberius unterwirft sich 223. Das „Homoios" von Sirmium 225. Doppelsynode zu Rimini und Seleukia (359). Rimini 225. Nike 227. Seleukia 228. Abschluß in Konstantinopel 230. Synode der Acacianer 230. Der Sieg des Homoios 231. Neuer Perserkrieg 232. Julian zum Augustus ausgerufen 233. Tod des Konstantius 234.

9.

Der Geist der Epigonenzeit 235 Gesetze gegen die alten Kulte 235. Konstantius in Rom 236. [889] Kalender des Filocalus 237. Konstantinopel als neues Kulturzentrum 239. Themistios 239. Antiochia. Libanius 240. Athen und sein Studentenleben 241. Prohaeresios. Euna>ios 242. Themistius und Libanius. Jamblichos 243. Christiche Literatur: Didymos der Blinde. Titus von Bostra 245. Kyrill von Jerusalem 246. Athanasius als Schriftsteller 247. Seine Erlösungslehre 248. Reden gegen die Arianer 250. Abendländer: AureliusVictor. Nonius Marcellus 252. Aelius Donatus. Marius Victorinus 253. Chalcidius. Firmicus Maternus 256. Hilarius von Poitiers257. Lucifer vonCagliari260. 10. Julian 262 Thronbesteigung 262. Jugend und Studium 263. Libanius. [916] Maximus von Ephesus 264. Bruch mit dem Christentum 264.

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Inhalt

XV Seile

Neugestaltung des Hoflebens. Ehrung des Senats 265. Ideale Bestrebungen. Erneuerung des Stadtwesens 266. Wiederherstellung der alten Kulte 266. Gewaltsamkeiten des Volkes 267. Rückkehr der verbannten Bischöfe 268. Athanasius 268. Alexandrinische Synode (362): das antiochenische Schisma 269. Das theologische Einigungsprogramm von Alexandria 270. Spaltung in Antiochia 271. Apollinaris von Laodicea 271. Lehre von der Homousie des Hl. Geistes 274. Maximus von Ephesus am Hof 275. Schärferes Auftreten gegen die Christen. Das Unterrichtsgesetz 276. Julian siedelt nach Antiochia über 278. Enttäuschungen 278. Julians neuplatonische Religion 279. Reformprogramm für das Priestertum 280. Das christliche Vorbild 281. Schikanen 282. Neubau des Jerusalemer Tempels 284. Unbeliebtheit bei dpa Antiochenern 285. Misopogon und Caesarea 287, Der Penerfeldzug 288. Julians Tod. 290. Der Kultus 292 uellen der Liturgie 292. Das Kirchgebäude 293. Der [946] auptgottesdienst: „Katechumenenmesse" 293. Biblische Lesungen und Perikopenordnung 294. Predigten 294. Die „Gläubigenmesse" 295. Das Opfer 298. Landschaftliche Verschiedenheiten 299. Abendländische Liturgien. Mailand 300. Rom. Schwinden der Epiklese 301. Der Opferakt als Mysterium 301. Reichere Ausgestaltung des Gottesdienstes: Kleidung 302. Die „Einzüge" 303. Häufigkeit des Gottesdienstes 303. Laudes und Vesper 305. Die täglichen Gebetsstunden 306. Hymnen 307. Einfhiß des Möncntunis. Nachtfeiern 307. Pilgerfahrten ins Heilige Land: der Pilger von Bordeaux 308. Aetheria 308. Bauten am Heiligen Grabe 309. Der Kult in Jerusalem: Der tagliche Gottesdienst 310. Sonntag 311. Osterzeit: das Fasten 312. Palmsonntag. Gründonnerstag 313. Karfreitagmit Kreuzesverehrung 314. Karsamstag und Osternacht: Taufe 315. Ostersonntag. Dauer der Fastenzeit 316l Fastengebete. Predigtreihen 318. Biblische Bildreihen 319. Beschreibungen bei Ambrosius, Prudentius, Paulinus von Nola 320. Epiphanie und Weihnachten 321. Ausbreitung der Epiphanie im Osten 321. Das Weihnachtsfest kommt zum Osten aus Rom 322. Weihnachten und Epiphanie im Westen 323. Ausgleich der Inhalte 325. Ungelöste Probleme 326. Ursprung der Epiphanie 327 und des Weihnachtsfestes 329. Heiligenfeste 329. Petrus- und Paulustag. Petri Stuhlfeier 320. Bischofstage 331. Der syrische Kalender von Nikomedia 332. Aposteltage des Ostens 334. Reliquienkult 335.

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XVI

IV. Die Zeit der Kirchenväter Seite

1. Jovian, Valentinian und Valens

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Wiederaufleben der kirdilidien Gegensätze 1. Synoden in [993] Alexandria 2 und in Antiochia 3. Kardienpolitik der neuen Kaiser 4. Verbannungen unter Valens 5. Die Romreise des Eustathius 6. Neue theologische Führer 8. Das Einigungswerk des Basilius: Versudi mit Athanasius 10. Die Mission des Sabinus 13. Basilius sdiickt Dorotheus nach Rom 15. Die beiden Reisen des Dorotheus und des Sanctissimus 17. Basilius' Tod 20. Gotenkrieg 21. Valens fällt 23.

2. Theodosius I. und das Ende des arianischen Streites

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Friede mit den Goten 25. Theodosius einigt die ösdiche [1016] Kirche 26. Meletius 27. Gregor v. Nazianz in Konstantinopel 28. Der Anschlag des Philosophen Maximus 30. Das 2. ökumenisdie Konzil 32. Seine Kanones 34 und seine Trinitätslehre 36.

3. Der Westen unter Valentinian I. und Gratian

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Die Luciferianer 40. Damasus und Ursinus 41. Die „illy- 1^032] risdien" Homöer 42. Damasus befestigt seine Stellung 44. Roms Vorredite 46. Ambrosiiis von Mailand 47. Gratian und der Kirdienfrieden 49. Ambrosius bekämpft den illyrisdien Arianismus 50. Synode in Aquileia 52, ihr Eingreifen in die Fragen der östlidien Kirdie 54 endet mit einer Niederlage 56.

4. Ambrosius und Theodosius

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Festigung der Staatskirdie 60. Der Tyrann Maximus 6 1 . / ^ ^ / Priscillianus 62. Gegner des Priscillianismus 64. Blutige Unterdrückung durch Maximus 66. Der Streit um den Altar der Victoria 67. Ambrosius formuliert die Pflichten des christlichen Herrschers 68. Konflikt mit der Kaiserin-Mutter ustina 69 und Valentinian II. 72. Theodosius wird Alleinerrscher 75, sein Verhalten gegen das Heidentum im Westen 76 und im Osten 77. Geistlicher Einfluß des Ambrosius 78. Sacrum Imperium 80. Der Aufstand des Eugenius 83. Ambrosius nimmt gegen ihn Partei 84. Kaiser und Bisdiof 86.

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Inhalt

XVII Seite 5. Volksfrömmigkeit im vierten Jahrhundert 89 Veränderte Grundbedingungen in der Reichskirche 89. My- [1081] steriensehnsucht 90. Erwachsenentaufe 91. Christenlehre nach Kyrill von Jerusalem 93. Gnade und Wille 94. Glaube 95. Gott 95, Christus 96. Gerichtserwartung 97. Hl. Geist 98, Kirche 98. Sakramentsmystik 100. Die Großstadtgemeinde des Johannes Chrysostomus 102. Biblizismus 104. Aberglaube und jüdische Riten 105. Der Christ und die Zeitnöte 107. Vollkommenheit und Weltchristentum 112. Der Märtyrer als Vorbild und Schutzpatron 114. 6. Das Mönchtum 116 V o r s t u f e n (116—124). Asketisches bei Jesus und Pau-[1108] lus 116. Besitz und Ehe im Urchristentum 118. Abwertung des Leibes 120. Asket und Pneumatiker 121. In den Sekten wird Ehelosigkeit für alle verlangt 122. Aufstieg durch Askese zur Gnosis bei den Alexandrinern 123. Gibt es außerchristliche Vorbilder für das Mönchtum? 124. A n a c h o r e s e u n d K l o s t e r w e s e n (125—141). Antonius 125. Die Antoniusvita des Athanasius 127. Dämonenglaube 128. Ägyptische Einsiedler 129. Die „Apophthegmata Patrum" 131. Ältestes Klosterwesen: Pachomius und seine Regel 132. Die Klosterordnung 135. Gottesdienste 136. Ausbreitung 139. M ö n c h s f r ö m m i g k e i t (141—154). Die Quellen 141. Dämonenfurcht 142. Stellung zum Dogma 143 und zur Bibel 144. Gebetsexerzitium 145. Sündenbewußtsein 146. Visionen und Ekstase 147. Demutsideal 148. Geltung von Kirche und Sakrament 149. Der wundertätige Möndi 151. V e r b r e i t u n g d e s M ö n c h t u m s (154—174). Palästina 155. Syrien 157: Afrahat, Audianer 157, Messalianer 159. Asketische Spitzenleistungen: Symeon Stylites 161. Die Akoimeten 163. Kleinasien: Eustathius v. Sebaste 164, Basilius d. Gr. 165. Konstantinopel 166. Das Abendland: der hl. Martin 167. Die Küsten 169, Spanien, Afrika 170, Italien, Rom 171. Gegner des Mönditurns 171, Jovinian 172. Hieronymus 173. M ö n c h s t h e o r e t i k e r (174—193). Symeon v. Mesopotamien 174. Der Liber Graduum 181. Euagrius Ponticus 184. Basilius d. Gr. 189. Literatur

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Register

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Nachwort

1224

Die Anfänge

Palästina und das Römerreich Das römische Imperium schickte sich an, seinen Ring um das Mittelmeer im Osten zu schließen: nicht nach dem umfassenden Plan eines überlegenen Geistes, sondern durch den inneren Zwang der politischen und militärischen Tatsachen. Griechenland war in der Mitte, das westliche Kleinasien am Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. gewonnen. Da stellte die Kühnheit und Zähigkeit des Königs Mithradates von Pontus den ganzen östlichen Erwerb noch einmal in Frage und nötigte den Römern einen fünfundzwanzigjährigen Krieg auf (88—63), der zuletzt den Charakter eines asiatischen Befreiungskampfes gegen die abendländischen Eroberer annahm und von Rom den Einsatz seiner vollen Kraft und seiner besten Männer forderte. Gleichzeitig brach des Mithradates Schwiegersohn Tigranes vonArmenien nicht nur inMedien und dasnordwestlicheMesopotamien ein, sondern unterwarf sich auch Kappadokien und Kilikien und griff nach der nördlichen Hälfte des längst zersplitterten Seleukidenreichs in Syrien: Antiochia wurde eine seiner Residenzstädte. Der römischen Gegenwirkung waren dadurch ihre Ziele gesteckt, und römische Truppen betraten syrisches Gebiet. Wie ein übermächtiger Magnet zog der siegreiche Feldherr Pompejus die Gesandtschaften der miteinander hadernden Parteien aus allen Gegenden Syriens an sich, und die römische Hand wurde spürbar. Erst nur tastend und mit leichtem Druck. Aber gegen Ende 64 erschien Pompejus selbst in Syrien und griff durch. Wenige Monate später gab es an Stelle des vom seleukidischen Erbe noch gebliebenenTrümmerhaufens eine römische Provinz Syria. Ihre Verwaltungseinhei-

1. Palästina und das Römerreich

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ten waren von zweierlei Art. Wo die hellenistischen Städte der Seleukidenzeit die erforderliche Bedeutung hatten, wurden sie unter einer aristokratischen Verfassung für autonom erklärt, und ihre Stadtgebiete bildeten kleine Regierungsbezirke. Wo dagegen orientalisches Wesen dominierte, ließ man einheimische Dynastien am Regiment und machte sie für Ruhe, Ordnung und pünktliches Steuerzahlen verantwortlich. Als ein mit besonderer Vorsicht zu behandelndes Staatswesen dieser zweiten Kategorie erwies sich Judäa, sowohl wegen Bewohner. Schon in frühen Jahrhunderten hatte das Volk Israel des Geistes als auch wegen der politischen Erlebnisse seiner die Ungunst seiner geographischen Lage schmerzlich zu spüren bekommen. Palästina war nun einmal die Brücke zwischen den Weltreichen des Orients und dem Reich der Pharaonen und somit bestimmt, ein ständiger Zankapfel zwischen den großen Rivalen zu sein. Auf seinem Boden wurden Entscheidungsschlachten geschlagen, und durch seine Grenzen gingen die Heereszüge, und das ist das Schicksal des Landes geblieben bis auf den heutigen Tag; die Chronik des Weltkrieges weiß letztlich davon zu berichten. Als Folge ergab sich, daß es dauernd zu politischer Abhängigkeit von einer der benachbarten Großmächte verurteilt war — und auch daran hat die neuere und neueste Zeit nichts geändert. Die Zerstörung Jerusalems von 586 hatte das aus der Assyrerzeit noch übriggebliebene Südreich zur babylonischen Provinz gemacht, und alsKyros die Verbannten zurückschickte, errichteten sie ein Staatswesen, das unter persischer Oberhoheit stand. Aus der Hand der Perser ging das Land in die Alexanders über und wurde von makedonischen Statthaltern regiert. Nach seinem Tode kämpften die Ptolemäer und die Seleukiden um seinen Besitz. Für ein Jahrhundert behielten die Ptolemäer die Oberhand, dann fügte es Antiochos III. 198 seinem großen syrisch-mesopotamischen Reiche ein. War die ägyptische Periode eine Zeit relativ friedlicher Entwicklung und stiller An-

Die Hasmonäer

passung an den griechischen Geist der Welt gewesen, so brachten die neuen Herren bald Sturm über Israel. Der politische Rückgang derSeleukidenmacht führte zu gewaltig sich steigerndem Steuerdruck und zur Beraubung des Tempelschatzes. Und die Ränke der Staatsleiter veranlaßten Antiochos IV. Epiphanes, eines Tages Jerusalem mitBrand undMord heimzusuchen (168), seine Mauern niederzulegen und eine syrische Besatzung in der Burg zu stationieren. Hand in Hand damit ging das Bestreben, den jüdischen Kult zu unterdrücken und die freiwillig schon ziemlich weit gediehene Hellenisierung der Stadtbevölkerung gewaltsam zu beschleunigen, im ganzen Lande zu verbreiten und auch auf das Gebiet der Religion auszudehnen1. Die Antwort war der Bauernaufstand der Frommen unter der Führung des Hasmonäers Judas Makkabäus und seiner Brüder, die in einem an Wechselfällen reichen 26jährigenKrieg(167—141) dem Vaterlande nicht nur die religiöse, sondern erstaunlicherweise auch die politische Freiheit erkämpften. Seit unausdenklichen Jahrhunderten war das Volk Israel zum erstenmal wieder frei und niemandem Untertan. Sein Hoherpriester war Fürst und hieß auch bald König des Volkes: der Thron Davids war wieder aufgerichtet. Israels Heer schirmte seine Grenzen und dehnte sie aus, während die eben noch so übermächtigen Reiche der Seleukiden und der Ptolemäer in sich selbst zusammensanken und kraftlos waren. Unter Jannäus Alexander (105 bis 78), der hebräisch und griechisch den Königstitel auf seine Münzen prägte, gewann das jüdische Reich seine größte Ausdehnung und gebot auch weithin im Ostjordanland den griechischen Städten. Rund ein Jahrhundert hat dieser ungewöhnliche Zustand politischer Freiheit gedauert: lange genug, um sich dem Gedächtnis der Nation für zwei weitere Jahrhunderte als Ziel der Sehnsucht einzuprägen. Als sich die Söhne des Jannäus, der träge Hyrkan II. und der leidenschaftliche Aristobul II., um die ') Vgl. Bickermann, Der Gott der Makkabäer.

1. Palästina und das Römerreich

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Krone stritten, riefen beide die Römer zu Hilfe. Die kamen: zuerst der Legat Scaurus, der den Aristobul unterstützte, dann Pompe jus selbst. Aber Aristobul verlor die römische Gunst und verschanzte sich im Tempel. Jerusalem wurde wieder Kriegsschauplatz. Nach dreimonatlicher Belagerung wurde der Tempelberg von den Römern gestürmt (63), und Pompejus betrat zum Entsetzen des Volkes das Allerheiligste. Der Traum jüdischer Freiheit war ausgeträumt. Die Eroberungen des Jannäus gingen als freie Städte in das Verwaltungssystem der Provinz Syria über, die Juden behielten Hyrkan II. als Hohenpriester und „Ethnarchen" und — die Römer als Herren. Die folgenden Jahrzehnte brachten den Kampf Cäsars gegen Pompejus und den Senat und erweckten auch beim jüdischen Volk und den hasmonäischen Prinzen allerlei Hoffnungen. Aber Hyrkans Minister, der kluge Idumäer Antipater, wußte Cäsars Gunst durch Taten zu gewinnen, so daß er dem Land Judäa die Steuer- und Militärfreiheit verlieh. Antipater verstand auch nach Cäsars Beseitigung das Regiment seiner Gegner in Syrien sich günstig zu stimmen: da wurde er plötzlich ermordet. Er hinterließ zwei Söhne, die er schon seit längerer Zeit mit Statt halterposten betraut hatte: Phasael in Jerusalem und Herodes in Galiläa. Der erste endete durch tapferen Selbstmord, als ein hasmonäischer Prätendent Antigonos mit parthischer Hilfe Jerusalem einnahm. Der zweite folgte dem siegreichen Marc Anton über Ägypten nach Rom und erreichte es dort, daß ihm auf des Octavianus und Antonius Empfehlung der Senat die jüdische Königswürde verlieh (40). Jener Antigonos hatte inzwischen den Hyrkan abgesetzt und ihm zu größerer Sicherheit die Ohren abgebissen, damit der Verstümmelte nie wieder Hoherpriester werden könne. Da kehrte Herodes mit römischer Unterstützung nach Palästina zurück. Zwar verschaffte dies dem Antigonos den Zulauf der jüdischen Freiheitsfreunde und stärkte seine Widerstandskraft für drei Jahre. Aber im Frühling 37 begann Herodes die Belagerung Jerusalems und schuf sich zugleich eine Art dynastischer Legitimierung seiner Königswürde, indem er die ihm schon seit

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Herodes der Große

längerer Zeit anverlobte hasmonäische Prinzessin Mariamme heiratete. Nach fünfmonatlichem Ringen wurde der Tempelberg und die Stadt unter furchtbarem Blutvergießen gestürmt. Das Plünderungsrecht kaufte Herodes den Soldaten mit eigenenMitteln ab. Antigonos wurde vom römischen LegatenSosius zum Tode verurteilt und enthauptet. Die hasmonäische Dynastie trat vom Schauplatz ab: der Sohn des Hausmeiers setzte sich die Krone aufs Haupt. Aber die Stirnbinde des Hohenpriesters konnte der stammfremde Idumäer nicht anlegen: die mußte er, wenn auch zaudernd und innerlich widerstrebend, dem letzten Hasmonäer, dem 17jährigen Aristobul, lassen. Als aber beim Laubhüttenfest der Jubel des Volkes dem jungen Träger der Makkabäertradition entgegenbrauste, reifte ihm das Verhängnis: Herodes ließ ihn ertränken und setzte eine gleichgültige Kreatur seines Willens an die Stelle. Noch einmal bedurfte Herodes aller seiner Geschicklichkeit und seines Glückes, als sein nächstgebietender Herr und Meister Antonius gegen Octavian zur letzten Entscheidung antrat. Antonius verlor das Spiel. Bei Actium (31) fiel die Entscheidung auch über seine Genossin Kleopatra und Ägypten. Der römische Ring schloß sich nun um das Mittelmeer: Kaiser Augustus brachte der Welt den dauernden Frieden. Und Herodes fand die Gunst des Siegers und wurde mit Ausdehnung seiner Herrschaft im Westen und Osten belohnt. Was Herodes gewann, verdankte er eigener Kraft und Kunst, und es wurde seiner Person gewährt. Das Volk der Juden hatte keinen Anteil daran. Es nahm die äußeren Vorteile mit und ließ es sich wohl gefallen, wenn Herodes sich für jüdisches Wesen einsetzte 1 , aber es haßte ihn als fremden Usurpator und Schützling der Römer. Die Mehrung seines Reiches war alles andere als nationale Angelegenheit des Volkes Israel. Fast 40 Jahre hat dieser Mann regiert und seine großen militärischen und organisatorischen Gaben mit rücksichtsloser Energie an den Ausbau eines Staatswesens gesetzt, das ein wertvoller ») Jos. A. 16,27—65.

1. Palästina und das Römerreich

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Bestandteil des römischen Imperiums wurde. Es war ein Bollwerk gegen die Araberstämme der Wüste und sicherte die Verbindung zwischen Syrien und Ägypten: und die im Charakter seiner Bewohner liegenden Gefahren wußte die Macht und die Klugheit des Königs zu beschwören. Josephus hat in einem Kapitel', das doch von ehrlicher Bewunderung durchklungen ist, von seiner gewaltigen Bautätigkeit berichtet: vom Neubau des Tempels zu Jerusalem, von der Gründung der Stadt Sebaste auf dem Boden des alten Samaria und der imposanten Hafenstadt Cäsarea — die später Hauptstadt des Landes geworden ist —, von zahllosen Burgen, Palästen, Theatern, Bädern, Wasserleitungen, Säulenhallen, Tempeln. Aber die Tempel waren heidnischen Göttern, waren dem Kaiserkult geweiht, und in seinen Bauten spiegelte sich die Liebe zur griechischen Kultur, die ihn auch eine Stiftung für die olympischen Spiele machen hieß. Das Herz des jüdischen Volkes antwortete auf alles das nicht mit Liebe, sondern mit grimmigem Haß — wie sein Weib, die schöne Mariamme, die er dann in auflodernder Eifersucht tötete, und die er doch nicht aufhören konnte zu lieben. Mit dem Tode Herodes „des Großen" (4 v. Chr.) löste sich sein Reich auf, mehr noch als er selbst testamentarisch bestimmt hatte. Die Söhne aus den ersten seiner zehn legitimen Ehen, die ursprünglich zur Thronfolge bestimmt waren, erlagen den Palastintrigen: Alexander und Aristobul, die Söhne der Mariamme, die um ihres hasmonäischen Blutes willen beim Volke beliebt waren, wurden auf Geheiß des Vaters erdrosselt, und seinen ränkeschmiedenden Erstgeborenen Antipater hat er noch vom eigenen Totenbett aus hinrichten lassen. So blieben als testamentarisch bestellte Erben drei nachgeborene Söhne. Philippus bekam das nördlich und östlich vom See Genezareth liegende und vorwiegend heidnisch bevölkerte Außengebiet derBatanäa und der anschließendenLandschaften und hat hier 30 Jahre friedlich und beliebt regiert. Herodes Antipas erhielt Galiläa und Peräa. Er baute sich am See Gene') Jos. Β. 1,401—430.

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Oie Söhne des Herodes

zareth eine Residenz von gut hellenistischem Typ, die er loyalerweise zu Ehren des Kaisers Tiberias nannte, und legte in Peräa eine befestigte Stadt an, die nach der Kaiserin Livias, später Julias geheißen wurde. Dem Volke gegenüber spielte er den Bekenner jüdischer Religiosität. Sein Verhängnis wurde Herodias, die er seinem Stiefbruder Herodes abspenstig machte. Um die Ehe mit ihr zu ermöglichen, verstieß er seine erste Gattin, die aus guten politischen Gründen geheiratete Tochter seines Nachbars, des Nabatäerkönigs Aretas. Das führte zu schwerer Verstimmung, zu Grenzreibereien und endlich zu einem Kriege, der Antipas Niederlagen einbrachte und ihn zwang, bei Tiberius um Hilfe zu bitten: aber der Kaiser starb, ehe seine Unterstützung wirksam wurde. Sein Nachfolger Caligula aber hat den auf der Herodias Drängen den Königstitel nachsuchenden Antipas nach Lyon verbannt, wo er gestorben ist (39). Seine Tetrarchie erhielt sein Gegner und Ankläger Agrippa, der inzwischen König von Judäa geworden war 1 . Das Hauptstück des herodianischen Erbes bekam Archelaos: ihm fiel die Herrschaft über Samaria, Judäa und Idumäa zu. Er sollte nach des Herodes Willen auch den Königstitel führen, doch hielt Augustus damit noch zurück und ernannte ihn nur zum Ethnarchen, nachdem fast die ganze herodianische Familie und obendrein eine Deputation des Volkes in Rom erschienen war und sich vor ihm um die Erbschaft gestritten hatte. In Palästina ging es unterdessen drüber und drunter. In Jerusalem wurde der interimistische Prokurator Sabinus mit seiner Legion überfallen, und der Aufstand griff auf das flache Land über, wo mindestens drei Bandenführer sich zu Königen Israels ausrufen ließen*. Schließlich schritt der Legat von Syrien, Quintilius Varus, ein und zerstreute die aufständischen Haufen, aus denen er Zweitausend herausgriff, um sie am Kreuz zu warnendem Beispiel aufhängen zu lassen®. Archelaos kam und begann selbst zu regieren: aber er bewies sich bald als völlig unfähig. Einige Jahre wurde das ertragen: dann ') s. u. S. 185. *) Jos. A. 17, 272. 274. 278. ') Jos. A. 17, 295.

1. Palästina und das Römerreich

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zog eine Deputation der vornehmsten Juden und Samaritaner nach Rom und führte Klage. Da hat Augustus den Archelaos abgesetzt (6n.Chr.) und nach Vienne verbannt 1 . Sein Gebiet wurde nun direkt unter römische Prokuratoren gestellt, die dem Ritterstande entnommen wurden und gelegentlich in losester Abhängigkeit dem syrischen Legaten unterstanden. Sie residierten in Cäsarea und hatten eine bescheidene Truppenmacht — rund 3000 Mann — zur Verfügung, die in Palästina selbst aus der nichtjüdischen Bevölkerung ausgehoben wurde. Die Juden selbst blieben nach wie vor aus guten Gründen vom Kriegsdienst befreit*. Eine der römischen Kohorten war ständig in Jerusalem und hatte in der Burg Antonia ihre Kaserne: ihr Tribunus war der Platzkommandant der Hauptstadt. Das Steuer- und Zollwesen lag in der Hand des Prokurators, aber im übrigen wurde den Juden Selbständigkeit der inneren Verwaltung und Rechtsprechung in weitem Umfang gelassen. Die jüdische Zentralbehörde, das unter Vorsitz des Hohenpriesters tagende Synedrion, regierte in Judäa, und seine Entscheidungen hatten eine weit über diese engen Grenzen hinausgreifende, freiwillig von der übrigen Judenschaft anerkannte moralische Autorität. So hätte es bei beiderseitigem gutenWillen zu einem reibungslosen Zusammenarbeiten kommen können — wenn nicht Ungeschick, Brutalität und Leidenschaft immer wieder den Frieden gestört hätten. Eine so selbstverständliche Maßregel wie die Aufstellung von Steuerlisten, der „Census" des syrischen Legaten Quirinus (6/7 n. Chr.), fand bei der Bevölkerung heftigen Widerstand und brachte das Land fast zum hellen Aufruhr3. Es gelang dem Hohenpriester Joazar, das Volk zu beschwichtigen, aber der „Galiläer" Judas und der Priester Zaddok formten und predigten von da an das Programm der unentwegten Römerfeinde mit unheimlichem Erfolg 4 . Auf der anderen Seite haben die regierenden Prokuratoren auch des öfteren eine unglückliche Hand bewiesen und das Volk schwer gereizt. Pontius Pilatus hat das in besonders hohem Maße ver-

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') Jos. A. 17, 342—344. ) Jos. A. 18, 1—10. 23—25.

*) Schürer I, 458.

») Schürer I, 510 ff.

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Die Prokuratoren

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standen und zu wiederholten Malen eine Rücksichtslosigkeit bewiesen, die ihm schließlich den Hals brach1. Das war zur Zeit, als Tiberius starb (37). Und unter seinem Nachfolger Caligula wurde es noch schlimmer. ») Schürerl, 488-^492.

Das palästinensische Judentum Während die von Sargon 722 in die Verbannung geführten zehn Nordstämme des israelitischen Volkes in der Fremde untergegangen sind, jedenfalls keine Spur mehr in der Geschichte zurückgelassen haben, sind die Bewohner des judäischen Südreiches zu solcher nationalen Festigkeit gelangt, daß sie nicht nur die Katastrophe von 586 überdauerten, sondern allen weiteren Schicksalsschlägen, ja selbst der Vernichtung ihres VaterlandesTrotz geboten haben und bis auf den heutigen Tag in ihrer Eigenart bestehen. Der Grund dafür liegt in dem Verhältnis des Volkes zur Religion. Nicht das ist das Besondere, daß Volks- und Religionsgemeinde zusammenfallen — das ist für ein antikes Volk naheliegend, wenn auch nicht selbstverständlich, und hätte dazu führen können, daß Jahve mitsamt seinem Volke aus der Geschichte verschwunden wäre wie die vielen Baalim, wie schließlich auch Zeus und Jupiter mit dem ganzen Olymp. Das Entscheidende war, daß die Religion in diesem Volke in einzigartiger Weise bindende und treibende Lebenskraft war. Die Nordstämme sind zu früh entwurzelt worden, waren auch wohl zu stark fremden Einflüssen ausgesetzt gewesen, so daß sich diese Konsolidierung der religiösen Kraft dort nicht hatte vollziehen können. Das Südreich hat die ihm geschenkten vier Menschenalter gut benutzt und sich einen Glauben gewonnen, der stark genug war, den nationalen Tod zu überwinden. Der Jude wußte, daß Gott sein Volk seit Abrahams Tagen sich erwählt hatte und seine Verheißungen an ihm wahr machen würde. Er sah die Geschichte mit den Augen der Religion als göttliches Walten an, das sich im letzten Zweck doch nur auf

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Gott in der Geschichte

Israel bezog. Über die primitiven Formen solches Vorsehungsglaubens und seine Erschütterung durch politische und militärische Katastrophen hatte ihn die Predigt der Propheten hinausgehoben. Er wußte von eigener Sünde und Schuld, von Gottes Zorn und gerechter Strafe für den Einzelnen wie für das Volk: aber er wußte auch, daß Gott den Seinen nicht ewiglich zürnt, und daß seine Verheißungen unerschütterlich bestehen bleiben. Der Glaube hatte in der Not des Exils die Verbannten zusammengehalten, sie zurückgeführt und sie die folgenden Jahrhunderte der Fremdherrschaft geduldig ertragen lassen. Und daß er nicht trog, hatte sich jüngst im Gang der Geschichte glänzend erwiesen. Als die Not am höchsten stieg und Antiochos Epiphanes Gott, sein Gesetz und seinen heiligen Tempel schändete, da war mit dem Schwert der Makkabäer die Freiheit erstritten und Gottes Heil sichtbar über sein Volk ausgegossen worden. In jenen Tagen hat Daniel in den Nachtgesichten den Sinn der Weltgeschichte geschaut und ihn seinem Nebukadnezar im Traum offenbar werden lassen. Er ist der Erste gewesen, dessen Geist alles Geschichtliche auf Erden als eine große Einheit begriffen hat, die nach einem göttlichen Plan einem letzten Ziel zustrebt, und seine Erkenntnis hat das Denken und Handeln der Menschen auf zwei Jahrtausende hinaus bestimmt. Was er an Bildern schaut und zeichnet, entstammt persischem Mythos1, aber die Deutung ist aus dem Geist jüdischer Religiosität geboren. Vier Weltreiche folgen einander in absteigendem Wert. Das letzte ist das der Makedonier, in sich uneins und ohne festen Zusammenhalt. Ihm gehört Antiochos Epiphanes an, der gegen die „Heiligen des Höchsten" einen Vernichtungskrieg führt und den Tempel besudelt. Aber dann wird Gott selbst eingreifen und sein Reich vernichten. Der „Alte der Tage" wird sich auf den Thron setzen, und in den Wolken des Himmels wird einer kommen wie eines Menschen Sohn; der wird von Gott Macht und Ehre und Königtum erhalten, und alle Völker und Zungen werden ihm dienen. „Das Reich und die Herrschaft.und Königsherrlichkeit unter dem ') Ed. Meyer Ursprung 2. 189 ff.

I 12

2. Das palästinensische Judentum

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ganzen Himmel wird also dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden, dessen Königtum ewig sein wird, und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen." Das „Reich Gottes" wird sich als Herrschaft Jsraels über alle Reiche der Welt verwirklichen, und der gottgesandte Messias wird König über sein, heiliges Volk sein1. Die Weltgeschichte spitzt sich zur Katastrophe zu, die durch göttliches Eingreifen ihren Abschluß findet und in ein neues Reich ausmündet, das in herrlicher Endvollendung die überschwängliche Erfüllung der Abrahamsverheißung seinem Volke bringen wird. So loderte in den ersten Tagen des Makkabäeraufstandes die Flamme der nationalen Begeisterung empor, genährt von dem unerschütterlichen Glauben an Gottes unwandelbare Treue, und beleuchtete mit flakkerndem Schein das apokalyptische Bild eines irdischen Paradieses. Die ungeahnte und ungewohnte politische Freiheit des folgenden Jahrhunderts hat diese Hoffnung immer fester in die Seelen geprägt und die Enttäuschungen des hasmonäischen Regiments so gut wie die plötzlich einsetzende Sklaverei der Römerzeit nur als Auftakt zum Endkampf werten gelehrt. An dem Druck der Gegenwart mußte sich die Katastrophe entzünden, die zur Offenbarung der Gottesherrschaft im messianischen Reich führte. In den Tagen, da Pompejus die Römerherrschaft aufrichtete, sind neue Psalmdichter erstanden und haben ihrem Volk Lieder geschenkt in Stil und Weise des alten „davidischen" Psalmbuches. Uns sind diese nach Salomo benannten Psalmen in griechischer Ubersetzung erhalten; eine unschätzbare Quelle des Glaubens und Hoffens jener Zeit. Wir hören darin die Stimme desFrommen, der in der Not derKriegsläufte zum Herrn schreit, der sich der Sünden und Laster seiner Volksgenossen schämt und Gottes Gericht als ein gerechtes anerkennt.Und alles das gipfelt in dem großen Messiaslied Ps. 17. „Herr, Du bist unser König für und für und Deiner wird sich unsre Seele rühmen. Was ist des Menschen Lebenszeit auf Erden? Sein Leben lang ist seine Hoffnung bei ihm. Wir aber ') Daniel 7, 9. 13. 27.

Der 17. Psalm Salomos

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hoffen auf Gott, unsern Heiland, denn die Macht unseres Gottes währet in Ewigkeit mit Barmherzigkeit, und sein Königtum geht über die Heiden. Du, Herr, hast David zum König über Israel erwählt und hast ihm geschworen von seinem Samen in Ewigkeit, daß sein Königtum nicht aufhören solle vor Dir. Aber um unserer Sünden willen haben sichSünder gegen uns erhoben und ein prahlerisches Königtum auf Davids Thron errichtet—die Hasmonäer sind gemeint — bis ein Fremder — Pompejus — kam und Gottes Strafgericht an ihnen vollzog. Der hat auch das Land von Einwohnern leer gemacht, Alt und Jung ins Exil geschickt nach dem fernen Westen; die Obersten des Volkes hat er beschimpft und Jerusalem wie eine eroberte Stadt behandelt. Denn da war keiner, der Gerechtigkeit und Recht tat vom Höchsten bis zum Geringsten im Volk: der König in Frevel und der Richter in Ungehorsam und das Volk in Sünde. Wie gescheuchte Vögel aus dem Nest, so flohen von ihnen die Freunde der „frommen Gemeinden" und irrten in der Wüste umher, um ihre Seelen vom Bösen zu retten — über alle Lande wurden sie zerstreut. Herr, sieh darein und erwecke ihnen ihren König, den Sohn Davids, zu der Zeit, die Du ersehen hast, ο Gott, daß er über Deinen Knecht Israel herrsche. Gürte ihn mit Stärke, daß er die ungerechten Herrscher zerschmettere. Reinige Jerusalem von den Heiden, die es wüste zertreten. Mit Weisheit und Gerechtigkeit soll er die Sünder aus dem Erbe vertreiben, mit seinem Drohen sie von seinem Angesicht wegscheuchen, und die Sünder mit der Stimme ihres Herzens sChelten. U n d er wird ein heiligesVolk um sich scharen und es in Gerechtigkeit regieren, und wird richten die Stämme des· Volkes, das der Herr, sein Gott, geheiligt hat. Und er wird kein Unrecht mehr unter ihnen nächtigen lassen, und wird unter ihnen niemand wohnen, der von Bosheit weiß. Denn er kennt sie, daß sie alle Söhne ihres Gottes sind, und wird sie nach Stämmen über das Land hin verteilen: und kein Beisasse und Fremdling wird mehr unter ihnen wohnen.

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Er wird die Völker und Heiden richten in der Weisheit seiner Gerechtigkeit. Und die Heidenvölker wird er unter seinem Joch halten, daß sie ihm dienen, und den Herrn wird er verherrlichen sichtbarlich vor aller Welt und wird Jerusalem reinigen in Heiligkeit, wie es im Anfang war, daß die Heiden von der Welt Ende kommen, seine Herrlichkeit zu schauen, und als Gaben darbringen seine in der Fremde krankenden Söhne. Sie werden schauen die Herrlichkeit der Herrn, mit der es Gott bekleidet hat. Er aber herrscht als gerechter König von Gott unterwiesen, über sie, und ist kein Unrecht unter ihnen in seinenTagen: denn sie sind alle heilig, und ihrKönig ist derMessias des Herrn. Der wird nicht auf Roß und Wagen und Bogen vertrauen, noch Gold und Silber zum Kriegsschatz häufen, und seine Hoffnung ist nicht die große Zahl am Tage des Kampfes. Der Herr selbst ist sein König, seine Stärke ist die Hoffnung auf Gott. Er wird alle Heiden vor ihm in Furcht versetzen. Denn er wird die Erde zerbrechen mit dem Wort seines Mundes ewiglich, er wird segnen das Volk des Herrn in Weisheit mit Freuden. Er ist rein von Sünde, daß er herrschen mag über große Völker, richten die Herrscher und vertilgen die Sünder mit der Macht seines Wortes. Und wird nicht schwach werden in seinen Tagen vor seinem Gott, denn Gott hat ihn stark gemacht durch seinen heiligen Geist, und weise zu klugem Rat mit Kraft und Gerechtigkeit. Der Segen des Herrn ist mit ihm in Kraft, und seine Hoffnung auf den Herrn wird nicht schwach werden. Wer vermag etwas wider ihn? Stark ist er in seinen Werken und gewaltig in der Furcht Gotjes; er weidet die Herde des Herrn in Treue und Gerechtigkeit und läßt keines unter ihnen Schaden nehmen auf ihrer Weide. Auf geradem Wege führt er sie alle und wird unter ihnen kein Übermut sein, daß einer den andern bedrücke. Also herrlich regiert der König Israels, den Gott ersehen hat, ihn zu setzen über das Haus Israel, daß er es leite. Seine Worte sind im Feuer geläutert mehr als das beste köstliche Gold, in den Versammlungen wird er die Stämme des geheiligten Volkes richten, seine Worte sind wie Worte der Heiligen inmitten geheiligter Volksscharen.

Das politische Messiasbild

I 15

Selig, die in jenen Tagen leben werden, daß sie Israels Heil schauen in der Versammlung der Stämme: daß Gott es bewirke! Ο daß Gott bald über Israel seine Barmherzigkeit bringe und uns rette von der Besudelung unreiner Feinde! Der Herr selbst ist unser König jetzt und immerdar!" Das ist die lebendige Messiashoffnung der Römerzeit: klar und scharf gezeichnet. Davids Stamm gilt die göttliche Königsverheißung: die Hasmonäer sind unberechtigte Eindringlinge, auch ihre Taten zeugen wider sie. Darum hat sie nach Gottes Willen Pompejus vertrieben. Aber auch das Volk selbst ist abtrünnig geworden und hat durch die römische Invasion gerechte Strafe empfangen. Jerusalem ist geschändet,sein Volk zerstreut ins Exil; auch die Frommen mußten in die Wüste fliehen vor dem unheiligen Wesen im Lande. Wenn Gott aber ihre Gebete erhören wird, bald, dann ersteht der Messias, der die Römer aus dem Lande jagt. Von einem Freiheitskampf nach Art des makkabäischen ist nicht die Rede: ein göttliches Wunder wird erwartet, das die Heiden vor dem Messias herscheuchen soll. Dann wird Jerusalem in alter Herrlichkeit neu erstehen; die zwölf Stämme werden Palästina wieder in ihren alten Grenzen bewohnen, die Verstreuten werden aus der Diaspora zurückkehren 1 , von ihren bisherigen heidnischen Bedrückern dem neuen Israel als Geschenk dargebracht. Und in dem wiedererstandenen Reich wird nur Israel wohnen — kein Heide, kein Grieche, kein Samaritaner: und dies Israel wird keine Sünder und Halbgriechen in sich bergen. Sie werden alle rein und heilig sein und ein glückliches Leben nach Gottes Willen unter dem von ihm erwählten gerechten und heiligen Messiaskönig führen. So wird sich die Königsherrschaft Gottes, das „Reich Gottes" in Israel verwirklichen. Die Heidenvölker dagegen werden Israel Untertan sein und ihm Tribut zollen; staunend werden sie die Herrlichkeit Israels bewundern, aber keinen Teil daran haben. Ihnen gilt keine Verheißung, und der Gedanke universalen Heiles liegt diesem Geschlechte fern. ') Vgl. Psalm. Salom. 11, 2 ff. 8, 34.

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Zu diesem Kern hat die Phantasie anderwärts noch mancherlei hinzugefügt. Man weiß, daß als Vorbote des Messias Elias oder Moses erscheinen wird, man malt sich die Herrlichkeit des neuen Jerusalems, die Pracht seines künftigen Tempels gern in bunten Farben aus und schildert die Glückseligkeit des Lebens im Gottesreich mit den Bildern paradiesischer Üppigkeit der Natur und der Lebensführung. Das bedeutet wenig. Bedeutsam aber ist die Frage, was die Gemeinden dieser Psalmisten „heilig" und „fromm" nennen. Klar ist, daß ihnen alles Paktieren mit den Heiden als schwerste Sünde erscheint: so ist die Masse des Volkes, die herrschenden Klassen voran, in der Hasmonäerzeit von Gott abgewichen und empfängt jetzt von den Römern den bösen Lohn dafür. Unzucht und Ehebruch, Lug, Trug und Habsucht sind die Kennzeichen dieses Abfalls, Beraubung des Tempels und Mißachtung der kultischen Satzungen bezeugen die Gottlosigkeit am schärfsten 1 . Dagegen ist der „Gerechte" beflissen, das Gesetz zu beobachten 1 . In seinem Hause häuft sich die Sünde nicht, denn er spürt ihr emsig nach und meidet sie nach Kräften. Und wenn ja einmal aus Unwissenheit ein Fehltritt geschah, so sühnt ihn der Fromme mit Fasten und Kasteiung 3 . So segnet ihn der Herr und vergibt ihm gerne, er züchtigt ihn, ohne ihn zu beschämen und hält alles schwere Übel von ihm fern 4 . Er beschert ihm bescheidenen Wohlstand, gleich fern von drückender Armut und von verführerischem Reichtum 5 . Gott hat ihn mit seinem Zeichen gesiegelt*: daran wird er beim jüngsten Gericht erkannt und gerettet. Während die Gottlosen zur Hölle fahren, erben die Frommen das ewige Leben 7 . Der Fromme erfährt die Gerechtigkeit Gottes an sich selbst in dem Lohn, der seiner Gerechtigkeit zuteil wird: er erkennt sie im täglichen Leben, das ihn umgibt, wie im großen Gang der Weltgeschichte" an dem Strafgericht, das früher oder später über alle Sünder hereinbricht. ») 8, 10—11. 4. 4—14. 2, 3 ff. 1,8. *) 14, 1. 10,5. >) 3,5—10. 3 ) 9,12—15. 13,6—9. ) 5,16—20. 16,12—13. 15, 8 vgl. 10 ') 3,13—16. 13,9—10. 8) 8,7—31. 9,3—9. 4

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Pharisäische Frömmigkeit

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Das ist typisch „pharisäische" Frömmigkeit. Schon in den alten Psalmen finden wir die Kreise der Frommen, die sich in stiller Gottinnigkeit von dem lauten und sittenlosen Treiben des Alltags fernhalten und von derFrivolitätdes„Kulturlebens" abgestoßen werden: sie wollen nicht mit den Gottlosen und Spöttern auf einer Bank sitzen und sinnen lieber über Gottes Gesetz Tag und Nacht. Im makkabäischen Aufstand sind diese Chasidim, d. h. Frommen, zeitweilig aus ihrer Zurückhaltung herausgetreten und haben das Schwert ergriffen und sogar am Sabbath gekämpft 1 . Aber als die religiöse Freiheit errungen war, haben sie der hasmonäischen Dynastie weitere Gefolgschaft verweigert und sind seit Johannes Hyrkan ihre grimmigen und dauernden Gegner geworden*. Das Zentrum ihres Denkens und Handelns ist das Gesetz, das in immer neuen Wendungen und Bildern als Israels köstlichstes Kleinod gepriesen wird. Und zwar gleitet der Nachdruck von seiner sittlichen auf die zeremoniale Seite: denn gerade die Kult- und Reinigungsvorschriften empfindet man als Schutzmauer gegen das ringsum brandende Meer des Heidentums. Aber auch innerhalb des Zeremonialgesetzes findet eine Differenzierung statt. Nicht der mit aller Pracht durchgeführte Tempelkult erfüllt das Herz dieser Frommen; zu viel kritische und skeptische Worte über den Wert vergossenen Bocksblutes stehen in Propheten und Psalmen zu lesen! Vielmehr wurde das Handeln des Einzelnen in der Erfüllung aller Gesetzesvorschriften das entscheidende Moment. Die Ritualfrömmigkeit wurde individualisiert. So führt nun das eifrige Bestreben zu restloser Durchführung aller Gebote dahin, daß eine sich immer mehr verfeinernde Kasuistik ausgebildet wird, die ihr lähmendes Netz über die gesamte Lebensführung des Frommen breitet. Vom ersten Erwachen am frühen Morgen bis zum Entschlummern in der Nacht ist er fortwährend gezwungen, Vorschriften zu be») 1. Makk. 2, 41. Jos. A. 12,276 f. 2) Jos. A. 13, 288—292. Schürer 1, 271 f. 2,473 f. Quellenstellen über die Pharisäer bei Schürer 2,449 bis 475. Billerbeck 4a, 334 ff.

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denken: seine Gebetspflichten sind nach Wortlaut, Zeit, Ort, Körperhaltung genau geregelt. Reinigkeitsvorschriften umgeben ihn allerorten und bestimmen Auswahl und Zubereitung der Nahrung, und die Heiligung des Sabbaths durch Arbeitsruhe wird bis in groteske Einzelheiten durchgeführt. Die Schulen der zu Jesu Zeit wirkenden berühmten Rabbinen Schammai und Hillel stritten darum1, ob man das Abendgebet stehend oder im Bett liegend sprechen müsse; welche Reihenfolge den Dankgebeten nach Tisch zukomme; ob man das zum Handabtrocknen benutzte Handtuch auf den Tisch oder auf das Sitzpolster legen müsse*. Am Sabbath* darf man keine Speisen kochen: aber darf man Wasser und Speisen am Sabbathabend auf dem noch brennenden Ofen warm halten? Wenn ein gelindes Stoppelfeuer brennt — ja, wenn aber mit Holz geheizt ist, muß erst Asche übergedeckt werden, da sonst Gefahr ist, daß die Speisen ins Kochen kommen könnten: so Hillel, während Schammai das Wärmen von Speisen in solchem Falle überhaupt verbietet und nur Wasserwärmen gestattet. Und darf man Speisen, die man vom Feuer genommen hat, wieder aufsetzen? Hillel sagt ja, Schammai nein. Darf man ein Ei essen, das von einer gesetzesunkundigen Henne an einem Feiertage gelegt ist? Schammai erlaubt es, Hillel nicht4. Und so geht es fort ins Unendliche und erfaßt alle Gebiete des privaten und öffentlichen Lebens. Diese Fülle der Einzelvorschriften wird von einer Generation zur andern weitergegeben und fortgebildet: die „Tradition" überwuchert den Kern der mosaischen Thora. In diesen Kreisen vor allen blüht die Schriftgelehrsamkeit auf, die sich die planmäßige Erforschung, in Wirklichkeit Weiterführung des Gesetzes zum Lebenszweck gemacht und den Traditionsstoff geschaffen hat, der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert als „Mischna", im fünften als „Gemara" niedergeschrieben worden ist. Aus diesen beiden Bestandteilen setzt sich das Gesetzbuch des Judentums zusammen, das als *) Sammlung der Stellen bei Schürer 2, 426, A. 38. *) Mischna Berachoth 1, 3. 8,1 ff. ') Mischna Schabbath 3,1. *) Mischna Jörn tob 1.1.

Pharisäer und Sadduzäer

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„Talmud" bezeichnet wird. Die in unsern Talmudtexten mit Namen zitierten Schriftgelehrten reichen bis in diese Römerzeit hinauf. Seit dem Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts begegnet uns der Name der Pharisäer, d. h. der Abgesonderten, für diese früher Chasidim genannten Kreise. Ob er daraus entstanden ist, daß sie sich einst in den Makkabäerkriegen von ihren bisherigen Genossen „abtrennten" oder weil sie sich als „Separatisten" von der großen Menge abgesondert hielten1, mag dahingestellt bleiben: vielleicht ist der Name überhaupt erst bei den Gegnern entstanden und nachher von ihnen akzeptiert worden. Jedenfalls charakterisiert die zweite Auffassung zutreffend ihre Stellung im Volksganzen. Nach zwei Fronten wirkt ihre Absonderung: gegen die sozial höher stehenden Aristokraten der alten Priesterfamilien, die Sadduzäer, und gegen den ungebildeten und religiös indifferenten Pöbel der Amhaarez. Die Sadduzäer* haben ihren Namen von einem Zaddok, und fraglich ist nur, ob es der salomonische Hohepriester ist, den das Alte Testament oft erwähnt* und als Stammvater einer bevorzugten Priesterfamilie feiert4, oder ob ein späterer Zaddok diesen Namen als Schulhaupt seinenAnhängern aufgeprägt hat. Aber sie sind keine Schule, sondern eher eine Kaste, und das spricht für die erste Ableitung. Jedenfalls sind die Sadduzäer in den hauptstädtischen Priesterfamilien zu Hause und besetzen die leitenden Stellen im Staatswesen: ihre politische Tätigkeit bringt sie mit den Lebensformen der griechischrömischen Kultur in Berührung und verursacht manche Konzession, die ihnen von den Pharisäern schwer verdacht wird. Das ist unter der Seleukidenherrschaft bedenklich weit gegangen und hat ihnen in der ersten Makkabäerzeit allen Einfluß gekostet. Aber seit dem Bruch der Pharisäer mit Johannes l ) E. Meyer 2,284. J. Jeremias Jerusalem 2,115. ') Billerbeck 4a, 335 ff., 348 ff. Schürer 2, 475 ff. ») 1. Kön. 2,35. «) Ezech. 40, 46. 44,15; auch Sirach hebr. 51.12.9 und in der Damaskusschrift 4,1—3. Hölscher bei Pauly-Wissowa 12, 2169. 2173. Staehelin ebenda 2. Reihe 1, 1691.

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Hyrkan kommen sie wieder ans Ruder und haben sich, mit einer kurzen Unterbrechung, gehalten, solange es ein jüdisches Staatswesen gab. In herodianischer Zeit mußte sich zu ihrem Schmerz ihre Anpassungsfähigkeit sogar den Forderungen der die öffentliche Meinung vertretenden Pharisäer anbequemen1. Josephus macht sich mehrfach* das Vergnügen, seinen Lesern von den „Philosophenschulen" der Juden zu erzählen, und bringt dabei allerlei über Pharisäer und Sadduzäer vor, was nach Philosophie schmeckt, aber geeignet ist, das Verständnis für den wirklichen Gegensatz zu erschweren. Wenn man das Tatsächliche auf eine einfache Formel bringen will, so ist es die, daß die Sadduzäer die überlieferte alttestamentliche Form des Judentums festhalten, aber die neuen Strömungen, die seit der Perserzeit eingedrungen sind, samt ihrer Ausgestaltung durch das rabbinische Schriftgelehrtentum verwerfen. Darum wollen sie von individueller Unsterblichkeit der Seele und einem Gericht nach dem Tode, von all den Engeln, Teufeln und Zwischenwesen der jüngeren Apokalyptik nichts wissen; darum lehnen sie aber auch die Weiterbildung des Gesetzes durch die Tradition der Pharisäer ab3. Sie bleiben beim alten Gesetz und wehren sich gegen Apokryphen und Talmud. Gegenüber den Sadduzäern sind die Pharisäer also in den ersten Zeiten die Träger einer freieren und lebendigeren Religiosität gewesen, die dem alten israelitischen Erwählungsglauben neue Ausdrucksformen fand. Aber die sich mehr und mehr verstärkende Richtung auf korrekte Gesetzeserfüllung führte zu einer wachsenden Verengung und einem Formalismus, der die Tiefe der prophetischen Überlieferung und die Innigkeit der Psalmenfrömmigkeit vergessen ließ und die Gefahr hochmütiger Selbstgerechtigkeit heraufbeschwor. Das Behagen, mit dem die Salomopsalmen das Bild des Gerechten und seiner von Gott anerkannten und belohnten Vortrefflichkeit zeichnen, gibt uns davon ein deutliches Zeugnis. Und noch eine andere Folge hatte diese minutiöse Gesetzespflege: die schrift') Jos. A. 18,17. Schürer 2,487 f. 13,171. 18,11—25. ') Jos. A. 13,297 f.

*) Jos. B. 2,119. 160—166. A.

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Pharisäer und Amhaarez

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gelehrten Rabbinen wurden die Führer der pharisäischen Gemeinden und bestimmten den in ihnen waltenden Geist. Das „Frommsein" wurde eine Technik, die sich immer feiner entwickelte und auf Gelehrsamkeit beruhte. Man mußte mühsam lernen, „gerecht" zu sein, und je tiefer der Fromme in die Geheimnisse talmudischer Kasuistik eindrang, um so höher stieg auch seine religiöse Vollkommenheit. Religion wurde eine Sache des geschulten Intellekts, der sich in Handlungen umsetzte: wer nicht befähigt war, die Leiter der Wissenschaft zu erklimmen, konnte nicht zum Ideal, ja nicht einmal zu einem auch nur leidlichen Maß von Frömmigkeit gelangen. Der Weg zur Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, war ihm verschlossen. Von seinem Standpunkt aus hatte der Schriftgelehrte für diese Ungebildeten nur Ablehnung und Verachtung: er schalt sie Amhaarez, d. h. Leute vom Lande 1 . Der heutige Bewohner einer Kulturmetropole gebraucht dieselbe Wendung in ähnlichem Sinne, wenn auch nicht gerade auf religiösem Gebiet. Beim Pharisäer schwingt dabei noch ein Anklang an die Bezeichnung der Heiden mit, und andrerseits ist auch kein Jerusalemer Aristokrat gegen diesen Titel gefeit, wenn er den Forderungen des Gesetzes nicht genügt. Die Absonderung ging so weit, daß der rechte Pharisäer den Verkehr, ja die Berührung mit den Amhaarez mied; konnte man ja doch bei ihrer mangelhaften Beobachtung der Gesetze nie wissen, ob sie oder ihre Kleider, oder die von ihnen berührten Dinge kultisch rein, und ob die von ihnen feilgebotenen Feldfrüchte korrekt „verzehntet" waren. Diese Gewißheit hatte der Fromme nur bei seinesgleichen, seinen „Chaberim" d. h. Genossen®, die sich in einem Bunde zu ritueller Observanz und levitisch-steuerlichcr Korrektheit förmlich verpflichtet hatten: sie, und sie allein, bildeten das wahre Israel, an dem Gott sein Wohlgefallen hatte. Bei allem Ernst des Strebens und unleugbarer Höhe des sittlichen Empfindens und Handelns hat diese innere Separation dem Pharisäertum doch seine charakteristischen Untugenden aut') Billerbeck 2,494. Schürer 2, 454. 468. -) Billcrbcck 2, 501. 509 ff. J. Jeremias Jerusalem 2, 116 ff.

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geprägt. Daß die Amhaarez die Verachtung der Pharisäer mit grimmigemHaß erwiderten, würde uns auch ohne die überlieferten Zeugnisse der rabbinischen Literatur 1 unzweifelhaft sein. Als dritte „Philosophenschule" neben den Pharisäern und Sadduzäern nennt uns Josephus* die Essener und preist sie wegen ihrer idealen Lebensführung; Philo widmet ihnen in einem seiner Traktate stoischen Inhalts eine begeisterte Schilderung*. Aber sonst hören wir kaum etwas über sie, vor allem nicht in den rabbinischen Quellen. Ihr Name „Chasajja" d. h. die Frommen ist aramäisch und entspricht genau dem hebräischen Chasidim, bringt sie also in Verbindung mit den Kreisen, aus denen wir auch die Pharisäer herleiten dürfen. Und es ist in derTat höchst wahrscheinlich, daß wir hier nur einen andern Sproß aus der gleichen Wurzel vor uns haben. Die Essener sind ein richtiger Mönchsorden, der in den Städten und vornehmlich den Dörfern Palästinas seine Klöster angelegt hat. Nach einjährigem Noviziat und einer weiteren zweijährigen Probezeit wurden die bewährt erfundenen Bewerber als Vollmitglieder aufgenommen und auf die Lebensführung der Gesellschaft und die Geheimhaltung ihrer Schriften und Lehren verpflichtet. Dann erst durften sie an den heiligen Mahlzeiten teilnehmen, die als zentrale Kulthandlung gewertet wurden. Wer in den Orden eintritt, verzichtet auf Eigenbesitz: er liefert seine Habe der Genossenschaft ab und desgleichen allen weiteren Verdienst seiner Arbeit. Dafür empfängt er alles, was er zu einem enthaltsamen Leben bedarf, in gesunden und kranken Tagen vom Orden. Daß es in dieser Gemeinschaft keine sozialen Unterschiede, keine Herren und Sklaven gibt, versteht sich von selbst. Auch auf die Ehe verzichtet der Essener: Frauen fehlen in diesem Bunde; nur eine besondere Sekte unter ihnen duldet die Ehe um der Fortpflanzung willen. Ihre Nahrung beschränkt sich auf die bescheidensten Mittel zur Sättigung, ihre Kleidung trägt die weiße Farbe des Lichtes. Reinheit ist das hervor') Billerbeck 2, 518 f.' =) Jos. B. 2,119—161. ') Philo omn. prob. 75—91 (6, 21—26); dazu s. Bousset Judentum 456, Schürer 2, 654. W. Bauer bei Pauly-Wissowa Suppl. 4, 426.

Die Essener

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stechende Gebot ihrer Lebensführung, und kultische Waschungen sind das täglich angewandte Mittel, die Unreinigkeit abzuspülen. Wer aus der unreinen Außenwelt in den Orden eintritt, muß sich baden; desgleichen der vollberechtigte Essener, der einen Novizen oder Probandus, geschweige denn einen Nichtessener, berührt hat; und vor dem Beginn des Mittagsmahles wäscht jeder seinen Leib mit kaltem Wasser und legt danach ein heiliges Festgewand an, das nach Beendigung der Mahlzeit wieder mit dem Arbeitsrock vertauscht wird. Moses und sein Gesetz steht bei ihnen hoch in Ehren, und den Sabbath feiern sie durch strenge Arbeitsruhe 1 . Aber die Tieropfer verwerfen sie und senden an ihrer Statt Weihgeschenke in den Jerusalemer Tempel*: ihre eigenen heiligen Gebräuche erscheinen ihnen als die besseren und wahren Opfer. Sie widmen sich vorwiegend dem Ackerbau und wollen von Handel, Schiffahrt und Kriegswesen nichts wissen*. Den Eid verwerfen sie, weil sie auch ohne dies grundsätzlich die Wahrheit sagen, 4 und so erscheinen sie sowohl dem Josephus wie dem Philo als Muster aller bürgerlichen und philosophischen Tugenden — der kritische Leser wird gut tun, die griechischen Retuschen von beiden Bildern zu entfernen. Was bleibt, ist das oben gezeichnete Leben einer jüdischen Sekte, die zahlreiche Beziehungen mit den Pharisäern hat, aber der alten Wurzel noch näher steht. In der Ablehnung des Opfers und der Betonung sittlicher Werte wirkt die Frömmigkeit der Propheten und mancher Psalmen weiter, die bei den Pharisäern zurückgedrängt ist. Die Geheimschriften und Engelnamen, von denen uns Josephus 5 meldet, zeigen die lebendigen Beziehungen zur volkstümlichen Apokalyptik und ihrer persischen Quelle: und diese letzte wird man auch für die Spuren einer Sonnenverehrung verantwortlich machen dürfen, die in einzelnen Zügen zutage treten'. Taufen und heilige Mahlzeiten sind die betonten Kult») Jos. B. 2,145. Philo omn. prob. 80 f. (6,23). Über die Lesungen Bousset Judentum 462, A. 3. 2) Philo omn. prob. 75 (6, 22). Jos. A. 18, 19. ') Philo omn. prob. 78 (6.22). 4) Philo omn. prob. 84 (6,24). Jos. B. 2,135. ») Jos. B. 2,142. 6) Jos. B. 2,128. 148.

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handlungen: ob man sie schon Sakramente nennen darf, muß fraglich bleiben. Aber man wird sich erinnern, daß auch bei den Pharisäern die rituellen Waschungen und die heiligen Mahlzeiten religiöser Genossenschaften eifrig gepflegt und in ihrem Ritual ausgebaut werden. So fremdartig uns auf den ersten Blick die Nachrichten über die Essener anmuten: bei näherer Untersuchung zeigt sich, daß sie durchaus in die Linie der uns bekannten religösen Entwicklung des palästinensischen Judentums eingefügt werden können. Welche Wurzel freilich ihr Mönchstum und ihre Askese hat, ist eine andere Frage, die in unserem Zusammenhang weder gestellt noch beantwortet zu werden braucht. Die Essener bieten uns einen eindrucksvollen Beweis dafür, daß die religiösen Strömungen des palästinensischen Judentums sich durchaus nicht in dem Schema erschöpfen, das uns in den rabbinischen Schriften entgegentritt und auch die Darstellung des Josephus beherrscht. Erst wenn man sich klargemacht hat, wie weit dieses Essenertum von dem siegreichen Pharisäismus des beginnenden Talmud entfernt ist, und daß es trotzdem nicht geächtet war, sondern ehrlich respektiert und weit verbreitet in Palästina lebte, gewinnt man das rechte Verständnis für die breite Fülle der Möglichkeiten religiöser Entfaltung jüdischen Geistes in jener Zeit. Die bindende Kraft der gemeinsamen Wurzel war auch in so disparaten Erscheinungen stärker, als die Schulweisheit zumeist wahrhaben will. Und der Vergleich mit Genossenschaftsbildungen der Diaspora, wie sie uns in der „Gemeinde des neuen Bundes" zu Damaskus oder den ägyptischen Therapeuten entgegentreten, verstärkt diese Erkenntnis der Mannigfaltigkeit der Ausbildung gleicher Keime. Vom Geiste palästinensischer Frömmigkeit zeugen ferner eine Anzahl Schriften, die in vorchristlicher Zeit entstanden ein mehr oder minder apokryphes Dasein jahrhundertelang geführt haben, vielfach auch von Christen übernommen und überarbeitet wurden und dann in Vergessenheit gerieten, bis moderne Forschung sie aus entlegenen Winkeln orientalischer

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Henochbücher

Bibliotheken wieder hervorzog. Da sind die Henochbücher, an denen mehrere Generationen wunderlicher Propheten von der Seleukidenzeit an bis in die Tage des Herodes gearbeitet haben. Wir sehen eine geschäftige Phantasie am Werke, biblische Urgeschichten in der von der rabbinischen Haggada her wohlbekannten Weise auszuschmücken und weiterzuspinnen. Der nach Genesis 5,24 in den Himmel entrückte Henoch gibtOffenbarungen über zahllose Geheimnisse: er durchwandert nicht nur Himmel und Hölle und berichtet, was er da geschaut, sondern weiß auch über Physik, Wetterkunde und Astronomie eihgehend zu belehren. Die ganze Märchenwelt des Orients liefert Bausteine zu dem Welt- und Himmelsbild, das sich da vor uns aufbaut, und deutlich werden die Fäden sichtbar, die von diesem Erzeugnis Palästinas nach Persien und Babylon leiten. Das Hauptinteresse der Henochpropheten ist aber doch der Ausgang dieser Welt, das Ende der Tage, das Gericht und das künftige Gottesreich. Und ihre Eschatologie ist ganz anders geartet als die pharisäisch-nationalistische der Salomopsalmen. Henoch knüpft direkt an Daniel an: er schaut in Bildern den Ablauf der Weltgeschichte bis zu ihrem vorbestimmten Ende, das durch ein Uberhandnehmen der Gottlosigkeit eingeleitet wird. Gottes Zorn offenbart sich in Verkehrung der Naturordnung1 und dem Gericht des Schwertes, und mit einer wundererfüllten Katastrophe geht dieser Aion zu Ende 2 . Gott kommt mit vielen Tausenden heiliger Engel zum Gericht": der Messias, jener von Daniel in den Himmelswolken geschaute Menschensohn, wird sich auf den Thron setzen und die Frevler richten 4 , die Toten werden auferstehen, und nach Vernichtung der Sünder wird diese Welt vergehen®. Ein neuer Himmel wird mit unsagbarem Glänze die „Heiligen, Gerechten und Auserwählten" aufnehmen, die mit den Engeln im Chor in der endlosen Ewigkeit des neuen Aions dem „Herrn der Geister" das dreimal Heilig singen*. Der messianische Gedanke und die Hoffnung auf das verheißene Reich sind ins Eschatologisch-

5

>) Henoch 80,2—6. *) 91,12—17. ) 51,1. 91,14. ·) 91,16. 39,5—13.

») 1,9.

«) 45,3—46,8.

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Apokalyptische transponiert und formen sich in mannigfachen Bildern, die ohne inneren, oft auch ohne äußeren Zusammenhang miteinander aufleuchtend in wirbelndem Reigen vor den Augen der Seher vorüberziehen. Ewige Seligkeit der e i n z e l n e n von Gott erwählten Heiligen ist das letzte Ziel dieser Frömmigkeit: der alte Klang von der Herrschaft des ganzen auserwählten V o l k e s verhallt in der Ferne. Die Henochbücher sind uns Zeugen einer kräftig individualisierten und jenseitig gerichteten, aber auch schwärmerisch phantastischen Religiosität, die wohl innerlich werbende Kraft, aber keine organisierenden Fähigkeiten hatte. Von Gemeinden oder Konventikeln ihrer Anhänger hören wir begreiflicherweise nichts. Aber jeder Versuch, die Vorstellungswelt der Henochschriften in einen auch nur lockeren systematischen Zusammenhang zu bringen, ist vergeblich: wie in einem Zaubergarten des Orients wächst alles wild durcheinander, den Besucher mit bunten Farben und schwülen Düften berauschend. Es gibt noch mehr solche Bücher: hier tritt dieser, dort jener Typ der Frömmigkeit stärker in den Vordergrund, in einem herrscht ethische Unterweisung, im andern haggadische Legendenbildung oder apokalyptische Geschichtsspekulation vor. Alle miteinander leisten uns den Dienst, die religiöse Lebendigkeit des jüdischen Volkes in seinem Heimatlande vor der Zeitenwende vor Augen zu führen. Aber keine Quelle meldet uns von den einfachen Leuten, die auf dem Lande, gleich weit von Schriftgelehrsamkeit wie von schwärmerischer Apokalyptik entfernt, schlecht und recht die sittlichen Forderungen Gottes im Sinne der Propheten zu befolgen streben und nach der Weise der Psalmisten auf Gottes Gnade hoffen 1 , die Armut und Niedrigkeit als ihr Erbteil empfinden, das ihnen die Anwartschaft auf Gottes besonderen Schutz verleiht 1 . Denn er lehrt die Elenden seinen Weg* und sein Messias wird dereinst beim Gericht die Armen und Elenden erretten 4 , die jetzt als ein kleines Häuflein Heiliger unter dem Druck der Gottlosen zu ihm seufzen5. So warten sie ') Mark. 15,43. Luk. 2,25.38. *) Psalm. Salom. 5,2.13. 10,7. 15,2. »)Ps.25,9. «) Ps. 72,2.4.12.13. s )Ps.l2,2.6.

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Die Stillen im Lande

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in Stille und Geduld auf das Kommen des Reiches Gottes. In der Politik machen sie keinen Lärm und Bücher schreiben sie nicht; Gelehrsamkeit liegt ihnen fern, und den Rabbinen verschwinden sie in der Masse der Amhaarez — wer sollte über sie berichten? Und doch ist bei ihnen der Wandel der Weltgeschichte entsprungen: in ihrer Mitte ist Jesus geboren und auf gewachsen.

Johannes der Täufer In den Tagen, da Herodes Antipas in Galiläa regierte (4 v.Chr. — 39 n.Chr.), trat ein Mann auf, der hieß Johannes: sein Kleid war aus rauhem Kamelhaar gewebt, um die Hüfte trug er einen ledernen Gürtel, und er nährte sich von Heuschrecken und dem Honig wilder Bienen. Der predigte, daß Gottes Gericht vor der Tür stehe und jetzt die letzte Frist zur Buße sei: wer seine Sünden bereue und sich bessern wolle, der möge zu ihm kommen und im Jordan die Taufe zur Vergebung der Sünden empfangen. Sein Bußruf wirkte gewaltig, und die Massen strömten zu ihm heraus, um ihn zu hören. E r hat sie grimmig gescholten: Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn verheißen, daß ihr dem drohenden Gotteszorn entrinnen werdet? Meint ihr, Gott werde euch schonen, weil ihr Abrahams Kinder seid, auf denen die Verheißung ruhe? Aus jedem Stein kann G o t t sich Abrahams-Kinder schaffen und ihnen die verheißene Gnade schenken. Euch rettet nur Umkehr und Buße, die man dann an euren Taten spüren muß. Schon liegt die A x t an des Baumes Wurzel: ist der Baum faul, so schlägt der Richter zu und wirft den abgehauenen Stamm ins Feuer. Da erschrak das Volk und fragte Johannes: Was sollen wir also nun tun? Und er gab ihnen zur Antwort: W e r zwei Röcke hat, gebe dem, der keinen hat, und wer Speise hat, tue desgleichen. Da kamen auch die Zöllner, um sich taufen zu lassen, und fragten: Meister, was sollen wir tun? Und er sagte ihnen: Nehmet den Leuten nicht mehr ab, als euch geboten ist! Da fragten ihn auch die Soldaten: Und was sollen wir denn tun? Und er sagte ihnen: Übt gegen niemand Gewalt und Bedrückung, und begnügt euch mit eurem Solde. Noch ist es Zeit, Buße zu tun: ich

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Der Bußprediger

taufe euch mit Wasser. Nach mir kommt der Gewaltige, dem ich nicht wert bin, gebückt den Sohlenriemen zu lösen: der wird euch mit der Feuertaufe des Gerichts vernichten. Schon hat er die Worfschaufel in der Hand, um seine Tenne zu reinigen. Den Weizen wird er in die Scheune sammeln, aber die Spreu wird er mit unauslöschlichem Feuer verbrennen. So erzählt uns die Volksüberlieferung, die in zwei verschiedenen Brechungen in den synoptischen Evangelien 1 erhalten ist, und zwar so vorzüglich erhalten, daß es nur geringer kritischer Arbeit bedurfte, um die wenigen Spuren christlicher Ubermalung zu entfernen. Die christliche Tradition hat früh versucht, Johannes als Wegbereiter Jesu zu begreifen. Sie hat seine Taufe mit dem christlichen Sakrament parallelisiert — das dann als Geistestaufe über der Wassertaufe des Johannes stand — und in dem von Johannes geweissagten „Stärkeren" Jesus gefunden: das hat seine Wirkung auch auf unsere evangelischen Texte gehabt. Aber diese Retuschen sind oberflächlich geblieben und haben alles Wesentliche des Traditionsstoffes unberührt gelassen. Ein scharf umrissenes Bild tritt uns vor die Augen. Ein Asket von äußerster Bedürfnislosigkeit. Solche waren im Palästina der Römerzeit nicht unerhört: Josephus hat selbst bei einem solchen drei Jahre zugebracht*. Aber er ist zugleich Bußprediger und Verkündiger des Gerichts. Die Messiashoffnungen wußten auch von einem messianischen Gericht zu künden: aber dies Gericht sollte sich auf die Heiden erstrecken und Jsrael auf den Thron heben. Dagegen hat sich seit den Tagen des Arnos der prophetische Geist gewendet und auch den Sündern im eigenen Volk Gottes Strafe angedroht: und so denken auch die „Frommen" in all ihren verschiedenen Gestaltungen. Volkstümlich blieb doch der Glaube an den Vorzug der auserwählten Kinder Abrahams, die durch die Beschneidung für Gott gezeichnet waren: und gegen ihn wendet sich die zürnende Predigt des Johannes. Was man in Apokalypsen lesen ») Mark. 1,2—8; Matth. 3,1—12 = Luk. 3,1—18. 11—12.

») Jos. Vita

Johannes der Täufer

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konnte und in ernster Sabbathpredigt gelegentlich hörte, das wirkte als elementares Ereignis, wenn es aus Prophetenmund durchs Land schallte. Denn die Probe stand vor der Tür: der Messias kommt, so lautet die Botschaft. Aber von messianischer Herrlichkeit und unausdenkbarem Glück ist keine Rede. Zum Gericht kommt der Gewaltige des Herrn, ein Feuer wird er anzünden für alle Sünder, sie zu vernichten. Mit der Höllenangst erschütterte die Predigt des Propheten die Seelen, um ihnen dann noch einen letzten Weg der Rettung zu zeigen: schleunige Buße und Besserung. In den Evangelien und bei Josephus wird übereinstimmend schlichte Rcchtschaffenheit der Lebenshaltung und Befolgung der göttlichen Sittengebote als das Entscheidende angegeben. Die Wassertaufe soll nach den Evangelien1 Vergebung der Sünden und Bußgesinnung bezeichnen, nach des Josephus* stilisierter Darstellung aber nicht die Abwaschung irgendwelcher Verfehlungen bedeuten, sondern die Heiligung des Leibes nach erfolgter Reinigung der Seele zum Ausdruck bringen. Sie steht jedenfalls im Gegensatz gegen die kultischen Reinheitsbäder des jüdischen Ritus, auch gegen die Bäder von Sekten wie der Essener; sie ist eine einmalige Handlung, die den Übertritt des Täuflings in eine neue Lebenssphäre der Gerechtigkeit bezeichnet. Das Auftreten des Täufers entspricht keineswegs dem apokalyptischen Schema. Der Gedanke einer letzten Bußfrist für Israel vor dem Hereinbrechen des Gerichts ist neu*, und nicht minder die Taufe, welche den Bußakt besiegelt. Man kann an Jesaias 1,16—17 erinnern:„Waschet, reiniget euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, laßt ab vom Bösen. Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, bändigt den Gewalttätigen, schaffet der Waise Recht, führet der Witwen Sache." Da haben wir eine Taufe mit ethischen Forderungen verbunden, die der johanneischen entsprechen: aber es fehlt die apokalyptische Perspektive. Diese ist aus Maleachi 3 zu gewinnen, wo von dem Engel geweissagt ist, der vor Jahve hergehen soll und „die l ) Mark. 1.4—5; Matth. 3.8 = Luk. 3,8. *) Jos. A. 18,117. vergleichen etwa Assumptio Mosis 1,18 „Tag der Buße".

») Zu

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Die Taufe

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Kinder Levi reinigen und läutern wird, wie Gold und Silber": darum fordert Gott Bekehrung 1 und verheißt dafür seine Gnade. Ehe der Tag erscheint, der „brennen soll wie ein Ofen", wird Gott den Propheten Elias senden, „der das Herz der Väter bekehre zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, daß ich nicht komme und das Land mit dem Bann schlage"1. Der Glaube an das Erscheinen des Elias — der also dem „Engel" gleichgesetzt wird — als des Vorboten des Messias ist in dieser Zeit durchaus volkstümlich gewesen' und hat dazu geführt, daß Johannes als ein Elias redivivus angesehen wurde4, und die Christen haben diesesMaleachikapitel als Schlüssel für das Verständnis des Johannes betrachtet*. Und wie ist diese Taufe zu verstehen? Josephus ist ein schlechter Gewährsmann, denn er hat die deutliche Tendenz, jüdische Dinge ins Griechisch-Philosophisch-Moralische zu übersetzen und sie dadurch seinen Lesern schmackhaft zu machen. Wir würden deshalb auch seinem Bericht über die Predigt des Täufers mißtrauen, wenn dieser nicht in vollem Einklang zu der evangelischen Uberlieferung stünde, bei der von moralisierenden Tendenzen keine Rede sein kann. Aber bei der Taufe liegt die Sache anders. Wenn Markus (1, 4) sie als eine „Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden" bezeichnet, so entspricht das dem Inhalt der übrigen Tradition und in gewissem Sinne dem prophetischen Sprachgebrauch: aber über das Wesen dieser Taufe erfahren wir doch nichts Rechtes dadurch. War die Taufe ein Symbol, wie sie Josephus schildert, oder war sie ein Sakrament, das durch seinen Vollzug die wunderbare Wirkung herbeiführte und den Sünder reinigte — wie es die Taufe der christlichen Kirche ist? War sie etwa der Proselytentaufe gleichzustellen, die den Heiden beim Übertritt zum Judentum die Unreinheit abwusch und sie mit kultischer Reinheit dem Volke Gottes eingliederte? Man hat dies letztere bejaht* und eine furchtbare Paradoxie darin erblickt, daß Jo») Mal 3,7. «) Mal. 3,19.23.24. *) Bousset Judentum 232. *) Mark. 6,15. 8,28. «) Matth. 11,14. 17,12.13; Mark. 1,2. «) H. Schaeder im Gnomon 1929, 367. J. Leipoldt, Urchristl. Taufe im Lichte d. Religionsgesch. 27. Billerbeck 1,102 ff.

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Johannes der Täufer

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hannes den auf ihr Volkstum stolzen Israeliten ansinnt, sich wie schmutzige Heiden erst rein taufen zu lassen, ehe sie zu Gott kommen können: was doch vor lauter Paradoxie nicht einleuchtend ist. Es bedarf schwerlich solcher Umwege, um es begreiflich zu machen, daß Johannes die Taufe zur zentralen Handlung seiner Tätigkeit machte. Er will seine Hörer ja gar nicht in eine neue Religionsgemeinschaft aufnehmen, sondern sie reinigen und entsühnen, ehe das Gericht und mit ihm die neue Zeit kommt. Und da ist der Ritus des Abwaschens der Sünde mit Wasser in Israel seit alter Zeit geläufig, ja noch weiter verbreitet als bei andern Völkern. Daß sich aber mit der Johannestaufe auch sakramentale Vorstellungen verbanden, wird durch unsere Quellen in keiner Weise wahrscheinlich gemacht. Johannes hat auch Jünger um sich gesammelt: wir hören, daß sie fasteten und in diesem Punkte mit den Pharisäern in Einklang waren 1 ; an einer andern Stelle1 wird uns berichtet, daß sie von ihrem Meister beten lernten, d. h. feste Gebetsformen überliefert bekamen. Aber was sonst in diesem Kreise gedacht, gelehrt, getan wurde, bleibt uns völlig verschlossen. Nur das Ende erfahren wir. Die wachsende Macht des Propheten über das Volk wurde dem Antipas unheimlich und er fürchtete Unruhen. Darum ließ er den Johannes in die blutige Zwingburg Machärus — nicht weit vom Ostufer des Toten Meeres — bringen und dort in aller Heimlichkeit töten'. Im Volk erzählte man sich die schöne, aber grausige Geschichte, die das Markusevangelium (6, 17—29) den Lesern, Dichtern und Malern der Folgezeit aufbewahrt hat. Nach des Meisters Tode hat seine Schule noch eine Weile bestanden. Das dürfte aus der indirekten Polemik des Johannesevangeliums und den Täuferlegenden im Evangelium 4 hervorgehen. Aber bald ist ihre Spur verloschen, und wir hören nichts mehr von Johannesjüngern. ») Mark. 2.18. ') Luk. 11,1. ') Jos. A. 18,119. 4 ) M. Dibelius Jungfrauensohn 1—11. Die Nachricht Clem, recogn. 1,. 54, 60 ist wertlos; auch in der Apg. 18, 25. 19,1 ist nicht von Johannesjüngern die Rede, vgl. S. 56.

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Johannes jünger

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Wirklich nicht? Legen nicht die zahlreichen Schriften der Mandäer von dem Fortleben der Johannesjünger durch alle folgenden Jahrhunderte Zeugnis ab, und ist nicht diese Täufersekte des südlichen Babyloniens bis zum heutigen Tage ein ehrwürdiger Rest der Johannesbewegung herodianischer Zeit? Das wird heute von vielen und gewichtigen Stimmen behauptet: und wer die Mandäerschriften als Quellen verwertet, kann ein reizvolles Bild der geistigen Mächtigkeit entwerfen, die von Johannes ausgehend die Religion des Judentums und vor allem Jesus und seine Jünger beeinflußt hat. Der Kreis des Johannes erscheint dann als Pflegestätte einer frühen Gnosis, die babylonische, persische und syrische Elemente in buntem Gemisch mit jüdischer Grundlage verband und um den altiranischen Mythos vom Urmenschen gruppierte, jenem Erlöser, der vom Himmel herniedersteigt, um die in den materiellen Fesseln dieser Welt eingeschlossene und eingeschlummerte Seele zu wecken und ihr den Weg zum Himmel zu erschließen. So bestrickend diese Auffassung ist, und so ungeahnte Perspektiven sie auch für ein neues Verständnis des Urchristentums in Aussicht stellt: wir müssen restlos auf sie verzichten. Es läßt sich zeigen1, daß die mandäischen Schriften aus verschiedenen und zeitlich stark auseinanderklaffenden Schichten bestehen. Und der jüngsten dieser Schichten, die in islamische Zeit — also frühestens ins 7. Jahrhundert— fällt, gehören die Erwähnungen Johannes des Täufers an: sie sind auf Grund der evangelischen Berichte geformt und ins Groteske verzerrt. Und ebenso sind die vielfachen Ausfälle gegen Jesus und das Christentum mit völliger Deutlichkeit gegen das bvzantinische Kirchenwesen gerichtet und haben nicht das geringste mit dem Urchristentum zu schaffen. Was als ältere Schicht übrig bleibt, gehört einer wild ins Kraut geschossenen orientalischen Gnosis an, die man mit Johannes und seinen Jüngern nicht in Verbindung bringen darf. ») Sitzungsber. Akad. Berlin 1930, 596—608. C. H. Journ. of Amer. Orient. Soc. 49, 195 ff.

Kraeling

Jesus Und nachdem Johannes ins Gefängnis geworfen war, kam Jesus nach Galiläa und predigte die Botschaft Gottes: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubet der Botschaft. So erzählt unser ältester Bericht bei Markus 1, 14 vom Auftreten Jesu: die neue Weltperiode hebt an. *

Haben wir denn aber wirklich zuverlässige Nachrichten über Jesus? Reichen unsere Quellen aus, um ein Bild des historischen Jesus zu zeichnen? Oder müssen wir uns mit dem Mythus der Urgemeinde begnügen und den „historischen" Jesus ins Gebiet des Nichtwirklichen oder wenigstens Nichtfaßbaren verweisen? Dogmatischer Radikalismus urteilt heute gern so, und der leidenschaftliche Wille hat auf antikirchlicher, wie auf kirchlich sein wollender Seite mehr als einmal dazu geführt, daß man die Schwierigkeit der zu leistenden historischen Arbeit für den Erweis ihrer Unmöglichkeit nahm, dem verhaßten Historismus den Rücken wandte und mit befreitem Aufatmen die Gefilde reiner Spekulation betrat. Aber Tatbestände haben ihr eigenes Schwergewicht und fordern ihr Recht von ernster Wissenschaft: sie setzen sich durch und behalten schließlich das Feld. Unsere Quellen über Jesu Worte und Taten sind freilich von der christlichen Gemeinde geformt: wir können die Arbeit der ältesten Christenheit deutlich an ihnen wahrnehmen, so deutlich, daß wir sie vielfach zur Charakteristik der Meinungen und Hoffnungen eben dieser Gemeinde verwerten dürfen. Aber durch die umgestaltende Tätigkeit der Überlieferung hindurch sehen wir

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Die Quellen

weithin das echte Gestein zuverlässiger Kunde, auf dem der Historiker aufbauen kann — wenn anders er die Quellen des Urchristentums nach der gleichen Methode behandelt, wie alle anderen Quellen auf dieser Welt. Das heißt aber, daß er ihnen gegenübersteht als erfahrener und unparteiischer Richter, nicht als grundsätzlich mißtrauischer Ankläger. Es gibt nur e i η e historische Methode: wenn von besonderen Methoden religionsgeschichtlicher, legendenkritischer, formgeschichtlicher, kultgeschichtlicher Art gesprochen wird, so sind das in Wirklichkeit nicht neue Methoden, sondern neue Gesichtspunkte, die geeignet sind, einander zu ergänzen und das Handwerkszeug der einen historischen Methode zu verbessern. Vereinzelt richten sie leicht Schaden an. Unser Wissen um Jesus schöpfen wir fast ausschließlich aus den drei ersten Evangelien. Von diesen ist das älteste das Markusevangelium, das zum Verfasser wohl den im 1. Petrusbrief 5,13 genannten Paulusschüler Markus hat, von dem die Apostelgeschichte mehrfach berichtet. Es ist bald nach dem Jahre 70 verfaßt, hat aber bereits ältere schriftliche Quellen benutzt, die sich freilich nicht sauber herauspräparieren lassen und nur gelegentlich deutlich erkennbar werden. Die beiden anderen Evangelisten haben den Markus ihrer Darstellung zugrunde gelegt und seinen Text fast vollständig übernommen, natürlich auch jeder in seiner Weise stilistisch und sachlich überarbeitet. Daß die von ihnen benutzten Markushandschriften manche Varianten gegenüber dem uns erhaltenen Text aufweisen, ist nicht verwunderlich und sollte nicht Anlaß zu weiterer Hypothesenbildung geben. Beide haben aber noch eine zweite Quelle herangezogen, die als gemeinsamer Überschuß über den Markustext in beiden Evangelien klar zutage tritt und für diese Strecken auch innerhalb gewisser Grenzen rekonstruiert werden kann 1 . In der uns greifbaren Form stammt auch sie aus der Zeit nach 70: sie war griechisch geschrieben und enthielt vornehmlich Reden und Sprüche des Herrn. Wir nen' ) Vgl. A. v. Harnack, Sprüche u. Reden (Beitr. z. Einl. ins Ν . T. II). 1907.

I 36

4. Jesus

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nen sie deshalb die Logienquelle und haben guten Grund, sie in ihrer ältesten aramäischen Gestalt auf den Apostel Matthäus zurückzuführen, der uns als Verfasser einer solchen Schrift genannt wird 1 . Sie scheint in ihrer Uberlieferung stärkeren Wandlungen ausgesetzt gewesen zu sein als der Markustext, und eine schwer zu beantwortende Frage ist die, ob auch Redestücke aus ihr stammen, die nur bei Matthäus oder bei Lukas überliefert sind: besonders der letztere ist durch reichliches und wertvolles Sondergut ausgezeichnet, für das man gern eine besondere Quelle ansetzen wird. Daß außer diesen schriftlichen Quellen auch in derselben Zeit noch mündliche Überlieferung eine Rolle gespielt und einzeln umlaufende Geschichten hier und da zugefügt hat, muß in Rechnung gestellt werden. Die uns unmittelbar oder durch einfache kritische Operation erreichbaren schriftlichen Quellen stammen demnach aus den siebziger Jahren des ersten Jahrhunderts. Von ihnen aus gelangen wir zu einer vor 70 liegenden Schriftstellerei. Und diese beruht wiederum auf mündlicher Tradition der ersten Jüngergeneration, die also in letzter Linie als der Boden erscheint, auf dem alle unsere Kunde von Jesus gewachsen ist. Eine solche Tradition pflegt aber eine Uberlieferung von Einzelstücken zu sein, die jedes für sich umlaufen und erst von Sammlern unter Gesichtspunkten zusammengestellt werden, die dem Stoff von Hause aus fremd sind. Um die Erkenntnis des Werdens und Wachsens dieser in ihre Urbestandteile aufgelösten Tradition, um die Abschätzung der Kraft des Elements der Treue gegenüber dem Streben nach Umbildung und Neuschöpfung geht heute vornehmlich die wissenschaftliche Diskussion. An dem uns vorliegenden Stoff können wir beobachten, wie die Wünsche, die Bedürfnisse und die theologischen Meinungen innerhalb der Gemeinde eine Geschichte, einen Spruch, ein Gleichnis fortbilden und zuweilen so umgestalten, daß der Uneingeweihte es nicht wiedererkennt. Ja, wir sehen die religiöse Phantasie völlig Neues ins Leben rufen, das dann wieder den gleichen Gesetzen der Fortentwicklung unter') bei Euseb KG. III 39, 16 durch Papias.

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Methode der Forschung

liegt. Und von dem, was wir sehen, schließen wir auf die Urgeschichte des übrigen Stoffes, indem wir dieselben Kräfte als auch früher schon wirksam annehmen und die Frage auf werfen, was sie in der literarisch nicht mehr faßbaren Zeit schaffend und umbildend an der Geschichte von Jesus gewirkt haben mögen 1 . Bei dieser Arbeit werden gern Analogien aus verwandten Gebieten herangezogen, um die Augen zu schärfen. Für die Sprüche Jesu bieten sich als willkommene Parallele die zahllosen Rabbinensprüche dar, welche in jüdischer Tradition jahrhundertelang von Mund zu Mund, von Schule zu Schule weitergegeben worden sind und schließlich in Mischna und Gemara des Talmud oder in den Kommentaren zur Bibel ihre schriftliche Fixierung gefunden haben. Die Analogie ist um so wertvoller, als auch sie nicht aus „historischem" Interesse im Gedächtnis bewahrt wurde, sondern ais autoritativeBelege für theologische Entscheidungen oder als Richtlinien für das Leben derFrommen. Bei denMönchen des 4. Jahr hunde rts können wir ähnliche Spruchtraditionen beobachten, die sich in den verschiedenen Sammlungen von „Apophthegmen" der Väter niedergeschlagen haben 1 . Gelten diese Parallelen für die Spruch- und Redentradition, so ist für die Entwicklung der Erzählungen von Taten und Erlebnissen Jesu die Heiligenlegende eine vorzügliche Quelle lehrreicher Analogien, wenn man es versteht, die wirklich vergleichbaren, d. h. historisch gut fundierten Texte aus der Schar des Phantastischen oder Konventionellen auszuwählen. Denn auch hier handelt es sich um mündliche Tradition, die schriftlich fixiert worden ist, aber nicht als Literatur im höheren Sinn gelten kann, sondern der Weise der Volksbücher entspricht. Und eben das ist auch bei den Evangelien der Fall, und in der Formung der evangelischen Geschichte haben dieselben Gesetze gewirkt, die auch sonst für die Gestaltung volkstümlicher Erzählung von Taten und Wundern großer Gottesmänner zu gelten pflegen. Hier können mit Nutzen auch aus anderen Religionsgebieten Beispiele herangezogen werden. Das Entschei*) Grundlegend ist R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition«. 1931. *) W. Bousset, Apophthegmata 1923.

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4. Jesus

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dende ist letztlich, daß der Forscher vor lauter Freude an der Form und ihrer Wandlung nicht den gesunden Sinn für das Mögliche, Wahrscheinliche, Wirkliche des Inhalts verliert. Unfehlbare Anweisungen für solche Urteile gibt es nicht, und alle historische Forschung ist im tiefsten Grunde eine Kunst, die — wie jede Kunst — primär zwar in den Qualitäten des Individuums begründet ist, aber durch planmäßige Schulung, reiche Erfahrung und immer neue Betätigung auf mannigfachen Gebieten bis zu einem hohen Grade von Treffsicherheit ausgebildet werden kann. • Jesus ist in dem kleinen galiläischen Ort Nazareth aufgewachsen, vermutlich auch geboren. Sein Vater Joseph muß früh gestorben sein: wir hören immer nur von seiner Mutter Maria. Er hat vier Brüder gehabt, deren Namen uns überliefert sind, Jakob, Joses, Juda, Simon, dazu mehrere Schwestern. Von Beruf war er Zimmermann1. Aber es hat ihn nicht bei den Holzbalken, bei Säge und Beil gelitten, sondern der Geist trieb ihn hinaus in die Einsamkeit. Als die Predigt Johannes des Täufers erscholl, ist er zum Jordan gepilgert und hat sich taufen lassen: aber danach führte ihn der Geist in die Wüste, und er hat da mit Gott und dem Teufel betend gerungen. Zu Hause hat man sein wunderliches Wesen kopfschüttelnd betrachtet und ihn endlich für verrückt erklärt: als er vollends anfing Aufsehen zu erregen und das Volk sich um ihn drängte, zog die besorgte Familie aus, um ihn festzunehmen und der Schande ein Ende zu machen'. Er hat die Tragik des Einsamen, den Gott gewaltsam zu seinem Dienst aus aller Liebe und Freundlichkeit dieser Welt herausreißt, mit bitterem Weh gefühlt, aber das göttliche Muß tapfer bejaht. Wie eine heroische Umkehrung aller Natur klingt sein herbes Wort': Wenn einer zu mir kommt und nicht haßt seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, ja sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein. Als Johannes der Täufer im Gefängnis verschwunden war, kam Jesus aus der Wüste zurück in seine galiläische Heimat4 "TMäik. 6,3. l ) Mark. 3,21.31. J ) Luk. 14,26, gemildert bei Matth. 10, 37; vgl. Luk. 11, 27. 28. *) Mark. 1.14.

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Die Predigt

und nahm die Predigt des stumm Gemachten wieder auf. Aber in seinem Munde klang sie anders. Er schreckte die Hörer nicht scheltend mit der Feuerflamme des drohenden Gerichts, wenn er vom Kommen des Reiches Gottes kündete; er redete lieber von Gott und der Art seiner Herrschaft. Auch ihm steht der Umschwung der Zeiten vor der Tür: noch die Menschen dieser Generation werden es erleben, daß das Reich mit Macht kommt 1 . Da wird alles Leid getröstet, jede Träne getrocknet werden, und wer jetzt um des Reiches willen geopfert hat, was ihm lieb war, dem wird es wohl belohnt werden 1 . Aber es gilt, sich selbst recht auf diese Gottesherrschaft vorzubereiten — und da genügt die einfache Moralpredigt des Johannes nicht. Wie ein Schatz im Acker den glücklichen Finder, eine köstliche Perle den Kaufmann lockt, so zieht das Gottesreich alles Begehren auf sich. Der ganze Mensch soll sich unter den Willen Gottes stellen und seinem Ruf folgen, Familie, Freunde, Hab und Gut hinter sich lassen: wer die Hand an den Pflug legt und zurückblickt, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes'. Wenn es gilt, den Willen Gottes auf Erden so zu tun, wie er im Himmel ausgeführt wird, so ist das ein gewaltig großes Ding und reißt alles Irdische auseinander. „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde; ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert." Zwist wird in der Familie, Feinschaft im Hause sein — so predigte er', und hatte es selbst erfahren. Das Volk drängte sich um ihn und hörte gefesselt zu, viele liefen ihm nach, wenige sind bei ihm geblieben und seine Jünger geworden — die ersten waren zwei Brüderpaare, Fischer vom See Genezareth: Simon und Andreas, Johannes und Jakobus. Aber er predigte nicht nur, er tat auch Wunder und bezeugte dadurch den göttlichen Ursprung seiner Sendung: und die Kunde von seinen Taten lief schneller um als der Inhalt seiner Predigt, sie wuchs und breitete sich im Volke aus. Gelähmte, Epileptische, Tobsüchtige waren auf sein Geheiß genesen, die bösen Geister waren der Gottesmacht gcwichen. l

) Mark. 9,1.

') Mark. 10,30.

») Luk. 9,62.

4

) Matth. 10,34.

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Jesus

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Lahme und Blinde, Taube und Stumme, ja selbst Aussätzige hatten seine Heilkraft gespürt. In einem Ort hatte er gar ein zwölfjähriges Mädchen, in Nai'n einen Jüngling vom Tode erweckt. Es ist zwecklos, mit mikrologischer Pedanterie aus den einzelnen Wunderberichten der Evangelien „historische Kerne" herausschälen zu wollen, selbst wenn es hie und da zu gelingen scheint. Daß Jesus Wunderkraft besessen und Wunder— im antiken Sinne verstanden — getan hat, wird heute kein Urteilsfähiger mehr bezweifeln; und wichtiger, als trokkene Protokolle es sein könnten, sind dem Historiker unsere in vielerlei Brechungen schillernden volkstümlichen Berichte, die den Reflex seines Tuns in den Menschenseelen zum Ausdruck bringen. Ein Prophet mächtig von Taten und Worten war erstanden, ausgerüstet mit der Wunderkraft des Elias — war es nicht Elias selbst, der als Vorbote des Messias wiederkommen sollte? oder war Jesus gar der Messias, der das Reich Gottes seinem Volke bescherte? Nein, klang es von der anderen Seite: es ist ein falscher Prophet und hat einen Pakt mit Beelzebul, dem obersten der Teufel, gemacht: so müssen ihm freilich die Dämonen gehorchen. Wie könnte wohl der Satan so sein eigenes Reich zerstören? fragt Jesus dawider; aber wenn ich wirklich durch Gottes Finger die Dämonen austreibe, dann merket, daß das Reich Gottes zu euch gekommen ist 1 . So ist ihm seine Wunderkraft eine herrliche Gottesgabe und zugleich Bürge für die Wahrheit seines Evangeliums vom Gottesreich. Der gefangene Johannes hat von den Taten dieses seines Nachfolgers und den Meinungen des Volkes über ihn gehört und schickt zu ihm mit der Frage: Bist du der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten? Denn sein Wirken stimmte schlecht zu der feurigen Gerichtsweissagung des Täufers. Die Antwort klang zurück, mit den Worten des Jesaias geformt: Die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt — die geweissagten Zeichen der *) Matth. 12,28 = Luk. 11,20.

Dazu Bultmann, Tradition« 174.

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Wunder und Reich Gottes

I 41

Endzeit sind da: selig ist, wer sich nicht an mir ärgert 1 . Und wer sagen die Leute, daß ich sei? hat er später* seine Jünger gefragt, und Petrus gab die Antwort: Du bist der Messias. Und Jesus wußte, daß er die Wahrheit sprach. Das Reich Gottes stand nicht bloß vor der Tür, es war schon da. Wie ein Bröckchen Sauerteig lag es im Backtrog und würde bald den ganzenTeigdurchsäuerthaben. WieeinSenfkornwares in dieErde gelegt und schickte sich an zu keimen und zumBaum heranzuwachsen. Und das alles war ein großes göttliches Wunder: wem Gott es geheißen hat, der streut den Samen aus. Aber dann keimt und sproßt er von selbst' und schießt in die Halme und trägt Frucht — und schließlich kommt der Tag der Ernte, das Gericht und die herrliche Endvollendung. Hier wächst noch allerlei Unkraut mit dem Weizen fröhlich auf, und das soll auch nach Gottes Willen so sein: beim Endgericht erst wird die Spreu mit Feuer verbrannt. Ihr braucht nicht zu stehen und nach dem Reich Gottes auszuschauen 4 und zu lauern, ob euch einer sagen wird, hier ist es oder da kommt es: es ist mitten unter euch! Das ist die neue, erstaunliche und befremdliche Botschaft, das Paradoxe in der Predigt Jesu, das zu seiner Zeit dem Volk und heute den Gelehrten nicht eingehen will. Jesus wußte wohl in den Farben prophetischer Apokalyptik vom Gottesreich und seiner Herrlichkeit als von einem zukünftigen Heil zu reden, dessen Eintritt freilich niemand berechnen könne, da es der Vater sich ganz allein vorbehalten habe'. Aber das war eben die volle Offenbarung des Reiches in seiner letzten Entfaltung, der die von den Propheten geweissagten Zeichen vorangingen: das war das Kommen des Reiches „mit Macht". Da würde auch der Messias auf den Wolken des Himmels erscheinen und seinen Thron inmitten des erneuten Israel aufrichten. Aber es kam nicht minder wirklich schon in der Gegenwart, und derMessias ging unscheinbar durchs Land, nur vom Glanz der Wundertaten umleuchtet und kenntlich ge«) Matth. 11,2—6 = Luk. 7,18—23. ') nämlich nach dem Tode des Johannes, Mark. 8, 27—29. ») Mark. 4. 26—29. 4 ) Luk. 17 20—21. 5 ) Mark. 13,32: das war jüdische Lehre.

I 42

4. Jesus

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macht, und sammelte die ersten Bürger des Reiches um sich. Der neue Äon hatte schon begonnen, ehe der alte zusammengebrochen war—das Schema von Raum und Zeit versagt überall, wo echteProphetenbotschaft von göttlicher Wirklichkeit kündet. Die Volksphantasie erbaute sich mit Vorliebe am Ausmalen der Pracht und Freuden des Gottesreiches auf Erden und im Himmel, und auch Jesu Jünger wollten gern Antwort auf die Frage haben, wer in der künftigen Tafelrunde rechts und links vom Messias sitzen werde 1 . Jesus hatte Wichtigeres über das Gottesreich zu verkündigen. Zunächst einmal, daß die in pharisäischen Kreisen eifrig gepflegte korrekte Gesetzlichkeit nicht ausreiche, um ihm anzugehören; denn Gott begnügt sich nicht mit der äußerlichen Erfüllung der Gebote, er fordert volle Hingabe des Herzens bis auf "seinen tiefsten Grund. Jesus nimmt das alttestamentliche Wort auf*, daß man Gott lieben müsse von ganzem Herzen und seinen Nächsten als sich selbst, aber er zieht aus ihm auch die letzten Konsequenzen der Verinnerlichung: die Bergpredigt stellt dafür klassische Beispiele zusammen. Und wenn er mit dem Gebot der Feindesliebe dem natürlichen Empfinden, mit dem Verzicht auf Vergeltung und dem Verbot des Schwörens und der Ehescheidung sogar dem Wortlaut der mosaischen Gesetze entgegentritt, so weiß er sich als den Verkünder des Gotteswillens und kümmert sich nicht um das Entsetzen der Gesetzeshüter. Fasten und rituelles Gebet gilt ihm wenig: mit Gott soll man in Einsamkeit reden. Und die Sabbathruhe scheint ihm verwerflich, wenn sie Werke der Nächstenliebe, ja auch nur gewöhnliches Essen und Trinken hindert. Zu alle dem finden wir hin und her in den überlieferten Worten der Rabbinen mancherlei Parallelen. Aber es bleibt bei vereinzelten Ansätzen, die immer wieder in das Meer der Gesetzlichkeit zurückgeleitet werden. Bei Jesus ist das Leben mit Gott wie ein breiter Strom, der alles überflutet und jeden Damm hinwegschwemmt: es gibt nichts, was von seinen Wogen nicht bedeckt würde. Und aus ihm quillt alles, was die Menschen Gerechtigkeit, Tugenden, gute Werke nennen. ») Mark. 10,37. ») Mark. 12,29—30.

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Das Gottesreich

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Der Jude stellt sich Gott als gerechten Richter vor, der über alle Taten der Menschen genau Buch führt und entsprechend vergilt. Er weiß freilich auch von Barmherzigkeit, die Gott seinen Lieblingen durch Vergebung ihrer Sünden widerfahren läßt, und hofft, daß seine guten Werke den gerechten Lohn, seine Sünden göttliche Nachsicht erhalten werden. Auch Jesus hat nicht selten in der Weise der Volksfrömmigkeit vom Lohn gesprochen, der im Reiche Gottes die Entsagungen und Leiden dieser Welt vergelten wird. Aber wenn er das letzte Geheimnis des Gottesreichs enthüllt, sinkt der Lohnbegriff in Nichts zusammen. Gott ist gleich dem Herrn, der zu verschiedenen Stunden des Tags Arbeiter für seinen Weinberg gedungen hat 1 , aber allen den gleichen Lohn auszahlt und das Schelten der Unzufriedenen kühl abweist: Ihr Ersten habt bekommen, was vereinbart war — seht ihr darum scheel, weil ich gegen die Letzten gütig bin? Im Reich Gottes ist alle Gerechtigkeit nichts anderes als göttliche Gnade. Und wenn ihr alle Gebote erfüllt habt, so habt ihr nur eure Schuldigkeit getan und habt noch immer keinen Anspruch auf Belohnung, sondern seid unnütze Knechte! Im Talmud 1 steht die Antwort zu lesen, die das Judentum diesem Gottesbild widmete: wir finden dasselbe Gleichnis, aber es hat einen anderen Schluß. Auch hier hat ein Arbeiter nur zwei Stunden gearbeitet und doch den vollen Tagelohn bekommen. Aber der Herr antwortet den darob Unzufriedenen: Dieser hat in zwei Stunden mehr geleistet als ihr den ganzen Tag. Also ist alles nach Recht und Gerechtigkeit zugegangen. Da ist der Gegensatz scharf herausgearbeitet: der jüdische Gottesbegriff mit formaler Gerechtigkeit im menschlichen Sinn, und der Gott Jesu, dessen Gerechtigkeit schenkende Gnade ist. Darum sind auch nicht die „Gerechten" diejenigen, die zuerst ins Reich Gottes eingehen, sondern die Verachteten und Verlorenen, die Zöllner und Sünder, die Armen und Kranken. Im Reiche Gottes ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig „Gerechte", die vor lauter Ge>) Matth. 20, 1—16. *) jer. Berachoth 2,8f. 5 c, Billerbeck 4,492ff.

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4. Jesus

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rechtigkeit gar nicht auf den Gedanken kommen, daß ihnen das Beste fehlt: die Erkenntnis der Nichtigkeit alles menschlichen Wesens vor dem ewigen Gott. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner hat das für alle Zeiten klassisch zum Ausdruck gebracht. Und das ist erschütternd neu an der Reichgottesbotschaft Jesu, daß sie sich an die Sünder wendet 1 : wir müssen das erst mühsam empfinden lernen, da uns der Klang seit neunzehn Jahrhunderten vertraut ist. Die alttestamentliche Frömmigkeit ehrt im Reichtum den Segen Gottes, den Lohn für rechtschaffenes Tun auf Erden, und ist geneigt, in Armut, Krankheit und Leid göttliche Bestrafung der Sünden zu erkennen. Die Stillen im Lande wußten es besser: Gott hatte den Armen und Elenden sein Heil verheißen 1 . Jetzt kam Jesus und pries selig nicht nur, die da arm sind und Leid tragen, sondern auch die Sünder — denn Gott ist ihnen nahe und ruft sie zu sich. Die Gäste der guten Gesellschaft werden vergeblich zu Tisch geladen: da gehen die Gottesboten auf die Gassen und an die Hecken und laden die Bettler und Krüppel und Lahmen und Blinden*. Wer ist der bessere Sohn? Der zu seines Vaters Gebot nein sagt und dann sich besinnt und es doch tut — oder der ja sagt und es nicht erfüllt 4 ? So kommt der Sünder ins Reich Gottes, wenn er in sich geht und Buße tut: und eben das glaubt der Gerechte nicht nötig zu haben. So ist auch der Arme näher am Reiche Gottes, denn ihn blendet nicht der Reichtum und die billige Selbstgerechtigkeit des wohlhabenden Almosenspenders. Ihn bindet die Sorge um Hab und Gut nicht an diesen Aon und seine Güter, und er hat keinen Schatz auf Erden, der sein Herz ausfüllt und gegen Gott verschließt. Der reiche Jüngling möchte wohl Jesus folgen, aber er kann doch nicht alles im Stich lassen um des Reiches Gottes willen: es geht einfach nicht; jeder sieht es ein — aber es ist traurig. Darum: selig seid ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes! Jesus predigte nicht wie die Schriftgelehrten, sondern wie einer, der Gewalt von Gott bekommen hat, so formt Markus' ·) K. Holl, Ges. Aufs. 2, 9 ff. *) s. o. S. 26. ») Luk. 14,16—24. 4 ) Matth. 21,28—31. «) Mark. 1,22.

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Zöllner und Sünder

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das Urteil der Zuhörer. Aber darum wollte man auch nichts von ihm wissen, wo die gewohnte Art in Ansehen stand. In seiner Heimat Nazareth sprach er das bittere Wort, daß der Prophet im eigenen Vaterland nichts gilt; aber auch in der weiteren Umgebung des Sees Genezareth fand er kein Gehör, über Chorazin, Bethsaida, ja selbst über Kapernaum hat er Wehe gerufen 1 . So hat er die Städte gemieden und ist der Prediger für die „Amhaarez" geworden. In dem von heidnischen Gegenden umfaßten, durch das Samariterland vom judäischen Zentrum der Frömmigkeit abgeriegelten Galiläa war das Judentum mit fremden Elementen gemischt und hatte für die Strenge der pharisäischen Weise keinen Sinn* Hier konnte die Botschaft ergriffen werden, daß Gottes Reich den ganz oder halb heidnischen Zöllnern, den verachteten Sündern, den Armen und Elenden offen stehe, aber den in korrekter Gerechtigkeit leuchtenden Pharisäern und den reichen Opferspendern verschlossen sei. Hier ist Jesus der Volksheld geworden, dem die Massen folgten, und den sich Herodes Antipas sehr bedenklich daraufhin ansah, ob er nicht etwa der auferstandene Täufer sei, also unschädlich gemacht werden müsse'. Daß ihn die Pharisäer als einen Verächter des Gesetzes haßten und als falschen Propheten verfolgten, war die notwendige Folge seiner Taten und Reden. Unausbleiblich aber mußte ein Entscheidungskampf kommen, wenn er wirklich der Messias sein wollte und sich nicht mit der Rolle eines Vorläufers begnügte. Unsere Quellen berichten übereinstimmend von der Messianität Jesu. Das Petrusbekenntnis „Du bist der Messias" bei Markus steht in Einklang mit der indirekten Antwort auf die direkte Frage Johannes des Täufers, die uns die Redequelle erhalten hat 4 Aber nirgendwo ist uns zuverlässig ein Jesuswort überliefert, in dem er sich selbst diese Würde zuschreibt' Dagegen haben unsere beiden Hauptquellen nicht wenige Sprüche ') Matth. 11, 20—24 = Luk. 10,13—15. *) Walter Bauer in Festgabe für Jülicher 16—34. ») Mark. 6. 14, vgl. 8, 28; Luk. 13, 31. •) s. o. S. 40. ·) Das Bekenntnis vor dem Hohenpriester Mark. 14,62 ist schwerlich historisch, s. Sitzungsber. Akad. Berlin 1931, 316.

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4. Jesus

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überliefert, in denen sich Jesus als den „Menschensohn" bezeichnet: und daß dies im messianischen Sinn verstanden wurde, ist aus dem Zusammenhang von Mark. 8, 31 deutlich zu sehen. Aber auch andere Stellen bestätigen uns, daß mit dem geheimnisvollen Titel der künftige Herrscher im Gottesreich gemeint ist, der nach Daniel 7, 13 „in des Himmels Wolken kommt wie eines Menschen Sohn". Trotzdem es bisher nicht gelungen ist, die philologischen Probleme zu lösen, die sich an dies Wort knüpfen 1 , ist an der Zuverlässigkeit der Uberlieferung im allgemeinen so wenig wie an der messianischen Bedeutung des Wortes zu zweifeln! Und ebenso steht fest, daß „Menschensohn" keine geläufige Messiasbezeichnung war: schon die älteste Christenheit hat das Wort nicht mehr verstanden und seine Anwendung vermieden, und es ist ein Rätsel geblieben bis auf den heutigen Tag. Wir dürfen als beglaubigte Überlieferung annehmen, daß Jesus nicht nur von seinen Jüngern und allerlei Leuten aus dem Volke, Gesunden und Kranken, Geheilten und Besessenen für den Messias gehalten wurde, sondern, daß er sich auch selbst als solchen wußte. Aber wie das Gottesreich, so hatte auch der Messiasgedanke bei Jesus eine grundlegende Neugestaltung erfahren. Das eschatologisch-apokalyptische Bild blieb leuchtend am Horizont der Zeit stehen, aber in das unmittelbare Erleben der Gegenwart wob sich das gottgewirkte Keimen des Reiches in den Seelen bußfertiger und gläubiger Menschen und das heimliche Königtum des mit der Wundermacht seines himmlischen Vaters ausgerüsteten und durch sein Zeugnis 1 beglaubigten Trägers der neuen Gottesgemeinschaft, der seinem Volk das lang verheißene Heil brachte. Und noch etwas Neues kam hinzu: Jesus lehrte seine Jünger, der Messias müsse sterben, um sein Werk zu vollenden. Das wollte ihnen am schwersten eingehen, und sie haben's einfach nicht geglaubt. Von einem Messias, der eben um seines Amtes willen sterben müsse, wußte kein Jude etwas: von außen ist dieser Gedanke nicht an Jesus herangetra') G. Dalman, Worte Jesu* 1, 191—219. 383—397. 9—11.

*) Mark. 1,

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Der Messias

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gen worden. Sondern wie die Botschaft vom Reich und das Bewußtsein seines Messiastums ihr eigentliches Wesen aus Jesu Gotterleben empfangen haben, so ist auch die Notwendigkeit seines Todes im Dienst seiner Aufgabe ihm in der eigenen Seele aufgegangen: eine innerliche Aneignung und Bejahung dessen, was ihn seine Erfahrungen mit den Gegnern als persönliches Schicksal ahnen ließ. Wie lange Jesu öffentliche Wirksamkeit gedauert hat, wissen wir nicht: das eine Jahr, in das Markus seine Darstellung hineinpreßt, ist nur literarische Form und will gar nicht historische Chronologie sein. Der vierte Evangelist rechnet ganz unbefangen mit drei Jahren, ohne daß wir ihn deshalb als zuverlässigeren Zeugen aufrufen könnten. Er läßt Jesus mindestens zweimal vor seinem Todeszug zum Passah nach Jerusalem pilgern. Davon wissen die Synoptiker nichts, und der Spruch der Redequelle Luk. 13, 34 ist wohl Zitat aus dem 11, 49 genannten Weisheitsbuch und für diese Frage nicht zu verwerten. Wir hören in der Uberlieferung nur von e i n e m Zug nach Jerusalem, und Markus setzt seine dritte Todesweissagung wie einen Wegweiser an die Spitze seines Berichtes (10,32—34). Lukas hat ein wertvolles Stück frei umlaufender Erinnerung aufgezeichnet (13,31—33): Da traten einige Pharisäer zu ihm und sagten: Hebe dich hinaus und gehe von hinnen, denn Herodes will dich töten! Und er sprach zu ihnen: Geht und saget diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute noch und morgen, und am dritten Tage muß ich wandern, denn es geht nicht an, daß ein Prophet außerhalb Jerusalems sterbe 1 . Hier wie dort derselbe herbe Klang; er zieht zur Hauptstadt hinauf, um dort zu sterben: das ist Gottes Wille. Aber in der Lukasnotiz sehen wir auch den äußeren Zusammenhang. Antipas läßt ihndurch jene pharisäischen Boten aus Galiläa ausweisen. Nun könnte er nach Samaria oder ins heidnische Gebiet wandern — aber dort hat er keine Aufgabe; da erkennt er, daß seine Stunde gekommen ist, und tritt den *) Das muß der Sinn des entstellt überlieferten Wortes Luk. 13 32—33 sein.

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4. Jesus

Todesweg an. Die Jünger staunen, und die Menge ängstigt sich um ihn, denn auch sie wissen, in welche Gefahr er sich begibt. Der Weg führt über Jericho, wo er einen Blinden heilt 1 , dann nähert er sich von Osten her Jerusalem. In der Nähe des ölbergs mag er, vom Weg ermüdet, in einem Dorf sich einen Esel erbeten haben: die spätere Legende hat daraus einen messianischen Einzug in Anlehnung an das Prophetenwort des Sacharja 9,9 gemacht, wo von dem sanftmütig auf einem Esel in Jerusalem einreitenden König geweissagt wird. Nach der Meinung der Markustradition scheint Jesus damals überhaupt zum erstenmal in Jerusalem gewesen zu sein, denn das ist die natürliche Voraussetzung für die nun folgende Bemerkung, daß er im Tempel sich alles anschaute und dann wieder, da es schon spät am Tage war, nach Bethanien zum Übernachten ging'. Wie es auch in späteren Jahrhunderten noch manchem Andächtigen ergangen ist, so ging es auch Jesus: sein frommer Sinn wurde aufs schwerste verletzt durch den mehr als profanen Geschäftsbetrieb im Vorhof der heiligen Stätte. Er trieb die Händler mit Opfertieren und die Geldwechsler hinaus und zertrümmerte ihre Verkaufsstände und sperrte den Vorhof für den Durchgangsverkehr: das heißt doch nichts anderes, als daß er die Volksmenge zum gewaltsamen Angriff auf die Unsitte der Profanierung um sich scharte und mit Scheltworten der Propheten auf den Lippen ihr Führer wurde. Das war ein erstes Sturmzeichen in Jerusalem: der Prophet aus Galiläa hatte einen Tumult im Tempel erregt, und das mußte den leitenden Kreisen Sorge verursachen. Sie haben doch nicht gewagt, ihn deshalb polizeilich zu maßregeln, sondern versucht, ihm durch allerhand Fragen Fallen zu stellen. Markus bringt nun einige Streitreden Jesu mit Pharisäern und Sadduzäern, die man gern in diese Periode ansetzen wird: am schärfsten beleuchtet die Frage nach der Berechtigung des Zinsgroschens die Lage*. In Galiläa war Politik nicht volkstümlich, und der nationale Aufstand von 66—70 hat dort kein Echo gefunden 4 . Jesus stand politischen Hoffnungen vollends >) Mark. 10,46. 2 ) Mark. 11,11. ») Mark. 12,13—17, dazu Jos. A. 18, 4. B.2,118. ') W . Bauer in Festgabe f. Jülicher 22 f.

Jerusalem

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fremd gegenüber, und das nationale Messiasideal weltlicher Prägung, wie wir es aus den Psalmen Salomos kennen, war ihm höchstens einmal als teuflische Versuchung erschienen. In Jerusalem dachte man anders, und die Befreiung von der Römerherrschaft war so gut nationale wie religiöse Forderung. Wenn Jesus sich in dieser Frage eine Blöße gab und als lau erwiesen wurde, war sein Ansehen in der Hauptstadt dahin. Seine Antwort vermied die Falle und traf das Problem genau an der entscheidenden Stelle. Wenn ihr schon das Münzrecht für Silberund Goldgeld den Römern habt abtreten müssen, so ist's töricht zu fragen, ob man mit den fremden Münzen diesen selben Römern Steuern zahlen dürfe. Sobald der Aufstand von 66 ausbrach, haben die Juden auch wieder nationale Silbermünzen geprägt. Wie lange diese Jerusalemer Zeit des Ringens gedauert hat, wissen wir nicht. Der Markusbericht deutet mit keiner Silbe an, daß Jesus zum Passahfest — womöglich mit einer Festkarawane — in die Hauptstadt gezogen sei, und die erwähnte Lukasnotiz über die Ausweisung durch Antipas macht das sogar unwahrscheinlich. Wir dürfen uns eine längere Wirksamkeit Jesu in Jerusalem vorstellen, in der er zahlreichen Anhang im Volk und viele einflußreiche Feinde bei den Pharisäern und Sadduzäern gewann. Die Männer des Synedrions waren schließlich entschlossen, ihn zu beseitigen: und zwar sollte das ohne Aufsehen noch vor dem Passah geschehen. Man hatte nur noch zwei Tage Zeit1. Als er in einem Garten auf dem ölberg gebetet hatte, wurde Jesus bei Nacht inmitten seiner Jünger festgenommen: einer aus dem engsten Kreise hatte den Häschern seinen nächtlichen Aufenthaltsort verraten. Die Jünger waren bei der Verhaftung geflohen, nur Petrus war umgekehrt und seinem Meister bis in den Hof des hohenpriesterlichen Amtsgebäudes nachgeschlichen. Dort hat er sich unter das Personal gemischt und sich durch ein paar Lügen vor Entdeckung zu schützen verstanden. Aber es ist mehr als unwahrscheinlich, daß auf ») Mark. 14,1.

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4. Jesus

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seinen Bericht zurückgeht, was wir über die nächtliche Verhandlung des Synedrions bei Markus lesen: alle Anzeichen sprechen dafür, daß wir eine spätere christliche Formulierung vor uns haben. Markus erzählt, es habe dort unter dem Vorsitz des Hohenpriesters Kaiphas sofort eine Nachtsitzung des Synedrions stattgefunden. Zuerst wird Jesus vorgeworfen, er habe den Tempel zerstören und in drei Tagen wieder aufbauen wollen: doch stimmten die Zeugenaussagen nicht überein, und Jesus schweigt beharrlich auf alle Anklagen. Da stellt ihm der Hohepriester die entscheidende Gewissensfrage: Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten? Und er antwortet Ja und weissagt sein Sitzen zur Rechten Gottes und seine Wiederkunft als „Menschensohn" in den Wolken des Himmels. Daraufhin verurteilt ihn der Hohe Rat wegen Lästerung zum Tode. Es muß dahingestellt bleiben, ob sich in dieser Darstellung verblaßte Erinnerungen an einen wirklichen Sachverhalt erhalten haben. Aber wir dürfen mit einiger Sicherheit behaupten, daß das Synedrion zu keiner juristischen Verurteilung wegen Gotteslästerung kam: denn dann hätte es mit eigener Autorität Jesus durch Steinigung hinrichten müssen. Das war im Gesetz so vorgeschrieben und wurde auch so ausgeführt, wie wir ζ. B. an Stephanus sehen. Es ist ein Irrtum, den freilich die Evangelisten teilen und gefördert haben, daß das Große Synedrion nicht das Recht zur Fällung und Ausführung von Todesurteilen besessen habe. Vielmehr zeigt der unbezweifelbar glaubwürdige Fortgang der Sache, daß die jüdische Behörde — vermutlich aus sehr guten Gründen — auf die Erledigung dieses Handels in der Form des Religionsprozesses verzichtete und es vorzog. Jesus als Aufrührer der römischen Behörde zu übergeben1. Der Prokurator Pontius Pilatus, der uns auch aus anderen Nachrichten wohl bekannt ist* und die judäische Prokuratur von 26—36 verwaltete, weilte damals in Jerusalem: offenbar, weil ') Das steht bei Mark. 15,1 deutlich zu lesen. Zum .Ganzen vgl. „Der Prozeß Jesu" in Sitzungsber. Akad. Berlin 1931, 313—322 und Z N W 1931 und 1932. *) Prosopographia imp. Rom. 3,84.

Die Passion

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zum Passah das Volk dorthin zusammenströmte und er die Massen im Auge zu behalten wünschte. Ihm wurde Jesus als „König der Juden", das heißt soviel wie messianischer Agitator im politischen Sinne, denunziert, und er hat ihn nach kurzem Verhör abführen, auspeitschen und ans Kreuz schlagen lassen. Wie sich das Schicksal des Meisters, vom Licht alttestamentlicher Weissagungen umstrahlt in den Herzen der Seinen widerspiegelte, zeigt die Passionsgeschichte der Evangelien mit erschütternder Wucht. An einem 13. oder 14. Nisan, nachmittags, jedenfalls vor dem Passahabend' ist Jesus am Kreuz gestorben: ein frommes Mitglied des Synedrions hat den Leichnam vom Kreuz abgenommen und ihn in einem Felsengrab beigesetzt. Von den Jüngern hören wir kein Wort mehr. Der Prophetenspruch war erfüllt: der Hirt geschlagen und die Herde zerstreut. Der messianische Traum war zu Ende. ») E. Schwartz, ZNW 7,23. Wellhausen, Das Evangelium Marci» (1909) 108. 110.

Die Urgemeinde Aber der Gekreuzigte, Gestorbene und Begrabene blieb nicht im Tode. Er ist seinen Jüngern erschienen und von ihnen lebendig geschaut worden. Zuerst dem Petrus, dann den Zwölfen, darnach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, darnach dem Jakobus und dann allen Aposteln: so lautet die älteste und sicherste Überlieferung, die uns Paulus im 1. Korintherbrief 15,5—7 aufbewahrt hat. Und in Mark. 16,7 ist uns noch ein deutlicher Hinweis darauf erhalten, daß die ersten Erscheinungen des Auferstandenen vor seinen Jüngern in Galiläa stattgefunden haben: dort hat Petrus den Meister wiedergesehen, dort haben sich die Zwölf wieder zusammengefunden und sind von dem Erhöhten mit der Mission für seine Sache betraut worden. Und so sind sie nach Jerusalem gezogen. Hier fand die Erscheinung „vor den Fünfhundert" statt, welche die neue Gemeinde begründete 1 , und die in der Pfingstgeschichte ihre traditionelle Formung gefunden hat. Aber auch seinem Bruder Jakobus ist Jesus erschienen und hat ihn damit für seine Gemeinde gewonnen, in der er sofort eine Ehrenstellung erhielt. Schließlich erfolgte noch eine letzte Offenbarung an alle führenden Leute der Gemeinde: es war die abschließende Bestätigung ihres Amtes. Dann fuhr der Herr gen Himmel. Phantasie und Apologetik haben diese Erscheinungen ausgesponnen, vermehrt, verändert, den Beweis des leeren Grabes hinzugefügt und die späteren Formen unserer Evangelientexte geschaffen. Frühere Geschlechter haben sich mit brennendem Eifer gemüht, die Auferstehung Jesu zu „erklären" oder aber ihren ') K. Holl, Ges. Aufs. 2,47. 49. 53 ff.

Die Auferstehung

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unerklärlichen Wundercharakter zu verteidigen: als ob damit irgend etwas Wesentliches gewonnen wäre, wenn wir die Einzelheiten und die natürlichen Zusammenhänge dieser Ereignisse deutlicher durchschauen oder ihre Fremdartigkeit demonstrieren könnten. Alle Ereignisse der Geschichte vollziehen sich in der Erscheinungswelt und sind uns nur in den Anschauungsformen natürlicher Kausalität erfaßbar. Aber jeder Versuch, das tiefste Wesen und den Sinn der Geschichte im allgemeinen wie im Einzelfalle zu begreifen, führt in Regionen, die jenseits dieser Grenze liegen, in die Metaphysik des Philosophen oder des Theologen. Und nur in diesen Tiefen fließen die Quellen, aus denen alle Geschichtsbetrachtung Leben schöpft und Werte gewinnt. Die Kritik der evangelischen Berichte und alle Versuche, den Tatbestand zu ermitteln, können nach wissenschaftlichen Grundsätzen nicht anders als auf dem Boden der natürlichen Erfahrung irdischer Gesetzmäßigkeit erfolgen: sie pflegen zu mannigfach variierten Visionshypothesen zu führen, mit denen sich der Forscher zufrieden geben muß. Aber die Entscheidung über das wahre Wesen des als Jesu Auferstehung bezeichneten Ereignisses, dessen weltgeschichtliche Tragweite gar nicht auszumessen ist, fällt nicht im Bereich historischer Tatsachenforschung, sondern da, wo die Seele des Menschen sich mit dem Ewigen berührt. In Jerusalem mußte sich der Messias offenbaren: hier war für den Meister der Tod zur" Wirklichkeit geworden — so mußte er auch hier in Herrlichkeit wiederkommen, in den Wolken des Himmels herabschwebend, um das Reich Gottes in Macht und Glanz aufzurichten. Auch in den apokalyptischen Hoffnungen war und blieb Jerusalem der Angelpunkt des göttlichen Handelns, die Hauptstadt des neuen wie des alten Israel, von der die Jünger nicht weichen durften 1 . Hier bildete sich die Muttergemeinde der Urchristenheit aus den Volksgenossen, die für Jesus gewonnen wurden — das heißt, die sich zu dem Glauben bekannten, daß in Jesus von Nazareth der verheißene Messias erschienen sei, der sich erst in Niedrigkeit ') Apg. 1,4.

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5. Die Urgemeinde

offenbart habe und in Erfüllung göttlichen Willens und prophetischer Weissagung am Kreuz gestorben sei, bald aber wiederkommen und das Gottesreich auf die Erde bringen werde. Diese Jesusgläubigen entstammten den Kreisen der stillen Frommen, die sich gern nach der Weise der Psalmen die „Armen"1 nannten und die Sprüche des Meisters von der Seligkeit der Armen in treuem Herzen bewahrten: aber sie wußten sich auch als die „Heiligen"*, als der treue und gottgeliebte, für die Endzeit ausgesonderte Rest des Volkes, von dem die Propheten und Apokalyptiker kündeten. Beide Bezeichnungen meinten das gleiche und schlossen die Hoffnung in sich, daß die Niedrigkeit und die Entbehrungen der traurigen Gegenwart bald durch überschwenglichen Glanz abgelöst und belohnt werden würden: in den leuchtenden Bildern der johanneischen Offenbarung spiegelt sich die Enderwartung dieser jüdischen Urgemeinde wider. Ihre Mitglieder waren Juden und wollten es sein und bleiben: sie besuchten den Tempel, und die Halle Salomons war ihr bevorzugter Sammelplatz'. Am Gesetz haben sie treulich festgehalten und eifrig betont, daß Jesus nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen, und versichert habe, es werde eher Himmel und Erde vergehen, ehe ein Buchstabe, ja nur ein Häkchen vom Gesetz vergehen werde, bis daß es alles geschähe. Ja darüber hinaus haben sie auch die Auslegung der Schriftgelehrten und Pharisäer angenommen4. Was sie von den Pharisäern unterschied, war eben die Gewißheit, den Messias bereits erlebt zu haben, den die übrigen Israeliten erst erwarteten, und der Glaube an seine baldige Offenbarung in Herrlichkeit. Aber diese Gewißheit und dieser Glaube waren keine bloßen Gedankengebilde, sondern lebendige Kraft. Die Erfahrung der Erscheinungen des Auferstandenen zitterte noch in den Herzen nach, und wenn man auch sehnsüchtig seine endgültige, aller Welt sichtbare Wiederkunft τ ) so auch die „Ebioniten" als ihre Nachfolger Epiph. 30,17,2. Orig. c. Cels. 2,1. ') Handb. zu Rom. 15.25 Exk. ») Apg. 5.12. 3,11: vgl. Joh. 10,23. 4) Matth. 5,17—18. 23,3. 24.20. Vgl. Mark. 13.18.

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Die „Armen" und „Heiligen". Das Brotbrechen

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erwartete, so wußte man doch auch, daß der vom Tod Erstandene unsichtbar bei den Seinen weilte, so oft zwei oder drei versammelt waren in seinem Namen. Jetzt gewann die Tischgemeinschaft eine tiefere Bedeutung. Wenn sich die Jünger nach frommer jüdischer Sitte zum Mahl vereinigten und einer über das Brot den Segen sprach, so erneuerten sich ihnen die glücklichen Tage, an denen einst der Meister ihnen das Brot gesegnet und es gebrochen hatte: Er war wieder unter ihnen und sie wurden sich seiner Gegenwart bewußt. Die Geschichte von den Emmausjüngern klingt wundervoll in dieses Empfinden aus. Und das Wissen um die Gegenwart Jesu und das heimliche Glück des Besitzes höchster göttlicher Gnade machte das schlichteste Mahl in der bescheidensten Hütte zu einem Vorschmack des himmlischen Freudenfestes, das den Herrn mit den Seinen zur messianischen Tafelrunde vereinigen würde. So wurde in der Urgemeinde das Brot „in den Häusern hin und her mit Jauchzen und Lobgesang" gebrochen 1 , und mit dem verlangenden Gebetruf „Marana tha", das heißt „Komm unser Herr", wechselte das messianische Hosianna und flocht Gegenwart und Zukunft ineinander 1 . Die Urgemeinde wird also durch das gemeinsame Erleben der Gegenwart des auferstandenen Herrn zusammengehalten. Aber wir finden bei ihr auch einen Aufnahmeritus, der plötzlich fertig vor unseren Blicken dasteht, ohne daß wir über seine Herkunft irgend eine Nachricht erhielten: die späte Darstellung Matth. 28, 19—20 ist eine nachträgliche theologische Motivierung. Die Erzählungen der Apostelgeschichte so gut wie die Briefe des Paulus setzen als selbstverständlich voraus, daß der Christ bei der Aufnahme in die Gemeinde getauft wird, während die evangelische Tradition von einer solchen Form der Eingliederung in den Jüngerkreis Jesu nichts weiß. Die Bemerkungen des Johannesevangeliums 3, 22 und 4, 1.2 können als historischerBericht über dasTun Jesu nicht gelten, aber weisen vielleicht in die Richtung, wo wir die Lösung des Rätsels zu suchen haben. Jesus war doch selbst durch die Taufe des Jo*) Apg. 2,46. ') Lietzmann, Messe u. Herrenmahl 250.

5. Die Urgemeinde

hannes hindurchgegangen und hat den Täufer und sein Tun hochgehalten. Es scheint auch, als ob manche Jünger des Johannes zur Jesusgemeinde übergegangen sind. So hat man in der Urchristenheit die johanneische Taufe übernommen 1 im ursprünglichen Sinn als eschatologischen Ritus der Abwaschung von Befleckungen des alten Äons, als Reinigung, die zum Eintritt in die neue Messiaswelt erforderlich ist. Es bedurfte wirklich nur der Anerkennung, daß Jesus der von Johannes erwartete „Kommende" war, um aus der Johannestaufe einen christlichen Aufnahmeakt zu machen. Die Apostelgeschichte* berichtet uns die hierfür sehr lehrreiche Geschichte, daß Paulus in Ephesus ein Dutzend Christen trifft, die mit der Johannestaufe getauft sind.Er belehrte sie nun,daß sie aufdenNamen Jesu getauft werden müssen, und erst als sie das nachgeholt haben, wird ihnen der heilige Geist zuteil und sie sind imstande, zu prophezeien. Aber „Jünger", d. h. „gläubig gewordene" (19, 2) Christen sind sie schon vorher. Mit anderen Worten: wir haben hier den Rest eines früheren Zustandes vor uns, wie wir ihn für den Beginn der Gemeindebildung ansetzen müssen. Später ist dann die genauere liturgische Präzisierung hinzugetreten: das einfache Taufen nach des Johannes Weise „zur Buße und Vergebung der Sünden" genügt nicht mehr, es muß der Name Jesu über dem Täufling genannt werden'. „Johannesjünger" sind diese ephesinischen Christen so wenig gewesen wie der vorher 4 genannte Apollos, der auch nur die johanneische Taufe empfangen hat, aber doch bereits vom Geist getrieben als christlicher Missionar auftritt. Man hat — wohl mit Recht — noch weitere Einflüsse des Johanneskreises auf die christliche Urgemeinde aus den evangelischen Texten erschlossen. Wir erfahren aus Lukas 5 , daß Johannes seine Jünger „beten lehrte" und daß die Jesusjünger daraufhin auch von ihrem Meister eine solche Belehrung gewünscht haben — worauf ihnen Jesus das Vaterunser vor») Ed. Meyer 3,245 ff. l ) Apg. 19,1—5. ») Anders Apg. 8,16; da genügt auch die Taufe auf Jesu Namen nicht; es muß HandaufIegung der Apostel dazukommen. *) Apg. 18,24—28. ») Luk. 11, 1—4. Wellhausen Mark. S. 18, Luk. S. 55. E. Schwartz Z N W 7 . 2 8 .

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Die Taufe. Das Vaterunser

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spricht. Nur freilich ist der bei Lukas in den gewichtigsten Zeugen erhaltene Text am Anfang reichlich unsicher, jedenfalls aber von dem bei Matthäus 1 stehenden und in den kirchlichen Gebrauch aufgenommenen erheblich verschieden: woraus sich zum mindesten ergibt, daß dies Gebet nicht schon in der ältesten Tradition feste Form hatte, also nicht in abgeschlossener und autoritativer Gestalt aus Jesu Mund hervorgegangen und unverändert weitergegeben worden ist. Vielmehr können wir beobachten, daß um einen alten Kern einfachster Bitten, der dem Lukastext zugrunde liegt, sich eschatologische Bitten um das Kommen des Gottesreiches in mannigfachen, durch die jüdische Gebetssitte beeinflußten Wendungen gelagert haben. Der Kern mit der Bitte um göttliche Vergebung nach dem Maße des eigenen Verzeihens atmet den Geist der Bergpredigt, die Zusätze drücken die messianische Sehnsucht der Gemeinde in einer Weise aus, die durchaus der Predigt des Meisters entspricht. Nichts kann vorgebracht werden, was für eine inhaltliche Beeinflussung des Vaterunsers* durch die — uns übrigens völlig unbekannten — Gebete der Johannesjünger spräche. Nur die Tatsache der Einführung eines autorisierten Gemeindegebets geht auf den Wunsch zurück, es jenem Kreise gleichzutun: und das bringt die Evangelientradition ja auch klar zum Ausdruck. Auch die jüdische Sitte frommer Leute, insbesondere der Pharisäer, zweimal in der Woche zu fasten 3 , ist bei den Johannesjüngern in Übung gewesen und von der Urgemeinde übernommen. Das Motiv wird uns bei Markus 4 mitgeteilt: die hochzeitliche Freudenstimmung ist dahin, denn der Meister ist den Seinen genommen. Jetzt ist die Zeit der bußfertigen Erwartung des Endes, da ziemt es sich zu fasten. Montags und Donnerstags fasten die Juden, also auch die Johannesjünger: und die jüdische Urgemeinde wird dasselbe getan haben. Sie hat ja auch den Sabbath gefeiert, wie aus Matth. 24, 20 hervorgeht: da ist das Gebet um Bewahrung vor einer Flucht „im Winter", ») Matth. 6,9—13. *) M. Dibelius, Joh. d. Täufer 42 ff. ') Luk. 18. 12. *) Mark. 2, 18—20; Dibelius, Joh. d. Täufer 39.

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5. Die Urgemeinde

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wie es bei Markus steht, im Sinne der Gemeinde ergänzt durch den Zusatz „und am Sabbath"; der wurde also nach der jüdischen Weise geheiligt und durfte auch in der Not nicht durch Wandern entweiht werden. Die Verengung des von Jesus gepredigten Geistes der Freiheit ist augenscheinlich. Aber man empfand sie nicht, weil die gewohnte und in Jerusalem doppelt heilige Observanz bei den vielen, die Jesus nicht persönlich gekannt hatten, die Berichte von seiner Art überwog, ja mit der Zeit sein Bild umzugestalten begann. Und der Führer der Gemeinde, Jakobus, gehörte schließlich doch auch zu diesen Jesusfremden und hat nach dem Ideal eines jüdischen „Gerechten" gestrebt: die uns durch den Mund eines Christen der Antoninenzeit 1 erhaltene Gemeindelegende stellt ihn als einen auch bei den Juden hochangesehenen Frommen dar und zeichnet ihn als einen richtigen orientalischen Asketen, der von andauerndemBetenHornschwielen an denKnien „wie einKamel" bekommen hat. In einer der historisch zuverlässigsten Erzählungen der Apostelgeschichte* werden die getauften Juden zu Jerusalem „alle als Eiferer für das Gesetz" geschildert: vier von ihnen haben nach alttestamentlichem Ritus' ein Gelübde getan, und Paulus muß sich ihnen anschließen und die gesamten Kosten für die zur Lösung nötigen Opfer übernehmen, um den Argwohn gegen seine Person zu beschwichtigen. Der Leiter der Urgemeinde war Jakobus, der offenbar als Bruder Jesu sofort nach seinem Beitritt eine Ehrenstellung zugebilligt erhielt: nach dem Tode des Jakobus hat man einen Vetter Jesu zu seinem Nachfolger gewählt und auch in späterer Zeit noch leibliche Verwandte Jesu in den Gemeinden mit besonderem Ansehn bekleidet 4 . Neben ihm erscheinen in der Apostelgeschichte „Presbvter" an der Spitze der Gemeinde, über die wir aber nichts Näheres erfahren. In jüdischen Gemeinden pflegt eine Art Notabeinausschuß von „Ältesten" das Ratskollegium zu bilden5, schon in alttestamentlicher Zeit und ») Hegesipp bei Euseb KG. 1123,4—18. ') Apg. 21, 20—26. ) Num. 6.18—20. *) Hegesipp bei Euseb KG. III 11; 20, 1—6; 32, 6; vgl. Julius Afric. ebenda I 7,14; Harnack, Kirchenverfassung 24, Mission 2, 633; Ed Meyer, Urspr. 3,222 ff., 250. ·) Z. w. Th. 55, 116 ff. 3

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Gesetzlichkeit der Urgemeinde. Älteste und Apostel

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dann immer wieder durch die Jahrhunderte hindurch: so ist es nichts Auffälliges, wenn wir auch im Kreise der Jesusgläubigen einem solchen Ältestenrat begegnen. Ob ihre Zahl begrenzt war — etwa 24 wie in der Johannesapokalypse — oder schwankend, läßt sich nicht sagen. Aber welche Stellung haben die Urapostel? Sie sind doch die eigentlichen Gründer und die gegebenen Autoritäten der Gemeinde? Sicherlich, und ihre Bedeutung ist in den nachfolgenden Kämpfen des Paulus kräftig genug ersichtlich. Sind sie doch nicht nur die Zeugen und Träger der Tradition, sondern auch bestimmt, im messianischen Reich unter dem Vorsitz des Menschensohnes auf zwölf Thronen zu ritzen und die zwölf Stämme Israels zu richten 1 . Der Apokalyptiker Johannes findet ihre Namen auf den zwölf Grundsteinen der Mauer des himmlischen Jerusalem geschrieben, aber neben dem Thron des Lammes sitzen bei ihm eben jene „Ältesten" auf vierundzwanzig Thronen*. Man sieht deutlich den Reflex alter jerusalemischer Gegensätze. Die Zwölf erscheinen als kompakte Gruppe, von der sich als Individuen nur Petrus und der Zebeda'ide Johannes ablösen. Diese beiden bilden mit Jakobus zusammen die „Säulen" der Urgemeinde, wie Paulus sie einmal' mit einem nicht von ihm erfundenen Namen nennt. Was sie mit ihm ausmachen, das gilt als bindend für die Urchristenheit. Petrus und Johannes begegnen auch in der Apostelgeschichte Kap. 3 und 4 als die großen Wundertäter und Apologeten der Gemeinde: sie werden später zur Bestätigung der Missionsarbeit des Philippus nach Samaria deputiert*. Das gibt ihre überragende Bedeutung gut wieder: den Jakobus läßt dagegen diese Darstellung ganz zurücktreten; wir stehen hier auf der andern Seite, gegenüber dem Apokalyptiker. Es ist eben bei diesen Spannungen geblieben, die sich auch sonst in allerlei Anzeichen verraten®, bis die weitere Entwicklung der Mission und die Zerstörung Jerusalems dem Kreis der Zwölf den Sieg in der 8,14.

') Matth. 19,28. *) Offb. 21,14. 4,4. 5,8. 5 ) Ed. Meyer, Urspr. 3,225.

') Gal. 2,9. *) Apg.

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Weltgeschichte, den Jakobusleuten die Herrschaft im Erbe der Urgemeinde sicherte. Sieht man auf die hier geschilderten Zustände, so könnte es scheinen, als ob die Urgemeinde zwangsläufig in eine judaisierende Rückbildung hineingeraten sei, die mit einer völligen Absage an den wahren Geist des Meisters hätte enden müssen. Und wir werden noch sehen, daß einem Teil von ihr allerdings dies Schicksal schließlich geworden ist. Aber es blieben auch Kräfte lebendig, die nach der andern Richtung drängten, und sie wurden· von willigen und fähigen Menschen ergriffen. Wir haben gesehen, wie jüdische Fastensitte und Sabbathfeier treulich beibehalten wurde. Aber etwas Neues kam doch in der Gemeinde auf und hatte seine Folgen: das war die Feier des Sonntags als des eigensten Tages der neuen Gemeinschaft, der als „Tag des Herrn" galt und an dem man sich zum Brotbrechen. zum „Herrenmahl" in den Häusern vereinigte. Wie kam man dazu, den ersten Tag der Woche so auszuzeichnen? Wir finden ihn bei Paulus (1. Kor. 16,2; Apg. 20,7) wie in der Apokalypse (1,10) und derDidache(14) bezeugt,und schon früh im zweiten Jahrhundert 1 wird uns als Grund für diese Feier des „achten Tages" mitgeteilt, daß die Auferstehung des Herrn an ihm erfolgt sei. Das entspricht der evangelischen Tradition. Man hat versucht, religionsgeschichtliche Gründe für die Wahl dieses Tages geltend zu machen und gemeint, seine Feier sei aus dem Bestreben erwachsen, einen besonderen Tag als Sondermerkmal der Gemeinde zu besitzen 1 . Aber von einem solchen Streben spüren wir wenig, sehen es vielmehr in den bisher geschilderten Kreisen vollends dahinschwinden. Dann müßte der Sonntag etwa bei hellenistischen Christen aufgekommen sein und seine Anhänger in Gegensatz zu den Jakobusleuten gebracht haben. Aber wir hören nicht die leiseste derartige Andeutung: der Sonntag ist augenscheinlich von Anfang an der gemeinchristliche Feiertag der Woche. Dann ist aber auch der angegebene Grund mit höchster Wahrscheinlich' ) Ißn. Magn. 9, I. Barnab. 15,9. ») Ed. Meyer 3, 243.

Justin apol. 67, 3. 8

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Sonntagsfeier

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keit der wirkliche: an einem ersten Wochentag, also an einem Sonntag, hat die erste Erscheinung des Auferstandenen stattgefunden; es ist wirklich der Tag, von dem an das neue Leben der Jüngergemeinde datiert. Daß sich daran die Erwartung knüpfte, der Herr werde auch an einem Sonntag in Herrlichkeit wiederkommen, ist leicht auszudenken: und damit ist der zureichende Grund gefunden, die messianisch erwartungsvolle Tafelrunde des Herrenmahles mit dem „Marana tha" am Sonntag festlich zu begehen. Hier war nun ein Ansatzpunkt gegeben, um einen Gegensatz zum Judentum herauszuarbeiten und den Sonntag als Christenfeiertag dem jüdischen Sabbath gegenüberzustellen, sobald der strenge Ritualismus einer freieren Auffassung wich und das Verständnis der Neuheit und Eigenart des Christentums sich durchsetzte. Von hier aus entwickelte sich dann unschwer eine weitere Differenzierung. War der Herr am Sonntag dem Petrus erschienen, so war er auch an einem Sonntag auferstanden: die evangelischen Berichte malen das bereits aus. Da nun die Auferstehung nach Hosea 6,2 „am dritten Tage" nach dem Tode stattgefunden hatte, so war der Tod am Freitag erfolgt, und es konnte angemessen erscheinen, diesen Tag durch Fasten zu ehren. Jüdischer Fasttag war freilich Donnerstag, aber nun leuchtete die Parallelverschiebung um einen Tag ein: statt des jüdischen Sonnabends feiert man den christlichen Sonntag, statt des jüdischen Donnerstags den christlichen Freitag. Dann hätte man in weiterer Durchführung der differenzierenden Analogie statt des jüdischen Montags den zweiten Wochenfasttag auf Dienstag verlegen müssen. Daß man aber tatsächlich den Mittwoch nahm, ist ein Beweis dafür, daß man nicht bloß schob, um zu verschieben, sondern daß man sich etwas spezifisch Christliches dabei dachte: und das kann dann nur die Ansetzung des Anfangs der Passionsgeschichte auf Mittwoch gewesen sein: es ist der Tag der Gefangennahme Jesu. Eine aus dem dritten Jahrhundert stammende Kirchenordnung, die Didaskalia, hat uns diese Begründung erhalten 1 . Paulus ») Didaskalia c. 21 S. 107, 25 Flemming. Holl, Ges. Aufs. 2, 210. Didache 8,1. Piul Cotton from Sabbath to Sunday 1933.

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hatte in seinen Gemeinden besonders zu beobachtende Tage nicht eingeführt, auch den Sonntag nicht mit Sabbathcharakter bekleidet 1 . Aber die Entwicklung ging über diesen Puritanismus hinweg und brachte eine neue Gliederung der Woche zur Geltung, in der wir eine bemerkenswerte Betonung des christlichen Selbstbewußtseins gegenüber dem jüdischen Ritus, ja gegenüber den kultischen Ansprüchen des Judentums überhaupt vor uns haben. Die Woche wird unter rein christlichen Gesichtspunkten ganz neu geordnet, und wer diese Form annahm, konnte tatsächlich nicht die alte daneben beibehalten: es wäre ja nur noch der Dienstag als gewöhnlicher Tag übrig geblieben. Theoretisch konnte höchstens der Sabbath als Tag der Arbeitsruhe neben dem durch Herrenmahl gefeierten Sonntag bestehen bleiben: das ist auch eine Weile lang sicherlich der Fall gewesen*. Aber allmählich ist er dem christlichen „Herrentag" gewichen: in Verboten aus der Zeit des beginnenden zweiten Jahrhunderts* haben wir noch letzte Spuren des Kampfes der beiden Wochen. Direkte Zeugnisse fehlen uns vollständig, und es ist besonders beachtenswert, daß in der Kontroverse mit den Heidenchristen die Sabbathheiligung keine Rolle gespielt hat. Die Darstellung der Apostelgeschichte läßt trotz aller Stilisierung uns noch deutlich erkennen, daß neben den Palästinensern (den „Hebräern") als dem judaisierenden Stamm in der Urgemeinde bald ein neues Element auftritt, das den Fortschritt und deshalb in ziemlichem Umfang die Rückkehr zu dem echten Jesus bedeutet. Das sind die „Hellenisten": nicht einfach Juden griechischer Zunge, sondern Leute, die, in der griechischen Diaspora auf gewachsen, nun in Jerusalem ansässig sind und wohl in der Regel dem landsmannschaftlichen Verband ihrer Jerusalemer Synagoge angehören — Apg. 6, 9 werden uns solche aufgezählt —, aber die aramäische Landessprache auch beherrschen, wie es ζ. B. von Stephanus und Paulus bezeugt ist* und im übrigen in der Apostelgeschichte 1 ) Rom. 14, 5 vgl. Kol. 2, 16 u. Iren. Epideixis 96. *) Ebioniten bei Euseb KG. III 27,5 und die vorige Anm. *) Ign. Magn. 9,1. Oxyr. Logion 2. Didache 14,1. 8.1. «) Apg. 7. 21,40.

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Die christliche Woche. Die Hellenisten

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als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Die vorsichtig redigierte Schilderung von Apg. 6, 1—6 läßt uns doch erkennen, daß in der Urgemeinde die Neigung bestand, sie als nicht ganz vollwertig zu behandeln, und daß sie sich dagegen mit Erfolg zur Wehr gesetzt haben. Sie wählten zur Vertretung ihrer Interessen einen eigenen Siebenerausschuß, dessen Mitglieder bezeichnenderweise alle griechische Namen tragen und der auch einen früheren Heiden, den antiochenischen Proselyten Nikolaos einschließt. Es mag sein, daß diese Sieben unter anderem auch die Armenpflege für die hellenistischen (oder für alle?) Witwen zu betreuen hatten, wie es die Apostelgeschichte berichtet. Aber ihre Hauptaufgabe haben sie in der Mission gesehen1. Ihr Führer Stephanus hat eifrig in den Jerusalemer Diasporasynagogen gepredigt und seiner Gemeinde Anhänger gewonnen. Philippus ist als Missionar nach Samaria gegangen und hat später den Küstenstrich zwischen Asdod und Cäsarea missioniert: er lebt dann mit seinen vier Töchtern in Cäsarea 1 und ist schließlich nach Hierapolis gezogen und dort gestorben*. Im 6. und 7. Kapitel der Apostelgeschichte ist uns das Martyrium des Stephanus erzählt, stilisiert wie alle Martyrien, aber sichtlich mit viel historischer Treue. Wir lernen daraus vor allem, daß diese Hellenisten den Tempelkult gering achteten und die jüdischen Ritualvorschriften ablehnten. Das führte zu einer Anklage vor dem Synedrion, die mit seiner Verurteilung wegen Gotteslästerung endete. Er wurde gesteinigt. Zugleich aber brach eine spontane Verfolgung gegen seine Gesinnungsgenossen los: viele wurden eingekerkert, die meisten flohen aus der Stadt und zerstreuten sich in Judäa, wo sie im stillen für ihre Sache wirkten. Die Apostel blieben in Jerusalem — so meldet uns der Bericht4. Das will doch wohl besagen, daß die Verfolgung nur die antigesetzlichen Hellenisten traf, während die gut jüdischen Palästinenser unbehelligt blieben. Der innere ») E. Schwartz, Gött. Nachr. 1907, 280 f. ') Apg. 8, 40. 21, 8. ') Polykrates v. Ephesos bei Euseb KG. III 31,3 (wo er mit dem 4 Apostel verwechselt wird). ) Apg. 8,1.

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Riß in der Gemeinde war nun zu einem auch äußerlich sichtbaren geworden: die Frage erhob sich, ob Jakobus und die Urapostel die Kraft besitzen würden, die Versprengten wieder an sich zu fesseln. Wir stehen noch in den ersten Anfangsjahren, aus denen nur vereinzelte Ereignisse und unzusammenhängende, übermalte und legendär erweiterte Nachrichten greifbar sind. Eine wirkliche Geschichte jener grundlegenden Epoche läßt sich nicht schreiben: aber die treibenden Kräfte und die Richtung ihrer Auswirkung sind zu erkennen. Mission hat die Urgemeinde vom ersten Tage an getrieben: denn sie warb in Nachfolge der Predigt ihres Meisters Bürger für das Reich Gottes. Aber sie wirkte nur unter den verlorenen Schafen des Hauses Israel und vermied die Straßen der Heiden und die Städte der Samariter 1 . Vielleicht folgte sie wirklich einem Vorbild aus dem Leben des Herrn 1 , wenn sie ihre Missionare paarweise aussandte, ohne Geld und ohne Brot, im bloßen Rock mit Sandalen und Wanderstab, ruhelos von Ort zu Ort pilgernd. Und wenn ein Ort sie nicht aufnahm, so schüttelten sie den Staub von ihren Füßen „ihnen zum Zeugnis" und zogen weiter, vor sich die leuchtende Hoffnung, daß sie mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen würden, bis des Menschen Sohn erschiene*. Aber Näheres über die Wirkung dieser Mission hören wir nicht. Nur gelegentlich erfahren wir, daß es Gemeinden in Judäa, Galiläa und Samaria gab 4 : die letzteren hatte freilich der Hellenist Philippus gegründet und dafür nachträglich die Billigung der Urapostel erhalten. Petrus ist der einzige von den Zwölf, den wir selbst als Missionar tätig sehen. Aber auch das ist vielleicht schon zu viel gesagt: wir lernen ihn eigentlich nur als Inspektor des Missionsgebietes kennen. Wie er — mit Johannes — die von Philippus gewonnenen Gemeinden in Samaria besucht, so bereist er später das Küstenland bei Lydda, Joppe und die Saronebene bis Cäsarea 5 , also wiederum das Wirkungsfeld des Philippus. Später ») Matth. 10. 5. «) Mark. 6, 7—13. Luk. 10,1—16; vgl. E. Meyer 3, 260. ») Matth. 10,23. «) Apg. 8,5.9,31. Gal. 1,22. ') Apg.9,32—10, 1.

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Stephanus. Die Anfänge der Mission

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begegnen wir ihm in Antiochia und im Westen. Paulus bezeichnet ihn 1 mit Betonung als den mit der Judenmission beauftragten Apostel. Aber die Mission der jüdischen Urgemeinde hielt sich räumlich im jüdischen Palästina. Erst die Stephanusverfolgung brachte durch ihre gewaltsame Zerstreuung des hellenistischen Teils andere Gegenden in den christlichen Wirkungsbereich. Wir haben schon gehört, wie Philippus in Samarien und an der Küste tätig war. Andere kamen bis nach Phönizien, Kypros und Antiochia: es wird richtig sein, wenn unser Gewährsmann betont, daß auch diese Hellenistenmission sich ausschließlich an Juden wandte. Aber in Antiochia geschah etwas Neues. Unter den hellenistischen Flüchtlingen waren einige Leute aus Kypros und Kyrene, die sich nicht an diese Begrenzung kehrten und mit ihrer Predigt vor Heiden traten und erstaunlichen Erfolg hatten*. Die Heidenmission war geboren und die Schranke des Gesetzes gefallen. Der Jerusalemer Gemeinde hat die Verbindung mit dem abgehauenen hellenistischen Zweig aufrechterhalten. Der unzweifelhaft vorhandene innere Gegensatz war also nicht so stark gewesen, daß er das Gefühl der gemeinsamen Verbundenheit durch den Glauben an den Herrn zerstört hätte: und das ist für die Gesamtgeschichte der Kirche von entscheidender Bedeutung geworden. Wo immer sich hellenistische Mission regte und neue Christengemeinden ins Leben rief, da erschienen Abgesandte der Urgemeinde, um die Art der neuen Brüder zu prüfen und den Verkehr mit ihnen zu regeln. Es gab ja doch im urchristlichen Bewußtsein nur die eine einzige Gemeinde der „Jünger" des Herrn: ihr Sitz war einstweilen das irdische Jerusalem, bis bei der Parusie des Menschensohnes das himmlische Jerusalem herabkommen und die Wohnstätte der Seinen werden würde. Und wer auch genötigt war, außerhalb zu wohnen, gehörte darum doch nicht minder dieser Jerusalemer Gemeinde an: alle auswärtigen Christenscharen waren Filialen der einen alle umspannenden Zentrale. Alle standen unter der einen Autorität der Apostel, denen der Herr selbst ') Gal.2,7. η Apg. 11,19—20.

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5. Die Urgemeinde

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das Recht der letzten Entscheidung in allen Fragen des kultischen Verhaltens anheimgestellt hatte 1 : in der Missionspraxis bedeutete das, daß der allein wirklich aktive Petrus die höchste Autorität für den ganzen Kreis der Tochtergemeinden besaß Auf ihn gründete sich der Bau der Kirche in der ersten Periode 1 · von seiner Anerkennung hing die Eingliederung der neu erstandenen Gemeinden in den Gesamtorganismus ab. Aus dieser zentralen Stellung von Jerusalem folgte noch ein Zweites. In der Urgemeinde der Hauptstadt herrschte zwar kein Kommunismus, wie man aus einigen übertreibenden Wendungen der Apostelgeschichte hat folgern wollen, aber eine dem Geiste der Jesusjüngerschaft wohl angemessene weitgehende gegenseitige Hilfsbereitschaft, die sich gelegentlich auch in Veräußerungen von Grundstücken zugunsten der Unterstützungskasse betätigte'. Und man braucht wirklich nicht auf die Entwertung alles irdischen Besitzes durch die Parusieerwartung zu verweisen, um das zu verstehen. Es war selbstverständlich, daß in dieser Schar von Brüdern keiner Not litt. Und dieses schöne Vorrecht wünschte die Gemeinde zu bewahren und nahm es allmählich als ihr gutes Recht in Anspruch. War schon für den wandernden Evangelisten der Grundsatz in Geltung, daß er als Lohn für seine Predigt auf Verpflegung durch die Gemeinden Anspruch habe — daß er für geistliche Aussaat leibliche ernten solle, wie Paulus es ausdrückt 4 —, so wurde der geistlichen Hauptstadt allgemein das Recht zuerkannt, von ihren Tochtergemeinden unterstützt zu werden. Die Festsetzung dieser finanziellen Leistungen wird auch Sache des Petrus bei seinen Inspektionsreisen gewesen sein. Und so entstand, vielleicht erst nur halb bewußt, dann aber planmäßig gefördert, eine volle Parallele zu der Tempelsteuer, welche von den jüdischen Diasporagemeinden nach Jerusalem abgeführt wurde. Ohne eigentliche Absicht war durch den Zwang der geschichtlichen Entwicklung in wenigen Jahren aus dem kleinen Enthusiastenkreis in Jerusalem eine ') Matth. 18,18. ) Cicero pro Flacco 28, 67. l ) Jos. A. 16,163—173. Schürer 2, 314. ») Juster 2,145 A. 5. *) Juster, 2,1 ff. 111 ff. ») Juster 1,409—496.

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6. Die jüdische Diaspora

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vor allem in Syrien der Fall, wo Seleukus I. bei seinen Stadtgründungen offenbar in größerem Umfang jüdische Auswanderer angesiedelt und entsprechend privilegiert hatte 1 . Und ähnlich war es in Kleinasien und Ägypten: wenigstens behaupten das die jüdischen Schriftsteller, allen voran Josephus.Aber seit wir für Alexandria, wo die gleiche Behauptung vorliegt, urkundlich ihre Unrichtigkeit erweisen können1 — die Juden strebten nach dem Bürgerrecht, aber besaßen und bekamen es nicht — werden wir auch den übrigen Angaben der Art mit Vorsicht begegnen. Jedenfalls hörten sie auch als Bürger darum nicht auf, ihre eigenen Gemeinden mit ihrer Sonderstellung festzuhalten: der Gedanke eines Aufgehens in der heidnischen Umgebung lag ihnen völlig fern, und den religiösen Pflichten des hellenischen Bürgers, der Teilnahme an städtischen Kultakten und allem, was damit zusammenhing, wußten sie sich zu entziehen. So bedeutete das städtische Bürgerrecht für sie nur eine Mehrung des Rechtsschutzes, ohne ihnen neue Pflichten aufzubürden. Das änderte sich auch nicht, wenn ein Jude römischer Bürger wurde. Die zahllosen Freigelassenen aus dem Gefangenentransport des Pompejus und ihre immer wieder sich ergänzenden Nachfolger erhielten dies Ehrenrecht automatisch durch den Akt der Freilassung. Aber auch als wirkliche Ehrenerweisung wurde das römische Bürgerrecht Einzelpersonen oder ganzen Korporationen verliehen, die sich der römischen Politik gefällig erwiesen hatten. Das bedeutete nicht wenig für den Juden, löste ihn aber trotzdem nicht von seinem Volk und seiner Rechtsordnung, wenn er ihr treu zu bleiben wünschte. Gegenüber den örtlichen Behörden aber wurde ihm dadurch eine kräftige Rückendeckung gewährt: er war als privilegierte Person aus der Masse der Bevölkerung herausgehoben, vor entehrenden Strafen geschützt und im Kapitalprozeß nur dem kaiserlichen Gericht in Rom unterstellt, also der Willkür der Provinzialbeamten entzogen. Und auch das wurde den Juden x ) Jos. A. 12,119. Schürer 3,122. Juster 2,2—18. 30—32. Idris Bell, Jews and Christians in Egypt (1924), &—10.

') H.

Rechtsstellung. Berufe

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zuteil, ohne daß religiöse Gegenleistungen auf dem Gebiet des Kaiserkultes gefordert wurden1, die ihrem strengen Monotheismus untragbar gewesen wären. Dafür suchten und fanden sie Ersatz in anderen Formen der Loyalitätskundgebung, die sich bis zu einem täglichen Opfer für den Kaiser im Jerusalemer Tempel ausdehnten*. Die Rücksichtnahme auf ihre religiösen Anschauungen ging so weit, daß sie am Sabbath vom Erscheinen vor Gericht, vereinzelt sogar die jüdischen Soldaten an diesem Tage vom militärischen Dienst dispensiert wurden' Eine ihnen natürlich höchst erwünschte allgemeine Befreiung vom Militärdienst haben sie allerdings nie erreicht: nur in der Zeit Casars ist dies Vorrecht gelegentlich den Juden in der Provinz Asia gegeben worden, die das römische Bürgerrecht besaßen* Unter den von den Diasporajuden betriebenen Berufen* steht an erster Stelle der Ackerbau: aus Ägypten und Kleinasien haben wir besonders reichliche Zeugnisse* über jüdische Siedlungen wie über Gutsbesitzer, Bauern und Tagelöhner jüdischer Nationalität. Im Abendlande häufen sich die Nachrichten über ackerbauende Juden erst seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert. Dem gegenüber tritt der Handel auffällig zurück: nur in der Weltstadt Alexandria scheint er früh zu bedeutender Höhe aufgeblüht zu sein, und hier finden wir auch schon früh große jüdische Banken—und auch schon Warnungen vor Anleihen bei Juden 7 Häufiger hören wir von jüdischem Gewerbe, und die Weberei in ihren verschiedenen Ausgestaltungen, zumal in Verbindung mit der Stoffärberei war geradezu eine jüdische Spezialität und ist es jahrhundertelang geblieben. Uber die wirtschaftliche Rolle der Juden in Rom haben wir leider keine brauchbaren Nachrichten. Die Grabinschriften geben kaum etwas aus, und das bettelnde Gesindel ») Juster 1.339—353. ') Jos. c. Ap. 2,77. B. 2,197.409. ») Jos. A. 16, 27.45.60.163.168; 14,226. Juster 2,121; 1,358. «) Jos. A. 14, 227.228.230.232.234.235.237. Juster 2,265—279. «) Juster 2. 294—310. 315—320. L. Friedländer, Sittengeschichte 3, 204. 208. ·) Test. Isachar 6,2. 7) U. Wilcken, Chrestomathie n. 55—62.

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6. Die jüdische Diaspora

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an der Porta Capena, von dem Juvenal 1 erzählt, wird so wenig wie seine zitterige alte Wahrsagerin typisch für die Berufe der römischen Judenschaft sein. Dieses innerlich so eng aneinandergeschlossene und von der heidnischen Welt so scharf abgegrenzte Judentum hat nun aber seltsamerweise das kräftigste Bestreben gehabt, seine Anschauungen auszubreiten und unter den Heiden Anhänger seiner Religion zu werben. Jesus und Horaz stimmen darin überein, daß sie für einen charakteristischen Zug des jüdischen Volkes seine Proselytenwerbung erklären: die Pharisäer „durchziehen Meer und Land, wenn es gilt, auch nur einen Proselyten zu machen", heißt es im Matthäusevangelium 1 , und der Satiriker 5 droht dem Verächter der Poesie, ihn mit der ganzen Menge der Dichter zu überfallen „und wir werden dich wie die Juden zum Übertritt in unsere Schar zwingen". Wie ist das zu erklären? Seit den Tagen des Deuterojesaias ist im Volke Israel der Gedanke nicht mehr erloschen, daß es bestimmt sei, ein Licht der Heiden zu werden und ihnen das Heil zu verkündigen: ihre Bekehrung wird die glanzvolle Offenbarung des Herrn vollenden 4 . In den Psalmen wie in der Apokalyptik ist dieser Gedanke lebendig geblieben, und als in hellenistischer Zeit das Judentum mit der geistigen Kultur der Griechen Fühlung bekam, mußte ihm zweierlei deutlich werden. Einmal die unaufhaltsam fortschreitende Zersetzung des „Götzendienstes" und zum andern die Verwandtschaft des jüdischen Monotheismus mit den modernen Strömungen in der Weltreligiosität und die vielen Berührungen zwischen jüdischer Sittlichkeit und den Forderungen der auf stoischer Grundlage aufbauenden landläufigen Moralpredigt der Volksphilosophen. Beides gab dem gebildeten Juden das stolze Bewußtsein, daß die Zeit gekommen sei, seine Religion vor den Heiden leuchten zu lassen 5 , und daß Gott ihr den geweissagten Sieg schenken werde. So be') Juvtenal 3,14. 6, 543. ») Matth. 23,15. ') Hör. Sat. 14,142. *) Jes. 49,1—6; 60, 1—6. 5 ) A. Bertholet, Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden 257—302.

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Missionswesen

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greift sich das Eindringen hellenischer Gedankengänge in die jüdische Weisheitsliteratur: die beiden Ströme flössen leicht ineinander, zumal die hellenistische Ethik schon vorher mancherlei von der Weisheit des Orients in sich aufgenommen hatte. Und es entstand eine jüdische Kampfliteratur gegen Bilderkult und Götzendienst, die altererbte Argumente aus den Tagen der Propheten mit den seit Xenophanes bei den Griechen üblichen Beweisen verband. Der Monotheismus als theologisches Grunddogma, die Geistigkeit des bildlosen Gottesdienstes, die Gesetzlichkeit im Sinne einer ethischen Haltung des ganzen Lebens wurden als wesenhafte Grundlagen der jüdischen Religion empfunden, und alles Zeremonielle und Formalkultische als gottgelehrtes und darum verehrungswürdiges Symbol gewertet. Dieser Prozeß der Vergeistigung hat in dem verhältnismäßig kleinen Kreis des griechisch gebildeten Diasporajudentums so ziemlich alle Stufen durchlaufen und wird sich nur selten zu derHöhe aufgeschwungen haben, die wir bei demAlexandrinerPhilo antreffen. Aber erwarinallenseinen Phasen zugleich Antrieb undMittel zurPropaganda in der hellenistischen Welt. Das Judentum trat aus seinen nationalen Schranken heraus und fühlte sich zur Weltreligion berufen 1 . Das Alte Testament ist in Alexandria ins Griechische übersetzt worden: aber für den Gemeindegebrauch 1 . Es war kein Buch für das gebildete Publikum. So traten nun hellenistische Juden auf und schrieben die Geschichte ihres Volkes im Geschmack der Zeit, erst noch in ängstlichem Anschluß an Bibel und heimische Tradition, dann aber seit Eupolemos und Artapanos' mit allen Künsten hellenistischer Form- und Farbengebung und freier Erfindungsvollmacht für die eigene Phantasie bis zu den kecken Schwindeleien des sogenannten Hekatäus 4 . Letzen Endes kommt es immer darauf an, Moses und sein Volk zum Urquell aller Kultur, auch der vielgerühmten griechischen Weisheit zu machen. ') Philo vita Mosis 2, 20 (4, 204). Jos. c. Ap. 2, 280—282. ») Billerbeck 4 a, 407. *) Bruchstücke dieser Schriftsteller sind erhalten durch Alexander Polyhistor: Fragm. hist. Graec. ed. C. Müller 3, 211—230. *) Müller 2, 393—396. Anders jetzt H. Lewy Z N W 31, 117—132.

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6. Die jüdische Diaspora

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Auch für die rein religiöse Propaganda waren die alttestamentlichen Schriften nicht ohne weiteres zu verwenden: sie bedurften allzusehr des Kommentars, um zeitgemäß verstanden werden zu können. Höchstens die spätere Weisheitsliteratur, die mit dem Namen Salomos und des Jesus Sirach gezeichnet war, konnte direkt den Weg zu einem hellenistischen Herzen finden. Aber die eigentlichen Werbeschriften sind vom griechischen Gesichtspunkt aus konzipiert worden. Ein ehrwürdiger Verfassername sollte Zutrauen wecken, und die Form mußte dieser Etikettierung entsprechen. So entstanden seit der Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus hexametrische Lehrdichtungen, die sich als Weissagungen einer mythischen Sibylle ausgaben und eine vermutlich auch von andern Orientalen gepflegte Literaturgattung übernahmen. Hier werden Kronos und Zeus, Salomo und Alexander, der trojanische Krieg und die babylonische Gefangenschaft sinnig ineinandergewebt und Homer ein alter Lügner gescholten; die apokalyptisch betrachtete Weltgeschichte endet in dem paradiesischen Friedensreich des messianischen Königs, zu dem sich auch die Hellenen bekehren werden. Uralte Weisheit wird auch unter dem Namen des persischen Hystaspes oder des thrakischen Orpheus angepriesen, dem ehrwürdigen Lehrgedicht des Phokylides aus Solons Zeit wird ein modernes Supplement an die Seite gestellt, und mit besonderem Geschick hat man nach Art der üblichen poetischenBlumenlesen eine Sammlung von gefälschten Zitaten angefertigt, welche die berühmtesten Dichter von Orpheus und Homer an über die Tragiker bis zu den beliebten Komikern und Predigern praktischer Lebensweisheit, Philemon, Menander und Diphilos, als Zeugen für jüdische Lehren auftreten läßt1. Jüdische Propaganda für das Alte Testament ist es schließlich auch, wenn unter dem Namen eines Griechen Aristeas ein „Brief" veröffentlicht wurde, der mit Bewunderung davon erzählt, wie König Ptolemäus Philadelphos das heilige Buch amtlich habe übersetzen lassen: wobei ein staunenswertes Wunder die göttliche Mitwirkung bei diesem Werk außer Zweifel gestellt habe. Vgl. Schürer 3, 595—) Philo in Flacc. 20, leg. 355 (6,124; 220). Lietzmann Griech. Pap.» (Kl. Texte Nr. 14) 21 f. *) Jos. B. 2, 487—498. *) Jos. B. 2, 266—270, 457. «) Jos. B. 2, 458. 461. 466. 477—479. 5 ) Jos. Β 7, 4 3 - 6 2 . 100—111. Α. 12, 121. ·) Tacitius hist. 5, 5. 8.

6. Die jüdische Diaspora

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einem absurden und schmutzigen Aberglauben ergebene, verächtlichste aller Sklavenvölker. Bei aller Lebhaftigkeit des Verkehrs mit Jerusalem und allem Gemeingefühl war aber dieses Diasporajudentum im Laufe der Geschichte innerlich doch ein anderes Gebilde geworden als das Volk der Heimat. Das wird am sinnfälligsten dadurch bezeugt, daß es die Sprache Palästinas verlernt und die griechische Weltsprache angenommen hat. Diese Anpassung lag im Zug der geschichtlichen Entwicklung des jüdischen Volkes, denn seine Muttersprache hatte es ohnehin schon lange auch in der Heimat aufgegeben. Als die Exilierten aus Babylon zurückkehrten, brachten sie die aramäische Verkehrssprache des Ostens mit nach Hause und haben sie ein Jahrtausend lang beibehalten. Das Hebräische blieb als heilige Sprache der Gelehrten in frommer Übung: die Diskussionen der Mischna werden im zweiten nachchristlichen Jahrhundert noch hebräisch aufgezeichnet. Aber die Talmude des vierten und fünften Jahrhunderts zeigen den Sieg des Aramäischen auch in der Theologenschule. Von der ägyptischen Diaspora haben wir wertvolle Dokumente in aramäischer Judensprache aus dem fünften Jahrhundert vor Christus in Elephantine gefunden.und ein Einschub in den Jesaiatext (19,18) weiß gar von fünf Städten Ägyptens, in denen „die Sprache Kanaans" geredet wird. In ptolemäischer Zeit finden wir noch kümmerliche Spuren aramäischer Sprache in Oberägypten' und in Alexandria1, aber um die gleiche Zeit sehen wir bereits das Griechische in siegreichem Vordringen im öffentlichen und privaten Leben der Juden. Die Juden von Onias* widmen ihren Toten in der letzten Ptolemäerzeit nicht nur griechische Grabinschriften, sondern besingen das traurige Los der Abgeschiedenen auch in elegischen Gedichten, die nach hellenistischen Vorbildern geformt sind und den Hades so gut wie die Moira auftreten lassen. In der ganzen übrigen Mittelmeerwelt finden wir l ) Schürer 3, 49. *) Lidzbarski Ephem. f. semit. Epigr. 3, 49. ») Tell-el-Yehudieh bei Kairo, ZNW 22, 280—286.

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Griechische Sprache

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fast ausschließlich griechische Denkmäler der jüdischen Diaspora. Hie und da begegnet einmal das eine oder andere hebräische Formelwort, etwa „Schalom" = Friede, oder „Schalom al Jisrael = Friede über Israel, auf einer Grabplatte, ganz selten eine wirklich in hebräischer oder aramäischer Sprache abgefaßte Inschrift. Die oft geäußerte Vermutung, die Bezeichnung „Hebräer" weise auf Hebräisch oder Aramäisch sprechende Gemeinschaften, ist falsch. Wir haben in Korinth den Türsturz einer Synagoge gefunden', auf dem der Name der Gemeinde steht: „Synagoge der Hebräer". Aber diese „Hebräer" sprachen eben nicht Hebräisch, denn die Inschrift ist — griechisch! Hebräisch konnten außerhalb Palästinas nur die Rabbinen — und wieviel und wie viele ist unbekannt. Nur aus dem abgelegenen Winkel der Krim haben wir hebräische Inschriften des 1. bis 4. Jhs. n. Chr. erhalten 1 . Diese Sprachumstellung in der Heimat wie in der Diaspora blieb nicht ohne weittragende Wirkung auf das gottesdienstliche Leben. Die altgewohnte Schriftlesung in der Synagoge mußte von einer Übertragung in die dem Volke verständliche aramäische Sprache begleitet werden, und zwar folgten sich Urtext und Ubersetzung Vers für Vers. Stellen, die bedenklich waren, wurden nicht übersetzt, sondern nur hebräisch gelesen*. Aus diesen ursprünglich mündlichen Übertragungen, die natürlich bald traditionell feste Formen gewannen, sind unsere aramäischen Targume erwachsen, die schließlich in talmudischer Zeit, d. h. etwa im 5. Jh., auch niedergeschrieben wurden. Aber auch die rituellen Gebete, die bis auf den heutigen Tag in ihrer ursprünglichen hebräischen Form die jüdischen Gebetbücher füllen, wurden vom Volk in der Sprachc des gewöhnlichen Lebens gebetet. Die Mischna4 erlaubt das ausdrücklich, und ein kluger Rabbi begründet es einem Tadler gegenüber mit der durchschlagenden Bemerkung, es sei doch ») Deißmann, Licht vom Osten, 13. *) P. C. Caspari, Quellen z. Gesch. d. Taufsymbols 3, 269. Üb. griech. Beten cf. Rudolf Meyer, Hellenistisches in der rabbin. Anthropologie (1937) S. 142. *) Mischna Megilla 4, 4. 10. 4) Mischna Sota 7, 1. Schürer 3, 140 f.

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besser so, als wenn die Leute überhaupt nicht beteten 1 ; ein leichter Schein von Minderwertigkeit haftete also doch an diesem Ausweg. Karl der Große 1 hat das Beten des deutschen Vaterunsers besser begründet. Und wie in der Heimat das aramäische Targum neben den Urtext trat, so ist in der Diaspora eine griechische Ubersetzung im Gottesdienst der Synagoge gebraucht worden': sie ist als „Septuaginta" bekannt und erhalten und in Alexandria entstanden. Zuerst ist der wichtigste Teil, der im Kult auch an erster Stelle stand, übersetzt worden, nämlich der Pentateuch: seine griechische Version ist Ende des 3. Jhs. schon bekannt. Dann sind die Propheten und die übrigen Bücher stückweise und von verschiedenen Autoren gefolgt, und bald nach 116 v. Chr. kennt der Enkel des Jesus Sirach bereits das ganze Alte Testament 4 . Die Septuaginta ist am Beginn der römischen Kaiserzeit — das beweist allein schon ihr Gebrauch bei Philo und Paulus5 — die überall anerkannte und im Gottesdienst benutzte Bibel des Diasporajudentums, und in Alexandria* hat man alljährlich auf der Pharosinsel ein Volksdankfest für diese Ubersetzung gefeiert. Konkurrierende alte Übersetzungen scheint es für einzelne Bücher gegeben zu haben7, sie sind aber früh und fast spurlos untergegangen. Erst der Gegensatz zum Christentum, welches sich die Septuaginta gleichfalls zu eigen machte, hat seit dem 2. Jh. die Entstehung neuer und wörtlicherer griechischer Übersetzungen für den jüdischen Gebrauch veranlaßt. Ob der Urtext überhaupt noch neben der Übersetzung zur Verlesung gelangte, muß zweifelhaft bleiben und ist vermutlich auch verschieden gehandhabt worden. Wenn unter Kaiser Justinian 8 verstärkter Nachdruck auf dem Vortrag des Originals liegt und die Frage diskutiert wird, ob man überhaupt eine Übersetzung neben ihm vorlesen dürfe, so ist darin schon ') Talm. jer. Sota 7, 1 fol. 21 b. ») Capitulare 28, 52. 5 ) Schürer 3, 140. 426. Billerbeck 4, 407. ' ) Sirach Prolog, Wilcken Archiv f. Pap. 3, 321. «) Vielleicht gelten die Überschriften der Tempelpsalmen in der Septuaginta auch für die griechische Synagoge, s. Schürer 2, 351 Rahlfs Psalterausgabc 72. «) Philo vita Mosis: 2, 41 (4, 209). •) Handb. zu Gal. 5,1. 8 ) Novelle 146 pr. 1.

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Griechisch als Kultsprache

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eine Wirkung des erstarkenden Talmudjudentums zu erkennen. Für die frühe Kaiserzeit darf hieraus nichts geschlossen werden. Aber nicht nur die Schriftlektion war griechisch: auch die Gebete und das Glaubensbekenntnis, das sog. Schma, wurden im synagogalen Gottesdienst griechisch gesprochen. Das ist uns sogar für Cäsarea, die quasi-heidnische Hauptstadt Palästinas, bezeugt* und gilt natürlich erst recht für die weitere Diaspora. Erst in neuerer Zeit ist es gelungen, aus einer christlichen Kirchenordnung des 4. Jhs. ein kleines Gebetbuch der jüdischen Synagoge in griechischer Sprache herauszuschälen*, das im 2. Jh. n. Chr. entstanden ist und uns wertvollste Aufschlüsse gibt. Aber es ist doch nur ein Tropfen aus einem Meer und führt uns eindringlich vor Augen, wie wenig wir über den synagogalen Kult der griechischen Diaspora wissen. Denn es darf als selbstverständlich angenommen werden, daß er nicht nur im Lauf der Jahrhunderte Wandlungen erfahren hat, sondern auch örtlich differenziert war, und daß die Intensität der Hellenisierung mannigfache Stufen aufgewiesen haben wird. Zu Lektion und Gebet trat die Schriftauslegung und Predigt hinzu, die selbstverständlich auch griechisch waren. Ihre traditionellen Elemente nannte man mit einem Sammelnamen Deuterosis: das ist eine wörtliche Wiedergabe des hebräischen Mischna, d. h. Wiederholung, und begreift alles in sich, was auf dem Gebiet der Gesetzlichkeit oder der Geschichtserzählung aus dem heiligen Text des Alten Testamentes herausgesponnen wurde: also Halacha, die spezialisierte Gesetzeskasuistik, und die Haggada, die biblische Legende. Noch Augustin' bezeugt, daß diese Deuterosis nur mündlich tradiert und nicht niedergeschrieben wurde — die Diaspora folgte also dem Beispiel der Heimat. Es hat demnach eine griechische Halacha und eine griechische Haggada gegeben, oder anders ausgedrückt: in der Diaspora war ein griechischer Midrasch und ') Talm. jer. Sota 7, 1 fol. 21b; Schürer 3, 141. ») Const. Apost. 7, 33—38; Bousset in Gotting. Nachr. 1915, 435—489. *) c. adv. leg. et proph. II 1, 2; 8, 580 e Bened. Philo vita Mosis 1, 4 (4, 120).

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ein griechischer Talmud vorhanden. Die Spuren davon sind uns noch vielfach erkennbar, bei Paulus, Philo, Josephus, in den Apokryphen—aber erhalten ist nichts, schwerlich ist auch viel davon niedergeschrieben. Und diese ganze Welt ist mit dem griechischen Diasporajudentum untergegangen. Wenn wir uns ein Bild von der geistigen Eigenart der hellenistischen Diaspora machen wollen, so sind wir auf wenige dürftige Quellen angewiesen. Am besten sind wir noch über Ägypten unterrichtet: hier ist die Septuaginta entstanden, hier haben Pseudo-Aristeas, das dritte Makkabäerbuch, vielleicht auch das vierte und die Weisheit Salomonis ihre Heimat, und hier wirkte Philo. Aber um so weniger erfahren wir von andern Ländern — und für die Anfänge des Christentums hat gerade Ägypten direkt überhaupt keine Bedeutung. Aber Alexandria hat doch seine griechische Bibel in der ganzen Judenschaft verbreitet und ist augenscheinlich neben Jerusalem der einzige geistig produktive Ort des Volkes Israel gewesen. Das gibt uns einRecht, die dort beobachtetenErscheinungen in gewissen Grenzen zu verallgemeinern. Die Übersetzung der Bibel ins Griechische öffnete einer Hellenisierung der jüdischen Religion das Tor: mit den griechischen Worten zogen unausweichlich griechische Begriffe in den Gedankenkreis der Synagoge ein, und die philosophischen Funktionen zahlreicher Wörter forderten zu philosophierendem Weiterspinnen alttestamentlicher Gedankengänge auf: Analoges ergab sich bei religiös bedeutsamenAusdrücken. Es war eine ungewollte, aber unvermeidliche Wirkung der Übersetzung, und gerade in Alerandria ist sie aufs stärkste in die Erscheinung getreten. Es hat sich dort eine Exegetenschule gebildet1, die mit philosophischen Fragestellungen an den Pentateuch herantrat und bei den Stoikern die Methode allegorischen Interpretierens gelernt hatte. Diese Männer finden in den biblischen Urgeschichten philosophische Wahrheiten ausgesprochen: Adam ist der Nus, die Vernunft als Grundlage des Menschen, seine „Gehilfen", die Tiere des Feldes und die Vögel des ') W. Bousset, Schulbetrieb 43—56. 74—83.

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Hellenistische Theologie

Himmels, stellen die Affekte vor. Eva ist die der Vernunft gegenüberstehende, aber zu ihrer Ergänzung unentbehrliche Sinnlichkeit, und die Schlange das Symbol der Lust, der Liebe, die beide Gegenpole zusammenbringt und die Einheit des Menschen bewirkt 1 . Sara und Hagar bedeuten Tugend und wissenschaftliche Bildung, diese letztere muß erst zum Weibe genommen, d. h. mit sich verbunden haben, wer von der ersten Kinder haben will*. Wenn uns berichtet wird*, daß Jakob vor Esau nach Mesopotamien flieht und in Bethuels Haus kommt (Gen. 27, 42—28,5), so ist damit gelehrt, daß der rechte Mann sich in den Strom des Lebens stürzen und sich darin praktisch bewähren soll, damit er den ruhigen Hafen im Hause der Weisheit finde. Es ist der neueren Forschung gelungen, Reste solcher Lehrvorträge alexandrinischer Juden aus den Schriften Philos herauszuschälen und eine Jugendschrift Philos von der Unvergänglichkeit der Welt 4 als Nachschrift eines Kollegs der geschilderten Art zu erkennen. Diese ältere Tradition zeigt sich ganz berauscht vom Hellenismus, von seinen Geistesmächten und seiner Weltoffenheit, dem gegenüber Moses und die Bibel zurücktreten: dieses Judentum kapituliert auf geistigem Gebiet vollständig vor den Griechen — vermutlich ohne daraus irgendwelche Konsequenzen für die religiöse Betätigung im öffentlichen Kult oder privaten Leben zu ziehen. Denn es war sich keiner wirklichen Abweichung vom Wesen seiner Religion bewußt und glaubte nur, mit den frisch erworbenen philosophischen Hilfsmitteln eine vertiefte und darum richtigere Auffassung von dem Sinn des mosaischen Gesetzes gewinnen zu können: und daß diese neue Erkenntnis mit den Lehren der griechischen Weisen zusammenklang, diente ihr in diesen Kreisen nur zur Empfehlung. Hatten doch die Griechen von der Stoa gelernt, ihre eigene Religion in gleicher Weise zu durchleuchten, und in den folgenden Jahrhunderten hat der wiederauflebende Piatonismus mit denselben Waffen apologe») Philo leg. all. 5—9. 36—38. 71 (1. 91.97. 104). ») Philo congr. 6. 9—11.23 (3,73—77). Bousset 98—100. ') Philo fuga 25—52 (3,115—121). Bousset 128 f. «) Philo Bd. 6, 72—119. Bousset 134—137.

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tische Schlachten für den Homerischen Glauben geschlagen und aus ägyptischem Kult philosophische Weisheit herausgelesen: das war der Zug der Zeit. Nur einer von diesen hellenistischen Rabbinen hat seinen Vorträgen eine wirklich literarische Form gegeben, der Alexandriner Philo. Auch er ist mit vollem Ernst und betontem Nachdruck Jude: und als die Judenverfolgung unter Flaccus sein Volk mit Entrechtung und Vernichtung bedrohte, hat er, zwar seufzend, aber doch entschlossen seine beschauliche Ruhe geopfert und an einer diplomatischen Gesandtschaft zum Kaiserhof teilgenommen, die wenig Aussicht auf Erfolg versprach und leicht den Kopf hätte kosten können. Die alexandrinischen Juden wollten offenbar ihren kultiviertesten, gelehrtesten Vertreter dem Herrscher präsentieren. Aber Philo ist nicht nur aus nationalem Empfinden, sondern auch aus religiöser Überzeugung Jude. Moses ist ihm der Quell aller Wahrheit und Weisheit und das Gesetz der unerschöpfliche Brunnen, aus dem zu trinken er nicht müde wird. Seine Schriften beweisen, daß er „über dem Gesetz gesonnen hat Tag und Nacht". Aber wenn er unter dem äußeren Wortlaut tiefere Geheimnisse spürt, die den eigentlichen Sinn des Gotteswortes enthüllen, so ist ihm darum das schlichte Gebot in seiner äußerlichen Form nicht minder heilig. Er warnt 1 davor, irgend etwas von den väterlichen Sitten aufzugeben, „die größere Männer als unsereiner festgesetzt haben". Der Ritus ist für den Leib, wie der tiefere Sinn für die Seele. Aber wenn er sich dann zur Exegese des Gesetzes wendet, finden wir ihn ganz auf der Bahn hellenistischer Allegoristik. Der große", „hochheilige" Plato ist ihm der immer und immer wieder zitierte Meister, aber auch Aristoteles, Heraklit, die Pythagoreer, Epikur und vor allem die Stoiker werden in großem Umfang als Gewährsmänner angerufen. Was Moses gelehrt hat, ist von den griechischen Philosophen aufgenommen und ausführlicher dargelegt worden, es ist im letzten Grunde die Lehre von Gott und der Welt und dem Menschen. Sein Gesetz ist mit dem Wesen ») migr. Abr. 89 f. (2, 285 f.).

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Philo

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des Kosmos in Harmonie, und wer nach dem Gesetz lebt, lenkt seine Handlungen nach dem Willen der Natur und ist somit der rechte „Kosmopolit": er lebt nach den gleichen Normen, die den ganzen Kosmos regieren1. Mit anderen Worten: der wahre Jude entspricht dem Ideal des stoischen Weisen. So interpretiert Philo in den biblischen Schöpfungsbericht die Ideenlehre Piatos und pythagoräische Zahlensymbolik samt der stoischen Teleologie hinein. So findet er in den Patriarchenerzählungen die „ungeschriebenen Gesetze", d. h. die Grundtypen des Tugendlebens, zur Darstellung gebracht 1 und wertet ihre Lebensbilder als Musterbeispiele zur Anspornung der Leser. Enos ist ihm der Mann der Hoffnung, Enoch, der von Gott in ein besseres Leben entrückt wurde, stellt Reue und Besserung, Umkehr zum philosophischen Studium dar, Noah ist das Bild des „Gerechten". Aber diese drei bilden doch nur erst ein kindliches Streben der Menschheit ab: erst die drei großen Patriarchen sind die in männlicher Vollkraft um den heiligen Siegespreis gegen die widerstrebenden Affekte ringenden Athleten*. Die Tugend entspringt entweder aus dem Studium — so bei Abraham — oder ist angeborene Natur — so bei Isaak — oder sie ist das Ergebnis von Übung — so bei Jakob: also stellen die drei Erzväter die drei philosophischenTugendtypen dar. Erhalten ist uns die unter diesem Gesichtspunkt gezeichnete Schilderung des Lebens Abrahams mit seinem Übergang von der Astrologie der Chaldäer durch das Gebiet der sinnlichen Erkenntnis zur wahren göttlichen Weisheit. Als vierter Typ tritt der „politische Mensch" hinzu, der Weise, der im realen Leben praktisch zu wirken unternimmt: das Urbild dieses Politikers in der Vielfältigkeit und Wandlungsfähigkeit ist Joseph mit seinem bunten Rock4. Dann werden in einer Reihe weiterer Bücher die formulierten mosaischen Gesetze durchgesprochen, ihre allgemeinen sittlichen Prinzipien am Dekalog als dem Grundgesetz entwicklt und die gesamte Ritualgesetz') opif. mundi 3, 143 (1,1. 50). ') Abr. 3—5 (4, 2); decal. 1 (4. 296). >) Abr. 48 (4, 12). Jos. 1 (4, 61). «) Jos. 31—34 (4,68).

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gebung unter Verwertung traditioneller Auslegungen durchgeistigt und philosophisch verständlich gemacht. Während er in diesen Werken, zu denen auch die Mosesbiographie gehört, noch in enger Berührung mit dem eigentlichen Wortsinn bleibt und die als historisch verstandenen Berichte und die real auszuführenden Gebote nur unter höheren Gesichtspunkten erfassen lehrt, führt uns eine andere Schriftenreihe in das eigentliche Heiligtum seiner Spekulationen. In den „Gesetzesallegorien" und den daran angeschlossenen Traktaten verschwindet alle Beziehung auf historisches Geschehen. Adam und Eva, Kain und Abel, Noah, Abraham, Jakob und Esau, Sarah und Hagar sind dieser allegorischen Deutung nur Bildzeichen für menschliche Seelenkräfte, die in Spannung und Ausgleich aufeinander wirken, und deren wechselvolle Beziehungen dem Philosophen das Verständnis des Seelenlebens und den Weg zur Tugend und zur Gottesgemeinschaft weisen. Denn auch darin weiß sich der Jude Philo in Übereinstimmung mit dem Geist seiner Zeit, daß alle Philosophie letzten Endes auf praktisches Handeln abzielt und in der Ethik ihre Krönung findet. Diese Ethik ist auf der Grundlage des platonischen Gegensatzes von Geist und Materie unter reicher Verwendung stoischer Gedankengänge aufgebaut und hat asketische Färbung. Der Weg zu Gott führt über die Besiegung der Affekte und Uberwindung des sinnlichen Trieblebens; die Befreiung der Seele ist ihre Loslösung vom Gefängnis des Leibes, der sie mit seinen Fesseln umschließt. Aber in die Lehren der Philosophenschule klingen hier andere Laute hinein. Philo redet im Tone des Mystagogen zu der kleinen Schar der Geweihten1, wenn er ihnen das Geheimnis vom unmittelbar göttlichen Ursprung des Guten in der Menschenseele anvertraut, oder wenn er die Seele auffordert, in bacchantischem Taumel die Vernunft hinter sich zu lassen, aus sich selbst und dem Ichbewußtsein hinauszutreten und in , nüchterner Trunkenheit" sich im Wahnsinn der himmlischen Liebe emporreißen zu lassen zu dem ') Cehrub. 42—50 (1, 180 f.).

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Philo

Wahrhaft Seienden1. Hier ist Philo nicht mehr der Schüler hellenischer Philosophen, sondern der Genösse hellenistischer Mystiker, deren Geheimlehre von der in den Banden des Leibes schmachtenden, gottentstammten Seele ihm ins Herz gedrungen ist. Von ihnen hat er auch erfahren, daß der Myste den Weg zum göttlichen Urquell wiederfinden kann, wenn er das Irdische von sich wirft und den göttlichen Geist in sich walten läßt. Mehr als einmal* ruft er seine Leser zum Wagnis des Himmelsfluges auf, den er selbst so oft beseeligt unternommen hat. Seine Idealschilderung des Ordens der Therapeuten* gipfelt in der Beschreibung der Nachtfeier, welche diesen durch enthaltsames Leben und ständige Meditation geübten Asketen die Wonne der enthusiastischen Ekstase beschert. Die Basis für diese Ethik liefert seine Spekulation. Gott ist das absolute Sein und die Einheit: er ist den menschlichen Erkenntnisorganen unfaßbar und nur mit negativen Prädikaten zu beschreiben. Er ist seinem Wesen nach Kausalität, also das Aktive, Schaffende, dem in der Materie das Passive gegenübersteht, an dem er in der Weltschöpfung seine Macht erweist*. Aber nicht direkt berührt der Höchste die unsaubere Materie, sondern er bedient sich der Vermittlung körperloser Kraftwesen, die Ideen genannt werden®. Sie bilden in ihrer Gesamtheit eine intelligible Welt, ein ideales Musterbild, nach dem die sinnliche Welt durch eben diese schöpferisch wirkenden Kräfte* gebildet wird. Diese Ideenwelt kann aber auch als eine Einheit begriffen werden: sie ist der Logos Gottes 7 , die Uridee schlechthin, welche die bunte Summe unzähliger Ideen in sich vereinigt8. Der Logos, der Schatten und das Abbild Gottes, sein schaffendes Organ*, steht in der Mitte zwischen Gott und l ) div. heres 69 f. (3,16 f.). Bousset Judentum 450 f. Reitzenstein hell. Myst. 66 f. Poimandres 204. Hans Lewy Sobria ebrietas 73 ff. ') Cherub. 27 (1, 176); vgl. migr. Abr. 35 (2, 275). *) Vita contempl. 83—89 (6,69 f.). *) mundi opif. 8 f. (1,2). ") spec. leg. 329 (5, 79). «) mundi opif. 16 (1,5). 7 ) mundi opif. 25 (1,8), somn. 45 (3,266). ") sacr. Abel. 83 (1, 236). · ) leg. aUeg. 3, 96 (1, 134); spec. leg. 1, 81 (5, 21).

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Welt: nicht ungeschaffen wie Gott, aber auch nicht Geschöpf wie wir1. In der Sprache der Bibel wird dieser Logos als Gottes Erstgeborener, als Erzengel, Weisheit und als Hoherpriester, als Fürsprecher, der bittend für die Geschöpfe bei Gott eintritt*, bezeichnet. Gelegentlich entwickelt Philo noch ein System von weiteren fünf Kräften, Dynameis, die aus dem Logos abgeleitetsind—Schöpferkraft,Königsmacht,Barmherzigkeit,Gebot, Verbot* — und kommt nicht selten darauf in kurzen Andeutungen zurück, ein andermal offenbart er feierlich das Geheimnis, der Logos sei die Vereinigung zweier Urkräfte, Güte und Macht4. Es ist vergebliche Mühe, in diesen phantasievollen Hypostasenspekulationen ein System finden zu wollen. Die Vorstellungen laufen nebeneinander her und mischen sich auch gelegentlich einmal, ohne sich damit ihrer Freiheit und Selbständigkeit zu begeben. Insbesondere bleibt das Verhältnis dieser Gedankenreihen zu der Ideenlehre durchaus ungeklärt trotz einzelner Ansätze zur Durchführung der mit der Gleichung „Logos gleich Intelligible Welt und Uridee" angedeuteten Reihe. So erscheinen weiterhin die einzelnen zahllosen Logoi als die biblischen Engel®, bei den Philosophen werden sie auch Dämonen genannt. Aus den körperlosen Seelen, die den Luftraum zwischen Himmel und Erde bevölkern" und teils zur Leiblichkeit hinabstreben, teils sich von ihr abwenden und zum Äther emporschweben, heben sich die besten und reinsten heraus als Diener und Boten Gottes, die zwischen ihm und der Menschheit vermitteln. Aber ob und in welchem Sinne etwa diese Engel-Logoi als Ideen zu bezeichnen seien, wird uns nicht auseinandergesetzt: beide Ströme bleiben unvermischt, weil sie aus verschiedenen Quellen fließen. Es könnte so scheinen, als wäre Philos Wesen und Lehre aus den zwei Wurzeln der griechischen Philosophie und der auf orientalischem Grunde ruhenden hellenistischen Mystik >) div. heres 206 (3, 47). l ) div. heres 205 (3,47); vita Mosis2, 134 (4, 231). ») fuga 95 (3, 130). ') Cherub. 27 (1, 176). 5 ) sobr. 65 (2, 228); conf. ling. 28 (2,235); migr. Abr. 173 (2, 302); somn. 1,115 148(3,229.236) ·) somn. 1,134—141 (3.234f.); Gigant. 6—16 (2.43 ff Λ

Philo

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restlos zu erklären, und das Jüdische sei bloß noch äußere Form. Aber diese Auffassung würde nicht in die letzten Tiefen dringen. Denn bei aller Spekulation, ethischen Deduktion und mystischem Enthusiasmus bleibt er doch im Grunde ein frommer Jude, dem der Gott des Alten Testaments die Zunge rührt. Er redet von ihm als dem Vater anders und lebendiger als die Philosophen, er preist seine Barmherzigkeit und Gnade, er weiß, daß er und alles, was zu ihm gehört, heilig ist. Er spricht in anderem Ton als die Stoiker von Sünde und sündigen, und er kennt die religiöse Bedeutung der Buße; in immer neuen Wendungen redet er vom Glauben, den man Gott als makelloses und schönstes Opfer darbringen müsse, und den er an Abraham vorbildlich erblickt 1 . Er fühlt in ganz alttestamentlicher Weise die Nichtigkeit 8 alles Menschlichen und Irdischen vor Gott und weiß ihn als Spender alles Guten: Er hat den Samen des Guten in die Seelen gesät und auch die Seligkeit der Ekstase ist letzlich seine höchste Gnadengabe*. Philos Gott ist nicht das Denkgebilde der Philosophen, sondern der Ewige, Unaussprechliche des Alten Testaments und der Synagoge, und auch sein Logos ist im letzten Grunde das personifizierte Schöpferwort der Genesis und die Weisheit der salomonischen Schriften 4 . Philo ist ein einsamer Denker gewesen und hat Wert darauf gelegt, es zu sein. Seine Schriften sind nur für einen engen Kreis von Lesern der gleichen Bildungsstufe geschrieben und konnten naturgemäß in weiteren Kreisen der Diaspora kein Echo finden: sie wären spurlos verschwunden, wenn nicht die alexandrinischen Christen sie verwertet und in die theologischen Bibliotheken der folgenden Jahrhunderte hinübergerettet hätten. Für das Judentum der frühen Kaiserzeit sind sie nur insofern charakteristisch, als sie uns lehren, wie weit bei einem hochkultivierten Juden die Aneignung philosophischer !) Cherub. 85 (1,191), Abr. 262—269 (4, 57 ff.), div. heres 90—95 (3, 21 f.). mut. nom. 54 (3, 166); somn. 1, 60. 212; 2, 293 (3, 218. 251. 305). *) leg. all. 1, 48. 82; 3, 219 (1, 73. 82. 162). ) 1. Kor. 2, 8. Kol. 2, 15. *) 1. Kor. 6, 15. 12, 13. ·) Rom. 12, 5. 1. Kor. 10, 17. Kol. 1, 18. 24.

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Christusgemeinschaft und Geist

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Fleisch: was sich einst als siegreicher Kampf wider die Sünde in der Person des geschichtlichen Jesus abspielte, das wiederholt sich immer aufs neue in jedem geistbegabten Christen: jeder Christ wird wieder ein „Christus auf Erden". Der Geist ergreift die Herrschaft im Menschen, bricht die Kraft der sinnlichen Begierden des Fleisches und ebnet den Weg zum Leben nach Gottes Willen. Der Christ wandelt „im Geist" und nicht „im Fleisch": er erfüllt die Forderungen des göttlichen Gesetzes1, was dem natürlichen Menschen in alle Ewigkeit unmöglich ist. Aber diese Gemeinschaft mit Christus ist auch eine Gemeinschaft mit seinem Leiden: wie der Weg des Herrn durch Leiden hindurch zur Erhöhung führte, so erfährt auch der Christ hier auf Erden d^is Leiden Christi, um danach auch an seiner Herrlichkeit teilzunehmen 1 . Christus ist, von hier aus gesehen, der Erstgeborene unter vielen Brüdern, die er seinem Bilde gleichmachen wird'. Der Christ spürt seine Begnadigung hier als Empfindung sittlicher Kraft im Kampf wider die Sünde, als Gefühl stolzer Freiheit Von ihrem dämonischen Zwang, als freudigen Besitz aller gottgefälligen Tugenden, als williges und überwindendes Ertragen aller Leiden in dem seligen Bewußtsein der Gemeinschaft mit seinem Herrn: aber er lebt in Hoffnung, denn die Vollendung seiner Erlösung, das heißt seine volle Befreiung vom Leibe, das selige Erfahren himmlischer Herrlichkeit, liegt in der Zukunft 4 . Der Prozeß der Erlösung ist also ein gottgewirkter Vorgang im Menschen, wodurch er von einem irdisch bestimmten, „fleischlichen", zu einem geistlichen, pneumatischen Wesen nach dem Vorbild Jesu Christi umgewandelt wird, ein Prozeß, der erst in der endgültigen Trennung vom Leibe mit dem Eintreten der himmlischen Herrlichkeit und der Verleihung des verklärten Leibes zum Abschluß kommt und Erlösung im Vollsinn des Wortes wird. Womit beginnt er und wie kann der einzelne sündige Mensch die Eingliederung in diese Heilskette erreichen? ») Rom. 8, 3—4; 13. 8. «) Rom. 8, 17. 2. Kor. 4, 10. 13, 4. Phil. 3, 10. Gal. 6, 17. ») Rom. 8, 29. *) Rom. 8, 23. 13, 11.

I 120

7. Paulus

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Am Anfang steht die Predigt der göttlichen Botschaft, die Verkündigung der göttlichen Einladung an die Menschen1, sich mit Gott zu versöhnen, sich erlösen zu lassen*. Ihr gilt es zu glauben, bedingungs- und schrankenlos. Aber dieser Glaube ist nicht einfach gefühlsmäßige Stimmung, die sich in der Tiefe der Seele entfaltet, sondern zugleich ein zum Handeln drängender Wille, der Gottes rettende Hand ergreift. Dem Entschluß muß die Tat folgen: der neu gewonnene Gläubige fügt sich der Gemeinde Christi ein, er wird durch die Taufe zum Christen gemacht. Da vollzieht sich an ihm das Wunder eines göttlichen Mysteriums': er taucht unter im Tauf quell und stirbt damit, aber er stirbt keinen gewöhnlichen menschlichen Tod, sondern den Tod Christi. Der Tod, der einst am Kreuz auf Golgatha für die Sünden der Welt geleistet ist, wird ihm zugeeignet, wird sein Tod, den er nun für seine eigene Sünde erleidet. Er zahlt damit der Sünde den schuldigen Sold und ist nun von ihr frei: Gott hat ihn durch dies Wunderwirken gerecht gemacht, er hat keine Sünde mehr. Aber nicht nur negativ wird der Christ „auf Christus getauft", d. h. wörtlich „in Christus hineingetaucht", sondern auch positiv: er „zieht Christus an", er wird in jenen geistlichen Leib Christi eingefügt4, den die gesamte Gemeinde bildet, mit anderen Worten, es wird ihm die Himmelssubstanz des Geistes verliehen. Der Sünder ist im Taufbad gestorben: der Christ, der aus dem Wasser emporsteigt, ist ein neues Geschöpf 5 : „das Alte ist vergangen, siehe es ist neu geworden", er ist nun „in Christus". Und darum kann Paulus auch sagen, daß wie dem Untertauchenden der Tod, so dem Auftauchenden die Auferstehung Christi zuteil werde. Aber er formuliert das sehr deutlich im Sinne der Zielsetzung: wir wollen nun in einem neuen Leben wandeln, und in der Kraft des Geistes können wir es auch, wir sind der Sünde abgestorben und haben den Tod erlitten: unser neues Leben im Geist steht im Dienst der Gerechtigkeit' und mündet in ein ewiges Leben in der Gemeinschaft des ») Rom. 10, 17. Gal. 3, 2. *) 2. Kor. 5, 20. ») Rom. 6, 2—11. ) Gal. 3, 27—28. 1. Kor. 12, 13. ') 2. Kor. 5, 17. Rom. 6, 4. ·) Rom. 6,18—23. 8, 9—11. 4

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Taufe und Sündlosigkeit

I 121

auferstandenen Christus. So wirkt die Taufe die Geburt des Christen als eines neuen Wesens, das frei von den natürlichen Bindungen des irdischen Lebens durch den Geist mit dem erhöhten Herrn vereint ist. Das erste ist der Glaube, das zweite die Taufe, das dritte der Geist: damit ist der Mensch gerechtfertigt und auf die Bahn der Erlösung gestellt. Aber auch der Wiedergeborene lebt, solange er im Fleische ist, im Glauben und nicht im Schauen1. Glaube ist und bleibt die Stimmung des Christen, und dies Wort ist bei Paulus die charakteristische Bezeichnung seines Standes. Wir haben in dieser Tauflehre ausgeprägte Sakramentsmystik vor uns, wie sie uns zwar nicht im hellenistischen Judentum direkt greifbar ist, wohl aber in seiner Umgebung begegnet: davon wird noch zu handeln sein. Aber schon jetzt ist es für das Verständnis des Paulus von entscheidender Bedeutung, die ethische Höhenlage dieser Theorie festzustellen. Sie ist am Gottesbegriff des Paulus orientiert und versteht unter Erlösung die Befreiung des Menschen von allen Mächten, die ihn hindern, Gottes Willen zu erfüllen und nach seinen Geboten zu leben, bis er schließlich auch die letzten Fesseln des Fleisches verlassen und in Gemeinschaft mit seinem Erlöser triumphieren kann. Das Heil, die Soteria, ist für Paulus nicht gegenwärtiger Besitz, sondern die im Glauben ergriffene Verheißung der Zukunft*. Am Beginn dieses Heilsprozesses steht der entscheidende Akt der Rechtfertigung und die Neugeburt, durch den Geist in der Taufe: der Christ ist gerecht, ist der Sünde gestorben und frei von ihrer Macht. Wenn man bis hierher die Theorie des Paulus verfolgt hat, so wird man geneigt sein zu der Annahme, der Christ als neues Geschöpf könne gar nicht mehr sündigen. War früher in dem „alten Adam" die Sünde die Dominante, so ist es jetzt der Geist, und wenn die böse Macht den Menschen einst unwiderstehlich zum Sündigen zwang, so wird man noch viel mehr der l

) Gal. 2. 20. 2. Kor. 5, 7. ») Vgl. Rom. 8, 24; Eph. 2, 5. 8 ist die einzige Ausnahme und damit auch Beweis für die fremde Herkunft des Briefes.

I 122

7. Paulus

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göttlichen Kraft des Geistes die Leitung des Christen in unbedingte Sündlosigkeit nach dem Vorbild Christi zuzuschreiben wünschen. Wir werden sehen, daß diese Konsequenz in späterer Zeit auch auf manchen Seiten gezogen worden ist. Paulus hat das nicht getan. Zwar schildert er den Zustand des Christen als des gerechtfertigten, sündlosen, geisterfüllten neuen Menschen in der vorhin dargelegten Weise: er betont energisch, daß der Christ der Sünde gestorben ist. Aber er sagt nirgendwo, die Sünde sei gestorben: sie ist noch da, wirkt in der unerlösten Menschenwelt mit ungebrochener Kraft und lauert nur auf die Gelegenheit, das verlorene Gebiet wiederzugewinnen. Die Erfahrungen des Lebens, die Kämpfe um die sittliche Haltung der Neubekehrten haben ihm deutlich genug gezeigt, daß auch in den Christengemeinden die Sünde noch eine böse Rolle spielt. Er sieht mit tiefem Schmerz, daß die Korinther trotz ihres Christentums in Zank und Streit leben, und zieht vor ihren Augen daraus die Folgerung, daß sie eben noch „fleischlich" sind und als „Menschen" Tadel verdienen 1 . Das kann gar nichts anderes heißen,als daß sie trotz des ihneninkeiner Weise abgesprochenen Geistesbesitzes* doch der Sündenmacht im Fleische nachgeben, daß sie den Kampf des Gteistes gegen das Fleisch nicht in Christi Weise siegreich führen, sondern Niederlagen zu verzeichnen haben. Nun begreifen wir aber auch, wie Paulus von der Schilderung christlicher Sündenfreiheit und Geistigkeit als einer beseligenden Tatsache reden und im gleichen Atem die Christen auffordern kann, die Sünde nicht bei sich herrschen zu lassen und den Leib in den Dienst Gottes zu stellen®, daß er es als eine Pflicht hinstellt, nicht nach des Fleisches Willen zu leben 4 . Ja er ermahnt klar und deutlich seine Gemeinde, sich vom Geist Gottes treiben zu lassen und durch den Geist die leiblichen, d. h. sündigen Regungen zu töten 5 . Die Sünde im Fleisch ist nicht tot, so wenig sie in dem Leibe des auf Erden wandelnden Jesus tot war: sie ') 1. Kor. 3, 3—4; vgl Rom. 8, 12—13. ') 1. Kor. 3, 16. 6, 19, sogar 5, 5. s ) Rom. 6, 12—14. 19. 1. Kor. 6, 20. 4 ) Rom. 8, 12. ») Rom. 8, 13—14. Gal. 5, 16—17. Kol. 3, 5—10.

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Das Leben im Geist als Aufgabe

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muß vielmehr in jedem Einzelnen durch den in ihm wohnenden Geist ebenso ertötet werden wie sie in Christi Leib überwunden wurde. So bleibt also das Christenleben in der Verwirklichung durch den Einzelnen immer nur ein unvollkommenes Abbild des in Christus erschienenen Ideals, ein Ringen um Christi Wohlgefallen1: Paulus kann selbst von sich sagen, daß er die Vollendung des Christenlebens noch nicht erreicht habe, aber mit aller Anstrengung dem Siegespreise nachjage. Wie in der Erkenntnis, so gibt es auch in der Überwindung der Sünde ein Vorwärtsschreiten vom Kleinen zum Großen, gibt es Stufen der Vollkommenheit1. Von hier aus entfaltet sich auch das Verständnis für die Lehre von einem Gericht, das über die Christen ergehen und sie nach ihren Taten' richten wird: da müssen sie sich als vorwurfsfrei ausweisen, und ihre Herzen werden geprüft, ob sie auch untadelhaft in Reinheit vor Gott bestehen können 4 . Das ist kein Widerspruch mit der Lehre von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben, sondern muß von ihr aus verstanden werden. Die Taten des Wiedergeborenen sollen durch den Geist gewirkt werden, nicht vom Fleische aus. Und dieses Leben im Geist ist vom andern Gesichtspunkt aus gesehen Leben im Glauben, d. h. Leben im Glauben an den Besitz der von Gott stammenden Gerechtigkeit': so ist das berühmte Wort des Apostels zu verstehen, daß alles, was nicht aus dem Glauben geschieht, Sünde ist'. Er hätte auch sagen können: was nicht aus dem Geist geschieht, ist Sünde. Das jüngste Gericht entscheidet, ob der Christ wirklich aus dem Glauben im Geiste gerecht geworden oder im Fleisch als Sünder stecken geblieben ist. Das ist nicht kasuistischer Nomismus, ist nicht ein Rückfall in die jüdische Berechnung der Werke, sondern ist angesichts der Schwäche auch des Wiedergeborenen 7 die letzte entscheidende Frage nach der Dominante im Christenleben: Geist oder Fleisch, Glaubensleben in Christus oder Menschentum in der Welt. ») 2. Kor. 5, 9; vgl. I. Kor. 11,32. 1. Kor. 9, 23. 26. 27. ') Phil. 3,12. 1. Kor. 3,1. ») 1. Kor. 3, 14—15. 2. Kor. 5, 9—10. ') 7 1. Kor. 1, 8. Phil. 1, 10. 1. Thess. 3, 13. «) Phil. 3,9. ·) Rom. 14,23. ) Gal. 5, 17.

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7. Paulus

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Ob die Bestrafung des sündigen Christen eine absolute Verwerfung oder eine relative Züchtigung ist, hat Paulus nirgendwo gründlich dargelegt. Aber aus gelegentlichen Äußerungen können wir das zweite als seine Meinung erschließen: sogar der Blutschänder von Korinth soll zwar bei lebendigem Leibe dem Satanas übergeben werden, der sein Heisch vernichten wird — aber sein christlicher Geist soll am jüngsten Tage dann doch noch gerettet werden1. Andererseits darf nicht vergessen werden, daß der Apostel den sündigen Christen mit dem Tode droht, also mit der endgültigen Verwerfung, wie sie jedem Nichtchristen bevorsteht*. Er rechnet also mit der Möglichkeit, daß auch ein getaufter und mit dem Geist begabter Christ sich dem Fleisch und der Sünde derartig wieder zuwenden kann, daß Gott ihm seine Gnade entzieht und ihn der Verdammnis preisgibt. Und er weiß ja, daß Gott beruft und verstößt, wie und wen er will. Erst die Folgezeit hat das Problem der Sünde des Christen in einem klaren System zu erfassen gesucht. Außer der Taufe kennt Paulus noch ein zweites Sakrament, das Abendmahl. Es ist ihm nicht die einfache Tischgemeinschaft mit dem erhöhten Herrn, wie der Urgemeinde, sondern die Erfüllung einer vom Herrn selbst bei seinem letzten Zusammensein mit den Jüngern begründeten Stiftung. So hat er es vom Herrn überkommen — das kann nur durch eine Offenbarung geschehen sein — und so hat er es an die Gemeinden weitergegeben*, daß nämlich dies Gemeindemahl zum Gedächtnis Jesu geschieht, und daß dabei der Tod des Herrn verkündet wird, bis daß er kommt. Aber es ist mehr als ein bloßes Gedächtnismahl, wie es auch sonst vielfach in der alten Welt üblich ist. Eher gleicht es einem Opfermahl, denn die Genießenden treten untereinander und mit dem Erhöhten, dem die Feier gilt, in eine mystische Gemeinschaft, die sie zu einer Einheit zusammenschließt: die eine Speise, das eine Brot, das sie gemeinsam essen, verbindet sie und macht sie zu e i n e m >) 1. Kor. 3, 15. 5, 5. 11, 32; vgl. 1. Pctr. 4, 6. ») Rom. 8, 13. Gal. 5, 21. 6, 7—β. ») 1. Kor. 11, 23.

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Das Abendmahl. Der Enthusiasmus

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Leibe, dem pneumatischen Leibe Christi 1 . So ist das Mysterium des Herrenmahles dem der Taufe verwandt. Doch ist die Wirkung hier noch anschaulicher: denn Wein und Brot sind nicht gewöhnliche Speise, sondern himmlische Nahrung, sie sind Blut und Leib des erhöhten Herrn, sind Pneumasubstanz, die mit ihrer Wunderkraft in den Teilnehmer am Mahle eingeht ui.d ihn so zum geistlichen Leib Christi macht. Wehe ihm, wenn er diese Elemente einer überirdischen Wesenheit unehrerbietig wie gemeine Nahrung zu sich nimmt: dann werden sie in seinem Leibe zu Gift und schaffen dem Frevler Krankheit und Tod». Geistesbesitz ist also die charakteristische Besonderheit des Christen: worin äußert sie sich? Die landläufige Meinung in den Gemeinden war die, daß Exaltationserscheinungen aller Art als ihre Kennzeichen zu betrachten seien. Wir begegnen da mannigfachen Formen des religiösen Enthusiasmus, dem „Prophezeien" d. h. begeisterten Reden in der Verzückung, das sich zu Offenbarungskundgebungen und herzbewegendem Seelenergründen steigern konnte'. Bei besonders Begnadeten konnte sich dieser Enthusiasmus zur vollen Ekstase erheben, die mit apokalyptischem Schauen der Himmelswelt verbunden war. Paulus selbst berichtet uns mit scheuem Zagen, daß er einst bis zum dritten Himmel entrückt worden sei, das Paradies geschaut und dort unsagbare Worte vernommen habe 4 . Weit verbreitet war die Gabe des Zungenredens, der „Glossolalie"; der vom Geist Erregte sprach bei halb oder ganz schwindendem Bewußtsein Reihen sinnloser Laute, die als Sprache himmlischer Geisterwesen angesehen und von Kundigen gedeutet wurden 5 . Paulus kennt aus eigener reichlicher Erfahrung und billigt diese Äußerungen des Geistes', mißt ihren Wert aber nicht, wie die Menge es tut, an ihrer Seltsamkeit, sondern an ihrer Bedeutung für die Erbauung der Gemeinde. Die augenscheinlich sehr beliebte Glossolalie mit ihrer lärmen') 1. Kor. 10, 16—21. ») 1. Kor. 21. 27—30. ') 1. Kor. 13, 8—11. 14, 1—3. 24—25. «) 2. Kor. 12, 1—4. «) 1. Kor. 14, 2. 9—11. 21 ·) 1. Kor. 14,1.18. 39.

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7. Paulus

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den Aufdringlichkeit will er in der Versammlung nur dulden, wenn ein Dolmetsch der Wundersprache vorhanden ist: sonst verweist er sie in das Kämmerlein des Einzelnen1. Der geistgewirkten Rede des Propheten dagegen gibt er einen Ehrenplatz im Gottesdienst der Christen. Selbsverständlich rühmt er Wundertaten und Krankenheilungen1 als Zeugnisse der Kraft des Geistes: aber er will auch die Missionspredigt des wandernden Apostels, die Schriftauslegung des Lehrers, j a selbst die ordnende und helfende Tätigkeit der Verwalter und Armenpfleger in der Gemeinde als Wirkung des Geistes gewürdigt wissen'. Und in demselben Zusammenhang, in dem er den Korinthern dies alles mitteilt und sie auffordert, nach immer höheren Geistesgaben zu streben, ruft er ihnen zu, daß weit über all diese Geisterei hinaus der Weg der Liebe gehe* Geisteswirken in dem üblichen Sinne gibt es auch da, wo das Kymbalon der großen Göttermutter klingt und in mancherlei Mysterien die Sprache der Engel und alle heimliche Weisheit kundgetan wird. Aber wo der Geist Christi ist, da lebt als seine köstlichste Frucht 5 die Liebe und gibt allem geistlichen Tun und Treiben ihren Sinn, ja durchdringt und weiht das ganze Christenleben. Glossolalie, Prophetentum, heimliche Weisheit sind doch nur Stückwerk und vergehen mit dieser Welt. Wenn die Vollendung eintritt, sind sie verschwunden, aber es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei — und die größte von ihnen ist die Liebe. So stellt Paulus sein Christentum mitten in die Religiosität seiner Zeit und hebt es zugleich auf die einsame Höhe des Berges, auf dem Jesus von Glauben, Hoffnung und Gottesliebe predigte, die sich am Nächsten auswirkt: Paulus hat das anderswo den Glauben genannt, der sich durch Liebe betätigt 6 . So will sein hohes Lied von der Liebe verstanden werden: sie ist die reinste Äußerung des Geistes, hinter der alles andere zurückbleibt und wesenlos wird. Diese Religion konnte in dem Religionsgemisch der Zeit nur untergehen, wenn sie ihre Seele verlor. η 1. Kor. 14, 28. s ) 1. Kor. 12, 9. 28. ') 1. Kor. 12, 4—11. 28—30. «) 1. Kor. 13,1—13. «) Vgl. Gal. 5, 22. ·) Gal. 5, 6.

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Die „Erlösungsreligion". Das Judentum

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Paulus spricht zu den Menschen seiner Welt in ihrer Sprache und in ihrer Anschauungsweise. Die Heilsbotschaft wird ihm bildhaft in dem Schema der orientalischen Erlösungsreligionen, und die Gestalt Christi fügt sich in traditionelle Formen eines himmlischen Heilandes. Die Menschheit ist unter einem Verhängnis, einer bösen Macht geknechtet: dieser Daimon ist die Sünde. Einst hat Adam im Paradies gegen Gott gesündigt, und die Tat des Urvaters ist das Schicksal der ganzen Menschheit geworden. Aber bei Gott im Himmel lebt ein „zweiter Adam", der Urmensch 1 , der zur Erlösung auf die Erde steigt und der Menschheit eine Lebenskraft beschert, die sie aus den Banden zu lösen und zu Gott zurückzuführen vermag. Diese Kraft ist himmlisches Pneuma, das in dem Menschen Wohnung nimmt, die niederen Seelenkräfte vertreibt und ihn vergottet. So könnte auch ein östlicher Mystagoge zu seinen Jüngern sprechen, und die heidnischen wie die jüdischen Hörer vermochten dem Paulus auf diesen Wegen leichter zu folgen als die Menschen des 20. Jahrhunderts, die mühsam das Verständnis solcher Gedankengänge erarbeiten müssen. Aber wir begreifen zugleich, wie diese Formung geschickt war, jene Menschen zu gewinnen, die nach Erlösung verlangten: und das war freilich die Sehnsucht der Zeit. Das Entscheidende ist, dals bei Paulus die Form nicht über den Inhalt gesiegt hat: der blieb unversehrt und in voller Wirkung. Aber auch hier haben die Epigonen mit dem großen Apostel nicht Schritt halten können und das Christentum in mannigfache Gefahren geführt: die Dogmengeschichte weiß davon zu erzählen. Obwohl Paulus mehr als irgendein Apostel dafür gewirkt hat, die christliche Religion vom Judentum abzulösen, ist er doch im tiefsten Herzen seinem Volke treu geblieben und hat ihm mit leidenschaftlicher Liebe angehangen. Beide Seiten dieser Haltung hat er theologisch zu begründen gewußt. Zunächst die Freiheit des Christen vom Gesetz. Das war ja das Problem, das in jener Jerusalemer Konvention nur halbgelöst war und ihn deshalb auf allen seinen Wegen weiter verfolgte. Das Ge!) 1. Kor. 15, 44—46.

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7. Paulus

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setz Mosis ist heilig und göttlichen Ursprungs1 und bringt Gottes Willen der ganzen Menschheit zum Ausdruck. Aber es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß es bestimmt sei, den Weg zum Heile zu weisen: das geht aus der Jahrhunderte alten Erfahrung hervor, daß kein Mensch imstande ist, es zu erfüllen, während doch nur seine uneingeschränkte und lückenlose Befolgung dem Menschen die vor Gott erforderliche Gerechtigkeit verschaffen könnte. Das ist die Tragik in der Geschichte des Judenvolkes, daß es in falscher Einschätzung der Bedeutung des Gesetzes dem Wahnbild eines Heils durch eigene Gerechtigkeit nachjagt. Tatsächlich hat Gott aber mit dem Gesetz einen ganz anderen Zweck verfolgt: es sollte durch seine Verbote die im Fleisch schlummernde Sünde wecken und reizen, sie zur vollen Entfaltung ihrer Macht treiben und so dem Menschen seine Ohnmacht zum Bewußtsein bringen, bis er an eigner Kraft verzweifelnd nach Rettung von Gott ausschaut*. Das Gesetz ist nicht Heilsmittel, sondern hat nur vorbereitenden Wert, es ist „Zuchtmeister auf Christus hin"', und es läßt dem Kundigen, der seine Geheimnisse zu deuten versteht, darüber auch keinerlei Zweifel: es weissagt seine eigene Aufhebung. Mit Christi Erscheinung tritt an des Gesetzes Stelle der Glaube als wirkliches Heilsprinzip, der nicht wie das Gesetz Leistung auf Leistung fordert, sondern Hingebung der ganzen Persönlichkeit an Gottes Gnadenwillen und das neue Geistesleben ist.Bei dieser universalen Betrachtungsweise kann die Frage gar nicht mehr aufgeworfen werden, ob das Ritualgesetz etwa vom Sittengesetz zu trennen sei und vielleicht allein für sich außer Kraft erklärt werden könne. Das gesamte Gesetz ist seinem Wesen nach antiquiert und hat seine Macht über den neuen Menschen eingebüßt. Seine Verheißungen freilich bleiben bestehen, aber sie gelten nicht dem Israel nach dem Fleisch, den leiblichen Nachkommen Abrahams, sondern dem wahren „Israel Gottes", das heißt den Christen, die nach Abrahams Vorbild im Glauben leben 4 : *) Rom. 7, 12. *) Rom. 7, 7—25. ») Gal. 3, 23—25. ) Jos. A. 15, 373 f 20, 97. B. 1, 78—80 = A. 13, 311—313. B. 2, 259. 261 = A. 20, 167—170. B. 6, 285 f. l ) Apg. 11. 27—30. 21, 10. ») Apg. 13, 1—3.

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gan zur Führung der Geschäfte gebildet werden. Äußere Ordnung und Finanzwirtschaft erfordern eine praktische Regelung durch geeignete Leute. Von solchen Personen der „Hilfeleistung" und „Leitung", von „Vorstehern", „Dienenden" und „Barmherzigkeit Übenden" spricht Paulus des öfteren, und im Gruß des Philipperbriefes 1 finden wir die charakteristische Bezeichnung dieser Amtsträger, die für die Zukunft maßgebend geworden ist: „Episkopen" und „Diakonen". Ihre Aufgabe ist die Besorgung der weltlichen Geschäfte der Einzelgemeinde, und da steht die Fürsorge für die Bedürftigen in vorderster Linie. Wie diese Titel entstanden sind, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen: nur daß sie nicht aus jüdischem Brauch stammen, scheint sicher. Aber auch die beigebrachten Analogien aus profanen oder heidnisch-sakralen Organisationen sind wenig einleuchtend. Die einfachste Annahme ist die, daß man irgendwo an einem maßgebenden Ort — man wird gern an Antiochia denken — die Bezeichnungen frei gebildet hat, und daß sie von dort aus sich auf die übrigen heidenchristlichen Gemeinden übertragen haben. Episkopos heißt der „Aufseher" in all den zahllosen Möglichkeiten der Anwendung dieses Wortes: so konnte man gern die Geschäftsleiter der Gemeinde nennen, denen auch die Finanzen anvertraut waren. „Diakonos" heißt der „Diener", und zwar speziell der Aufwärter bei Tisch, der Kellner: das gibt vielleicht einen Fingerzeig für den ursprünglichen Sinn des Amtes.Die Diakonen bedienen die Gemeinde beim Herrenmahl1 und tragen den Abwesenden Brot und Wein ins Haus. Diese Abwesenden waren meist und regelmäßig Kranke, so daß ihr Amt die Diakonen auch mit der Krankenpflege betraute. Praktisch sind sie dann die Gehilfen der Episkopen in der Ausübung des Liebesdienstes an allen Bedürftigen der Gemeinde geworden. Diese beiden Ämter werden nach Angabe der Didache® durch Wahl übertragen, und das wird zu des Paulus Zeiten nicht anders gewesen sein. Natürlich sah man auch in dem Ausfall der Wahl ein Urteil des in der Gemeinde wirkenden Geistes, und Paulus hat immer 1) Phil. 1,1.«) Ign. Trail. 2, 3; vgl. Justin Ap. 65, 5.67, 5. ») Did. 15.1.

Episkopen und Diakonen. Die Frauen

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wieder auch diese Ämter der christlichen Liebestätigkeit als charismatische bezeichnet und würdigen gelehrt; denn man bedurfte zu ihrer Ausübung doch auch des Beistandes des göttlichen Geistes. Aber es war doch ein wesentlicher Unterschied für den nüchternen Betrachter: die Episkopen und Diakonen konnte man aus den bekannten Männern der Gemeinde auswählen, und was man von ihnen verlangte, ging nicht über die Fähigkeiten eines ordentlichen Menschen hinaus. Die Charismatiker dagegen waren Ubermenschen, denen Gott wunderbare Kräfte geschenkt hatte: sie sahen, was keines Menschen Auge zu erblicken imstande war, und sie sprachen, was höher ist als alle Vernunft, und — sie wirkten Wunder: Heilung von Kranken 1 und Austreiben von Dämonen ist noch lange in der alten Kirche das Kennzeichen echter charismatischer Begabung gewesen. Die Charismatiker allein waren Amtsträger der großen, die ganze Welt umspannenden Gemeinde Gottes, der einen Kirche Christi. Die Episkopen und Diakonen waren bloße Gehilfen im Dienst der lokalen Einzelgemeinde, das heißt eines zufälligen, irdisch bedingten Gebildes, dem eine eigene Wesenheit im christlichen Sinne nicht zukam: sie waren minderen Rechts und minderen Ansehens 1 . Die Arbeit im Dienst der Gemeinde war nicht auf Männer beschränkt: Paulus nennt* eine offenbar wohlhabende und wohltätige Dame namens Phöbe „Diakonos" der Gemeinde zu Kenchreä — der korinthischen Hafenstadt —, und noch lange hat es in der christlichen Kirche weibliche Diakonen gegeben4, welche mit ihrer Hilfe vorwiegend dann eintraten, wenn ihr Geschlecht sie dazu besonders geeignet machte, bei Armen- und Krankenpflege und der Taufe von Frauen. Aber auch die höheren Gaben des Geistes wurden Frauen zuteil. Der Evangelist Philippus hatte vier Töchter, die Prophetinnen waren, und in der montanistischen Bewegung des zweiten Jahrhunderts flammt auch die weibliche Prophetie hell wieder auf — sie ist in Wahrheit nie in der Kirche gestorben, son') 1. Kor. 12, 28—30. *) Didache 15, 2. ») Rom. 16, 1. *) Hinschius, Kirchenrecht 1, 8. ') Apg. 21, 9.

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dern unter anderem Namen und ohne den urchristlichen Amtscharakter bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben. So sehen wir auch in der korinthischen Gemeinde Frauen, die der Geist ergriffen hat, als Prophetinnen und Vorbeterinnen auftreten. Dem Paulus ist das nicht recht, denn wenn ihm auch theoretisch „in Christus nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Weib" ist1, so steht ihm doch in der Praxis die Unterordnung des Weibes unter den Mann als göttliche Schöpfungsordnung fest, und er fordert zum mindesten,daß die prophezeiende Frau des zum Zeichen einen Schleier tragen soll: das stellt er als allgemeine Sitte der christlichen Gemeinden hin*. Aber in anderem Zusammenhang kommt seine eigentliche Meinung rücksichtslos heraus: die Frau soll in der Gemeindeversammlung überhaupt schweigen, und wenn sie etwas wissen will, mag sie zu Hause ihren Mann fragen: und auch das ist ihm anerkannte christliche Sitte'. Das wird zutreffen: die Christin wird im allgemeinen in den gottesdienstlichen Versammlungen zu einer streng passiven Rolle verurteilt gewesen sein, der guten Sitte bei Heiden und Juden entsprechend. Ergriff aber einmal derProphetengeist einWeib.so war freilich niemand befugt, ihr oder vielmehr dem aus ihr redenden Geist zu wehren: aber sie mußte sich wenigstens verschleiern, um der Sitte genugzutun. Wie ging es denn eigentlich in den gottesdienstlichen Versammlungen dieser Missionsgemeinden zu? Gab es eine bestimmte liturgische Ordnung und woher stammte sie? Aus dem Judentum oder dem Heidentum oder war es eine eigene Neuschöpfung? Soviel Fragen, soviel ungelöste Probleme. Uber die Gottesdienstordnung erfahren wir direkt so gut wie gar nichts von den alten Gewährsmännern, weil ihnen diese Dinge viel zu selbstverständlich sind, als daß sie darüber schreiben sollten. Wir würden auch von Paulus nichts hören, wenn nicht in Korinth einige Unordnung eingerissen wäre, die ihn zu Ermahnungen und Richtigstellungen veranlaßte. Dort stehen die Geistesgaben in ihrer enthusiastischen Form4 im Vordergrund, >) Gal. 3,28. 2) 1. Kor. 11, 3—16.») 1. Kor. 14,33—35. *) Vgl. o. S. 125.

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Die Gottesdienstordnung

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und mit besonderem Eifer wird das Zungenreden betrieben, hemmungslos und so, daß zuweilen mehrere Personen zu gleicher Zeit sich vernehmen lassen. Das bekämpft Paulus energisch1: einer soll nach dem andern auftreten, und in einer und derselben Versammlung nur zwei, höchstens drei Propheten. Dasselbe gilt auch für die Zungenredner, bei denen noch die Bedingung hinzutritt, daß auch ein Dolmetscher ihrer Auslassungen vorhanden sein muß: andernfalls soll das Zungenreden in der Gemeinde überhaupt unterbleiben. Denn der Zweck der Zusammenkunft ist „Erbauung" der Gemeinde: was diesem nicht dient, sondern nur die Privatandacht fördert, hat hier wegzubleiben. Unter diesem Gesichtspunkt ist alles zu beurteilen, was der Einzelne zu bieten vermag: prophetische Offenbarungsrede, lehrhafte Unterweisung, Zungenreden mit begleitender Deutung, Psalmengesang. „Und alles soll in angemessener Form und nach Ordnung geschehen." Man muß urteilen, daß Ordnung nicht gerade die Stärke der Korinther gewesen ist, und daß ihre Gottesdienste zuweilen recht tumultuarisch gewesen sein mögen. Aber man wird gut tun, diese korinthischen Zustände nicht zu verallgemeinern: nicht einmal das so stark betonte Uberwiegen des ekstatischen Enthusiasmus werden wir in diesem Grade als gleichmäßiges Charakteristikum aller Gemeinden ansehen dürfen. Es wird auch da sehr starke Verschiedenheiten gegeben haben. Aus den Andeutungen des Paulus gewinnt man fast den Eindruck, als ob feste Ordnungen für den Gottesdienst überhaupt nicht bestanden haben, sondern daß Prophetenrede, Zungenrede, Lehrvortrag, Gebet und Gesang dargeboten wurden, je nachdem der Geist die Einzelnen antrieb. Von Schriftverlesung hören wir in keinem Briefe etwas. So ist es möglich, daß tatsächlich in diesen frühen Gemeinden der Wortgottesdienst sich aus den realen Bedürfnissen der christlichen Belehrung und der gemeinsamen Erbauung durch Gebet und Gesang selbständig aufbaute, und zwar ohne feste Formen, jeweils vom Moment gegliedert. Man hat darauf hingewiesen1, >) 1. Kor. 14, 26-40. Christen (1930) 21. 11.

*) W. Bauer, Wortgottesdienst d. ältesten

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daß die hebräische Synagoge jener Zeit keinen Gesangsvortrag der Psalmen gekannt hat, daß aber andererseits auch Talmudsynagoge und hellenistische Diasporasynagoge sich keineswegs decken. Nun, hier sind wir in der glücklichen Lage, auf erhaltenes Material hinweisen zu können. Wir besitzen noch eine Reihe altchristlicher Psalmen, die nach dem Vorbild der alttestamentlichen gedichtet sind und ihre direkte Parallele in den Psalmen Salomos finden. Im Lukasevangelium1 sind uns drei Lieder dieser Art erhalten, der Lobgesang der Maria, des Zacharias und des Symeon. In der Johannesapokalypse finden wir eine ganze Reihe von Hymnen, die von den himmlischen Chören im Gegenbild des irdischen Gemeindegottesdienstes der Christen angestimmt werden: davon sind aber die meisten* nicht etwa Nachahmungen jüdischer Vorbilder, sondern vrirklich jüdische Hymnen ohne jede christliche Eigenart. Es wäre sinnlos, sie als christliche Neuschöpfungen ansehen zu wollen, sondern sie sind augenscheinlich Hymnen, die in griechischen Diasporasynagogen in Gebrauch waren und von den Christen übernommen worden sind. Nach diesen Vorbildern sind dann eigene christliche Hymnen gedichtet worden, wie sie uns andere Stellen der Apokalypse 1 erhalten haben: da spürt man das Sekundäre deutlich. Hier können wir einmal eine Berührung mit den gottesdienstlichen Formen der hellenistischen Synagoge feststellen — eben bei der einzigen Gelegenheit, wo uns Texte zur Verfügung stehen. Hätten wir Predigten von Propheten oder Lehrern erhalten, so würden wir vermutlich auch auf diesem Gebiet weiterkommen. Eigene christliche Dichtung hat sich aber sichtlich auch in bekenntnismäßigen Formulierungen betätigt, die vom Herrn und seiner Erlösungstat handeln: die eindrucksvollsten Stellen finden sich in der großen Christologie des Philipperbriefes, im ersten Timotheusbrief und im ersten Petrusbrief \ Aber es sind ') Luk. 1, 46—55. 68—79. 2, 29—32. Gunkel in Festgabe für Harnack (1921) 43—60. ') Offenb. 4, 8. 11; 15, 3—4 und die Doppelchöre 11, 15. 17—18 und 7, 10. 12 (wo nur das Lamm eingeschoben ist). ») Offenb. 12, 10—12. 19, 1—2. 5. 6 - « . 4) Phil. 2, 5—11. 1. Tim. 3, 16. I. Petr. 3, 18—22.

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nur Anfänge, die reiche Weiterbildung gefunden haben und schließlich in die amtlichen Bekenntnisformeln, und zwar nicht nur in das sogenannte Apostolische, sondern auch in zahlreiche noch viel stärker hymnenmäßig gebildete Glaubensbekenntnisse ausmünden 1 . So haben wir wenigstens die Möglichkeit, uns von den „Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern" eine Vorstellung zu machen*, die in diesen alten Gemeinden erklangen: sie zeigen uns durchweg die enge Verbundenheit mit jüdischen Kultformen. Wo wir aber gnostisches Gebiet betreten, wie in den Thomasakten*, sind auch die Einflüsse fremder Religiosität handgreiflich; und auf diesen Gefilden hat bald die christliche Poesie einen kräftigen Aufschwung genommen, während sie in den normalen großkirchlichen Kreisen abstarb. Die Betrachtung der weiteren Entwicklung der christlichen Gottesdienstformen lehrt uns jedenfalls dies, daß die zu vermutende liturgische Ungebundenheit und geistgewirkte Freiheit keine neuen und eigenartigen christlichen Kultusformen geschaffen, sondern sich in Nichts aufgelöst hat. Nach der ersten Zeit der brausenden Geistesbetätigung zog sich die Christenheit bald allgemein auf die Formen der hellenistischen Synagoge zurück, die den Grundstock des christlichen Wortgottesdienstes bildet bis auf den heutigen Tag. Diese Gottesdienste waren nicht nur zur eigenen Erbauung der Gemeinde bestimmt, sondern analog den Synagogengottesdiensten auch Ungläubigen zugänglich, die man für die neue Lehre zu gewinnen hoffte. Daneben bestand aber die Feier des Herrenmahles als eigentlicher Kultakt, und an ihm durften — wie an den jüdischen Feiermahlzeiten — nur die Gemeindezugehörigen teilnehmen1. Wir haben bereits gesehen*, wie Paulus die Seinen dies Mahl zu würdigen gelehrt hat. Uber den äußeren Vollzug erfahren wir*, daß es — natürlich zu der allgemein üblichen Zeit am Spätnachmittag — als Liebesmahl der Gemeinde begangen wird, für das jeder nach seinem Vermögen beisteuert. ») Lietzmann in Festgabe f. Harnack (1921) 226—242. *) Kol. 3, 16 = Eph. 5, 19. *) Acta Thomae 6—7. 108—113. *) Didache 9, 5. *) oben S. 124. «) 1. Kor. 11, 20-34.

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Das Mahl wird eröffnet durch einen Segensspruch und das Brechen eines Brotes, dessen Stücke unter die Teilnehmer zum feierlichen Genuß verteilt werden. Alle, die von diesem einen Brote essen, das der Leib Christi ist, werden untereinander zu einem Leibe, dem Leibe Christi, verbunden 1 . Dann beginnt das eigentliche Mahl, das in anständiger Geselligkeit und mäßigem Genuß der Speisen und Getränke verlaufen soll. Nach der Mahlzeit spricht der Vorsitzende ein Segensgebet über einem Weinbecher und reicht ihn allen zum Trunk: sie genießen jetzt das Blut Christi. Und aus dieser Feier müssen manche Grußworte stammen, die uns in den Paulusbriefen begegnen oder als ältestes liturgisches Gut in späteren Formularen erhalten sind. „Die Herzen empor," ruft der Liturg der Gemeinde zu, die von der Sorge des Tages noch belastet sich zum Mahle niedersetzt. Die in paulinischen Briefschlüssen mehrfach* begegnende Aufforderung „Grüßet einander mit dem heiligen Kuß" mahnt die Christen, einander in versöhnlicher Gesinnung nach Matth. 5, 23 f. und in brüderlicher Liebe vor dem Opfer' zu vereinigen, und der Gruß „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen" leitet schicklich die heilige Handlung ein. Die Gemeinde wird darauf geantwortet haben: „Und mit Deinem Geiste", wie sie es noch heute tut. Wenn wir diese Formel am Ende des zweiten Korintherbriefes 4 finden, so dürfen wir daraus schließen, daß dies Schreiben bestimmt war, in einer engeren Gemeindeversammlung vorgelesen zu werden, und daß auf die Verlesung die Feier des Herrenmahles folgen sollte". Und so hat man es vermutlich auch sonst mit den an die ganze Gemeinde gerichteten Schreiben gehalten. Die Lebensgeschichte des Paulus hat uns mit dem großen Gegensatz vertraut gemacht, der die Urchristenheit durchzieht: auf der einen Seite das Jerusalemer Judenchristentum mit seiner bewußten Eingliederung in das Judentum und seiner Gesetzestreue, die es immer mehr der pharisäischen Engigkeit ») 1. Kor. 10, 17. l) Rom. 16, 16. 1. Kor. 16, 20. 2. Kor. 13, 12. 1. Thess. 5, 26; vgl. 1. Petr. 5, 14. ») Didache 14, 1—3. *) 2. Kor. 13, 13. ·) Lietzmann, Messe und Herrenmahl 229.

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Gegensätze in der Gemeinde

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zu nähern droht, auf der andern Seite die entschlossene Abkehr vom jüdischen Ritualismus, wie sie von den antiochenischen Hellenisten und von Paulus gepredigt wird. Und wir haben die Kompromißlösung des Aposteldekrets 1 kennengelernt, die eine Grundlage zur Überbrückung der Gegensätze in den Diasporagemeinden schaffen wollte. Dies „Dekret" der Jerusalemer ist um das Jahr 52 in Korinth bekannt geworden: die Vermutung liegt nahe, daß es Petrus dorthin gebracht und damit die Erörterungen wachgerufep hat, auf die Paulus in seinem erstenSchreiben eingeht. Dann istPetrus also der Vertreter dieses Programms judaistischer Mäßigung*, das den Heiden die Freiheit vom Gesetz konzediert und sie nur mit einem einzigen Ritualgebot belastet, welches den Judenchristen die Tischgemeinschaft mit ihnen ermöglicht: dagegen wurden die weitergehenden paulinischen Forderungen völliger Gesetzesfreiheit und die Theorie, daß auch der Judenchrist durch Christus frei vom Gesetz geworden sei, in dem Dekret stillschweigend, bei den Verhandlungen vor den Gemeinden aber vermutlich laut und deutlich abgelehnt. Wobei denn auch die apostolische Autorität des Paulus bestritten wurde. So bildeten sich in der jungen Gemeinde zu Korinth Gegensätze, die sich an die Personen ihrer Vertreter knüpften und die Getreuen des Paulus gegen die Anhänger des Petrus treten ließen. Als dritte Gruppe werden uns Apollosleute genannt, die man sich gern als Freunde philosophisch angehauchter Spekulation denken wird, denn Apollos war Alexandriner und ein gelehrter Mann*: und diesen war die religiöse Paradoxie der paulinischen Kreuzestheologie unerträglich4, weil sie nach einer rationalen und dem griechischen Geiste einleuchtenden Begründung des neuen Glaubens verlangten. Schließlich erwähnt Paulus noch eine vierte Partei in Korinth. die sich mit einem betonten Gegensatz nach Christus nannte: offenbar weil sie weder den Paulus noch die andern Führer als ausreichende Autoritäten gelten ließ und und sich auf angebliche Offenbarungen des erhöhten Herrn »)s. S. 107. ») Hirsch ZNW. 29, 67 ff. *) Apg. 18, 24. «) 1. Kor. 2. 1—5.

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Die christlichen Missionsgemeinden

stützte — wogegen Paulus mit einer gewissen Ironie bemerkt, daß er schließlich ebensogut Christus angehöre wie gewisse andere Leute, und daß er in reichem Maße göttlicher Offenbarungen gewürdigt worden sei1. So sehen wir die verschiedensten Tendenzen in dieser Gemeinde miteinander ringen: ekstatischen Enthusiasmus, hellenistische Weisheit, paulinische Freiheitslehre und petrinischen Halbjudaismus, der für die klare Forderung des Paulus besonders gefährlich war, weil er den Frieden mit Jerusalem in Ausicht stellte und ihn faktisch um den Erfolg seiner Lebensarbeit zu bringen drohte. Paulus wollte nicht bloß die Heiden frei vom Gesetz halten — darum hat er im Galaterbrief leidenschaftlich gegenüber judaistischen Sendboten gerungen —, sondern auch die Juden zur neuen Freiheit der Kinder Gottes herüberziehen, denn ihm ist Christus schlechthin des Gesetzes Ende, für Juden und Heiden in gleicher Weise: so hat er es der römischen Gemeinde in seinem gewaltigsten Schreiben dargelegt. Die paulinischen Briefe gewähren uns nur gelegentliche Einblicke in dieses Ringen zwischen Altem und Neuem, aber sie lassen uns doch die leidenschaftliche Schärfe der Kämpfe ahnen, die sich ringsum in dem ganzen weiten Gebiet des neu gewonnenen Heidenchristentums abspielten. Zu den vom Paulus bekehrten Gemeinden traten die Missionsgemeinden des Barnabas und der übrigen Hellenisten, darunter eine so wichtige wie Rom: sie alle mußten zu der Frage des Gesetzes Stellung nehmen und haben es, wie die Folgezeit beweist, im Sinne der Freiheit getan. Der judaistische Radikalismus gegenüber den Heidenchristen, der einst in den Galatischen Gemeinden, vielleicht auch schon vorher in Antiochia vereinzelte Erfolge erzielt hatte, besaß keine Zukunft und beschränkte sich darauf, die Gesetzlichkeit der Judenchristen getreu zu bewahren: und das kam je länger je mehr praktisch nur noch für Palästina und seine nächste Umgebung in Betracht. Draußen im Reich waren die Heidenchristen frei und zogen die bekehrten Juden zu sich herüber. Daneben bewegen kleinere Fragen die Gemüter: nach ») 2. Kor. 10, 7. 12, 1—4.

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Gegensätze in der Gemeinde

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der Verdienstlichkeit und Notwendigkeit der Askese in allen Formen bis hin zur Weinabstinenz und zum Vegetarianismus1, der damals in den verschiedensten Kreisen beliebt war und als fromm galt. Mit Apollos war die Frage nach der Stellung zur griechischen Weisheit an die junge Religion herangetreten und ließ die Christen der gebildeten Schichten nicht mehr los. Im Lykostal missionierte der Paulusschüler Epaphroditos und gründete Gemeinden in JColossä und Laodikeia: und da, in Phrygien, stiegen Geister aus dem Boden, und durch den wallenden Nebel synkretistischer Spekulation zeigte schon das Gespenst der Gnosis dem zornigen Blick des gefangenen Paulus sein rätselvolles Antlitz*. Das apostolische Zeitalter mit seinen einfachen Gegensätzen und seiner großen Linienführung neigte sich seinem Ende zu, und die Vorzeichen einer neuen Periode wurden am Horizont sichtbar. ') Handb. Ν. T. Exk. zu Rom. 14, 1. Kol. 2, 23.

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) Handb. Ν. T. Exk. zu

Das römische Weltreich und sein religiöses Leben Die Schlacht bei Actium war geschlagen: der leukadische Apollon 1 hatte den Lorbeer des Sieges auf Oktavians Haupt gedrückt, und Kleopatra ging in den Tod. Damit war ein hundertjähriger Kampf zur Entscheidung gekommen, den das Griechentum im Bunde mit dem Orient gegen die römische Umklammerung geführt hatte:Rom hatte endlich und endgültig gesiegt, und aus Moder, Schutt und Blut erhob sich der Wunderbau augusteischer Staatskunst, das weltumspannende Friedensreich des Imperium Romanum. Seine materielle Grundlage wurde durch das in altrömischer Tradition erzogene Heer und ein großzügig organisiertes Verwaltungssystem gesichert. Seine Seele aber war der „lateinische Genius", der in diesen Tagen erstand. Die Gabe der Beredsamkeit und eine Neigung zu praktisch gerichteter Philosophie hatte ihm Cicero in die Wiege gelegt: nüchterne Lebensauffassung, gesunder Menschenverstand, Begabung für Politik und Juristerei, Sinn für Form und Würde waren ihm Erbe aus alter Zeit. Nun bescherte ihm Livius eine ruhmvolle Geschichte und den Mythos heroischen Ursprungs. Horaz schuf eine Lyrik, die sonnigen Lebensgenuß mit Besinnlichkeit und vaterländischem Hochgefühl zu verbinden wußte. Ovid mischte kräftig die heiteren Elemente einer graziösen Erotik hinzu, bis ihn bittere Erfahrungen einer gelehrteren Muse in die Arme trieben. Aber von allen am tiefsten hat Vergil sein Volk verstanden, als er ihm in der Äneis sein Heldenlied sang, das römische Lippen begeistert zu rezitieren nie müde geworden sind, dessen Bilder bis auf den heutigen Tag das Herz des Romanen bewegen. Es ist ') Propert. IV 10, 69.

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Der lateinische Genius

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wirklich so: unter der Herrschaft des Augustus ist nicht nur Jesus geboren, sondern auch der lateinische Genius, der nun seit neunzehn Jahrhunderten die Geschicke Europas bestimmt. Aber Horaz hat recht. Das militärisch niedergeworfene Griechenland hatte schon längst den Sieger geistig überwunden, als das Weltreich entstand: der lateinische Genius ist mit griechischer Milch gesäugt, in griechischer Schule erzogen worden und hat auch seine angestammte Religion in griechisches Gewand gekleidet; die dafür nicht geeigneten Elemente sanken in Vergessenheit. Aber von der griechischen Philosophie hatten die gebildeten Kreise Roms auch die rationalistische Kritik am überlieferten Religionswesen gelernt und fleißig geübt. Als dann die grauenvollen Jahrzehnte der Bürgerkriege alle sittlichen Grundlagen des öffentlichen und privaten Lebens vernichteten, haben auch die Gefilde des religiösen Fühlens und Handelns schwersten Schaden gelitten. Es ist ein hoch zu bewertendes Zeugnis für die staatsmännische Genialität des Augustus, daß er die Wiederherstellung einer gesunden Religiosität als eine seiner dringlichsten Aufgaben empfand. Und es ist für seinen praktischen Sinn bezeichnend, daß er dem Volke nicht Predigten halten ließ, sondern die staatliche Betätigung altväterlicher Religiosität in weitestem Umfang wiederherstellte, die zerfallenen Tempel neu aufbaute und durch kultische Feierlichkeiten die Teilnahme der zuschauenden Massen zu gewinnen suchte. So sollte von oben herunter dem Volke die verlorene Religion wiedergegeben werden. Es war der richtige Weg: nur hätte in den oberen Kreisen wirklich Religion sein müssen, um nach unten weiterzufließen. Und das war nicht der Fall. Die von ernsthaftem Vaterlandsgefühl getragene ästhetisierende Mythologie des Horaz spiegelt die Gesinnung der Besten aus des Kaisers Umgebung vortrefflich wider. So dachten im günstigsten Falle seine neu ernannten Auguren und Pontifices, und die vornehmen Knaben und Mädchen des Säkularjahres 17 v. Chr. werden beim Gesang des horazischen Carmen saeculare wohl noch geringere religiöse Empfindungen gehabt haben wie ein moderner Großstadtchor

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bei der Aufführung eines Regerschen Psalms. So konnte die religiöse Restauration des Kaisers nur ein Akt staatlicher Repräsentation und eine Betätigung vaterländisch bedingter ästhetischer Kultur sein: und in diesem letzten Sinne ist sie als dauernder Besitz in die Wesenheit des lateinischen Genius übergegangen. Aber Religion war das nicht. Lebendig waren in den Volksmassen die einheimischen Vorstellungen und Kräfte einfachsten naturreligiösen Denkens und die auf mannigfachen Kanälen dem Westen zuströmenden Religionen des Ostens, von denen vor allen die ägyptischen Kulte schon fast ein Jahrhundert lang eifrige und erfolgreiche Propaganda trieben. Die Bauten, Bilder und Inschriften von Pompeji geben auch darüber erwünschten Aufschluß. Zu den Ägyptern gesellten sich seit dem Sklavenimport des Pompejus die Juden, die in Augusteischer Zeit in Rom bereits eine merkliche Rolle spielen; und unter Claudius sind die ersten Christen nach Rom gekommen. Aber sie sprachen Griechisch und erschienen zunächst als Anhang der Judengemeinden, die ja gleichfalls Griechisch als Muttersprache gebrauchten. Es hat bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts gedauert, bis die römischen Christen das Latein zur Gemeindesprache machten, also wirklich in der römischen Kultur heimisch wurden. So hat denn auch das Christentum in den für seine Grundlagen entscheidenden Perioden keine Einflüsse des Westens erfahren; es ist im Osten herangewachsen und als fertiges Gebilde ins Abendland gewandert. Wenn wir also die Bedingungen für seine ersten Ausgestaltungen untersuchen wollen, so müssen wir die religiösen Zustände des Orients in der frühen Kaiserzeit betrachten. Aber eben das ist eine überaus schwierige Aufgabe, da gerade für diese Zeit die literarischen Quellen von größter Dürftigkeit sind: was wir an religiösen Schriften der östlichen Völker besitzen, ist entweder aus erheblich älterer oder jüngerer Zeit, und Zeugnisse für das, was volkstümlich lebendiger Glaube, nicht bloß Priesterweisheit oder theologische Spekulation war, sind kaum zu gewinnen. Und so müssen wir versuchen, uns aus den erhaltenen Resten durch Kombination ein

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Religiosität in Rom und im Osten

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Bild zu schaffen, dessen Richtigkeit am besten durch seine innere Wahrscheinlichkeit verbürgt wird. Die Wiege des hellenistischen Christentums, Antiochia, liegt für uns unzugänglich unter den Wohnhäusern und Gärten des heutigen Antakie verborgen; aber der zweite große Schauplatz der paulinischen Wirksamkeit, das westliche Kleinasien, ist in erheblichem Umfang durch planmäßige Ausgrabungen der bedeutendsten Städte bekannt geworden und gibt auf mancherlei Fragen Antwort, die für unser Thema von Bedeutung sind. Nirgends in der Welt reden die Steine so laut und so mannigfaltig von der Größe Alexanders, der mit dem griechischen Schwert auch die Herrschaft des griechischen Geistes nach Osten trug. Mit der Begründung seines Reiches und der Organisation der Nachfolgestaaten durch seine Marschälle hub die Zeit der hellenistischen Städtegründungen an, die aus dem alten griechischen Kolonialboden der kleinasiatischen Westküste eine neue Blüteperiode wirtschaftlicher und geistiger Hochkultur aufsprossen ließ. Alexander selbst hat noch den gewaltigen Tempel der Stadtgöttin Athena in Priene geweiht. König Lysimachos baute die Stadt Ephesus am Meere neu auf und schirmte sie mit mächtiger Mauer, das zerstörte Milet wuchs wieder aus den Trümmern empor, und auf dem Burgberg von Pergamon erhob sich die königliche Residenz der Attaliden. Alle diese Schöpfungen der Diadochenzeit tragen den Stolz auf ihr Griechentum sichtlich zur Schau: sie sind sich bewußt, unter dem Schutz der griechischen Götter zu stehen und prä' gen deren Bildnisse und Embleme auf ihre Münzen. Zahllose inschriftliche Weihungen geben von ihrer öffentlichen und privaten Verehrung Kunde, und ihre ragenden Tempel beherrschen das Stadtbild und künden vom Glauben der Bürger, nicht anders wie die mittelalterlichen Dome der deutschen Städte den frommen Sinn ihrer Erbauergenerationen bezeugen. Zeus, Athena und Dionysos wohnen auf der Burg von Pergamon1, Asklepios hat sein großes Heiligtum vor der Stadt im Tale; auf halber Berghöhe finden wir Demeter und Hera ') Erwin Ohlernutz, Kulte und Heiligtümer der Götter in Pergamon 1940.

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Basileia angesiedelt. Priene fühlt sich als Tochter Athens und verehrt die Athena Polias als Schützerin: ihrem mächtigenTempel kann sich kein anderes Bauwerk der kleinen Stadt vergleichen, weder der Asklepiosbezirk am Markt noch der Demetertempel am nördlichen Berghang. Milet hat seine alte Tradition treu bewahrt, und der Tempel des Apollon Delphinios bildete den kultischen Mittelpunkt auch für die hellenistische Stadt. Die berühmte heilige Straße zum Orakelort des Apollo in Didyma bekam neue Bedeutung, als dort um 300 zwei Meister aus Ephesus und Milet den Wunderbau des Heiligtums begannen, der selbst in Trümmern noch heute den Beschauer mit staunender Ehrfurcht erfüllt. Ephesus wird durchaus vom Kult der „großen Artemis" beherrscht: ihr uralter und nach jeder Zerstörung in größerem Umfang neu erstandener Tempel ist das gewaltigste Bauwerk der Stadt, eines der sieben Weltwunder auch nach dem Brande des Herostratos von 355. Cheirokrates hatte ihn prächtiger wieder aufgebaut, und so hat er bis zu seinerZerstörung durch die Goten im Jahre 263 n. Chr. gestanden. Aber die hier verehrte Artemis war nicht die griechische Jägerin, die jungfräuliche Schwester Apolls, obwohl die Münzen der Stadt während der ganzen hellenistischen Periode sie so zur Darstellung bringen, sondern es war die kleinasiatische Muttergöttin vom Berge, die Herrin und Hüterin des wilden Getiers. In der römischen Zeit lassen die Münzen die verschämte hellenistische Stilisierung fallen und bilden das Tempelidol wahrheitsgetreu ab; und in der Kaiserzeit hat es sich in der plastischen Kunst nach Ausweis der zahlreichen Repliken einer Beliebtheit erfreut, die nur aus dem immer stärker vordringenden Einfluß orientalischer Religiosität auf die Gesamtkultur erklärt werden kann. Dies Götterbild 1 war aus Ebenholz geschnitzt: es stellt eine Frau dar in steifer, aufrechter Haltung. Der Körper ist bis zu den Füßen mit Binden fest umwickelt, zwischen denen Reihen von Metallbuckeln hervorschauen: eine spätere Kunst hat daraus zahlreiche Brüste der Fruchtbarkeitsgöttin gemacht. Hinter ihrem mit einer Mauer') Roscher Lex. 1, 588. Pauly-Wissowa 5, 2762.

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Tempel im westlichen Kleinasien

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krone geschmückten Haupt rundet sich die Mondscheibe, in den rechtwinklig vom Körper abgestreckten Händen hält sie lang herabfallende Binden oder auch Kornähren. Löwen kriechen schmeichelnd auf ihren Armen empor, Rehe stehen zu ihren beiden Seiten. Diese asiatische Berggöttin war die Herrin des Bodens von Ephesus, als ihn Griechen in alter Zeit in Besitz nahmen: sie erhielt von den Kolonisten einen griechischen Namen, einen griechischen Tempel und mancherlei griechische Kultformen, aber sie blieb die Asiatin und wird bodenständige Religiosität lebendig erhalten haben. Nur reichen unsere Quellen nicht aus, das in allen Einzelheiten zu erkennen. Ihre Verehrung ist von Ephesus aus über das Küstenland auf die Inseln und ins griechische Mutterland gewandert, hat sich aber auch im inneren Kleinasien weithin verbreitet. An manchen Orten ist eine ganz analoge Entwicklung eingetreten; denn auch die Artemis Leukophryene von Magnesia am Mil· ander ist im Wesen und in der Form des Kultbildes keine andere Göttin, und so begegnet uns diese asiatische „Artemis" noch an verschiedenen Stellen1 mit immer wechselnden Beinamen. In Ephesus selbst hat sich an der Nordostecke des Panajir-Dagh, noch nicht einen Kilometer vom Artemistempel entfernt, ein Kultplatz gefunden, auf dem unter freiem Himmel die „Mutter vom Berge" verehrt wurde1, die man auch die „phrygische Mutter" nannte. Auf zahlreichen Votivtafeln ist sie dargestellt als eine zwischen zwei Löwen stehende Frau mit Mauerkrone auf dem Haupt; in den Händen hält sie eine Schale und ein Tamburin. Das ist also eine typische Darstellung der Kybele; ihren hier nie fehlenden jugendlichen Begleiter würden wir Attis nennen·, diese Griechen haben ihn als Apollon bezeichnet — aber da sehen wir eben, wie alle diese Namen Schall und Rauch sind: die Bezeichnung der Göttin als Mutter vom Berge kommt der entscheidenden religiösen Vorstellung am nächsten. Sie wird in Ephesus als Artemis im großen Tempel und als phrygische Göttin am Berghang verehrt, l ) Pauly-Wissowa 5, 2767. Roscher Lex. 1, 593. Osterr. Jahreshefte 1926, 256 ff.

·) J. Keil in

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und an beiden Stellen ist sie mit griechischer Form umkleidet, nur in verschiedener Weise. Die Priester der ephesinischen Artemis waren einst Eunuchen gewesen, hatten sich also wohl nach phrygischem Ritus in der Ekstase selbst entmannt, die Priesterinnen waren Jungfrauen: so berichtet Strabo 1 auf Grund seiner Quellen, aber aus eigener, um 50 v. Chr. gewonnener Anschauung fügt er summarisch hinzu: „jetzt würden manche von den alten Bräuchen noch beobachtet, manche nicht", was nicht gerade für die Konservierung dieser Eigenheit bis in die Zeit des Apostels Paulus spricht. Aber in den Tagen Alexanders konnte diese Artemis als Führerin eines rasenden Mänadenschwarmes im Hymnus besungen werden*, und Mysterien der Artemis hat es nach Ausweis der Inschriften* bis zur Mitte des S.Jahrhunderts n. Chr. gegeben; im 2. Jahrhundert scheint man diese Feiern vernachlässigt zu haben, denn gegen 200 n. Chr.4 werden sie aus Privatmitteln neu finanziert und wieder eingerichtet. Daß sich an das jährliche große Artemisfest Nachtfeiern von ausschweifender Zügellosigkeit anschlossen, wird uns von einem Romanschriftsteller des 3. Jahrhunderts n. Chr.® erzählt. „Mystische Opfer" bringen die mit dem Artemiskult irgendwie zusammenhängenden Kureten im Haine Ortygia am Hafen bei ihren Festmählern dar·. Mysterien der Demeter werden in Ephesus auch in der Kaiserzeit noch regelmäßig, freilich in Verbindung mit dem Kaiserkult, gefeiert und sind uns gerade für die 80er Jahre des ersten nachchristlichen Jahrhunderts bezeugt. Ein außerhalb der Stadt lokalisierter Kultverein vereinigt die Mysterien der Demeter mit denen des Dionysos7. Dionysosmysten finden wir in Ephesus noch in der Antoninenzeit 8 als willkommene Ergänzung zu unserm reicheren Material über den im Theater beheimateten Dionysoskult, und der dionysische Karneval am Hauptfest des Gottes riß noch in römi*) Strabo 14 p. 641. *) Plutarch de aud. poet. p. 22 a, de superstit. p. 170a. ») Pauly-Wissowa 5, 2761. 4) Ephesuswerk 3, 144 Nr. 59, 156 Nr. 72, 29; vgl. CIG. 3002, Hicks Inscr. 596. ») Achill. Tat. 6,3. «) Strabo 14 p. 640. 7) Dittenb. Syll.» 2, 820. Hicks Inscr. n. 506 8 Note. 595. ) österr. Jahrsh. 1926, 265. Hicks Inscr. n. 600—602.

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Die ephesinische Artemis. Mysterien

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scher Zeit die ganze Stadt mit sich fort 1 . Wie stark das Mysterienwesen die Empfindungen der hellenistischen Zeit bestimmt, lehren vor allem die Münzen: von etwa 200—55 v. Chr. hat man nicht nur in Ephesus, sondern in allen Städten des ganzen pergamenischen Reiches und noch darüber hinaus Silbertaler, die sogenannten Kistophoren, als Einheitsmünze geprägt, die auf der Vorderseite die mystische Kista des Dionysos* mit der Schlange in einem Efeukranze, auf der Rückseite einen Bogen im Behälter — der Artemis? — zwischen zwei Schlangen zeigen, also auf beiden Seiten mit Symbolen des Mysteriendienstes geschmückt sind*. Die hieraus zu erschließende allgemeine Verbreitung der Mysterien wird durch die Inschriften vollauf bestätigt. In Pergamon ζ. B. steht der Dionysoskult hoch in Ehren. Ein Kollegium der Bukoloi d. h. „Rinderhirten" wird mehrfach erwähnt und feiert die Mysterien des Gottes auch in der Kaiserzeit: eine kaiserliche Verordnung beschäftigt sich speziell mit ihnen4. In früher römischer Zeit bestanden noch die Mysterien der Meter Basileia', und die uralten Mysterien der Kabiren von Pergamon preist der Redner Aristides in der Antoninenzeit·. Ein eigenes Mysterienfest im Juni verzeichnet der inschriftlich erhaltene Kalender der Kaiser feste7. Hier in Pergamon können wir nun aber auch einen der Wege beobachten, auf denen schon in hellenistischer Zeit asiatische Religion in die griechische Welt eindrang. Im Jahre 189 heiratete König Eumenes II. die kappadokische Prinzessin Stratonike, und diese brachte in die pergamenische Königsburg ihren heimatlichen Gott Sabazios mit und verehrte ihn als ihren besonderen Schützer: aber er zeigte sich auch dem Hause der Attaliden gnädig und erschien sogar mehrfach zur Hilfe, so daß im Jahre 135 Attalos II. ihm einen amtlichen Kult im Hei») Plut Anton. 24. Lucian de saltat. 79. *) Pauly-Wissowa 3,2591. *) Regling, Antike Münzen58 f. Pauly-Wissowa 11,524. Head, Historia Nummorum.1 534. 575. «) Inschr. Perg. n. 482, 485—487; vgL n. 248, 37 = Dittenberger Or. 331. 6) Inschr. n. 334. ·) Pausanias 14,6. Inschr. n. 252, 26. Aristides or. 53, 5; 2 p. 469 Keil; Pauly-Wissowa 10, 1405. ') Inschr. n. 374.

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ligtum der Athena Nikephoros und ihrem berühmten heiligen Hain unten im Tal vor der Stadt anwies, wo auch seine Opfer dargebracht, Prozessionen und Mysterien gefeiert werden sollten. Zum Priester des Gottes ernannte er einen Verwandten des königlichen Hauses 1 . Damit ist der Verbreitung dieses Kultes und seiner Mysterien 1 unter den Griechen des pergamenischen Reiches die kräftigste Förderung zuteil geworden. Der Sabazioskult, der in Phrygien und Lydien seine Heimat besaß, hat manche Elemente in die Mysterien des Dionysos hineingetragen, wovon unter anderem auch die Kistophorenmünzen Zeugnis ablegen'. Am bedeutendsten ist aber seine Verbindung mit dem kleinasiatischen Judentum geworden, die den Sabazios-Dionysos dem Jahve Sabaoth gleichsetzte. Diese Gleichung ist in Rom schon 139 vor Chr. bekannt und begegnet uns auch in der Kaiserzeit wieder: Plutarch erklärt von hier aus seinen Lesern die Bedeutung des Sabbaths4. Und in frühester Kaiserzeit hat ein Kollegium der „Sabbatisten" mit einem „Synagogenvorsteher" sich an einer Felswand der Umgegend von Elaiussa in Kilikien verewigt5, das wir wohl mit Recht als Zeugen einer solchen Mischung von jüdischen mit eabazischen Elementen ansprechen dürfen. Von hier führen deutlich erkennbare Fäden zu den in Kleinasien und am Nordrand des Schwarzen Meeres stark verbreiteten Gemeinden, die den „Hypsistos", den namenlosen „höchsten" Gott, verehren und die Verbindung der beiden so fremdartig erscheinenden Religionen mit nicht geringerer Deutlichkeit zum Ausdruck bringen*. Eins ihrer Denkmäler ist im heutigen Panderma, der Hafenstadt für das pergamenische Reich am Marmarameer, gefunden worden und entstammt bereits dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Wir werden also wohl auch in Pergamon und weit darüber hinaus schon für so frühe Zeit die Judaisierung des Sabazioskultes als eine neben der rein heidnischen Form vorhandene Neubildung annehmen dürfen. Es wird auf ») Inschr. n. 246IV = Dittenberger Or. 332. ») Roscher Lex 4,250. ) Roscher Lex. 4.236. *) Valer. Max. 13,3. Tacitus Hist. V 5. Plutarch quaest. conv. p. 671 F. ·) Dittenberger Or. η. 573. ·) F. Cumont, Orient. ReL' 59.231 A. 60. Roscher Lex. 4,238. 263.266. Pauly-Wissowa 9,448.

s

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Sabazios und Hypsistos. Isis und Sarapis

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Zufall beruhen, daß wir Inschriften solcher Gemeinden für Pergamon undMilet erst au&dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert haben1. Aber jenesSabbatistenkollegiumvonElaiussastand der Zeit des Paulus recht nahe und war auch räumlich seiner Geburtsstadt Tarsus nicht fern: das ist für uns bedeutsam. Eine andere Form des Eindringens fremder Religiosität in die griechische Welt beleuchtet eine Inschrift*, die um 200 v. Chr. in Priene beim Isisheiligtum aufgestellt worden ist. Da ordnet die Stadt die regelmäßige Ausübung des Isiskultus an und stellt die Mittel dafür zur Verfügung, regelt die Einkünfte des Priesters und betont, daß nur der amtlich dazu bestellte Ägypter genau dem Ritus entsprechend die Opfer darbringen dürfe: jeder unbefugt Opfernde wird mit einer Strafe von 1000 Drachmen bedroht. Das entspricht ganz der ägyptischen Auffassung vom Wert der heimischen Kultformen. Wenn auch die Ptolemäer den von ihnen geschaffenen Sarapiskult eifrig verbreitet haben, so daß er schon im dritten Jahrhundert in Griechenland festen Fuß gefaßt hat, so sehen wir doch hier auch auf Seiten der Griechen ein tätiges Interesse. Offenbar ist die Missionsarbeit der ägyptischen Priester auf empfängliche Gemüter gestoßen und hat so viele oder so gewichtige Anhänger gewonnen, daß die Stadtverwaltung schließlich Neigung verspürte, den Kult zu unterstützen. Das Kultgebäude selbst ist von bescheidenstem Umfang, wie alle diese ägyptischen Heiligtümer in Kleinasien; es war wohl aus privaten Beiträgen der Gemeinde erbaut. Eine ähnliche Verordnung etwa aus gleicher Zeit ist uns in dem benachbarten Magnesia am Mäander erhalten*. Da wird das Priestertum des Sarapis von der Stadtverwaltung regelrecht verpachtet und die Gebührenordnung festgesetzt. Auch hier ist das Heiligtum ein ganz kleines Gebäude. Anscheinend haben die ägyptischen Propheten zunächst in den niederen Volksschichten Gläubige gesucht und gefunden, und die Bewegung ist von da aus in immer weitere Kreise gedrungen. Erst >) Inschr. Perg. n. 330.331. Dittenberger Or. η. 755.756. *) Hiller v. Gaertringen, Inschr. v. Priene nr. 195. *) Inschr. Magnesia n. 99.

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in der Kaiserzeit hat sie sich in diesen Gegenden so weit ins Repräsentative entwickelt, daß man die ägyptischen Götter auf den Münzen darstellt, wie wir es in Magnesia und Pergamon sehen. Auch in Ephesus fehlt es in der Kaiserzeit nicht an Zeugnissen für Verehrung der Isis und des Sarapis1, und wir dürfen mit Sicherheit auch schon für die hellenistische Periode damit rechnen, daß diese Kulte in der Hafenstadt Anhänger besaßen. Aber die Heiligtümer dieser Götter werden auch hier dieselbe unscheinbare Gestalt gehabt haben, die wir aus andern Orten gewohnt sind. Der Riesentempel am Marktplatz aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus, den man neuerdings für ein Serapeion zu halten geneigt ist', muß einer der drei Kaisertempel sein, die Ephesus mit Stolz neben dem Artemistempel als seine Hauptheiligtümer aufführt*. Auf ephesinischen Münzen erscheinen Isis oder Sarapis nicht. Es ist unzweifelhaft, daß außer diesen reichlich bezeugten Religionen noch zahlreiche andere ins westliche Kleinasien in frührömischer Zeit eingedrungen sind, von denen uns die Denkmäler gai nicht oder erst in späterer Zeit reden: sprechen sie doch auch nicht von den Juden, die damals längst in großen Massen jene Städte bewohnten und nicht ohne Erfolg ihre Mission unter den Griechen trieben. Aber das sicher Erkennbare reicht hin, um eine Grundlage zu schaffen, auf der wir weiterarbeiten können; wir dürfen die leitenden Anschauungen und Gedanken dieser Religionen in der Umgebung des werdenden kleinasiatischen Christentums als bekannt voraussetzen. Zu dieser bunten Mannigfaltigkeit gesellt sich aber nun eine neue Religion, die seit den Tagen Alexanders in einer großen Linie durch die Jahrhunderte zu verfolgen ist und um die Zeitenwende so stark hervortritt, daß hinter ihren Auswirkungen alle anderen Äußerungen religiösen Lebens zurückzubleiben scheinen: das ist der Herrscherkult*. Wenn schon Ο Ephesus 1,70.97.173. 3,97. Hicks Inscr. n. 503. *) J. Keil, österr. Jahreshefte 1926,266. ') Vgl. die Münze der 4 Neokorate bei Head, Catal. Jonia Taf. 14,6. «) Pauly-Wissowa Suppl. 4, 806. Wendland, Kultur1 123, 146.

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Isis und Sarapis. Der Herrscherkult

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dem Orientalen die Person des Königs traditionell als Inkarnation der Gottheit erschien, so ist doch auch dem Griechen die Vorstellung geläufig, daß in dem genialen Menschen und zumal in dem erfolgreichen Staatsmann oder Feldherrn sich göttliches Wesen offenbare1. Man hat diesen Glauben gern in den Mythus göttlicher Abstammung oder in die Kultform der Heroisierung gekleidet. Und als nun Alexanders alle menschlichen Hoffnungen und Möglichkeiten weit hinter sich lassendes Lebenswerk vom Bosporus bis zum Indus leuchtete, klang orientalisches und griechisches Empfinden in der Verehrung dieses Gottes in Menschengestalt zusammen. Die Offenbarung wirkender Kraft ist noch immer stärker gewesen als dogmatische Theorien, und so haben unter dem Eindruck dieses ungeheuren Weltgeschehens auch die Griechen den Schritt von der Heroisierung zur vollen göttlichen Verehrung Alexanders getan. Politische Erwägungen an höchster Stelle traten dazu, und so wurde der Alexanderkult gefördert und bald auch gefordert. Die Diadochen haben schon zur Stützung ihrer eigenen Macht in derselben Richtung gewirkt und das orientalische Gottkönigtum auch für ihre eigenen Personen in dievon Alexander gewonnenen griechischen Formen gekleidet. In dem von uns durchwanderten Gebiet Kleinasiens finden wir ein kleines Kultgebäude für Alexander in Priene* ein „Attaleion" in Teos® und ein Heiligtum Eumenes' II. in Milet\ Zahlreiche Inschriften bekunden die fleißige Ausübung des Herrscherkultes im pergamenischen Reich, dessen Formen mit der Zeit immer reicher entwickelt werden. Das lehrreichste Beispiel liefert uns eine Inschrift des unfern von Pergamon gelegenen Städtchens Elaia*. Der letzte König des kleinen Reiches, Attalos III. (138—133), war von einem Feldzug siegreich in seine Hauptstadt heimgekehrt. Daraufhin beschließen die Bürger von Elaia folgende Ehrungen für ihn: Überreichung l ) Vgl. Schubert, D. relig. Haltung d. frühen Hellenismus S. 16. *) Wiegand-Schrader Priene 172 ff., Inschr. n. 205. 206.108, 75. *) VgL Inschr. Perg. zu n. 240. Dittenberger Or. 326, 20. 4 ) Sitzungsber. Akad. Berlin 1904, 86 Miletwerk 19 S. 144ff. «) Inschr. Perg. n. 246 = Dittenberger Or. η. 332.

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eines goldenen Kranzes, Aufstellung einer fünf Ellen hohen Statue im Dionysostempel, „damit er Tempelgenosse des Gottes sei", Errichtung einer vergoldeten Reiterstatue auf dem Markt neben dem Zeusaltar, auf dem ihm der „Königspriester" täglich Weihrauch opfern soll. Da er an einem 8. des Monats heimgekehrt ist, soll künftig jeder Achte Festtag sein und der Jahrestag dieser Heimkehr alljährlich durch eine Prozession mit anschließendem Opfer gefeiert werden. Die Inschriften an den Bildsäulen geben ihm das göttliche Prädikat Euergetes „der Wohltäter" und nennen ihn Sohn des göttlichen Königs Eumenes Soter, das heißt des „Heilandes". Zu diesem abgeschmackten und damit sinnlosen Übermaß war die einst lebendige Empfindung für den Genius Alexanders im Laufe von zwei Jahrhunderten herabgestimmt worden. Nur eine konventionelle Huldigung war übriggeblieben, als das Reich an die Römer überging, und es ist nicht verwunderlich, daß man nach dem auch den römischen Generälen und Statthaltern mit ähnlichem Schwulst entgegenkam. Aber mit dem römischen Regiment trat-noch etwas Neues in diese griechische Welt hinein: der Kult der Göttin Roma1, das heißt des personifizierten Genius dieser zur Weltmacht gewordenen Stadt, der für das gesamte Imperium das war, was die Tyche der griechischen Städte diesen bedeutete. Es war eine Abstraktion, die künstlich gezüchtet heranwuchs und nicht aus dem Boden naturreligiösen Empfindens heraussproßte, kennzeichnend für eine Zeit, in der die alten Götterpersonen Schatten geworden waren, und der unzerstörbare religiöse Sinn des Volkes sich mühte, die Mächte der Geschichte in neuen Formen zu erfassen. Cäsar wollte die Summe der geschichtlichen Entwicklung Roms in der Staatsform des hellenistischen Königtums zur Erscheinung bringen: da hat ihm die todgeweihte republikanische Ideologie mit letztem Aufflackern ihrer Kräfte den Dolch ins Herz gestoßen, freilich nur, um selbst über seiner Leiche zusammenzubrechen. Oktavianus-Augustus ') Roscher Lex. 4, 130. Wissowa, Relig. u. Kultus d. Römer» 341.

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Der Herrscherkult

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wurde der Erbe Casars, seiner Macht und seiner Gedanken: er wurde der große Monarch, der die ganze Welt regierte. Mochte er sich den Römern der Stadt auch in republikanischer Toga zeigen, die Welt und vor allem der Osten sahen ihn im Purpurmantel Alexanders. Daß ihm die Vergötterung entgegengebracht wurde, die man den Königen der Diadochendynastien zugesprochen, ja auch den römischen Beamten als ihren Nachfolgern nicht versagt hatte, versteht sich von selbst. Aber diese zur hohlen Form höfischer Schmeichelei herabgesunkene Ehrung bekam neuen Inhalt. Es war für den ganzen römischen Erdkreis ein ungeheures Erleben, als endlich nach hundert Jahren der Not und des Blutvergießens Friede wurde, als Anarchie durch einheitliches Regiment, Zerstörung durch Aufbau, Willkür durch Recht und Wirrsal durch Ordnung abgelöst wurde — und Einer war es, der dies alles mit mächtiger Hand heraufführte, Augustus! Bei gewaltigen Katastrophen zum Guten oder zum Bösen in Natur oder Geschichte spüren auch stumpfe Seelen die Schauer einer Ahnung von höheren Mächten, die des Weltgeschehens Bahnen bestimmen, und die dunkeln Empfindungen der Massen füllen traditionelle Formen gewohnter Religiosität mit neuem Leben. So war es auch hier. Lange hatte Alexanders Gestalt, mit dem Strahlenkranz der Gottheit verklärt, die Phantasie der Völker erfüllt. Geschichte, Mythus und die Lust am Fabulieren hatten ein zauberhaftes Bild seiner Herrlichkeit und grenzenlosen Macht geschaffen. In seiner Person war zuerst das hellenistische Gottkönigtum eine glaubhafte Wirklichkeit geworden. Jetzt wiederholte sich die Erscheinung eines königlichen Gottes auf Erden in noch größerem Ausmaß in Augustus, und die Welt hallte wider von seinem Preis. Uralte Sehnsucht des Orients mischte sich mit griechischem Glauben und etruskischer Seherweisheit, wenn Vergil 1 an der Schwelle der augusteischen Periode von dem Heiland weissagte, der als göttliches Kind auf die Erde niedersteigen, die Sünden der Vergangenheit ») Ekloge 4 Äneis 6, 791 ff.

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tilgen und das goldene Zeitalter heraufführen werde, oder wenn er in den Jahren der Vollendung die Herrlichkeit des neuen Säkulums mit den leuchtenden Farben der Alexanderlegende ausmalte. Und sein prophetisches Lied findet bei allen Dichtern Roms begeisterten Widerhall: Augustus ist ihnen der Gott auf Erden, „praesens divus", der Fürst einer paradiesesgleichen Zeit. Das war keine poetische Phrase, es war ehrlich empfundene Huldigung der berufenen Künder des Volksempfindens, es war Ausdruck religiösen Gefühls, soweit diese skeptische Oberschicht überhaupt noch der Religion fähig war. Aber es war auch Geist des Ostens, der nun in Rom seinen stärksten Triumph feierte. Blicken wir nach Kleinasien, so können wir es da mit Händen greifen, wie der müde gewordene hellenistische Königsglaube unter dem Eindruck des übermenschlichen Geschehens wieder mit leuchtender Kraft sich erhebt. Schon den Pompejus hatte einst eine trügliche Hoffnung als den ersehnten Friedensfürsten gepriesen1. Dann hatten die Städte Kleinasiens im Jahre 48 den Cäsar als Göttersohn, Gott auf Erden und allgemeinen Heiland des Menschenlebens begrüßt*. Aber vierzig Jahre später sind diese Hoffnungen Wirklichkeit geworden, und die berühmte Kalenderinschrift von Priene* besingt in rauschenden Akkorden das Glück der augusteischen Zeit. „Hat uns der Geburtstag des göttlichsten Kaisers mehr Freude oder mehr Nutzen beschert? Ist er doch dem Beginn der Weltgeschichte billig gleichzuachten, wenn man nicht auf die Tatsache allein, sondern auf ihre Bedeutung sieht, denn in jegliches zerfallende und dem Untergang entgegeneilende Gebilde hat Er wieder aufgerichtet und der ganzen Welt ein anderes Ansehn gegeben, die sonst am liebsten die Vernichtung erwählt hätte, wenn nicht das allgemeine Glück für das All geboren wäre — der Kaiser!" Und darum soll fortan in ganz Kleinasien sein Geburtstag, der 23. September, als Neujahrstag begangen werden, „denn dieser Tag war der Beginn der an seine Person sich knüpfenden ') Dittenberger, Syll.« n. 751. «) Dittenbergir, Syll.» n. 760. *) Inschr. Priene n. 105 = Dittenberger, Or. 458.

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Der Kaiserkult

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Freudenbotschaften" — es ist das inhaltsschwer gewordene, damals noch leicht hingesprochene Wort „Evangelia" gebraucht. Was die Kleinasiaten hier beschließen, ist sachlich nichts anderes, als was die Christenheit inetwasveränderterFormseitdemsechsten Jahrhundert getan hat: die Erkenntnis von demBeginn einer neuen- Weltperiode durch die Epiphanie Gottes auf Erden wird dadurch zum Ausdruck gebracht, daß man mit jener heilbringenden Geburt des göttlichen Kindes die Jahreszählung beginnt. Und der huldigenden Form entspricht ein wirkliches Empfinden, ein Glaube der vom Elend erlösten Völker. Augustus hat diese Stimmung wohlgefällig begrüßt und trotz aller klugen Zurückhaltung, die er in Rom beobachten mußte, in den östlichen Provinzen gern gefördert. Er ließ dort den Kaiserkult mit der Verehrung der Roma verbinden, und in Pergamon1 erhob sich bald der erste einer langen Reihe kleinasiatischer Tempel der Roma und des Augustus. Für den Staatsmann war in diesem religiösen Gedanken vom KaiserHeiland die Idee gegeben, die allein imstande war, das ganze weite Imperium zu einer Einheit zusammenzuschließen. Die äußeren Bindemittel waren im Heer und der Beamtenschaft und der durch Frieden und Sicherheit ermöglichten Weltwirtschaft vorhanden. Aber was einigte denn die zahllosen Glieder dieses buntscheckigen Gebildes innerlich? Von einem alle umspannenden Nationalgefühl konnte auch nicht im ent ferntesten die Rede sein. Eine gemeinsame Kultur gab es für die vielen Völker zwischen Rhein und Euphrat in dieser Frühzeit des Kaisertums ebensowenig. Da stellte sich der Glaube an die göttliche Mission der friedespendenden Kaisermacht in der plastischen Form des Gottkaiserkultes ein und erreichte eine Gemeinsamkeit des Empfindens, die über die Grenzen der Provinzen und die Gegensätze der Rassen hinübergriff und die lebensnotwendige Ideologie des Römerreiches schuf. Wir begreifen, warum der Kaiserkult sofort in den Vordergrund trat und dauernd in dieser Stellung blieb, auch warum er in späteren Jahrhunderten sich der fortschrei') Tac. Ann. 4,37. Dio Cass. 51,20,7. Inschr. v. Pergamon n. 374.

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tenden, religiösen Entwicklung anpaßte — und warum die Christen seine Ablehnung blutig büßen mußten; sind ja doch selbst die privilegierten Juden letzten Endes an diesem Konflikt gescheitert. Im westlichen Kleinasien lehren uns noch heute die Ruinen, daß seit der Kaiserzeit im wesentlichen nur noch Kaisertempel gebaut werden. Die alten Götter müssen sich mit dem begnügen, was ihnen der Glaube früherer Jahrhunderte beschert hat, und nur den Heilgöttern weiht der wohl begründete Volksglaube Tempel, die mit Kliniken verbunden sind. Es entsprach der natürlichen Entwicklung, wenn sich beim Kaiserkult die Erfahrungen der hellenistischen Zeit wiederholten: auch hier konnte sich die Hochstimmung der augusteischen Zeit nicht auf die Dauer halten, und in der ohnehin kritisch gestimmten Hauptstadt haben die wahnsinnigen Ubersteigerungen der Selbstvergötterung des Caligula und des Nero den Kult schnell zur servilen Formalität herabsinken lassen. Den Provinzen des Ostens blieb der Kaisergedanke schon darum länger heilig, weil die persönlichen Unzulänglichkeiten seiner Träger ihnen großenteils erspart blieben und sie fortfuhren, die Wohltaten der Institution zu genießen: aber ein Abstieg war auch dort unvermeidlich. Die religiöse Stimmung dieser ersten Kaiserzeit ist also dadurch in erster Linie charakterisiert, daß die Religion der alten griechischen Götter, d. h. die Religion des öffentlichen Kultes mit seinen Bindungen an Stadt, Geschlecht und Familie dahinstirbt. Sie wird noch amtlich exekutiert, aber lebt nicht mehr in den Herzen. An ihre Stelle ist entweder religionslose Gleichgültigkeit oder philosophische Betrachtung getreten, oder aber die Religion hat sich als Angelegenheit und Existenzfrage der Einzelseele des Individuums bemächtigt, das sich nun mit Gleichgesinnten zu einer Gemeinde zusammenschließt, deren Wesen hoch hinausgeht über die alten griechischen Kultvereine. Denn diese letzteren sind Zweckverbände von Menschen, die sich in nichts von ihren Mitbürgern unterscheiden. Die neuen Gemeinden sind zugleich Vereinigung und wirksame Organisation eines wunderbaren Uber-

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Der Kaiserkult. Die Mysterien

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menschentums: wer ihnen angehört, weiß sich aus der Schar der „profanen" Mitbürger herausgehoben und in geheimnisvolle Beziehung zu den Kräften der Gottheit gesetzt. Er hat einen Weg beschritten, der aus dieser gemeinen Welt und ihrer bedrängten Enge in die Regionen der Götter führt und zuweilen die Wirklichkeit jener höheren Welt zu seligem Bewußtsein bringt. Diese Religiosität hat sich in der Form der Mysterien vom Osten her verbreitet und schon früh den Weg nach Griechenland gefunden: der Mythus hat noch den Widerhall des einstigen Siegeszuges dionysischer Mystik aufbewahrt. Und mochte auch Dionysos der griechischen Götterwelt eingegliedert werden und seinen Staatskult erhalten wie die anderen Olympier auch, mochte er schließlich zum Schutzpatron des Theaters und zur symbolischen Figur herabsinken: daneben blieb er doch der lebendige Gott dionysischer Mysterien, in denen die Seele des Einzelnen in bacchantischer Lust die Wonnen göttlicher Einwohnung genoß, gereinigt wurde von allem, was die Gottheit fernhält und bösen Dämonen Einfluß gewährt, schließlich die Vergottung und damit die Versicherung eines seligen Lebens nach dem Tode empfing. Dazu gab es feierliche Riten der Einweihung mit Fasten und Askese, Taufen und Mahlzeiten, seltsamen Zeremonien eines uralten Kultes, rasenden Tänzen mit wilden Gesängen zum Flötenschall und dem Klang der Cymbeln und Handpauken. Uns umwirbein die Nachrichten in Bild und Schrift, aber es ist unmöglich, sie säuberlich zu scheiden. Sie stammen aus acht Jahrhunderten und allen Ländern des römischen Reiches: nur durch Kombination der Angaben verschiedenster Herkunft können wir überhaupt ein begreifliches Bild dieses Mysteriums bekommen1. Aber wir vermögen seine zeitliche Entwicklung, seine verschiedenartige örtliche Ausgestaltung, die aktiven und passiven Beziehungen zu anderen Mysterien noch nicht deutlich zu zeichnen. So muß uns ein allgemeines Umrißbild genügen. Und was von Dionysos gilt, kann auch von den übrigen Kulten des Ostens gesagt werden. F. Cumont, Orient. Religionen» 192. J. Leipoldt, Dionysos (1931).

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Wir sehen in der hellenistischen Zeit das Mysterienwesen aufblühen und sich in der römischen Periode immer stärker von Osten her bereichern. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. tritt dann der Orient seinen religiösen Siegeszug nach Westen an, der in der Mitte des dritten den Höhepunkt erreicht. So dürfen wir annehmen, daß in der für unsere Frage entscheidenden klaudisch-neronischen Zeit sich auch in Kleinasien diese Kräfte regten und zum Feldzug des nächsten Jahrhunderts geschickt machten. Verbinden wirdieausdenunmittelbarenDenkmälern und Zeugnissen gewonnenen Erkenntnisse mit den Ergebnissen einer Analyse der Paulusbriefe, so gewinnen wir eine Möglichkeit, auf das Vorhandensein und die Art bestimmter Strömungen in paulinische r Zeit Rückschlüsse zu machen. In dieser Welt um das junge Christentum herum, so bunt sie auch aussieht, herrscht nicht eitel Freude und froher Genuß. Ein Druck lastet auf ihr, und der Einzelne spürt es in tiefster Seele, wie er gefesselt ist und leidet. Mögen es die Sterne sein, wie die Chaldäer lehren, die schicksalhaft am Himmel ihre Kreise ziehen, oder ein unpersönliches, unvorstellbares Verhängnis — auch wenn man es zur bildhaften Göttin Ananke macht oder zur herzlosen, launenhaften Tyche, immer ist es unentrinnbar, keinem Opfer oder Gebet des armen Sterblichen erreichbar. Warum? Weil er andern Wesens ist, nur Objekt des Willens der höheren Macht sein kann. Aber hat er nicht eine Seele? Ja, aber die liegt in den Fesseln des Leibes und vermag sich nicht loszureißen von allen Bindungen dieser Welt. Darum — freue dich des Guten dieser Erde so lange du kannst, danach zerfällst du in Staub und Aschel So lautet die derbe Antwort der Erdensöhne, die uns von so manchem Grabstein 1 entgegenklingt. Aber es gab genug ernste Menschen, die sich nicht so billig mit der Erkenntnis vom Unwert dieser Welt abfinden konnten: einem Unwert, der Allgemeinerkenntnis dieser Zeit ist für alle, die tiefer über das Wesen der Dinge nachdenken. In ihnen lebt der Wunsch nach Erlösung: und ihm bringen die Mysterien des >) Beispiele bei Buecheler, Carm. epigr. 185—191.243—244.420,5. 1081. 1082. 1495-1500. E. Rohde. Psyche 2, 393—396.

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Schicksal und Erlösung

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Ostens Trost. Die Seele des Menschen ist göttlichen Ursprungs, ein Unheil alter Zeiten hat sie in die Materie gesenkt und in den Leib gebannt. Aber ein Gottesbote ist auf die Erde herabgestiegen und hat seinen Jüngern die Wege gewiesen, wie die Seele die Fesseln des Leibes losen, die feindlichen Mächte bezwingen oder belisten, durch die sieben Himmelssphären aufsteigen und sich mit dem göttlichen Urquell wieder vereinen kann. Das ist Weisheit, die zugleich Wissen, Handeln, Leiden und Genießen ist: das nennt man Gnosis, und seine Ausübung ist das Mysterium. Hinwendung zur Gottheit befreit vom Leibe; denn der Leib gehört ja zu der pessimistisch abgewerteten Welt; und inmitten der Genußsucht einer ganz sinnlichen Diesseitigkeit verbreitet die Mystik asketische Sitten, Abstinenz von Wein, von Fleisch, vom Geschlechtsverkehr bei denen, die sich nach der andern Welt sehnen. Sie wollen sich von der Sinnlichkeit befreien und suchen den Geist, der als Gottesfunke in der Seele lebt, zur Dominante ihres Lebens zu machen: das Mysterium weist ihnen die Mittel. Es bringt ihnen den Tod und zugleich die Wiedergeburt zu neuem und wahrem Leben. Es erweckt den Gott im Busen und läßt sie in der Ekstase die seligen Gefilde der Gotteswelt schauen. Und wem der Gott die Lippen rührt, der kann von himmlischen Offenbarungen künden. Der steht vor der andächtig lauschenden Mystengemeinde nicht mehr als Mensch, sondern als Gottes Mund, als vergotteter Mensch, als Prophet. Und die Religion, die er aus eigenem Erleben in Gottes Auftrag verkündet, ist eine Erlösungsreligion, ihr Stifter, der ßringer des Mysteriums, der Weltheiland. Das ist die Idee, deren irdische Abwandlung wir bereits kennengelernt haben: die in Not und Blutverhängnis schmachtende Welt hat der Heiland Augustus erlöst. Jetzt sind uns die religiösen Wurzeln seiner Gottheit und der Weissagung von der Geburt eines göttlichen Kindes zum Heile der Welt erschlossen. Jetzt begreifen wir aber auch, wie es zu jenen Tagen in den Herzen widerklingen mußte, wenn Paulus seinen galatischen Gemeinden schrieb (4,4): „Als aber die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen

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Sohn, vomWeibe geboren und unter das Gesetz getan, damit er die unter dem Gesetz erlöse, damit wir die Sohnschaft empfingen." Das ist auch Erlösungsreligion und Weltheilandslehre. Wenn es schon unzweifelhaft ist, daß die Reinigungsvorstellungen und -Vorschriften dieser Mysterien ursprünglich auf rein naturreligiösem Boden gewachsen sind und deshalb ausschließlich kultischen Charakter tragen, so ist doch für die spätere Entwicklung das Eindringen moralischer Elemente ebenso deutlich erkennbar. Schon in der alten Orphik begegnet die Vorstellung von einem Totengericht über die Sünder1 auf Grund ihrer Taten, die der Sühne bedürfen. Fasten und Keuschheit sind in zahlreichen Kulten gewichtige Mittel für den Frevler, um die Gnade der Götter wiederzugewinnen, und sie werden bei fortschreitender Verinnerlichung nicht mehr im alten Sinn der Dämonenabwehr verstanden, sondern als Erziehung der Seele zu innerer Reinheit empfunden*. Ein Beispiel: im lydischen Philadelphia hat sich ein Tempelgesetz des ersten vorchristlichen Jahrhunderts erhalten*, das unter Berufung auf eine Offenbarung des Zeus an Dionysos der Kultgemeinde einen ganzen Moralkatechismus vorschreibt, zu dessen Beobachtung sie sich bei jedem Monatsopfer aufs neue bekennen muß. Dabei wird ausdrücklich betont, daß der Eintritt in diese Gemeinschaft Männern und Frauen, Freien und Sklaven ohne Unterschied freistehe. Der Fortschritt tritt besonders augenfällig zutage, wenn man zum Vergleich die zahlreichen phrygischen Inschriften 4 mit Sündenbekenntnissen heranzieht, die rein kultische Vergehen betreffen. Und wir können auch erkennen, woher die Wandlung kommt: die Philosophie der Straßenprediger hat die Gleichheitsideen der Stoiker mitsamt ihren MoralgrundsätzeninsVolk getragen und die Gewissen geschärft. Man muß die um 100 n. Chr. entstandenen Lehrvorträge Epiktets in Arrians Nachschriften lesen, um ein lebendiges *) A. Dieterich, Nekyia 126. A. Olivieri, Lamellae aureae orphicae (Kl. Texte 133), S. 9,4.11,4. *) F.Cumont, Orient. Relig.*219. *)Dittenberger, Syll.» 985; vgl. 983. K. Latte Arch. Rel. Wiss. 20,291 ff. 4 ) Steinleitner, Die Beichte im Zusammenhang mit d. sakralen Rechtspflege 1913 gibt die Texte.

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Mysterien und Moral. Die Stoa

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Bild von dem zu gewinnen, was in früher Kaiserzeit Popularphilosophie heißt und schon seit geraumer Zeit so gewesen ist. Da wird in lebhafter Rede und anschaulichen, oft derben und drastischen Wendungen die Gedankenlosigkeit des Inden-Tag-hineiii-Lebens bekämpft und der Hörer zur inneren Einkehr gezwungen: die Fragen nach Sinn und Wert des Lebens werden gestellt und die landläufigen Anschauungen einer eindrucksvollen Kritik unterzogen. Ein Vorurteil nach dem andern sinkt dahin unter dem Anhauch einer Philosophie, die sich als robuster gesunder Menschenverstand darzustellen liebt. Als Objekt der Belehrung bleibt übrig der Mensch schlechthin, der „Kosmopolit", der nicht Grieche oder Barbar, nicht Freier oder Sklav, nicht Mann oder Weib, sondern eben nur Mensch* und als solcher zur „Philosophie", will sagen zum Denken und Handeln nach gesunden Grundsätzen, berufen ist*. Er braucht nur mit ungetrübtem Auge die Natur zu betrachten, um den rechten Weg zur Gestaltung des Lebens zu finden. Der angeborene Selbsterhaltungstrieb, das natürliche Glücksverlangen werden ihm schon bei ernsthafter Überlegung zeigen, was er zu tun und zu lassen hat, sowohl sich selbst wie den andern gegenüber. Und wenn die Menschen zumeist das Falsche undTörichte undSchädliche tun, so liegt das nur daran,daß sie den Leidenschaften, der Lust und dem Schmerz, bestimmenden Einfluß auf ihre Handlungen einräumen und die vernünftige Erkenntnis dadurch trüben. Ringe um die Ruhe deiner Seele,dann strahlt dir unverhüllt das reine Licht der Vernunft und weist dir den Weg zur Tugend, deren Übung allein echtes Glück bedeutet'. So ersteht der Seele die wahre innere Freiheit4, die sie von allen Wechselfällen des Außenlebens unabhängig macht. Und in diese philosophische Predigt hinein klingen Töne, die aus religiösen Tiefen quellen. Denn als die Grunderkenntnis für alle sittliche Lebensführung erscheint die Wahrheit, daß wir alle von Gott geschaffen sind, der ein Vater der Menschen und der Götter ist. Den Leib haben wir mit den Tieren gemein, aber Sinn und Vernunft mit den Göttern 1 . ») Epiktet 19, 1.6; II 10, 1—3. «) Chrysipp fr. 253 f. Arnim. *) Epiktet I 4, 3. 28. ') Epiktet IV 1. «) Epiktet I 3, 1—3.

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Von Gott ist der schöpferische Same in die Welt gestreut und hat sich in den vernünftigen Wesen entfaltet: so sind wir Menschen Teilhaber einer Gemeinschaft, die Menschen und Gott verbindet, wir sind Gott verwandt, und der Mensch darf sich stolz Gottes -Sohn nennen. Wer das begriffen hat, der weiß, daß er Gott zum Schöpfer und Vater und Schützer hat, und kennt nicht Leid noch Furcht. Er sorgt nicht, was er morgen essen wird, er müßte sich ja vor den Tieren schämen, die ihres Unterhaltes gewiß sein können 1 . Mag auch dies Gefängnis des Leibes für die Seele beschwerlich sein, die ihre Gottverwandtschaft lebendig empfindet, so erträgt sie es doch in dem hohen Bewußtsein, in Gottes Dienst zu stehen, der sie als ihr Feldherr auf einen Posten gestellt hat, den sie verteidigen muß — bis zu dem Augenblick, wo Gott sie ablöst. Es ist ja nur eine kleine Weile, dann wird sie den befreienden Ruf vernehmen und zu Gott kommen*. Das ist nicht mehr der hausbackene und pedantische Pantheismus der alten Stoa: über dies dürre Land ist der befruchtende Regen echten religiösen Empfindens gekommen und hat aus den verborgenen Samenkörnern einen wirklichen Gottesglauben aufsprießen lassen, der die stoische Tugendpredigt mit neuer Kraft beseelt. Etwa ein Jahrhundert vor Christi Geburt entfaltete auf der Insel Rhodos der Mann seine weitreichende Wirksamkeit, der vor allen der Träger dieser neuen Strömung in der Stoa gewesen ist, Poseidonios' — und wenn wir erfahren, daß seine Wiege in der syrischen Stadt Apamea stand, werden wir auf orientalische Religiosität als ein bestimmendes Element seiner Jugendjahre schließen. Unter der alle Wissenschaften umspannenden Fülle seiner Werke befand sich außer Abhandlungen über das Schicksal und über die Weissagekunst auch eine Schrift über die Götter, die für die Entwicklung der stoischen Theologie von größter Bedeutung gewesen ist und weiteste Verbreitung gefunden hat. Als Cicero bald nach 80 in Rhodos studierte, hat er zu den Füßen dieses von der römischen Aristokratie hoch») Epiktet I 9, 1—9. 16—19. *) Epiktet I 9, 16—17. 24—25. ») P. Wendland, Kultur1 134—136. E. Schwartz, Charakterköpfe« 1,85—93.

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Stoische Religiosität. Poseidonios

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verehrten Meisters gesessen und ihn bewundert 1 ; und als er im Todesjahre Casars mitten unter den Wirren der Zeit seinem Volke eine populär-philosophische Literatur schuf, hat er dem zweiten Buch seiner Schrift vom Wesen der Götter jenes Werk des Poseidonios zugrunde gelegt. Zweihundert Jahre später galt des Poseidonios Buch noch immer so viel, daß der skeptische Arzt Sextus es als die typische Darstellung des philosophischen Götterglaubens ansah und demgemäß sorgfältig exzerpierteMJnd in den Tagen des Apostels Paulus hat ein feinsinniger Schriftsteller unter dem Decknamen des Aristoteles ohne gelehrten Ballast den Gebildeten seiner Zeit eine Zeichnung des Weltgebäudes entworfen*, deren Glanzstück die theologische Erfassung des Kosmos im Sinne des Poseidonios ist. Mit eindringendem Eifer wird in diesen Schriften nach dem Vorgang der alten Stoa der kosmologische Gottesbeweis geführt und vertieft. Aus der Ordnung und dem zweckmäßigen Bau der Welt und aller ihrer Teile folgt die erhabene Vernunft ihres Urhebers und Lenkers; die aufsteigende Stu* fenreihe der Geschöpfe erzwingt die Annahme eines höchsten und vollkommenen Wesens, und der Organismus des Kosmos erweist die Existenz einer diesen Weltlenleib belebenden Seele, also einer das All durchdringenden und alles bewegenden Kraft, die aus ihren Wirkungen als höchste zwecksetzende Vernunft und leitende Vorsehung erkannt wird. Dieser immanente Gottesgeist bildet, indem er sich abwandelt, die vier Elemente vom feinsten Feueräther bis zur groben Erdmaterie, und aus deren Widerspiel gestaltet sich alles kosmische Geschehen. So ist die unendliche Fülle der Wesen entstanden, an ihrer Spitze die vernunftbegabten, die Menschen und die Götter, um derentwillen allein diese ganze Welt als ein „Staat", eine beide umschließende Gemeinschaft4, geschaffen ist. Während nämlich im letzten Grunde nur von e i n e m Gott als der Urseele die Rede sein kann, lehrt die Entfaltung der Erscheinungswelt uns eine Mehrzahl von Göttern, wenn ') Cie. Tusc. 2, 25, 61; vgl. ad Att. 2,1, 2; Hortensius fr. 44 Müller. ») Cie. de nat. deer. 2; Sextus Empir. adv. phys. 9, 60—136. s ) Ps. Aristot. de mundo 1, 391—401 ed. Bekker. 4) Cie. nat. deor. 2, 62.

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auch von abgeleiteter Natur, erkennen; das sind die leuchtenden Sterne, die in unbeweglicher Ruhe das höchste Firmament schmücken oder als Wandelsterne in ewig gleicher Ordnung ihre himmlischen Bahnen ziehen1. Aber außer ihnen gibt es noch zahllose Wesen von ätherischer Natur zwischen Himmel und Erde, die zutreffend als Dämonen bezeichnet und von den Menschen .als Götter verehrt werden 1 . Das sind Reminiszenzen altstoischer Vermittlungstheologie, die den Volksglauben hatte rationalisieren wollen*. Der werbende Gedanke des Poseidonios ist sein Monotheismus, der in jenem pantheistischen Urwesen den Schöpfer und Erhalter der Welt erkennen lehrt und auch dem Einzelnen die Gewißheit göttlicher Fürsorge gibt4. Hier ist die Quelle des Gottesglaubens, mit dem Epiktet die Seelen seiner Hörer stolz und fest macht, hier der Ursprung der dichterisch lodernden Begeisterung, mit der in immer neuen Wendungen die ewige Harmonie und Schönheit des Kosmos gepriesen wird. Der Verfasser der Schrift „von der Welt" tut entschlossen noch einen weiteren Schritt und geht von der Immanenz zur Transzendenz Gottes über. Es scheint ihm unwürdig, die Gottheit überall in der Welt finden zu wollen; nicht in ihrer Mitte, sondern droben im Himmel, zu dem wir Menschen betend die Hände erheben, thront jenseits der Grenze, rein an reinem Ort, über allem Wirrsal der niederen Regionen der Gott des Kosmos, der Heiland und Schöpfer aller Dinge: wie der Steuermann das Schiff, der Lenker den Wagen, der Führer den Chor, das Gesetz den Staat, der Feldherr die Truppe, so lenkt er die Welt. Wie der persische Großkönig unnahbar und unsichtbar seine Befehle erteilte, die von den Großen des Thrones den Beamten übermittelt das gewaltige Reich in Ordnung hielten, so wirkt die alles erhaltende Gotteskraft auf die nächste Körperwelt, die Gestirne des Himmels, wird von ihnen weitergeleitet und dringt herab bis in unsre Regionen, zwar in ihrer beglückenden Wirkung mit der größeren Entfernung ») Ebenda 2,42.54. Sext.9,86f. ·) Cie. n a t deor. 2,6. Sext. 9,87. ») Vgl. ζ. B. Chrysipp 2, 315—321 Arnim. 4) Cie. nat. deor. 2, 164.

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Philosophischer Monotheismus

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schwächer werdend, aber doch die Fülle des Alls zur Harmonie verbindend, die von ihm ausgeht und zu ihm hinführt. Er gibt das Zeichen: so drehen sich die Sterne und der ganze Himmel, die Sonne wandelt ihre doppelte Bahn und führt Tag und Nacht und die vier Jahreszeiten herauf, der Regen rinnt und die Winde wehen zu ihrer Zeit, die Ströme fließen und das Meer schwillt auf, Bäume grünen und Früchte reifen, lebende Wesen werden geboren, wachsen und vergehen, ein jegliches nach seiner Art 1 . Was Goethes Engel zum Preise des Herrn an seinem himmlischen Throne singen, ist ihnen vom Glauben dieser Zeit geformt, es hat in philosophischen Reden und volkstümlichen Weisheitsschriften, in jüdischen und christlichen Liturgien durch die Jahrhunderte geklungen als der edelste Ausdruck des antiken Monotheismus. ') Ps. Aristot de mundo 5—6.

Der Auegang des Juden Christentums Die Jerusalemer Urgemeinde stand der Entwicklung des Christentums zur Weltreligion fremd gegenüber. Wenn schon die freie Stellungnahme der antiochenischen Hellenisten ihrer Auffassung von der dauernden Gültigkeit des Gesetzes widersprach, so ist die von Paulus gepredigte und prinzipiell begründete Freiheit ihr vollends als Irrlehre erschienen und hat energische Abwehr hervorgerufen. Wir haben den Konflikt des Paulus mit Petrus und den Jakobusleuten in Antiochia kennengelernt, und wir hören im Galaterbrief von judaistischer Agitation in den galatischen Gemeinden, die eine volle Durchführung des jüdischen Ritus einschließlich der Beschneidung für alle Heidenchristen zum Ziel hat und damit den Kompromiß von Jerusalem verleugnet. Der Vorstoß hat, wenn überhaupt, höchstens einen örtlich und zeitlich eng begrenzten Erfolg gehabt. Angesichts einer in raschem Vordringen befindlichen Mission unter den Heiden war die Fesselung der gewonnenen Massen durch das gesamte Ritualgesetz eine praktische Unmöglichkeit. Und selbst die verhältnismäßig bescheidenen Forderungen des Aposteldekrets haben sich nicht durchzusetzen vermocht: die geschichtliche Entwicklung ging über die Männer von Jerusalem hinweg. Sie wurden aus der Entfernung mit höchster Ehrfurcht angeschaut, man erkannte ihnen die oberste „apostolische" Autorität zu, und man vergaß schnell und gründlich, was eigentlich ihre Meinung gewesen war. Nur ihre Anerkennung der heidenchristlichen Gesetzesfreiheit hielt man in treuem Gedächtnis; die Entwicklung der Christenheit haben sie weiterhin nichtmehr zu beeinflussen vermocht, denn das apostolischeZeitalterneigte sich im Osten wie im Westen der Schlußkatastrophe zu.

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Verfolgungen

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Das Verhältnis der Urgemeinde zu den Juden wurde mit der Zeit gespannter. Als des großen Herodes sehr kleiner Enkel Agrippa nach einem prinzlichen Abenteurerleben, das ihn in Rom und im Osten in Schulden gestürzt hatte, durch die Gunst seines Freundes Caligula König über einen großen Teil Palästinas wurde, machte er sich durch pharisäische Korrektheit und volkstümliches Benehmen im Lande beliebt. Eine seiner populären Taten war die Gefangennahme zweier Häupter der Christen: den Zebedaiden Jakobus ließ er mit dem Schwert hinrichten, während Petrus aus dem Gefängnis wunderbar entkam1. Aber die königliche Herrlichkeit dauerte nur drei Jahre (41—44): dann starb er, und die Prokuratoren übernahmen wieder die Regierung des ganzen Landes. Die Christengemeinde blieb bedroht. Der Hohepriester Chananja ben Chananja 1 zog im Jahre 62 den Führer der Gemeinde Jakobus vor den Hohen Rat und ließ ihn zum Tode verurteilen: offenbar wegen Religionsfrevels, denn er wurde gesteinigt*. Das hat, obwohl es von maßgebenden Leuten der pharisäischen Partei scharf mißbilligt wurde, der Gemeinde doch wohl den entscheidenden Entschluß eingegeben, Jerusalem zu verlassen. Zudem wuchs die Unruhe im Lande, der jüdische Nationalismus glaubte seine Zeit gekommen. Die Apostel erhielten eine Offenbarung über kommende Schrecken, und so verließ die Urgemeinde die Stadt und siedelte nach Pella über 4 : das war eine heidnische und den Juden bitter verhaßte* Stadt im Ostjordanlande, gegenüber Samarien, die denn auch beim Beginn des Freiheitskrieges von ihnen heimgesucht wurde. Aber diesen Christen hat sie guten Schutz geboten. Und nun trat das gewaltige Drama des jüdischen Krieges in seinen ersten Akt, nachdem es schon seit Jahren durch immer neue Flammenzeichen angekündigt war, die an verschiedenen Stellen aus dem palästinensischen Boden aufschlugen; mehr als ein Messias hatte die erbitterte Landbevölkerung zu den Waffen gerufen, und organisierte Banden der ») Apg. 12, 1—19. *) Schürer 2, 273. ») Jos. A. 20, 200; die christliche Legende gibt Hegesipp bei Eus. II 23,4—18. 4 ) Eus. III 5, 2 - 3 . «) Jos. B. 2, 458.

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10. Der Ausgang dee Judenchristentume

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„Sikarier" zogen plündernd umher und mordeten nicht nur Heiden und Samariter, sondern auch mißliebige Häupter des eigenen Volkes. In der Hauptstadt Caesarea kam es schließlich zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen Juden und Griechen, bei dem der Prokurator Floras die von einer reichen Geldspende befürworteten jüdischen Wünsche nicht erfüllte. Ja, er verlangte nun sogar noch die Auslieferung einer fast doppelt so großen Summe aus dem Tempelschatz zu Jerusalem. Das brachte auch dort die Menge in Aufruhr, den er zunächst freilich mit barbarischen Mitteln dämpfte. Aber die Empörung griff rasch um sich, die Vermittelung des im Osten und Norden Palästinas einiges Weniges regierenden Königs Agrippa II. versagte, und der offene Aufstand brach los und verkündete als sein Ziel die Befreiung von der römischen Herrschaft: des zum Zeichen wurden die Opfer für den Kaiser eingestellt. Die Jerusalemer Aristokratie warnte vergebens und bat dann den Floras und den Agrippa um schnelles Einschreiten: aber nur der König schickte 2000 Mann zu Hilfe, die sich ebenso wie die römische Garnison in der oberen Stadt zu halten suchten. Es war vergebens, die Burg Antonia und der Palast des Herodes wurden von den Aufständischen gestürmt und in Brand gesteckt, die Besatzung teils im ehrlichen Kampf, teils unter Wortbrach nach Kapitulation niedergemacht. Um dieselbe Zeit wurden die römischen Besatzungen in Masada, Machärus und Jericho überwältigt, während in den Heidenstädten und allen voran in Caesarea ein allgemeines Judenmorden anhob, das die Juden blutig vergalten, wo sie die Macht dazu hatten. Das alles geschah im Spätsommer 66, und der Prokurator ließ es geschehen. Da rührte sich die höhere Kommandostelle: der Legat von Syrien, Cestius Gallus, vereinigte die verfügbaren Hilfstruppen mit seiner zwölften Legion, rückte von der Küste aus in das jüdische Land ein und drang bis an die Mauern Jerusalems vor. Aber hier spürte er die Grenze seiner Macht: Handstreiche mißlangen, zu einer regelrechten Belagerung reichten seine Mittel nicht aus. So #

Der jüdische Krieg

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kehrte er um, aber beim Abstieg aus dem judäischen Hochland nach der Niederung an der Küste wurde das Heer von den Juden gestellt und empfindlich geschlagen. Der erste Akt des Dramas endete mit dem Sieg des aufständischen Volkes: man rief die Freiheit Israels aus und prägte Silberschekel mit der stolzen Aufschrift: „Schekel Israels, Jahr 1" und „Das heilige Jerusalem" und zählte fortan auf den Münzen die Jahre nach der „Befreiung Zions". Die bisher widerstrebende Aristokratie der Stadt stellte sich der siegreichen Bewegung zur Verfügung und lieferte ihr nun sogar die Führer. Es verstand sich von selbst, daß Rom diese Schwächung seiner Machtstellung im Osten nicht dulden konnte. Nero betraute einen seiner besten Generäle, Vespasianus, mit der Niederwerfung des Aufstandes. Der bereitete den Feldzug sorgfältig vor und sammelte um einen Kern von drei Legionen ein Heer von Hilfstruppen, so daß er im Frühjahr 67 mit 60 000 Mann in Galiläa einmarschieren konnte. Das von den Aufständischen zusammengebrachte Heer lief sofort auseinander, und das offene Land von Galiläa war bald in der Hand Vespasians. Aber die ernsthaften Gegner zogen sich in die befestigten Orte zurück und leisteten den Belagerern heftigen und nachhaltigen Widerstand, der freilich am Ende doch immer gebrochen wurde. Auch die Samaritaner haben wunderlicherweise in dieser Zeit eine Truppenmacht auf dem heiligen Berg Garizim zusammengezogen, deren Haltung den Römern drohend erschien: so wurde eine größere Abteilung gegen sie geschickt und hat sie alle getötet, 11 600 Mann nach der Angabe des Josephus1: aber wofür sind diese Leute eigentlich gestorben? Im Frühling 68 begann Vespasian mit Erfolg, die südliche Hälfte des Landes sowie Peraea in seine Hand zu bringen: aber der Tod Neros und die folgenden Kaiserwirren veranlaßten ihn zu einer abwartenden Haltung, die bis Ende 69 dauerte, wo er selbst als Kronprätendent auftrat und sich nach Italien begab. Die Leitung des jüdischen Feldzuges übernahm sein Sohn Titus, der bisher schon in seinem Heer be») Jos. B. 3, 315.

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fehligt hatte. Dieser marschierte kurz vor Ostern 70 gegen Jerusalem, wohin sich inzwischen die große Masse der zum letzten Widerstand entschlossenen Männer zusammengezogen hatte. Die beiden Jahre der Schonzeit waren in wildem und grausam durchgefochtenem Parteihader hingegangen: die Aristokratie war entthront und hingerichtet. Die Zeloten unter dem Galiläer Johannes von Gischala hielten den Tempel und kämpften gegen die Freischärler des Simon bar Giora, die in der Oberstadt saßen. Aber das Erscheinen der Römer schloß sie zu gemeinsamer Abwehr zusammen. Gegen die Maschinen und die Waffen des Titus und gegen die noch fürchterlichere Macht des Hungers haben sie fünf Monate lang heldenmütig gekämpft. Im Juli fiel die Burg Antonia, am 10. August ging der Tempel in Flammen auf, am 8. September sank mit den Befestigungen der Oberstadt das letzte Bollwerk Jerusalems in Trümmer. Aber noch bis in den Frühling 73 hat es gedauert, ehe die letzten Funken des Aufstandes durch den Fall der südlichen Grenzfeste Masada ausgelöscht waren. Als der Sieg mit der Einnahme der Hauptstadt entschieden war, zog Rom ungesäumt die politischen Konsequenzen: Judäa wurde römische Provinz, von Syrien abgetrennt und einem Legatus pro praetore unterstellt: es erhielt auch stärkere militärische Besatzung, und eine ganze Legion, die zehnte 1 , wurde nach Jerusalem gelegt, wo sie in den Trümmern der unbewohnbar gemachten Stadt* ein Lager aufschlug. Mit dem Tempel war auch der Opferkult vernichtet und sollte es sein: als bald darauf flüchtige Sikarier in Ägypten Unruhen anstiften wollten, wurde trotz der loyalen Haltung der alexandrinischen Gemeinde auch der seit "mindestens zwei Jahrhunderten bestehende jüdische Tempel in Leontopolis geschlossen und das Opfern untersagt*. Das Synedrion wurde aufgehoben, und mit ihm verschwand auch der Hohepriester. Beibehalten wurde mit grausamem Hohn die Tempelsteuer der Diaspora: sie mußte nach Rom in den Tempelschatz des Juppiter Capitolinus gezahlt werden. So wurde der !) Ritterling bei Pauly-Wissowa 12, 1671—1677. *) Jos. B. 7, 3. ») Jos. B. 7, 433—436.

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Jerusalems Fall. Pella

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jüdische Nationalstaat und die zentrale religiöse Organisation des gesamten Judentums vernichtet. Und als zwei Menschenalter später noch einmal Barkochba das messianische Banner in fanatischem Aufstand erhob (132—135), hat Kaiser Hadrian das Urteil des Vespasian furchtbar bestätigt und an der Stelle von Jerusalem die römische Kolonie Aelia Capitolina erbaut, deren Betreten jedem Juden bei Todesstrafe untersagt wurde. Das Christentum der Urgemeinde hatte sich noch rechtzeitig vor der Katastrophe vom jüdischen Volk und seinem tragischen Geschick geschieden, aber es trat durch seine Flucht nach Pella in den Wirkungsbereich jüdischer Sekten mannigfacher Art, die sich schon früher abgesondert und in der Gegend des Ostjordanlandes sowie östlich und südlich vom Toten Meer Zufluchtsstätten bereitet hatten. Josephus erwähnt sie nicht, aber christliche Autoren des zweiten Jahrhunderts 1 zählen als jüdische Gruppen neben den Pharisäern, Sadduzäern und Essenern allerlei Namen auf, die uns meistens inhaltsleer sind. Die „Samaritaner" freilich kennen wir wohl: aber das sind keine Juden im Sinne der Rasse, sondern die Nachkommen der von den Assyrern im Mittelland Palästinas angesiedelten fremdstämmigen Kolonisten, die mit der Zeit die mosaische Religion angenommen hatten, sich aber vom Jerusalemer Tempel fernhielten und auf dem Garizim eine eigene Kultstätte besaßen; auch den Messias erwarteten sie mit lebendiger Hoffnung und haben die römische Gegenwirkung beim Auftreten eines messianischen Prätendenten blutig erfahren1. Dagegen sind die unter verschiedenen Namen auftretenden Täufersekten unzweifelhaft echte jüdische Vereinigungen: ihr Charakteristikum ist die uns bereits bei den Essenern begegnende* Sitte, sich regelmäßig täglich durch kultische Bäder zu reinigen, während das offizielle Judentum solche Lustrationen nur für besondere Fälle der Verunreinigung anwendet. Erst im vierten Jahrhundert erhalten wir dann wieder Kunde über jüdische Sekten durch Epiphanius', ») Justin dial 80. Hegesipp bei Euseb IV 22, 7. *) Jos. A. 18, 85-87. i) o. S. 23 f. *) Epiph. haer. 14—20.

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der mit pedantischer Gelehrsamkeit allerlei über sieben „vorchristliche Ketzereien" bei den Juden zusammengetragen hat und ihren Einwirkungen auf das spätere Christentum nachgegangen ist. Er nennt neben den aus Josephus bekannten Gruppen gleichfalls die Täufer und läßt ihnen die Nasaräer 1 folgen, die in der Galaaditis und Basanitis, also in der Gegend von Pella bis zum Haurangebirge, wohnen. Diese beobachten im allgemeinen die jüdischen Riten, stehen aber dem Pentateuch irgendwie kritisch gegenüber, essen kein Fleisch und verwerfen die Tieropfer—was wiederum an dieEssener erinnertMJnd mit diesen Nasaräern sind augenscheinlich eng verwandt die südlicher wohnenden Ossäer* oder Sampsäer im Moabiter- und Nabatäerland, da sie in der Stellungnahme dem Opferkult und der mosaischen Tradition mit ihnen übereinstimmen. In diesen Kreis traten die nach Pella geflüchteten Christen ein: auch sie waren vom Jerusalemer Judentum ausgestoßen, weil sie bei aller Anhänglichkeit an die altüberlieferten Grundlagen der Religion und des Volkstums durch ihren religiösen Sonderbesitz in einen unausgleichbaren Gegensatz getrieben wurden. Und in den jungen Überlieferungen der Christengemeinde war manches, was sie diesen älteren Sekten als innerlich verwandt erscheinen lassen mochte und Verschmelzungen angebahnt hat, die wir in späteren Zeiten gelegentlich feststellen können. Mit der Übersiedelung nach Pella und der Zerstörung Jerusalems verschwindet die Urgemeinde aber auch aus dem Gesichtskreis des die Welt erobernden Heidenchristentums, das in der Christenheit den Sieg davongetragen hat. Nachdem das Gottesgericht über die heilige Stadt die Strafe für die Kreuzigung des Herrn, die Vernichtung des Tempels und seines Kultes die Beseitigung des Gesetzes vor aller Augen dargestellt hatte, fehlte dem Judenchristentum nicht nur die völkische, sondern auch die religiöse Grundlage seiner einstigen Ansprüche, und so wurde es in der Großkirche vergessen; es taucht unter in die Wüsteneinsamkeit des Ostjordanlandes, ») Epiph. haer. 18. *) o. S. 22 f. ·) Epiph. haer. 19 vgl. 53, 1

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Die Judenchristen als Ketzer

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und nur gelegentlich haben in späteren Jahrhunderten christliche Theologen mit neugierigen Augen die Überbleibsel ehrwürdigster Vergangenheit betrachtet und den Zeitgenossen von ihnen als wie von einer seltsamen Merkwürdigkeit erzählt; in dem Schematismus theologischer Begriffe buchte man diese Judenchristen unter der Rubrik „Ketzer". Aber es sind auch nur ganz wenige gewesen, die sich um diese Leute in fernem Lande gekümmert haben. Um 150 diskutiert der aus Palästina gebürtige Apologet Justin 1 die Frage, ob Judenchristen, die das mosaische Gesetz beobachten, selig werden können. Er kennt offenbar derartige Gemeinden und ist geneigt, sie als Christen gelten zu lassen, wenn sie jene Observanz nicht auch von andern fordern, weiß aber, daß manche sie auch dann noch nicht anerkennen wollen. Aber wir haben Grund zu der Annahme, daß hier nicht ein aktuelles Problem erörtert, sondern eine theoretische Erwägung angestellt wird. Selbst die einMenschenalter früherniedergeschriebenen Warnungen des Ignatius vor jüdischem Wesen 1 haben schwerlich etwas mit dem alten Judenchristentum zu tun. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts finden wir bei Irenäus von Lyon* das Schema, das von da ab die kirchliche Berichterstattung über die Judenchristen beherrscht. Er nennt sie „Ebionäer", also mit einem biblisch-hebräischen Ausdruck „die Armen"; so nannte sich die Jerusalemer Urgemeinde4, und der Name bezeugt den Zusammenhang dieser Nachfahren mit dem alten Stamm. Irenäus weiß von ihnen, daß sie die jungfräuliche Geburt Jesu leugnen, nur das Matthäusevangelium gebrauchen und vom Apostel Paulus nichts wissen wollen. Die prophetischen Schriften deuten sie auf eigene Weise, und ihre Lebenshaltung ist ganz jüdisch, derart, daß sie sogar die Gebetsrichtung nach Jerusalem nehmen, als ob Gott dort wohnte. Ist das nun selbsterfahrene Kenntnis des Irenäus oder fremde Weisheit einer älteren Quelle? Er selbst hat in Gallien sicher keinen Ebioniten gesehen. Ob er sie in ») Justin, dial. 47,1—3. *) Jßn. Magn. 8—10, Philad. 6,1. ») Iren. I, 26, 2. «) s. o. S. 54.

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seiner kleinasiatischen Heimat Smyrna kennengelernt haben kann, ist mindestens fraglich. Fast die ganzen folgenden zweihundert Jahre hindurch hören wir nichts mehr von Gemeinden der Judenchristen, außer daß die alten Nachrichten weitergegeben und gelegentlich mit unwesentlichen Zusätzen versehen werden: etwa wenn Origenes1 meldet, es gebe außer den oben gekennzeichneten Ebioniten auch andere, welche die Jungfrauengeburt annähmen. Nur vereinzelt tauchen schattenhafte Personen auf, die aus jener engen Welt in die Großkirche hinübergekommen sind. Der Apologet Ariston stammte aus Pella, also doch vielleiqht aus jener Judenchristenheit; er weiß vom Barkochbakrieg zu erzählen1, aber ein Judenchristentum vertritt er nicht. Der in der Antoninenzeit wirkende, von Euseb mit Recht geschätzte Hegesipp hat in seinem Werk judenchristliche Quellen benutzt und sich als einen vom Judentum herkommenden Christen erwiesen — so berichtet Euseb*, aber er sagt nicht, daß er der Sekte der Judenchristen angehört habe. Dagegen weiß Origenes4 von dem Bibelübersetzer Symmachus zu melden, er sei Ebionit gewesen; er kennt auch Schriften dieses Mannes, die am Matthäusevangelium Kritik üben, und diese Nachricht wird durch eine spätere Notiz 8 bestätigt. Erst in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts finden wir wieder genauere Nachrichten über Reste des Judenchristentums bei zwei Männern, die eigens diesem Problem nachgegangen sind. Die Hauptmasse verdanken wir dem Ketzerhistoriker Epiphanius von Salamis auf Kypros, der um 370 alles gesammelt hat, was ihm über „Nazaräer" und „Ebioniten" zugeflossen ist Die erstgenannten werden wesentlich ebenso charakterisiert, wie die Ebioniten des Irenäus, und es wird ausdrücklich betont, daß sie Hebräisch sprechen'· das Alte Testament wird bei ihnen im Urtext ver») Orig. c. Cels. 5, 61 vgl. 2, 1 5, 65 Horn, in Jerem. 19, 12 Klost. *) bei Euseb. K G IV 6,3. ») Euseb KG IV 22,8. 4 ) Orig. bei Euseb K G VI 17. ») Marius Victorinus Com. in Gal. 1, 19 2, 26 (Migne lat 8, 1155. 1162). V g l dazu Epiph. haer. 52, 1, 8. ·) Epiph. haer. 29,7,4 9,4.

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Nachrichten dee Epiphanius und Hieronymus

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lesen, und ihr Matthäusevangelium ist in hebräischer Sprache mit hebräischer Schrift geschrieben. Ihre Wohnsitze sind Pella, Kokaba im Haurangebiet und das weitab im Norden, östlich von Antiochia gelegene Beroea(Aleppo): man kommt von selbst auf die Vermutung, die Judenchristen von Antiochia möchten schon in früher Zeit die ganz hellenisierte Großstadtgemeinde verlassen und sich nach Osten geflüchtet haben — so daß sich Beroea zu Antiochia verhielte, wie Pella zu Jerusalem. Hieronymus hat sich um dieselbe Zeit in der Wüste Chalkis östlich von Antiochia aufgehalten und gleichfalls den „Nazaräern" nachgespürt: er hat sie in Beroea besucht, ihr hebräisches Matthäusevangelium 1 abgeschrieben und behauptet, es später ins Griechische und Lateinische übersetzt zu haben — wovon leider nichts übrig geblieben ist als ein paar kümmerliche Zitate 1 . In der Bibliothek von Caesarea lag seinen Mitteilungen zufolge auch ein Exemplar dieses Matthäus. Aber dies Evangelium war nicht etwa, wie Hieronymus meint, das alte aramäische Original, sondern eine Übersetzung unseres kanonischen Textes ins Westsyrische, die zugleich nicht wenige legendäre Ausschmückungen erfahren hatte. Davon gab es anscheinend auch eine griechische Rückübersetzung für griechisch redende Judenchristen, deren Spuren wir vereinzelt bei Kirchenvätern und in kritischen Randnoten neutestamentlicher Handschriften finden*. Es ist begreiflich, daß diese von der Großkirche losgelösten Gemeinden des Ostens die Traditionen der alten Zeit nicht unverändert bewahren konnten, daß sie vielmehr unter den Einfluß der bereits vorhin geschilderten jüdischen Sekten gerieten und an ihrem geistigen Leben Anteil nahmen. Im dritten Jahre Trajans (101) trat im Ostjordanland >) Hier. vir. inl. 2. 3 dial. adv. Pelag. 3, 2 epist. 120, 8,2. Epiph. haer. 29,9,4. Euseb. Theophanie 4,12 S. 183, 29 Greßmann. *) A. Schmidtke judenchristl. Evang. ( T U 37, 1) 32—41. E. Klostermann Apokrypha II (Kl. Texte 8). *) Ignat. ad Smyrn. 3,1—2 = Hier. vir. inl. 16; das Bruchstück Nr. 45 bei Schmidtke judenchristl. Evang. 39 f. beweist die Rückübersetzung aus dem Syrischen. Ob auch Nr. 3—5 (Clemens und Origenes Klosterm. fr. 5. 27) daher stammen?

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ein Prophet Alexis auf, den man später mit syrischer Umformung seines Namens Elxai — Chel-Ksai „die geheime Kraft" nannte 1 . Seine Weissagungen hat er in einem Buche niedergelegt, das seine Gemeinden treulich aufbewahrt haben: uns teilen die Ketzerhistoriker Nachrichten und Bruchstücke daraus mit1. Die jüdische Grundlage der Religion mit Beschneidung, Ritualgeboten und Sabbathheiligung, selbst die Gebetsrichtung gegen Jerusalem, wird durchaus festgehalten', und mit den ostjordanischen Sekten teilt der Prophet die Ablehnung der Propheten und der — inzwischen ja auch durch die Zerstörung Jerusalems unausführbar gewordenen — blutigen Tieropfer 4 sowie die Hochschätzung der Waschungen, der „Taufen", die er besonders als Heilmittel gegen Krankheit und dämonische Besessenheit empfiehlt11. Christus ist ihm der Sohn des „großen und höchsten Gottes" und wird der „große König" genannt; er ist ein präexistentes Wesen von göttlicher Kraft, das bereits in der Vorzeit in mannigfachen Gestalten, so in der Adams, verkörpert erschienen ist: Elxai hat ihn als einen Riesen geschaut, dessen Größe einem gewaltigen Berge gleichkam und danach auf 96 Meilen berechnet werden konnte: und neben ihm stand zu gleicher Höhe aufragend seine Schwester Rucha, der heilige Geist*. So ist ihm das Christentum die göttliche Religion, und an getaufte Christen wendet sich sein heiliges Buch. Aber er weiß mehr als die Kirche: er predigt eine zweite Taufe, die noch einmal Vergebung der Sünden spendet. Wer geschlechtliche Sünden irgendwelcher Art auf dem Gewissen hat und die Worte des Buches hört, der soll sofort hingehen und sich im Namen Gottes und des großen Königs taufen lassen, und zwar, wie hier und auch sonst ausdrücklich be') Lidzbarski Handbuch d. nordsem. Epigr. S. 217 a und Ephemeris 2, 198, Epiph. 19,2,10. 2 ) Hippol. 9,13—17,10,29. Epiph. haer. 19, 1—5, 30, 17. Vgl. Harnack Lit. 1, 207—209. Waitz bei Hennecke nt. Apokr.» 422—425. ») Hippol. 9,14,1.16, 3. Epiph. 19,3,5. *) Epiph. 19, 3, 6. 53. 1, 7. *) Hippol. 9, 15, 1. 4—16, 1. Epiph. haer. 30, 17, 4. ·) Hippol. 9,13, 1—3. Epiph. 19,4,1—2. 30,17,5—7. 53,1,8—9.

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Der Prophet Elxai

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tont wird, mit seinen Kleidern, nicht nackt, wie es in der Kirche üblich ist. Dann wird ihm aufs neue Vergebung der Sünden zuteil werden. Aber er muß bei der heiligen Handlung die „sieben Zeugen" anrufen, den Himmel, das Wasser, die heiligen Geister, die Gebetsengel, das Ol, das Salz, die Erde: die sollen dafür bürgen, daß er nicht mehr sündigen, ehebrechen, stehlen, Gewalttat üben, betrügen, hassen, freveln, noch an allem Bösen Gefallen haben wird1. Es ist eine echte, Umkehr fordernde Bußtaufe zur Vergebung der Sünden, die noch einmal vor dem Ende aller Dinge Gelegenheit zur Erlangung des Heiles bietet, so wie sie einst Johannes predigte; eine Buße, wie sie ganz ähnlich ein Menschenalter später der Hirte des Hermas der römischen Christenheit verkündet. Wer sich ihr unterzieht, und sei er selbst ein Irrlehrer, der wird den „Frieden und sein Anteil mit den Gerechten" erlangen. Die geschlechtlichen Sünden werden bei dieser Vorschrift besonders betont, weil sie dem Elxai als am schwersten belastend erscheinen: deshalb will er auch von sexueller Askese nichts wissen und fordert frühzeitige Heirat* — und damit wird er die volksmäßige und allgemeine Anschauung dieser judaistischen Kreise zum Ausdruck bringen. Die Namen der „sieben Zeugen" sind uns ein Beleg dafür, daß seiner Gedankenwelt Spekulationen über die Elemente, ihre sakramentale Kraft und die himmlische Geisterwelt nicht fremd waren: das Feuer erscheint ihm als Element der Irrung und Gottfremde, während die Stimme des Wassers auf den rechten Weg leitet*. Auch die Astrologie liefert ihm Bausteine zu seinem Lehrgebäude: er weiß von dem Einfluß böser Gestirne und ihrer Herrschaft über ganze Tage, vornehmlich, wenn der Mond mit ihnen in Konjunktion tritt. Zu solchen Zeiten darf man kein Werk beginnen, nicht Mann noch Weib taufen, sondern muß warten, bis der Mond den schlimmen Bereich verlassen hat. In der Woche ist der Sab») Hippol. 9, 15; Epiph. 19,1,6. 30,2,4—5. ') Epiph. 19, 1, 7. ») Epiph. 19,3,7. 53,1,7.

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bath vor allem heilig zu halten, aber auch am dritten Tag, also am Dienstag, darf mankeineArbeit anfangen, weil er das chronologische Symbol einer Weltkatastrophe ist: drei Jahre nach dem Partherkriege Trajans (114—116) wird der Krieg zwischen den bösen Engeln des Nordens entbrennen 1 . Aber mehr hören wir nicht von dieser unerfüllten Weissagung* und können nicht sagen, ob Elxai eine eigene Apokalyptik ausgebildet hatte. Es ist nicht leicht, aus den unzusammenhängenden Notizen der Gegner ein klares Bild vom Wesen dieses Propheten zu gewinnen. Deutlich erkennbar sind die jüdischen Bestandteile seiner Predigt, wozu auch die grobschlächtige Phantastik gehört, mit der sowohl die apokalyptischen wie die spezifisch christlichen Vorstellungen ausgemalt werden. Mit den Sekten des Ostjordanlandes verbinden ihn Taufriten und die Gegnerschaft gegen Tieropfer und falsche Prophetie. Dazu kommen Gedanken über Astrologie und Elementargeister, die uns an die polemischen Ausführungen des paulinischen Kolosserbriefs (2, 9. 16—18) erinnern und wohl auch schon vorher im sektiererischen Judentum eine Heimat gefunden hatten. Synkretistisch im eigentlichen Sinne ist das alles noch nicht, aber wir stehen an der Wiege einer judaistischen Gnosis: und die Nachwelt hat in Elxai die „geheimeKraft" d. h. dieVerkörperungder Gottheit in einem Übermenschen gesehen: eine Vorstellung, die uns um 100 n. Chr. auch sonst* vor die Augen tritt. Die Frage, ob die Charakterisierung des Feuers als des bösen Elements einen Gegensatz gegen persische Anschauungen ausdrücken soll, wird man bejahen dürfen. Dieses Buch des Elxai wäre in der verborgenen Heimlichkeit der Sekte nach dem Willen seines Verfassers geblieben 4 und der größeren Welt nie bekannt geworden, wenn nicht um 200 ein gewisser Alkibiades es aus dem syrischen Apamea nach Rom gebracht hätte und dort, freilich ohne ernsten Erfolg, als Missionar seines Propheten aufgetreten wäre5. Die Verkündigung der Sündenvergebung machte den ') Hippol. 9,16, 2 - 4 . *) Ed. Schwartz ZNW 31,195. 8, 10. ") Hipp. 9,17,1. ') Hipp. 9,13,1.

») Apg.

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Das Buch des Elxai

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rigorosen Hüter des Bußwesens, den Bischof Hippolytos, argwöhnisch: er sah sich den neuen Apostel und sein altes Buch genauer an — und schrieb in sein Ketzerwerk den ausführlichen Bericht, dem wir unser Wissen verdanken. Für die Kirchengeschichte hat dieser Alexis so wenig zu bedeuten wie für die Entwicklung des Judenchristentums. Seine Lehre ist uns nur ein willkommener Beleg für die Stärke und die phantastische Mannigfaltigkeit der Einwirkungen einer erwachenden Gnosis auf syrischem Gebiet. Epiphanius, der eifernde Bischof von Kypros, hat um 380 nicht nur den Bericht des Hippolyt gelesen, sondern anscheinend auch das „Buch Elxai" selbst in die Hände bekommen. Er weiß außerdem von zwei Schwestern aus der Familie des Propheten, die noch zu seiner Zeit leben und wie Heilige als Trägerinnen göttlicher Wunderkraft verehrte werden 1 . Aber dann behauptet er, jenes Buch habe große Wirkung geübt und sei in den Klementinischen Schriften, die er als Dokumente alten Judenchristentums ansieht, fleißig benutzt worden. Das hat die Forschung lange Zeit irre geführt, und erst jüngst haben eindringende Untersuchungen 1 die Klementinen als einen frei erfundenen Roman erkannt, der für die Erforschung der christlichen und der judaistischen Frühzeit schlechterdings gar keine Bedeutung hat und auch mit Elxai und seiner Gemeinde nicht zusammenhängt. Leider begeht Epiphanius aber auch sonst in seinem ausführlichen Bericht über die „Nazoräer" viele Konfusionen, insbesondere mischt er Angaben seines Ebionitenkapitels kritiklos hinzu, so daß die Erkenntnis des wirklich vorliegenden Tatbestandes aufs äußerste erschwert ist. Soviel etwa läßt sich sagen, daß er auf der Insel Cypern, also in seiner eigenen Diözese „Ebioniten" wohnen hat*, denen er einiges von seiner brauchbaren Kenntnis verdankt. Er weiß, daß bei ihnen allerlei apokryphe Apostelakten in Gebrauch sind und redet mit besonderer Betonung von einer „Stufenleiter des ») Epiph. haer. 19. 2, 12. 53, 1, 5. *) E. Schwartz ZNW 31, 151 bis 199. ») Epiph. haer. 30,18,1.

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Jakobus", die ihre Abneigung gegen den Opferkult und Brandopfer zum Ausdruck bringe und den Paulus giftig verleumde1. Das bei ihnen gebrauchte Evangelium hat er in Händen und teilt uns daraus reichlich Proben mit. Danach ist es eine phantastische Überarbeitung des kanonischen Matthäus unter Benutzung auch des Lukas, in dem die vegetarischen und opferfeindlichen Tendenzen deutlich zutage treten'· Johannes der Täufer nährt sich von Ölkuchen statt von animalischen Heuschrecken, und Jesus bestreitet nachdrücklich, Verlangen nach einem Passahbraten empfunden zu haben, und bezeichnet die Beseitigung des Opferkultes als seine Aufgabe. Ob dieses Apokryphon etwas mit dem vorhin* erwähnten Hebräerevangelium zu tun hat, läßt sich nicht sagen, da die ausgehobenen Stellen keinen Vergleich erlauben und die entsprechende Behauptung des Epiphanius4 keinerlei Gewähr für zuverlässige Beobachtung bietet. So sehen wir in Cypern letzte Reste des zersprengten Judenchristentums noch gegen Ende des vierten Jahrhunderts vegetieren, vermutlich nicht viel anders als die seltsame Gemeinde in Beroea und andere Überbleibsel im Osten. Man hat neuerdings die Vermutung aufgestellt5, auch Kleinasien habe dem flüchtenden Judenchristentum Aufnahme gewährt. Tatsache ist, daß der in Caesarea angesiedelte Evangelist Philippus mit seinen weissagenden Töchtern gegen Ende des zweiten Jahrhunderts von Hierapolis als Lokalheiliger in Anspruch genommen wird: er und zwei seiner Töchter sollen dort begraben sein, und eine dritte Tochter hat ihr Grab in der Hauptstadt Ephesus gefunden*. Die kleinasiatische Osterpraxis, von der noch zu reden sein wird, hat den Zusammenhang mit der jüdischen Observanz zäh gegenüber dem abweichenden Brauch der übrigen Kirche festgehalten. Die mit jüdischem Stoff arbeitende und in jüdischem Empfinden ») Epiph. haer. 30,16,6—9. *) Epiph. haer. 30,13—14. Sammlung der Bruchstücke bei E. Klostermann Apokrypha II* (K1. Texte 8) S. 9 bis 12; fr. 2.6.5. ') o. S. 192 f. 4 ) Epiph. haer. 30,3,7. «) K. Holl Ges. Aufs. 2,66 f. E. Schwartz Z N W 31,190 f. «) Apg. 21,8.9 Polykrates' Brief an Victor v. Rom bei Euseb KG.III31,3; vgl. Gaius ebenda 31,4.

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Judenchristen in Cypern und Kleinasien

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wurzelnde Johannesapokalypse hat ihre Heimat unzweifelhaft in Kleinasien, und ihr Verfasser setzt in der Gemeinde von Pergamon die Geltung des Aposteldekrets 1 voraus, die von den „Nikolaiten" bedroht wird. Auch die Polemik des vierten Evangeliums gegen die Juden scheint in ihrer Eigenart als Reaktion gegen ein traditionstreues Judenchristentum verständlicher zu werden. Die Uberlieferung vom Zebedäussohn Johannes, der als Greis in Ephesus gelebt haben und dort beigesetzt sein soll, wird man besser aus dem Spiel lassen, da sie dem Ignatius gegen 117 noch unbekannt ist und vermutlich auf einer tendenziösen Verwechselung beruht. Aber auch so sind die Argumente nicht so gewichtig, daß wir von mehr als einer Möglichkeit sprechen dürften. Der Ausgang des Judenchristentums ist überall der eines stillen Sterbens in der Einsamkeit. Die kräftig emporstrebende Kirche des siegreichen Weltchristentums hat vom Tode ihrer älteren Schwester keine Kenntnis genommen. ») Offenb. 2, 14.

Die nachapostolische Zeit Das apostolische Zeitalter geht mit dem Tode des letzten Apostels zu Ende, von dessen Ausgang uns glaubwürdige Kunde erhalten ist, des Petrus; und der blutige Feuerschein der Neronischen Verfolgung beleuchtet den Abschluß der geschichtlich entscheidenden Gründungszeit der jungen Weltreligion. Die römische Gemeinde hat keine Chronik geschrieben, und das schaurige Ereignis hat im Gedächtnis der übrigen Christenheit auch keine Spur hinterlassen, so daß wir aus kirchlichen Quellen über diese erste größere Aktion gegen die Gemeinde nichts Genaueres erfahren. Selbst Eusebius 1 berührt sie nur mit ein paar nichtssagenden Worten. Aber Tacitus fand hier brauchbaren Stoff für seine Zeichnung Neronischer Grausamkeit und hat uns einen Bericht geliefert, der von unschätzbarem Wert ist und auch die dürftigen Anspielungen des römischen Clemensbriefes verstehen lehrt*. Als im Juli 64 ein gewaltiger, mehr als sechs Tage andauernder Brand den größten Teil der Stadt Rom in Asche legte, und Nero sofort energisch den Wiederaufbau in vorgeschriebenen Formen und großer Pracht betrieb, kam das Gerücht auf, jenes Feuer sei von oben her befohlen worden. Um diesen Verdacht zu entwurzeln, schob der Kaiser die Christen als Täter vor und strafte sie grausam. Man griff einige auf, die sich als Christen bekannten, andere angaben, und schließlich hatte man eine große Menge beisammen. Freilich ergab die Untersuchung nichts über ihre Schuld amBrande, aber man stellte fest, daß sie „Feinde des Menschengeschlechtes" seien, und so mußten sie sterben, nicht durch einfache Hinrichtung, sondern in den Formen scheußlichen Schauspiels: in ') Eus. KG. 2, 25, 1-8. *) Tac. Ann. 15, 44; vgl. Sueton Nero 16,1. Clem. 6, 1-2.

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Die Verfolgung unter Nero

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Tierfelle eingenäht wurden sie von Bluthunden gehetzt, auf Stiere gebunden, in der Arena zerfleischt, gekreuzigt, und mit Pechbinden umwickelt haben sie in den kaiserlichen Gärten auf dem Vatikan als Fackeln gebrannt. Es ist höchstwahrscheinlich, daß in dieser Verfolgung auch Petrus den uns schon recht früh bezeugten 1 Kreuzestod gefunden hat: seinen Leichnam hat man neben dem Neronischen Zirkus an der Via Cornelia bestattet. Paulus war wohl schon längere Zeit vorher mit dem Schwert hingerichtet worden und hatte an der Straße nach Ostia sein Grab gefunden. Beide Grabstellen werden um 200 an denselben Stellen gezeigt, die noch heute verehrt werden, und liegen so abseits von allen Kultstätten des altchristlichen Rom, daß an ihrer Echtheit kaum gezweifelt werden kann*. Aber nur für einen kurzen Moment erhellt dieser Flammenschein das Dunkel, das die Urgeschichte der römischen Gemeinde bedeckt; dann verschwindet sie wieder für unser Auge, um erst ein Menschenalter später aufs neue und diesmal deutlicher vor uns sichtbar zu werden. Und das ist so gekommen: In Korinth war Zwist in der Gemeinde ausgebrochen. Die jüngere Generation hatte sich gegen das Regiment der älteren aufgelehnt und die von ihnen gewählten Episkopen und Diakonen ihres Amtes entsetzt, obwohl ihnen kein sachlicher Vorwurf irgendwelcher Art gemacht werden konnte. Es muß also einfach der Wunsch nach einer neuen Verteilung der Machtverhältnisse das Motiv gewesen sein, das die ganze Aktion hervorgerufen hat, und die formelle Begründung kann kaum anderswo gesucht werden als in dem Hinweis auf Parallelen des antiken Vereinswesens. Es war allenthalben — übrigens auch bei den Juden — üblich, die Vorsteher von Kultorganisationen nur auf Zeit zu wählen und nach Ablauf ihrer Amtsperiode durch neue Personen zu ersetzen, falls man sie nicht wiederwählte. Warum sollte es bei den Christen anders sein? Das leuchtete ein, und danach ist man verfahren und hat die einst von der Gemeinde Gewählten* durch neuen Beschluß der Gemeinde abgesetzt. ») Joh. 21,18.19. *) Gaius bei Euseb. KG. 2,25,7; vgl Lietzmann, Petrus u. Paulus in Rom* 1927. *) 1. Clem. 44,3; vgl. Didachel5,l.

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Freilich ist das nicht ohne Widerstand gegangen, und der Lärm des Kampfes ist übers Meer bis nach Rom gedrungen. Da hat die römische Gemeinde im vollen Bewußtsein der Einheit der Kirche sich zum Liebesdienst verpflichtet gefühlt und eingegriffen. Es ist einer ihrer Episkopen namens Clemens' gewesen, der den Auftrag ausgeführt und einenBrief nachKorinth geschrieben hat. Er fühlt sich als Erbe des Paulus und gibt auch in den Grußworten und der ganzen Stilisierung des Anfanges deutlich zu erkennen, daß er einenBrief von der Artzuschreiben gedenkt, wie sie der Apostel an Gemeinden zu richten pflegte, die einer kräftigen Ermahnung bedurften. Man spürt es beinahe: wenn Clemens nicht im Auftrag der römischen Gemeinde, sondern aus eigenem Antrieb geschrieben hätte, würde vermutlich als Verfasser „Paulus, Apostel Jesu Christi" am Anfang genannt sein,und wir besäßen einen pseudopaulinischen Brief mehr. Die römische Kirche hat über eigene Not zu klagen: plötzliche und schnell aufeinanderfolgende Schicksalsschläge haben es verschuldet, daß sie ihre Teilnahme erst so spät den korinthischen Angelegenheiten zuwenden kann. Aber nun greift sie auch mit voller Kraft ein. Die Führer des Aufruhrs werden kräftig gescholten, Eifersucht und Neid als die treibenden Kräfte bezeichnet, und dann gleitet der Verfasser in den Predigtstil hinüber und hält den Korinthern eine weit ausholende Rede, die uns ein gutes Bild der geistlichen Beredsamkeit jener Zeit liefert, und die schließlich in ausgedehnte liturgische Gebete ausmündet. Zur Sache selbst erfahren wir Hochbedeutsames*. Wir wissen*, daß die alten Gemeinden ihre Episkopen und Diakonen neben den vom Gottesgeist getriebenen Charismatikern gering einzuschätzen geneigt waren, aber wir erfahren auch, daß diese durch Wahl mit ihren Diensten betrauten Beamten allmählich in steigendem Maße auch die eigentlich geistlichen Aufgaben und liturgischen Funktionen übernahmen — vermutlich in dem gleichen Grade, als die enthusiastische Begabung von Propheten !) Dionys ν Korinth bei Euseb. KG. 4,23,11. ·) b. S. 149. Didache 15, 2.

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) 1 Clem. 40—44.

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seltener wurde. So sind sie in der Praxis die normalen Leiter des Gottesdienstes geworden, ohne ihre technischen Kompetenzen abzugeben: das heißt aber, daß sie geistliche und weltliche Macht in ihren Personen vereinigten. So lange sie nur Wirtschafts- und Finanzbeamte der Einzelgemeinde waren, konnte man sie wohl mit jüdischen oder heidnischen Gemeindevorständen gleichsetzen und zeitliche Begrenzung ihres Amtes fordern und üben. Der Charismatiker war selbstverständlich unabsetzbar, denn er hatte sein Amt von Gott durch Verleihung des Geistes bekommen, und konnte es nur durch Gottes Eingreifen zugleich mit der Geistesgabe wieder verlieren. Wenn nun der gewählte Episkopos in die Stellung des Propheten eintrat, so lag es nahe, ihm auch die Unabsetzbarkeit des Charismatikers zuzubilligen — und eben das ist es, was der Clemensbrief den Korinthern auseinandersetzt; freilich nicht mit unserer historischen Argumentation, sondern mit einer Begründung, die für die gesamte katholische Kirche von entscheidender Bedeutung geworden ist. Zeit, Ort und Personen des Kultes, so führt er aus, sind schon im Alten Testament von Gott vorgeschrieben, und genaue Ordnungen für alle geistlichen Funktionen festgesetzt, deren Übertretung Todsünde ist. So verläuft auch die uns gewordene göttliche Offenbarung in bestimmter Ordnung: Gott sandte Christus, Christus die Apostel, und diese setzten auf ihren Missionsreisen Episkopen und Diakonen ein, wie es übrigens auch schon bei Jesaia 60,17 ausdrücklich geweissagt ist. Und da sie kommenden Zwist voraussahen, gaben sie die Vorschrift, daß diese Ämter nach dem Tode ihrer ersten Inhaber von andern bewährten Männern übernommen werden sollten. Also dürfen die in dieserTraditionskette stehendenEpiskopen, die „unter Zustimmung der ganzen Gemeinde" eingesetzt sind undihrAmt untadelig verwaltet haben, inkeinerWeise abgesetzt werden; denn ihre Stellung ist durch apostolische Autorität legitimiert. Sie unterscheidet sich grundsätzlich und nach göttlichem Willen von dem Stande der Laien1. ') 1. Clem. 44, 1—3. 40, 5.

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Das ist die Lehre von der göttlichen Autorisation des Klerus und seinem Character indelebilis im Keim, und man hat nicht mit Unrecht die Niederschrift dieser Kapitel als die Geburtsstunde des katholischen Kirchenrechts bezeichnet. Noch wird die Theorie nicht ganz scharf ausgesprochen, denn es steht nicht ausdrücklich da, daß ein Episkopos nur von einem andern Episkopos in sein Amt eingesetzt werden kann: der Verfasser redet nur von „anderen angesehenen Männern", die an Stelle der Apostel Bischöfe einsetzen1, aber da er in der andern Richtung die Traditionskette mit Betonung auf Gott zurückführt, so ist sein Ideal unzweifelhaft die Weiterleitung dieser Kette durch die ganze Reihe der Episkopen, und in seinem Sinne wird man die „Angesehenen" als Episkopen zu interpretieren haben. Dann ergibt sich nachfolgende Lehre: Die apostolische Sukzession, d. h. die ununterbrochene Amtsübertragung von den Aposteln her von einem Episkopos auf den andern legitimiert den jeweiligen Inhaber der geistlichen Gewalt und macht ihn unabhängig von der Gemeinde. Einst wählte die Gemeinde ihre Episkopen als technische Funktionäre: jetzt wählen die Episkopen ihre Nachfolger und die Gemeinde behält nur das „Recht der Zustimmung". Sie hat es und betätigt es in Rom bis auf den heutigen Tag, wenn der neugewählte Papst sich in der Loggia der Peterskirche zeigt und den jubelnden Zuruf der auf dem Platz versammelten Menge entgegennimmt. Bedeutsam ist auch die Begründung dieser Lehre aus der Schrift, d. h. aus dem Alten Testament. Mit schlichter Selbstverständlichkeit werden die Kultvorschriften des heiligen Buches, über deren Beseitigung im buchstäblichen Sinne realer Ausführung kein Wort mehr verloren wird, als Typen der neuen christlichen Kultusordnung verwertet. Aus der Tatsache, daß im Alten Testament die gottesdienstlichen Formen in jeder Beziehung genau geregelt sind und Übertretung Todesstrafe nach sich zieht, folgert Clemens ohne weiteres, daß es demnach im Christentum ebenso sein müsse. ») 1. Clem. 44, 3. K. Müller in ZNW 28, 276.

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Und da er diese Beweisführung offenbar als auch den Lesern des Schreibens einleuchtend ansieht, dürfen wir wohl den Schluß ziehen, daß sie weithin in der Christenheit jener Tage Gemeingut des theologischen Denkens geworden war. Das Alte Testament ist also bereits in solchem Umfang den Juden entwunden und zum inneren Besitz des Christenvolkes geworden, daß man seine Gebote in typologischer Umdeutung zur Regelung des kirchlichen Lebens verwenden kann. Aber noch mehr. Das ganze Schreiben ist nicht nur von der Sprache der griechischen Bibel allenthalben aufs stärkste beeinflußt, sondern zitiert auch immer und immer wieder kürzere und längere Bibelstellen: seine ganze theologische Beweisführung stützt sich durchweg auf das Alte Testament, neben dem nur ganz vereinzelt an zwei Stellen1 Worte des Herrn als autoritative Begründung angeführt werden. In diesem heiligen Buch redet Gott selbst, aber ebenso auch Christus 1 durch den heiligen Geist und offenbart alles, was zum Heile nötig ist. Alle Wahrheit der Erkenntnis Gottes, alle Kunde von Gottes Geboten, seiner richtenden Strenge und vergebenden Güte ist im Alten Testament zu finden. Dies Buch hat die Geschlechter der Vergangenheit zur Besserung geführt, wie es die Christen in der Gegenwart auf den rechten Weg leitet: so können die Lehren der biblischen Geschichten und die Schickale der alttestamentlichen Männer und Frauen uns Mahnung und Vorbild rechter Lebensführung bieten*. Fügen wir noch hinzu, daß diese unmittelbare Wertung des Wortlautes noch wesentlich ergänzt wird durch die Erkenntnis typologischer Sinnhaftigkeit und verborgener Weissagungen auf Christus4, so kommt uns die zentrale Stellung der Heiligen Schrift im Christentum der römischen Gemeinde voll zum Bewußtsein. Sie ist das Grundbuch der göttlichen Offenbarungen und bestimmt, das „auserwählte Volk" zu belehren und ihm den Weg zur Heiligung zu weisen, das heißt aber.es gehört der mit dem typologischen Namen Israel bezeichneten Schar derer, die Gott aus der ganzen Völkerwelt durch Jel

) 1. Clem. 13,2. 46,8. *) 1. Clem. 22,1. ») 1. Clem. 7, 5-7. 9—18. 19,1. 43. 45,2. 50,3. 53,1—5. *) 1. Clem. 12,7, 16.

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sus Christus auserwählt hat1, also der Christenheit. Die wörtliche Deutung auf das jüdische Volk kommt so wenig mehr in Frage wie die rituelle Beobachtung des Zeremonialgesetzes. Vielmehr ist der Inhalt des göttlichen Gesetzes in erster Linie eine Summe moralischer Vorschriften, die uns durch formuliertes Gebot oder geschichtliches Beispiel vor Augen geführt werden: wird doch sogar Gottes Freude über sein Schöpferwirken als vorbildlich für menschliches Tun hingestellt*. Aber dazu kommt die Belehrung, daß Gott kein unbarmherziger Richter ist, sondern dem reuigen Sünder vergibt, der seine Vergehungen bußfertig bekennt und sein Herz nicht verhärtet. Gott ist einem solchen gnädig und bringt ihn wieder zurück auf den Weg der Wahrheit*. Dieser Weg selbst besteht aber zunächst und vorwiegend im Beobachten der jüdisch-hellenistischen Morallehren, wie sie uns aus der früher geschilderten 4 Diasporaliteratur bekannt sind: die Abhängigkeit von dieser jüdischen Moraltheologie ist so stark, daß weite Strecken des Schreibens ebensogut in der römischen Synagoge hätten entworfen oder vorgelesen werden können, und wenn gelegentlich von der „unsterblichen Gnosis" oder den „Tiefen der göttlichen Gnosis" gesprochen wird5, so sind mit diesen geheimnisvoll klingenden Worten keine Begriffe hellenistischer Mystik verbunden, sondern klare Erkenntnis der göttlichen Gebote und rechte Deutung des alttestamentlichen Gotteswortes gemeint. Fragen wir nun nach dem spezifisch christlichen Bestandteil dieser Religiosität, so bekommen wir zunächst einen sehr wortreichen Bescheid, denn auf vielen Seiten des Briefes tönt uns der Name Jesu Christi entgegen. Aber gehen wir dem Wesen der Sache nach, so ist Christus eben als Träger der göttlichen Offenbarung der Verkünder und Vollender der soeben geschilderten Lehren. Die Gebote Gottes sind ja seine Gebote, in deren Erfüllung das Wesen der christlichen Liebe besteht. Auch Clemens weiß ein Hohes Lied der Liebe zu singen, die alle Tugenden zur Vollendung bringt und uns zu Gott erhebt, und 0 1. Clem. 29,1—3. 50,7. 2,4. ') 1. Clem. 33,1—8. ') 1. Clem. 51,3—52,4. 7,5—7. 48,1. 35,5. ') s. S. 75 ff. 5) 1. Clem. 36,2. 40,1.

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deren Vorbild Christus ist, der aus Liebe sein Blut für uns dahingegeben hat 1 , wie er auch als Muster der Demut uns voranleuchtet*. Aber Moses hat diese Liebe gleichfalls bewährt und vollendet dargestellt, und in Liebe vollendet sind auch die andern Auserwählten Gottes", so daß Christi Liebestat doch nur in der Höhe der Leistung, nicht in der inneren Bedeutung über die Vorzeit hinausragt. Jedoch wird auch in anderem Sinne von Christus, und zwar im besonderen vom Blute Christi, gesprochen, und diese Stellen lassen eine tiefere Wertung erkennen. „Es ist zu unserem Heil vergossen und hat der ganzen Welt die Gnade der Buße gebracht" oder „durch das Blut des Herrn wird allen, die glauben und auf Gott hoffen, die Erlösung werden"* — aber sonst redet Clemens nicht von „Erlösung", und die Möglichkeit der Buße gab es nach seiner betonten Lehre doch auch schon in den Tagen des Alten Testaments. Aber ist Christi Auferstehung nicht der Angelpunkt des Christentums und somit ein wesentlich neues Element gegenüber dem Judentum? Gewiß, sie gab den Aposteln die entscheidende Gewißheit und ist nun die Gewähr der Zukunftshoffnung, daß der Schöpfer der Welt, der so manches in der Natur vom Tode zum Leben erweckt, auch das gläubige Vertrauen seiner frommen Diener wahrmachen und sie auferwecken wird, wie er Christus als den Erstling erweckt hat 5 . Wir spüren deutlich denAnklanganpaulinischeLehren,abermerken auch, wie Clemens dem eigentlichen Sinn und der tieferen Begründung der Auferstehung auf die Pneumalehre fernsteht. So hören wir auch von einer Rechtfertigung des Menschen nicht aus eigener Weisheit, Frömmigkeit oder Werken, sondern durch den Glauben; aber wenn es sofort weitergeht, daß durch den Glauben Gott von Urzeit an alle gerechtfertigt habe, so erkennen wir den fremden Inhalt der von Paulus entlehnten Formel und finden die eigentliche Meinung des Clemens da ausgesprochen, wo er seine Ermahnun») 1. Clem. 49—50. «) 1. Clefti. 16. ') 1. Clem. 53,5. 49,5.6; vgl. 21,6. *) 1. Clem. 7,4. 12.7. 21,6. «) 1. Clem. 42,3. 24,1. 26,1.

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gen zur Heiligung und Tugendübung mit dem Satze 1 schließt, daß wir „durch Werke gerechtfertigt werden und nicht durch Worte". Glaube ist ihm zwar auch das zusammenfassende Wort für die Gesinnung des Christenstandes, aber zumeist doch eine der christlichen Tugenden unter anderen gleichgeordneten: sein Wesen wird an den Beispielen desNoah und Abraham, derRahab und Esther gedeutet als unbedingtes Gottvertrauen*. Und so bleibt es dabei, daß Clemens sogar an einer Stelle, wo er ein langes Zitat aus dem paulinischen Römerbrief einflicht, im klaren Gegensatz zur Auffassung des Apostels die Summe des Christenlebens schildert als ein unablässiges Ringen um die verheißenen künftigen Gaben Gottes auf Grund der Gaben, die wir bereits in der Gegenwart besitzen, nämlich Leben in Unsterblichkeit, Frohsinn in Gerechtigkeit, Wahrheit in Freimut, Glaube im Vertrauen, Enthaltsamkeit in Heiligung*. Es ist nicht die einzige Stelle, an der Paulus zitiert wird. Bald danach werden die Leser ausdrücklich aufgefordert, den ersten Korintherbrief in die Hand zu nehmen und sich die Warnungen vor Parteisucht in der Gemeinde zu merken, und im weiteren Verlauf der Ermahnung stimmt Clemens gar ein Preislied auf die Liebe an, das seine Abhängigkeit von dem paulinischen Vorbild deutlich verrät. Das Gleichnis vom Leib und seinen Gliedern als Symbol der Einheit der Gemeinde erscheint in verkürzter Form auch bei Clemens 4 — aber nur als Schmuck der Rede; die mystische Vorstellung von der Gemeinde als dem Leibe Christi bleibt seiner Denkungsart fremd, so fremd wie der Sinn der Rechtfertigungslehre und die kosmische Dramatik des Gegensatzes von Fleisch und Geist, Sünde und Gnade, Adam und Christus. Lebendig ist von alledem bei ihm nur die Vorstellung vom Geist, der als wertvollster Besitz der Christenheit „reichlich auf sie ausgegossen" ist, aber im Vordergrund seines Denkens doch l ) l.Clem. 30,3.32,4. ») 1. Clem. 1,2. 3.4. 5.6. 6,2. Beispiele 9,4. 10,7. 12,1. 55,6; vgl. 26,1. 35,2. ») l.Clem. 35,1—6, worin 5—6 aus Rom. 1,29—32. Vgl. 62,2. 64. *) 1. Clem. 47,1—3. 49, 5 aus 1. Kor. 13,4—7; Gleichnis vom Leibe 37,5—38,1; vgl. 1. Kor. 12, 12—31; 46, 7; vgl. auch 1. Kor. 1,13.

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Der erste Clemensbrief

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mehr als Spender der Offenbarung im Alten Testament und in der apostolischen Zeit steht. Vom pneumatischen Enthusiasmus der Urgemeinden ist nichts mehr zu spüren, wohl aber kündigt sich die trinitarische Eingliederung des Geistes in die Bekenntnisformel 1 vernehmlich an: „Wir haben einen Gott und einen Christus und einen Geist der Gnade, der auf uns ausgegossen ist, und eine Berufung durch Christus." Außer dem Alten Testament, einigen Herrensprüchen und den Paulusbriefen wird noch eine letzte Quelle zitiert, die uns einen unvermuteten Aufschluß spendet: die römische Liturgie. Nicht nur am Ende des Briefes, wo sich Clemens zum Gebet wendet, sondern bereits an drei Stellen vorher klingen unverkennbar liturgisch gestaltete Worte an unser Ohr, die gottesdienstlichen Formeln der hauptstädtischen Gemeinde entstammen müssen*. Und sie lehren uns, daß diese Gemeinde ihre Liturgie der Synagoge entlehnt hat: daher stammt das Dreimalheilig, daher der Lobgesang auf die Ordnung im Kosmos und die wohltätige Absicht des Menschenschöpfers, daher das ganze abschließende Lob-, Bitt- und Fürbittgebet. Die christlichen Änderungen und Einschübe sind kenntlich, aber ebenso sicher ist der jüdische Charakter des ganzen übrigen Textes gegeben. Und da dies Gemeindegebet sich dem Geist des übrigen Briefes vollkommen anschließt, so folgt daraus die Gültigkeit des Schlusses von diesem Brief auf die Gemeinde. Er spiegelt nicht die Sonderauffassung etwa des Clemens, sondern die Denkweise der römischen Christenheit des endenden ersten Jahrhunderts wider und erlaubt uns einen schwerwiegenden Schluß. Diese Gemeinde ist nicht aus dem Paulinismus geboren, sondern nur ganz äußerlich von ihm berührt worden. Sie ist direkt aus der griechischen Synagoge erwachsen und bietet eine Auffassung des Christentums, wie sie in den Proselytenkreisen vorausgesetzt werden muß, die, durch christliche Predigt gewonnen, der neuen Botschaft zufielen. Mit andern Wor') l.Clem 2, 2. 46,6; trinitarisch 46,6. 58,2. ') 1. Clem. 33, 2—6. 34, 5—8. 38, 3—4. 59,2—61,3.

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ten: wenn uns bisher schon aus äußeren Erwägungen die Gründung der römischen Gemeinde durch antiochenische Missionare wahrscheinlich geworden war, so bestätigt dies älteste Dokument ihres Innenlebens unsere Annahme durchaus. Diesen Leuten ist das Christentum die Religion der gottgebotenen Moral, die im Alten Testament niedergelegt und von dem letzten und größten der Propheten, Jesus, als dem persönlichen Träger des heiligen Geistes endgültig geoffenbart und gedeutet worden ist. Christ sein heißt, diese Moralgebote befolgen, und wenn auch trotz redlichem Willen eine restlose Erfüllung nicht möglich ist, so wird das aufrichtige Bekenntnis der Sünde, verbunden mit dem ehrlichen Willen zur Besserung, des barmherzigen Gottes Vergebung erwirken: aber der Grundsatz steht fest, daß die Leistung entscheidet. Das war von jeher so und bleibt so bis zum Jüngsten Gericht. Dies Christentum ist frei vom alttestamentlichen Zeremonialgesetz und wird es von Anfang an gewesen sein, denn es entspricht der hellenistischen Proselytenfrömmigkeit, der sogar von jüdischer Seite vorwiegend die moralische Eigenart des Judentums gezeigt und die rituelle durch Symbolik spiritualisiert wurde. War einmal, wie nachweislich schon in der ältesten, vorpaulinischen Gemeinde zu Antiochia, die Gesetzesfreiheit durchgeführt, so mußte das Christentum als die geradlinige Fortsetzung, als die Erfüllung der den Proselyten überall vorgepredigten jüdischen Idealreligion erscheinen, und es stand einer Herübernahme von Kultformen und liturgischen Gebeten aus der Synagoge nichts im Wege. So ist es in der römischen Gemeinde gegangen. Wir wissen von Petrus zu wenig, um einen etwaigen Einfluß auf die Denkungsart der Gemeinde erkennen zu können. Paulus ist der Generation des Clemens, die ihn doch noch persönlich gekannt hat, der ruhmreiche Weltapostel und ebenso wie Petrus der vorbildliche Märtyrer. Darüber hinaus der Verfasser der mit höchster Ehrfucht betrachteten, schon in ric+AnV*Alf vprkrpifAfArt Rripf/» /iprpn ΔKcniiriffpn HIITPK

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Der zweite Clemensbrief

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die Welt laufen und sogar in Rom bereits deutliche Spuren von Entstellungen 1 tragen. Sie sind die erhabenen Vorbilder christlichen Briefstils, ihre scharf geprägten Formeln, Mahnungen und Lehren beeinflussen die kirchliche Redeweise, aber von des Paulus Geist haben diese Römer keinen Hauch verspürt. Nicht abgeklungener Paulinismus, sondern hellenistisches Proselytenchristentum ist es, was uns hier in reiner Ausprägung entgegentritt: ein selbständiger und zukunftsträchtiger Trieb aus urkirchlicherWurzel. Die römische Gemeinde darf ihren Stammbaum auf den Hellenistenkreis des Stephanus zurückführen. Wieder ein Menschenalter später mag das nächste Dokument römischen Gemeindelebens entstanden sein, das uns unter dem Namen des zweiten Clemensbriefes erhalten ist: aber es gibt uns mit aller Treue Zeugnis von demselben Geist. Dies angebliche Schreiben ist eine Predigt, die ein Presbyter der Gemeinde vorgelesen hat*, und die wir um ihrer Berührungen mit dem ersten Clemensbrief willen nach Rom verlegen dürfen. Das Christenleben wird als ein ständiger Kampf mit der Welt und ihren Lockungen geschildert, als ein Ringen um die Bewahrung der Reinheit, die in der Taufe erworben wurde®. Handeln nach Christi, nach Gottes Geboten ist das rechte Bekenntnis zum Herrn*, und die geforderte Gesinnung des Christen ist die der Buße, des Hasses gegen diese Welt und ihre kurze, aber verderbliche Lust 5 . „Laßt uns Gerechtigkeit tun, damit wir am Ende gerettet werden: und wenn wir eine kleine Weile in dieser Welt Schmerzen leiden, werden wir die unsterbliche Frucht der Auferstehung ernten." Es ist nicht leicht, dieses Ringen, und selbst der Prediger weiß sich durchaus als Sünder': aber wenn auch nicht alle den Kranz gewinnen können, so sollen sie sich doch mühen, ihm so nahe wie möglich zu kommen. Gott lohnt das redliche Streben, die tätige Buße in Gebet, Fasten und vor allem in Almosen: er beschert den „Gerechten" die Herrlichkeit des kommenden ') 1. Clem. 35,6 wird Rom. 1,32 in der Verschreibung des westlichen Textes zitiert. *) 2. Clem. 19,1; vgl. 17,3. s ) 2. Clem. 6,9. 7, 1—6 8 , 4 - 6 . *) 2. Clem. 3,4. 4,2. s ) 2. Clem. 5,1—7. 6,3. 8,2. 19,3. · ) 2. Clem. 18,2.

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11. Die nachapostolische Zeit

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Reiches, wie er den Sünder in die Hölle wirft 1 . Lohn und Strafe sind die Motive des Christenlebens. Auch hier ist das Alte Testament die unerschöpfliche Quelle der Offenbarung; ihr treten die Worte Jesu als Gotteswort* zur Seite. Aber wenn schon im ersten Clemensbrief eine gewisse Sorglosigkeit im Zitieren der Herrenworte unverkennbar war, so finden wir hier ein so reichliches Wuchern phantastischer Erweiterungen und Neuerfindungen von Sprüchen', daß uns die Freiheit eindrucksvoll vor Augen geführt wird, mit der noch diese Generation die ehrwürdigsten Traditionen der Urgemeinde behandelte. Ein Menschenalter später hatte die alles übertreffende gnostische Willkür auf diesem Gebiet die Kirche zu ihrem und unserem Heil für eine peinliche Sichtung der Uberlieferung reif gemacht. Denselben Geist eines aus der griechischen Synagoge gespeisten Christentums atmet auch der unter des Jakobus Namen gehende Brief, der um dieser Pseudonymen Verfasser schaft willen Heimatrecht im Neuen Testament bekommen hat: er scheint früh in Rom bekannt gewesen zu sein, aber den Ort seiner Entstehung vermögen wir nicht zu ahnen, so wertvoll uns auch solche Kunde wäre. Auch er ist wie der erste Clemensbrief literarisch durch Paulus bedingt, aber geht übet jenen hinaus, indem er sich nicht an eine einzelne Gemeinde wendet, sondern der ganzen Christenheit ringsum im weiten römischen Reich seinen Gruß entbietet: denn sie und nichts anderes ist mit den „zwölf Stämmen in der Zerstreuung" gemeint. Dieser Name, dem ja seit vielen Jahrhunderten keine völkische Realität mehr entspricht, ist letzt das Symbol des „wahren Israels" der biblischen Verheißungen, also des Christenvolkes, und konnte in dieser alle jüdischen Ansprüche restlos negierenden Form nur in der Heidenkirche geprägt werden. Aber diese Heidenkirche ist nicht paulinisch, im Gegenteil: sie stellt als ihre Autorität Jakobus, den Leiter der Urgemeinde, auf und läßt ihn die Gesamtkirche ermahnen und vor den Schlagworten des Paulinismus warnen: Es ist 2. Clem. 16,4; Reich: 5,5. 9,6. 11,7. 12,1, Hölle: 6,7. 17,7. 18. 2. ') 2. Clem. 13, 4. ») 2. Clem. 4, 5. 5, 1—4. 12, 2. 13, 2.

Der Jakobusbrief

I 213

nicht wahr, daß der Mensch aus Glauben gerecht werde ohne des Gesetzes Werke! Umgekehrt muß es heißen: aus Werken wird der Mensch gerecht und nicht aus Glauben allein. Und auch die im Römerbrief und im Brief an die Hebräer zum Beweis vorgebrachten Beispiele des Abraham und der Rahab sprechen bei näherer Prüfung gegen die Glaubenstheorie 1 Es ist klare und bewußte Polemik gegen die Lehre des Paulus. Aber wenn dann weiter ausgeführt wird, daß der Verfasser unter „Werke" die Übung aller christlichen Tugenden versteht, und daß ihm der Glaube ein verstandesmäßiges Fürwahrhalten 1 ist, wird uns deutlich, daß er den Paulus auch nicht von ferne begriffen hat — schon darum nicht, weil der Gegensatz zu den paulinischen Thesen ihm keine Wirklichkeit mehr ist: die jüdische Gesetzesgerechtigkeit und ihre „Werke" samt allem Zeremonienzwang ist versunken und vergessen. Es lebt das vollkommene, königliche Gesetz der Freiheit, das sich in dem Gebot der Nächstenliebe zusammenfassen läßt s und in seiner Entfaltung eine Summe von Moralgeboten darstellt, wie sie dem jüdischen Proselytenkatechismus entsprechen. Was hier als christliche Ermahnung vorgebracht wird, ist so restlos jüdisch, daß in immer neuen Formen die Vermutung auftaucht, im Jakobusbrief liege uns ein reines Produkt der griechischen Synagoge vor, das durch wenige Zusätze notdürftig verchristlicht worden sei. Der Name Jesu Christi wird in der Tat nur zweimal4 in rein formelhaften Wendungen genannt, und von alle dem, was christliches Empfinden auszeichnet, ist keine Rede; so nahe ist dies paulusfreie Heidenchristentum der Epigonenzeit dem Missionsjudentum schon wieder gekommen. Aus einer Gemeinde dieses Typus stammt auch die älteste Kirchenordnung, die 1875 entdeckt und im Jahre 1883 der wissenschaftlichen Welt bekannt gemacht wurde, und seitdem unsere Kenntnisse vom Werden der Alten Kirche in ungeahnter Weise bereichert und gesichert hat. Sie führt den Titel ') Jak. 2, 14—26; zu V. 23 vgl. Rom. 4,3; zu V 21.25 vgl. Hebr. 11, 17.31. *) Jak. 2,19. ») Jak. 2,8; vgl. Matth. 22,40. «) Jak. 1,1. 2.1.

I 214

11. Die nachapostolische Zeit

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„Lehre der zwölf Apostel" und pflegt mit ihrem griechischen Namen als „Didache" zitiert zu werden. In knappster Form vereinigt sie alle grundlegenden Vorschriften für die Ordnung des Gemeindelebens. Sie beginnt mit Anweisungen für die Erteilung des Katechumenenunierrichts, es folgen die Vorschriften für Taufe, Fasten, Gebet, Herrenmahl. Dann werden die Geistesträger, d. h. Apostel, Propheten und Lehrer behandelt und noch etwas über Sonntagsfeier nachgetragen. Danach kommen die Episkopen und Diakonen, und das Büchlein sehließt mit einer kräftigen Vermahnung, den christlichen Wandel im Hinblick auf die bevorstehende Wiederkunft des Herrn zu gestalten, deren Vorzeichen und Begleiterscheinungen mitgeteilt werden. Alles in knapper Form und nüchterner Sprache. Da ist es nun vor allem lehrreich, daß die Unterweisung der Täuflinge sich auf dem jüdischen Schema von den zwei Wegen1 aufbaut, das in hellenistischen Synagogen zur Belehrung der Proselyten gebraucht wurde und mit seinen Wurzeln tief in die Vergangenheit hinaufreicht. Es geht von dem jüdischen Glaubensbekenntnis (Deut. 6, 4—5) und dem Dekalog aus und entfaltet dann in mannigfachen Variationen die Grundzüge einer reinen und von allem Kultischen freien Moral. Die Christen der Didache haben bei der Übernahme am Beginn das gleichfalls alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe nach Jesu Vorschrift 1 hinzugefügt und die Regel angeschlossen „alles was du nicht willst, daß es dir geschieht, das füge auch keinem andern zu": bezeichnenderweise in der auch sonst üblichen negativen Form, nicht in der von Jesus geforderten® positiven Umkehrung. Und dann ist vor den jüdischen Text eine Reihe von Jesusworten gesetzt, welche Feindesliebe, Selbstaufopferung und Gebefreudigkeit gebieten: man sieht deutlich, wie die Frage des Spendens und des richtigen Annehmens von Almosen das Herz des Verfassers besonders bewegt. Das ist begreiflich, denn die Verwendung irdischen Gutes ist dem Christen ein Mittel zur Lösung von ») Vgl. Jer. 21, 8. «) Mark. 12.28—31. ») Matth. 7,12; Luk. 6, 31.

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Die Didache

I 215

seinen Sünden1. Der Weg des Lebens ist ein sittliches Ringen um ein hochgestecktes Ziel, und die Kasteiung des Ich ein wertvolles Mittel, das freilich nicht jeder anwenden kann. So lesen wir denn am Ende die tröstlichen Worte 1 : „Wenn du das ganze Joch des Herrn auf dich nehmen kannst, wirst du vollkommen sein. Wenn du das aber nicht kannst, so tu so viel, als du kannst." Diese Askese erstreckt sich auch auf die Nahrung, und wir werden an die bereits von Paulus* erwähnten Vegetarianer erinnert, wenn die Mahnung weitergeht: „Bezüglich der Speise nimm auf dich, was du kannst. Von Götzenopferfleisch aber halte dich unbedingt fern; denn das ist Dienst toter Götter." In dieser Gemeinde galt also die Vorschrift des Aposteldekrets als für jedermann verbindlich. Aber es hat sich bereits eine differenzierte Ethik gebildet: die „Vollkommenen" nehmen das ganze Joch mit der Last der Askese auf sich, die große Masse tut nach besten Kräften, so viel sie vermag. Sünden erscheinen als kaum vermeidbar; aber man kann sie durch fleißiges Almosengeben und durch offenes Bekenntnis vor der Gemeinde 4 tilgen. Fasten wird nach jüdischer Art, aber zum Unterschied von den „Heuchlern", d. h. den Juden, an zwei andern Wochentagen geübt, ist auch als Vorbereitung auf den Empfang der Taufe ausdrücklich vorgeschrieben. Das Herrenmahl wird von Gebeten begleitet, die aus jüdischen Vorlagen herausgewachsen sind: darin dankt die Gemeinde für die durch Jesus gebrachten Gottesgaben des Lebens und der Erkenntnis, für geistige Speise und Trank, und bittet um die Vereinigung der über die ganze Welt hin zerstreuten Christenheit in dem sehnlichst erwarteten messianischen Reich. Weder hier noch sonst in der Schrift ist von Tod und Auferstehung Jesu, von seinem Kreuz und der Bedeutung seines Opfertodes, von Sünde und Erlösung der Menschheit, aber auch nicht von Jesu Gottheit, Präexistenz und Erhöhung die Rede. Wir haben in reinster Ausprägung das gesetzesfreie Chri') Did. 4, 6; vgl. Barn. 19,10. ») Did. 6, 2—3; vgl. 11,11. «) Rom. 14,2. *) Did. 4,6. 14,1.

I 216

11. Die nachapostolische Zeit

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stentum vor uns, das auf Grund der urchristlichen Mission aus hellenistischen Proselytenkreisen herausgewachsen ist und Jesus als Lehrer einer höheren Sittlichkeit und Überwinder des Judentums preist, sich an den Wirkungen des Geistes in der Gemeinde erbaut und dem Kommen des Herrn und seinem herrlichen Reiche hoffend entgegenschaut. Diesem Ziel gilt alles Ringen des Christenlebens, alles Streben nach Festigung und Vollendung; denn die ganze Zeit des Glaubens wird nichts nützen, wenn der Christ nicht im letzten Augenblick den dräuenden Gefahren tapfer widersteht und die Vollendung erreicht 1 . Die christliche Lebensführung ist nicht in der Stimmung eines gottseligen Beharrens, sondern sie eilt in rastlosem Wandern mit angespannten Kräften inmitten einer immer stärker wankenden Welt einer hellen Zukunft entgegen, die als Gottesgeschenk vom Himmel herabkommt, aber in hartem, entsagungsvollem Kampf gegen das eigene Ich, gegen die Freuden und Lockungen dieser Zeit erobert werden will. Eine ganz andere Luft weht uns entgegen, sobald wir die Gefilde betreten, auf denen das Lebenswerk des Paulus Wurzel geschlagen und keimfähige Frucht getragen hat. Kennzeichen des Epigonentums finden wir freilich auch hier, und das ist nicht verwunderlich; denn im Vergleich mit einer so überragend schöpferischen Persönlichkeit müssen notwendig alle, die nach ihm kommen, als schwächer erscheinen: aber gegenüber der blassen Moralreligion der bisher betrachteten Theologen und ihrer Gemeinden ist das Christentum der Paulusschüler von einer unvergleichlich mächtigeren Lebensfülle. Als ein Anhang zu der Sammlung der Paulusbriefe ist uns ein Schriftstück erhalten, das von den Bibliothekaren der alten Kirche mit der dem Inhalt angepaßten Uberschrift „an die Hebräer" versehen worden ist. Es ist ein religiöser Traktat, zur erbaulichen und belehrenden Lektüre für die Christenheit bestimmt, der in allgemeinen Wendungen Rückblicke auf die jüngste Vergangenheit mit Hinweisen auf die Nöte der >) Did. 16,2.

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Der Hebräerbrief

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Gegenwart 1 verbindet und am Ende mit betonter Absichtlichkeit die Schlußformeln eines Paulusbriefes bringt 1 , womit dem Leser deutlich gemacht wird, daß der nachapostolische' Verfasser im Geist des großen Meisters zu reden und mit entsprechender Andacht gehört zu werden wünscht. So ist freilich ein vom literarischen Gesichtspunkt aus wunderliches Gebilde zustande gekommen: eine Schrift, die als theologischer Traktat beginnt und als solcher mit predigtmäßigen Zwischenlagen durchgeführt wird, aber als pseudopaulinischer Brief endet. Ihrer Wirkung auf die Leser hat das weder in alter noch in neuer Zeit Abbruch getan, und nur den Gelehrten hat es viel unnützes und fruchtloses Kopfzerbrechen verursacht. Dieser sogenannte Hebräerbrief hat e i n großes Thema: Christus. Um ihn dreht sich alles, vom ersten bis zum letzten Wort, und zwar nicht um das Jesusbild der evangelischen Überlieferung, sondern um den von Paulus gepredigten Gottessohn, der vor aller Zeit war, der die Welt geschaffen hat mit allem, was an hohen und niederen Wesen darin ist, der Mensch ward, am Kreuze für uns starb, erhöht ist zur Rechten Gottes und bald der sehnsüchtig harrenden Christenheit wiedererscheinen wird4. Aber der Verfasser ist kein bloßer Nachahmer oder Ausleger des Paulus, sondern ein selbständiger Geist, der die Gedanken des Meisters weiterzuspinnen und aus Eigenem zu bereichern vermag. An Stelle der knappen, fast scheuen Wendung, mit der Paulus" von dem präexistenten Christus redet, finden wir hier* die für künftige theologische Entwicklungen grundlegend gewordene Formulierung, daß der Sohn der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit und der Abdruck seines Wesens (seiner „Hypostase") sei, also Ausdrücke, die dem philosophisch klingenden Sprachgebrauch hellenistisch-jüdischer Theologie entstammen und damit den Weg in eine künftige Dogmatik weisen. Und da dieser Sohn höher ist als alle Engel, höher auch ») Hebr. 10,32-34. «) Hebr. 13.1&-25. ») Hebr.2,3. ) Polyc. ad Phil. 13, 2; vgl. 3.2.

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13. Ignatius

trachtet werden kann: die siebenBriefe in der zwischen Erweiterung und Verkürzung stehenden Fassung dürfen als echte Hinterlassenschaft des Ignatius gelten. Er hat sie auf seiner Todesfahrt verfaßt. Es sind richtige Gemeindebriefe nach paulinischem Muster: die ersten vier vonSmyrna aus,die anderen nachPhiladelphia undSmyrna geschrieben;denSchluß bildet ein ausTroas abgesandter typischer „Pastoralbrief" an Bischof Polykarp. Als Haupt der Gemeinde war Ignatius — ähnlich wie ein Menschenalter später sein jüngerer Freund Polykarp — von der römischen Behörde festgenommen und zum Tode verurteilt worden. Aber die Hinrichtung fand nicht in Antiochia statt, sondern der Statthalter versprach sich einen Vorteil davon, den Bischof der syrischen Christen in der Hauptstadt zirr Schau zu stellen; so bestimmte er ihn zum Tierkampf in Rom und ließ ihn durch eine Abteilung von 10 Soldaten über WestKleinasien, wo in Smyrna und Troas Station gemacht wurde, nach Neapel bringen. Von da wird er nach Rom geschafft und dort hingerichtet worden sein, doch besitzen wir keine genauere Kunde darüber. Die verschiedenen in den Sammlungen erhaltenen „Martyrien" des Ignatius sind Erzeugnisse späterer Zeit und ohne urkundlichen Wert. Da er in Smyrna am 25. August weilte1, ist es nicht unwahrscheinlich, daß die liturgische Tradition 1 von Antiochia, wo man im 4. Jahrhundert sein Gedächtnis am 17. Oktober feierte, die Erinnerung an den Tag seines Todes in Rom richtig aufbewahrt hat: leider hat die Liturgie für Jahresdaten kein Interesse. Wir treten an diese Briefe mit besonderen Erwartungen heran, denn sie sind die ersten urkundlichen Zeugnisse aus der Gemeinde, die vor allen andern als Wiege des Heidenchristentums angesehen werden muß, in der auch Paulus lange gewirkt hat, und die wir als Muttergemeinde von Rom anzusprechen Ursache haben. Hier muß jenes gesetzesfreie Christentum der Proselyten aufgeblüht sein, das sich in der westlichen Reichshauptstadt so deutlich unsern Blicken darstellt; hier können aber auch hellenistische Einflüsse von mancherlei Art ihren ») Ign. Rom. 10,3. 2 ) Martyr. Syriac. von 411 zum 17. Okt.; bestätigt durch Joh. Chrys. homil. in S. Ignatium 1; 2, 592 a (Montfaucon).

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Das Abendmahl

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Eingang ins Christentum gefunden haben, die abseits der großen paulinischen Strömung, also neben ihr, vielleicht auch schon vor ihr, den Gemeinden vertraut geworden sind und uns in gelegentlichen Spuren erkennbar werden. Aber Ignatius ist eine viel zu impulsive Persönlichkeit, um einfach als Mund der durchschnittlichen Gemeindeanschauung ge wertet zu werden: seine Briefe tragen sehr im Gegensatz zum Brief des römischen Clemens durchweg den Stempel seiner geistigen Eigenart, die aufs stärkste durch Paulus, nicht wenig auch durch Johannes beeinflußt ist und diese Abhängigkeit unbeschadet aller sonstigen Originalität auch dauernd in der Formung der Gedanken wie in zahlreichen zitatartigen Anklängen zumAusdruck bringt.Aberwirwerden das Recht haben, die Anschauungen der Gemeinde überall da vorauszusetzen, wo die mystische Neigung des Verfassers zur Vergeistigung sich an Gebilden betätigt, die augenscheinlich einer derberen Realistik des religiösen Denkens ihren Ursprung verdanken. Die gottesdienstlichen Feiern werden mit dem allgemein und schon bei Paulus üblichen1 Ausdruck „Zusammenkommen" bezeichnet*, doch begegnet uns dafür auch vereinzelt* die jüdische Bezeichnung „Synagoge". Man hat aber weiterhin sich offenbar in typischer Umwertung des alttestamentlichen Kultes gewöhnt, den Versammlungsraum als „Opferplatz" (Thysiasterion)4 zu bezeichnen, und die Anspielungen des Ignatius machen es höchst wahrscheinlich, daß die Auffassung des Abendmahls als „Eucharistie", d. h. als Dankopfer der Gemeinde, dem Saal diesen Namen verschafft hat. Bei dieser heiligen Handlung genießt der Christ das Fleisch und das Blut Christi oder, wie es gelegentlich auch heißt, das Brot Gottes, und empfängt damit ein Unterpfand der Auferstehung, eine Medizin zur Unverweslichkeit und ein Gegengift gegen den Tod, das ihm ewiges Leben verbürgt®. So wird sein Leib mit der >) 1. Kor. 11,20.14,23; vgl. Apg. 1,15. 2,1.44.3,1.4,26. l ) Ign. Eph. 5, 3; vgl. 13,1, Magn.7,1. ») Ign. ad Polyc.4,2; vgl. Jak. 2,2. Hermas Mand. 11,9. 13. 14. *) Ign. Eph. 5,2. Trail. 7,2. Magn.7,2. Philad. 4; vgLRöm.4,2. *) Ign. Eph. 20,2. Trail. 2,1.8,1. Rom. 7.3. Philad. tit. Smyrn. 1, 1. 6,1. 7,1. 12,2.

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13. Ignatius

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Ewigkeitssubstanz des Christusleibes durchsetzt und kann der Verwesung widerstehen und gleich dem Herrn eine Auferstehung erfahren. Der Christ trägt schon hier auf Erden das „Fleisch des Herrn" in seinem Leibe, und wenn zu paulinischer Zeit daraus die Folgerung der Keuschheitspflicht im Sinne einer Vermeidung jeder Unzucht gezogen wurde1, so erscheint hier die völlige Sexualabstinenz als eine würdige, aber nicht jedem Christen mögliche, Ehrung des Fleisches des Herrn*. Unbedingte Pflicht ist aber jedenfalls für alle, ihr Fleisch als den „Tempel Gottes" rein zu erhalten von den sexuellen Lastern der Heidenwelt®. Das Christentum ist die Lehre von der Unvergänglichkeit, das Evangelium ihre Verwirklichung, das Leben des Christen ein Ringen um den ausgesetzten Preis der Unvergänglichkeit und des ewigen Lebens4. Alle diese Gedankenreihen sind uns bereits in den paulinischen Gemeinden der Frühzeit begegnet: sie sind auf dem Boden einer hellenistisch empfindenden Religiosität erwachsen und haben ihre Anziehungskraft auf die Heidenwelt in reichem Maße ausgeübt. Auch den einfachen Leuten waren solche Lehren faßbar und wurden von ihnen in naiver Realistik angenommen und weitergegeben. Hier sehen wir eine Gemeindetheologie sich entwickeln, die bald eine Großmacht in der Kirche werden sollte und dem heidnischen Kritiker' Lukian die höhnische Formulierung eingab, diese heillose Christengesellschaft bilde sich ein, unsterblich zu werden und ewig zu leben, weshalb sie denn auch den Tod verachteten und sich vielfach freiwillig hingäben. Aber wir haben auch gesehen, wie Paulus auf dieser Grundlage ein Gebäude errichtet, das in die Höhen einer restlos durchgeistigten Christusmystik führt, und das gleiche Streben können wir an Ignatius beobachten, nur daß bei ihm alle Linien weitergezogen, alle Impulse kräftiger betont und über die uns klassisch anmutenden paulinischen Grenzen hinausgetrieben sind. ») s. o. S. 137 f. ') Ign. ad Polyc. 5,2. ») Ign. Philad.7,2; vgl. 2. Clem. 14,3; auch Öffenb. 14,4, aber ohne diese Begründung! 4 )Ign. Magn. 6,2. Eph. 17, 1. Philad. 9, 2 ad Polyc. 2, 3. «) Lucian de morte Peregrini 13.

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Sehnsucht nach dem Martyrium

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Die von Lukian verspottete todüberwindende Zuversicht des Christen tritt bei Paulus im Philipperbrief 1 am ergreifendsten zutage: er ist müde und hat Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn das ist viel besser; aber er muß noch im Fleisch bleiben, weil er noch für die Gemeinde zu wirken hat. So wartet er still den Tag des Martyriums ab. Dagegen flammt in der Seele des Ignatius eine lodernde Sehnsucht nach dem Märtyrertod. Nur die eine Furcht bewegt ihn, daß die Römer seine Befreiung erwirken und so seinen Tod verhindern könnten. Er wünscht von den Zähnen der Tiere zerfleischt, in ihrem Bauche spurlos begraben zu werden, und das grausige Geschehen gestaltet er in religiösen Bildern. Wie ein Getreidekorn sollen ihn die Zähne der Bestien mahlen, dann wird er ein „reines Brot Christi" sein, durch diese Werkzeuge wird er Gott als Opfer dargebracht werden — der Altar steht für ihn bereit —, und dieser Tod ist seine durch Christus gewirkte Freilassung: in ihm wird er die Auferstehung erfahren, und was jetzt als Ketten Hände und Füße fesselt, wird ihn dann als geistliche Perlenschnur zieren*. Das ist nicht der Ausdruck stiller Größe, wie wir sie bei Paulus finden, sondern die leidenschaftliche Stimme des über Menschenmaß hinauswachsenden Enthusiasten, der sich bewußt ist, erst durch das Martyrium ein Mensch im höchsten Sinne, ein wirklicher Jünger Christi zu werden. Aber schon jetzt ist er erfüllt vom heiligen Geist, der nicht irren kann und ihm Worte göttlicher Wahrheit auf die Lippen legt. Und in Banden als Anwärter des Martyriums fühlt er sich mit höherer Erkenntnis begnadet und weiß um die himmlischen Dinge, als da sind Rangordnung der Engel und Klassen der Geisterwesen, um Sichtbares und Unsichtbares*. Aber vom Tod erst erwartet er die Vollendung. Christusgemeinschaft ist ihm das Wesen des Christentums: er will „in Jesus Christus erfunden werden", um wahrhaft zu leben, und die paulinischen Formeln des „in Christus sein" ») Phil. 1,23. *) Ign. Rom. 1,2.2,1—2.4,1—3. Eph. 11,2. *) Ign. Philad. 7,1; Rom. 6,2. 5,3. Trail. 5,2.

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13. Ignatius

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sind ihm geläufig; aber er kann auch umgekehrt sagen, daß die Gläubigen Jesus Christus in sich haben. Und da Christus Gott ist, so nennt er sie nicht nur Christusträger (Christophoroi), sondern auch Gottesträger (Theophoroi), so wie er sich selbst den Beinamen Theophoros zulegt. Das ist nur eine andere Wendung des auch bei ihm begegnenden Bildes vom Tempel Gottes, den der Christ zur Darstellung bringt1. In demselben Sinne mahnt er die Leser, Nachahmer des Herrn, Nachahmer Gottes zu sein, und strebt danach, im Martyrium das Leiden Christi nachzuahmen1. Und ganz wie Paulus folgert er aus dieser Verbundenheit mit dem Herrn die Notwendigkeit, seine Gebote zu befolgen: „Die Fleischlichen können das Geistliche nicht tun, und die Geistlichen nicht das Fleischliche; was ihr aber auch im Fleische, d. h. bei Leibesleben, tut, das ist geistlich, denn ihr tut alles in der Gemeinschaft mit Jesus Christus". Wer sich einmal zum Glauben bekannt hat, der sündigt nicht, und wer die Liebe besitzt, der hat keinen Haß*. Glaube und Liebe — das ist die andere Formel für die Summe des Christenlebens: „Glaube der Anfang, Liebe das Ende, die Vollendung, und diese beiden als Einheit, das ist Gott" — das will sagen: wer diese beiden vollendet in sich vereinigt, der lebt in voller Gottesgemeinschaft 4 . Und von diesem Gedanken der mystischen Einheit aus kann er auch das im Abendmahl genossene Fleisch des Herrn dem Glauben, das Blut Jesu Christi der Liebe gleichsetzen oder die Gemeinde von Philadelphia „in der Gemeinschaft des Blutes Jesu Christi", das heißt in der Gemeinschaft der Liebe des Herrn grüßen®. Denn das Abendmahl vereint mit dem Herrn, der die göttliche Liebe ist. Johannes sagt: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm", und das hohepriesterliche Gebet schließt mit den Worten: „Ich habe ihnen Deinen Namen kundgetan und werde es weiter tun, auf daß die Liebe, mit der Du mich geliebt hast, in ihnen sei, und ich in ') Ign. Eph. 11,1. Magn. 12. Eph. 9,2.15,3. l ) Ign. Eph. 10,3. Trail. 1,2. Rom. 6,3.6 ») Ign. Eph. 8,2.9,2. 14,2. *) Ign. Eph. 14,1. 9,1.20,1; Smyrn. 6,1. ) Trail. 8,1. Rom. 7, 3. Philad. tit. Smyrn. 1,1.

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Glaube und Liebe. Die Christologie

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ihnen." Die beiden Sätze geben die Grundlage der ignatianischen Gedankenreihe, in der als neues Element das Abendmahlsgleichnis auftritt. Aber auch dafür liefert Johannes das Vorbild 1 : „Wer mein Fleisch isset und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm." Addiert man die drei Sätze, so steht die Formel des Ignatius vor uns. Für die Theologie der Folgezeit das Bedeutsamste ist die Christologie des Ignatius geworden. Er begnügt sich nicht mit den Andeutungen des Paulus und dem feierlichen Klang johanneischer Sätze, sondern schreitet zu theologischen Formulierungen fort. Schon ist die Gemeinde mit der Gestaltung eines Bekenntnisses beschäftigt, das teils in kurzen Sätzen, teils in hymnenartigen Perioden uns entgegenklingt und von Ignatius mannigfach variiert wird*. Aber es heben sich auch bereits von dem altüberlieferten Stoff deutlich neue und ausgeprägtere Aussagen ab. Seine Christuslehre ruht auf paulinischer Grundlage und ist durch Johannes befruchtet, und er geht den hierdurch gewiesenen Weg kühnlich weiter. Vor allen Äonen war Jesus Christus beim Vater und ist zu der Zeiten Ende auf Erden erschienen*. Er ist der Träger der göttlichen Offenbarung, der untrügliche Mund, durch den der Vater wahrhaft geredet hat, der Willensausdruck des Vaters oder — mit kräftig verdeutlichender Benutzung der johanneischen Formel — das Wort, der Logos Gottes, der aus dem Schweigen hervorbrach4. Hier tritt noch klarer als bei Johannes die Wurzel dieses Logosbegriffs hervor. In der Weisheit Salomos hatte der hellenistische Verfasser gesungen: Ruhiges Schweigen umfing das All, Und die Nacht in schnellem Lauf war in der Mitte: Da sprang Dein allmächtiges Wort aus dem Himmel vom Königsthron Wie ein grimmiger Krieger hinein in die verderbengeweihte Erde. i) l.Joh. 4,16. Joh. 17, 26. 6, 56. ') Ign. Eph. 7, 2.18, 2. 20,2. Magn. 11. Trail. 9, 1—2. Smyrn.1,1—2. ·) Ign. Magn.6,1. *) Ign. Rom. 8,2. Eph. 3,3. (17,2). Magn. 8,2; vgl. Sap. Sal. 18, 14—15.

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13. Ignatius

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Er will damit schildern, wie Jahve in der Passahnacht Ägypten betritt, um die Erstgeburt zu vernichten; aber er setzt statt des Gottesnamens die Personifikation seiner Offenbarungswirksamkeit, und in wohlüberlegtem Gegensatz stellt er gegen das tätige „Wort" Gottes sein sinnendes Schweigen, aus dem das Handeln geboren wird. So hat Ignatius die Stelle verstanden, und er ist schwerlich der Erste gewesen, der so dem wirkenden „Wort" das „Schweigen" zum Ursprung gegeben hat: jedem hellenistischen Rabbi mußte dies naheliegen, und aus dem griechischen Judentum konnte Ignatius es lernen, wenn er nicht von selbst darauf kam. Jedenfalls verwendet er den Gedanken mit freier Selbstverständlichkeit auch an anderer Stelle und ohne die sekundäre gnostische Pedanterie, die Gottheit mit dem „Schweigen" gleichzusetzen1. Wohl aber führt er den von Paulus nur zögernd angedeuteten, von Johannes im Prolog des Evangeliums formulierten Satz, daß der Logos Gott von Art sei, weiter bis zu der Bezeichnung* Jesu Christi als „unser Gott" oder „Gott" schlechthin, die er oft und gern anwendet. Wenn Johannes predigt, der Logos sei Fleisch geworden, so geht Ignatius weiter und sagt unbedenklich, Gott sei ins Fleisch gekommen oder als Mensch erschienen, und diese göttliche Bezeichnung Christi führt ihn schließlich sogar dazu, vom Leiden Gottes und vom Blut Gottes zu reden'. Daneben aber finden wir die Persönlichkeit des Sohnes deutlich von der des Vaters geschieden, und zwar nicht nur an den zahlreichen Stellen, an denen paulinische Formeln und Redewendungen oder bekenntnismäßige Sätze der Gemeinde wiedergegeben oder variiert sind, sondern auch in neuen und wohlüberlegten Aussagen. So, wenn er einen beliebten johanneischen Gedanken in die Form kleidet, daß Jesus Christus von E i n e m Vater ausging, mit ihm in Einheit war und zu ihm zurückgekehrt ist, oder den Auferstandenen trotz seiner realen, fleischlichen Leiblichkeit als geistlich mit dem Vater vereinigt >) Ign. Eph. 19,1; vgl. Paulus Rom. 16, 25. Schlier Religionsgesch. Unters. 38 f. ») Paulus Phil. 2,6. Joh. 1,1. Ign. Eph. tit. 18,2. Rom. tit. 3, 3. 6, 3. ad Polyc. 8, 3; Trail. 7, 1. Smyrn. 1, 1. 10, 1. ') Ign. Eph. 7, 2. 16, 3. Rom. 6, 3. Eph. 1, 1.

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Vater und Sohn

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bezeichnet1. Noch stärker tritt der Unterschied zwischen Vater und Sohn zutage, wenn die Unterordnung und der vorbildliche Gehorsam des Sohnes betont wird 1 : der Gedanke ist freilich paulinisch, aber die Anwendung, insbesondere die Parallelisierung des Verhältnisses von Gott und Christus mit dem Bischof und der Gemeinde oder dem Bischof und den Diakönen trägt die charakteristischen Kennzeichen echt ignatianischer Denkart. Und daß diese Trennung bei währender Einheit auch nach dem Erdenleben des Herrn besteht, zeigt die Gleichung, daß „die Gemeinde mit Jesus Christus so vereinigt sei wie Jesus Christus mit dem Vater, auf daß alles in Einheit zusammenklinge". Der Vorstellungswelt wie der Frömmigkeit des Ignatius ist der erhöhte Christus eine klar von dem Vater, dem Einen Gott seines Monotheismus* sich abhebende Persönlichkeit. Die aus dem Nebeneinander der gegensätzlichen beiden Begriffskreise dem weiteren Nachdenken erwachsenden Schwierigkeiten sind dem seines geistigen Reichtums frohen Ignatius nicht zum Bewußtsein gekommen: die Theologen der folgenden Jahrhunderte haben sie kräftig empfunden und nicht wenig über den heiligen Mann gestöhnt, der doch als Zeuge aus ehrwürdiger Vergangenheit respektiert und orthodox gedeutet werden mußte. Aber neben dieser bei aller Naivität doch spekulativen Behandlung der Christologie steht eine andere, die ihre Wurzeln in der Gemeindefrömmigkeit hat und ihre Vorstellungen letztlich mythischem Denken entlehnt. Am Ende des Epheserbriefs entwickelt Ignatius mit sichtbarem Eifer eine Erlösungstheologie, welche den bisher besprochenen paulinischen und johanneischen Elementen neue Farben beimischt, und die dem Briefschreiber so wichtig erscheint, daß er den Ephesern noch einen zweiten Brief über dies Thema in Aussicht stellt, der leider nicht geschrieben worden ist. Er belehrt zunächst darüber, daß „unser Gott" Jesus Christus nach Gottes Veranstaltung von Maria durch den heiligen Geist geboren sei; nebenbei bemerkt *) Ign. Magn.7,2. Smyrn.3,3. ') Ign. Magn. 7,1. 8,2. Smyrn. 8,1. Trail. 3,1. Magn. 6,1. Eph.5,1. ») Ign. Magn. 8,2.

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13. Ignatius

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er, daß seine Taufe den Sinn gehabt habe, das Wasser für die künftige Taufe der Christen zu „reinigen"; er trägt also die bei Matthäus und Lukas niedergeschriebene Auffassung eines in der Gemeinde wirksamen jüdischen Hellenismus vor 1 . Mit Jesu Geburt hub das Erlösungswerk an: Der Teufel ahnte nicht, was da geschah;er wußte nichtsvon der Jungfräulichkeit der Maria, nichts von der Geburt, nichts von der Bedeutung des Todes des Herrn. Und das waren doch die drei großen Geheimnisse, die Gott in heimlicher Stille vorbereitet und gewirkt hatte und die nun laut hallend offenbar wurden. Wie ward nun aber das Geheimnis den Äonen kund? Ein Stern leuchtete auf am Himmel in neuem, unerhörtem Licht und überstrahlte alle Gestirne samt Sonne und Mond, die sich in bangem Staunen als sein Gefolge um ihn scharten: da wurde aller Zauberbann gelöst, und jede böse Fessel sank dahin, Unwissenheit ward abgetan, des Bösen altes Reich zerstört, da Gott als Mensch erschien zu neuem ewigen Leben. Da nahm seinen Anfang, was in Gottes Rat bereits vollendet war: und es durchschütterte das All, denn nun ging's um des Todes Vernichtung*. Das ist ein mythisches Bild in poetischer Sprache, und man hat sich neuerdings vielfach bemüht, den „zugrunde liegenden Mythos" zu rekonstruieren, was nur dem gelingen kann, der die ihm fehlenden Züge fleißig in den Text hineinträgt. Im Beginn des Kapitels arbeitet Ignatius mit dem schon bei Paulus vorhandenen* Gedanken der göttlichen Geheimhaltung des Heilsplans und der dadurch ermöglichten Uberlistung des Teufels und seiner Dämonen. Dann folgt ein neues Bild, bei dem man sich ernstlich fragen muß, ob Ignatius es als einen bei Jesu Geburt erfolgten Vorgang am Himmel verstanden wissen will oder ob er es für ein mythisches Geschehen im kosmischen Geisterreich ansieht, von dem der Gottbegnadete weiß, obwohl es kein menschliches Auge je geschaut hat, oder aber, ob er in mythischer Form ein Gleichnis poetisch gestaltet; alle Wahr*) Vgl. M. Dibelius, Jungfrauensohn und Krippenkind, 1932. *) Ign. Eph. 18—20, zitiert in Exc. ex Theod. 74, 2. 3 ) Paulus 1. Kor. 2,6—8. Kol. 1,26. Eph. 3,9—10. Rom. 16,25.

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Der christologische Mythos

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scheinlichkeit spricht für die letzte Annahme. Dann ist der aufleuchtende Stern nicht derselbe, den die Gemeindelegende in der Geburtsnacht über der Hütte zu Bethlehem stillstehen ließ, obwohl er mit ihm artverwandt ist. Vielmehr ist für Ignatius das leuchtende Himmelsheer von Sonne, -Mond und Sternen die Summe der bisher diese Welt regierenden Kräfte. Mit unabweisbarer Notwendigkeit leiten die Sterne alle Schicksale, und nur die böse Kunst der Magie weiß ihre himmlischen Bahnen mit menschlichem Begehren zu verflechten. Das Heidentum ist als Astralreligion und Verknechtung der Menschheit unter dämonische Gewalten gesehen. Da leuchtet ein Stern auf, der alle die Sternenmächte überstrahlt und sie als gehorsame Trabanten seinem Willen untertan macht: die Macht des Heidentums und seiner dämonischen Götter ist gebrochen — Gott selbst ist als Mensch erschienen, hat den schicksalhaften Tod überwunden und an seine Stelle den Aufstieg zu neuem und ewigem Leben gesetzt: ein neuer Äon unter der Herrschaft Christi hebt an. Die Sterne und ihre kosmische Macht, die Magie und der Dämonenglaube des Heidentums sind dem Ignatius reale Wirklichkeiten und keine bloßen Bilder: aber ihre Überwindung durch die Gottesmacht in Christus ist ihm eine Realität, die er bewußt in ein analoges Bild kleidet, das nur darum gewählt ist, weil es den Sieg des Herrn über die bösen Geister lebendig zur Anschauung bringt. Dies ganze Erlösungswerk, an dessen Ende die Höllenfahrt zu den ihn erwartenden Propheten steht 1 , wird nun von Ignatius als ein göttlicher „Heilsplan (Oikonomia) auf den neuen Menschen Jesus Christus hin" bezeichnet, der sich in Glaube undLiebe.inPassionund Auferstehung vollendet, weil in Jesus als dem fleischgewordenen Gott ein neuer Mensch erschienen ist, der auch die Menschheit mit neuem Leben beschenkt. Die Vorstellung von einer Erneuerung des Menschen und einem neuen Menschen Jesus ist uns aus den Erörterungen des Paulus über den zweiten Adam wohl bekannt, und für den sachlich das paulinische konstruktive Denken völlig beherrschenden Gedanken von einem Heilsplan Got») Ign. Magn. 9, 2. Philad. 5. 2; vgl. 9, 1.

I 262

13. Ignatius

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tes hat der Epheserbrief bereits den Namen Oikonomia1. So ist auch hier Ignatius nur der Schüler des größeren Meisters. Es ist klar, daß bei einer Erfassung Christi als des fleischgewordenen Gottes sein Menschentum in Gefahr kam, als bloße Maske zu gelten, und wir werden noch reichlich Gelegenheit haben, diese Entwicklung im Geistesleben des alten Christentums zu verfolgen. Ignatius kennt bereits Kreise, in denen diese Vorstellung heimisch ist, und er wendet sich energisch gegen sie. Was jenen besonders anstößig erscheint, ist der Gedanke, daß der fleischgewordene Gott wahrhaft habe leiden können, denn mit dem vom Griechentum genährten Gottesbegriff ist Leiden schlechthin unvereinbar. Mit um so größerem Nachdruck betont Ignatius die Wirklichkeit des Leidens Jesu, der wahrhaft Fleisch besessen habe, und versteigt sich zu der für Paulus undenkbaren These, daß der Herr auch nach der Auferstehung „im Fleisch" gewesen sei — eine Folgerung aus den Erzählungen des Johannesevangeliums1, die in dieser Zuspitzung wohl über die Meinung des Verfassers hinausgreift, wenngleich sie der naiven Gemeindeanschauung durchaus entsprochen haben wird: und die verteidigt hier Ignatius. Ihm ist Jesus Christus „vollkommener" Mensch aus göttlichem Pneuma und menschlichem Fleisch, in seinem Leben so gut wie nach der Auferstehung. Darum formt er auch mit sichtlicher Freude an der Paradoxie die Antithesenpaare, die von nun an die christliche Dogmatik durchklingen: Einer ist unser Arzt, der ist fleischlich und geistlich, gezeugt und ungezeugt, Gott im Fleisch, wahrhaftiges Leben im Tode, aus Maria und aus Gott, erst leidend und dann leidlos, Jesus Christus unser Herr*. Eine theologische Begründung für diese seine Stellungnahme gibt er nicht, und wir werden als sein Hauptmotiv den traditionellen Glauben der Gemeinde ansehen, die Christi Auferstehung im Fleisch postulierte, weil sich daran die nach jüdischem Vorstellen geformte Hoffnung auf die eigene >) paul. Eph. 1,10. 3,9. l ) Joh. 20, 20. 27. 21, 5, 12, wo aber doch nicht gesagt wird, daß Jesus mitgegessen habe. *) Ign. Smyrn. 2 - 5 . Trail. 10. Eph. 7.2.

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Gnostische Gegner

I 263

Auferstehung des Fleisches knüpfte. Und die paulinische Erlösungslehre1 forderte für die Erdenzeit die Annahme wahrhaftiger, fleischlicher Menschlichkeit Jesu, in der sich der Vernichtungskampf gegen die Sünde vollzog. Wenn Ignatius zweimal1 betont, sein eigenes Leiden habe nur dann einen Sinn, wenn auch Christus wahrhaft im Fleische gelitten habe, so werden wir dadurch in die Nähe dieser Gedankengänge gewiesen. Ob man die bekämpften Gegner schon Gnostiker nennen darf, steht dahin. Ignatius warnt jedenfalls vor Leuten, die mehr Erkenntnis (Gnosis) zu haben behaupten als der Bischof, und ermahnt die Gemeinde, die „Erkenntnis (Gnosis) Gottes, das ist Jesus Christus", zu ergreifen*. Ein andermal bezeichnet er die bekämpften Lehren als falsche Meinungen und alte Mythen jüdischer Art und ihre Befolgung als „judaisieren" Vielleicht haben jene den Sabbath statt des Sonntags gefeiert, sicher vom Alten Testament, seiner Autorität gegenüber der evangelischen Verkündigung und der Hoheit seines Priestertums viel Wesens gemacht, so daß Ignatius die entscheidende selbständige Bedeutung des Evangeliums und die Uberordnung des Hohenpriestertums Jesu betonen muß 4 — man wird an die These des Hebräerbriefs erinnert. Aber die Gegner sind keine Juden, sondern Unbeschnittene, und wenn von ihnen gesagt wird, daß sie die Heilsbedeutung des Todes Jesu leugnen, so werden es doch dieselben Leute sein, die an allen übrigen Stellen zurückgewiesen werden. Zu beachten ist, daß sie sich nicht „Christen" nennen5, sondern offenbar einen eigenen Sektennamen führen. Doch reicht alles das nicht aus, um eine genauere Bestimmung dieser Häretiker zu gewinnen. Die von Jesus Christus Erlösten bilden eine große geistliche Einheit von Heiligen: gewiß, das ist dem Ignatius eine selbstverständliche und wesentliche Lehre'; und sein ganzes Briefschreiben beruht ja auf dieser Voraussetzung. Aber unbewußt vollzieht sich daneben das Hervortreten einer neuen ») s. o. S. 117. *) Ign. Trail. 10. Smyrn. 4, 2. 3) Ign. ad Polyc. 5,2. Eph. 17,2. «) Ign. Magn. 8,1.9—10. Philad. 6,1. 9,1. 8,2. «) Ign. Magn. 10,1. ·) Ign. Philad. 5,2; vgl. „katholische Kirche" Smyrn. 8,2.

I 264

13. Ignatius

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Einheit, die nicht nur sein menschliches und amtliches, sondern auch sein theologisches Interesse erfaßt, das ist die Einzelgemeinde, und zwar in ihrer Organisation als ein vom dreifach abgestuften Klerus geleiteter Körper. An der Spitze der Gemeinde steht e i n Bischof, unter ihm das Kollegium der Presbyter, während die Diakonen an dritter Stelle erscheinen. In dem Bischof verkörpert sich die Einheit der Gemeinde, er ist an Gottes Statt, wenn man die Presbyter dem Apostelkollegium vergleicht1. Er ist die höchste Lehrautorität und ist von Jesus Christus beauftragt, so wie dieser vom Vater und eines Sinnes mit ihm: so muß man ihn ansehen wie den Herrn selbst. Alle Funktionen der Gemeinde unterstehen seiner Aufsicht, ohne ihn darf nichts geschehen, keine Taufe, keine Agape, keine Abendmahlsfeier 1 . Das Gebot der Unterordnung unter ihn gilt ausnahmslos für alle Glieder der Gemeinde, auch für die Presbyter und Diakonen*: wenn die Gemeinde danach verfährt, so ist sie gegen alle Angriffe feindlicher Irrlehrer geschützt, von denen zu hoffen steht, daß auch sie eines Tages Reue empfinden, zur Einheit der Gemeinde zurückkehren und sich dem Bischof unterwerfen 4 . Wenn wir bei dem römischen Clemens die Lehre von der göttlichen Einsetzung des kirchlichen Amtes der Episkopen und Diakonen in ihrer Entstehung beobachten konnten, so finden wir bei Ignatius bereits als fertige und für Syrien wie für das westliche Kleinasien gültige Tatsache den monarchischen Episkopat vor. Anders als Clemens entwickelt uns Ignatius keine Theorie über die Notwendigkeit und Schriftgemäßheit dieser Einrichtung, sondern geht von ihr aus und bemüht sich lediglich, die schlechthin göttliche Autorität dieses geistlichen Monarchen der Einzelgemeinde unablässig einzuschärfen und dadurch einen unübersteiglichen Schutzwall gegen alle Angriffe von außen und Spaltungsgefahren von innen zu errichten. Und damit ist er der Klassiker der katholischen Lehre vom Bischof geworden. ») Ign. Magn. 6,1. Trail. 3,1. *) Ign. ad Polyc. 5,2. Eph.3,2. 6,1. Magn. 3,2.7,1. Smyrn. 8,1—2. ») Ign. Eph. 4,1. Magn. 3,1. Trail. 12, 2. Magn. 2. *) Ign. Magn. 6, 1—7, 2. 13, 1—2. Trail. 7. Philad. 3. 2. 8, 1. Smyrn. 5,3. 9,1; vgl. Eph. 10, 1—3.

Marcion Typologische und allegorische Deutung sind die Mittel gewesen, mit denen die zum Selbstbewußtsein erwachende Christenheit das Alte Testament dem jüdischen Volke entrissen und zu ihrem eigenen Grundbuch gemacht hat. Das Christentum als geistliches Israel erkennt nur eine geistliche, das heißt aber allegorisch umdeutende Auslegung des heiligen Buches an, die unter den Gesichtspunkt der Weissagung auf Christus und die Kirche gestellt ist und sich in freiem Spiel der Gedanken bemüht, dem Text seine Geheimnisse zu entreißen. Das wörtliche Verständnis des Alten Testaments wird abgelehnt und als jüdischer Irrtum gebrandmarkt. Wenn aber nun ein Lehrer kam, der sich durch das schillernde Gefunkel dieser geistlichen Gelehrsamkeit nicht blenden ließ und trotz aller Judaismusrufe dem Alten Testament klar und nüchtern ins Antlitz sah, dann mußte eine Katastrophe eintreten. Dann entglitt das Buch den Händen der Christenheit und kehrte zu den Juden zurück. Und wenn dieser Lehrer vollends bei Paulus die Lehre von der Beseitigung des. Gesetzes durch Christus gelesen und ergriffen hatte, so konnte er darin die Lösung der alttestamentlichen Frage gewiesen sehen und mußte zu einem Verständnis des Christentums kommen, das ihn weitab von den bisherigen Bahnen der Theologen führte. Diese Möglichkeit ist in Marcion Wirklichkeit geworden. Marcion stammte aus dem pontischen Sinope, dem heutigen Sinob am Schwarzen Meer, wo sein Vater Bischof war1. Seine Familie war wohlhabend, und er selbst wird mehrfach* ') Epiph. 42, 1 , 3 - « (2,94 f. Holl) Harnack Marcion (TU 45)' 24· bis 28*. ') Rhodon und Tertullian bei Harnack 16*f.

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14. Marcion

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als Schiffsreeder bezeichnet: das zeigt an, daß er zu der führenden Gesellschaftsschicht dieser bedeutenden Hafen- und Handelsstadt gehörte. Aber er blieb nicht in den ruhigen Verhältnissen der Heimat: anscheinend hat ihn schon sein Vater aus theologischen Gründen aus der Gemeinde gestoßen, vielleicht hat er dann an der Westküste, in Smyrna, um Anerkennung gerungen und ist von Polykarp abgewiesen worden, sicher ist er. als gereifter Mann unter Antoninus Pius nach Rom gekommen und hat in der dortigen Gemeinde Einfluß gesucht und gefunden, bis auch hier die Gegensätze scharf zutage traten und er im Juli 144 sich von der Großkirche trennte und eine eigene Gemeinschaft begründete, die sich mit erstaunlicher Schnelligkeit „über die ganze Menschheit" verbreitete, wie uns Justin kaum 10 Jahre später bezeugt. Um 160 mag er gestorben sein1. Er hat e i n Werk geschrieben, die „Antithesen", in dem er seine Lehre zusammengefaßt hat: es ist nicht erhalten, wie sich bei einer der Kirche so gefährlichen Schrift von selbst versteht, und wir müssen den Inhalt aus den Nachrichten der Gegner, insbesondere dem fünfbändigen Werk des Tertullian gegen Marcion, erschließen*. Wörtliche Zitate begegnen uns nur ganz selten, so daß wir von der schriftstellerischen Eigenart dieses ungewöhnlichen Mannes uns kein Bild machen können: aber die Angaben über seine Lehre sind so ausgiebig und in den wesentlichen Punkten so übereinstimmend, daß wir sie mit guter Zuversicht zusammenhängenddarzustellen vermögen. Was wir freilich nicht können, ist eine quellenmäßig begründete Entwicklung seiner religiösen Erkenntnis zeichnen. Was das Erste, was die Folge gewesen ist, und wo der entscheidende Anstoß gelegen hat, das sagt uns niemand, so daß wir nur aus eigener Vermutung den Ablauf und inneren Zusammenhang dieser Dinge rekonstruieren können. Auch die Frage nach seinem Verhältnis zu dem syrischen Gnostiker Kerdon können wir nicht klar beantworten. Irenaeus und nach ihm Hippolyt behaupten, er sei von jenem abhängig. Aber dieser Angabe ») Harnack 6·. 16*—20*. 256*—313*.

') Zusammengestellt bei Harnack

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Lebensgang. Das alte Testament und sein Gott

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liegt die Tendenz zugrunde, genealogische Reihen der Ketzereien aufzuweisen, und wir haben kein brauchbares Material, um Wirksamkeit und Lehre Kerdons deutlich zu erkennen, und die marcionitische Tradition weiß nichts von ihm1. Sicher ist aber soviel, daß der Einfluß des Syrers, wenn er überhaupt historisch ist, nur von sekundärer Bedeutung gewesen seinkann, denn Marcions Lehre ist der volle Ausdruck einer einheitlichen religiösen Erfahrung, die in der einen Persönlichkeit wurzelt. Grundlegend ist einmal seine Ablehnung jeder Allegorie gewesen1: damit traf er, wie schon gesagt, die gesamte bisherige Theologie und ihre Eroberung des Alten Testamentes. Er griff kühn durch den gelehrten Nebel der Exegeten hindurch und las mit nüchternem Sinn den einfachen und oft nur zu deutlichen Wortlaut des Buches: und was er da fand, das stieß ihn in höchstem Maße ab. Möglich, daß er von Natur aller scheinenden Gelehrsamkeit abhold war—auch von Philosophie hat er nichts wissen wollen* —, möglich auch, daß er von antisemitischen Strömungen berührt worden ist, möglich auch,daß ihm dasEvangelium dieSinne geschärft hat: jedenfalls erkannte er mit unheimlicher Klarheit den Gegensatz zwischen dem Geist dieses urjüdischenBuches und dem Geist Christi. Die sittliche Hoheit der Propheten, die Frömmigkeit der Psalmen sah er nicht: aber alle Menschlichkeiten des alttestamentlichen Gottes traten ihm riesengroß entgegen. Er sah den Gott, der eine Welt von kläglichster Unvollkommenheit schafft, der Menschen bildet und sie in den Sündenfall hineintreibt, der so und so oft bereut, was er getan hat, und seinen Lieblingen die schlimmsten Sünden nachsieht, die er an andern grausam straft. Und zu der biblischen Erkenntnis mischt er die eigene Lebenserfahrung: Wozu hat Gott die Schlangen, Skorpione, Krokodile, wozu alles Ungeziefer erschaffen? Und warum müssen Zeugung und Geburt in einer Weise vor sich gehen, daß sie eine Summierung alles Schmutzigen und Ekelhaften bedeuten 4 ? Hier tritt eine natürliche und in einer Beziehung ») Harnack 31·—39·. ») Haroack 259· f. ») nach seiner Textänderung Kol. 2, 8; vgl. Harnack 51. 122*. «) Hamack 268·—273*.

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geradezu pathologische Abwertung der Welt zutage, die nicht auf christlichem Boden gewachsen ist, sondern als menschliches Erbe Marcions anerkannt werden muß. Und mit diesem pessimistisch getrübten Auge blickt er in das Alte Testament und seine Nahrhaftigkeiten und erkennt nun im Gott des heiligen Buches denselben Gott der Unvollkommenheit, der Grausamkeit und Häßlichkeit, den ihm das Leben täglich predigt. So wird ihm der Beweis vor die Augen gestellt, daß das Alte Testament recht hat, wenn es seinen Gott als Schöpfer der Welt verkündet. Das ist wahr — aber beide sind einander wert, dieser Gott und diese Welt! Dabei ist dieser Gott keineswegs absolut schlecht, er ist kein „böses Prinzip": sondern er ist einfach minderwertig1. Seine Leistungsfähigkeit steht in keinem Verhältnis zu seinem Planen und Wollen; er strebt nach Hohem mit unzulänglichen Mitteln und richtet dadurch Unheil über Unheil an. So hat er den Menschen in seinem „Gesetz" die Grundlagen aller Moral gewiesen, und insofern ist das Gesetz tatsächlich als „heilig, gerecht und gut", ja sogar als „geistlich" anzuerkennen 1 . Aber er will die Durchführung seiner Gebote durch ein System von Strafen erzwingen, die auf dem Gedanken der Wiedervergeltung beruhen: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut ist sein Grundsatz, der ihn zum unbarmherzigen Richter werden läßt, der die Sünden der Väter noch bis ins vierte Glied an den Kindern heimsucht*. Sein Ideal ist „Gerechtigkeit", und darum mag er der „gerechte Gott" heißen, und sein auserwähltes Volk, die Juden, hat diese Gerechtigkeit anerkannt und strebt ihr nach: aber es ist eine Gerechtigkeit, die mit ihrer gewaltsamen Grausamkeit Schauder erweckt. Dies ist der eine Strang der marcionitischen Gedankenbahn. Der andere geht von der christlichen Erkenntnis aus, daß eben jene jüdisch-alttestamentliche Gerechtigkeit von Christus aufs schärfste abgelehnt und durch etwas Besseres ersetzt worden ist. Dem alttestamentlichen Wiedervergel») Harnack 269»—274*. ») Harnack 108. 263*. ») Harnack 280» f. 271· f.

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Jesus und das Gesetz. Die zwei Götter

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tungsrecht stellt er das neue Gebot des Duidens und Vergebens entgegen, und statt der blutigen Grausamkeit des Judengottes finden wir bei Christus Milde und Barmherzigkeit: die Sprüche der Bergpredigt heben das Gesetz auf1. Die Herausarbeitung dieses Gegensatzes zwischen dem Alten Testament und der evangelischen Botschaft ist das Kernstück der marcionitischen Beweisführung und vom Meister wie von den Schülern durch Aufstellung von immer neuen Antithesenreihen gestützt worden. Denn auf dieser Erkenntnis ruht der entscheidende Schluß. Wenn sie zutrifft — und das ist für Marcion unbezweifelbar — so hat Christus mit dem Weltschöpfer, seinem Buch, seinem Volk und seiner Religion schlechterdings nichts zu tun, sondern verkündet einen andern, bisher fremden und unbekannten Gott, den Gott der Liebe, Güte und Barmherzigkeit, der hoch über allem schwebend als der eigentliche, wahre Gott begriffen werden muß. Volle Realität kommt aber auch dem Schöpfer dieser Welt, dem Gott des Alten Testamentes zu: das bezeugt eben diese heilige Urkunde, deren Wahrhaftigkeit Marcion keinen Augenblick anzweifelt, und mit ihr übereinstimmend die Summe der Erfahrungstatsachen des täglichen Lebens und der Geschichte. So gibt es also zwei Götter, einen niederen und einen hohen, einen „gerechten" und einen guten, einen bekannten, durch Moses und die Propheten verkündeten, und einen unbekannten, fremden, der sich erst in Christus offenbart hat, der uns von der Macht und dem Gesetz jenes andern erlöst und in eine neue Lebenssphäre erhebt. Es ist eine eiserne Geradlinigkeit des Denkens, die Marcion zu seiner Zweigötterlehre geführt hat, und weder das theologische Dogma des Monotheismus noch philosophische Bedenken haben ihn vor dieser letzten Konsequenz zurückschrecken lassen. Ob ihm persisch-dualistische Vorstellungen oder gnostische Gedankengänge ähnlicher Art bekannt waren und ihm seine Konstruktion erleichtert haben, kann man fragen. Sicher ist, daß sie nicht Ausgangspunkt oder irgendwie Motiv für seine ») Harnack 280· f. 262·.

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These gewesen sind: die bleibt auch ohne solche Annahmen begreiflich in einer Zeit, die gewohnt war, zwischen Gott und Mensch eine Fülle von Zwischenwesen bis hin zum Teufel und zum göttlichen Logos zu sehen1. Und wirklich dualistisch ist Marcions Lehre weder im Ansatz noch in der Ausführung. Aber wurde sich denn Marcion nicht klar darüber, daß er mit dieser Lehre der ganzen urchristlichen Tradition widersprach? Nein, sondern mit derselben scharfen Rücksichtslosigkeit des Denkens fand er für seine Auffassung den apostolischen Gewährsmann in Paulus: bei ihm und nur bei ihm war die echte Lehre Jesu erfaßt und eindeutig ausgesprochen, immer wieder in neuen Wendungen formuliert und gegen falsche Meinungen gesichert. Alle die andern Apostel hatten ihren Meister nicht begriffen, ihn für den Messias des Judengottes gehalten und seine Worte von da aus verstanden und verfälscht. Die Warnungen und Mahnungen Jesu hatten nicht gefruchtet, sie waren trotz gelegentlicher Ansätze zum richtigen Verständnis schließlich dem Irrtum erlegen und zu Verfechtern alttestamentlicher Gesetzlichkeit geworden. Da hat Christus die Wahrheit noch einmal offenbart und zu ihrem Verkünder Paulus berufen: und der allein hat sie rein bewahrt. Darum ist er auch den Uraposteln entgegengetreten und hat den Petrus gescholten, weil er nicht „in der Wahrheit des Evangeliums wandle" (Gal. 2,14), hat gegen „eingeschlichene Falschbrüder" und „Lügenapostel" gekämpft (Gal. 2,4; 2. Kor. 11,13) und die Apostel der Verfälschung des Gotteswortes beschuldigt (2. Kor. 2,17)*. Der Galaterbrief ist ihm die entscheidende Kampfschrift gegen den Judaismus im Christentum: hier wird gleich im Beginn mit feierlichem Wort jedes „andere Evangelium" zurückgewiesen, die Stellungnahme der Urapostel getadelt und sodann der bündige Beweis geliefert, daß durch Christus das Gesetz schlechthin beseitigt ist: womit die eine grundlegende Wahrheit mit aller Schärfe zum Ausdruck gebracht wird. Aber auch die Unterscheidung der beiden Götter ist in den Paulus») Vgl. Marcion zu 1. Kor. 8, 5 Harnack 307·. 257*—259*. 96·.

*) Harnack

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Paulus und das Gesetz

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briefen klar ausgesprochen: man muß sie nur mit offenen Augen lesen. Im zweiten Korintherbrief (4,4) sagt der Apostel, „def Gott dieser Welt habe die Sinne der Ungläubigen verblendet, so daß sie das Licht des Evangeliums der Herrlichkeit Christi nicht sehen können, der das Abbild Gottes ist". Da stehen sich gegenüber der Gott, dessen Abbild und Offenbarer Christus ist und der Gott dieser Welt, der die Seinen, d. h. die „Ungläubigen", vor der Erkenntnis des wahren Gottes schützen will und sie deshalb verblendet — so wie er es nach dem Zeugnis des Alten Testaments gern tut 1 . Und wer an dieser Stelle seinen Blick geschärft hat, wird unschwer in zahlreichen andern Sätzen der Paulusbriefe die Lehre von den zwei Göttern entdecken und Paulus als den Apostel der Wahrheit und Diener des guten Gottes erkennen. Damit erhalten seine Briefe aber entscheidende Autorität und werden grundlegende christliche Erkenntnisquelle. Sie liefern die Maßstäbe, nach denen die evangelische Uberlieferung der Kirche zu beurteilen ist. Denn die Verständnislosigkeit der Urapostel und der judaistische Eifer der falschen Brüder hat eine weitgreifende Entstellung, ja Verfälschung der echten evangelischen Überlieferung zur Folge gehabt. Während Paulus (Gal. 1,6; Rom. 2,16) ausdrücklich versichert, es könne und dürfe nur ein einziges Evangelium geben*, nämlich das seine, hat es die Kirche zu vier Evangelien gebracht, die durchaus mit Unrecht apostolischen Ursprung für sich in Anspruch nehmen, denn die Apostel haben überhaupt nichts geschrieben. Vielmehr sind diese Evangelien durchweg in judaistischem Sinne gefälscht und so freilich geeignet, der auf bösen Wegen wandelnden Kirche die Autorität des Alten Testamentes und die Unterwerfung unter das Blendwerk des Weltschöpfers anzuempfehlen. Und nun hat sich Marcion kühn an die Aufgabe gemacht, das von Paulus gekannte wirkliche und echte Evangelium wiederherzustellen. Er legte eins der überlieferten Evangelien zugrunde, nämlich das des Lukas. Warum er diese Wahl traf. ») Harnack 308*. ') Hamack 306*. 309*.

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können wir nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht darum, weil er den Verfasser Lukas als Paulusschüler schätzte und ihm bessere Traditionstreue zutraute als den andern Evangelisten. Denn eine Bemerkung des Tertullian kann so gedeutet werden: das erste Evangelium habe den Paulus erleuchtet und von ihm her den Lukas. Aber gerade vorher berichtet derselbe Tertullian von dem Angriff Marcions auf die traditionellen Verfassernamen1. Man kann auch vermuten, das Lukasevangelium sei in Sinope von alters her in Gebrauch gewesen und deshalb dem Marcion von Jugend auf besonders vertraut und lieb geworden. Jedenfalls nahm er es als Rohstoff und fing nun an, die kritische Säuberungsarbeit an seinem Texte durchzuführen*. Es war eine rein „innere" Kritik, die er übte. Kern und Wesen der evangelischen Verkündigung standen ihm in dem bisher dargelegten Sinne und Umfang fest, Paulus gab ihm weitere Indizien in die Hand, und so machte er sich guten Muts daran, die judaistischen Zusätze aus dem Evangelium zu entfernen und verderbte Stellen durch Textänderung zu heilen. Daß seine Arbeit nicht restlos aufgehen, nicht endgültig abschließend sein könne, hat er sich nie verhehlt, und so hat er sowohl wie seine Schule immer neu mit dem Problem gerungen, und der marcionitische Evangelientext hat mancherlei Wandlungen erfahren*. Die gleiche Aufgabe erwuchs ihm aber auch, wie sich sofort herausstellen mußte, für die Paulusbriefe: denn auch in diesen stand vielerlei, was zu der von Marcion erkannten Grundlehre des Apostels nicht stimmte und den Eindruck erweckte, als ob Paulus das Alte Testament doch als eine vom höchsten Gott stammende und auf Christus hinweisende Offenbarungsurkunde anerkenne. Solche Stellen konnten nur judaistische Interpolationen kirchlicher Fälscher sein, und wer den Paulus in reiner Gestalt lesen wollte, mußte zuvor diese Fremdkörper entfernen und den Text verderbter Sätze wieder herstellen. Auch diese Aufgabe hat Marcion in Ani) Harnack 258* f. *) Rekonstruktion des Evangeliums bei Harnack 177·—255·. *) Harnack 43.

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Das Evangelium Marcions. Der neue Kanon

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griff genommen und mit Kraft und Selbstvertrauen durchgeführt 1 — in größerem Umfang, aber mit demselben guten Gewissen, mit dem mancher Kritiker des 19. Jahrhunderts vom Standpunkt seines Systems des „Paulinismus" aus widerstrebende Verse aus dem Text geschieden und mißliebige Worte geändert hat — um von den wilden Operationen extremer Phantasten ganz zu schweigen. Bei Marcion wird man alle Ursache haben, die Folgerichtigkeit seines Denkens und die selbstsichere, entschlossene Kühnheit seiner Arbeit zu bewundern: er war auch in diesem Punkte eine überragende Persönlichkeit. Das Ergebnis seiner kritischen Arbeit war ein Schriftenkanon, der das eine echte und allein gültige Evangelium mit den Paulusbriefen vereinigte. Und diese Vereinigung war durch innere Notwendigkeit gegeben, nicht als Produkt einer vom Zufall bestimmten Uberlieferung übernommen. Keiner der beiden Bestandteile war ohne den andern denkbar, jeder garantierte Sinn und Bedeutung des anderen. Paulus gab die Bürgschaft für die entscheidenden Gedanken und die große Linie des Evangeliums, er lehrte seine Heilsbedeutung und die Art ihrer Aneignung, aber er unterrichtete auch über die frühzeitige Verkennung und Verfälschung der christlichen Botschaft und zeigte die Gefahren judaistischen Abgleitens: er war somit Hüter und Deuter des Evangeliums. Der evangelische Text seinerseits brachte die Kunde von Jesus, seinen Taten und seiner Predigt, seinem Tod und seiner Auferstehung, also alles das, was Paulus als bekannt voraussetzte und seiner Unterweisung zugrunde legte. So bildeten die zwei Teile des marcionitischen Kanons eine wirkliche Einheit, deren Bedeutung noch dadurch gehoben wurde, daß das Alte Testament als heiliges Buch ausschied. Das heißt aber, daß Marcion den bisher in der Christenheit anerkannten Bibelkanon beseitigte und durch einen neuen ersetzte. Er hat zum erstenmal wirklich mit theologischer Begründung ein Neues Testament als Schriftensammlung proklamiert und es nicht *) Rekonstruktion des Paulustextes bei Harnack 40*—176*.

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14. Marcion

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neben, sondern an die Stelle des Alten Testamentes gesetzt, und damit eine Entwicklung, die in der Großkirche erst in den Anfängen war und mit allerlei Hemmungen zu ringen hatte, aus eigener Kraft zu einem Abschluß gebracht, der seine Rückwirkungen bald spürbar machte. Davon wird in anderm Zusammenhang zu reden sein: für uns ist hier wichtig, daß nun für Marcion eine autoritative Schriftquelle vorhanden ist, aus der er weitere Gedanken zum Auf- und Ausbau seiner Lehre schöpfen kann. Da muß zunächst festgestellt werden, daß der Meister selbst eine bemerkenswerte Zurückhaltung geübt und phantastische Spekulationen durchweg vermieden hat: die Festigung der Grundlagen ist ihm stets wichtiger gewesen als die Ausschmückung des Oberbaues. Der negativen Kritik am Weltschöpfer und seinem Buch tritt nun in überstrahlender Herrlichkeit die Hoheit des guten Gottes und seines Evangeliums entgegen. Marcion ist kein doktrinärer Theoretiker, sondern hat mit Ernst und warmem Herzen Gott gesucht und den tiefen Sinn seines Forschungsergebnisses begriffen, nämlich daß er wirklich neue Gotteserkenntnis einer Christenheit verkündet, die in Gefahr steht, zu den Alltagsgedanken der Vorzeit zurückzukehren. Seine Antithesen beginnen mit den Worten 1 : „O Fülle des Reichtums, Torheit, Macht und Entzücken, daß man nichts über es (das Evangelium) sagen oder denken oder ihm vergleichen kann!" Was Paulus Rom. 11,33 von der Tiefe des Reichtums, l . K o r . 1,18—23 von Torheit und Machterweis der Kreuzespredigt, der Evangelist Luk. 5,26 von dem staunenden Entzücken sagt, das alle Zeugen der Wundermacht Jesu befällt, das ist in diesem Ausruf zusammengefaßt, um die schlechthin alles menschliche Denken und Vorstellen übersteigende Neuartigkeit der Gottesbotschaft zu bezeichnen. Marcion wird nicht müde zu lehren, daß vor dem Erscheinen Christi die Menschheit nichts von diesem Gott gewußt habe, ') Harnack 256*, verbessert durch Burkitt Journ. Theol. Stud. 30, 279 f.

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Der fremde Gott und der Weltschöpfer

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daß er völlig unbekannt und unerkennbar gewesen sei, weil ihn kein Band irgendwelcher Art mit der Welt und der Menschheit verknüpfe: als „Fremder" wohnt er in seinem dritten Himmel (2. Kor. 12,2) fern von einer fremden Welt: „Niemand kennet den Vater als der Sohn und wem ihn der Sohn will offenbaren." Der Judengott ist es, der diese Welt aus der Materie geschaffen hat, er hat auch Adam an Leib und Seele schwächlich gebildet, und dann unter Duldung der teuflischen List durch das Gesetz Sünde und Tod über die Menschheit gebracht 1 . Und nun kommt das Unbegreifliche und Uberwältigende: den guten Gott jammerte das Schicksal der ihm doch so fremden, j a feindlichen Menschen, und er beschloß aus reiner Barmherzigkeit, sie von ihrem Elend zu erlösen*. Er sandte seinen Sohn in die Welt, der die vollkommene Offenbarung des Vaters ist: als Jesus Christus erschien er im 15. Jahre des Tiberius (28/29) und predigte das Evangelium. Er ist weder „von einem Weibe geboren" noch „unter das Gesetz getan" — diese Worte sind in Gal. 4 , 4 von den Judaisten eingeschoben, so gut wie die Geburtsgeschichte ins Evangelium. Wie hätte der reine Sohn des höchsten Gottes sich mit dem Schmutze menschlicher Geburt beflecken können! Nicht irdisches, von der Materie stammendes und durch den Weltschöpfer geformtes Fleisch nahm er an, sondern „im Abbild eines Menschen" (Phil. 2,7) ist er erschienen, in einem Scheinleib, einem „Phantasma", wie es auch die Engel tragen'. E r predigte die Botschaft vom unbekannten Gott, lehrte Sanftmut und Geduld statt Grausamkeit und Zorn, Feindesliebe und Vergebung statt Haß und Vergeltung, erbarmende Güte statt rechnender Gerechtigkeit als Gottes Willen durch Wort und Taten erkennen: so kam er, das Gesetz aufzulösen statt es zu erfüllen, nicht umgekehrt, wie das verfälschte Evangelium Matth. 5,17 behauptet 4 . Freilich hat er seine göttliche Güte und Langmut auch dem Schöpfer gegenüber bewiesen und auf sein Gesetz mani) Harnack 264*—267·. 271*. 274»—277». *) Harnack 122. 264*. 284*. 292*. 295*. ») Harnack 283*—287*. 74*. 4 ) Harnack 252*. 262*.

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14. Marcion

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nigfach Rücksicht genommen, ihn auch nie direkt angegriffen und als Lügner hingestellt, wohl aber die reine Gotteslehre so deutlich zum Ausdruck gebracht, daß der einsichtige Hörer die notwendige Folgerung von selbst ziehen muß. Und in Gleichnissen hat er den Sachverhalt unmißverständlich umschrieben. Man kann nicht zwei Herren dienen: ein schlechter Baum kann nicht gute, ein guter nicht schlechte Früchte bringen; man soll nicht neuen Wein in alte Schläuche füllen und keinen neuen Lappen auf ein altes Kleid flicken — ist das nicht deutlich genug? Und weiter: bisher galt Reichtum, Glück und Glanz des Lebens als Zeichen göttlichen Wohlgefallens: und mit Recht, denn so wollte es das Gesetz und die Ordnung des Schöpfers. Christus aber pries selig die Armen, Hungrigen und Weinenden, die Beschimpften und Verfolgten, und sprach sein Wehe über die Reichen, die Satten, die Lachenden. Er wandte sich ab von den Gerechten und Pharisäern und ging zu den Zöllnern und Sündern1. So bringt das Evangelium die Umwertung allerbisherigen Werte. Und an alle Hilfsbedürftigen in der ganzen weiten Welt wendet sich seineHeilsbotschaft, nicht nur an die Glieder eines auserwählten Volkes, wie es die messianischen Verheißungen des Judengottes tun1. So lehrte Christus; und dann starb er am Kreuz den vom Schöpfergott verfluchten Tod (Gal. 3,13) und zahlte jenem dadurch ein Lösegeld, durch das er uns, die „Fremden", dem bisherigen Eigentümer abkaufte und für den guten Gott erwarb'. Und nicht nur uns, die damals und nachmals Lebenden, sondern auch die Toten: denn er stieg zur Hölle nieder und befreite alle Sünder, Kain, die Rotte Korah, Dathan und Abiram, Esau und die ganze Menge der Heiden, die sich in der Feuerqual des rächenden Gottes wanden. Aber die Gerechten des Alten Testamentes, Abel und Henoch, Noah und die Patriarchen nebst David und Salomo blieben drunten am Ort ihres verheißenen Lohnes in der Art von Seligkeit, die ihnen ihr Gott zu schaffen vermochte. Erlöst konnten sie ») Harnack 127. 260* f. 265*. 292*—294*. ») Harnack 288·.

*) Harnack 289*.

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Christus. Die Höllenfahrt. Die Ethik

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nicht werden, denn sie waren durch den Verkehr mit ihrem Gott gewitzigt und mißtrauisch geworden1: so wagten sie das Unerhörte und Neue nicht zu g l a u b e n : und darauf kam und kommt es an. Glaube ist die volle und restlose Hingabe an den höchsten Gott, das heißt aber zugleich die Absage an den Schöpfer und seine alttestamentliche, irdische Heilsordnung1: Der eine ist Erlöser, der andere Richter, dem einen gebührt Liebe, dem andern Furcht. Die Entscheidung ist ausschließend, denn — ihr könnt nicht zweien Herren dienen! Aber die so gewonnene Erlösung wirkt sich erst in der Zukunft aus, denn sie ergreift nur die Seelen. Solange der Mensch noch im Fleische ist, gehört er dieser Wi;lt und ihrem Herrn leiblich an und muß deren Bedrückung und Verfolgung tragen: die wahren Christen sind von gleicher Not und gleichem Haß bedrängt'. Und sie wehren sich, so gut sie es vermögen: nicht mit Gewalt und vergeltender Bitterkeit, sondern mit Abkehr und Enthaltung von allem, was die Ziele des Schöpfers fördern kann. Der Leib als das materielle Element ist ihr Feind, und so kasteien sie ihn durch Fasten. Fleischgenuß ist durchweg untersagt, und auch der Wein gehört zu den abgelehnten Dingen: Paulus hat Rom. 14,21 und 1. Kor. 8, 13 die vorbildlichen Anweisungen gegeben. Jeder Geschlechtsverkehr ist Förderung der Ziele des Gottes dieser Welt, darum untersagt ihn Marcion den Seinen: der wahre Jünger Christi schließt keine Ehe, und wenn er erst als Verheirateter zur Erkenntnis der Wahrheit kommt, so trennt er sich von seinem Gatten 4 . Diese Gemeinde Christi pflanzt sich nur geistig fort: und sie hat sich weit in der Welt verbreitet und Jahrhunderte lang bestanden. Von sonstigen Grundsätzen der Lebensführung berichten uns die kirchlichen Gewährsmänner nichts, was zum mindesten beweist, daß sie daran nichts auszusetzen fanden. Die Schüler Marcions haben offenbar still und zurückgezogen gelebt und innerlich eng zusammengeschlossene Gemeinden gebildet, die viel von der ») Harnack 294· f. *) Harnack 296*. «) Harnack 295* f. «) Harnack 149 f. 307·. 311·. 277· f.

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14. Marcion

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herben Strenge und entschlossenen Jenseitigkeit des Urchristentums hatten und dadurch auch in großkirchlichen Kreisen starken Eindruck machten. Den Märtyrertod sind bemerkenswert viele von ihnen gestorben; und auch das hatte werbende Kraft. Die marcionitische Bewegung ist schnell emporgeblüht und nach ihrer betonten Abtrennung von der Großkirche eine mächtige und erfolgreiche Gegnerin des noch in den ersten Anfängen stehenden Frühkatholizismus geworden. Der heidnische Philosoph Celsus behandelt um 180 in seinem polemischen Werk gegen die Christen die Marcioniten als den zweiten gleichberechtigten Zweig der christlichen Bewegung1. Daß sie die ganze Welt erfüllen, bezeugt um 200 der Karthager Tertullian wie es um 150 der Römer Justin getan hatte*, und die Fülle der Gegenschriften des zweiten Jahrhunderts, von denen uns berichtet wird, läßt erkennen, wie groß die akute Gefahr für die Großkirche war, und in welchen Gegenden sie zutage trat: Da finden wir neben dem westlichen Kleinasien Korinth und Kreta, die drei Weltstädte Antiochia, Alexandria, Rom, aber auch Karthago und. Lyon genannt". Im Osten hat sich die Marcionitenkirche noch weiter verbreitet und vor allem auch auf syrischem Sprachgebiet Fuß gefaßt: hier ist sie noch im 4. Jahrhundert eine wirkliche Gefahr, vor der die Kirchenväter ernstlich warnen müssen, während ihre Kraft im Abendlande damals schon völlig gebrochen ist. Erst die scharfe Durchführung der kaiserlichen Ketzergesetze trieb die Marcioniten aus den Städten auf die Dörfer, wo sie dann im 5. Jahrhundert von tatenfrohen Bischöfen bedrängt und zwangsweise bekehrt wurden. Ihre letzten Reste haben sich in entlegenen Winkeln des Orients noch Jahrhunderte lang gehalten, soweit sie nicht vom Manichäismus aufgesogen wurden4. Uber das innere Leben, die Verfassung und den Ausbau dieser Kirche erfahren wir nichts. Die Ketzerbestreiter haben sich immer nur um die Lehre bekümmert. Die ständige Kritik ') Harnack 325» ff. l ) Tert. c. Marc. 5, 19 Justin Apol. 26, 5 Harnack 153. 6». s ) Harnack 153. 314·—327·. «) Harnack 156-160.

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Die Marcionitenkirche. Marcions Schule: Apelles

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der Marcioniten an der Kirchenlehre und die Polemik der Kirchenväter hat naturgemäß auch eine große Bewegung in ihre eigene theologische Entwicklung gebracht. Wir können in den Berichten über Marcions Bibel und Lehre mannigfache Differenzen beobachten, die sich als Weiterbildungen der Schüler gegenüber älteren Thesen des Meisters erklären, bekommen auch einige marcionitische Schulhäupter mit Namen genannt. Wo es sich um mehr als nebensächliche Zusätze oder Korrekturen handelt, finden wir stets Abschwächungen der rauhen Schärfe der ursprünglichen Lehre. So, wenn dem Menschen außer Leib und animalischer Seele, die er dem Schöpfer verdankt und die zum Untergang bestimmt sind, noch ein „Geist" als ursprüngliche Gabe des höchsten Gottes zugeschrieben wird, der ihn erst zum vollkommenen Menschen macht; und eben dieser Geist ist es, den der gottgesandte Christus errettet, weil es ja doch ein in Feindeshand gefallenes Stück göttlichen Eigentums ist. Das ist zwar viel einleuchtender und gut gnostisch gedacht, vernichtet aber den Grundgedanken Marcions von der absoluten Welt- und Menschenfremdheit Gottes, der aus höchster Liebe gerade das ihm gänzlich Fremde rettet 1 . Andere machten den Teufel zum bösen Prinzip und dritten Gott, so daß der Gott des Alten Testaments „der Mittlere" wurde und eine erhebliche Verbesserung seiner Stellung erhielt, während die unter manichäischen Einfluß geratenen Kreise an den zwei Göttern festhielten und den Schöpfer als bösen Geist der Finsternis dem guten Lichtgott entgegenstellten: was dann eine Art manichäischer Vermittlungstheologie ergab. Von allen Schülern hat nur einer, Apelles, größere und selbständige Bedeutung gewonnen. Er war in Rom Hörer des Marcion, ging dann nach Alexandria und kehrte als Gegner des Dualismus und seines Lehrers nach Rom zurück, wo er eine reiche literarische und propagandistische Tätigkeit entfaltete. Er arbeitete mit dem Material, auch mit dem Neuen Testament Marcions, brachte aber das dem Meister gänzlich fem>) Harnack 165.

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liegende enthusiastische Element hinzu, indem er die Gesichte einer Prophetin Philumene als Offenbarungsquelle wertete1. Sodann aber trennte er den Weltschöpfer vom Alten Testament und lehnte den radikalen Pessimismus Marcions ab. Diese Welt ist von einem Engel des höchsten Gottes geschaffen, und zwar zu Ehren dieses Gottes und nach dem Bilde seiner oberen Welt: aber sie blieb unvollkommen und trug den Stachel der Reue in sich, bis auf Bitten des trauernden Schöpfers am Ende des Aion Jesus Christus der Gottessohn zur Verbesserung der Welt herabgesandt wurde. Das Alte Testament aber ist das Lügenbuch des Judengottes, eines von Gott abgefallenen und böse gewordenen Feuerengels, desselben, der auch die Menschenseelen aus himmlischen Höhen herabgelockt und mit dem Sündenfleisch des irdischen Leibes bekleidet hat2. Dem Nachweis der Minderwertigkeit des Alten Testamentes hat er ein eigenes Werk, die „Syllogismen", gewidmet, von dem uns Origenes eine Anzahl Bruchstüeke aufbewahrt hat'. Ein katholischer Schriftsteller des endenden zweiten Jahrhunderts, Rhodon, hat mit dem schon alternden Apelles eine Disputation gehabt, von der uns Reste seines Berichts erhalten sind4. Da hören wir seltsame Kunde. Apelles ist der Meinung, man solle nicht Lehren kritisieren, sondern jeder möge bei dem bleiben, was er glaube. Denn gerettet würden die, welche ihre Hoffnung auf den Gekreuzigten setzten, nur müßten sie freilich in guten Werken erfunden werden. Da ist die paulinische Kreuzestheologie und die Mahnung zu dem durch Liebe wirksamen Glauben mit einer Schroffheit zum Ausdruck gebracht, die unerhört erscheinen mußte. Aber es kam noch schlimmer. Er erkannte in löblichem Gegensatz zu Marcion nur e i η Prinzip an, aber fügte gleich hinzu, die Gottesfrage sei das allerdunkelste Prqblem. Wieso es nur e i n Prinzip gebe, das erfasse er „nicht erkenntnismäßig, sondern durch einen inneren Trieb". Und auf die beschwörende Frage ') Harnack 404*—412*. ») Harnack 406*—409», 417·. ») Harnack 413·—416·. 4) Harnack 404·.

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Apelles

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seines Gegners antwortete er nochmal und schwur, „er w i s s e ganz wahrhaftig nicht, wieso es einen ungewordenen Gott gebe, sondern das g l a u b e er". Wir können es verstehen, wenn daraufhin Rhodon in lautes Lachen ausbrach und über einen Lehrer höhnte, der seine Lehre nicht beweisen könne; aber wir erkennen gleichzeitig mit ehrlichem Staunen in Apelles einen Geist, der von seiner Zeit unabhängig war und die große Wahrheit erfaßt und auch im Ausdruck fast modern formuliert hatte, daß der religiöse Gottesbegriff nicht dem Gebiet des logischen, sondern dem des „emotionalen" Denkens angehört. Das hat Marcion nicht gesagt, aber es ist doch Geist von seinem Geist. Denn auch bei ihm ist das Große die Befreiung der Theologie von aller logischen Konstruktion, das unmittelbare Erkennen Gottes als des „ganz Anderen" und von der Welt aus schlechthin Unerreichbaren, die Ablehnung aller Kreatur und damit auch aller natürlichen und geschichtlichen Gotteserkenntnis, die Wertung der Erlösung als eines unausdenkbaren Liebeswunders. Hier ist echte Gotteskunde Jesu, wirkliche Erfahrung des Paulus zu lebendiger Wirkung gebracht worden, aber einseitig, stürmisch und mit so rücksichtsloser Leidenschaft, daß darüber alle andern und vielfach nicht minder bedeutsamen Werte der christlichen Religion in Trümmer gingen. Aber wann ist je ein vom Geist erfaßter Prophet nicht einseitig gewesen?

Die Gnosis In trajanischer Zeit kurz nach der Jahrhundertwende hat der aus einem verbannten und in frei gewählter Armut die Welt durchirrenden Wanderphilosophen wieder zum angesehenen und reichen Wohltäter seiner Heimat gewordene Dion von Brussa seinen Mitbürgern eine berühmt gewordene Rede gehalten1. Er erzählt ihnen, wie er in Olbia nach der Mündung des Dnjepr einst den dortigen Einwohnern griechischer Zunge einen Vortrag über den Begriff der wohlgeordneten „Polis", also des Staates, gehalten habe, dessen Gedankengang er ausführlich wiedergibt. Vom Staat und seiner Ordnung bei den Menschen kommt er auf den göttlichen Kosmos, nachdem er zunächst als Philosoph von den Göttern und Menschen und ihrer Gemeinschaft gesprochen hat, kündet er einen Mythos1 an, der „in geheimnisvollen Weihefeiern von Magiern wundersam gesungen wird" und ihnen als Lehre des weisen und gerechten Zoroaster übermittelt ist. Die Welt schwingt sich als gottgelenktes Viergespann edler Rosse in mächtigem Kreislauf unaufhörlich in unaufhörlichen Zeitperioden. Das äußerste Pferd ist das stärkste und schönste von allen und läuft die weiteste Bahn: es ist von heller Farbe, leuchtend in reinem Glänze und in der schimmernden Pracht von Sonne, Mond und Sternen — der himmlische Äther, als Zeus verehrt. Das zweite Pferd trägt Heras Namen, ist schwarz von Farbe: aber wo es die Sonne beleuchtet, wird es hell—die Luft. Das dritte ist dem Poseidon heilig und den Griechen als Pegasus bekannt — das Meer. Das vierte, nach der Hestia benannt, steht fest und unbeweglich, von stähler») Dio Chrys. or. 36 ν. Arnim. *) or. 36, 39—61.

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Der Mythos des Dion

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nem Zügel gebändigt und bildet den Drehpunkt der ganzen Bewegung — die Erde. So läuft das herrliche Gespann in friedlichem Verein, bis einmal nach langer Zeit das feurige Schnauben des äußersten Rosses die andern erhitzt und die Mähne des innersten in Flammen setzt und so den ganzen Kosmos entzündet. Das nennen die Griechen den Brand des Phaeton. Ein andermal nach vielen Jahren scheute das Pferd des Poseidon und überschwemmte mit seinem Schweiß den Nachbar, und das war die Sintflut des Deukalion. Den Menschen scheinen das sinnlose Katastrophen, während doch auch diese Dinge mit festem Zügel vom obersten Lenker geregelt und zum guten Ende geführt werden. Dann aber wandelt sich das Bild: das oberste Pferd überwältigt die andern und nimmt sie in sich auf, wie wenn aus vier wächsernen Figuren eine einzige gemacht wird, und nach kurzer, nur für menschliche Begriffe unendlich langer Zeit, steht es in herrlicher Schönheit stolz als Sieger da. Die in Flammenäther aufgelöste Welt ist ein neues und höheres Wesen geworden. Da fühlte der Herrgott eine Leere, und ihn ergriff Sehnsucht nach jenem Wagenlenken und nach der Mannigfaltigkeit der Naturen: so hub er an, die jetzige Welt zu schaffen. Ein leuchtender Blitz flammte auf und wandelte die lichte Lohe zu mildem Feuer. Dann strömte das feuchte Element durch das All als der von göttlichem Geist belebte Same und schuf alle Dinge: das ist es, was die Weisen der Mysterien als die „heilige Hochzeit" des Zeus und der Hera besingen. Und so ward eine neue Welt, jung und von leuchtender Schönheit, wie sie aus den Händen des Schöpfers hervorging:so herrlich, wie es keines Menschen Sinn ausdenken, kein Mund würdig schildern kann, es müßten denn die Musen und Apollo selber im göttlichen Rhythmus reinster Harmonien tun. Lange hat man diesen Mythos des Dion für ein Luftgespinst spekulierender Philosophie gehalten, das die stoischen Theorien des Redners in buntem Gewände zur Schau stellen sollte. Aber der glückliche Fund eines Mithrasdenkmals und seine kundige Auswertung haben uns jüngst be-

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lehrt, daß Dion wirklich die Wahrheit spricht 1 : er trägt den Inhalt eines Kultliedes der „Magier" vor, d. h. jener persischen Missionare, die, in Kleinasien wirkend, altpersische Mithrastheologie mit astralen Elementen babylonischer Herkunft vermischt und dann das Ganze durch Angleichung an stoische Lehren hellenisiert haben. Wir stehen mitten in der Zelt des blühenden Synkretismus, der die religiösen Vorstellungen aller Völker mengt und ihre Götter einander gleichsetzt. Hier bei Dion erscheinen nur griechische Götternamen, aber unter diesen Masken verbergen sich persische Gottheiten, nach derselben weitherzigen Begrifflichkeit 1 , die einst den römischen Juppiter mit Zeus, die Hera mit Juno gleichsetzte und den Tacitus* Mars, Merkur und Isis bei den Germanen finden läßt. Dieses Ineinanderfließen der Götter ist eine der bedeutsamsten Begleiterscheinungen des Werdens dej hellenistisch-römischen Weltkultur. Es ebnet den Weg für monotheistische Strömungen und bildet im negativen wie im positiven Sinne eine Vorbedingung für die Entstehung von Weltreligionen. Dions Rede lehrt uns, wie eine schon selbst aus verschiedenen Elementen gemischte orientalische Geheimlehre vom Wesen der Welt, ihrem Ende im Feuerbrand und der Neuschöpfung eines schöneren Himmels und einer besseren Erde, also eine typische Eschatologie, in stoisches Gewand gekleidet, zu einem kosmogonischen Mythos wird, der Sinn und göttliche Ordnung in dieser Welt zu finden lehrt. Dem sonst so strengen und griechisch empfindenden Redner der trajanischen Zeit genügt Philosophie allein nicht mehr: er zollt hier einmal der Forderung einer neuen Zeit seinen Tribut und würzt seine Rede mit den geheimnisvollen Klängen orientalischer Religiosität, um das Sehnen weiter Kreise von Gebildeten zu befriedigen. Es ist kein Zufall, daß Plutarch um dieselbe Zeit eine Abhandlung über Isis und Osiris schreibt 4 , in der ägyptische ') F. Cumont in der Revue de l'histoire des religions Bd. 103 (1931), 33—44 (dagege/i Saal Mithras 78, 4). Ε. Peterson He;.s Theos 245 ff. Wüst im ARW 1935, 219 ff. «) H. Usener Götternamen 341. ») Tac. Germ. 9. *) v. Wilamowitz, Glaube der Hellenen 2, 504.

Synkretismus. Plutarch. Die Leidener Kosmogonie

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Mythen mit Hilfe allegorischer Deutung griechischem, philosophisch orientiertem Denken mundgerecht gemacht werden. Und dabei ist Plutarch nicht nur äußerlich, sondern mit innerer Hingabe Platoniker und zugleich Verehrer und Priester des delphischen Apollo; und er widmet die Schrift der delphischen Priesterin Klea, die schon von den Eltern in die Osirismysterien eingeweiht ist. Das Ägyptische hat schon länger im Griechentum Geltung; jetzt tritt auch Persien und Babylon hinzu1. Und all diese Götter beginnen Griechisch zu reden und greifen nach der Philosophie, um in jedem Sinne hoffähig zu werden. Der Orient schickt sich an, das Griechentum zu überwinden und auch den Westen zu erobern. Noch leistet das wiedererwachte griechische Selbstbewußtsein der Antoninenzeit in seinen besten Führern eine Weile Widerstand; dann aber flutet die orientalische Welle unaufhaltsam über das ganze Reich. Wir wenden unsern Blick jetzt einer andern Gesellschaftsschicht zu. Im Museum zu Leiden liegt ein um 350 n.Chr. geschriebener Zauberpapyrus, der sich stolz als das achte Buch Mosis oder das Buch von der Einheit bezeichnet und unter einer Masse trivialster Rezepte für die abergläubischen Bedürfnisse des niederstenVolkes auch ein altes und wertvolles Kleinod der Religionsgeschichte aufbewahrt hat*. In zwei verschiedenen Fassungen wird uns da ein Gebet überliefert, das den höchsten Gott vom Himmel herabrufen soll, das in Wirklichkeit aber das Kultgebet einer frühen gnostischen Gemeinde gewesen ist und einen Mythos von der Weltschöpfung enthält. Gott soll gepriesen werden in jeder Sprache und jeder Mundart, so wie ihn einst die ersten hohen Wesen gepriesen haben: zuerst Helios, der von ihm eingesetzt und mit aller Macht betraut war, der die Sterne an ihren Ort gestellt und mit gotterfülltem Licht den Kosmos gegründet hat. Er preist den Höchsten, wenn er auf der Sonnenbarke als runde *) Plutarch de Iside et Osir. p. 364 e. 369 e. 370 c. «) A. Dieterich, Abraxas 16—20, jetzt mit Ubersetzung bei K. Preisendanz, Papyri Graecae magicae 2, 93—97 und 109—114.

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Scheibe am Himmel aufgeht, in Hieroglyphensprache, und mit ihm fahren der Hundskopfaffe, der das geheimnisvolle Zahlwort des Jahres, Abrasax 1 , ausspricht, und der Spetber, der mit gierigem Schnabel krächzt. Es preist ihn auch der erste Engel, der über die Strafen gesetzt ist, also der Totenrichter Osiris, und der „Neungestaltige", die heilige Neunheit der Götter von Heliopolis*. Der klatscht dreimal in die Hände, und Gott lacht: siebenmal schallt sein „Ha ha", und aus seinem Lachen entstehen sieben Götter. Beim erstenmal erschien das Licht und durchstrahlte das All und es wurde Gott über den Kosmos und das Feuer. Noch war alles Wasser; aber als Gott 2um zweiten Mal lachte, hörte die Erde den Schall, schrie auf und wölbte sich empor und teilte das Wasser in drei Teile — den Ozean auf, über und unter der Erde. Und es erschien ein Gott und wurde über die Tiefe gesetzt, der gebietet dem Anschwellen und Versiegen der Gewässer. Zum dritten Mal lacht Gott grimmig: da erscheint der Nus, der Verstand, mit einem Herzen in der Hand und erhält den Namen Hermes. Beim vierten Lachen erscheint Genna, die Gottheit der Zeugung. Beim fünften Lachen blickt Gott finster: da erscheint die Schicksalsgöttin Moira mit einer Waage, dem Symbol der Gerechtigkeit. Hermes streitet mit ihr, weil er die Gerechtigkeit für sich in Anspruch nimmt. Der höchste Gott entscheidet, daß von beiden die Gerechtigkeit ausgehen soll, aber verleiht der Moira das Szepter der Weltherrschaft. Dann lacht er zum sechstenmal und ist fröhlich. Da erscheint der Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, mit dem Königsszepter, das er dem höchsten Gott überreicht. Er wird mit dem Strahlenkranz des Lichtgottes bekleidet und mit Herrschergewalt über alles ausgestattet; eine Königin, mit einer Lichtkrone angetan, wird ihm beigesellt. Ihr Licht aber ist erborgt, es wächst und nimmt ab; so ist sie Mondgöttin und die Herrin alles Wachsens und Abnehmens. Nun lacht der Gott zum siebenten Mal und stöhnt schwer: ») s. u. S. 305. ») A. Erman, Ägypt. Religion 30.

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Die Leidener Kosmogonie

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da erscheint Psyche, und alles kommt in Bewegung. Und Gott sprach zu ihr: Alles sollst du bewegen und alles wird fröhlich sein, wenn Hermes dich führt. Da wurde alles bewegt und unaufhaltsam mit Lebenshauch erfüllt. Das sah Gott und schnalzte: da erschien Phobos, der gewappnete Schrecken. Und als Gott sich zur Erde neigte und laut pfiff, da nahm die Erde den Schall auf und gebar den Pythischen Drachen, der alles vorauswußte, weil er aus dem Tönen Gottes entstanden war. Die Erde aber bäumte sich empor und drohte, den Himmel einzustoßen, und Gott sprach „Jao": und alles stand still1, und es erschien der allergrößte Gott, der alles Vergangene und Künftige in der Welt geordnet hatte und nichts vom Reich der Höhe war mehr außer Ordnung. Selbst Phobos, der als der früher geborene ihm entgegentreten will, muß ihm auf Geheiß des höchsten Gottes weichen: doch wird ihm zur Entschädigung verliehen, der Götterneunheit voranzugehen und gleiche Macht und gleiche Ehre wie sie zu haben. Hier bricht das Stück ab, ohne Ziel und Sinn. Dem Zauberer hat der Text soweit genügt: er läßt nun den beschworenen Gott erscheinen und redet ihn an, klatscht, schnalzt und pfeift und treibt seinen Hokuspokus. Uns aber ist deutlich, daß hier ein echter alter Stoff verwertet ist, der uns eine Vorstellung von der Kosmogonie volkstümlicher Gnostiker gibt und zugleich die Struktur aller dieser Systeme musterhaft zur Anschauung bringt. Da ist ein höchster Gott, der keinen Namen hat und keine Eigenschaften besitzt: nur daß er „das All umfaßt" wird von ihm ausgesagt, und daß er der letzte Quell aller Kraft und alles Werdens ist. Aus ihm gehen alle Götter hervor, die der Mensch kennt und unterscheidet: und sie entstehen aus dem Lachen, dem Schnalzen, dem Pfeifen des Höchsten. In anderen Systemen ist es das Lachen und Weinen und Erschrecken, das Rufen und der Blick des Auges, was den Wesen Leben gibt 1 : die Grundvorstellung ist die gleiche. Und dann tritt eine Menge von Göttern auf: ihre Reihenfolge ist uns unverständlich, höchstens Helios als erster >) s. u. S. 288. 312. *) Dieterich 24—28.

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scheint gerechtfertigt. Aber dann kommen andere, streiten miteinander, werden mit Macht bekleidet — aber wie sich die verschiedenen „Weltherrscher" zueinander verhalten, bleibt dunkel. Es ist, als ob der Blick des Mystagogen immer nur einen kleinen Ausschnitt auf einmal umfassen könnte. Zuerst erscheinen ägyptische Bilder: die Sonnenbarke mit der Sonnenscheibe, die anbetenden Hundskopfaffen, der Sperber sind allbekannte Bilder des ägyptischen Kultes, und der Totenrichter Osiris so gut wie die Götterneunheit sind unverkennbar, wenn sie auch nur schattenhaft auftauchen. Aber dann hört das Ägyptische anscheinend auf: erst am Ende finden wir die Neunheit unvermutet wieder. Was nun folgt, stammt aus jüdischer Quelle: zuerst wird das Licht geschaffen, dann sehen wir die Wasserwüste, und das aufsteigende Festland trennt die Gewässer. Und der letzte Gott, der aus dem Pfeifen entsteht, ist kein anderer als Jahve, und so wird er, seiner alttestamentlichen Stellung entsprechend, als Ordner der gesamten Welt und der „große, größte Gott" bezeichnet. Die andern Götter scheinen griechisch zu sein, wenngleich mehr wie einmal der Verdacht auftaucht, ihr Griechentum möchte näherer Prüfung nicht standhalten. Man hat sogar auf iranische Vorbilder hingewiesen1. Aber sie sind auch von griechischer Philosophie berührt: Hermes ist der Nus oder Logos; sein Kampf mit der Moira spiegelt das in der Stoa gern verhandelte Problem wider, ob Vernunft oder blinde Notwendigkeit den Lauf der Welt bestimmen 1 . Der pythische Drache, der alles voraus weiß, ist wirklich noch der uralte Orakeldämon. Ein unbekümmertes Mischen verschiedenster Elemente, Synkretismus in reinster Ausprägung, charakterisiert dieses Fragment. Aber dies Religionsgemenge ist mit Philosophie angerührt, es will höhere Weisheit bringen: und es ist eine wirkliche Kosmogonie, so gut wie der Mythos des Dion, und auch hier finden wir hinter dem bunten Gewirr der Göttergestalten als letzten Grund den großen Einen, dem ') R. Reitzenstein, Die Göttin Psyche 33—44. Hellen. Mysterienrelig.» 359 f. l ) Dieterich 75.

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Die Naassenerpredigt

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alles entquillt, was Kraft und Leben heißt. Gnosis ist auch dies wunderliche Stück, aber es ist die Weisheit kleiner Leute. Es ist nicht leicht, in die Systeme der Gnosis einzudringen, von denen uns die kirchlichen Schriftsteller des zweiten bis vierten Jahrhunderts unermüdlich berichten. Denn diese Referate sind alles andere als objektiv und wollen das auch gar nicht sein: vielmehr heben sie mit Betonung das Seltsame und Abstoßende hervor und vergröbern es gelegentlich nicht ungern. Einen wirklichen Einblick in Lehre und Leben einer gnostischen Gemeinde gibt uns niemand, und bei der unglaublichen Mannigfaltigkeit der Systeme und dem unablässigen Fließen der Bewegung ist jede Darstellung nur als Augenblicksbild einer Einzelheit zu werten. So müssen wir versuchen, möglichst nahe an die ursprünglichen Quellen, also die eigenen Schriften der Sekten selbst heranzukommen: und das ist in einigen Fällen möglich. Hippolytos von Rom berichtet in seinem Ketzerbuch von den „Naassenern", die sich mit hebräischem Namen nach der Schlange (hebräisch Naasch) zu nennen pflegten und sich später als Gnostiker bezeichneten, die allein die Tiefen der Gottheit ergründen. Er hat einen Traktat dieser Sekte in die Hände bekommen 1 und setzt nun seinen Lesern einen ganz ausführlichen Auszug daraus vor — möglich, daß ihm selbst schon dieser Auszug statt des vollständigen Originals vorlag. Es ist eine gelehrte theologische Abhandlung, welche ein kleines Kultlied auf Attis als heiligen Text zugrunde legt und gnostisch erklärt. Das Lied selbst ist gelegentlich von einem Sänger im Theater vorgetragen und grüßt Attis, den die Assyrier Adonis, die Ägypter Osiris, die Griechen das Horn des Mondes nennen: bei den Samothrakern heißt er Adamnas, bei den Thessaliern Karybas und bei den Phrygiern Papas und wird noch mit anderen Namen bezeichnet. Das Lied — es mag aus hadrianischer Zeit stammen — ist also ein Zeugnis l ) Hippol., Refut V. 3. 6, 7,3—9,9; Rekonstruktion bei R. Reitzenstein, Poimandres 83—98 und revidiert in Reitzenstein u. Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus (1926) 161—173.

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des svnkretistischen „Pantheismus" und feiert Attis als den von allen Völkern verehrten Gott. Der gnostische Prediger hat aber darin die Lehre „großer Mysterien" gesehen und trägt nun in wortreichen und mit Gelehrsamkeit überladenen Darlegungen den Mythos vom Urmenschen als des Weltgeheimnisses Lösung vor. Der irdische Mensch ist, wie die Lehren aller Völker bestätigen, leiblich nach dem Bilde des himmlischen Urmenschen geschaffen und aus der Erde entstanden. Er lag unbeweglich und ohne Atem, bis ihm eine Seele gegeben wurde, die aber zugleich die Bringerin von Leid und Knechtschaft für den Urmenschen und sein Gebilde war. Was und woher ist die Seele? Auf immer neu sich windenden Umwegen durch die Fülle der Mythologien werden wir zu der Erkenntnis gebracht, daß die Seele, die nicht nur im Menschen, sondern in der ganzen lebendigen Welt wohnt, der mann-weibliche Urmensch selbst ist, der als befruchtender Same alles Werden hervorbringt, der ruhende Pol in der kosmischen Erscheinungen Flucht, der Logos und das Pneuma, durch das die Wiedergeborenen ihm wesensgleich gemacht werden. Aber das Ganze ist so verwaschen, daß es nicht möglich ist, eine scharfe und klare Anschauung herauszuarbeiten. Wir finden den Mythos vom Urmenschen in zahlreichen gnostischen Systemen in mannigfach verschiedener Einbettung 1 , und die Naassenerpredigt läßt uns die Reflexe dieser Vielgestaltigkeit spüren. Es ist eine uralte Lehre, vielleicht iranischer Herkunft, die in dieser bewegten Zeit neue Kraft gewonnen hat. Sie ist im Judentum bedeutsam geworden und hat die Vorstellung vom messianischen Menschensohn Daniels befruchtet, wir spüren sie auch bei Philo und hinter der paulinischen Theorie vom ersten und zweiten Menschen 1 . Aber erst die Gnosis bringt sie zur vollen Entfaltung und Wirkung und hat sie für weitere Jahrhunderte aufbewahrt. Die Naassenerpredigt ist aber noch aus einem andern ') W. Bousset, Hauptprobleme der Gnosis 160—223. *) Reitzenstein, Poimandres 109 ff.

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Die Naassenerpredigt. Das Baruchbuch des Justin

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Grunde für uns lehrreich. In ihrer ältesten Gestalt mischt sie, ähnlich wie die Leidener Kosmogonie, in die Fülle der heidnischen — diese Bezeichnung ist die einfachste — Vorstellungen jüdische Elemente und bezeugt auch dadurch wieder die von uns schon in anderem Zusammenhang 1 besprochene Tendenz auf Übernahme jüdischer Vorstellungen in synkretistischen Kreisen, während der heilige Text des Attisliedes noch keine Spur davon zeigt. Dann aber ist diese Gnosis mit dem Christentum in Berührung gekommen und hat nun die Lehrschrift fleißig mit neutestamentlichen Zitaten gespickt und mit christlichen Sätzen durchschossen, glücklicherweise aber so oberflächlich und. gelegentlich auch verständnislos, daß diese fremden Elemente unschwer ausgeschieden werden können. Der Vorgang ist das literarische Spiegelbild der religionsgeschichtlichen Entwicklung bei vielen dieser Sekten und im Großen genommen der Gang der Gnosis überhaupt. Aber Hippolytos bringt uns noch weiteres Material, und diesmal ist es ausgiebiger. Der Gnostiker Justin hat als Hauptwerk für seine Gemeinde ein Buch Baruch geschrieben, das er mit großem Geheimnis umgibt und dessen Inhalt niemand ausplaudern darf. Von dieser Schrift hat Hippolyt Kenntnis erhalten und erzählt uns genau ein Hauptstück 1 aus ihrem Inhalt. Bei Herodot wird von Herakles berichtet, daß er auf seinem Zug nach den Rindern des Geryones einem Mädchen begegnete, das halb Mensch und halb Schlange war: er verband sich mit ihr in Liebe, und sie gebar drei Söhne. In dem Bilde des Mädchens ist ein Symbol der Weltentstehung gegeben. Am Anfang aller Dinge waren drei „ungezeugte" Prinzipien: zwei männliche und ein weibliches: der Gute Gott, der keinen andern Namen führt und Allwissenheit besitzt; der Vater alles Geschaffenen, der unsichtbar aber nicht allwissend ist, er heißt Elohim; und das zweigestaltige und von Leidenschaften bewegte Weib Eden, auch Israel genannt. Mit ihr verbindet sich Elohim, und in beiderseitiger Liebe zeugen sie 24 En') s. S. 166.

*) Hipp., Ref. V 24—27.

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gel: 12 schlagen nach dem Vater, sie heißen Michael, Amen, Baruch, Gabriel, Esaddaios und so fort; 12 schlagen nach der Mutter: Babel, Achamoth, Naasch, Bei, Belias, Satan und so weiter. Die gesamte Schar der Engel ist das Paradies, die einzelnen Engel werden allegorisch die Bäume des Paradieses genannt; der „Baum des Lebens" ist der dritte Vaterengel, Baruch, der „Baum der Erkenntnis" ist der dritte Edenengel, Naasch. Die Mutter Eden ist aber nichts anderes als die Erde selbst: aus ihrem oberen, menschlichen Teil nehmen die 12 Engel Elohims Stoff und schaffen den Menschen Adam mit seiner irdischen Seele, und Elohim haucht ihm den Geist, das Pneuma, ein. So ist Adam das Produkt einträchtigen Zusammenwirkens der Eden mit Elohim und das Siegel auf ihre Ehe: und ebenso wird nach ihm Eva geschaffen. Aus dem tierischen Teil der Eden entstehen die Tiere. Nun ändert sich das Bild, und Eden wird zur Feindin des Menschengeschlechts. Sie gibt ihren zwölf Engeln Gewalt, der Welt Übles anzutun. Die teilen sich in vier Gruppen — was in der Bibel durch die vier Ströme des Paradieses versinnbildlicht ist — und in abgemessenen Zeiten und Abständen wandern sie ihre kreisförmige Bahn: ihre jeweilige Stellung bestimmt die Stärke ihrer Wirkung auf die Erde. Und warum dieser Zorn der Eden? Einst wollte Elohim in die höheren Regionen des Himmels aufsteigen um zu schauen, ob er seine Welt noch verbessern könne, und seine Engel nahm er mit: aber Eden ließ er zurück, da sie mit ihrer Erdenschwere dem Gatten nicht folgen mochte. Dort schaute er nun das überirdische Licht, die Himmelspforte tat sich auf, und er stand vor dem „Guten", der ihn einlud, zu seiner Rechten hinzusitzen. Da rief er erschüttert: „Laß mich, Herr, die Welt vernichten, die ich geschaffen habe: denn mein Geist steckt gebunden in den Menschen und ich will ihn wieder haben!" Der Gute wehrt ihm, Böses zu tun und rät ihm, oben zu bleiben und die Welt der Eden zu überlassen: und so handelt er. Da trauert Eden, weil ihr Gatte sie verlassen hat, und beschließt, sich an dem Geist Elohims zu rächen, der in den Men-

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sehen wohnt. Ihre Engel werden die Mittler ihrer Feindschaft. Babel, das ist Aphrodite, trägt Unzucht und Ehescheidung unter die Menschen, und Naasch quält sie auf andere Weise. Nun aber sendet Elohim seinen dritten Engel Baruch zu Hilfe. Der warnt die Menschen, von dem Baum der Erkenntnis zu essen, das heißt aber von Naasch zu lernen. Von allen anderen Bäumen dürfen sie essen (Gen. 2,16), denn die elf andern Engel haben wohl Leidenschaften, aber keine Gesetzwidrigkeit, Naasch allein macht eine Ausnahme. Er verführt Eva zum Ehebruch, Adam zu perverser Unzucht. Und nun wirkte Böses und Gutes auf die Menschheit ein, beides im letzten Grunde vom Vater Elohim her: sein Aufstieg zum „Guten" zeigte den Emporstrebenden den Weg, aber der Verrat an Eden ließ alle Übel über den in den Menschen wohnenden Geist hereinbrechen. Wieder kam Baruch zu Moses und forderte die Kinder der Israel auf, sich zum „Guten" hinzuwenden, aber wiederum reizte Naasch die Triebe der von Eden stammenden Seele wider den Geist, und auch die in den Propheten wirksamen Mahnungen Baruchs wurden mit Erfolg bekämpft. Zuletzt wandte sich Elohim zu den Heiden und wählte sich den Herakles zum Propheten; er kämpfte siegreich gegen die 12 Engel, was der Mythos als die 12 Arbeiten des Herakles feiert, um schließlich doch der Liebesgewalt der Omphale zu erliegen, die keine andere war als Babel-Aphrodite. Sie nimmt ihm seine Stärke, das heißt sie läßt ihn die Gebote Baruchs vergessen, und hüllt ihn in ihre Kleider, nämlich in die Kräfte der Eden ein. Seine Mission war vergeblich. Zuletzt wird Baruch in den Tagen des Herodes nach Nazareth gesandt zu Jesus, dem Sohne des Joseph und der Maria, der gerade als zwölfjähriger Knabe die Schafe hütet. „Predige das Wort den Menschen — so wird ihm befohlen — und künde ihnen vom Vater Elohim und vom „Guten", und dann steige zum „Guten" empor und setze dich dort zu unser aller Vater Elohim." Jesus erfüllt das Gebot, und Naasch vermag nicht, ihn zu betören: da bringt er ihn ans Kreuz. Aber Jesus über-

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läßt seinen Leib der Mutter Eden: „Weib, da hast du deinen Sohn" (Joh. 19,26), ruft er ihr zu und übergibt ihr sein psychisches, irdisches Teil, seinen Geist aber befiehlt er in die Hände des Vaters und entschwebt zum „Guten". Damit ist dieser Mythos zu Ende. Wir erfahren noch weiter, wie auch andere griechische Mythen, wie Bibelworte von ihm aus gedeutet werden, und Hippolyt versäumt nicht, uns den Treueid der Sekte mitzuteilen, sowie von dem Trunk des Lebenswassers und der Taufe in diesem himmlischen Quell zu erzählen, die auch Elohim erfuhr und die jede Reue tilgt, während die irdischen Menschen und die Psychiker sich in irdischem Wasser taufen. In diesem kunstvoll gebauten Mythos lernen wir nun eine Fülle von charakteristischen Vorstellungsformen gnostischen Denkens kennen, die unsere bisher gewonnene Anschauung beträchtlich erweitern. Zunächst beobachten wir auch hier die Vorliebe für engen Anschluß an heilige Texte, deren Wortlaut allegorisch gedeutet die Ausgestaltung der Lehrsätze in vielen Einzelheiten beeinflußt. Hier werden neben griechischen Mythen vorwiegend alttestamentliche Stellen benutzt, und die mosaische Schöpfungsgeschichte liefert die Bilder für die Schilderung der Anfänge und das Drama des menschlichen Verderbens; dem Alten Testament sind auch die Namen der handelnden Personen entlehnt. Neutestamentliches klingt nur ganz vereinzelt an und kommt erst beim Schlußakt mit dem Auftreten Jesu stärker zur Wirkung: es ist nicht Zufall, daß das Johannesevangelium zitiert wird. Inhaltlich erkennen wir als Grundlage des Ganzen die Erlösungstheologie 1 . Der Mensch besteht aus Niederem und Höherem; sein Geist ist göttlichen Ursprungs, aber in den „psychisch" beseelten Leib gebannt und leidet in dieser Welt. Ihn zu erlösen kommt ein göttlicher Bote, weist ihm den Weg zu Gott und geht ihm voran. Wir haben dasselbe in veränderten Formen schon bei der naassenischen Lehre vom Urmenschen gefunden. Was wir nicht erfahren, was aber sicher in anderen Teilen des Baruchbuches gestanden haben ') o. S. 176.

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Das Baruchbuch des Justin

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wird, ist die Anweisung zur Aneignung der durch Baruch und Jesus bewirkten Erlösung. Sie findet nach allen Analogien zweifellos nicht durch einfaches intellektuelles Annehmen der vorgetragenen Theorien statt, sondern durch mystische und sakramentale Verbindung mit dem Geist des Erlösers und durch eine Lebensführung, die auf Ablösung des im Menschen wohnenden Geistes von den in Leib und Seele sich regenden irdischen Neigungen, dem Lug und Trug der Eden, gerichtet ist. Wir haben dies Schema der Erlösungsreligion auch als Hintergrund der paulinischen Theologie kennengelernt. Der entscheidende Unterschied ist aber, daß die Erlösung bei Paulus eine reine und unbegreifliche Liebestat Gottes an den ihm feindlichen und schuldverhafteten Menschen ist: das hat Marcion in gewissem Sinne begriffen und mit aller Schärfe herausgearbeitet. Und der Geist Christi ist nicht naturhafter Bestandteil des Menschen von der Schöpfung her, sondern himmlisches Geschenk, das die Erlösung bringt. Im Baruchbuch aber ist der menschliche Geist göttlicher Herkunft. Was er leidet, ist nicht in paulinischem Sinne mit eigener Sünde und Schuld verknüpft, sondern Wirkung einer göttlichen Tragödie: und auch bei dieser ist der Schuldbegriff kunstvoll zwischen den beiden hohen Gegenspielern ausbalanciert. So ist die Erlösung für den Vater Elohim eine Notwendigkeit, die er um seiner selbst willen betreiben muß, ja im Grunde eine Selbstbefreiung, denn sein eigener Geist ist es ja, den er aus den Fesseln des Irdischen rettet. Die Form der Erlösung ist der Aufstieg zu Gott, und es wird auch in dieser Sekte nicht an Darstellungen der „Himmelsreise der Seele" oder vielmehr nach ihrer Ausdrucksweise „des Geistes" gefehlt haben. Der Gottesbegriff ist der gleiche, den wir bereits früher gefunden haben. Der Eine, Große, Gute, Allmächtige bleibt als letzter Quell im Hintergrund. Die agierenden Gottheiten sind minderen Ranges, diesmal männlich und weiblich geschieden: wobei doch den männlichen die höhere Qualität zugebilligt wird. Ihr Gegensatz löst die Dramatik des Erlösungsmysteriums aus. Auch Astraltheologie spielt hinein: die zwölf Engel ») o. S. 287.

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der Eden laufen ihre Kreisbahn und treten abwechselnd ihre Herrschaft über die irdischen Geschicke an, weil sie die Zeichen des Tierkreises sind. Bei Elohim sowohl wie bei Eden wird betont, daß der „dritte" Engel der Bote ihrer Wünsche ist: ob von hier aus direkt oder auf dem Umweg über eine iranische Vorstellung eine Verbindung mit dem „dritten Gesandten" Manis besteht 1 , wird man fragen dürfen. Prüfen wir nun das Verhältnis dieser Gnosis zum Christentum, so wird das Ergebnis doch etwas anders lauten als bei den Naassenern. Zunächst stellen wir fest, daß das jüdische Element überaus stark hervortritt. Nicht umsonst heißt der rettende Gottesbote Baruch, und man kann ruhig diese Gnosis als wurzelhaft jüdisch bezeichnen, das heißt annehmen, daß die alttestamentlichen Elemente von Anfang an zum Bestände des Materials gehört haben, aus dem das System aufgebaut worden ist. Mit den christlichen Stücken steht es anders. Erst am Ende, bei der Erlösung tritt unvermutet Jesus auf, und wir sind etwas erstaunt, von ihm zu hören, nachdem uns ausdrücklich versichert war, „zuletzt" sei Baruch von den Juden zu den Heiden gegangen und habe Herakles ausersehen. Er kehrt dann wunderlicherweise reumütig zu den Juden zurück und wendet sich — wieder „zuletzt" — an Jesus von Nazareth. Offenbar fehlte im ursprünglichen Entwurf Jesus, und Herakles war der Heros der Erlösung, nachdem er sich aus den Netzen der Omphale befreit und damit der Menschheit das rettende Vorbild gegeben hatte. Der Herakles des griechischen Mythos bleibt doch eben nicht in den Banden des Weibes, sondern fährt gen Himmel und wird unter die Götter aufgenommen. Dann ist auch formell ein runder Abschluß vorhanden, indem die Figur des Herakles Ausgangspunkt und Endziel des Mythos bildet. Erst später ist die Gestalt Jesu nachgetragen, ihr Kreuzestod in der üblichen Weise aus der Feindschaft der Herren dieser Welt, hier also der Eden, erklärt und der Tod als eine Tennung seiner göttlichen und irdischen Bestandteile begriffen: auch das entspricht mitsamt ') Bousset, Hauptprobleme der Gnosis 74 f. Η. H. Schaeder, Urform u. Fortbildung d. manichäischen Systems (1927) 102.

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der Verwertung des letzten Kreuzeswortes der anderswo üblichen gnostischen Auffassung. Wir haben hier eine Entlehnung aus einem andern bereits verchristlichten System vor uns. Die bisher vorgelegten Beispiele haben uns gezeigt, daß die Gnosis ohne irgend einen christlichen Einfluß entstanden ist. Sie ist vielmehr älter als das Christentum und eine Erscheinung des heidnischen Synkretismus, der griechische und orientalische Religiosität in den mannigfachsten Formen mischt und mit mystischen Zügen ausstattet, gleichzeitig aber auch mit philosophischen Begriffen und Gedankenfolgen durchsetzt. Das dank seiner Propaganda im Vordringen befindliche Judentum ist in beträchtlichem Maße an der Ausbildung der Gnosis beteiligt. Aber das Christentum ist in seiner entscheidenden Frühzeit von der Bewegung, die damals offenbar selbst noch in schwachen Anfängen stand, so gut wie unberührt. Erst im Kolosserbrief des Paulus merken wir die Abwehr eines im Lykostal aufgetauchten Einflusses, der gnostische Züge trägt und bei Paulus selbst ein positives Eingehen auf die Denk- und Ausdrucksweise der Gegner zur Folge hat. Und dann kommen immer neue Anzeichen ähnlicher Wechselwirkung: wir haben sie bei den johanneischen Schriften näher beleuchtet. Aber erst jetzt, nachdem wir einige Musterbeispiele einfachster Gnosis kennengelernt haben, können wir die Frage nach den möglichen Einwirkungen solcher Lehren auf die christliche Gemeinde mit größerer Anschaulichkeit erfassen. Was konnten diese Gebilde, die dem Christentum doch ganz fern standen, dem christlichen Empfinden bieten? So lange sie rein heidnisch-synkretistisch waren, nichts Erhebliches. Denn das Bedeutsamste, das Schema der Erlösungstheologie, hatte Paulus bereits in klassische Form gekleidet, die man höchstens noch etwas ausgestalten konnte. Enthusiasmus, Prophetentum und Sakramentsmystik vermochten aus gnostischen Gemeinden Anregungen zu erfahren, auch der beim antiken Menschen jener Zeit fast unausrottbare Sternglaube konnte samt dem von ihm abhängigen Beobachten bestimmter Tage weiter ausgebaut werden; und die ohnehin

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schon vorhandene und von Paulus in gewissem Sinne sanktionierte asketische Stimmung fand neue Anregungen und Formen. Mit andern Worten, die Gnosis des frühen Typs war imstande, Einzelanstöße in die christliche Gemeinde zu senden, die sich dort in kultischen, ethischen oder spekulativen Besonderheiten geltend machten und toleriert oder bekämpft wurden. Dieser Art sind die meisten Wirkungen, von denen wir bis zum Ende des ersten Jahrhunderts hören. Anders wurde die Lage schon, sobald eine stark judaisierte Gnosis in das Gesichtsfeld christlicher Gemeinden trat und die Augen für eine neue Betrachtungsweise des Alten Testaments öffnete. Allegorische Umdeutung des heiligen Buches war ohnehin für die Christen eine Selbstverständlichkeit: hier fand man dieselbe Methode, aber mit größerer Kühnheit und erstaunlich neuen Ergebnissen angewandt. Nahm man sie an, so vergrößerte sich der Abstand vom rechtgläubigen Judentum, was als reiner Gewinn empfunden wurde. Zugleich aber lösten sich zahlreiche Fragen und Zweifel, wenn man die Schöpfung dieser Welt und ihrer Mängel, den Sündenfall und alle bösen Neigungen des Leibes samt allen bedenklichen Geschichten alttestamentlicher Gottesmänner nicht mehr mit Gott, dem Vater des Herrn Jesu Christi, in Verbindung zu bringen brauchte, sondern sie einem göttlichen Mittelwesen zuschreiben durfte. Wenn man schon die Offenbarung eines solchen Gotteswesens, des Logos oder des Geistes, in Jesus annahm, warum sollte man nicht noch eine weitere Gottheit von mehr oder minder sekundärer Art im Gott des Alten Testamentes sehen und damit eine klarere und von ethischen Bedenken nicht gedrückte Gottesanschauung gewinnen? Und reizte nicht der Blick in die Geheimnisse des überweltlichen Geschehens die Wißbegier auch des einfachen Christen, der doch bis auf den heutigen Tag immer aufs neue eifrig bemüht ist, zu ergründen, was Paulus nicht minder scharf wie Jesus aus dem Gebiet der Religion in das der „fleischlichen Weisheit" und unberufener Neugier verwiesen hat?

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Gnosis und Christentum

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War man aber einmal so weit, dann folgte der nächste Schritt fast zwangsläufig: man mußte danach ausschauen, nun auch der Person Christi in dem System neuer Erkenntnis einen Platz anzuweisen. Und da gab es nicht wenige Anknüpfungspunkte für spekulative Konstruktionen. Eine der einfachsten Formen haben wir eben in dem gerade deshalb so lehrreichen Baruchbuch kennengelernt. Dieser gnostische Mythos in seiner christianisierten Gestalt konnte als legitimer Ausbau urchristlicher Lehren ausgegeben werden und eine Gemeinde um sich scharen, die sich als die echten und mit aller Einsicht begabten Christen über die in den Niederungen der großkirchlichen Tradition einhertrottenden Massen erhaben dünkten. Solange solche neuen Systeme die heidnischen Elemente stark und derb hervortreten ließen und Christus nur als einen Gottesboten neben andern ansahen, war ihre Anziehungskraft für normale Christen gering. Gefährlich wurde die Gnosis erst, wenn sie Systeme ausbaute, die Christus in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rückten und die stimmungsmäßigen Abneigungen der Gemeinde berücksichtigten. Und mit solchen Gnostikern ist um die Mitte des zweiten Jahrhunderts ein Kampf entbrannt, dessen Spuren die Kirche bis zum heutigen Tage trägt. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Entwicklung der Gnosis genauer zu verfolgen oder gar von der überreichen Fülle der Systeme eine Anschauung zu geben. Die Gnosis als bedeutsame Erscheinung der beginnenden Spätantike ist eine Bewegung eigner Art, die im Rahmen der allgemeinen Religionsgeschichte des ausgehenden Altertums gewürdigt werden muß, und die ihre Ausläufer räumlich wie zeitlich weit über die unserer kirchengeschichtlichen Darstellung gesteckten Grenzen hinaus erstreckt. Hier kommt sie nur insoweit in Betracht, als das Christentum von ihr ergriffen und die Entwicklung der Kirche durch die Auseinandersetzungen mit ihr beeinflußt ist. Darum ist Beschränkung auf die entscheidenden Typen nicht nur erlaubt, sondern geboten: und es sollen von der überwältigenden Masse der gnostischen Lehr-

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gebäude nur die beiden reifsten behandelt werden: das heißt für uns aber diejenigen, welche dem traditionellen Christentum am nächsten gekommen sind, die Gemeinden am stärksten beeinflußten und dementsprechend unter der schärfsten Gegenwirkung der Kirche gestanden haben. Das sind die Lehren des Basilides und des Valentin. Es sind aber zugleich auch wirklich diejenigen, welche in dem Geisteskampf der alten Zeit allein höhere Bedeutung für sich beanspruchen dürfen. Ohne den christlichen Einschlag wäre die ganze Gnosis geschichtlich so unbeachtet und verborgen geblieben, wie all der übrige mystische und magische Spuk jener Periode. Auf die Höhe literarischer Bedeutung innerhalb des allgemeinen Geisteslebens sind die Gnostiker ohnehin nicht gestiegen. Die Literatur nimmt gelegentlich Kostproben von ihren Gerichten, wie wir bei Dion gesehen haben, aber denkt nicht daran, sie als Gleichberechtigte zuzulassen. Und doch sind gerade von der Gnosis Wirkungen ausgegangen, welche die Kirchenmänner zum literarischen Aufstieg befähigt haben. Das kommt aber erst nach Menschenaltern zutage. Sobald wir nun an die Aufgabe herantreten, über die Lehren des Basilides zu berichten, zeigt sich uns sofort eine für dies ganze Gebiet charakteristische Schwierigkeit, die wir bereits früher angedeutet haben. Alle diese Systeme sind in fortwährender und schneller Entwicklung begriffen, und die kirchlichen Polemiker haben naturgemäß kein Interesse daran, antiquarische Untersuchungen anzustellen, sondern bekämpfen die Lehre in dem Zustand, wie er gerade in ihrer Gegenwart auf die Gemeinde einwirkt. Das ist bei Basilides besonders auffällig. Clemens von Alexandrien hat sich die Mühe gegeben, Originalschriften des Basilides nachzuschlagen, die er neben den Aussagen seiner Schüler zitiert 1 . Irenaeus von Lyon® bringt aber um 180 eine Darstellung des Systems, die in manchen Punkten den Eindruck einer Weiterbildung macht, und dasselbe gilt von den verschiedenen Berichten ') Harnack, Altchristi. Literatur 1,157—161; Hilgenfeld, Ketzergesch. d. Urchristentums 207—217. Vgl. E. de Faye, Gnostiques et Gnosticisme* 39—56. *) Iren. I 24, 3—6 (1,198—203 ed. Harvey).

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Basilides

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des Hippolyt 1 . Indessen treten doch die Dinge, auf die es uns hier ankommt, mit genügender Deutlichkeit zutage. Basilides lebte in der Zeit des Hadrian und Antoninus Pius (117—161) in Ägypten, vorwiegend in Alexandria, hat aber Missionsreisen durch die Gaue des Delta gemacht'. Er hat ein umfangreiches Werk geschrieben, das den Titel „Exegetica" trug und auch wirklich ein Kommentar zum Evangelium gewesen ist. Wir haben einige Bruchstücke daraus erhalten. Das 13. Buch' behandelte das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus und fand darin die Lehre vom wurzellosen und unräumlichen Ursprung der Natur angedeutet — wenn wir die rätselhaften Worte richtig verstehen. Unser Gewährsmann zitiert aus diesem Buch einen Bericht über den Dualismus der „Barbaren", will sagen der Perser, in dem der Kampf des Lichtes mit der Finsternis und die daraus resultierende Besonderheit des Geschaffenen dargelegt wird. Aber wie sich Basilides selbst zu dieser Theorie gestellt hat, erfahren wir leider nicht. Aus dem 23. Buch zitiert Clemens von Alexandrien 4 mehrere Stellen. Er behandelt darin das Problem, wieso Gott das unschuldige Leiden der Märtyrer zulassen könne. Seine Antwort ist die, daß es unschuldiges Leiden überhaupt nicht gibt, weil das der Gerechtigkeit Gottes widerstreiten würde. Der Märtyrer leidet zur Strafe für seine anderweitigen, verborgenen Sünden. Und sollten solche wirklich nicht vorhanden sein — ein seltener Fall — so wäre sein Leiden dem der unmündigen Kinder gleichzusetzen. Auch diese haben in sich die Anlage zur Sünde, und es ist nicht ihr Verdienst, daß diese Neigung nicht praktisch zur tätlichen Auswirkung gekommen ist. Der Wille zum Bösen ist jedenfalls vorhanden, und der ist schlecht und verdient die Strafe, nicht erst die vollbrachte Tat: der Hinweis auf die Bergpredigt mit ihrer Beurteilung von Ehebruch und Mord ist unverkennbar. ') Hippol., Ref. VII 14—27 und im Syntagma bei Epiph. 24 (1, 256—267 Holl). «) Clem., Strom. VII17,106,4; Epiph. 24,1,1. ») Hegemonius, Acta Archelai 67, 4—11 ed. Beesen. 4 ) Clem., Strom IV 12, 81, 1—88, 5.

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So ist ihm die formale, philosophisch erfaßte Gerechtigkeit Gottes ein Grundpostulat seiner Weltanschauung, das er ohne Konzessionen auch angesichts der Widersprüche der Lebenserfahrung durchführt. Und sein Sündenbegriff ist in gewissem Sinne streng und tief, an Paulus und der Bergpredigt geschult. So ist ihm jedes Leiden gerechte Strafe für Sünden und insofern etwas Gutes. Strafe wohl auch für Sünden, die in einem früheren Leben begangen sind. Denn von der Seelenwanderung aus deutet er das alttestamentliche Wort von der Strafe bis ins dritte und vierte Glied, und nur durch diese Annahme wird ihm das Pauluswort verständlich „Ich lebte einst ohne Gesetz" (Rom. 7, 9): das kann nicht auf eine menschliche Existenz zutreffen, die doch stets an ein Gesetz gebunden ist, sondern muß von einem Leben in einem andern, etwa tierischen Körper gesagt sein1. Die zur Erlösung bestimmte, auserwählte Seele ist überweltlicher Natur und der Erde fremd. Ihre Gotteserkenntnis erwächst aus dieser ihrer Natur, und ihr Glaube ist nicht eine Funktion der Seele, sondern eine Substanz und ihr herrlichster Schmuck. So haben die Erlösten durch Gottes Willen drei Dinge empfangen: erstens alles lieb zu haben, weil alles in Beziehung zum All steht, zweitens nichts zu begehren und drittens nichts zu hassen. So bleiben sie auch im Innersten unberührt von den Angriffen dieser Welt: „Leid und Furcht kommt zu den Dingen hinzu wie der Rost zum Eisen." So werden auch die aus Unwissenheit oder unfreiwillig begangenen Sünden vergeben, also einfach abgewaschen. Wir dürfen ergänzen: nur wenn sie aus dem Willen geboren sind und dadurch die Substanz berührt haben, müssen sie durch Leid gebüßt werden. Fügen wir noch die Mitteilung hinzu, daß Basilides die Gerechtigkeit personifiziert und samt ihrer Tochter Irene, dem Frieden, der höchsten Ogdoas eingegliedert habe, so sind die authentischen Stücke aus seinen Schriften erschöpft*. ') Clem., Strom IV 12,83,2; Exc. ex Theod. 28. Origenes in epist. ad Rom. V; 6. 336 Lommatzsch. ') Clem., Strom. IV 12,88, 5 (nicht gleich II 3, 10, 1—3). V;l,3,2. IV 12,86,1; 88,5. 24,153,3.25,162,1.

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Basilides

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Sie ergeben freilich kein rundes Bild, aber doch nicht wenige Anhaltspunkte, die sich durch ergänzende Nachrichten miteinander verbinden lassen und einen Einblick in die Denkweise des Basilides ermöglichen. Neben diesen wörtlich aus Schriften des Meisters zitierten Stücken bringen unsere besten Quellen nicht wenige Angaben über Meinungen der „Basilidianer" und führen dabei namentlich Schriften seines Sohnes Isidoros an, der auch „Exegetica" geschrieben hat, aber Worte eines Propheten Parchor darin auslegt. Übrigens hatte auch Basilides selbst seine apokryphen Autoritäten: einen Glaukias, der als Dolmetscher des Petrus bezeichnet wurde, und den Matthias, von dessen Traditionen wir auch anderwärts hören; noch andere Prophetennamen werden uns genannt1, Barkoph und Barkabbas „und sonstige Phantasiegebilde". Prophetengabe ist für Isidor und offenbar auch für Basilides ein besonderes Gottesgeschenk an die Auserwählten, und wenn die Attiker dem Sokrates, Aristoteles allen Menschen ein vorahnendes Daimonion zuschreiben, so ist dies nur die Anerkennung einer von den Propheten gepredigten theologischen Wahrheit, die jene Philosophen nicht selbst gefunden, sondern sich nur angeeignet haben. So Isidor in seinem Kommentar zu Parchor1. Ein ander Mal hören wir*, daß die Basilidianer die Leidenschaften als „Anhängsel" bezeichnen, als Geister, die bei einer uranfänglichen Störung sich an die vernünftige Seele geheftet haben, wozu dann später noch allerlei Tier- und Pflanzengeister gekommen sind, welche die Seele zur Nachahmung ihrer „Eigentümlichkeiten" mit Hilfe der Phantasie reizen. Die Gefahr dieser Vorstellung für das sittliche Verhalten hat Isidor klar erkannt und in seiner Schrift „von der Doppelseele" den Hinweis auf die Macht dieser „angehängten" Kräfte nicht als Entschuldigungsgrund für Sünden gelten lassen. „Es gilt, mit dem vernünftigen Teil Herr zu bleiben und >) Clem., Strom. VII17,106,4; 108,1. Agrippa Castor bei Euseb. KG IV 7, 7. ') Clem., Strom. VI 6, 53, 2—5. ') Clem., Strom. II 20, 112, 1—114, 1.

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die niedere Natur in uns zu überwinden." Wir haben eben bei Basilides selbst in dem Bilde vom Rost am Eisen das Verhältnis der Leidenschaften zur Seele verdeutlicht gefunden: hier haben wir die weitere Ausführung der Theorie. Die Stellung der Schule zur Ehe behandelt ein gleichfalls durch Clemens 1 erhaltenes Fragment. Das Jesuswort von den dreierlei Eunuchen (Matth. 19,12) wird ganz zutreffend erklärt und die „Eunuchen um des Himmelreichs willen" auf solche gedeutet, welche die Ehe um der mit ihr verbundenen irdischen Sorge willen scheuen — was etwa auf des Paulus persönliche Meinung hinausläuft. Aber „heiraten ist besser als brennen" sagt der Apostel: wer ständig auf der Hut sein muß, um sich rein zu bewahren, der lebt in geteilter Hoffnung: er tut besser zu heiraten. Wer aber aus irgendeinem Grunde nicht heiraten will und sich vor Sünde fürchtet, der trenne sich nicht von den Brüdern. In der heiligen Gemeinschaft kann ihm nichts widerfahren, ihre Handauflegung wird ihm Hilfe bringen. Er muß nur das Gute tun wollen, dann wird es gelingen. Bisweilen sagen wir freilich mit dem Munde: Wir wollen nicht sündigen, aber unser Sinnen steht nach der Sünde. Wer so denkt, der gibt seinem Begehren bloß aus Angst nicht nach, weil er die Strafe fürchtet. Es gibt im Menschenleben Dinge, die notwendig und natürlich, andere die nur natürlich, aber nicht notwendig sind. Die Kleidung ist notwendig und natürlich, der Geschlechtsverkehr ist natürlich, aber nicht notwendig. Ob die 200 Jahre später von Epiphanius angeblich beobachteten 1 sexuellen Praktiken einer gnostischen Sekte irgend etwas mit Basilides zu tun haben, ist mehr als zweifelhaft. Wichtig ist uns weiterhin die Nachricht®, daß die Basilidianer die Taufe Christi durch eine dem Tag vorausgehende Nachtfeier festlich begehen und zwar am 10. oder 6. Januar, also in Anknüpfung an ein altägyptisches Osirisfest, bei dem 1) d e m . , Strom. III 1, 1—3, 2 ( = Epiph. haer. 32, 4, 4—9). ») Epiph. haer. 26, 4—5; vgl. 26, 17, 4 - 9 . ») Clem., Strom. I 21, 146, 1—2; vgl. K. Holl. Ges. Aufsätze 2. 143. 152—154.

Basilides

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in der Nacht von allem Volk heiliges Wasser aus dem Nil geschöpft wurde. Zu diesen Einzelheiten einer vom Zufall beherrschten Überlieferung fügen wir nun den Überblick über das Basilidianische System, den uns Irenaeus 1 vorlegt. In einsamer Höhe steht der „ungeborene und namenlose Vater", der als ersten den Nus, den Verstand, erzeugt hat; von diesem wird der Logos gezeugt, und so geht die Reihe der Emanationen weiter über Phronesis, Sophia und Dynamis — Vernunft, Weisheit, Kraft — zu den hohen Gewalten und Erzengeln, die im ersten Himmel wohnen, den sie geschaffen haben. Aber aus diesem Kreise erfolgt eine neue Emanation von Geistermächten, die sich einen zweiten Himmel schaffen, und so immer weiter bis zu der heiligen Zahl von 365 Himmeln, die das Zauberwort Abrasax durch die Summe der Zahlwerte seiner griechischen Buchstaben versinnbildlicht. Der unterste dieser Himmel ist der, den wir erblicken, und seine Bewohner sind es, die unsre Erde geschaffen und ihre Herrschaft unter sich geteilt haben. Ihr Oberster ist der Judengott, der alle andern Völker seinen Auserwählten unterwerfen will und dadurch die andern Engel und ihre Nationen gegen sich und sein Volk aufbringt. Da nun der namenlose Vater die Not der Menschen sah, sandte er seinen Erstgeborenen, den Nus, als Christus, um diejenigen, die an ihn glauben würden, von der Herrschaft der Weltschöpfer zu befreien. Er erschien nun als Mensch auf Erden, offenbarte sich den Völkern und wirkte Wunder. Aber er trug die Menschengestalt nur als Schein, da er in Wahrheit doch ein unkörperliches Wesen war. So hat er auch nicht wirklich am Kreuz gelitten, sondern auf dem Leidensweg das Kreuz an Simon von Kyrene abgegeben, dem er seine Gestalt verlieh und der als Jesus getötet wurde, während der wahre Jesus Christus in der Figur des Simon daneben stand und der Feinde lachte. Dann fuhr er, allen gegnerischen Mächten unsichtbar, zum Vater auf. ») Iren. I 24.

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Wer dies Geheimnis weiß, der ist befreit von der Macht der Weltschöpfer: er muß bekennen den, der in Menschengestalt gekommen ist und den man für gekreuzigt hielt, der Jesus hieß und vom Vater gesandt war, um nach seinem Heilsplan (Oikonomia) die Werke der Weltschöpfer aufzulösen. Wer aber Jesus den Gekreuzigten bekennt, der ist noch Sklav und unter der Macht der Engel, die den Körper geschaffen haben. Das Heil gilt nur der Seele, denn der Körper ist seinem Wesen nach vergänglich. Die Prophezeiungen stammen von den Weltschöpfern und speziell das Gesetz von ihrem Obersten, der sein Judenvolk sich aus Ägypten geholt hat. Man kümmert sich bei den Basilidianern nicht um das Verbot von Opferfleisch und anderen Dingen und ist auch auf geschlechtlichem Gebiet unbedenklich. Sie pflegen Magie, Bildwerke, Beschwörungen und sonstige Zauberei. Den Engeln dichten sie Namen an und verteilen sie auf ihre 365 Himmel, und so hat auch der Heiland bei seinem Ab- und Aufstieg durch die Geisterreiche den Namen Kavlakav getragen — eine hebräische Gelehrtenreminiszenz, die aus Jesaia 28, 10 stammt und schon bei den Naassenern 1 als Name des Urmenschen begegnet. Wer dies alles in seinen Zusammenhängen weiß und die Engelnamen kennt, der wird für alle Engel und Geistermächte unsichtbar und ungreifbar wie Kavlakav; er geht unerkannt durch alle himmlischen Regionen hindurch. Das sind freilich Geheimnisse, die nur für wenige bestimmt sind und von den Eingeweihten in strengster Verschwiegenheit gehütet werden müssen. So Irenaeus. Was uns dieser Bericht nicht sagt, was wir aber durch die vorher behandelten Einzelnotizen feststellen können, ist die Grundlehre, daß die Menschenseele himmlischen Ursprungs und mit dem Sohn des höchsten Gottes, dem ErlöserNus, verwandt ist. Darum steigt er zur Erde nieder — ähnlich wie im Baruchbuch gelehrt wird — und erweckt die göttliche Kraft der Menschenseele wieder zu neuem Leben. Jeder, der von dieser Botschaft erreicht und innerlich ergriffen wird, ge>) Hippol., Ref. V 7, 41, 4.

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Basilides

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staltet sich um zu einem Nachbild des Urtypus. Er erhält die Kräfte und Fähigkeiten des Erlösers, so daß er nun selbst unerkannt und ungehindert den Rückweg in die himmlische Heimat finden kann, wo der schlechthin gute und ebenso absolut gerechte Gott in unnahbarer Höhe und Ferne thront. Wir haben den gnostischen Gottesbegriff, gnostische Erlösungslehre, gnostische Kosmogonie mit Einbeziehung des als Geist von niederer Stufe gewerteten Judengottes, gnostische Anthropologie — dazu eine kräftige Neigung zur Magie und allerlei Geheimniskrämerei—und doch ist eins sicher: Basilides will Christ sein. In seinem System ist Christus nicht ein Dämon untervielen, sondern der eingeborene Sohn des höchsten Gottes, seine einzige und vollkommene Offenbarung, durch den alles andere geschaffen ist, und zugleich der Erlöser der Menschheit, der dieAuserwählten aus allen Völkern zu Gott zurückführt. Wir haben die Neigung der Gnostiker kennengelernt, ihre Schriften als Auslegungen heiliger Bücher zu gestalten. Basilides ist der erste gewesen, der ein christliches Buch zugrunde legte, und zwar kein geringeres als „das Evangelium". Wir können nicht sagen, ob eins unserer vier Evangelien oder eine von Basilides selbst angefertigte Auswahl oder Evangelienharmonie den Text bildete: daß es kein Apokryphon war, lehren die erhaltenen Evangelienzitate der ganzen Schule. Das Bedeutsamste daran aber ist die Tatsache, daß wir demnach hier in einer gnostischen Lehrschrift den überhaupt ersten Kommentar zu einem Evangelium haben: kein katholischer Kirchenchrist hatte bis dahin ein Evangelium zum Gegenstand einer fortlaufenden Auslegung gemacht, und es hat auch noch eine erhebliche Zeit gedauert, bis Papias seine Erläuterung von Herrenworten und Theophilus von Antiochia (um 180) seinen Evangelienkommentar schrieb. Noch mehr: Basilides hat das Evangelium als heiligen Text behandelt und dementsprechend auch allegorisch gedeutet: genau nach der gleichen Methode, mit der die Kirche das Alte Testament auszulegen pflegte. Die Kirche war auch in diesem Punkte noch nicht so weit vorgeschritten, daß sie die Evangelien als heilige Texte

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dem altüberlieferten Buch gleichgestellt hätte; die Bildung des neutestamentlichen Kanons war noch im Stadium der unbewußten Entwicklung. Die Gnosis hat auch hier die kirchliche Einsicht geweckt und neue Regsamkeit wachgerufen; aber eben dadurch, daß sie vorangegangen ist. Wenn man die Lehren des Basilides betrachtet, so kann man sich unschwer eine Vorstellung davon machen, wie verführerisch sie auf manche Kirchenchristen wirken mußten. Synkretistisches Heidentum, das sofort abstoßend gewirkt hätte, war nirgends zu erblicken; dafür stand Christus hell und herrlich im Vordergrund, als Gottes Sohn bei streng gewahrtem Monotheismus. Daß es unendliche Engelscharen gab, wußte man in der Kirche auch. Basilides kannte nun auch ihre Namen und ihr gegenseitiges Verhältnis und wußte viel über Entstehung von Himmel und Erde; das war doch nicht verboten? Und wenn er von göttlichem Ursprung der Seele redete und darauf seine Erlösungslehre begründete, was tat er denn anders als der Verfasser der Apostelgeschichte, der (17,23.28) sogar vom Apostel Paulus berichtete, er habe vom „Unbekannten Gott" gepredigt und den Aratos zitiert, „denn wir sind Seines Geschlechtes". Nun eben das sagte Basilides auch, nur viel genauer und deutlicher. Anstößig war eigentlich nur eins: das Alte Testament nahm er nicht für voll, von den Prophezeiungen hielt er nicht viel und vom Gesetz gar nichts, und das Volk Israel erkannte er nicht als auserwähltes Gottesvolk an. Da predigte der kirchliche Lehrer freilich anders, aber war es denn so sicher, daß er recht hatte? Paulus selbst hatte doch (Gal. 3,19) gesagt, das Gesetz sei von den Engeln gegeben, und ein so autoritativer Mann wie der Verfasser des Hebräerbriefs (2,2) hatte es nachdrücklich wiederholt. Genau das Gleiche behauptete doch Basilides, aber er befreite dann folgerichtig auch das christliche Denken von allen Ärgernissen, die das alte Judenbuch dem sittlichen Empfinden des Christen, ja sogar seinem Gottesbegriff bot. Dafür stellte er das Evangelium als heiliges Buch mit verdoppelter Ehrfurcht in den Mittelpunkt der christlichen Belehrung.

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Basilides. Valentinus

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Das alles und noch viel mehr konnte man sich sagen und hat man sich gesagt. Und wer völlig gewonnen war, trat mit Gleichgesinnten zu einer Sondergemeinde des neuen Lehrers zusammen und wurde Sektierer. Aber viel größer war die Zahl derer, die in der Kirche blieben und solche Meinungen für durchaus vereinbar mit der alten Lehre hielten: sie öffneten der Gnosis die Türen der Gemeinden und schufen ahnungslos der Kirche die Gefahr, zu deren Abwehr sie bald alle ihre Kräfte aufbieten mußte: die Gefahr, von der stärkeren Kraft der Gnosis überrannt und in den religiösen Todeskampf der Antike hineingezogen zu werden. Die umfassendste und wirksamste Ausbildung einer christlichen Gnosis geht auf Valentinus zurück. Er ist von Ägypten nach Rom gekommen, wo er um 160—170 eine längere Wirksamkeit entfaltete, ja sogar Bischof zu werden hoffte. Später scheint er Rom verlassen zu haben und nach Cypern gegangen zu sein1. Seine Lehre und seine Schule in ihren mannigfachen Verzweigungen hat mit der Kirche am kräftigsten gerungen und die nachdrücklichste Abwehr hervorgerufen. Wir vernehmen aus kirchlichen Kreisen* laute Klage darüber, daß die Valentinianer in den Gemeinden Predigten halten, die völlig der üblichen Ausdrucksweise angepaßt sind und die Einfältigen betören. Und dann beschweren sich die Verführer, daß sie als Häretiker ferngehalten würden, während sie doch dasselbe sagten und lehrten wie die Kirchenmänner. Eben darum sind sie stets als die gefährlichsten Gegner der Kirche angesehen worden und waren es auch, weil sie sich ehrlich bemühten, ihr gerecht zu werden, und sie als Vorstufe der vollen Erkenntnis anerkennen wollten. So fließen auch die Quellen für die Gnosis Valentins am reichlichsten, und wir verfügen neben zuverlässigen Berichten über ein nicht unerhebliches Material an originalen, wenn auch nur bruckstückweise erhaltenen Äußerungen des Meisters und ») Epiph. haer. 31. 7, 1—2; Iren. III 4, 3 (2, 17 H.); Tertull. adv. Valent 4. *) Irenaeus III 15. 2 (2. 79 Η.); E. de Faye, Gnostiques 57—141, 251—267.

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seiner Schüler1. Freilich gelten die methodischen Einschränkungen, die wir bei Basilides machen müssen, auch hier. Aber es ist durch Vergleichung verschiedener Quellen immerhin möglich, aus dem grundlegenden Bericht des Irenaeus über die ptolemäische Schule eine ältere Gestalt herauszuarbeiten*, die wir wohl dem Valentin selbst zuschreiben dürfen: sie hat schwerlich durch Überarbeitung der Schüler ernstliche Änderungen erfahren.. Uber dem All schwebt in unsichtbaren und unsagbaren Höhen der Urvater, der auchBythos, das Chaos, heißt, unsichtbar, unfaßbar, zeitlos und ungezeugt in ewiger Ruhe, ihm zur Seite seine Ennoia, die auch Sige oder Charis genannt wird, also Gottes Gedanke, Schweigen und Gnade ist. Die Vorstellung derPersonifikation göttlicher Eigenschaften ist uns nun bereits ganz geläufig: neu ist nur hier, daß derUrgott eine Gattin hat. Aber das gehört zum Wesen des Systems, denn bei Valentin erfolgen alle göttlichen Emanationen paarweise; das Mysterium der Ehe (Eph. 5, 32) herrscht schon in der Götterwelt. Dies erste Götterpaar zeugt den Nus oder Monogenes, den Eingeborenen, samt der Aletheia, der Wahrheit, diese Logos und Zoe. Wort und Leben, und aus diesen geht als letztes Paar der oberen Achtheit Anthropos und Ekklesia hervor, der Mensch und die Kirche. Fast alle diese Namen sind mit gutem Bedacht aus dem biblischen Gesichtskreis ausgewählt bis hinauf zum „Chaos" der Genesis und dem Schweigen, aus dem nach der Weisheit Salomonis* Gottes Wort entspringt. Die bei Johannes schon erkennbaren4 Keime der Hypostasierung kommen hier voll zur Entfaltung. Aus Logos und Zoe geht weiter eine Zehnheit von fünf Götterpaaren hervor, aus Anthropos und Ekklesia eine Reihe von sechs Paaren, so daß das „Pleroma", die „Fülle der Gottheit" 5 , aus dreißig „Äonen" besteht, die in Wirklichkeit ') Harnack, Gesch. d. altchristl. Lit. 1, 174—184; Hilgenfeld, Ketzergeschichte 293—308, Ptolemäus 345—368, Marcus 369—383, Herakleon 472—505, Anatolische Schule 505—522. *) Irenaeus I 1—8; vgl. Hippolyt. Ref. VI 21—55 und Ps.-Tertullian adv. omnes haereses 4. Exc. ex Theod. 43—65. Vgl. Karl Müller. Göttinger Nachr. 1920, 205—241. Ed. Schwartz, ebenda 1908, 128 134—139. *) s. o. S. 257 f. 4 ) s.o.S.244. 5) s.o.S.226.

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doch nur als ein von der einen unsagbaren Gottheit ausgehendes Strahlenbündel vorgestellt sind, deren Differenzierung aber den Abstieg von der höchsten zur geminderten Göttlichkeit zum Ausdruck bringen soll. Denn von allen diesen Wesen besitzt nur der Eingeborene Nus die Möglichkeit voller Erkenntnis des höchsten Gottes und kündet den andern von ihm. Er allein ist also das göttliche Offenbarungsprinzip. Und seine Predigt weckt bei allen Sehnsucht nach Gott, die aber ein stilles Verlangen ist. Nur der letzte der 30 Äonen, die Sophia, entwickelt die Sehnsucht zur wilden Leidenschaft und will in stürmischem Vordringen das Wesen des Vaters erfassen. Da wäre sie vom süßen Rauch der Empfindung verschlungen worden und im All zergangen, wenn nicht Horos, der Grenzwächter des Pleroma, sie gehalten, gestützt und zur Besinnung gebracht hätte. Und nun begriff sie, daß der Vater unfaßbar ist und tat ihr früheres Begehren samt der Leidenschaft von sich1: so konnte sie im Pleroma bleiben Jetzt aber bringt der Monogenes auf Geheiß des Urvaters ein neues Paar hervor, Christus und den Heiligen Geist, damit diese das durch das Unterfangen der Sophia gestörte Pleroma wieder in Ordnung bringen. Christus belehrt die Äonen, daß sie ihren Ursprung im Vater, ihre Gestaltung aber durch den Nus haben, während der Geist sie lehrt, wie sie sich einander angleichen, Gott danksagen und so zur wahren Ruhe kommen müssen. Das tun sie daraufhin, und alle werden einander gleich an Form und Sinn, gemeinsam lobsingen sie dem Urvater und bringen dann als vollkommene Frucht des Pleroma Jesus den Heiland hervor, der nach seinem Erzeuger auch Christus oder Logos genannt wird, und den eine Schar von Engeln als Trabanten umgibt*. Die von der Sophia ausgeschiedene und aus dem Pleroma entfernte Sehnsucht, die Enthymesis, ist nun das erste Wesen in der bisher wesenlosen Leere, eine noch formlose pneumal ) Iren. 11, 1—2, 3 (Bd. 1 S. 8—16 ed. Harvey). ') Iren. I 2, 4b—6 (S. 18—23 H.).

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tische Substanz, die vom Christus gestaltet wird und ein persönliches Wesen erhält: es ist die untere Sophia oder mit hebräischem Namen Achamoth. Sie trägt wie ihre Mutter in sich die Sehnsucht nach oben und erfährt das gleiche Leid. Ihrem Drang nach dem Pleroma tritt der Grenzwächter entgegen und scheucht sie mit dem zauberkräftigen Namen Jao zurück. Nun leidet sie die Schmerzen aller Leidenschaften im Übermaß, und daraus entsteht das Urbild der Welt: aus ihrer Liebe zum Lebenspender alles Seelische, aus der Leidenschaft die Materie, und zwar aus ihren Tränen das Feuchte, aus ihrem Lachen das Lichte, aus ihrer Trauer und Angst die Elemente 1 . Da erbarmt sich ihrer auf Bitten der oberen Sophia der Christus und sendet den Soter oder Parakleten zu Hilfe, der sie heilt und „ihre Gnosis gestaltet", so daß sie freudig den Anblick der ihn begleitenden Engel genießt und davon eine pneumatische Substanz gebiert. Aus diesen drei Bestandteilen Materie, Psyche, Pneuma wird nun die Welt geformt, und zwar durch den Demiurgen, den Weltschöpfer, mit seinen sechs Engeln, den die Achamoth aus psychischer Substanz bildet. So entsteht eine neue, niedere „Achtheit" der Achamoth mit den sieben Engelgestalten. Der Demiurg schafft die sieben Himmel für sich und seine Engel und läßt die von der Achamoth vorgebildeten Wesen der Dämonenwelt und der irdischen Elemente entstehen; nach seinem Bild und Gleichnis macht er den Menschen aus Materie und Psyche, Leib und Seele. Aber ohne das er es ahnt, sät Achamoth die von ihr geborene pneumatische Substanz in die Menschenseele und bereitet sie dadurch auf den künftigen Empfang des vollkommenen Logos vor. Die Erlösung der Menschheit bedeutet also Befreiung ihres nach Gott verlangenden Pneuma aus der Verbindung mit niederen Substanzen1. Es wiederholt sich also das bereits zweimal — bei der oberen Sophia und bei der Achamoth — abgelaufene Drama aufs neue in dieser Welt. ») Iren. I 4, 1—2 (S. 31—36 H.). 1120,114,4.

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) Valentin bei Clem., Strom.

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Zu dem sehnenden Menschengeist steigt der Heiland hernieder, nachdem er als Erstlinge dessen, was er erlösen will, von der Achamoth das Pneumatische, vom Demiurgen den „psychischen Christus" angenommen hat. Die Materie ist nicht erlösungsfähig, also hatte er keinen irdischen, stofflichen Leib. Der Weg der Erlösung ist für die Menschen der gleiche, wie er es für die Sophia gewesen ist, die „Gestaltung der Gnosis": das heißt die volle Erkenntnis von Gott und der Achamoth durch Einweihung in die Mysterien. Diese Vollendung ist freilich nur den „Pneumatikern" beschieden, die den von der Achamoth immer neu ausgestreuten göttlichen Samen in sich tragen. Wenn alles in der Welt verstreute Pneuma in Gnosis vollendet ist, dann wird die Erlösung sich erfüllen. Dann geht die Sophia-Achamoth ins höchste Pleroma ein und wird die Braut des Heilandes, und die Pneumatiker legen ihre Seelen ab und fahren ungehemmt und ungesehen von allen Himmelsmächten zum Pleroma auf, um als reine Geister mit den Engeln des Heilandes vermählt zu werden. Aber auch den vom Pneuma nicht erreichten „Psychikern" ist eine Erlösung verheißen. Der bis zur Ankunft des Heilandes ganz ahnungslose Demiurg hat sich der Lehre des Erlösers nicht verschlossen: so wirkt auch er nach seinen Kräften an der Vervollkommnung der Welt und trägt insbesondere Sorge für das Gedeihen der Kirche1. Diese hütet die göttliche Offenbarung in ihren heiligen Schriften, aber die meisten ihrer Glieder können sie nicht voll in ihrem geistigen Sinn ergreifen, weil ihnen das Pneuma fehlt und sie an diese Welt gebunden sind. So streben sie redlich mit Glauben und guten Werken dem Ziele zu, das ihnen beschieden ist: am Ende werden die Seelen der Gerechten samt dem Demiurgen in den Mittelraum zwischen Himmel und Pleroma eingehen, wo jetzt noch die Achamoth wohnt, und werden dort ihre Ruhe finden. Die irdische Welt aber wird Feuer verzehren, und sie wird nicht mehr sein*. ») Iren. I 7. 4—5 (S. 63—64 H.). *) Iren. I 4, 4—6, 2; 6, 4—7,2 (S. 3&—55; 57—60 H.), dazu Exc. ex Theod. 43—65.

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Dieses ganze, reichlich komplizierte System, das sich in den verschiedenen Schulen noch weiter abgewandelt und durchgebildet hat, wird nun durch einen ausführlichen Schriftbeweis unterbaut', der fast ausschließlich die Evangelien und Paulusbriefe verwertet und das Alte Testament nur in wenigen Zitaten aus Genesis und Psalter zu Wort kommen läßt. Die Methode der Deutung ist selbstverständlich die allegorische, und so ist das verirrte Schaf die Sophia, der lobpreisende Simeon, der das Jesuskind begrüßt, der Demiurg, der sich des Heilandes freut, die Prophetin Hannah, die im Tempel der Erlösung harrt (Luk. 2,36), die des Heilandes Wiederaufstieg erwartende Achamoth. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen zeigt das Beisammensein des geistigen Samens neben den psychischen Bestandteilen im pneumatischen Menschen. Jairi Töchterlein ist Symbol der Achamoth, die vom Heiland zur Erkenntnis erweckt wird, und die Leidensworte Jesu am Kreuz drücken die Schmerzen der Achamoth aus1. Valentins Schüler Herakleon hat, wohl nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts, einen ausführlichen Kommentar zum Johannesevangelium geschrieben, von dem uns Origenes viele Bruchstücke' mitteilt. Hier ist die Allegorie restlos durchgeführt, derart, daß ζ. B. aus dem Täufer der Demiurg redet und die Samariterin als Typus der Pneumatikerin erscheint, die von dem „alttestamentlichen" Jakobsbrunnen unbefriedigt sich dem Lebenswasser der Gnosis zuwendet und sich nach ihrem künftigen Ehegatten im Pleroma sehnt4. Diese Methode war keine andere als die auch in der Kirche übliche, und ihre ') Iren. I 3, 1—6; 8, 2—5 (S. 24—31; 68—80 H.), Exc. ex Theod. durchgehende. Hipp. Ref. VI 34—35 u. a. m. Vgl. Carola Barth Interpretation des Ν. T. in der Valentinianischen Gnosis 1911 (TU 37,3). l ) Iren. I 8, 2—4 (S. 68—73 H.). Exc. ex Theod. 53. ') Origenes' Johannes-Kommentar, hrsg. v. E. Preuschen S. CIL Brooke, The fragments of Heracleon (Texts and Studies I, 4). Hilgenfeld, Ketzergeschichte 472—498. «) Zu Joh. 1, 26 (Orig. 6, 200) und zu 4, 12 ff. (Orig. 13, 57. 63. 68); W. v. Löwenich, Johannesverständnis im 2. Jh. S. 82 ff.

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Valentinus. Herakleon. Ptolemäus

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Anwendung so wenig wie die Richtung ihrer Exegese dem Geist des vierten Evangeliums fremd: es war schließlich immer wieder der Rückgriff auf die Gesamtvoraussetzungen des Systems und die ablehnende Stellung zum Alten Testament, was den kirchlichen Leser bedenklich stimmen mußte. Über diesen zweiten Punkt ist uns die grundsätzliche Erörterung eines anderen Valentinschülers, des Ptolemäus, erhalten1, der in einem offenen Brief an eine vornehme Dame namens Flora die fünf Bücher Mosis einer feinsinnigen religiösen Kritik unterzieht. Er unterscheidet zunächst drei Bestandteile des Gesetzes: der erste ist von Gott, der zweite ist von Moses — was Jesus ausdrücklich ζ. B. von der Erlaubnis zur Ehescheidung aussagt (Matth. 19,8) —, der dritte von den jüdischen „Ältesten", deren Tradition Jesus ein Gebot wie den Opferbann zuschreibt (Matth. 15,5—6). Aber auch der auf Gott zurückgehende Teil ist nicht einheitlich, sondern zerfällt wiederum in drei Stufen. Auf der ersten steht das reine Gottesgebot, dem nichts Fremdes beigemischt ist, das Jesus nicht auflösen, sondern erfüllen wollte: es sind die 10 Gebote. Die zweite bilden die mit Unrecht vermischten Gebote, wie das der Wiedervergeltung, wo ein Unrecht durch ein zweites abgelöst wird. In dritter Reihe stehen die Zeremonialgesetze, die nur symbolische und typologische Bedeutung haben. Damit ist die Frage aufgeworfen, wer dieser göttliche Urheber des Gesetzes ist? Es ist nicht vollkommen, kann also nicht von dem vollkommenen Gott, dem Ungezeugten Einen stammen; noch weniger aber vom Teufel, denn es enthält wahrhaft Gutes. So ist also das Gesetz eines in der Mitte stehertden Gottes Werk, der die Gerechtigkeit verkündet, wie er sie versteht. Und wenn die Leserin nun fragt, wieso denn aus dem „von uns unerkannten und geglaubten Einen Urprinzip" die niederen Wesenheiten dieser Mittelstellung und vollends die Nichtigkeit des Teufels hat entstehen können, wo doch das Gute von Natur nur Ähnliches und Wesensgleiches erl

) Epiph. haer. 33,3—7. Vgl. Harnack, Berl. Sitzungsberichte 1902, 507—545, Ausgabe in Kleine Texte Nr. 9.

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zeugt, so wird sie dafür auf künftige Belehrung verwiesen: man wird sie bekannt machen „mit der apostolischen Überlieferung, die von Hand zu Hand auch wir übernommen haben zugleich mit der Begründung aller Sätze aus der Lehre des Heilandes". Sie soll also in das System und den Schriftbeweis eingeweiht werden und wird sich überzeugen, daß diese Gnosis wahrhaft christlich ist. Wir halten hier inne. Noch viel ließe sich über Valentin und seine Schule sagen, noch mehr über die Gnosis und die andern Systeme hinzufügen, und wir werden in Zukunft mehr als einmal das hier gezeichnete Bild zu ergänzen Gelegenheit haben. Aber für die Kenntnis der kirchengeschichtlichen Entwicklung im zweiten Jahrhundert müssen diese wenigen Proben ausreichen, zumal die letzten Typen uns gerade wegen ihrer betonten Christlichkeit den entscheidenden Gegensatz, also die von der Kirche so lebhaft empfundene Fremdartigkeit und Gefahr der Gnosis besonders deutlich zum Ausdruck bringen. Das ist nicht die Willkür der Bibelerklärung oder die unbekümmerte Freiheit in der Umgestaltung oder Neuschöpfung evangelischen Stoffes, auch nicht die doketische Christologie, die aus der Menschheit Jesu so oder so eine Maske macht, auch nicht die Fülle der dämonischen und göttlichen Gestalten. Bedenklicher und bei strenger Durchführung unerträglich ist die Ablehnung des Alten Testaments: aber der Brief des Ptolemäus zeigt uns schon soviel Konzessionen, daß auch hier eine Verständigung möglich erscheint. Das Entscheidende ist und bleibt der Gottesbegriff mit allen seinen Konsequenzen. Für das Christentum ist grundlegend die Unbegreiflichkeit, daß derselbe Gott, der fordert und richtet, aus reiner Barmherzigkeit die hilflosen Sünder erlöst: das hat Jesus mit schlichten Worten, Paulus in den Formen grübelnder Dialektik zum Ausdruck gebracht. Die Gnosis löst das Rätsel, indem sie Gott auseinanderbricht und die beiden Hälften auf verschiedene Höhenlagen verteilt, damit aber auch den tiefsten sittlichen Ernst des Gotterlebens preisgibt. Das Wunderbare wird nun faßbar und das Undenk-

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Der Gott der Gnosis

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bare verständlich: Gott wird ein philosophisches Abstraktum, an das sich mystische Empfindung hängt. Das Drama im valentinianischen Pleroma enthüllt uns am klarsten den Sinn dieser Divina Commedia der Erlösung: es ist die Selbstentfaltung und Selbstbesinnung der Gottheit. Alles Zeugen fließt aus der wesenhaften Notwendigkeit der göttlichen Natur und führt in seinem Fortgang von der Einheit zur Vielheit, zur Differenzierung und stets wachsenden Mannigfaltigkeit, zu immer gesteigerter Minderung der Gotthaftigkeit. Aber mit der gleichen Unausweichlichkeit kehrt das Göttliche, das auch im Menschen eine seiner Formen gefunden hat, wieder zu seinem Urquell zurück, scheidet die Unterschiede stufenweise aus und geht schließlich in dem All-Einen, der nicht mehr individuellen und persönlichen, form- und bestimmungslosen „Fülle der Gottheit" auf. Das könnte auch ein Philosoph sagen, und der Pantheismus seit den Tagen der Stoa bis zu Hegel hat wirklich dieser Gottesvorstellung immer neue Formen gegeben. Aber hier kommt zum philosophischen Pantheismus der mystische des Orients, der den Weg des Einzelwesens zum Aufstieg in das göttliche Nirwana nicht nur durch reines Denken, sondern auch durch magische Sprüche und Handlungen, durch die Beherrschung übermenschlicher Kräfte zu finden weiß. Das geht durch alle gnostischen Kreise hindurch und ist auch bei Valentin 1 trotz der Höhenlage seines Denkens unverkennbar. Man hat die Gnosis als die „akute Hellenisierung" des Christentums bezeichnet 1 : wir werden die Erkenntnis einer ebenso akuten „Kückorientalisierung" hinzufügen müssen. Aber es waren nicht die bunten Gestalten der griechischen und orientalischen Götterwelt, die das Christentum bedrohten: deren ist es leicht Herr geworden. In der Gnosis erhebt sich mit Macht der Gott der östlichen Mystik gegen den Vater im Himmel, zu dem Jesus seine Jünger beten gelehrt hat. ») Vgl. Karl Müller, Gött. Nachr. 1920, 188—200. ') A. v. Harnack, Lehrbuch d. Dogmengeschichte I 4 , 250. Vgl. auch F. C7 Burkitt. Curch and Gnosis, 1932.

IL Ecclesia catholka

Das römische Weltreich im zweiten und dritten Jahrhundert Sicherung des Friedens für die ganze Kulturwelt war das ideale Ziel des augusteischen Imperiums, und seine Verwirklichung bildete den Ruhmestitel, seine Bewahrung die Hauptaufgabe aller Träger der römischen Kaiserwürde. Die Vorteile dieses Zustandes banden die tausend Völker und Stämme der Mittelmeerwelt so eng aneinander, daß innere Aufstände die Einheit des Reiches nicht bedrohen konnten. Die Tumulte des auf Neros Tod folgenden Dreikaiserjahres brachten nur örtlichen Schaden und gingen schnell vorüber, und die aus besonderen Gründen an den Grenzen auflodernden Brände des gallische Bataveraufstandes und der jüdischen Freiheitsbewegung hat Vespasians starke Hand zu unterdrücken verstanden. Die wirklichen Gefahren lauerten außen an den Grenzen: am Rhein und an der Donau wurden germanische und teilweise auch slavische Stämme von elementaren Gewalten aus naturhaftem Dasein in den Bereich der Geschichte getrieben, am Euphrat drängten die Iranier Vorderasiens dem syrischen Meere zu. Nach den unter Augustus gemachten Erfahrungen hat das Reich fast ein Jahrhundert lang seine Grenzen im Wesentlichen defensiv verteidigt und sie nur an einzelnen sicheren Stellen mit größter Vorsicht vorgeschoben. Die unter Claudius begonnene und unter Domitian vollendete Eroberung Britanniens ist die bedeutsamste Tat dieser Periode. Unter den flavischen Kaisern wird dieser defensive Charakter des Grenzschutzes noch besonders betont durch die Anlage der großen Limesbefestigungen, welche am Oberrhein und an der Donau das Vorland durch Holztürme und

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Flechtwerkzäune gegen feindliche Einfalle schützen sollen: wir können das Fortschreiten dieser Methoden von Vespasian bis Domitian an den erhaltenen Resten studieren. Trajan erkannte, daß auf diese Weise die Gefahren nicht völlig zu bannen seien und kehrte zu den Gedankengängen altrömischen Soldatentums zurück. Er marschierte in das Land des zur Zeit bedrohlichsten Feindes ein und führte gegen die im heutigen Rumänien wohnendenDaker zwei schwere, verlustreiche Kriege (101 bis 106), die aber schließlich die volle Eingliederung dieses Gebiets in das Reich als Provinz Dacia bescherten. Die römische Trajanssäule erzählt bis heute in lebensvollen Bildern die ruhmvolle Geschichte dieser Kämpfe. Noch ehe das Ziel der Eroberung Daciens erreicht war, bereitete Trajan weiter Sicherungen des Reiches an der Ostgrenze vor. Der Legat von Syrien bekam den Auftrag, die bis dahin noch bestehende halbe Selbständigkeit der im Nabatäerreiche vereinigten Beduinenstämme zu beendigen, und so entstand, östlich und südlich an die palästinensische Grenze angelehnt, die neue Provinz Arabia. Wasserleitungen, Garnisonslager, Straßenbauten hoben und sicherten ihre wirtschaftliche Bedeutung und riegelten gleichzeitig das römische Reich ab gegen jede Bedrohung von Seiten der freien Beduinen der unermeßlichen arabischenWüste. Dieeigentliche Gefahrenzone lag nicht hier, sondern an der Euphratgrenze. Dort drohte das Reich der iranischen Parther dem Imperium seit seiner Geburtsstunde mit Krieg, und die Dauer des von Augustus geschlossenen Friedens hing mehr von den inneren Zuständen des Partherreiches als von den Römern ab. So erschien auch hier dem Kaiser aktive Grenzsicherung unabweisbar. In drei Kriegsjahren 114—116 wurden nicht nur die Parther, sondern auch die mit ihnen verbundenen Armenier niedergeworfen, und drei neue Provinzen, Armenia, Assyria, Mesopotamia eingerichtet. Vor die alten Grenzen des Imperiums war nun ein Ring neuer Provinzen gelegt, der von der Theiß bis zum Schwarzen Meer, vom Kaukasus bis zum persischen Golf und vom Euphrat bis zur Sinaihalbinsel reichte: ein

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Trajans Kriege. Hadrian

ungeheures Sicherungsgebiet, das mit stärkstem Kraftaufwand in kurzer Zeit gewonnen war und nun einer langen Periode innerer Durcharbeitung bedurfte, um organisch in das römische Reich hineinzuwachsen und wirklich den Schutz zu leisten, den sein Schöpfer von ihm erwartete. Es war die Frage, ob das Reich die Kraft zur Lösung dieser Aufgabe besaß: und der Nachfolger des 117 nach Vollendung seines Werkes aus dem J^eben abberufenen Trajan hat sie sofort nach seinem Regierungantritt verneint. Ein Aufstand, den 115 die ägyptischen Juden, wohl im Bunde mit den übermäßig bedrückten Fellachen1, anzettelten und auf Cypern und die Cyrenaica ausdehnten, war ein warnendes Zeichen: erst nach zwei Jahren konnte der Kaiser über die zur Unterdrückung erforderlichen Truppen verfügen. Und auch an anderen Stellen war nicht alles so ruhig, wie es sein sollte. So zog Hadrian die notwendige, aber unrühmliche Konsequenz: Armenia, Assyria, Mesopotamia wurden wieder geräumt. Arabia und — trotz einiger Bedenken — auch Dacia sollten gehalten werden und sind gehalten worden. Es wurde deutlich, daß Rom nicht mehr im Stande war, Eroberungen großen Stils zu machen, wohl aber, seinen alten Besitz zu verteidigen: und auf diese Aufgabe konzentrierte Hadrian seine ganze militärische Sorge. Die Limesbefestigungen wurden vielfach vorgeschoben und schnitten in langen geraden Linien durchs Gelände: ihr Hauptbestandteil war jetzt ein mächtiger Palisadenzaun, der vom Neuwieder Becken bis in die Gegend von Regensburg lief. In Britannien hat man eine Mauer quer durch die Insel vom Solway Firth bis zur Tynemündung gezogen. Hadrian verfügte nicht über die militärische Begabung Trajans und strebte deshalb einen Zustand des Reiches an, der vom Kaiser nicht die Tugenden eines Feldherrn verlangte. Aber er war ein vortrefflicher Verwaltungsbeamter und hatte Sinn für Organisation: und das ist auch dem Heer zugute gekommen. Dieses hat seine Aufgaben treulich erfüllt: fast ein halbes Jahrhundert hindurch ist der Reichsfrieden gewahrtwor>) Rostovtzeff, Gesellschaft u. Wirtschaft 2, 65.

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den, und die nie ganz abreißenden Kämpfe zur Grenzsicherung gingen nur selten über die gewohnte Beanspruchung der Wachttruppen hinaus. Als Antoninus Pius auf dem Marsfeld eine Säule nach trajanischem Muster errichtete, hatte er keine Veranlassung, ihren Schaft mit einem Band kriegerischer Bilder zu umwinden. Das blieb seinem Nachfolger Mark Aurel vorbehalten, den die Not des Reiches aus stiller Besinnlichkeit heraus in einen schweren Existenzkampf riß: und sein philosophisches Pflichtgefühl ist stark genug gewesen, um ihn ohne militärische Neigung und Begabung eine Aufgabe lösen zu lassen, die noch schwerer war als die dem Soldaten Trajan gestellte. Die erste Gefahr drohte an der Ostgrenze, wo die Parther wieder im Begriff standen, ihre Herrschaft über Armenien auszudehnen, und die dazwischen tretenden römischen Legionen zertrümmert hatten. Es mußten große Truppenmassen von der germanischen Grenze herangezogen werden, um den unvermeidlich gewordenen Krieg mit dem nötigen Nachdruck zu führen: und nach vierjährigem Kampf war das Ziel erreicht. Das römische Reich festigte seine militärische Stellung in Armenien und schob seine Grenzen auf das linke Euphratufer vor. Die alte Makedonierfestung Dura bekam 167 römische Garnison und wurde Ausfallstor für künftige Einmärsche ins Partherland. Kaum war dieser Krieg beendet, als neue und größere Not über das Reich hereinbrach. A n der westlichen Grenze war schon seit längerer Zeit eine flackernde Unruhe zu bemerken: in Britannien und am Oberrhein war die Grenzsicherung durchbrochen und mußte in ernsthaftem Kampf wiederhergestellt werden. Jetzt fluteten plötzlich und unaufhaltsam die Markomannen und Quaden aus Böhmen und Mähren über die Donau ins Reich, überschritten die Alpen und belagerten Aquileia. Und im ganzen Reich wütete die durch den Partherkrieg eingeschleppte Pest, raffte ungeheure Menschenmassen hin und fraß mit besonderer Wut die zusammengeballten Truppenkörper. Es mangelte an Lebensmitteln und die Staatskassen waren leer: der Untergang stand vor der Tür. Mark Aurel ist dieser Gefahr

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Mark Aurel. Septimius Severus

Herr geworden. Er hat Armeen zusammengebracht und die Waffenfähigen genommen, wo und wie er sie fand. Es gelang, den Einfall abzuwehren, er rückte in Feindesland hinein und rang alle verbündeten Stämme, Germanen und Sarmaten, in immer erneuten Kriegszügen nacheinander zu Boden und besetzte ihr Gebiet. Vierzehn Jahre dauerte der Kampf, dann war er endgültig entschieden: der Kaiser wollte auch im Sieg dem BeispielTrajans folgen und die römischen Grenzen über dieDonau vortreiben. Böhmen,Mähren und dasLand zwischenDonau und Theiß sollten alsMarcomannia undSarmatia römische Provinzen werden. Aber ehe die Absicht zur Tat werden konnte, starb Mark Aurel 180 in seinem Hauptquartier zu Wien. Sein Sohn und Nachfolger Commodus verzichtete ohne Bedenken auf die Pläne des Vaters, räumte die besetzten Gebiete und bewilligte den Gegnern günstige Bedingungen: nicht aus kluger Einsicht wie einst Hadrian, sondern aus Bequemlichkeit. Aber die Wirkung der Kriegstaten seines Vaters blieb trotzdem nicht aus: jene Völker sind dauernd gelähmt geblieben und dem Reich nicht mehr gefährlich geworden. Zwei Menschenalter hindurch herrschte nun an der Donaugrenze Ruhe, und auch am Rhein ist es lange still gewesen, bis 213 unter Caracalla ein Vorstoß der Chatten und Alemannen eine Periode ständiger Grenzkämpfe eröffnete, die erst nach mehr als zwanzig Jahren in eine neue Friedenszeit ausmündete. In diesen Jahren der Unsicherheit hat auch der Limes eine Verstärkung erfahren: am Rhein wurde zu den Palisaden jetzt noch ein breiter Graben und ein Wall gefügt, an der Donau zog man eine 3 Meter hohe Mauer die Grenze entlang. Die vorsichtige Grenzgestaltung am Euphrat erwies sich auf die Dauer nicht als haltbar: Septimius Severus rückte 198 vor und machte Nisibis zur Hauptstadt der umgebildeten Provinz Mesopotamia, die nun bis zum Tigris hinüberreichte und militärisch so stark geschützt wurde, daß sie auch schwache Kaiser zu verteidigen vermochten. Inzwischen fand die durch dauernde Thronstreitigkeiten geschwächte parthische Dynastie ihr Ende. Von Persepolis aus breitete das

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alte Königsgeschlecht der Sassaniden seine Macht aus, und Ardaschir I. wurde 226 der Herrscher eines neuen Perserreichs, welches die parthische Herrschaft beseitigte und als sein Pogramm die Wiederherstellung der unter Kyros und Dareios geltenden Grenzen 1 verkündete. Waren schon die Parther recht unbequeme Nachbarn der Römer gewesen, so wurden die Perser erbitterte und unermüdliche Feinde des Reichs. Ihnen war der Drang nach Westen historische Pflicht, und sie erhoben das Schwert gegen Rom, um das Blut des Dareios an den Erben Alexanders des Großen zu rächen*. Das heißt: sie fühlten sich als die Vorkämpfer des unterdrückten Asiens gegen Europa, und sie haben an dieser Aufgabe vier Jahrhunderte lang mit steigendem Erfolg gearbeitet, bis der Völkersturm des Islam an ihre Stelle trat und den Widerstand Europas endgültig brach. Um 230 begannen die Kämpfe in Mesopotamien; zehn Jahre später war die Provinz in den Händen der Perser und abermals fünf Jahre danach hatten die Römer ihre Truppen wieder zwischen Euphrat und Tigris stehen und schlossen mit Schapur I. einen faulen Frieden. Um dieselbe Zeit erschien das führende Volk der germanischen Völkerwanderung, die Goten, an der untern Donau. Sie brachen in die römische Provinz ein und verwüsteten Thrakien bis in die Gegend von Saloniki. Kaiser Decius verlor 251 im Abwehrkampf sein Leben, und sein Nachfolger erkaufte einen Waffenstillstand mit Geld. Die Provinz Dacia ging verloren. Gleichzeitig flammte die Pest wieder auf und kurzlebige Kaiser wehrten sich nach- und nebeneinander verzweifelt gegen germanische und orientalische Eindringlinge. Der siebzigjährige Kaiser Valerianus fiel 260 den Persern in die Hände und starb in der Gefangenschaft, während die Goten plündernd Kleinasien durchzogen. Männlich rang sein Sohn Gallienus mit allen Gefahren, ständig von meuternden Truppen und ihren Gegenkaisern bedroht. Und er mußte das Aufkommen eines Pufferstaates mit eigener Herresmacht in Palmyra dulden, weil er ») Herodian hist. 6, 2, 2. 6, 4, 5. l ) Nöldeke Tabari S. 3.

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Das Sassanidenreich. Decius. Valerian

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als Bollwerk gegen die Perser wirkte. Nie hatte das römische Reich so stark den Eindruck völliger Auflösung gemacht, wie in diesen sechziger Jahren des dritten Jahrhunderts. *

Die von Trajan bis Decius abrollenden 150 Jahre zeigen uns deutlich den fortschreitenden Verfall des römischen Reiches und seiner Machtstellung. Die Spannung zwischen den militärischen Notwendigkeiten des Grenzschutzes und den finanziellen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des Reiches wurde immer größer und bewirkte schließlich die innere Zersetzung1. Daß schon die Feldzüge Trajans eine Uberanstrengung der Reichskraft waren, zeigte sich sofort in der Nötigung zur Reduktion der Reichsmünze: die Silberdenar, der unter Augustus einen Metallwert von 70 Pfennig gehabt hatte und von Nero durch Verkleinerung der Münze auf 60 Pfennig herabgesetzt war, wurde durch 20 prozentige Kupferbeimischung auf nur noch 48 Pfennig abgewertet1; die Preise stiegen entsprechend. Hadrian wußte, warum er die Politik seiner Vorgänger liquidierte: sie wäre nur auf Kosten der inneren Gesundheit des Staates durchführbar gewesen, und die wünschte der Kaiser unter allen Umständen zu erhalten. Der Erfolg hat ihm für ein halbes Jahrhundert Recht gegeben. Von Trajan bis Mark Aurel reicht eine Zeit kultureller Blüte und sicherer Entwicklung von Handel und Industrie, die allenthalben in einer großartigen Bautätigkeit einen noch heute sichtbaren Ausdruck gefunden hat. Die Städte werden die Mittelpunkte des Lebens. Das wohlhabende Bürgertum und die Großkapitalisten sind die Träger eines alle Provinzen erfassenden wirtschaftlichen Aufschwungs, und die gebildeten Schichten preisen dankbar die aufgeklärte Monarchie Hadrians und der Antonine. Aber die inneren Gefahren konnten nur zurückgedrängt, nicht beseitigt werden. Italiens Vorrang sank sowohl in politischer wie in militärischer, ja auch in wirtschaftlicher Hinsicht unwiederbringlich dahin. Der ') Grundlegend M. Rostovtzeff, Gesellschaft u. Wirtschaft im röm. Kaiserreich 1930. *) M. Bernhart, Handbuch z. Münzkunde 20 f.

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alte Adel war ausgemordet oder verzichtete auf Fortpflanzung, das Volk wurde durch Aufnahme immer neuer Scharen barbarischer Freigelassener degeneriert und aus diesem Grunde, aber auch wegen politischer Aspirationen, militärisch unbrauchbar; Ischon seit Vespasian hob man in Italien keine Legionssoldaten mehr aus1. Und die aufblühenden Provinzen machten sich von italischer Produktion so unabhängig, daß die Kaiser künstliche Rettungsversuche für die Wirtschaft des alten Kernlandes anstellen mußten. Die Provinzen waren jetzt die Kraftquellen des Reichs in jeder Beziehung: auch das Heer wurde seit Hadrian aus Provinzialen gebildet, die zugleich mit der Einstellung das römische Bürgerrecht erhielten und Verteidiger ihrer engeren Heimat sein sollten. Ein Austausch der Legionen des Ostens und des Westens war dadurch aufs äußerste erschwert. Wenn Hadrian die Hälfte seiner Regierungszeit auf Reisen durch die Provinzen verwendete und dem ganzen Osten die Herrlichkeit griechischer Kultur unermüdlich vor Augen stellte, so war das nicht bloße Unrast und romantische Träumerei, sondern ernstes Bemühen um die Sicherung, Förderung und kulturelle Hebung der weiten Reichsgebiete, von denen der Bestand des Ganzen jetzt mehr als vordem abhing. Die Entwicklung spiegelt sich klar in den Trägern der Herrschaft: Die ersten Kaiser waren sämtlich Römer, Vespasian und seine Söhne wenigstens Italiker. Die Familien Trajans und der Antonine entstammten dem alten, römisch kultivierten Adel von Spanien und Gallien, Septimius Severus aus den gleichen Kreisen Afrikas. Aber durch seine Gemahlin, die syrische Priesterin Julia Domna kam das Element barbarischen Provinzialentums auf den Thron und wirkte die nächsten Generationen hindurch, bis es von illyrischen Soldatenkaisern abgelöst wurde. Erst besiegte die Provinz Italien, dann siechten die Provinzen dahin — und übrig blieben allein die Soldaten. Und das kam so. Die wirtschaftlicheBlüte derAntoninenzeit war nicht fest begründet. Die Not der Kriege Mark Aurels l

) Mommsen, Ges. Schriften 6, 38.

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Der wirtschaftliche Niedergang

und die Entvölkerung des Reiches durch die Pest machten dem Glück des Zeitalters ein Ende. Die Mißregierung des Commodus und die seiner Ermordung folgenden Wirren bildeten einen traurigen Abschluß dieser Periode. Septimius Severus zog die grausame Konsequenz und errichtete eine reineMilitärdiktatur: alle Hilfsquellen des Staates wurden aufs äußerste angespannt, um die Heere zu erhalten, die nun einmal zur Grenzverteidigung unentbehrlichwaren.Auch dieBeamten rekrutierten sich mehr und mehr aus dem Heere, und aus der Schar verdienter Unteroffiziere erwächst ein neuer Beamtenadel, der nicht gerade als Kulturträger angesprochen werden kann. Die erste Hälfte des dritten Jahrhunderts ist die entscheidende Periode des wirtschaftlichen Zusammbruchs. Die Währung sinkt ständig durch Verschlechterung des Geldes. Der Denar wurde unter Mark Aurel auf 43 Pfennig gesenkt, um 200 hatte er noch für 25 Pfennige Silbergehalt, aber seit 260 ist er nur noch unreines Kupfer, das einen Zwangskurs wie Papiergeld hat — und selbst dieser amtliche Kurs ist um 290 auf 2 Pfennige gesunken. Das Heer fraß alle Früchte der Arbeit, und die kaiserliche Politik hatte keine Möglichkeit, neue Kraftquellen zu erschließen, sondern begnügte sich, die vorhandenen rücksichtslos auszupumpen. Caracalla 1 hat das sinnig so formuliert: „Kein Mensch außer mir braucht Geld zu haben, und ich brauche es, um es den Soldaten zu schenken". Das besitzende Bürgertum wurde vernichtet. Große Vermögen sind in weitem Umfang durch Konfiskation nach einem Scheinprozeß eingezogen worden. Alle übrigen aber wurden mit untragbaren Lasten belegt. Die vermögenden Bürger der Städte waren für alles haftbar: für pünktlichen Steuereingang der gesamten auf der Stadt und ihrem Landkreis liegenden Summe, für jede Extraleistung, die von durchziehenden Truppen angefordert oder von einem Beamten aus irgend einem Grunde befohlen wurde. Daneben bestand für alle Mitglieder der „regierenden" Gemeindekörperschaften die Verpflichtung zu Leistungen für städtische Wohlfahrt und das Vergnügen des Volkes. Die ») Dio Cass. 77, 10, 4.

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Befreiung von der Pflicht zur Bekleidung städtischer Ämter wurde ein vielbegehrtes Privileg. Das erschütternde Mittel äußerster Notwehr, der Verzicht auf den eigenen Besitz, war nicht selten: aber es ist bezeichnend, daß durch kaiserliches Gesetz die Straflosigkeit des Verzichtenden ausdrücklich angeordnet wurde, und daß er trotzdem in Wirklichkeit keineswegs vor Mißhandlung gesichert war1. Handel und Wandel mußten unter solchen Umständen ins Stocken geraten, der Geldverkehr hörte auf, und die Naturalwirtschaft trat wieder in ihre unvergänglichen Rechte. Die an den Grenzen kämpfenden Legionen konnten die Verheerung weiter LänderstreckendurchBarbareneinfälle nicht mehr hindern, geschweige denn den zahllosen Banden entgegentreten, die zu Wasser und zu Lande dem Räuberhandwerk oblagen. Und die „friedlichen" Truppendurchzüge so gut wie die Kämpfe der Kronprätendenten miteinander kamen in ihrer Wirkung feindlichen Einfällen bedenklich nahe. Der einzige Stand, auf den sich alle Sorge der Kaiser konzentrierte, war der des Soldaten—und zuweilen auch der des Kleinbauern, aus dem man die Soldaten aushob. Schon Septimius Severus erkannte die von aktiven Soldaten geschlossenen Ehen an und erlaubte verheirateten Soldaten, außerhalb des Lagers zu wohnen. Das führte mit der Zeit zur bäuerlichen Ansiedlung des Militärs und der Begründung militärischer Bauernkolonien in befestigten Orten. Aber zur Hebung der soldatischen Tugenden und zur Förderung der Schlagfertigkeit' des Heeres trug diese Entwicklung nicht eben bei. In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts ergab sich daraus die Notwendigkeit, kriegslustige und unbelastete Barbarenstämme als Söldner zu werben: und das führte zu neuen unsere Zeitgrenze überschreitenden Ereignissen. Die militärischen und die wirtschaftlichen Nöte waren miteinander zwangsläufig verbunden und zogen alle andern Elemente der Reichskultur in ihre abwärts führende Bahn. *

») Rostovtzeff, Gesellschaft u. Wirtschaft 2, 194. 328 A. 42. 344 A. 44. 368 A. 49. Wilcken Chrestomathie n. 402. Anschaulich Philostrat Vita Apoll. 7, 23.

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Das Heer. Die Literatur: Tacitus. Plinius

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Man muß Tacitus lesen, wenn man es voll erfassen will, was der 15 Jahre andauernde Mord der Geister durch Domitian an der seelischen Struktur des römischen Volkes verschuldet hat: wie der erst in den vierziger Jahren stehende Mann sich selbst überlebt erscheint und die bittere Wahrheit an den Anfang neuen Schaffens stellt, daß es leichter ist, geistiges Leben zu unterdrücken, als es wieder zu erwecken1. Aber Trajan wird der Bringer einer Zeit der Freiheit: von allen Seiten klingen uns die dankbaren Stimmen der Erlösten entgegen, und Tacitus hat sich unter seinem aufgeklärten Regiment zur vollen Größe entfalten können. Seine Kaisergeschichte ist das gewaltigste Geschichtswerk, das Rom der Welt geschenkt hat, aber von düsterm Ernst und heroischer Resignation überschattet blickt es nicht einer hoffnungshellen Zukunft entgegen, sondern atmet herbe Sorge und tragisches Ahnen. Und doch sind erst hundert Jahre seit den glücklichen Tagen des Livius verflossen, und die Sonne Trajans strahlt Leben weckend über dem Reich. Aber Tacitus ist ein einsamer Mann und hat mit der höchsten Gabe des Genius auch die bittere Mitgift empfangen, weiter zu blicken als alle andern. Sein Freund Plinius ist restlos glücklich und fühlt sich als Kind einer Zeit geistiger Blüte, von der er mit geschickter Rhetorik in seinen Briefen anmutig Zeugnis ablegt. Und innerhalb seines enger begrenzten Gesichtskreises hat er damit recht, auch wenn man seine Uberschätzung des ihn umgebenden literarischen Dilettantismus* in Abzug bringt. Dieses Dilettieren ist doch nichts anderes als der Ausdruck ehrlicher Liebe zu geistiger Verfeinerung des Lebens und tätige Aneignung der klassischen Traditionen aus Ciceros Zeit, deren Prophet Quintilian erst kürzlich die Augen geschlossen hatte. Zum Freundeskreis des Plinius gehörte der junge Sueton, der die auf ihn gesetzten Hoffnungen unter Hadrian erfüllt hat. Der Satiriker Juvenal hat in trajanischer Zeit seine besten Leistungen gezeitigt. Keiner von diesen drei Männern ist ein *) Tacitus Agricola 3. *) Plinius epist. 1, 17. 3, 1, 7. 4, 3. 8, 4. 9,22: sehr bezeichnend 5,8 und 7,4.

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Geist ersten Ranges, aber sie haben ihre Gaben so trefflich ausgewertet, daß ihr Einfluß auf die Weltliteratur bis heute spürbar ist. Nach ihrem Tode verstummt die lateinische Muse der Stadt Rom: mit Trajan geht die literarische Tradition des echten Römertums zu Ende. Wieviel von ihrer künstlerischen Gestaltungskraft noch lebendig ist, zeigen die Reliefbilder der Trajanssäule, die am Konstantinsbogen erhaltenen Rundscheiben und die Marmorschranken der Rednerbühne auf dem Forum. Mit Hadrian beginnt eine neue Zeit, die vom Griechischen her die entscheidenden Anstöße erhält, und diese weisen in ehrwürdige Vergangenheit zurück: wir nennen diese nun aufkommende Tendenz den „Archaismus". Wie die Griechen unbekümmert um die Sprache der lebendigen Gegenwart die attischen Klassiker nachahmten, sobald sie Literatur produzierten, so wird jetzt auch auf lateinischem Sprachgebiet ein noch über Cicero hinausgreifendes Altlatein Mode. Der Afrikaner Fronto ist der große Held dieser Richtung. Die Welt hat ihn und seine Leute mit Recht vergessen bis auf den einen Apuleius, dessen mannigfaltige Schriftstellern in dem Roman vom verzauberten Esel gipfelt: hier siegt die prächtige Erzählungskunst über alle sprachlichen Marotten, und die gegen Ende laut anschwellende mystisch-religiöse Begleitmusik gib uns einen kräftigen Geschmack von dem, was in der Antoninenzeit aus dem „Muckertum" der Hadrianischen Periode geworden ist. Mit Apuleius endet die lateinische Literatur der Antike: nur im vierten Jahrhundert leuchtet plötzlich und „ohne Vater, Mutter und Stammbaum" das Phänomen des Historikers Ammianus Marcellinus in einsamer Größe. Die Rhetorik hat die absterbende lateinische Literatur beherrscht, selbst Tacitus untersteht ihrer Macht, und sie hat dafür gesorgt, daß es auch dann noch lateinische Schriftsteller gab, als man inhaltlich nichts mehr zu sagen wußte. Das Griechentum hat nicht minder von der Rhetorik gelebt und seit Vespasian sogar eine neue Blüte dieser Kunst entfaltet, die man als „zweite Sophistik" zu bezeichnen pflegt: eine Fülle von Tagesgrößen ist aus dieser Bewegung hervorgegan-

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Archaismus. Zweite Sophistik. Plutarch

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gen, und der Eifer hoher und höchster Gönner hat an vielen Orten Professuren zu ihrer schulmäßigen Züchtung gestiftet und hervorragende Sophisten mit Ehren überhäuft Ihr glänzendster Repräsentant ist der Athener Herodes Atticus 1 , der aus seinem ungeheuren Reichtum an den klassischen Stätten Griechenlands prächtige Bauten aufwachsen ließ und zugleich von der Gunst Hadrians und der Antonine getragen das literarische Leben weithin beherrschte. Aber seine Bauten haben die Jahrhunderte besser überstanden als seine Reden. InTrajans Zeit fallen die Predigten des Stoikers Epiktet an die Gebildeten und die breiten und gelegentlich sentimentalen Reden des Dio Chrysostomus.Beide so entgegengesetztenMänner haben einen tiefen sittlichen Ernst und streben auf verschiedenen Wegen doch letztlich nach demselben Ziel einer Besserung der Menschheit durch philosophische Zucht: aber der aus dem Sklavenstande emporgestiegene Epiktet ist der weitaus Größere, weil sein ethisches Wollen ganz rein erscheint und keines irdischen Schmuckes bedarf, auch keine Nebenzwecke anerkennt. Dio sowohl wie Epiktet stammen aus dem nordwestlichen Kleinasien. Griechenland wird um dieselbe Zeit würdig vertreten durch Plutarch, der aus seines Volkes großer Vergangenheit ein ideales Griechentum zieht und es in seiner fein organisierten Seele zur tätigen Auswirkung bringt. Seine Biographien und moralischen Traktate haben zu allen Zeiten Bewunderung erregt, und in den philosophisch-religiösen Schriften spiegelt sich tragisch das ehrliche, aber hoffnungslose Mühen um die Rettung sterbender Götter; und auch das macht den Mann liebenswert. Es ist Geist der trajanischen Periode, wenn er in seinem berühmtesten Werk Griechen und Römer in ideale Parallele stellt. Aber Kaiser Hadrian wurde selbst der Künder des Primats für die griechische Kultur. Alle Provinzen hat er bereist, aber Griechenland und sein geistiges Erbe unablässig den andern vor Augen gehalten: als Zeus Olympios wandelt er über die Erde und läßt Tempel erstehen, ') Vgl. Κ. A. Neugebauer, Herodes Atticus, ein antiker Kunstmäzen. Antike 10, 1934, 92—121.

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die seiner kaiserlichen Gottheit unter diesem höchsten der hellenischen Namen huldigen. Keine Stadt hat freundlichere Fürsorge erfahren als Athen, auf dessen Boden noch heute das Hadrianstor „des Theseus alte Stadt" von der durch ihn neu begründeten „Stadt Hadrians und nicht des Theseus" trennt 1 . Es war richtige Erkenntnis der wahren Werte: die noch vorhandenen und zur geistigen Einigung der Provinzen untereinander brauchbaren Kräfte des Reichs ruhten im Griechentum: und gerade zur Einschmelzung der orientalischen Länder waren die Griechen die unentbehrlichen Vermittler. Die von Hadrian gesäte Saat ist dann in der Antoninenzeit reichlich aufgegangen, und neben einem respektablen Kreis gediegener Fachgelehrter und einem Schwärm leerer Schwätzer finden wir nun Männer griechischer Zunge, die literarische Bedeutung für sich in Anspruch nehmen dürfen, während Roms Kraft erlischt. Kleinere Geister sind Arrian, der Epiktete Vorlesungen in Nachschriften uns aufbewahrt hat und in reifen Jahren als neuer Xenophon die Geschichte Alexanders des Großen schreibt, und Appian, dessen römische Geschichte von dauerndem Wert geworden ist. Pausanias hat am Ende der Antoninenzeit für die wißbegierigen Besucher des nun amtlich als klassisch anerkannten Hellas einen Reiseführer geschrieben, der uns nicht nur ein unschätzbares Sammelwerk antiquarischen Stoffes ist, sondern auch die Neigung der Zeit zur Altertümelei und romantischen Religiosität mit grober Deutlichkeit widerspiegelt. Der vornehmste Repräsentant des Zeitgeistes ist der Redner Aristides aus Smyrna, ein Schüler des vorhin erwähnten Herodes Atticus. Was man damals noch als Inhalt in die Erzeugnisse mühevoller Redekunst legen konnte, das hat er hineingelegt, und seine Lobrede auf Rom ist ein mit den Farben der Wirklichkeit gemaltes Idealbild jener letzten Blütentage des Reiches. Die Zeitgenossen einschließlich der Kaiser haben ihn hochgeehrt, und er selbst hat es nicht für unbescheiden erachtet, sich über Demosthenes und Plato zu stellen und seine rednerische Lebensleistung den *) G. Kaibel Epigrammata Graeca n. 1045.

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Hadrian. Aristides. Lukian

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Waffentaten Alexanders des Großen gleichzuwerten1. Aber wenn wir uns dann in die berühmten „heiligen Reden" vertiefen und lesen, wie oft und mit welchen Folgeerscheinungen der berühmte Mann Leibschmerzen gehabt hat, welche Pferdekuren ihm durch Traumgesichte der Gott Asklepios dagegen verordnete, und wie er endlich nach 16 Jahren durch des Gottes Wunderkraft geheilt wurde — und das alles nicht in eine höhere Sphäre gehoben und durch Glauben geadelt wie etwa in Brentanos Berichten über Katharina Emmerich, sondern in der ganzen Banalität eines hysterischen Hypochonders: dann reißt der Schleier, und wir sehen, wie auch die besten Literaten dieser Zeit nur innere Dürftigkeit mit dem glänzenden Flitterkram der Bühne umkleiden und von dem Beifall klatschenden Publikum bereitwillig für die Helden glanzvoller Vorzeit genommen werden, die sie darzustellen vorgeben. Das wirkliche Leben und das Walten der Geschichte liegt für diese Leute und ihr Publikum außerhalb des literarischen Theaters, das ihnen die Welt bedeutet. Der Syrer Lukian ist ein Mann, der das weiß, und der deshalb seine Zeit mit all ihren Größen, sich selbst eingeschlossen, nicht ernst nimmt. Was ihm in den Weg kommt, reißt er herunter, und am meisten die Dinge, welche höchste Erhabenheit in Anspruch nehmen, Religion und Philosophie: aber stets geistreich, mit einem wundervollen Scharfblick über die schwachen Stellen und komischen Züge der Gegner. Die alten Götter Homers und die neuen Gestalten des Orients, Heroen des Epos und Helden moderner Romane, religiöse Propheten und kynische Moralprediger, pedantische Professoren und leichtfertige Mädchen, das alles wirbelt in tollem Karneval um den Leser lukianischer Schriften und amüsiert ihn eine Weile, bis der Geschmack fade wird und der Mann mit der klingelnden Narrenkappe schließlich Ekel erregt. Die anderen meinen es gut, aber sie sind Schwächlinge und spielen die Starken, er glaubt an nichts als an seinen Vorteil, und begeifert alles mit mephistophelischem Vergnügen, was anderen heilig ist — ge!) Aristides or. 50,19. 20. 48. 49. p. 430. 438 KeiL

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rade darum. So ist er der Urahn eines Journalistentypus, den das 19. Jahrhundert erst zur Vollendung gebracht hat. Abseits von all diesem literarischen Treiben steht Kaiser Mark Aurel. Es hat ihm nichts geschadet, daß ihn Fronto und Herodes Atticus in lateinischer und griechischer Moderhetorik unterrichtet haben. Als ihm ei" Stoiker die Vorträge Epiktets in die Hand drückte, entschied sich ihm der Weg seines geistigen Lebens. Der römische Kaiser wurde der ehrfürchtige Jünger des phrygischen Sklaven. In der schwersten Zeit seines Lebens, während er gegen die Markomannen zu Felde lag, hat er ein Seelentagebuch geführt, nicht empfindsam wie die Menschen des 18. Jahrhunderts, sondern in herber Selbstprüfung und Kritik aller irdischen Werte. Mitleidslos zerstört er jede freundliche Täuschung, jeden lockenden Schein. Der Mensch ein vergängliches Gebilde, für eine kurze Spanne ins Dasein gerufen: dann zerfällt der Leib und zu neuen Gestalten formt seine Reste die allwaltende Natur, die Seele zerflattert in der Luft — alles ist Wandlung. Nichts bleibt, und auch der Nachruhm stirbt mit der Nachwelt. Wie lange du lebst, ist gleichgültig: nur daß du deine Pflicht tust, ist nötig: das heißt, daß du den Göttern eine reine Seele darbietest und den Menschen Gutes erweist. Hoffe nicht auf Dank und laß dich nicht verbittern durch Undank. Scheide freundlich aus dieser Welt, wenn die Natur dich von der Bühne abruft: denn was sie tut, ist gut. Viele Taueende haben nach ihm über diesen Tagebüchern gesonnen und Stärkung daraus geschöpft. Friedrich der Große las in seinem Zelt darin, als der Siebenjährige Krieg ihm die Seele bedrückte: aber er fügte die Menschenverachtung hinzu, die Mark Aurels Herzen fremd ist. Die Philosophie war den Besten dieser Zeit ihre Religion: sie und sie allein wies ihnen den Weg in eine andere Welt und zur Anerkennung einer höheren Macht. Die alten Götter von Hellas und Rom waren und blieben tot; daran änderte auch die archaistische Stimmung nichts, die seit Hadrian die Kreise der Gebildeten beherrschte. Der Redner Aristides hat eine ganze Serie Prosahymnen auf die Götter verfaßt: einer nach

Mark Aurel. Religion bei Aristides und Plutarch

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dem andern wird mit klingenden Worten gefeiert, aber sieht man genauer zu, so finden wir als echten Kern seines Götterglaubens den stoischen Monotheismus, und die einzelnen Götterfiguren erscheinen als Bilder der kosmischen Kräfte, die dem Urquell des Allvaters entströmen. In den Reden auf Zeus und auf Sarapis, die ihm nur zwei verschiedene Bezeichnungen des weltumfassenden Einen sind, kommt das besonders deutlich zum Ausdruck. Diese Grundmelodie tönt in allen Reden und wird in immer neuen Variationen abgewandelt, deren Motive die traditionelle Mythologie liefert. Aber von Religion, von persönlichem Erfassen des Göttlichen in bindendem und lösendem Erleben, ist keine Rede. Aristides steht dieser Götterwelt kühl gegenüber: er predigt von ihr. aber lebt nicht mit ihr oder gar in ihr. Und doch macht er eine Ausnahme: Asklepios ist ihm eine mächtige und heilsame Wirklichkeit von persönlicher Gestaltung. Er ist ihm ja auch unzählige Male im Traum erschienen und hat sich um tausend Einzelheiten seines Lebens gekümmert. Seinem Wesen nach ist er derselbe Allgott, den wir auch Zeus nennen 1 , aber ihn hat Aristides als persönlichen Helfer, als wirkenden Gott erfahren, an ihm hängt er mit seiner Seele — ohne freilich daraus irgendwelche weitere Konsequenzen zu ziehen. Plutarch stand da dem alten Glauben noch viel näher, wenn er durch eine ausgebildete Dämonenlehre die Orakelpraxis erklärte und selbst einPriestertum in Delphi mit gutem Gewissen verwaltete. Ihm war Apollo der Allgott seines monotheistischen Glaubens, aber anders als Aristides wußte er von einem aktiven Eingreifen Gottes in die Geschichte und glaubte mit Plato an die Unsterblichkeit der Seele und sittlich abwägende Vergeltung 2 . Dieselbe Erfassung der Religion von der Philosophie aus finden wir bei Philostrat, der zum Kreise der Hofgelehrten der Julia Domna gehört und auch bei Caracalla gut gelitten war. Auf Anregung der Kaiserin schreibt er eine Biographie des Apollonius von Tyana, der unter Domitian als wandernder l

) Aristid. or. 42, 4 p. 335 Keil. *) Vgl. Wilamowitz, Glaube der Hellenen 2, 497—508.

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Prophet eines erneuerten Pythagoreismus berühmt gewesen war. Aber er malt ihn nun für den Geschmack des dritten Jahrhunderts als philosophisch-religiösen Heiland, der durch Predigt und Wundertaten seine über Menschenmaß hinausgehende Verbindung mit der Gottheit erweist und den mystischen Weg zur Vergottung durch Askese und Kontemplation offenbart. Der modernen Neigung entsprechend wird der Orient als Urquelle der Weisheit eingeführt und Indien hoch über das einst so gefeierte Ägypten gestellt: aber Apollonius ist doch Hellene, und bei jeder Gelegenheit wird trotz aller Orientschwärmerei der absolute Vorrang des Griechentums in der Menschheit zum Ausdruck gebracht. Das Ganze ist unter eifriger Benutzung geographischer Handbücher zu einem weitausgreifenden Reiseroman ausgesponnen und hat durch die geschickte Erdichtung zuverlässiger Gewährsmänner 1 bis auf den heutigen Tag viele gläubige Leser gefunden. Die Kritik an den Göttern Homers hatte im Laufe der Zeit auch zur Anzweifelung der historischen Treue des Dichters geführt, und die gebildete Welt diskutierte die Frage nach der geschichtlichen Existenz der homerischen Helden und der Wirklichkeit der mythologischen Tradition von ihren Schicksalen. Man wird an die Anfänge apologetischer Bekämpfung der Bibelkritik in der Aufklärungszeit erinnert, wenn man den Philostrat die Glaubwürdigkeit Homers beweisen sieht: Im Grabhügel des Aias ist ein Skelett von 11 Ellen Länge zu Tage gekommen: Hadrian hat es neu bestatten lassen. Die in Nemea aufgefundenen Gebeine des Orest maßen 7 Ellen. Und vor 50 Jahren sind die Leute scharenweise zum Vorgebirge Sigeion gepilgert, wo die 22 Ellen langen Überreste eines von Apollo getöteten Giganten aufgedeckt worden waren 1 . Dies und ähnliches sind die grundlegenden Beweise, auf denen sich dann freilich sofort eine andere Welt aufbaut. Die Heroen leben noch jetzt, erscheinen ihren Freunden zuweilen, und zwar in der vorgeschriebenen Größe von 10—12 Ellen*, unter») Ed. Meyer im Hermes 52, 409 ff. = Kl. Schriften 2, 131—191. *) Philostrat Heroicus p. 668 ff. ®) Philostrat vita Apoll. 4,16; Heroicus p. 673.

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Philostrat. Heroen- und Gespensterglaube

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halten sich freundlich mit ihnen und geben bereitwillig Auskunft über allerlei Einzelheiten des trojanischen Krieges, die bei Homer nicht zu finden sind: dafür ist das Interesse des Publikums trotz seiner sonstigen Skepsis offenbar besonders groß. Aber sie helfen auch in allerlei Nöten und segnen die Fluren, rächen sich freilich grimmig, wenn ihnen die gebührende Ehre versagt wird. Und wer sich von ihrer Existenz überzeugen will, brauchtnur indas Schwarze Meer einzufahrenund links vomBosporus nach der Insel Leuke zu suchen1. Dort lebt Achill mit der Helena und ist schon von vielen Schiffern belauscht worden. Von solchen Berichten ist bis zu gruseligen Gespenstergeschichten mit Hexen und Zauberspuk nur ein Schritt: Lukian hat uns eine prachtvolle Sammlung der Art erhalten und manche Partien seines parodistischen Reiseromans könnten mit geringen Änderungen in dem Heroenbuch des Philostrat stehen2. Schwerlich hat Philostrat den Unsinn geglaubt, den er seinen Lesern so reichlich auftischt: aber es ist bezeichnend für die Gesamthaltung des gebildeten Publikums seiner Zeit, daß es solchen Lesestoff verlangt. Es vermag philosophische Skepsis mit krassem Aberglauben und Reste natur-religiöser Empfindungen mit pantheistischer oder platonisierender Mystik zu verbinden und lauscht der pythagoreischen Predigt von der Seelenwanderung, selbst in grober Verballhornung, mit stillem Hoffen. In dieser Atmosphäre ist auch der Roman von dem in einen Esel verzauberten Jüngling entstanden, den ein sonst unbekannter Lucius von Patrae verfaßt hat. Lukian vergnügt seine Leser mit einem parodistischen Auszug daraus, während Apuleius den Stoff und seine Tendenz beibehält, aber das Ganze breit auswalzt und reichlich mit Zusatzstücken gleicher Färbung versieht. Er will ebenso wie der ursprüngliche Verfasser seinen Lesern eine ernsthafte, moralisch-religiöse Lektüre bieten: was nicht eben schmeichelhafte Schlüsse auf die Geistesart dieser Leser gestattet'. ') Philostrat Heroicus p. 745 f. Anm. Marc. 22, 8. l ) Lucian Philopseudes; Verae historiae 2, 6—36. s ) Photius bibl. cod. 129; Lucian Lucius, Apuleius Metamorphosen. Vgl. R. Reitzenstein, Hellenist. Wundergeschichten S. 32—34.

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W i r haben schon im ersten Jahrhundert das Eindringen des Orients in die Religiosität der griechischen Kulturwelt beobachten können 1 . Das zweite treibt diese Strömung mit kräftiger Wirkung dem Westen zu, wo sie dann im dritten ihren Höhepunkt erreicht. Immer mehr verblassen die Gestalten der alten Staatsgötter. Zwar erscheinen sie noch wie früher auf den Münzen des Reichs, aber in steigendem Maße finden wir an ihrer Stelle die Personifikationen abstrakter Begriffe 2 : Eintracht, Glück, Treue, Freiheit, Friede, Heil, Sieg, Tüchtigkeit — oder den „Genius" des Reichs, des Kaisers, der Stadt. J a man hat diesen Namen sogar Staatstempel gebaut'. Das ist deutlich eine Flucht aus der konkreten Religion der Väter in die abstrakte Welt der Philosophen. Aber die orientalischen Götter, die mit lebendiger Kraft im Volk umgehen, bleiben der amtlichen Bildersprache der Kaisermünzen fern. Eine Ausnahme machten Isis und Sarapis, seit Vespasian ihnen seine besondere Verehrung gewidmet hatte 1 , und Kybele seit Hadrian, Als der Afrikaner Septimius Severus auf dem Throne saß, hat er die punische Himmelsgöttin und auch den Eschmun als Heiland gelegentlich auf solche Münzen gesetzt, denen er spezielle Beziehung zu Carthago geben wollte; Elagabal hat die Einholung des heiligen Steines von Emesa abbilden lassen 5 . Aber das sind nur vorübergehende Launen gewesen: im Ganzen widersprachen solche Orientalismen dem Stil des Münzgepräges. Eine deutlichere Sprache reden die amtlichen Bauten von römischen Staatstempeln*. Seit die Restauration des Augustus 2 ) Anschauliche Ubersicht bei Gnecchi Me') Bd. 1 S. 160 ff. daglioni romani I. XLVI—XLVIII Monete romane» S. 290—299. Mit Vespasian beginnt das Anschwellen, erst der Sieg des Christentums macht dem ein Ende. Bernhart Handbuch 1, 80—102. ») Tempel der Concordia, Felicitas, des Bonus Eventus, der Justitia, Pax, Fortuna, Indulgcntia sind von Augustus bis Mark Aurel erbaut: Wissowa, Religion* S. 596 f. 4 ) Bernhart Handbuch 1, 63 f. Josephus B. 7, 123. 5 ) Bernhart Handbuch 1, 59. 106 und 2, Taf. 49.5 (Elagabal); Gnecchi Medaglioni romani 3 S. 39; Abb. der Dea Caelestis bei J. Hirsch Auktionskatalog 31 Taf. 32 Nr. 1534; R. Ball Auktionskat. 6 Taf. 45 Nr. 1795. «) Eine Liste gibt Wissowa, Religion2 594—597.

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Eindringen des Orients

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verklungen ist, werden den alten Göttern nur noch dann Tempel gebaut, wenn ein speziell dynastisches Interesse vorliegt: das gilt vom Tempel der Venus und Roma, den Hadrian errichtete, und erst recht von den beiden Minervatempeln Domitians, der sich amtlich als Sohn der Minerva bezeichnen ließ 1 . Dagegen sind den abstrakten Gottheiten in dieser Zeit sieben und den vergötterten Kaisern fünf Tempel erbaut worden'. Freilich hat Mark Aurel zum Dank für das Regenwunder, das seine Truppen im Quadenkrieg vor dem Verdursten rettete, dem Merkur einen Tempel geweiht: aber wenn wir lesen, daß ein ägyptischer Magier namens Arnufis dies Wunder durch Anrufung des „Hermes der Luft" eingeleitet habe, so wird uns deutlich, daß Merkur hier nur der lateinische Deckname für den ägyptischen Thot ist®, der Tempel also in Wahrheit einem orientalischen Gott gilt. Isis hat mindestens seit Beginn der Kaiserzeit eine wachsende Zahl von Heiligtümern in der Stadt gewonnen 4 und unter Caligula oder Claudius zugleich mit Sarapis einen Staatstempel auf dem Marsfeld bekommen. Gegen andere Götter blieben die Antonine zurückhaltend. Erst mit dem Regierungsantritt des Septimius Severus beginnt die neue Zeit. Er selbst baut in Rom den Göttern seiner Vaterstadt Leptis Magna, die er lateinisch Li'oer und Hercules nennt, einen Tempel 5 , einen anderen weiht er der Bellona Pulvinensis, die nur eine Variante der Kybele ist", und auch Juppiter Dolichenus, der kriegerische Gott von Kommagene, erhält auf dem Aventin einen Staatstempel 7 . Diese Dynastie bricht mit der urrömischen Tradition, welche fremden Göttern ihren Platz außerhalb der alten heiligen Stadtgrenze, des Pomeriums, anweist. Caracalla errichtet dem Sarapis einen mächtigen Tempel auf dem Quirinal 8 — wie er denn auch, um den heiligsten Göttern neue Scharen von Verl ) Philostrat Vita Apoll. 7. 24. *) S. 20 Anm. 3. ») Dio Cass. 71,8, 4 W . Weber in Heidelberger Akad. Sitz.Ber. 1910 Abh. 7. 4 ) Liste bei Kiepert-Huelsen Formae urbis Romae 1 p. 17 vgl. Wissowa Religion" 352 f. «) Dio Cass. 76, 16,3. · ) Wissowa Religion» 349 f. Vgl. Dessau Inscr. n. 4180—4182. ') Wissowa Religion2 362. «) Jordan-Huelsen Topographie der Stadt Rom I 3 S. 423.

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ehrern zuzuführen, die Schranke des römischen Bürgerrechtes im ganzen Reich niederlegt und dies Ehrenrecht den Millionen gnädig schenkt 1 . Es lag bewußte Absicht in dieser Beseitigung der Besonderheiten des Römertums. Septimius Severus war Afrikaner, seine Gemahlin Julia Domna die Tochter des Hohenpriesters des Baal von Emesa. Der Enkel ihrer Schwester, Bassianus, wurde für das gleiche Pries teramt aufgezogen, bestieg aber dann als 14j ähriger Jüngling den Thron und nannte sich mit dem verehrungswürdigen Namen Markus Aurelius Antoninus, führte aber daneben den Titel eines Hohenpriesters des Gottes Elagabal weiter. Diesen seinen Gott machte er zum Herrn der ganzen Götterwelt. Den heiligen Fetischstein aus Emesa hatte er nach Rom überführen lassen. Ein prächtiger Tempel wurde für ihn auf dem Palatin neben den Kaiserpalästen errichtet; hierhin wurde zusammengeschleppt, was an heiligen Steinen und berühmten Fetischen greifbar war samt dem Feuer der Vesta, und mit der karthagischen Himmelsgöttin Tanit feierte der syrische Gott die heilige Hochzeit 1 , während der Kaiser durch seine Heirat mit der Vestalin Aquilia Severa' ein irdisches Gegenstück dazu lieferte. Er blieb eben auch als Kaiser der syrische Sonnenpriester und benahm sich danach, bis die Soldaten ihn samt seiner regierenden Großmutter totschlugen. Sein Name wurde verflucht, der Fetisch nach Emesa zurückgeschickt. Aber was geschehen war, blieb in der Folgezeit wirksam, weil es zwar in der Form eine wahnsinnige Caesarenlaune, in der Sache aber eine geschichtlich begründete Wegweisung war: der Sonnengott der Orientalen war wirklich zum letzten Herrscher im Himmel dieser untergehenden Welt bestimmt. Als er entthront wurde, hat er mit seinem Namen auch seinen Geburtstag am 25. Dezember seinem Nachfolger überlassen: Christus regiert nun die Welt als „die wahre Sonne der Gerechtigkeit". x) Mitteis - Wilcken Chrestomathie II 2 n. 377, dazu Cumont 2 ) Script, hist. Aug. Heliogab. 1, 6. 3, 4. oriental. Relig.» 214 Α. 1. 7, 1—5 Herodian hist. 5, 5—6. Cumont bei Pauly-Wissowa 5, 2220 ff. 3 ) Prosopogr. Imp. Rom. 2,225.

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Syrische Götter. Pantheos

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In diesem Sonnenkult gipfelt eine Entwicklung, die mit der hellenistischen Zeit ansteigend zu beobachten ist: das vom Orient befruchtete religiöse Denken faßt verschiedene Götter als wechselnde Anschauungsformen einer einzigen großen Gottheit. So finden wir Zeus Helios und Sarapis als Einheit verehrt, so häufen die Bilder des Allgottes „Pantheos" die Kennzeichen von einem halben Dutzend Göttern auf eine Figur oder es wird ein einzelner Gott, Juppiter oder Sarapis oder Silvanus oder gar Priapus als Pantheos bezeichnet. Was man sich dabei dachte, sagt mit klaren Worten Apuleius, wenn er uns von der ihm zuteil gewordenen Erscheinung der Isis berichtet 1 : „Siehe hier bin ich, durch deine Gebete gerufen: die Mutter der Natur, die Herrin aller Elemente, die Erstgeburt der Ewigkeit, die Höchste der Götter, die Königin der Abgeschiedenen, die Erste der Himmlischen, die einheitliche Gestalt der Götter und Göttinnen. Des Himmels lichten Giebel, des Meeres heilbringende Winde, das Schweigen der Toten — das alles verwalt' ich mit meinem Winke. Meine alleinige Gottheit verehrt unter verschiedener Gestalt, in wechselndem Brauch, mit vielartiger Benennung der ganze Erdkreis: die Phryger als Göttermutter, die Athener als Athena, die Kyprier als Aphrodite, die Kreter als Artemis Diktynna, die Sizilier als Persephone, die Eleusinier als Demeter, andere als Hera oder Bellona oder Hekate oder Nemesis: doch die von den Strahlen der aufgehenden Sonne erleuchteten Äthiopen und Arier und die uralter Weisheit mächtigen Ägypter verehren mich mit den mir zustehenden Bräuchen und nennen mich mit meinem wahren Namen: Königin Isis". Da sehen wir die zerfallenden Religionen der antiken Völker unter orientalischer Führung auf dem Weg zu einem naturreligiösen Monotheismus. Die orientalischen Kulte wurden durch die Massen der importierten Sklaven, aber auch durch Kaufleute und Soldaten nach Rom gebracht und dort von landsmannschaftlichen Ver') Apuleius Metam. 11, 5. Zum Ganzen vgl. H. Usener Götternamen S. 341—349. Roscher Myth. Lex. 3, 1555.

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1. Das römische Weltreich

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einigungen gepflegt 1 . Sie gewannen hier und da Gönner in den maßgebenden Kreisen, schließlich am Hofe und stärkten dadurch ihre propagandistische Kraft. Von Rom strömten diese Einflüsse dann in die westlichen Provinzen, zunächst von denselben Elementen getragen, die sie auch nach Rom gebracht hatten, dann aber auch die bodenständige Bevölkerung erfassend: dies letztere natürlich in sehr verschiedenem Ausmaß 1 . Das alles ist uns von Meisterhand geschildert' und braucht hier nicht aufs neue dargelegt zu werden. Es mag genügen, die religiöse Entwicklung an einigen Beispielen aufzuzeigen. Wenn wir uns von Rom zu der jetzt in weitem Umfang ausgegrabenen Hafenstadt Ostia begeben, so erhalten wir sofort nützliche Belehrung über unser Problem. Der alte Stadtgott ist Volcanus: sein Priester steht an der Spitze der geistlichen Honoratioren und führt eine Art Oberaufsicht über alle sakralen Grundstücke. Sein Tempel ist noch nicht aufgedeckt. Das unter Claudius ausgebaute Forum trägt zunächst ein „Kapitol" d. h. einen der kapitolinischen Trias Juppiter, Juno, Minerva geweihten Tempel: das gehört sich so für eine mit römischem Bürgerrecht ausgestattete „Kolonie". Ihm gegenüber liegt ein Tempel der Roma und des Augustus, also ein Heiligtum des Bekenntnisses zu Kaiser und Reich. Aber es finden sich in einer Nebengasse hinter der Hauptstraße noch vier kleine Tempel aus letzter republikanischer Zeit, in denen wir vielleicht die von einem reichen Bürger namens Gamala gestifteten Tempel der Venus, Fortuna, Ceres und Spes zu erblicken haben 4 . Davor steht ein kleiner Juppitertempel des ersten Jahrhunderts. Wem der große Tempel auf dem Mittelplatz der Schiffahrtsbörse galt, wissen wir nicht. Dann hören wir noch im 2. Jahrhundert von der Wiederher') G. La Piana Foreign groups in Rome during the first centuries of the empire 1927 (aus Harvard Theol. Review). 2) Reiches Material gibt J. Toutain Les cultes pa'iens dans l'empire romain Bd. 2, Paris s 1911. ) F. Cumont, Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum. 3. Aufl. 1931 4 ) CIL 14 n. 375 = Dessau, Inscr. lat. n. 6147, dazu O. Seeck, Untergang 2. 156 f. mit Anm. S. 523 f. Calza Ostia S. 117 f.

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Kulte in Ostia

II 25

Stellung eines Tempels des Castor und Pollux1, damit ist unser Wissen um Tempel der alten Götter Roms zu Ende. Die von Claudius zur modernen Hafenstadt umgebaute Kolonie huldigte den neuen Göttern der Loyalität und denen des Orients. Es ist bezeichnend, diaß der Gartengott Silvanus, der nicht zu den großen Göttern gehört, aber als segenspendender Naturdämon auch in Ostia eifrige Verehrung genießt, schon in der Antoninenzeit nicht nur mit den Laren, sondern auch mit Isis und Sarapis verbunden wird*. Eine im dritten Jahrhundert mit einem Wandbild des Silvanus ausgestattete kleine Kapelle enthält auch ein Bild der Laren und der Isis neben Augustus, Fortuna, Liberalitas und Alexander dem Großen'. So ist es nicht zweifelhaft, daß es in Ostia auch ein Heiligtum der ägyptischen Götter gegeben hat: es ist nur noch nicht aufgefunden. Dagegen ist eine Kapelle der Großen Mutter Kybele an der Stadtmauer zu Tage getreten, eine Kultgrotte des Sabazius liegt ganz nahe bei der Hauptstraße, und dem Mithras sind mindestens fünf Heiligtümer geweiht, von denen das älteste gegen 140 gebaut ist4. Das im Kult der Großen Mutter eingebürgerte und mit einer Bluttaufe des Opfernden verbundene Stier- oder Widderopfer (Taurobolium und Kriobolium) wird in Ostia seit den Tagen des Mark Aurel „für das Heil des Kaisers und das Wohl des ganzen kaiserlichen Hauses" eben so eifrig geleistet4, wie es in den westlichen Provinzen Sitte ist. Dorthin scheint dieser schaurige Brauch von der römischen Kultstätte am Vatikan gebracht zu sein*, und in Rom selbst hat man Zeugnisse für seine Ausübung bis zum Ende des vierten Jahrhunderts gefunden. Kein östlicher Kult hat so fest im ganzen Westen Wurzel geschlagen und ist so tief in alle Schichten der Bevölkerung eingedrungen wie die Verehrung der Großen Mutter vom Berge, der Kybele7. s ) CIL 14 n. 20. s ) Calza Ostia 19. 133 t. ') CIL 14 n. 376. *) Calza Ostia S. 119. 134. 165. 169 f. Vgl. die Pläne S. 17. Sabazius S. 92, Kybele S. 168. Datum: CIL 14 n. 33. 67. «) CIL 14 n. 4 0 - 4 3 . 4301—4306. · ) Dessau Inscr. lat. n. 4131. Wissowa Religion» 322—325. Cumont Orient. Rel.» 61 f. η Toutain Cultes pa'iens 2,111—119.

II 26

1. Das römische Weltreich

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Im übrigen Abendland fehlt es uns im allgemeinen an Städten, die in solchem Umfang ausgegraben sind, daß wir einen wirklich umfassenden Überblick über die Stellung ihrer Einwohnerschaft zur Religion gewinnen können. Was uns im westlichen Kleinasien möglich war, läßt sich in analoger Weise nur im nördlichen Afrika wiederholen. Im Jahre 100 wurde durch den Kommandanten der seit Augustus in Afrika stehenden dritten Legion1 ein Trupp Veteranen in Timgad angesiedelt, und dieser Ort ist sofort zu einer regelrechten Landsturmkolonie ausgebaut worden, die schnell aufblühte und Jahrhunderte hindurch bestand, bis sie im 6. Jahrhundert zerstört wurde*. Den religiösen Bedürfnissen dieser alten Soldaten genügten drei Tempel, von denen die beiden größeren außerhalb der Stadtmauer liegen. Mächtig ragen noch heute die Säulen des Kapitols gen Himmel, das wie in Ostia als Wahrzeichen der Bürgerkolonie errichtet und der Trias Juppiter, Juno, Minerva geweiht ist. Am Westtor liegt der 151 erbaute Tempel des Ortsgenius von Timgad, mit dessen Kult die Verehrung sowohl der kapitolinischen Dreiheit als auch des Bacchus, Silvanus und Mars verbunden war. Der Kult der Stadtgenien ist in den städtereichen Provinzen Afrika und Spanien besonders verbreitet 8 : er ist nur eine besondere Form der in der Kaiserzeit reich entfalteten Geniusvorstellung, die es liebt, ein namenloses Wesen als göttliche Schutzmacht eines Ortes, eines Gebäudes, einer Gemeinschaft zu verehren. Das ist zwar eine altrömische Weise, bedeutet aber in dieser Spätzeit eine pantheisierende Ausweitung des religiösen Gefühls. Silvanus genoß bei den Soldaten der dritten Legion einen besonderen Kult, dessen Grund wir nicht kennen. So ist es nicht verwunderlich, daß die Veteranen von Timgad ihn ihrem Genius zugesellen: und das Gleiche gilt von der bei Soldaten *) Dessau Inscr. lat. 6841. Ritterling bei Pauly - Wissowa 12, 1493—1505. *) Plan und Beschreibung bei Baedeker Mittelmeer S. 302—310. R. Cagnat Carthage, Timgad, Tebessa» 1927 S. 44—126. CIL 8, 2340—2443. 10738—10743. Suppl. 2 p. 1693 n. 17811—p. 1712 n. 17939. s ) Toutain Cultes pai'ens 1, 450 f.

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Kulte in Timgad und Dougga

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sehr verständlichen Verehrung des Mars 1 . Vater Bacchus oder vielmehr „Liber", wie er jetzt meist genannt wird, hat in Afrika viele Freunde1, die ihm für die Gabe des Weins dankbar huldigen, und zwar rekrutieren sich diese weniger aus dem Soldatenstand als aus den Kreisen des ortsansässigen Bürgertums 1 . Wieweit der griechisch-römische Gott dabei Erbe eines heimatlichen Weingottes der Punier geworden ist, läßt sich für Timgad nicht entscheiden: an anderen Orten kann man es mit Bestimmtheit bejahen. Der dritte Tempel des Städtchens steht auf dem Markt hinter der Rednerbühne. Das läßt vermuten, daß er einem offiziellen Kult diente': einName wird uns leider nicht genannt. Die Inschriften bringen keine erheblicheu neuen Züge in diesBild. Diese alten Soldaten und ihre Nachkommen und Erben leben in der amtlichen Frömmigkeit des Kaiserreichs und verehren daneben noch solche Göttergestalten des römischen Himmels, die ihnen traditionell nahestehen. Hier und da mag vielleicht Einfluß punischer Religion leise anklingen, aber das bedeutet nicht viel. In Timgad weht römische Luft: reinere als in Rom. Anders sieht es in Dougga aus. Dieser einst bedeutende Ort liegt südwestlich von Carthago und hat sich von einer ursprünglichen Berbersiedlung zur römischen Bürgerkolonie heraufgearbeitet*. Am Forum erhebt sich das elegante Kapitol, dessen Giebel eine Darstellung der Himmelfahrt des vergotteten Kaisers schmückt und das laut Weihinschrift zur Zeit Mark Aurels etwa 168 erbaut ist 4 . Dies ist das Haus der amtlichen Kultübung für die römische Trias. Aber oben auf der Höhe über der Stadt ragte der prächtige Tempel des Saturn, der in der Severerzeit 195 an die Stelle eines älteren Heiligtums getreten ist": aber dieser in beiden Tempeln verehrte Saturn ist kein römischer Gott, sondern der punische Baal". Und seine Gemahlin, die Dea Caelestis, das heißt die Himmelskönigin Tanit', hat ihren Tempel im Westen des Ortes, wo er noch heute, gut erhalten und von halbkreisrunder Mauer l ) Toutain 1, 361—364. ») Toutain, Cultes pa'iens 1, 253, 262. *) Baedeker Mittelmeer S. 371—373. Cagnat Carthage, Timgad, Tebessa» S. 67 gibt einen Plan. 4 ) CIL 8,1471=Suppl. 1 n. 15513. 5 ) CIL 8 Suppl. 4 n. 26498. ·) Toutain Cultes paiens 3 , 1 5 ff.

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1. Dae römische Weltreich

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umgeben, marmorleuchtend zwischen den Oliven schläft. Auch dies Gebäude entstammt der Zeit der afrikanischen Dynastie: es ist unter Alexander Severus, also um 230, erbaut 1 . Aber auch hier kann kein Zweifel obwalten, daß es ein älteres Heiligtum ersetzt. Das große afrikanische Götterpaar Baal und Tanit hat durch die Jahrhunderte hindurch die religiösen Gefühle der Einwohner von Dougga auf sich vereinigt. Schließlich erfahren wir noch von einem Tempel des Merkur, der mit zwei Innenräumen, einer Säulenhalle und Apsiden ausgestattet war, ja wir hören sogar, daß der Platz für das Heiligtum des Merkur von der Stadt geschenkt worden ist1. Aber auch dieser Gott gehört nicht dem römischen Kreise an, sondern ist ein einheimisches Wesen, dessen Kult uns ringsum in den kleinen Landstädten Afrikas begegnet — nur freilich können wir seinen Namen nicht ermitteln*. Timgad und Dougga sind Vertreter zweier entgegengesetzter Typen religiösen Lebens: gemeinsam haben sie miteinander das beinahe 4 vollständige Fehlen jedes orientalischen Importes. Dies ist in gewissem Sinne charakteristisch für die afrikanischen Provinzen überhaupt. Die bodenständigen Religionen genügten den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung auch in der Kaiserzeit noch, zumal sie in lateinischer Umformung sich der höheren Kultur der Zeit anpaßten. Nur die Mysterien der Großen Mutter mitsamt dem Taurobolium sind in den Kreisen des städtischen Bürgertums aufgenommen und eifrig gepflegt worden1. Die übrigen Kulte des Ostens, also die Verehrung der ägyptischen und syrischen Götter, haben ihre Stätten in den großen Garnisonen, vor allem in Lambaesis*. Auch für die Mithrasreligion sind die Soldaten aller Grade und ihnen folgend die Provinzialbeamten die entscheidenden Förderer: neben ihnen wirken orientalische Sklaven in l ) CIL 8 SuppL 4 n. 26457—63. ') CIL 8 SuppK 4 n. 26478—82. *) Toutain Cultes paiens 1, 299—307. 4) In Timgad ist ein mithrischer Dadophor gefunden (Toutain 2, 147 Α. 1), in Dougga ein Dendrophor bezeugt CIL 8 SuppL 1 n. 15527. «) Toutain 2, 101 ff. 109 ff. Taurobolium und Kriobolium: Dessau Inscr. lat. 4136. 4142. *) Toutain 2. 18 ff. 56 ff.

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Religionen am Rhein

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den Hafenstädten als Künder des neuen Glaubens, der seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts auch in Afrika eindringt*. Die Denkmäler und Inschriften der germanischen Grenzprovinzen am Rhein zeigen uns nicht das gleiche Bild*. Hier treffen römische Soldaten italienischer Abkunft mit solchen aus anderen Gebieten des Reiches zusammen; Orientalen kommen ins Land, meist als Soldaten, vereinzelt auch als Händler oder als Sklaven. Die Provinzen selbst spiegeln ihre wechselvolle Geschichte wider in dem Gemisch der Bevölkerung, die keltisch-gallische und germanische Elemente verbunden zeigt. Und dieser Buntheit der Völker entspricht die Mannigfaltigkeit der Religiosität. In den großen Garnisonen steht der amtliche Kult der römischen Götter und Kaiser an erster Stelle, aber neben ihm und in den Herzen der Mannschaften sicher viel lebendiger wirkend finden wir die Verehrung des Juppiter Dolichenus und vor allem des Mithra: beide sind im zweiten und dritten Jahrhundert bei den Soldaten wahrhaft volkstümlich. Die einheimische Bevölkerung dient ihren angestammten Göttern, baut ihnen Tempel und stiftet Weihdenkmäler, die in lateinischer Sprache beschriftet sind und die Namen der Götter entsprechend umstilisieren — wie es uns Cäsar und Tacitus lehren*. Wenn wir also hier Merkur, Mars oder Herkules genannt finden, so wissen wir, daß die römischen Worte keltische oder germanische Götter decken: nicht selten wird das auch durch einen Beinamen ausdrücklich gesagt4. Aber neben diesen hohen Göttern lebt eine Schar niederer oder nur örtlich wirksamer Gottheiten, für die es keine römische Etikette gab. Die treten mit ihren wirklichen Namen vor uns auf als Rosmerta, Visuna, Abnoba und erscheinen zuweilen auch im Bilde: so besonders gern die Schützerin der Pferde Epona ') Toutain 2, 146 ff. 163 ff. Vgl. die Karte bei Cumont Mysterien des Mithra* 1911. *) H. Lehner Orientalische Mysterienkulte im römischen Rheinland, Bonner Jahrbücher Heft 129 (1924) S. 36—91. ») Caesar Bell. Gall. 6. 17. Tacitus Germ. 9. 4) Wissowa im Archiv f. Religionswiss. 19, 8 ff. Zusammenstellung des Materials bei A. Riese Das rheinische Germanien in den antiken Inschriften S. 289—366.

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1. Das römische Weltreich

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auf ihrem Tier im seitlichen Sitz reitend oder die drei „Matronen" mit ihren mächtigen Hauben und den Fruchtkörben auf dem Schoß; aber auch der stiergestaltige Wassergott Tarvos 1 oder der baumfällende Handelsgott Esus. Im Altbachtal zu Trier ist in jüngster Zeit ein Tempelbezirk ausgegraben, der die einheimische Religionsgeschichte der römisch-germanischen Hauptstadt vom ersten bis ins vierte Jahrhundert aus den Trümmern von mehr als 30 Heiligtümern abzulesen gestattet 8 . Alks ist keltisch oder germanisch — aber als sich eines Tages ein gewisser Martius Martialis ein großes Haus inmitten dieser Heiligtümer baute, hat er sich darin für seine und seiner Freunde private Andacht ein Mithraeum anlegen lassen: und das ist sicher nicht das einzige in Trier gewesen*. Der Mithraskult hat sich in Germanien nicht auf die Truppen an der Grenze beschränkt, sondern auch in der einheimischen Bevölkerung im Innern des Landes Freunde gewonnen. In diesen Kreisen wird ferner den ägyptischen Göttern vielfach Verehrung gewidmet und der phrygischen Großen Mutter gehuldigt, sogar mit dem Taurobolium 4 ; und daß auch orientalischer Sternglaube nicht fehlt, lehren die zahlreichen Wochengöttersteine mit den Bildern der sieben Planeten. Mit der fortschreitenden Romanisierung haben die gebildeten Schichten der Bevölkerung auch die religiösen Anregungen der östlichen Reichskultur übernommen und an andere Volkskreise weitergegeben. Alle diese orientalischen Kulte haben das miteinander gemeinsam, daß sie ihre ursprüngliche nationale Beschränkung abgelegt haben und Universalität anstreben; und die meisten von ihnen haben die Form von Mysterienkulten angenommen und bilden eng geschlossene Gemeinden der Bekehrten und Geweihten®. In den Mysterien der Isis liefert der Mythus vom Tod und der Wiederbelebung des Osiris den Mittelpunkt, um den sich die Fülle der ägyptischen und ägyptisierenden Riten !) S. Heichelheim bei Paulv-Wissowa 4, 2453 ff. 3 ) S. Loeschckc Die Erforschung des Tempelbezirks im Altbachtale zu Trier 1928. 2 ) Lehner, Bonner Jahrbücher 129, 87 n. 263—267. ') CIL 13, n. 11352. Riese rhein. Germ. S. 457 n. 3068 b. «) s. Bd. 1, 174.

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Mysterienkulte. Isis. Kybele.

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gruppiert. Ende Oktober feiert man das Gedächtnis seines Todes, und mit lauten Klagen begleitet die jammernde Gemeinde die hohe Göttin bei ihrem verzweifelten Suchen. Endlich wird der Leichnam zerstückelt aufgefunden, die Glieder wieder vereinigt, und mit rauschendem Jubel grüßt die beglückte Schar den zum Leben erweckten Gott — den Garanten der Unsterblichkeit für jeden einzelnen seiner Gläubigen. Wer in diese heilige Gemeinschaft eintreten will, muß sich nach langer kultischer Vorbereitung einer Weihezeremonie unterziehen, die ihn — wie Apuleius 1 von sich geheimnisvoll berichtet — an die Grenze des Totenreichs gelangen und auf die Schwelle der Proserpina treten läßtund ihn schließlich an allen Elementen vorüber zurückführt. „Mitten in der Nacht sah ich die Sonne in blendendem Licht erstrahlen, die Götter in Hölle und Himmel hab ich besucht und von Angesicht zu Angesicht angebetet". Der Myste leidet den Tod, um durch die Macht der Isis geschützt aus dem Totenreich zurückzukehren, neubelebt und durch die Gottschau selber zum unsterblichen Gott geworden. Mit dem Himmelskleid geschmückt, das Haupt mit einem Strahlenkranz umwunden, zeigt sich im Bilde des Sonnengottes der Neugeweihte der Gemeinde. Klage um den Tod und Freude über die Wiederbelebung des Gottes ist auch der mythische Inhalt für das Hauptfest der Großen Mutter vom Berge, der Kybele 1 : am „Bluttage'' pflegten sich einst die durch rasenden Wirbeltanz in bewußtlosen Taumel versetzten Mysten blutige Wunden zu schlagen oder gar in höchster Ekstase sich nach dem Vorbild des Attis zu entmannen; später spritze das Blut wenigstens aus den zerschundenen Armen der tanzenden Priester. Aber diesem Trauertag folgte sofort das Jubelfest der „Hilaria" am 25. März, wo der Eintritt des Frühlings als die Auferstehung des Attis gefeiert wurde*. Und auch in dieser Religion ist eine Mystenweihe besonderer Art aufgebaut worden, die uns seit ') Apuleius Metam. 11, 23 f. Dazu M. Dibelius Die Isis weihe bei Apuleius. Heidelberger Akad. Sitzungsber. 1917 Abh. 4. *) H. Hepding, Attis S. 98 ff. 158 ff. 165 ff. ») Marquardt Rom. Staatsverwaltung y . 372 f. und Wissowa Religion« 320 fi.

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der Mitte des zweiten Jahrhunderts faßbar wird und zwischen Rom und den westlichen Provinzen des Reichs hin- und herwandert. Als Taurobolium und Kriobolium wird uns ein feierliches Stier- und Widderopfer bezeichnet, das als solenner Kultakt „für das Heil des Kaisers" dargebracht zu werden pflegt. Damit ist sicher im dritten Jahrhundert, vielleicht schon von Anfang an, eine Bluttaufe des Spenders verbunden, der in einer Höhlung unter dem Tier verborgen die Blutströme über sich fließen läßt und danach von den Gläubigen mit Gebetshuldigung begrüßt wird 1 . Er ist durch diese Taufe „wiedergeboren" — einmal lesen wir „auf ewig", aber anderweitig ist von einer Wiederholung der Bluttaufe nach 20 Jahren oder vielleicht auch nach 28 Jahren die Rede 1 . Sicher ist diese Zeremonie nicht die normale Weihe der Neubekehrten gewesen — dazu waren die Stiere zu teuer — sondern eine außergewöhnliche Leistung hervorragender Mitglieder zu besonderen Gelegenheiten. Der — anscheinend auf Männer beschränkte — Kult des persischen Lichtgottes Mithra hat sich im Lauf des zweiten Jahrhunderts in einer für Missionszwecke sehr geeigneten Mischform verschiedenartiger Elemente im Westen des Reichs gewaltig ausgedehnt, und die Soldaten haben ihn an alle Grenzen getragen. Im dritten Jahrhundert steigt seine Bedeutung noch weiter. Er ergreift auch nichtmilitärische Kreise der Bevölkerung und wird schließlich durch Verbindung mit der amtlichen Sonnenverehrung geadelt. Der Mithrasdienst hat die Herzen vielleicht am stärksten ergriffen, weil er den Typ des Mysterienkultes am breitesten ausprägt'. Die einzelnen Gemeinden sind nicht groß an Mitgliederzahl gewesen: alle Heiligtümer sind kleine Räume, in denen kaum hundert Mann Platz finden. So konnte sich eine engere Gemeinschaft von Kameraden bilden, der aber doch die gewohnten militärischen Rangstufen nicht fehlten. Denn in sieben Graden war die Beschreibung bei Prudentius Peristephanon 10, 1011—1050. *) Dessau Inscr. lat. 4152. 4154 vgl. 4150 und Lagrange in Revue biblique 36, 561—566. H. Hepding Attis S. 197 ff. Wissowa Religion« 322ff. 3 ) Cumont Orient. Relig.» 136 ff. Mysterien d. Mithra 125 ff.

Das Taurobolium. Mithra. Das Judentum

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heilige Schar gegliedert: und von der einen zur anderen Stufe gelangte man nur durch harte Prüfungen, die Selbstzucht und Furchtlosigkeit verlangten. Wir hören von Taufen und heiligen Mahlzeiten der Kultgenossen, von Unsterblichkeit und himmlischem Lohn, aber auch von Sittengeboten des Mithra, die einen asketischen Zug haben 1 . Jedenfalls ist klar, daß der Myste des Mithra ein Kämpfer sein soll für den Gott des Lichts, der Reinheit, der Wahrheit gegen das Reich der Finsternis und Lüge: auf dem persischen Dualismus hat sich eine männlich starke Moral aufgebaut', die wohl geeignet war, Soldatenherzen zu gewinnen und den unsicher umhertappenden Zeitgenossen einer Kulturkrise festen Halt zu schaffen. Aber mit philosophischem Grübeln hat sich diese Religion nicht beschwert: um Griechenland und das griechische Kleinasien ist sie in weitem Bogen herumgegangen — und das hat sich letzten Endes doch gerächt. Das Christentum hat gerade von diesen Gegenden aus seinen Weg begonnen. Das Judentum beginnt um diese Zeit allmählich aus dem Gesichtskreis des Historikers zu verschwinden. Das Volk selbst hat nichts getan, um seine Schicksale dem eigenen Gedächtnis zu erhalten, und die anderen Geschichtsschreiber haben sich nicht viel um Israel gekümmert. Die große Kette von jüdischen Aufständen unter Trajan und Hadrian* mit ihren entsetzlichen Grausamkeiten hat eine noch gräßlichere Sühne gefunden und den Volksbestand der orientalischen Juden katastrophal gemindert. Wir hören von „vielen Zehntausenden", die bei solchen Strafexpeditionen abgeschlachtet werden 4 , und ein römischer Historiker nennt uns Zahlen allein der Hadrianische Krieg vernichtete in Judäa außer Jerusalem fünfzig befestigte Orte und 985 Dörfer; im Kampfe fielen 580 000 Juden, und dazu kommen noch die unermeßlichen Verluste durch Hunger, Krankheit und Feuer. Die Zahlen sind merkwürdig genau und stammen vielleicht aus einer ') Justin Apol. 66, 4. Tertullian praescr. haer. 40. Porphyrius de abstin. 4, 16. Julian Caesares am Ende. *) Cumont Orient. Relig.' 143 ff. *) s. o. S. 3. «) Euseb. KG. 4, 2, 4.

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1. Das römische Weltreich

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amtlichen Siegesmeldung: buchstäblich richtig brauchen sie darum noch nicht zu sein, aber sie geben eine Vorstellung von dem Eindruck, den die Weltöffentlichkeit von den Kriegsfolgen gewann. Tatsächlich sind ganze Provinzen, Palästina, Mesopotamien, Libyen, Cypern von jüdischer Bevölkerung geräumt worden. Der Hadrianaufstand war durch ein allgemeines Verbot der Beschneidung ausgelöst worden 1 : das war für die Juden so unerträglich, daß sie selbst unter Antoninus Pius noch einmal revoltierten und es schließlich erreichten, daß ihnen die Erlaubnis zur Vollziehung dieses religiösen Ritus wiedergegeben, dagegen die Beschneidung von Nichtjuden erneut unter schwerste Strafe gestellt wurde 1 . Und dies Gesetz hat dauernden Bestand gehabt: damit war praktisch die Gewinnung von Proselyten unmöglich gemacht und die jüdische Weltmission unterbunden. Noch immer gab es freilich eine Einwirkung von Mensch zu Mensch, und wir hören noch Jahrhunderte lang von einer stillen jüdischen Propaganda: aber die Zeit der großen Werbung, die Hoffnung auf religiöse Welteroberung ist vorbei. Dafür sehen wir in steigendem Maße das Judentum auf die synkretistische Religiosität einwirken und namentlich in Mystik und Magie Einfluß gewinnen. Die hermetischen Schriften, von denen später zu reden sein wird, sind vom Judentum ebenso erfüllt wie die Zauberpapyri und magischen Gemmen: hier spürt man auf Schritt und Tritt jüdische geheime Weisheit. Die Stellung der Juden im öffentlichen Recht hat sich trotz der blutigen Aufstände nicht geändert, und als Caracalla das römische Bürgerrecht auf das ganze Reich ausdehnte, wurden auch die Juden damit beschenkt®. Selbst die religiöse Zentralorganisation, die sich das Volk nach der Zerstörung Jerusalems aufgebaut hatte, wurde anerkannt. Der „Patriarch" leitete die Judenschaft und zog durch seine „Apostel" von ihr eine besondere Steuer ein — die frühere Tempelsteuer flöß ja ») Spartian Hadr. 14, 2. ') Julius Capitol. Ant. Pius 5, 4. Modestinus in den Digesten 48, 8, 11 pr. *) Juster les Juifs 2, 23.

Das Judentum

II 35

jetzt in die römische Staatskasse — und sprach in Palästina Recht in solchem Umfang, daß sogar Todesurteile von ihm gefällt wurden 1 . Das Synedrium freilich war in seiner alten Gestalt verschwunden. An seiner Stelle galt eine Art Rabbinerakademie in Jabne, später in Tiberias als theologischjuristische Oberinstanz 1 . Wir treten jetzt in die Periode der schriftlichen Fixierung der Gesetzestradition ein, die sich in der Redaktion der „Mischna" kundgibt und damit die entscheidende Grundlage für die weitere Entwicklung des orientalischen Judentums liefert. Auf ihr wird im dritten und vierten Jahrhundert in Tiberias weitergebaut: der sogenannte „palästinensische" Talmud gibt Zeugnis von dieser Arbeit. Aber das Schwergewicht des Judentums war inzwischen nach Osten gewandert, und die Judenschaft von Babylon hat im fünften Jahrhundert in dem nach ihrem Wohnsitz benannten Talmud das für die Zukunft maßgebende Werk geschaffen. In dem Maße, wie das hellenisierte Judentum des römischen Reiches an Zahl und Einfluß abnimmt, steigt das Judentum rein orientalischer Prägung empor, um schließlich die Alleinherrschaft im Volk zu gewinnen. Ein höchst eindrucksvolles Beispiel des Zustandes dieser Übergangszeit haben uns die jüngsten Ausgrabungen an der Euphratfestung Dura geliefert. Hier, außerhalb der Reichsgrenze, aber in enger Verbindung mit Palmyra auf der einen, dem Parther- und Perserreich auf der anderen Seite, finden wir eine reiche und selbstbewußte jüdische Kolonie, die aramäisch, parthisch und griechisch spricht. Den gesetzlichen Vorurteilen gegen Bilder steht sie völlig frei gegenüber und läßt von guten Künstlern die Wände ihrer Synagoge von oben bis unten mit Reihen von Bildern aus der biblischen Geschichte bemalen. Darunter ist auch die Zertrümmerung des Dagonbildes im Philistertempel samt dem Abtransport der Bundeslade (1. Sam. 5 und 6) dargestellt': aber statt des Dagon ') Origenes epist. ad Afric. 14 (17, 44 f. Lo.). *) Schürer Gesch. 2, 247. Juster les Juifs 1, 401. ') Illustrated London News 1933, July 29 S. 190.

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1. Das römische Weltreich

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liegen auf dem Boden die Trümmer der in Dura höchst verehrten palmyrenischen Hauptgötterl Diese Judengemeinde fühlt sich turmhoch über ihrer Umgebung stehend: talmudisch empfindet sie noch nicht. Aber Israels Weg war entschieden. Es trennte sich endgültig vom hellenistischen Geist eben um diese selbe Zeit, in der das Christentum sich ihm unlöslich vermählte.

Die Kirche Geschichte zu schreiben ist eine uralte Kunst, aber Weltgeschichte haben zuerst die Griechen geschrieben. Herodot will den Heldenkampf der Perserkriege darstellen, aus dem Macht und Herrlichkeit des ihn umgebenden perikleischen Zeitalters erblüht ist, und er tut es, indem er ihn als letzte und entscheidende Phase eines uralten Ringens zwischen den Völkern des Orients, den Barbaren, und den Griechen begreift und deshalb die Gesamtgeschichte dieses gewaltigen Geschehens vor uns ausbreitet. So wird ihm die tausendfache Mannigfaltigkeit der Einzelgeschichten zu dem von e i n e m Gedanken aus begriffenen Ablauf einer die ganze Ostwelt beherrschenden Spannung. Er hat auch nach den Gesetzen gefragt, die im letzten Grunde die Weltgeschichte gestalten und ihr Sinn geben, und eine Antwort in religiöser Erkenntnis gefunden. Aber sein Götterglaube ist bereits gebrochen und nicht imstande, eine durchgehende Einheitlichkeit der Betrachtung zu schaffen 1 : wir hören von Schuld und Sühne, vom Sieg des Rechtes über den Frevel, aber auch von der Götter Neid und dem notwendigen Wechsel von Glück und Unglück, und schließlich von dem Schicksal, das auch die Götter nicht zu wenden vermögen. So ist die Weltgeschichte nur bis zu einer gewissen Grenze begreiflich und bleibt letztlich ein tragisches Rätsel wie so manches Einzelschicksal auf der Bühne des Lebens. Thukydides hat die Geschichtsschreibung von theologisierender Betrachtung befreit, sie auf diese erkennbare Welt und ihre Bedingungen beschränkt und dadurch ihren wissenschaftlichen Charakter begründet, zugleich aber auch die stofflichen Grenzen streng gezogen und dem Zerfließen in man') v. Wilamowitz, Glaube der Hellenen 2, 206. Jacoby bei PaulyWissowa Suppl. 2, 479—483.

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2. Die Kirche

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cherlei Bildergruppen gewehrt. Nach ihm hat lange Zeit niemand mehr gewagt, Weltgeschichte zu schreiben: das weitausgreifende Werk des Ephoros, das vor dem RegierungsantrittAlexanders des Großen vollendet wurde, ist nicht mehr als eine Stoffsammlung ohne leitende Idee gewesen 1 . Erst Polybios hat an den Beginn seiner meisterhaften römischen Geschichte wieder eine kühne weltgeschichtliche Erörterung gestellt. Er wirft die Frage auf, wie es gekommen sei, daß in den 53 Jahren von 220—168 fast die ganze Welt unter die Herrschaft der Römer kam. Eine Parallele hierzu kennt die Weltgeschichte nicht: alle früheren Dynastien, Perser, Lakedämonier, Makedonier, haben es nur zu vergänglichen Teilherrschaften gebracht, allein die Römer haben fast die gesamte bewohnte Welt sich zu eigen gemacht und damit etwas geschaffen, was auch in Zukunft nicht übertroffen werden kann. Vor 200 gab es nur Einzelgeschichten, von diesem Zeitpunkt an wird die Geschichte ein organisches Wachsen, das die V. elt umspannt und sie einem und demselben Ziel zutreibt*. Das heißt doch nichts anderes, als daß Polybios die gewaltige Bedeutung des selbsterlebten Geschehens klar erkannt hat und im Römerreich das Ziel der Gesamtentwicklung erblickt: womit er für die nächsten 600 Jahre — in gewissem Sinne sogar für zwei Jahrtausende — recht behalten hat. Für ihn beginnt die Weltgeschichte im Jahre 200 v. Chr. Ihre treibenden Kräfte sucht er mit nüchterner Sachlichkeit in den bekannten Kausalitäten dieser Erde und macht keine Ausflüge in das Gebiet des Unerforschlichen: nur daß er den irrationalen Faktor der Tyche, das heißt aber hier des Zufalls, an rechter Stelle zu würdigen weiß. An der Schwelle der römischen Kaiserzeit hat dann wieder Diodor eine Universalgeschichte geschrieben, aber nicht vom Geist der Wissenschaft bewegt, sondern um dem Publikum ein handliches Nachschlagebuch zu schaffen, in dem es das Wissenswerte aller Zeiten und Völker bequem finden konnte: mit Weltgeschichte hat das eigentlich nichts zu tun. ») E. Schwartz bei Pauly-Wissowa 6, 7 f.

s

) Polyb. hist. 1, 1—4.

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Weltgeschichte bei Griechen und Juden

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Aber auch dieser Literatenseele ist es deutlich, daß das Römerreich die Summe der Geschichte bedeutet. Das israelitische Volk hat von Syrern und Assyrern, Ägyptern und Babyloniern so häufigen und so eindringlichen Anschauungsunterricht in Weltgeschichte bekommen, daß seine Augen sich bald an den weiten Horizont und große Uberschau gewöhnten; und der religiöse Grundzug seines Denkens wies ihm früh den Weg zu einer vom Gottesgedanken ausgehenden Sinndeutung des Weltgeschehens. Gott hat aus allen Völkern der Erde sich das eine Israel auserwählt, das er zum Segensträger für die ganze Welt bestimmt hat. Mag auch jetzt Krieg und Exil das Volk mit Not und Elend züchtigen, es wird doch der Tag kommen, wo Israel allen Völkern die wahre Gotteserkenntnis und damit das Heil bringen wird. Dann wird Gott seine Herrschaft in Zion aufrichten und alle Welt wird zu seinem heiligen Berge pilgern, um anzubeten. Und in mannigfachen Variationen leuchtet die Hoffnung auf, daß dieses Gottesreich auch die politische Unterwerfung aller Nationen unter Israel bescheren werde. Von da führt der Weg zu dem apokalyptischen Bild des wunderbaren messianischen Friedensreiches, das seit den Tagen des Jesaia 1 immer wieder die religiöse Phantasie der Propheten entzündet hat. Um dieselbe Zeit, als Polybius seine römisch orientierte Auffassung der Weltgeschichte gewann, hat Daniel dem jüdischen Volk der Makkabäerkämpfe seine Offenbarungen vorgelegt: darin wird an zwei Stellen, c. 2 und c. 7, der Sinn der Weltgeschichte enthüllt. Es folgen einander die Reiche der Babylonier, Meder, Perser, Makedonien dies letzte, also das Reich Alexanders, zerbröckelt aber bereits und wird bald zerschmettert und durch ein neues Reich ersetzt werden, das Gott selbst aufrichten wird. In ihm wird der vom Himmel gesandte Menschensohn, der hier nur Symbol ist für das Volk der Heiligen des Höchsten, ewiglich die ganze Welt beherrschen 1 . Die Weltgeschichte mündet also nach göttlichem Plan in das messianische Gottesreich aus, wie es schon Jesaia geweissagt ') Vgl. Jes. 11, 6—9.

*) Daniel 2, 44. 7, 13.18. 27. Vgl. Bd. 1, 11 f.

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2. Die Kirche

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hatte. Wir haben bereits gesehen, wie dieser Gedanke im Spätjudentum weitergewachsen ist und sich mancherlei Formen gesucht hat 1 . Die Makkabäerzeit hat die Hoffnungen auf das große Wunder des Umsturzes aller irdischen Machtverhältnisse neu gefestigt, und unter dem Druck der römischen Herrschaft sind sie gewachsen und haben den verschiedenen Aufständen die innere Kraft geliefert bis hin zu der Katastrophe des Jahres 70 und dem letzten Verzweiflungskampf des Barkochbakrieges in hadrianischer Zeit. Die christliche Gemeinde hat das Erbe dieser jüdischen Enderwartung angetreten* und von der Apokalyptik gelernt, die Weltgeschichte als den Weg zum Reich Gottes anzusehen. Die johanneische Offenbarung zeigt uns, wie sich ein christlicher Seher das Ende dieser Welt und die Herrlichkeit des neuen Reiches denkt, wenn nach furchtbaren Zeichen des göttlichen Zorngerichtes Rom mit all seiner Pracht und Macht zusammenbricht und der Satan gebunden in den Abgrund stürzt. Ober den Trümmern dieser Welt erhebt sich dann ein neuer Himmel und eine neue Erde, und das himmlische Jerusalem leuchtet als Hauptstadt einem seligen Volke, das Gott und seinem Lamm untertänig ist und in seinem Lichte wandelt von Ewigkeit zu Ewigkeit. So oder ähnlich — es hat da sicher tausend Variationen gegeben — dachte sich die alte Christenheit den Ablauf der Weltgeschichte: fest und jedem Zweifel entrückt stand ihr die Tatsache, daß die großen Reiche dieser Welt mit dem Imperium Romanum ihre letzte und höchste Ausgestaltung gefunden hatten: diesem aber drohte die Katastrophe, und an seine Stelle trat das von der Parusie Christi eingeleitete Gottesreich der Verheißung. Die Dynastien der römischen Kaiser wurden abgelöst durch den König der Könige Christus. Er und sein Reich war Ziel und letzter Sinn der Weltgeschichte. Alles das war von Urzeiten an geweissagt und im Alten Testament verzeichnet: und die Verheißungen galten, wie Pau*) Bd. 1, 15. 25. *) Von den Christen wird als das vierte Reich (vgl. S. 39) das römische angesehen, vgl. Hippolyt in Danielem 2, 12.

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Das Gottesreich ab Ziel der Weltgeschichte

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ius es ausgeführt hat1, nicht den Juden, sondern dem „geistlichen Israel", das heißt den Christen. Diese junge Religionsgemeinschaft hat das erstaunlich klare Bewußtsein davon, daß mit ihr ein völlig neues Element in die Geschichte eingetreten ist und die alten Maßstäbe zerstört hat. Die nationale Beschränktheit des bisherigen Religionswesens ist gefallen, ein neues Volk* tritt auf, das nicht mehr als jüdisch, griechisch, skythisch oder barbarisch angesprochen werden kann*, sondern etwas schlechthin Neues ist, ein „drittes Geschlecht" neben Heiden und Juden 4 , ein „auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk, zum Eigentum Gottes bestimmt" 8 . Alle bisher in der Welt erschienenen Völker sind durch Fleisch und Blut bedingt und in ihrer Eigenart geformt: das Christenvolk allein ist aus dem Geist geboren, und zwar im Taufsakrament, das die aus allen Völkern auserwählten Christen zu einem neuen und überweltlichen Organismus zusammenschließt, den Paulus als den Leib Christi bezeichnet: so ist Christus denn auch das Haupt*. Und diese in Christus durch den Geist geeinte Gesamtheit der Christen heißt von früh an Ekklesia, Kirche. So nannte die griechische Bibel mit Vorliebe die Versammlung des Volkes Israel, und wenn die Christen diese Bezeichnung auf ihre eigene Gemeinschaft anwandten, so gaben sie eben dadurch dem Bewußtsein Ausdruck, das im Alten Testament mit Verheißungen bedachte auserwählte Volk Gottes, das geistliche Israel zu sein. Die Gesamtheit der Christen, die doch an vielen Orten der Erde wohnen, heißt Ekklesia, aber auch jede Einzelgemeinde wird so genannt: denn wo zwei oder drei versammelt sind in des Herrn Namen, da ist er mitten unter ihnen, da ist der Leib Christi sichtbar vorhanden, da ist „die Kirche". ») Gal. 3, 6—9. 6, 16. Rom. 4, 1—25. Phil. 3, 3. Vgl. Bd. 1, 128 f. *) Barnab. 5, 7. 7, 5. Or. Sibyll. 1, 383. vgl. Harnack, Mission 4 1, 262 ff. ·) Kol. 3, 11. Gal. 3, 28. vgl. Rom. 10, 12. 1. Kor. 12, 13. 4 ) Kerygma Petri f. 2 S. 15, 8. Klostermann» (Kl. Texte 3). Aristides Apol. 2. Harnack, Mission4 1, 259—289. «) 1. Petr. 2, 9. ·) 1. Kor. 12, 13. 10, 17. Rom. 12, 5. Kol. 1, 18. 24. Ephes. 2, 11—19. 5, 23. 1. Petr. 2, 5. Hermas Vis. 3, 3, 3—5. Vgl. Bd. 1, 118 f. 226 f.

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Der Verfasser des ersten Klemensbriefes drückt sich mit pedantischer Genauigkeit aus — und wir sind ihm dankbar dafür — wenn er sein Schreiben mit den Worten beginnt 1 : „Die Kirche Gottes, die in Rom zu Gaste ist, grüßt die Kirche Gottes, die in Korinth zu Gaste ist". Die eine Kirche wohnt auf Erden in der Diaspora, sie ist einstweilen noch „in alle vier Winde" und bis an der Welt Enden zerstreut 1 . Und sie ist auf Erden nur zu Gaste, ist ein Fremdling, denn „unsere Heimat, in der wir das Bürgerrecht haben, ist im Himmel"; die Christen sind Mitbürger der Heiligen droben und Hausgenossen Gottes*. Die eigentliche Heimat der Christen ist das himmlische Jerusalem, in dem der lebendige Gott ewiglich herrscht, inmitten unzählbarer Engelscharen und der Gemeinde der Auserwählten und Gerechten 4 . Dort ist die Stadt der Zukunft, der wir zustreben, das „Reich Gottes", welches die auf Erden zerstreute Kirche vereinigen wird®. Die Ekklesia ist nicht die Summe der irdischen Einzelgemeinden; sondern eine überirdische Größe, die alles umspannt, was Christus angehört und Glied an seinem Leibe ist, die hohen Engel und dienstbaren Geister, die schon vollendeten Seligen, Märtyrer und Bekenner, und die noch hienieden ringenden und kämpfenden Christen*. Diese Kirche liebt Christus wie seine Braut, sie ist sein Weib, das mit ihm eins ist, wie Mann und Weib es nach der Schrift sind: Adam und Eva im Paradiese bilden das Verhältnis Christi zur Kirche vor. Und wie Christus Geist, Pneuma, ist, so ist auch die Kirche geistlich und ewig: sie ist von Gott vor aller Welt, vor Sonne und Mond geschaffen 7 . So ist die Kirche Ursprung und Ziel alles Weltgeschehens, aber sie steht eben darum nicht in die») 1. Klem. 1 tit. vgl. Polyc. ad Phil. tit. Mart. Polyc. tit. 2 ) Didache 10. 5. 9, 4; vgl. Jak. 1,1. s ) Phil. 3, 20. Ephes. 2, 19. vgl. 1. Petr. 1, 1. 2, 11. Hermas Sim. 1, 1. *) Hebr. 12, 22—24. Apok. 21, 9—10. vgl. 19, 7. 5 ) Hebr. 13, 14. Did. 9, 4. 10, 5; Robert Frick, Gesch. d. Reich-Gottes-Gedankens 29 ff. ·) Vgl. Kol. 2, 9—12. 19 und Anm. 4. ') Eph. 5, 29—32. 2. Klem. 14, 1—5; vgl. Ign. ad Polyc. 5, 1. ad Eph. 5, 1. Apok. 19, 7. 21, 9. 22, 17 und Mark. 2, 19. Par. Matth. 25, 1—13. Joh. 3, 29. 2. Kor. 11, 2; Präexistenz: 2. Klem. 14, 1. Hermas Vis. 1, 3, 4. 2, 4, 1.

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Die Kirche als überirdisches Wesen

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ser Welt und ist noch weniger von dieser Welt, sondern die Welt ist um ihretwillen geschaffen und hat keinen Selbstzweck. Die Kirche hat ihren eigenen Organismus und ihre eigenen Gesetze, die Welt hat andere Gesetze: beide Größen stehen sich gegenüber wie zwei grundverschiedene Staatswesen 1 . Der Gedanke vom Gegensatz zwischen Gottesstaat und irdischem Staat, dem Augustins gewaltigstes Werk die klassische Form gegeben hat, gehört zum ursprünglichen Wesen des christlichkirchlichen Selbstbewußtseins. Wer als nüchterner Betrachter sich das Mißverhältnis zwischen der ungeheuren Fülle des Imperium Romanum, ja der ganzen Welt in sechs Jahrtausenden, und dem kleinen und zerstreuten Häuflein dieser Christenheit ansieht und sich lebendig vergegenwärtigt, daß diese Handvoll Menschen sich dem Römerreich fremd und stolz gegenüberstellt und behauptet, ihretwegen laufe die ganze Weltgeschichte — der begreift den griechischen Kritiker Celsus1, der entrüstet von diesen „Würmern" spricht, die behaupten, „sie kämen direkt nach Gott und seien ihm völlig gleich geworden, alles sei ihnen unterworfen, Erde und Wasser und Luft und Sterne, und ihretwegen sei alles da* und bestimmt, ihnen zu dienen". Er hat ganz recht. So können nur Schwärmer denken, und das sind gemeinhin Narren. Aber zuweilen, ganz ganz selten, ist ein Schwärmer ein Genie, ist die schwärmende Gemeinschaft Trägerin einer weltüberwindenden Kraft. Dann hört die analogisierende Berechnung des Historikers auf und er blickt durch die Ebene des normalen Geschehens hindurch in den Abgrund, aus dem die letzten und wissenschaftlich nicht erfaßbaren Kräfte aufsteigen. Der Glaube redet dann mit Recht vom Wunder. Die Substanz der Kirche ist der Geist. Wir haben bei der Betrachtung der ältesten Periode bereits gesehen, wie sich das Pneuma in der Christenheit kundgibt und brauchen hier nur ergänzend zu bemerken, daß sich die von Paulus so lebendig geschilderten enthusiastischen Wirkungen des Geistes auch im ») Hermas Vis. 1, 1, 6. 2, 4, 1. Sim. 1, 1—5. *) Celsus bei Origenes c. Cels. 4,23. ') Vgl. etwa Justin App. 7,1. Aristides Apol. 16, 6.

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zweiten Jahrhundert noch kräftig zeigen. Noch immer wandern Missionare durch die Länder und klingt die Zunge der Propheten betend und dankend, aber auch ermahnend, offenbarend und weissagend in den Versammlungsräumen der Gemeinden, zuweilen wohl auch auf freiem Platz und offener Straße. Und das große Ansehen dieses geistlichen Amtes, die Ehren und äußeren Vorteile, die es seinem Träger verschafft, locken gelegentlich auch sehr ungeistliche Elemente zu betrügerischem Tun. Schon die Kirchenordnung der Didache 1 gibt Anweisung zur Prüfung prophetischer Geistesträger: wenn ihre enthusiastischen Reden auf gutes Essen oder Geldforderungen für den eigenen Beutel hinauslaufen, soll die Gemeinde sie als Schwindler abweisen. Ein heidnischer Schiftsteller der Antoninenzeit* hat uns ein mit sichtlicher Treue gezeichnetes Bild eines solchen Abenteurers geliefert, der nach allerlei Mißerfolgen auf verschiedenen Lebensgebieten Christ wird und als Prophet auftritt, die Gottesdienste leitet, Bibel erklärt, eigene Traktate schreibt und große Verehrung bei den Gemeinden genießt; schließlich wird er gar ins Gefängnis geworfen, was ihm eine weitere Steigerung seines Ansehens einträgt und seinen Lebensunterhalt nach der Freilassung sicherstellt — bis er bei einem Verstoß gegen die kultische Kirchensitte ertappt wird: das macht sofort seinem Prophetentum ein unrühmliches Ende. Wenige Jahre später berichtet uns ein anderer Christenfeind, der schon vorhin genannte Celsus', von seinen Erfahrungen mit christlichen Propheten, die er selbst in Phönizien und Syrien gehört zu haben versichert. Sie treiben sich in großer Zahl innerhalb und außerhalb der Heiligtümer herum, suchen auch bettelnd die Städte und Militärlager auf und predigen: „Ich bin Gott oder Gottes Sohn oder der heilige Geist. Ich komme. Die Welt geht unter, und ihr Menschen fahrt um eurer Sünden willen dahin. Ich will euch erretten. Ihr werdet mich wiederkommen sehen mit himmlischer Macht. Selig, wer ') Did. 11, 7—12. *) Lukian de morte Peregrini 11—16. sus bei Origenes 7, 9—11.

*) Cel-

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Die Pneumatiker

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mir jetzt dient, aber auf die andern alle werde ich ewiges Feuer regnen lassen, auf Städte und Länder. Die Menschen, die nichts von ihren Strafen wissen, werden umsonst Buße tun und stöhnen, aber die an mich geglaubt haben, werde ich in Ewigkeit bewahren." Das ist unfreundlich, aber scharf beobachtet: aus dem Propheten spricht der Geist Jesu selbst in der Ichform; er kündet die Parusie an und schreckt die Sünder mit furchtbarer Drohung. Und wenn Celsus hinzufügt, daß die Rede am Ende in unverständliche und wahnwitzige Laute ausgehe, die keinerlei Sinn gäben und nur einem Schwindler deutbar seien, so haben wir die uns wohlbekannte 1 Erscheinung des Zungenredens mit nachfolgender Deutung vor uns. Daß Celsus das alles für Betrug hält und sich dafür auf das eigene Geständnis solcher Propheten berufen zu dürfen glaubt, wird niemand Wunder nehmen, zumal die Christen selbst sich vor derartigen Betrügern nicht sicher wußten. Aber im Großen und Ganzen ist das Bild des echten pneumatischen Ekstatikers richtig gezeichnet. Nur freilich: die große Zeit des christlichen Prophetentums ist vorbei, und was Celsus gesehen hat, sind kleine Leute an der geographischen und geistigen Peripherie der Kirche, die von der Ehre einer untergehenden Institution die Reste aufsammeln. Die maßgebenden Kreise in der Kirche waren längst mehr als mißtrauisch gegen all diese Geisterei geworden, und man sah sich die Leute genau darauf an, ob sie auch eine den Geboten des Herrn entsprechende Lebensweise* führten. In den paulinischen Briefen war j a nachdrücklich allem pneumatischen Wesen die Richtung auf Betätigung christlicher Tugenden gewiesen, und das hohe Lied von der Liebe, die da bleibt, wenn alles Prophezeien und Zungenreden vergeht, wurde nicht vergessen. Der aus dem synagogalen Proselytentum übernommene Moralismus wirkte in ähnlichem Sinne, und so fanden die Worte der Bergpredigt immer aufs neue den Weg zu den Herzen der Gemeinde und formten ihre Begriffe vom christlichen Leben. In den Anfangskapiteln der Didache kann ») Bd. 1, 125.

«) Did. 11, 8. 10.

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man sehen, wie sich die Worte des Herrn mit den alttestamentIichen Geboten zu einer Einheit verbinden, und wir haben allen Grund zu der Annahme, daß die Lebensführung der großen Masse der Christen durch diese Lehren bestimmt wurde. Auf diesen Boden mußten auch die Pneumatiker treten, und das dämpfte die subjektive Willkür beträchtlich, war auch ein Schutz gegen den grundsätzlichen sittlichen Libertinismus, der in manchen gnostischen Kreisen aus der pneumatischen Begabung abgeleitet wurde 1 . Aber der Pneumatiker war auch Offenbarungsträger: seine Worte waren Kundgebungen desselben Gottesgeistes, der durch die Propheten des Alten Bundes geredet hatte und in Jesus Christus Fleisch geworden war, hatten also grundsätzlich dieselbe Autorität. Wodurch konnte man feststellen, ob der aus irgendeinem Propheten redende Geist wahrhaft göttlich war und nicht die Stimme eines bösen Irrgeistes? Nun, man konnte seine Offenbarungen am Alten Testament prüfen — wenn nur nicht die allegorische Methode erlaubt hätte, mit Leichtigkeit jeden unbequemen Wortlaut zu verflüchtigen oder in die gewünschte Richtung abzubiegen. Aber waren nicht die Briefe des Paulus ein Prüfstein? Denen wußte sich der Pneumatiker großen Stils ebenbürtig. Aber die Worte des Herrn? Die waren freilich unbedingte Autorität, doch unterlagen auch sie gegebenenfalls allegorischer Deutung und vor allem — aus dem geheimnisvollen Dunkel gnostischer Kunde wuchsen immer neue Herrenworte und Geheimoffenbarungen des Meisters an vertrautere Jünger hervor, die freilich die kirchlichen Massen nicht kannten, die aber erforderlichenfalls hervorgeholt und zur Stütze seltsamer prophetischer Offenbarungen gemacht werden konnten. Ein klares Kriterium, das echt und unecht schied, das Wahrheit und Lüge im Munde des Pneumatikers kenntlich zu machen vermochte, gab es nicht. Schon in alter Zeit litt die Kirche nicht wenig unter dieser Unsicherheit, die allerlei fremdartigen Spekulationen die Tür offenhielt: und die späteren Briefe des Neuen Testaments ') ζ. B. Bd. 1, 306.

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Prophetentum und geistliche Offenbarung

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zeigen uns den Widerschein der frühesten Kämpfe gegen mannigfache Irrlehren. Als nun vollends die Gnosis ihre Reize und ihre Macht entfaltete und Valentin mit tausend ähnlich denkenden Genossen die Überlegenheit der gnostisch erleuchteten Pneumatiker gegenüber den im Gleise des Alltäglichen einhertrottenden und an Traditionen und Buchstaben gebundenen Durchschnittschristen der Kirche verkündete 1 , da wurde die Gefahr für die Kirche riesengroß und sie mußte wirksame Gegenwehr leisten, wenn ihre Einheit und Reinheit nicht zu einem Wunschbild zerfließen sollte. Nie war die Gefahr der Auflösung in mehr odermindersynkretistischeKonventikelgrößer als in diesem zweiten Jahrhundert, wo weite Gebiete des Ostens unter dem siegreich vordringenden Einfluß der Gnosis standen. Die Kirche hat eine dreifache Abwehr gegen die pneumatische und gnostische Bedrohung bereitgestellt. Sie hat die Quellen der maßgebenden Tradition im Kanon fixiert, die Grundlinien der theologischen Lehre im Bekenntnis festgelegt, vor allem aber dem frei waltenden Pneumatiker das Gemeindeamt des Bischofs als höhere Autorität entgegengesetzt: so standen den lebendigen Angreifern nicht bloß Bücher und Lehren, sondern lebendige Verteidiger gegenüber. Der Kampf wurde Mann gegen Mann ausgefochten, und das war schließlich das Wichtigste. Wir können schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts sehen8, wie die ursprünglich rein technischen Ämter der Episkopen und Diakonen von einem römischen Schriftsteller als die christlichen Gegenbilder zu den alttestamentlichen Kultämtern bezeichnet und auf apostolische Einsetzung zurückgeführt werden. Die Episkopen erscheinen bereits als die berufenen Leiter des Kultus, sie bringen „untadelig und heilig die Opfer dar"'. Da ist die Übertragung vollzogen, die uns in der Kirchenordnung der Didache* angedeutet wird, daß nämlich bei allmählichem Zurücktreten der Pneumatiker die 0 Bd. 1, 313. *) Did. 15, 1—2.

») Bd. 1. 146—149. 202—204.

») 1. Klem. 44, 4.

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Episkopen und Diakonen zu ihren bisherigen Funktionen auch noch die priesterliche Leitung des Gottesdienstes übernehmen und damit faktisch die gesamte Führung der Gemeinde in ihren Händen vereinigen. Kurz darauf begegnet uns bei Ignatius von Antiochia 1 der monarchische Episkopat, den er mit hohen Worten preist und empfiehlt, den er als vorhanden in Ephesus, Magnesia, Tralles, Philadelphia und Smyrna voraussetzt, während Rom und Philippi diese Form der Leitung noch nicht kennen. In Philippi steht ein Kollegium von Presbytern und Diakonen an der Spitze der Gemeinde*, in Rom scheint es ähnlich gewesen zu sein. Man hat Jahrzehnte hindurch Theorien entwickelt, welche die Entstehung des monarchischen Episkopates aus der ursprünglich kollegialen Gemeindeleitung einleuchtend erklären sollten: aber sie haben diesen Dienst nie wirklich zu leisten vermocht. Klar ist lediglich, daß um die erste Jahrhundertwende in Antiochia und einigen größeren Städten Kleinasiens die Vielköpfigkeit der Führung abgeschafft und die volle Macht auf einen einzigen Episkopos übertragen worden ist. Das Kollegium der Presbyter wurde zu einer beratenden, aber doch ihm untergeordneten Behörde, und auch die Diakonen blieben als eine Mehrzahl bestehen, die kraft ihrer karitativen Funktionen besonders eng mit der Person des Bischofs verbunden war. Fragt man nach dem Grunde der Veränderung, so dürfte die einfachste Antwort wohl auch die zutreffendste sein: man erkannte, daß in schwierigen Zeiten — und man stand hier im Kampf gegen die Gnosis — die Zusammenfassung der Macht in einer Hand die sicherste Gewähr für gute Führung liefert, und man handelte nach dieser Einsicht'. Der Erfolg empfahl den Schritt auch anderswo, und so breitete sich der monarchische Episkopat allmählich über die ganze Kirche aus; nur als wunderliches Überbleibsel einer versunkenen Welt begegnet uns in später Zeit noch hie und da ein Doppelbistum 4 . Bd. 1, 264. ') Polyc. ad Phil. 5, 3. 6, 1. ») W. Bauer, Rechtgläubigkeit u. Ketzerei S. 65—74. «) H. Koch, Z N W 19, 81—85. K. Müller Abh. Berl. Akad. 1922 Nr. 3, 6 f.

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Der Bischof

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Möglich bleibt daneben, daß auch die liturgische Forderung nach Zentralisierung des Gottesdienstes in der einen Gemeindekirche 1 im Gegensatz zu häuslichen Konventikelandachten die Idee des Einbischofs empfohlen hat. Dieser die Einzelgemeinde leitende Bischof ist nach der grundlegenden Lehre des Ignatius nicht bloß Oberpriester und Führer, er ist vor allem höchste Lehrautorität: er steht für die Gemeinde an Gottes Statt und muß angesehen werden wie der Herr selbst. Wer in seiner Erkenntnis über die vom Bischof gesetzte Grenze hinausgeht, der ist verloren*. Mit anderen Worten: dem alten, ungebundenen Propheten wird hier im Bischof der beamtete Pneumatiker entgegengestellt, der alle Autorität in sich vereinigt und alle Streitfragen endgültig entscheidet. Wenn in der Urzeit jede Einzelgemeinde sich als Ekklesia, als auserwähltes Volk Gottes bezeichnen kann, weil Volk Gottes überall da vorhanden ist, wo der Geist waltet, so finden wir jetzt diesen Gedanken zu einer folgenschweren Konsequenz weiterentwickelt. Der Geist schwebt nicht mehr frei umher und ergreift bald diesen, bald jenen. Er wohnt freilich in den einzelnen Gemeindegliedern seit ihrer Taufe und verbindet sie zum einheitlichen Leibe Christi. Aber in besonderer Art offenbart er sich — wie einst in Zungenrednern und Propheten, so jetzt — in dem Bischof und den von ihm geführten Klerikern: der Bischof ist das Haupt dieses geistlichen Leibes. So wird aus dem Satz „wo der Geist ist, da ist die Kirche" im Kampf gegen die Gnosis die neue These „wo der Bischof ist, da ist die Kirche". Und diese These hat den Sieg über Enthusiasmus und Gnosis gewonnen: es ist die Grundlehre des Katholizismus bis auf den heutigen Tag. Es ist überaus schwierig, ja im Grunde unmöglich, dieEntwicklung der ältesten Kirchenverfassung zu beschreiben, weil unsere Quellen nur selten eine Antwort auf die vielen Fragen geben, die wir ihnen vorlegen. In der Frühzeit erschienen diese Dinge als Äußerlichkeiten, die einer Aufzeichnung nicht wert i) K. Müller ZNW 28, 295. Polyc. 5, 2. vgl. Bd. 1. 264.

') Ign. Trail. 3, 1. Eph. 6, 1 ad

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waren, und als sie theologisch bedeutsam zu werden begannen, war der Blick der Beobachter durch die Theorie beeinflußt. Für die Zeit des ersten Jahrhunderts können wir sagen, daß die Gemeindeleitung fast ausnahmslos eine kollegiale war — das Jerusalem der Urgemeinde hatte besondere Verhältnisse 1 . Dieses Kollegium nannte man die „Presbyteroi" überall da, wo jüdischer Einfluß bestimmend war, das heißt nicht nur in judenchristlichen, sondern auch in den heidenchristlichen Gemeinden, die aus der hellenistischen Synagoge herausgewachsen waren. Und es umfaßte nicht nur alle, die ein Amt bekleideten, Charismatiker so gut wie technische Beamte, sondern auch andere angesehene Männer, insbesondere die Märtyrer 1 , vereinzelt sogar Frauen*. Anderswo, namentlich in paulinischen Gemeinden, sprach man von Episkopen und Diakonen als den Beamten der Gemeinde und schied davon die charismatischen Apostel, Propheten und Lehrer als die Leiter des Kultes. Wir haben bereits gesehen, wie diese Gegensätze sich ausgleichen, indem die Funktionen der Pneumatiker auf Episkopen und Diakonen übertragen werden. Man übernimmt aber auch schon früh die durch das Alte Testament geheiligte und darum ansehnlichere Bezeichnung der „Presbyter" für den Chor der leitenden Männer in Gemeinden, denen dieser Titel von Hause aus fremd war. Jedenfalls finden wir in Rom um 140 an der Spitze der Gemeinde dasKollegium der Presbyter, während uns als spezielle Amtsträger die Episkopen und Diakonen genannt werden 4 , denen insbesondere die Fürsorge für Arme, Witwen und Waisen obliegt. Aber sie stehen auch den Propheten und Lehrern der Vorzeit gleich, haben also geistliche und kultische Funktionen 5 und gehören unzweifelhaft zum Kreise der Presbyter. Der den Gottesdienst leitende Presbyter war Episkopos und nahm die Gaben entgegen, die für die Versorgung der Bedürftigen bestimmt waren*. Also ist der im ersten Klemensbrief ') Bd. 1, 58 f. ') Hermas Vis. 3, 1. 9. Hippolyt K O 34. K. Müller, Abh. Berl. Akad. 1922 Nr. 3 S. 4. a ) K. Müller Z N W 28, 275. 4 ) Z. 5 wiss. Theol. 55, 136—140. ) Hermas Sim. 3, 5, 1. 9, 26. 27. ·) Justin Apologie 67, 6.

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Bischöfe und Presbyter

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und in der Didache vorgezeichnete Prozeß der Übertragung geistlicher Ämter auf die Episkopen bereits fortgeschritten. Die Pneumatiker sind im allgemeinen verschwunden, und nur vereinzelt kämpft noch ein Prophet einen aussichtslosen Kampf um Anerkennung1. Aber innerhalb des Presbyterkollegiums ist die Entwicklung noch nicht abgeschlossen, und es fehlt nicht an Streitigkeiten um Rang und Ehre 2 : der monarchische Episkopat bereitet sich vor und findet naturgemäß Widerstand bei dem seine traditionellen Rechte verteidigenden Kollegium. Gegen Ende des Jahrhunderts ist der Kampf entschieden: da steht unbestritten ein einziger Episkopos an der Spitze der römischen Gemeinde, mag auch sein Titel noch oft und gern im Sprachgebrauch schwanken. Man redet wohl von dem die Gemeinde leitenden Presbyter, wenn man den Bischof meint, und dieser selbst hat noch Jahrhunderte lang die höfliche Sitte gepflegt, die Mitglieder des Presbyteriums als „Kollegen" und sich als ihren „Mitpresbyter" zu bezeichnen'. Aber seit der Mitte des Jahrhunderts, also seit Aniket und Soter, kann an dem monarchischen Charakter dieses Episkopates nicht mehr gezweifelt werden. Etwa um 240 wurde auch in Äußerlichkeiten dem römischen Bischofsamt eine besondere Stellung gegeben: man beging den Tag des Amtsantrittes jährlich durch eine liturgische Feier und schuf in der heute sogenannten Kallistkatakombe eine künstlerisch ausgestattete Grabkammer, welche von Pontian an (t 235) bis zu Eutychian (t 282) die Leiber der entschlafenen Bischöfe vereinigt hat. Auch wurde von nun an eine amtliche „Papstliste" mit Angabe von Tag und Jahr der Bischofsweihe und des Todes angelegt und damit die ältere Liste fortgesetzt, die keine Zahlen, sondern nur die Namen der römischen Episkopen enthalten hatte 4 . Von dieser gibt uns Irenaeus um 180 die erste Kunde 5 : sie enthält eine Reihe von ») Hernias Mand. 11. ' ) Hermas Vis. 3, 9, 7—10. Sim. 8, 7, 4—6. *) Irenaeus 3, 2, 2. 3, 1 ff. 4, 26, 2. 3. 27, 1. Brief an Victor v. Rom bei Euseb. K G 5, 24, 14—16. vgl. Z. wiss. Theol. 55, 146 f. K. Müller Z N W 28, 274—278. ' ) Lietzmann, Petrus u. Paulus» 7—28. 5 ) Irenaeus 3, 3, 3.

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16 Namen, die nach Erwähnung der Apostel Petrus und Paulus mit zwei Unbekannten, Linus und Anenkletus beginnt und an dritter Stelle jenen Klemens nennt, der uns als Verfasser des Briefes an die Korinther bekannt ist und auch sonst noch erwähnt wird 1 . Die Liste reicht also bis auf die apostolische Zeit zurück und mag auf guter historischer Erinnerung beruhen, soweit die Namen in Betracht kommen: nur daß natürlich für die älteste Periode hervorragende Persönlichkeiten des Presbyterkollegiums festgehalten sind, die nicht in säuberlicher Reihenfolge nacheinander amtierten, sondern vielfach nebeneinander und miteinander die Gemeinde geleitet haben. Aber als man ihr die von Irenaeus mitgeteilte Form gab, sollte sie die einander ablösenden Träger der apostolischen Tradition namhaft machen 1 und die Gewißheit verbürgen, daß der jeweils am Ende dieser Kette stehende lebende Bischof von Rom der echte Erbe der apostolischen Lehre und damit auch ihr autoritativer Verkünder sei. Die einst von Klemens begründete Theorie von der apostolischen Einsetzung des Bischofsamtes und der Notwendigkeit der Anerkennung der apostolischen Sukzession 5 hat in Rom lebendig weitergewirkt und wird von Irenaeus 4 mit Nachdruck zur Verteidigung der bischöflichen Theologie gegenüber den Gnostikern verwertet: was der Bischof lehrt, ist eben dadurch und ohne jede Diskussion als apostolisch legitimiert. Von Rom aus ist diese Lehre ins Abendland gedrungen und hat überall nicht wenig zur Hebung des Ansehens der römischen Gemeinde beigetragen: denn hier war Rom die einzige Gemeinde, die ihre Bischofsliste bis auf die apostolische Zeit zurückführen konnte. Der Afrikaner Tertullian' preist um 200 Rom glücklich, da hier die Apostel Petrus, Paulus und Johannes als Märtyrer gewirkt und mit ihrem Blute auch die ganze J ») s. Bd. 1, 202. Hermas Vis. 2, 4, 3. ) E. Caspar, Die älteste römische Bischofsliste (1926), 436—472. ») s. Bd. 1, 204. *) K. Müller in Z N W 23, 216—222. Auch Hegesipp, der diese Lehre vorträgt, lebt in Rom: vgl. Euseb. KG 4, 22, 3. 5) Tertullian de praescr. haer. 36.

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Bischofslisten

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Summe ihrer Lehre ausgeströmt hätten. So ist Rom und der Träger seiner Tradition, sein Bischof, schon früh die apostolische Autorität des Abendlandes geworden. Außerhalb Roms hat denn auch kein Ort im ganzen Okzident sich die Mühe gemacht, eine bis in die Anfänge hinaufreichende Bischofsliste oder Traditionskette anzulegen, weder Carthago noch die altberühmte Kirche von Lyon haben sich ernstlich um ihre Urgeschichte gekümmert — wenn anders sie überhaupt eine gehabt haben. Im Osten treffen wir zwar bei Ignatius die Lehre von der höchsten Lehrautorität des Bischofs, aber sie ist nicht aus apostolischer Sukzession abgeleitet, sondern wird einfach behauptet 1 . Natürlich hat man auch hier von aposiolischerTradition geredet, und die „Alten", die „Presbyteroi", welche noch persönlich Schüler der Apostel gewesen sind, spielen als Träger dieser Uberlieferung eine erhebliche Rolle1: aber wir finden irgends den Gedanken, daß der Bischof kraft seiner Amtssukzession die apostolische Lehre überliefere. So erklärt es sich denn auch, daß die übergroße Mehrzahl der von Aposteln begründeten Orte keine Bischofsliste oder Traditionskette hergestellt, geschweige denn überliefert hat. Nur drei Städte haben solche Listen: die beiden mit Rom konkurrierenden Weltstädte Alexandria und Antiochia', und die alte Zentrale der Christenheit, Jerusalem. Es sind dieselben Orte, welche sich im Lauf der Kirchengeschichte zu Patriarchaten aufschwingen und schon früh beherrschende Stellungen im kirchlichen Leben einnehmen: deren Bischöfe brauchten eine Ahnenreihe, nachdem sie ihren Wert und Sinn von Rom gelernt hatten. Dabei ergibt eine Prüfung der jerusalemischen Liste,daß sogar im ganzen zweiten Jahrhundert an diesem Vorort der Christenheit noch kein lebenslänglicher monarchischer Episkopat vorhanden war: sonst hätten nicht 15 Bischöfe in der Zeit von 134 bis zum Anfang des dritten Jahrhunderts amtieren ») s. Bd. 1, 264. *) Papias bei Euseb KG 3, 39, 3—4; Fragmente der Presbyter bei Funk Patr. apostol. 1 1, 378—389. E. Preuschen Antilegomena 63—71. ') E. Caspar, D. älteste röm. Bischofsliste 347 f. 368.

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können'.Daraus folgtaber die weitereKonsequenz, daß dann auch in anderen Orten des Ostens ähnlicheVerhältnisse vorausgesetzt werden müssen, und demnach die Institutionen des monarchischen Episkopates im Hinterland erheblich langsamer durchgeführt worden ist, als es die von Ignatius behaupteten Verhältnisse in den führenden Seestädten zunächst vermuten lassen. Gar keine Kunde haben wir über die Entwicklung des Episkopates im Abendlande außerhalb Roms. Nur aus Lyon wird uns mitgeteilt, daß dort in der großen Verfolgung der mehr als 90jährige Episkopos Potheinos das Martyrium erlitt und daß Irenaeus sein Nachfolger wurde; das wird gegen 178 anzusetzen sein, und da Irenaeus sicherlich monarchischer Bischof war, so wird es sein Vorgänger auch gewesen sein 1 . Damit ist aber unser Wissen und unser Vermuten an seiner Grenze angelangt. In Alexandria ist die Entwicklung der römischen parallel gelaufen, und hier haben wir merkwürdigerweise genauere Nachrichten, die zwar aus späterer Zeit sind, aber einer kritischen Prüfung Stand halten®. Freilich liegen die Ursprünge der alexandrinischen Kirche im Dunkel, und auch über die Anfänge des Episkopats dieser Weltstadt haben wir keine andere Kunde als jene bedenklich schemenhafte Namenreihe. Dafür haben sich aber in dieser Kirche auch in späterer Zeit noch ältere Zustände treu erhalten. Im dritten Jahrhundert jedenfalls besteht die alexandrinische Kirche aus einer Anzahl selbständiger Einzelgemeinden, die sich um je ein Kirchengebäude scharen und von einem Presbyter geleitet werden, und dieser Zustand dauert auch im nächsten Jahrhundert noch an. Die Presbyter wählen nun aus ihrer Mitte einen Bischof 4 , der „die alexandrinischen Gemeinden" zu betreuen hat®, und ') E. Schwartz in der großen Ausgabe von Eusebs K G 3, C C X X V I f. *) Euseb K G 5, 1. 29. 5, 5, 8. ' ) K. Müller Z N W 28. 278—296. 4 ) Hieronymus cpist. 146,1,6. Severus Antioch. Sixth book of the sclcctcd letters II 3 (I 1, 237) ed. Brooks ( = Journ. of Theol. Gtud. 2, 612); Eutychius Annales (arab.) Corp. script, or. 50, 95 ed. Cheikho. vgl. Ε. Schwartz, Gött. Nachr. 1908. 350. · ) Euseb K G 5, 9. 22. 6, 2, 2. 35. 9, 6. 2.

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Ägypten

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diese Weise hat bis in den Anfang des vierten Jahrhunderts bestanden. Erst Alexander erweiterte den Kreis der Persönlichkeiten,aus denen derBischof ausgewählt werden konnteundbestimmte den Diakon Athanasius zu seinem Nachfolger (328). Aber wir hören noch eine andere und zunächst sehr verwunderlich klingende Nachricht aus Ägypten1. Der alexandrinische Bischof war anfänglich überhaupt der einzige Bischof in ganz Ägypten. Erst Bischof Demetrius (189—232) hat drei andere eingesetzt, und sein Nachfolger Heraklas (232—247) hat noch zwanzig weitere hinzugefügt; im Laufe des Jahrhunderts hat sich die Zahl dann gewaltig vermehrt. So standen also die Städte und Dörfer Ägyptens unter der Leitung von Presbytern — und das war in diesem Lande ein auch im profanen Leben sehr beliebter Titel von Kollegialbehörden* — ja ganze Dorfgruppen waren einem einzelnen Presbyter unterstellt®. Der Umstand, daß rechtlich Alexandria lange Zeit die einzige „Stadt" Ägyptens war und erst im Jahre 202, d. h. in der Zeit des Demetrius, auch größere Landzentren durch Septimius Severus eine neue Kommunalordnung bekamen 4 , mag bei dieser Entwicklung mitgewirkt haben. Klar ist, daß alle ägyptischen Bischöfe ihre Existenz dem Alexandriner verdanken, und daß er demnach ihr Haupt ist, dem sie sämtlich unterstehen: das hat sich im Verlauf der Kirchengeschichte oft und kräftig ausgewirkt. Der alexandrinische Patriarch hat stets eine ungewöhnlich geschlossene und schlagkräftige Truppe von Bischöfen hinter sich. Wir haben erst in neuerer Zeit gelernt5, auf diese Frühstadien der bischöflichen Amtsgeschichte aufmerksam hinzusehen: aber diese Betrachtungen haben unsere Augen geschärft und uns eine einleuchtende Auffassung der Vorgänge beschert. Was hier in Ägypten geschehen ist, tritt keineswegs *) Eutychius Annales p. 96 Cheikho (Migne gr. Bd. III, 982). *) H. Hauschildt Z N W 4, 235 ff. ») Athanasius apol. c. Arian. 85. Vgl. Z. wiss. Theol. 55, 150 ff. 4 ) U. Wilcken Grundzüge u. Chrestomathie d. Papyruskunde Ia, 41. *) Duchesne Fastes episcopaux de l'anc. Gaule 1, 37 ff. K. Müller, Beiträge z. Geschichte d. Verfassung d. alten Kirche = Abh. Akad. Berlin 1922 Nr. 3 S. 5 ff.

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so aus dem Rahmen der sonstigen Kirchengeschichte heraus, wie es zuerst den Anschein hat. Das Christentum faßte doch stets zunächst in den Städten, und zwar zumeist in den größeren, Wurzel und verbreitete sich von dort aus auf das Land. So verstand es sich von selbst, daß die neu entstehenden Landgemeinden unter der Leitung des städtischen Bischofs blieben, daß dieser ihnen Presbyter und Diakonen sandte oder weihte und als obere Autorität eingriff, wo es nötig war. Und es waren nicht bloß Landgemeinden, die auf diese Weise einem hauptstädtischen Bischof unterstanden, auch Städte, kleinere und größere, sind so in geistliche Abhängigkeit geraten. Um 200 sehen wir den antiochenischen Bischof Serapion das benachbarte Rhossos betreuen1, und wir dürfen auch ohne weitere Zeugnisse für sicher annehmen, daß es nicht die einzige von Antiochia abhängige Stadt gewesen ist. Im nördlichen Kleinasien begegnen uns öfter pontische Landschaften am Schwarzen Meer als einheitliche und unter je einem Bischof stehende Kirchengebiete1. Armenien hatte um 250 nur einen Bischof. In Kreta scheinen sich um 170 die beiden Bischöfe von Gortyn und Knossos in das geistliche Regiment der ganzen Insel geteilt zu haben'.In Gallien wird Irenaeus von Lyon als „der Bischof von Gallien" bezeichnet, und seinem Vorgänger Potheinos unterstand sicher auch die Nachbarstadt Vienne4. Solche Verhältnisse kann man selbst in der Zeit des voll entwickelten Metropolitansystems in abgelegeneren Gegenden noch öfter beobachten. Wenn nun der Bischof der Zentrale die Aufsicht der von ihm abhängigen Gebiete nicht mehr allein durchführen konnte, so ernannte er ganz ähnlich, wie es der Alexandriner in Ägypten tat, Bischöfe, so viel wie jeweils nötig waren, also in immer steigender Zahl, je mehr lebenskräftige Gemeinden heranwuchsen. Aber es blieb das Verhältnis der Tochtergemeinde zur Mutter erhalten und drückte sich auch in der Unterordnung des neu begründeten Bischofsstuhls unter den älteren ») Euseb KG 6, 12. vgl. Ignatius ad Rom. 2, 2 „Bischof von Syrien". «) Müller Beiträge 6 f. ·) Euseb KG 4, 23, 5. 7. «) Euseb KG 5, 23, 3. Duchesne Fastes episc. 1, 40—43.

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Bischöfliche Mutter- und Tochterstädte

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aus; der Bischof der Hauptstadt behielt das Recht der Bestätigung und Weihe des anderen auch in ferner Zukunft noch. So wird die schon im dritten Jahrhundert deutlich sichtbare Uberordnung der großen Zentren der Christenheit über merkwürdig weite Gebiete begreiflich. So erklärt sich das Vorortsrecht von Karthago über ganz Afrika, von Rom über große Teile Italiens. Aber auch die nahen Beziehungen Roms zu manchen südgallischen und spanischen Gebieten werden den gleichen Grund haben. Noch mehr:Karthago selbst ist sich um 200 seiner Abhängigkeit von Rom deutlich be wußt1: es hat erst das Christentum, später den monarchischen Episkopat von dort empfangen. Vor allem aber erhält das ganz eigenartige Verhältnis der alexandrinischen zur römischen Kirche von hier aus seine einfachste Erklärung. Denn seit wir am Beginn des dritten Jahrhunderts die ägyptische Hauptstadt in die Kirchengeschichte eintreten sehen bis zu der Katastrophe von Ephesus (449) und Chalkedon (451) finden wir die engsten Beziehungen zwischen ihr und Rom; davon wird unsere Darstellung reichlich Belege geben. Und in den Kämpfen des vierten Jahrhunderts kann sogar Julius von Rom* allen Ernstes erklären, die Absetzung des alexandrinischen Bischofs ohne Mitwirkung Roms widerspreche der kirchlichen Sitte. Fügen wir hinzu, daß nicht nur Bischof Dionysius von Alexandria, sondern auch mehrere seiner Nachfolger, und zwar gerade die bedeutendsten, Athanasius und Kyrill, sich in einer uns zunächst verblüffenden Weise Rom unterordnen und dadurch sehr in Gegensatz treten zu der traditionellen Haltung der anderen Kirchenfürsten des Ostens, so wird uns der Schluß nahegelegt, daß Alexandria von Rom aus als Tochtergemeinde begründet und mit bischöflicher Autorität begabt ist. Die Legende, der Petrusschüler Markus sei der Stifter und erste Bischof dieser Gemeinde gewesen', ist aus dem Wissen um das geschichtliche Verhältnis l

) Tertullian de praescr. 36. *) Julius v. Rom epist. ad Danium, Flacillum 22 p. 385 b Coustant (aus Athanas. apol. c. Arian. 35). *) Monarchianischer Prolog zum Markusevang. (Kl. Texte I1 S. 16, 16). Euseb KG 2, 16, 1. Ahnlich die Trophimuslegende für Arles, s. E. Caspar, Gesch. d. Papsttums 1, 347.

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beider Kirchen geboren. Wir sehen: die Wurzeln des römischen Primats reichen tief in die Urgeschichte des Christentums hinein. Uber diese patriarchalischen Verbindungen hinaus kennt die Kirche der ersten Jahrhunderte keine weiteren organisatorischen Zusammenschlüsse. Vollends die Gesamtkirche als Einheit ist und bleibt noch lange eine unsichtbare und nur in der Idee völlig faßbare Größe. Wohl sind die Gemeinden von einem Ende der Welt bis zum andern von dem gleichen Geist beseelt und durch tausend Bande gegenseitiger Hilfeleistung in leiblicher und geistiger Not verbunden, aber es ist keine äußere Form vorhanden, welche diese Einheit auch als irdische Organisation zur Erscheinung brächte. Auch haben sich in schwierigen Zeiten Bischöfe der betroffenen Gegenden zu gemeinsamer Beratung zusammengefunden. Solche Synoden finden bereits im zweiten Jahrhundert in Kleinasien statt und gelten der Abwehr des Montanismus und der Stellungnahme zur Osterfrage, aber sie sind freie Vereinigungen und entbehren bestimmter rechtlicher Kompetenzen. Ihre Beschlüsse sind freilich Zeugnisse des heiligen Geistes und insofern maßgebend für die ganze Kirche. Aber das gilt praktisch nur für die Gemeinden, welche sie tatsächlich anerkennen, weil sie ebenso denken. Hat man anderswo eine abweichende Meinung, wie bei der Osterfrage in Rom, so lehnt man jenen Beschluß ab, und es bleibt unentschieden, wer recht hat. Der Versuch Roms, sich ein überlegenes Urteil zuzuschreiben, wird damals noch von allen Seiten zurückgewiesen 1 . Auch die Synoden des dritten Jahrhunderts tragen diesen Charakter freier Kundgebungen, deren Gewicht um so größer ist, je mehr Bischöfe an ihnen beteiligt sind, je größer also ihre geographische Basis ist: und die sachliche Richtigkeit und Zweckmäßigkeit ihrer Beschlüsse hat mehreren von ihnen die Anerkennung der ganzen Kirche verschafft. Aber sie sind nicht Instanzen höherer Art, die dem einzelnen Bischof nach geistlichem Recht übergeordnet wären. Jeder Bischof ist und bleibt Inhaber der vol») Euseb KG 5, 24, 10 f. und besonders Cyprian s. S. 240. 261.

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Synoden

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len apostolischen Lehr- und Zuchtgewalt: die Synoden sind nur darum stärker, weil sie die zusammengeballte Macht des Episkopats zur Wirkung zu bringen vermögen. In voller Geltung bleibt der Satz, daß der heilige Geist die Kirche durch den Bischof leitet: und diese Kirche ist eine, aber stellt sich in tausend Gemeinden und Hunderten von Bischöfen dar.

Das Neue Testament Zur Zeit Jesu war es geläufige jüdische Sitte, theologische und religiöse Streitfragen durch Zitierung von Worten gefeierter Lehrer autoritativ zu entscheiden, und der ganze Talmud baut sich auf der Diskussion solcher Rabbinensprüche auf, die emsig gesammelt, auswendig gelernt und als heiliges Vermächtnis von einer Generation zur andern weitergegeben wurden. Eine Sammlung von Lehren göttlicher und menschlicher Weisheit, die aus Worten der ältesten Rabbinen zusammengefügt ist, trägt den Namen „Sprüche der Väter" und steht noch heute in jedem jüdischen Gebetbuch. Von hier aus also kann man es leicht verstehen, wenn es überhaupt einer Erklärung bedarf, daß die Jünger Jesu die Sprüche ihres Meisters in der Erinnerung treu festhielten, sie sammelten und schließlich aufzeichneten, damit auch die zweite Generation und die auswärtigen Gemeinden dieses kostbare Gut jederzeit gegenwärtig haben könnten. Und wie bedeutsam Jesu Worte für die Entscheidung strittiger Fragen waren, können wir sogar direkt an den Briefen des Paulus lernen', obwohl bei diesem postumen Jünger gerade die Bezugnahme auf den historischen Jesus stark in den Hintergrund tritt. Im ganzen ersten und dem größten Teil des zweiten Jahrhunderts begegnet uns immer wieder im christlichen Schrifttum die Formel „der Herr hat gesagt" zur Einführung autoritativer Zitate. Zwei Quellen göttlicher Offenbarung gibt es für die alte Christenheit, „die Schrift", das ist das Alte Testament, und „der Herr" in seinen überlieferten Worten. Die dritte Quelle, der aus ekstatischen Propheten redende Geist, wurde, wie wir ') 1. Kor. 7,10. 9,14.11,23.1. Thess. 4,15. vgl.Handb. zuRöm.12,14.

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Herrenworte. Evangelien

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gesehen haben, mit immer steigendem Mißtrauen betrachtet, an den beiden andern Quellen gemessen und schließlich verstopft. Da war es denn eine praktische Notwendigkeit, auch der an zweiter Stelle genannten Tradition eine schriftliche Form zu geben, um sie jederzeit und allerorts zur Verfügung zu haben: so entstanden Aufzeichnungen von Worten Jesu, deren eine uns bereits in Gestalt der auf Matthäus zurückgehenden „Logienquelle" bekannt geworden ist 1 . Aber wie bei den Rabbinen des Talmud manches Wort mit einer Geschichte untrennbar verknüpft ist, so auch bei Jesus, und bei ihm in noch viel höherem Grade: so kamen in die Spruchsammlung mancherlei Erzählungen von Taten und Wundern des Herrn hinein. Die Predigt von Jesus dem Christus brachte den Hörern aber nicht nur Lehren des Meisters: er selbst war ja Gegenstand des Glaubens, und die Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen in seinem Leben und Leiden und Sterben erwies ihn auch dem Widerstrebenden als den Messias und Heiland der Welt. So formte sich die Geschichte vom Wirken des Herrn auf Erden, beginnend mit der Taufe und endend mit der Auferstehung, zu einer Einheit, die nun seit 19 Jahrhunderten ihre Wirkung auf die Menschheit tut und immer neue Jüngerscharen für den Meister wirbt. Die älteste und unmittelbar erreichbare Form dieser Geschichte ist das Markusevangelium, das in den Evangelien des Matthäus und Lukas neue, durch Einarbeitung jener Logienquelle und anderen Stoff vermehrte und verbesserte Auflagen erlebt hat. Die beiden ersten Evangelien sind typische Volksbücher ohne literarische Ansprüche; Lukas, der auch noch weitere wertvolle Quellen sich nutzbar gemacht hat, will dagegen für eine höhere Bildungsschicht schreiben: er widmet sein Werk einem durch Rang oder Reichtum hochgestellten 1 Mann namens Theophilos und bemüht sich redlich und nicht ohne Erfolg, wirklich historische Arbeit zu leisten, ohne seinem Werk den Charakter des Volksbuches zu nehmen. In diesen drei Evangelien ist keineswegs alles zusammenl

) Bd.1,35. «) Vgl. Ed.Meyer Ursprung u.Anfänge d.Christentums 1,6f.

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geflossen, was an echter Uberlieferung über Jesus umlief: aber für uns ist fast alles andere verloren, und wir können nur gelegentlich ein Wort Jesu erhäschen, das auf gute Tradition zurückzugehen scheint. Einiges hat sich hier und da an Handschriften unserer Evangelien angesetzt: so die Perikope von der Ehebrecherin, die viele Handschriften und nach ihnen auch unsere Kirchenbibeln als Joh. 7,53—8,11 haben, während sie allen guten Quellen des Textes fremd ist und dies auch selbst in Stil und Wortwahl bezeugt. Einige Handschriften bringen hinter Matth. 20, 28 eine völlig selbständige Parallele zu Luk. 14,8—10, und an Luk. 6,4 finden wir einen ganz neuen Spruch angehängt: „An demselben Tage sah er einen am Sabbath arbeiten und sprach zu ihm: Mensch, wenn du weißt, was du tust, so bist du selig, wenn du es aber nicht weißt, so bist du verflucht und ein Übertreter des Gesetzes". Andere Worte finden wir hier und da in altchristlichen Schriften zitiert, ohne daß es möglich wäre, sie auf ein bestimmtes Evangelium zurückzuführen: sie können ebenso gut frei umlaufender Tradition entstammen; denn diese starb auch nach Abfassung der Evangelien nicht aus. Ein Mann wie Papias1 betont noch im zweiten Jahrhundert, daß er von Büchern nicht soviel Nutzen zu haben glaube wie vonderlebendigen Uberlieferung. In der Apostelgeschichte 20,35 steht solch ein Wort: „denket an dieWorte desHerrn Jesus, daß er selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen". Wir nennen solche Worte „Agrapha"und haben sie eifrig gesammelt2 und trotz vortrefflicher Arbeit der Vergangenheit ist noch allerlei daran zu untersuchen. Denn der bereits früher geschilderte® Prozeß der Umgestaltung und Neubildung von Jesustraditionen hat nicht stillgestanden, als die Evangelien niedergeschrieben waren, sondern hat unbewußt und dann auch in steigendem Maße bewußt weitere Früchte gezeitigt. Ein Beispiel vom ersten Fall. Der römische Klemens zitiert in seinem Brief 4 : „So hat der Herr Jesus gesagt: ») bei Euseb K G 3, 39, 4. l ) A. Resch, Agrapha ( = T U N F 15. Heft 3—4, 1906); E. Klostermann in Kl. Texte 11* (1911). Vgl. Walter Bauer, Leben Jesu im Zeitalter d. neutest. Apokr. 377—415. 3 ) Bd. 1, 36. *) 1. Clem. 13, 2.

Herrenworte

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Seid barmherzig, damit ihr Barmherzigkeit erlanget. Vergebet, damit euch vergeben werde. Wir ihr tut, so wird euch getan werden. Wie ihr gebt, so wird euch gegeben werden. Wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden. W i e ihr gütig s e i d , w i r d man e u c h gütig b e g e g n e n . Mit welchem Maße ihr messet, damit wird euch gemessen werden."

Man hat vielfach geglaubt, hier eine uralte Quelle vor sich zu haben, etwa ein Zitat aus einem verlorenen Evangelium oder gar einer Spruchsammlung, und hat dabei besonders auf das neue Jesuswort hingewiesen, das im Druck hervorgehoben ist. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Schöpfung des Klemens selbst, der bekannte Worte zusammengestellt und in Vor- und Nachsatz gleichmäßig umstilisiert hat. Hier sind die Quellen: Luk. 6, 36; Matth. 6, 14. 15; Luk. 6, 3 1 = Matth. 7, 12; Luk. 6, 38; Luk.6, 37=Matth. 7, 1—2; Luk. 6, 38=Matth. 7, 2' oder einfacher: Klemens hat einige Srpüche aus Luk. 6, 31—38 mit Matth. 6, 14. 15 verbunden. Und das neue Jesuswort vom „gütig sein"? Es ist von Klemens frei erfunden, um die Siebenzahl der Sprüche voll zu machen, und das wird dadurch bewiesen, daß eben dies im Griechischen ganz seltene Wort für „gütig sein" bei Klemens auch sonst gern gebraucht wird. Hier können wir einmal die Entstehung eines solchen Jesuswortes studieren, wie es ohne Tendenz, halb unbewußt, aus rhetorisch-stilistischen Gründen von einem auf die Formung seiner Worte bedachten Schriftsteller neu gebildet wird. Andere Worte sind aus bestimmten Tendenzen heraus geschaffen und haben deutlich den Zweck, die Autorität Jesu für diese oder jene Lehrmeinung in die Wagschale zu werfen. Wir haben schon bei der Behandlung der judenchristlichen Evangelien1 solche Umgestaltungen überlieferter Worte oder Neubildungen kennengelcrnt, und je mehr wir uns dem Bereich der Gnosis nähern, um so stärker wird dieses Streben sichtbar, und um so unbekümmerter schaltet die Willkür theologischer Erfindung. Die meisten Papyrusreste, die mit neuen ') Bd. 1, 193. 198.

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Jesusworten bedeckt sind 1 , entstammen dieser von der Gnosis angeregten oder ihr dienenden Produktionslust, und gerne wird Echtes und Falsches durcheinandergemischt, um den Eindruck historischer Zuverlässigkeit zu verstärken. Von der Erfindung einzelner Worte ging man dann zur Schaffung neuer Evangelien über, die aber durchweg die älteren Evangelien der Synoptiker zum Muster nehmen und als Grundlage verwenden. In gewissem Sinne hat die Freiheit, mit der Johannes sein Evangelium schrieb, zum Betreten dieser Bahn ermuntert. Aber die neuen Evangelisten warfen alle die Bindungen von sich, welche das vierte Evangelium in den Grenzen kirchlicher Sinnesart halten, und konstruieren frei in die Uferlosigkeit einer durch keine geschichtliche Überlieferung oder lehrhafte Autorität gehemmten Spekulation hinein. Das läßt sich schön an dem 1886 gefundenen großen Bruchstück des Petrusevangeliums* studieren: aus allen vier Evangelisten sind die Bausteine entlehnt, mit denen die Passionsgeschichte zusammengefügt ist, aber überall sehen wir die Phantasie die Bilder weitertreiben, und bei der Schilderung der Auferstehung erscheint der gnostische Christus als Riese, der bis über die Himmel ragt, geführt von zwei Männern, deren Haupt an die Wolken reicht, und hinter ihm schwebt das wandelnde Kreuz: „und ich hörte eine Stimme aus den Himmeln sagen: Hast du den Entschlafenen gepredigt? und Antwort klang vom Kreuze: Ja!" Auch die in judenchristlichen Kreisen umlaufenden Formen des sogenannten Hebräerevangeliums® sind vonähnlicherPhantastikberührtworden.Von den übrigen Evangelien dieser Art, demÄgypterevangelium, dem Thomas- und dem Matthiasevangelium u. a. m. haben wir vereinzelte Nachrichten und Zitate erhalten 4 , die über den gnostischen Charakter dieser Werke keinen Zweifel gestatten. ») E. Klostermann in Kl. Texte 82 S. 16—21, ebenda 11* S. 26; Η. B. Swete ebenda 31, 4 f. Auch die n6uen von J. Bell publizierten Fragments of an unknown Gospel (London 1935) gehören hierhin. *) E. Klostermann Kl. Texte 32, Apokrypha I, deutsch bei Hennecke, 4 Neutest. Apokr. 2 (1924). ') s. Bd. 1, 193. 198. ) E. Klostermann Apokr. II (Kl. Texte 8) u. Hennecke.

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Apokryphe Evangelien

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Eine besondere Gattung bilden die Kindheitsevangelien. Schon früh hat sich in der Christenheit der Wunsch geregt, von der Vorgeschichte des Herrn etwas zu erfahren, und da die Historie versagte, trat die Legende an ihren Platz. So entstanden die Geburtsgeschichten, die wir bei Matthäus und Lukas finden, so die Geschichte vom 12jährigen Jesus im Tempel Luk. 2, 41—52. Und wenn man den Unterschied zwischen echtcr, reiner Legende und neugieriger Phantastik studieren will, so braucht man nur von hier aus den Blick auf die späteren Kindheitserzählungen zu werfen, die im zweiten Jahrhundert entstanden sind, aber weiter wuchsen, neue literarische Gestalt annahmen, und in mancherlei Brechungen bis auf den heutigen Tag in Andachtsbüchern oder in der apokryphen Rumpelkammer ihr Wesen treiben. Da sind die Erzählungen des Thomas 1 , von denen schon vor 200 Irenaeus* etwas weiß, und die uns in mehreren Ausgestaltungen aus späterer Zeit vorliegen. Hier ist das Jesuskind durch eine primitive naturreligiöse Phantasie zu einem mit Mana geladenen Tabu-Männlein geworden. Die Spielkameraden, die es ärgern oder stoßen, fallen tot um, und dasselbe widerfährt einem Schulmeister, der ihm eine ungezogene Antwort mit einer Ohrfeige lohnt. Drei Lehrer versuchen sich an dem Wunderknaben ohne Erfolg: dem ersten, der ihm das Alphabet beibringen will, halt er eine Vorlesung über die allegorische Bedeutung des A, den zweiten tötet er, dem dritten liest er sofort aus der Bibel vor und predigtdann zum Volkeüber das Gesetz. Aberertut auch positive Wunder: Spatzen, die er aus Lehm geknetet hat, läßt er lebendig davonfliegen; als ihm sein Krug zerbrochen ist, trägt er dasWasser in der Schürze heim; demVater reckt er Holzbretter zur gewünschten Länge aus; er heilt Wunden und erweckt Tote und macht schließlich auch alle die wieder lebendig, die er im Ärger totgeflucht hatte,so daß die Geschichtedochbefriedigend zu Ende kommt und mit der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel den Anschluß an die Synoptiker gewinnt. *) Evangelia apocrypha ed. TischendorP 140—209. A. Meyer bei Hennecke, Neutest. Apokr. 1 96—102. l ) Iren. 1, 20, 1. vgl. auch Epist. apost. 4 (15).

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Wenn wir bei Matthäus und Lukas schon den Wunsch lebendig sehen, das Geheimnis der menschlichen Herkunft Christi bildhaft zu erfassen, so ist dieses Streben weiterhin tätig gewesen und hat zu immer reicherer Ausmalung der Geschichte Marias geführt. Die Grundelemente finden wir sämtlich in dem sogenannten Protevangelium des Jakobus 1 vereinigt, das etwa im vierten Jahrhundert aus älteren Bestandteilen in die uns vorliegend« Gestalt zusammengegossen ist: einzelne Teile sind schon im zweiten und dritten Jahrhundert bekannt. Da ist zunächst die Marienlegende. Die heilige Jungfrau hat Joachim und Anna zu Eltern: sie ist von ihrer lange unfruchtbaren Mutter auf Engelsverheißung hin geboren und wird Gott geweiht: so weilt sie vom dritten bis zum zwölften Jahre unter priesterlicher Obhut im Tempel. Dann wird sie von den Priestern auf Grund eines Orakels dem alten und längst verwitweten Zimmermann Joseph, der schon erwachsene Söhne hat, als geweihte Jungfrau anvertraut. Als sie einmal Wasser schöpft, und dann, als sie zu Hause Purpur für den Tempelvorhang spinnt, verkündet ihr ein Engel, daß sie aus Gottes Wort einen Sohn empfangen wird. Sie besucht, wie bei Lukas, ihre Freundin Elisabeth und bleibt dort drei Monate. Als Joseph nach langer Zeit von seinen Bauarbeiten heimkehrt, entdeckt er ihre Schwangerschaft und wird wie bei Matthäus durch ein Engelsgesicht beruhigt. Gegenüber den Vorwürfen der Priester und Schriftgelehrten reinigt beide das Gottesurteil des Prüfungswassers. Dann erfolgt in Bethlehem die Geburt des Jesuskindes, und zwar in einer Höhle: dabei wird die physische Jungfräulichkeit der Maria durch zwei Hebammen als auch nach der Geburt unverletzt festgestellt. Es kommen die Magier aus Morgenland und Herodes befiehlt den Kindermord zu Bethlehem. Maria versteckt Jesus in eine Ochsenkrippe, während der kleine Johannes mit seiner Mutter von einem sich öffnenden Berg aufgenommen wird. Da nun aber Herodes gerade auf ihn Verdacht hat und ') Evang. apocr. ed. Tischendorf* 1—50. Harnack Chronologie, 1, 598—603.

Kindheitsevangelien. Pilatusakten

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ihn nicht finden kann, tötet er seinen Vater Zacharias am Altar im Tempel, wie Matthäus 23, 35 bezeugt ist. Auch an der Passionsgeschichte Jesu hat sich die Phantasie versucht und insbesondere der Person des Pontius Pilatus ihre Teilnahme gezeigt. In steigendem Maße ist die christliche Gemeinde bemüht, ihn von der Blutschuld des ungerechten Urteils zu entlasten und den Juden die alleinige Verantwortung aufzubürden. Bei Matthäus ist es seine Frau, die für Jesu Unschuld ein Zeugnis ablegt und ihren Gatten warnt, der daraufhin auch feierlich seine Hände wäscht und die Verantwortung für den Tod Jesu ablehnt. Das Bild des Pilatus hat sich dann unter dem Gesichtspunkt der Apologetik in dieser Richtung weiter entwickelt, derart daß um 200 Tertullian 1 seine heidnischen Gegner auf einen Bericht verweisen kann, den Pilatus, selber bereits in seinem Gewissen ein Christ, an den Kaiser Tiberius über Christus erstattet habe. Fünfzig Jahre früher hatte schon Justin in ähnlichem Zusammenhang mehrfach* die Akten des Pilatus zum Erweis der Richtigkeit seiner Mitteilungen über Jesus zitiert. Das spricht doch dafür, daß beiden Kirchenvätern der erfundene Brief des Pilatus bekannt war, der uns in verschiedenen Fassungen späterer Dokumente* erhalten ist und einen kurzen Bericht .über den Messiasglauben der Juden, die Wunder Jesu, seine Verwerfung und Kreuzigung durch die Juden, sowie die Grabeswache und Auferstehung enthält und mit den Worten schließt: „das habe ich Deiner Majestät berichtet, damit dich niemand anders belügt und du meinest, den Lügenreden der Juden glauben zu müssen". Da ist der Hauptmann unter dem Kreuz (Mark. 15, 39) weit überboten durch das umfassende und klare Zeugnis seines höchsten Vorgesetzten. Daraus ist dann im Laufe der Zeit eine ganze Pilatusliteratur entstanden 4 , der sich eine Nikodemus- und eine Veronikalegende eingliederte und ein Bericht über Christi Höllenfahrt anschloß. Übrigens ist man auf der Gegenseite auch nicht müßig gewesen und hat chri») Tert. Apolog. 21. l ) Justin Apol. 35, 9. 48, 3; vgl. 38, 7. ») Be4 quem bei Harnack Chronologie 1, 605. ) Epiphan. haer. 50, 1, 5. 1 Evang. apocr. ed. Tischendorf 210—486.

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stenfeindliche Pilatusakten fabriziert und in Umlauf gesetzt, von denen wir freilich nur durch die entrüsteten Proteste des Euseb 1 erfahren. Veronika ist der legendäre Name der von Christus geheilten Blutflüssigen (Mark. 5, 25): von ihr weiß schon Euseb 1 , daß sie in ihrer Heimatstadt Caesarea Philippi eine Bronzegruppe gestiftet habe, die jenes Wunder zur Darstellung brachte. Und bereits Irenaeus* berichtet von Gnostikem, welche ein „auf Veranlassung des Pilatus" angefertigtes Christusbild verehrten. Da sehen wir die Legende bereits früh an der Schaffung von Christusbildern tätig. Aber die neugierige Sehnsucht nach Porträts des Herrn kommt erst in byzantinischer Zeit zu voller Wirksamkeit und hat in dem Schweißtuch der Veronika in Rom und dem Abgarbild zu Edessa besonders berühmte Beispiele ihrer Leistungsfähigkeit geschaffen. Alt und vielleicht im 3. Jahrhundert entstanden ist dagegen die Erzählung von dem Briefwechsel zwischen Jesus und König Abgar von Edessa: ihr Kernstück ist ein eigenhändiger Brief Jesu an diesen Herrscher, von dem Euseb4 einen griechischen Text mitteilt. Es ist begreiflich, daß Abschriften dieses Kleinods viele Jahrhunderte lang im Orient als Schutzmittel gegen alles Böse getragen oder an Häusern und Stadtmauern, Türen und Toren eingemeißelt wurden. Eine aus dem hohen Mittelalter stammende Beschreibung des Aussehens Jesu, der Brief des Lentulus an Kaiser Tiberius 5 , findet samt der danach angefertigten Zeichnung sogar heute noch begeisterte Gläubige. Die Träger der autoritativen Tradition über Jesus waren seine Apostel: so ist es ganz konsequent gedacht, wenn Lukas seinem Evangelium als zweites Buch eine Apostelgeschichte folgen läßt, die davon berichten soll, wie die Jünger das Evangelium in Jerusalem und ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Welt" verkündet haben. Wobei die Reden dieser ») Euseb KG 1, 9, 3. 9, 5, 1. 9, 7. 1. ») Euseb KG 7, 18. ') Irenaeus 1, 25, 6 (1, 210 Harvey). ') Euseb KG 1, 13, 6—10. Aufhauser Kl. Texte 126*, 22—38 5) Aufhauser 8 S. 43. Zum Ganzen E. v. Döllschütz, Christusbilder ( = T U NF. Bd. 3, 1899). ·) Apg. 1, 8.

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Veronika. Abgar. Die Apostelgeschichte

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Apostel eben auch den Inhalt des Evangeliums anschaulich und autoritativ zur Darstellung bringen. Es ist noch nicht so lange her, daß man den historischen Wert der Apostelgeschichte sehr gering einschätzte und in Nachfolge der Tübinger Kritik dieses Buch als Ergebnis einer tendenziösen Konstruktion betrachtete. Das hat sich inzwischen gründlich geändert, und wir wissen jetzt, daß der Verfasser mit Sorgfalt gesammelt hat, was ihm erreichbar war, und daß er seine Quellen, und seien es auch nur Bruchstücke, mit achtungswerter Treue wiedergibt. Man muß sich nur die Mühe nehmen, diese Reste aus der vom Verfasser geschaffenen Pragmatik herauszulösen. Natürlich sind die großen Reden freie Schöpfungen, in denen der Autor seine Auffassung den Aposteln in den Mund legt. Aber er ist wenig originell, und so geben diese Reden die Durchschnittsmeinung seiner Zeit und Umgebung zuverlässig wieder. Eine Geschichte aller Apostel ist das Buch nicht. Es bringt die Schilderung der jerusalemer Urgemeinde, die schon in verklärtem Schimmer der Vergangenheit hinter dem Autor liegt, und erzählt in diesem Zusammenhang von den ersten Verfolgungen und der durch sie verursachten Ausbreitung der Mission bis nach der Weltstadt Antiochia. Im Vordergrund des Geschehens steht die Gestalt des Petrus, dem gelegentlich Johannes als stummer Begleiter beigegeben wird. Daneben treten als hellenistische Missionare Philippus und Stephanus hervor. Der zweite Teil des Werkes ist der Wirksamkeit des Paulus gewidmet und bringt eine gewaltige Fülle wertvollsten Materials aus guten, wenn auch oft nur fragmentarischen Quellen; von c. 20 ab geht die Erzählung sogar in der Wir-Form weiter, stammt also irgendwie von einem Reisebegleiter des Apostels, doch wohl dem Verfasser des Buches, nämlich dem Arzt Lukas. Um so auffallender bleibt es, daß nirgends eine Spur von Bekanntschaft mit den Paulusbricfcn anzutreffen ist. Der Verfasser muß also doch recht irüh geschrieben haben, und er muß von der Zuverlässigkeit seiner eigenen Kenntnisse so fest überzeugt gewesen sein, daß er es verschmähte, hier nach weiteren Quellen zu suchen, die ihm

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doch sicher leicht erreichbar gewesen wären. Aber bei einem Manne, der dem Apostel so nahe gestanden hat wie Lukas, ist eine solche Haltung leicht denkbar. Dagegen kann der abrupte Schluß und das Fehlen des Martyriums der beiden großen Apostel nur dadurch ausreichend erklärt werden, daß der Verfasser vor Vollendung des Werkes gestorben ist. Ein Geschichtswerk im höheren Sinn ist die Apostelgeschichte trotz allen redlichen Bemühens nicht geworden: dazu reichte weder das Quellenmaterial noch die Begabung des Verfassers aus. Aber ein gut erzählendes Volksbuch ist uns in ihr beschert, das seine Helden mit traditionellen, aber eben deshalb allezeit sicher wirkenden Mitteln zeichnet. So wie die Gemeindeüberlieferung die Bilder der Apostel erfaßt hatte, werden sie von Lukas übernommen, ausgeführt und zusammengesetzt: so entsteht eine Reihe von Einzelgeschichten, die zuweilen recht lose verknüpft sind und die nicht historische Zusammenhänge darlegen, sondern vor allem die Größe der Apostel zur Anschauung bringen sollen. Aber diese selbst sind voneinander nicht individuell verschieden: der eine denkt und handelt wie der andere, und selbst bei Petrus geht der anfängliche Judaismus nach der Korneliusgeschichte in die Weltoffenheit des Paulus über. Und ihr Weg wird von Wundern begleitet, die schon stark über die zurückhaltenden Wunderberichte der Synoptiker hinausgehen: es ist nicht Zufall, daß hier sich ein weites Feld der Vergleichung mit den Wundertaten hellenistischer Propheten eröffnet 1 . Zweimal stellt der Verfasser denn auch seine Helden solchen heidnischen Magiern gegenüber: Petrus wehrt die Zumutung des samaritanischen Magiers Simon ab (8, 20) und Paulus läßt den Zauberer Barjesus auf Kypros erblinden (13, 11). Die Werke der Apostel sind äußerlich nicht von den Taten wundertätiger Zeitgenossen verschieden; aber sie geschehen im Namen Jesu, und das gibt ihnen ihre besondere Note und im Konfliktsfall die überlegene Kraft. Schließlich müssen in Ephesus sowohl ') R. Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen S. 53 ff. 121 f.

(1906)

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Die Apostelgeschichte. Petrusakten

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die jüdischen wie die griechischen Zauberer sich vor Paulus beugen (19, 11—20). U n d der Leser hat daran nicht nur seine Freude, sondern auch einen eindrucksvollen Beweis für die Wahrheit der apostolischen Verkündigung; der volkstümliche Geschichtenerzähler wird so zum ebenso volkstümlichen Prediger, aus dessen Reden theologische Belehrung dankbar entnommen wird. Mit diesem ersten Werk ist die Schaffung von Volksbüchern über die Taten der Apostel nicht abgeschlossen. Ganz wie bei den Evangelien wirkt der gleiche Trieb weiter und bringt immer neue Erzeugnisse derselben Gattung hervor; nur daß der echte Stoff hier noch schneller als bei den Evangelien ausgegangen ist und die Phantasie für Ersatz sorgen mußte. Uberall bemerken wir, daß die lukanische Apostelgeschichte den Ausgangspunkt der Neuschöpfungen bildet: entweder wird sie ergänzt oder sie liefert den mehr oder minder verschwimmenden Rahmen der neuen Geschichten. Von Petrus wußte man im Osten nur noch, daß er nach Rom gekommen und dort gekreuzigt worden sei: im Johannesevangelium ist davon eine deutliche Spur erhalten (21, 18). Da setzen nun die apokryphen Petrusakten 1 ein und füllen die Lücke aus der freien Phantasie eines Orientalen, der Rom nie gesehen hat. aber vom Hörensagen weiß, daß es da ein Forum Julium gibt, worüber eine Sacra Via läuft* — was nicht ganz richtig ist —, daß in der Nähe das Städtchen Aricia und etwas weiter entfernt Terracina liegt'. Daß man zu Schiffe in Puteoli ankommen 4 und dann zu Lande bis Rom Weiterreisen kann, las er in der Apostelgeschichte (28, 13). Aber von wirklicher Lokalkenntnis und römischer Ortsüberlieferung ist keine Spur zu bemerken. Dafür arbeitet die Erfindungskraft um so energischer. Der in der Apostelgeschichte (8, 9—24) erzählte Konflikt des Petrus mit dem samaritanischen Magier Simon wird weiter ausgesponnen und gibt die Grundlage der ganzen Erzählung: das hängt wohl damit zusammen, d a ß Simon in der *) Acta Petri = Actus Petri cum Simone bei Lipsius-Bonnet 1, 45—103. l ) Acta Petri 15. 32. ») Acta Petri 4. 32. *) Acta Petri 6.

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Geschichte der Gnosis eine merkwürdige Rolle spielt und jedenfalls als Schöpfer gnostischer Systeme angeschen wurde 1 . Hier erscheint er als antichristlicher Prophet in Rom, sobald Paulus seine schon längst geplante* Reise nach Spanien angetreten und Rom verlassen hat. Durch ein Traumgesicht wird nun Petrus veranlaßt, schleunigst aus Jerusalem aufzubrechen, um den Feind des Christentums in Rom zu bekämpfen. Und dieser Kampf entfaltet sich nun in Form eines Wunderwettstreites in großem Stil, bei dem zunächst Petrus durchaus der Sieger ist. Simon muß sich von seinem Haushund in langer Rede erbärmlich schelten lassen, und ein sieben Monate altes Kindlein an der Mutterbrust weist ihn aus der Stadt und fordert ihn auf Samstag zum Entscheidungskampf®. Daß in diesem Zusammenhang mehrere Blinde geheilt und Tote erweckt werden, ist kaum bemerkenswert: läßt doch Petrus sogar eine am Fenster hängende gedörrte Sardine wieder fröhlich im Wasser umherschwimmen 4 und repariert durch sein Wort eine zertrümmerte Kaiserstatue 5 . Die Konkurrenzleistungen des Simon bleiben dem gegenüber schwach, und als er endlich vor allem Volk triumphierend über der Sacra Via gen Himmel fliegt, stürzt er auf des Petrus Gebet hin herab und bricht das Bein: an den Folgen des Unfalls stirbt er bald danach®. Aber Petrus darf sich des Erfolges nicht lange freuen. Seine Predigt von der Notwendigkeit der Keuschheit für das Christenleben veranlaßt eine erhebliche Zahl vornehmer römischer Damen, sich dem ehelichen Verkehr zu entziehen. Die erzürnten Männer stellen dem Petrus nach, der zunächst auf Anraten der Freunde fliehen will, aber vor dem Tor vom Herrn beschämt und zur Umkehr veranlaßt wird. So wird er nun verhaftet, verurteilt und kopfunter gekreuzigt, wobei er eine stark gnostisch gefärbte Rede über die Symbolik des Kreuzes sowie das Oben und Unten hält 7 . Nach seinem Tode will Nero eine Christenverfolgung beginnen, wird aber durch einen Traum davon abgebracht. ') Pauly - Wissowa, 2. Reihe 3. 180. *) Rom. 15, 24. 28 vgl. 4 5 1. Clem. 5, 7. ») Acta Petri 9. 12. 15. ) Acta Petri 13. ) Acta Petri 11. ·) Acta Petri 32. 7 ) Acta Petri 38. 39.

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Petrusakten. Paulusakten

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Wir merken, daß dem Verfasser die Neronische Verfolgung nur als unglaubwürdiges Gerücht bekannt geworden ist1. Die Akten des Paulus bringen nicht nur den in der Apostelgeschichte fehlenden Abschluß einer Wirksamkeit durch das Martyrium, sondern bauen aus einigen Angaben jener Quelle einen Bericht über ausgedehnte Missionswanderungen des Apostels auf, der teils Parallelen, teils Ergänzungen zu der kanonischen Darstellung beschert. Wir haben das ganze Werk nicht im Zusammenhang erhalten, sondern müssen es uns einstweilen aus verschiedenen Einzelüberlieferungen und Bruchstücken wiederherzustellen versuchen*. Da treffen wir Paulus zuerst im pisidischen Antiochia (Apg. 13, 14), dann in Ikonium (Ag. 13, 51), wo die Jungfrau Thekla von seiner Predigt mächtig ergriffen wird. Sie weigert nun ihrem Verlobten die Ehe und wird auf dessen Klage hin vom Prokonsul zum Feuertode verurteilt, während Paulus ausgepeitscht wird. Aber ein Regen löscht das Feuer, und sie sucht befreit den Meister wieder auf und folgt ihm, als er nach Antiochia zurückkehrt. Aber auch hier wird sie zur Ehe begehrt und auf ihre Weigerung hin verurteilt: diesmal zum Tierkampf.. Da schützt sie eine Löwin mit Aufopferung des eigenen Lebens. In höchster Not tauft sie sich selbst durch einen Sprung in einen Wassergraben und besteht danach noch weitere schlimme Gefahren. Endlich wird sie auch hier freigelassen. Durch Männerkleidung geschützt zieht sie wieder dem Paulus nach, bis sie schließlich in Seleukeia stirbt. Paulus hält sich zunächst in Myra auf und wandert von dort unter mancherlei Abenteuern nach Sidon und Tyrus. In Ephesus gerät er in Händel mit den Goldarbeitern (Apg. 19,24) und muß mit den Tieren kämpfen (1. Kor 15, 32). Indes legt sich ihm gleich ein großer Löwe zu Füßen, in dem der Apostel einen alten Bekannten wiedererkennt: er hat dem Tier einst ') s. Bd. 1, 200. *) Acta Pauli et Theclae bei Lipsius-Bonnet 1, 235—269. Mart. Pauli ebenda 104—117. Carl Schmidt Acta Pauli 2. Ausg. 1905 und derselbe in Sitzungsber. Akad. Berlin 1929, 176—183. 1931, 37—40. Rolffs bei Hennecke Neutest. Apokr. 1 192—212.

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in der Wüste auf seinen dringenden Wunsch hin das Evangelium gepredigt und es getauft; nun erweist es sich dankbar. Ein furchtbares Unwetter macht der Vorstellung ein Ende; der Hagel erschlägt die übrigen Bestien und befreit Paulus und den Löwen. In Philippi erhält Paulus einen Brief der Korinther, die durch gnostische Irrlehrer beunruhigt sind und um Festigung ihres Glaubens bitten. Er sendet ihnen eine — aus Bruchstücken echter Paulusbriefe zusammengestöppelte — beruhigende Antwort. Uber Milet und Korinth geht die Reise nach Rom, wobei sich die dem Petrus gewordene Erscheinung des zur zweiten Kreuzigung schreitenden Herrn wiederholt. Hier mietet Paulus eine Scheune und predigt, bis schließlich Nero eingreift und so viele Christen verbrennen läßt, daß das Volk genug davon hat. Paulus selbst wird enthauptet, erscheint aber danach dem Nero und droht ihm die Strafe Gottes an: da läßt dieser die noch übrigen Gefangenen frei. Diese Paulusakten sind eifrig gelesen und viel diskutiert worden, und der Briefwechsel mit den Korinthern hat das ganze Mittelalter hindurch im Anhang von Kirchenbibeln gestanden. Die Wundergeschichten sind nicht ganz so grobschlächtig wie in den Petrusakten, und die Legende der Thekla mit ihrem Preis der Jungfräulichkeit und dem Idealbild geistlicher Liebe zum Apostel fand großen Anklang und wurde noch weiter ausgesponnen 1 . Ihr Grab bei Seleukeia wurde ein bedeutender Kultort und hielt ihren Ruhm stets wach*. Über den Verfasser dieser Akten haben wir — ein seltener Fall — eine Nachricht. Um 200 teilt Tertullian' seinen Lesern mit, dies Buch sei von einem kleinasiatischen Presbyter verfaßt: der habe seine Autorschaft eingestanden und sich mit seiner Liebe zu Paulus entschuldigt, sei aber doch abgesetzt worden. Den amtlichen Stellen der Kirche mußte allerdings schon in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts solche Schriftstellerei mißfallen; in den Gemeinden hat sie aber nichtsdestoweniger großen Erfolg gehabt. «) Acta bei Lipsius-Bonnet 1 S. 271 f. l ) Delehaye Origines du culte des martyrs* 161 f. *) Tert. de baptismo 17.

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Paulusakten. Johannesakten

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Man hat diese apokryphen Akten als christliche Romane bezeichnet und tut das mit Recht, wenn man dabei ihren Charakter als Volksbücher nicht vergißt. Sie arbeiten mit denselben Motiven und Effekten, die uns aus der kunstmäßigen Romanliteratur der griechischen Sophisten wohl bekannt sind, und verwenden zugleich Vorstellungen und Bilder aus der Werkstatt jener Tendenzbiographien antiker Propheten und Wundermänner, die wir Aretalogien zu nennen pflegen". Die Mischung freilich ist verschieden. In den Petrusakten wird wesentlich mit Wundergeschichten stärksten Kalibers gearbeitet. Die Paulusakten legen das typische Romanmotiv der Wanderung zu Grunde, binden es aber, so gut es geht, an die Nachrichten der kanonischen Apostelgeschichte. Auch die Erotik, die in den Petrusakten nur leise anklingt, kommt hier viel stärker zur Geltung und tritt aus dem negativen Gebiet der Abwehr in das positive der geistlichen Liebe über. Einen dritten Typ vertreten die Johannesakten*. Die Wunder bekommen eine besondere Steigerung: der Apostel läßt sie mehrfach durch andere Personen vornehmen*, und eine Giftprobe wird als regelrechtes Experiment an einem Verbrecher vorgenommen. Dieser beweist die Echtheit des Giftes dadurch, daß er daran stirbt. Der Apostel hatte dasselbe Gift vorher ohne Schaden genommen — nun erweckt er den Versuchspatienten nach gelungener Probe wieder zum Leben 4 . Daneben finden wir aber auch die schwankmäßig volkstümliche Geschichte 5 , wie Johannes in einer Herberge sämtliche Wanzen während der Nacht vor die Tür schickt, wo sie gehorsam warten, bis der Morgen anbricht und der Apostel ihnen erlaubt, die gewohnten Ritzen der Bettstelle wieder zu bevölkern. Die zweite Besonderheit der Johannesakten ist ihr stark rhetorischer Charakter, der in den Erzählungen zu Tage ') Darüber vgl. Rosa Söder Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike (Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft, Heft 3) 1932. *) Acta Joh. bei Lipsius-Bon4 net 2 I, 151—216. ») Acta Joh. 24. 47. 83. ) Acta Joh. 9—11. s ) Acta Joh. 60-61.

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tritt, vor allem aber in zahlreichen Ansprachen und Predigten des Apostels sich auswirkt. Der Inhalt ist verhältnismäßig einfach gestaltet. Domitian wird durch die Juden gegen die Christen aufgehetzt und verbannt den von ihnen hoch gefeierten Johannes, obwohl er ihn um seiner Tugend und Wunderkraft willen liebgewinnt, nach Patmos. Dort schaut Johannes die Offenbarung, die er aufzeichnet. Unter Trajans Herrschaft wird er frei und reist über Milet nach Ephesus zurück. Hier erweckt er den Strategos Lykomedes und seine Frau zum Leben, heilt alle alten Weiber der Stadt im Theater von ihren Krankheiten und läßt durch sein Gebet Altar und Tempel der Artemis zur Hälfte einstürzen, woraufhin das Volk auch den Rest des Tempels zerstört. Den Gipfelpunkt bildet die Drusianageschichte, die ein typisches Romanmotiv ausbaut. Ein Wüstling dringt in das Grab der aus Herzeleid über seine Nachstellungen gestorbenen Frau, um an der Leiche zu erreichen, was ihm die Lebende versagt hatte. Aber eine Schlange beschützt die Tote, tötet den Helfer des Frevlers und bannt ihn selbst an den Ort. Johannes kommt mit dem Ehemann, erweckt die Toten und bekehrt den Bösewicht; aber der wiedererweckte Helfer bleibt unbußfertig und fährt nun zum Teufel. Darauf folgt ein theologischer Teil, in dem Johannes Aufklärung über die mannigfach wechselnden Erscheinungsformen Jesu und seinen Scheinleib gibt. Er rezitiert in diesem Zusammenhang einen Hymnus 1 , den der Meister vor seiner Gefangennahme im Kreis der ihn umtanzenden und mit Amen antwortenden Apostel gesungen habe, und berichtet dann über eine letzte Offenbarung des Herrn, der in Wahrheit nicht am Kreuze litt, sondern durch das gnostische Mysterium des Lichtkreuzes den Weg zur Erkenntnis des erlösenden Logos und zu einer höheren, übermenschlichen Wesenheit gewiesen hat. Das Ende des Apostels wird wiederum durch lange Reden und Gebete sowie eine Eucharistiefeier eingeleitet: zuletzt legt er sich selbst ins Grab und gibt fröhlich seinen Geist auf. ») Acta Joh. 94—96.

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Johannesakten. Thomasakten

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Die drei bisher genannten Apostelakten entstammen wohl der Zeit um 200 und knüpfen bewußt an die ältere kirchliche Überlieferung an, wenn sie auch dann mit voller Freiheit ihren Stoff entfalten. Aber die Wünsche des Christenvolkes beschränkten sich nicht auf die Apostel, von denen echtes Wissen vorhanden war, sondern bemächtigten sich auch der übrigen inhaltlosen Namen als willkommener Anhaltspunkte für neue Phantasiegebilde. Die Andreasakten, die uns freilich nur trümmerhaft erhalten sind 1 , wenden die bekannten Methoden der Gestaltung auf einen Apostel an, von dem es historische Kunde überhaupt nicht gab. Die faßbaren Reste zeigen die asketische Stellung zur Ehe und bringen auch Betrachtungen über das Kreuzesmysterium 1 . Der Apostel stirbt in Patrae den Märtyrertod, gleich seinem Bruder Petrus am Kreuz aufgehängt. Das besterhaltene, weil am weitesten verbreitete Beispiel dieser ganz frei schaffenden Volksschriftstellerei bieten uns die Thomasakten. Die sind in der Atmosphäre der ostsyrischen Hauptstadt Edessa entstanden und ursprünglich syrisch geschrieben, dann aber bald ins Griechische frei übersetzt und in beiden Gestalten viel gelesen und daher allerlei Wandlungen unterworfen worden. Die Grundlinie der Geschichte ist die Missionswanderung des Apostels nach Indien: an diesem Faden werden im ersten Teil eine Anzahl Abenteuer hintereinander aufgereiht, die schließlich in die Bekehrungsgeschichte einer hohen Dame Mygdonia ausmünden; durch sie kommt das Christentum an den Hof des Königs Misdaios, und die Schilderung aller dadurch verursachten Verwicklungen füllt den zweiten Teil der Akten, der natürlich mit dem Martyrium des Apostels schließt. Wir finden den üblichen Wunderapparat noch um einige reizvolle Züge bereichert. Ein eifersüchtiger Drache muß das in seinen Gegner gespritzte Gift wieder heraussaugen' und Acta apost apocr. ed. Lipsius-Bonnet 21, S. 38—45 und 1—37. Hennecke, Neutest Apokr * 96—102. l ) Iren. 1, 20,1. vgl. auch Epist. ) Acta Thon». 30—33.

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stirbt daran. Ein Eselsfüllen bittet den Thomas in längerer Rede aufzusitzen und stellt sich auf die Frage des Apostels hin als Nachkomme des Bileamesels und Verwandten jenes Esels vor, auf dem Christus in Jerusalem einritt1. Als es dann seinen Dienst getan hat, stirbt das Tier — ebenso wie der redende Hund in den Petrusakten; das ist ein typischer Zug solcher Tierfabeln*. Bald danach erweist sich eine ganze Herde von Wildeseln hilfsbereit und stellt dem Apostel Vorspann für seinen Wagen; der begabteste von ihnen beschwört Dämonen, ermahnt den Thomas zum Wundertun und predigt selbst vor dem Volke*. Auch das aus den Johannesakten bekannte Wunder der Totenerweckung durch eine Mittelsperson finden wir wieder4. Wir hören von dem, was ein Toter im Himmel geschaut hat, und eine zum Leben erweckte Frau berichtet von ihrer Wanderung durch die Hölle5. Offenbarungen im Traume sind allenthalben beliebte Motive, aber hier wird ein Traum berichtet, der das Schicksal des Königshauses vorbildet und die genaue Wiedergabe eines altindischen Mythos ist*. Und bei näherem Zusehn ergibt sich, daß eine Fülle von allegorisierten mythischen Motiven die Erzählungen dieser Akten bestimmen, und daß auch die reichlich vorhandenen Reden durch Elemente einer gnostischen Vorstellungswelt befruchtet werden, die mit Sicherheit auf den syrischen Gnostiker Bardesanes zurückgeführt werden kann und nicht wenig Baumaterial für das manichäische Weltbild geliefert hat. Manche Stücke dürfen geradezu als Einlagen bezeichnet werden. Da hat der Verfasser bereits geformt vorliegende Lieder oder Gebete in seinen Zusammenhang mehr oder weniger geschickt eingefügt7: das berühmte Lied von der Perle schildert in mythischem Gewand die Mission Manis und ist demnach erst nach') Acta Thom. 39—40. *) Acta Thom. 41. Acta Petri 12. Kerenyi, Die griech.-orient. Romanliteratur (1927) S. 255. *) Acta Thom. 68—79. ) Acta Thom. 34. 154. 155. 165. «) Acta Joh. 93. s ) Acta Joh. 4) Acta Thom. 11. 152. 153. Acta Pauli 21. 87—92. Acta Petri 21. «) Acta Thom. 34. 155. ·) Acta Joh. 98—101. Acta Petri 38.

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Gnosis in der Kirche. Apokalyptik

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Lage, sich spielerisch mit dem Mantel romanhafter Fabulistik zu bedecken. So finden wir in allen diesen Akten gnostische Anschauungen und Lehren, und sie werden mit einer so naiven Selbstverständlichkeit vorgetragen, daß man die Empfänglichkeit der Leser für solche Dinge leicht daraus erschließen kann. Wir sehen hier eines der Mittel, durch welche die Gnosis als Gesamterscheinung in den Gemeinden des zweiten und dritten Jahrhunderts Einfluß gewonnen hat, und zugleich sind die Schriften selbst Beweisstücke dafür, in welchem Umfang sie bereits erfolgreich gewesen ist. Denn höchstens bei den Thomasakten könnte man daran denken, einen gnostischen Sektierer als Verfasser anzunehmen: die andern Akten sind schwerlich von außen in die Kirche hineingetragen, sondern in der Mitte von Gemeinden entstanden, die sich als treue Glieder der katholischen Kirche fühlten. Da wird uns die Gefahr deutlich, von der die alten Väter so beweglich reden. Das Spätjudentum hat, angeregt durch das Danielbuch, die apokalyptische Schriftstellerei weiter ausgebaut und sehr fleißig gepflegt. Die Verfasser schreiben unter irgend einem ehrwürdigen Namen und datieren ihr Werk in eine längst vergangene Zeit. Zuweilen knüpfen sie an persönliche Erlebnisse an und gehen von Gesichten und Offenbarungen aus, die sie schildern und deuten, oder sie lassen einfach die heiligen Autoritäten — Henoch 1 , Moses, Baruch, die Sybille — selbst auftreten und Auskunft geben über alles, was die theologische und politische Wißbegier aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erfahren wünscht. In der jungen Christenheit war schon in frühester Zeit das Wann und Wie der Aufrichtung des messianischen Reiches Gegenstand sehnsüchtiger Frage, und der ablehnende Bescheid, den der Meister einst den Jüngern gegeben hatte*, war keine ausreichende Beruhigung für die Gemeinde. Aber die Vorzeichen des großen Ereignisses, lebendige Bilder der Not auf Erden und der Schrecken am Himmel ließen sich doch wenigstens aus den letzten Herren') s. Bd. 1, 24—26.

*) Mark. 13, 32 u. Parall.

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reden entnehmen, die man in den synoptischen Evangelien 1 aufgezeichnet fand. Hier konnte die Phantasie der Propheten sich entzünden und den Versuch wagen, in die Geheimnisse der Endzeit ahnend vorauszublicken. Die dem johanneischen Kreis entstammende Offenbarung ist unseres Wissens das erste Werk dieser Art: es ist die Schöpfung eines ganz großen Künstlers, der, vom Geist ergriffen, mit leidenschaftlicher Gewalt die Pforten der Ewigkeit aufbricht. Den Stoff liefert ihm die bunte Welt spätjüdischer Jenseitsvorstellung, bereichert durch mythische Bilder altorientalischen und hellenistischen Glaubens: aber er gestaltet ihn neu und gliedert ihn mit siebenfältigem Rhythmus, der immer wieder aufklingend in das gewaltige Finale der letzten Vision ausmündet. Der verbannte Apostel weilt auf Patmos: es ist Sonntag. Da ruft ihn der Herr, er schaut sich um und sieht den Menschensohn in himmlischer Pracht. Er fällt nieder und vernimmt die Worte: „Fürchte dich nicht, ich bin der Erste und der Letzte und halte die Schlüssel des Todes und der Hölle. Nun schreibe, was du sahst und was ist und was nach diesem kommen wird". Der Prophet ist berufen. Und seine erste Tat ist die apostolische Mahnung. Sieben Sendschreiben gehen aus an sieben kleinasiatische Gemeinden, warnend und drohend zumeist, aber doch zweimal von herzlichem Lob erwärmt. Dann ist das Vorspiel beendet. Die Pforte des Himmels tut sich auf, der Seher steigt empor und schaut Gott auf seinem Thron, umgeben von den 24 Ältesten und den Scharen der Engel, die das Dreimalheilig singen. Da liegt das Buch mit sieben Siegeln, auf dem Throne steht das Lamm, und, umbraust von Jubelliedern, öffnet es feierlich ein Siegel nach dem andern. Nun jagen die vier apokalyptischen Reiter in die Welt, die Erde bebt und die Sonne verfinstert sich. Die Seelen der Märtyrer schreien nach Rache, und die Engel Gottes versiegeln die Gläubigen, die zur Rettung bestimmt sind. Dann wird das siebente Siegel gelöst: sieben Engel erscheinen und blasen auf η Mark. 13. 5—37 = Matth. 24. 4—36 = T.ulc. 21 8—36.

Die johanneische Apokalypse

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sieben Posaunen. Und jedem Schall folgt eine schreckliche Offenbarung. Die siebente Posaune leitet himmlische Gesichte ein. Der Messias wird geboren und vom Drachen verfolgt. Michael wirft das Untier zu Boden, aber schon steigen feindliche Tiere aus der Tiefe und machen sich die Menschheit bis zur Anbetung Untertan: geheimnisvolle Zeichen und Zahlen enthalten den Schlüssel zur Erkenntnis ihres Wesens. U n d sieh: schon steht das Lamm, umgeben von seinen Getreuen, triumphierend auf dem Berge Zion, und Engelstimmen verkünden, daß Babylon die Große gefallen ist und alle Götzendiener göttliche Strafen erleiden. Die Sichel schneidet auf Erden Gottes blutige Ernte. Sieben Schalen des Zornes leeren sich über der Erde, und noch einmal zieht das Strafgericht über Babylon vor den Augen des Sehers vorüber. Das himmlische Hallelujahuldigt dem König derKönigeundHerrnderHerren, der Teufel wird in das Gefängnis der Tiefe geworfen, und Christus herrscht mit den Seinen auf dieser Erde 1000 Jahre lang. Dann öffnet die Hölle noch einmal ihre Pforten: der Teufel wird frei und stürmt mit allen widergöttlichen Gewalten gegen die heilige Stadt. Aber Feuer fällt vom Himmel und vernichtet die Bösen, derTeufel mit den Seinen wird in den Feuerpfuhl gestürzt zur ewigen Qual, und die Toten stehen auf. Das jüngste Gericht hebt an, und jeglicher wird gerichtet nach seinen Werken. Das ist das Ende. „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde: denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt Jerusalem neu herabsteigen aus dem Himmel von Gott, bereitet wie eine Braut, geschmückt für ihren Mann". Und nun umfängt den Seher alle Pracht und Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem, u n d seine Zunge klingt in seligem Jubel — „und ich, Johannes bin's, der das hört und sieht". Dann fällt er anbetend nieder: der himmlische Klang ist verrauscht, nur abgerissene Worte zittern ihm noch im Ohr. Da schreibt er auf, was ihm offenbart worden ist,und beschwört jeden Abschreiber dieses Prophetenbuches bei seiner Seligkeit, nichts davonzunehmen oder hinzuzutun. U n d d a n n schließt

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3. Das Neue Testament

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er mit dem sehnsüchtigen Seufzer: „Ja, ich komme bald, Amen, komm Herr Jesu!" Die neuere Forschung ist mit der alten Kirche darin einig, die Abfassung dieses Buches unter Domitian, und zwar gegen Ende seiner Regierung (t 96) anzusetzen. Der Verfasser benutzt altes Material und fügt es in seinen Rahmen, gleichgültig gegen die Unstimmigkeiten, die für nachprüfende Exegeten dadurch entstehen, weil er der überragenden Gesamtwirkung seiner Komposition sicher sein darf. Unter der beherrschenden Gewalt seines Geistes erglänzt auch das Alte in dem neuen Licht der christlichen Ewigkeitsschau, und diese höhere Perspektive verklärt auch den Haß gegen das im Bilde Babylons erscheinende römische Reich zur prophetischen Gerichtspredigt eines Mannes, der mit den letzten und absoluten Maßstäben mißt. Wir steigen aus der Werkstatt eines schöpferischen Künstlers in das bescheidene Kämmerlein eines kleinen Handwerkers hinunter, wenn wir uns der zweiten Apokalypse des christlichen Altertums zuwenden. Wenig vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts schrieb in Rom Hermas, der Bruder des Bischofs Pius, ein dreigeteiltes Werk, dem man den Titel „der Hirt" gegeben hat. Wie weit wirkliche Erlebnisse des Hermas hier eine literarische Form gefunden haben, ist nicht mit Sicherheit auszumachen: aber die in der ganzen Schrift immer wieder deutlich hervortretende Abhängigkeit von Buchmotiven und das sichtliche Bemühen des Verfassers, den unter seinen Händen stetig, aber formlos wachsenden Stoff durch kleine Mittel zusammenzuhalten, nährt beim Leser die Vermutung, daß er auch da unselbständig ist, wo er von Eigenem zu geben behauptet. Eine Apokalypse ist dieses Buch, weil es von Visionen berichtet und in Erwartung des göttlichen Gerichtes steht. Aber die Visionen sind künstlich am Schreibtisch ausgedachte Allegorien, und die künftigen Plagen samt dem Gericht werden nicht geschaut und geschildert, wie bei Johannes, sondern nur angekündigt, um dem Hauptzweck des Buches zu dienen.

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Der Hirt des Hermas. Die Petrusapokalypse

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Es ist nämlich als Ganzes eine Bußpredigt an die Christenheit und verkündet in immer neu eingekleideten Wendungen die Lehre, daß auch der in schwere Sünde gefallene Christ noch einmal — aber wohlgemerkt, nur noch einmal nach der Taufe! — Gelegenheit hat, durch Reue und Buße seine Sünden abzuwaschen: so ist der Gemeinde jetzt noch eine Frist gegeben. Wer die Worte des Propheten zu Herzen nimmt, wird sie benutzen, ehe sie abläuft und das Gericht beginnt, und das Buch mit seinen Bildern und lang ausgesponnenen moralischen Betrachtungen will ihn zu vertiefter Erkenntnis der Sünde und des rechten christlichen Wandels führen. Solche Lehren erteilt zunächst eine ehrwürdige Alte, die als Personifikation der Kirche vorgestellt wird, und ein als Hirte gestalteter Engel, der merkwürdige Ähnlichkeit mit einem Offenbarungsträger hellenistischer Mystik hat 1 . Die Arbeit an der Kirche wird zweimal* unter dem Bild eines Turmbaus symbolisiert, auch das Hirtenbild wiederholt sich® und wird dann umrahmt von breit ausgesponnenen Baumallegorien 4 . Das Gleichnis von den zwei Städten, von denen doch nur eine die wahre Christenheimat sein kann 5 , gibt gemeinchristliche Anschauung wieder. Dagegen ist die mit Hermas wohl gleichzeitige Petrusapokalypse 6 eine echte Vertreterin ihrer Gattung. Da redet der Herr auf dem ölberg zu seinen Jüngern und teilt ihnen die Vorzeichen seiner Parusie und des Weltendes auf ihre Bitte mit. Er knüpft dabei reichlich an synoptische Worte an, malt aber die dort gegebenen Andeutungen breit aus. Die Schilderung des jüngsten Gerichts mit der Bestrafung der Sünder bildet den Ubergang zu einer ausgiebigen Zeichnung der Hölle, wo die verschiedenen Arten der Frevler mit Strafen gepeinigt werden, die ihren irdischen Handlungen entsprechen. Die Gerechten aber gehen in die elvsischen Gefilde von Acherusia. Die Jünger bitten darum, einen Gerechten aus jenem Leben ») Vgl. R. Reitzenstein Poimandres (1904). ») Vis. 3. Sim. 9 ») Vis. 5 Sim. 6. «) Sim. 2—4. 8 vgl. auch 5. ») Sim. 1. ·) Die ganze Uberlieferung zusammengestellt von H. Weinel bei Hennecke Neutest. Apokr* 314—327.

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sehen zu dürfen, und es erscheinen zwei Selige in ihrem leuchtenden Glänze; danach öffnet sich der Himmel, und die ganze Herrlichkeit des Paradieses entschleiert sich den Blicken der Apostel. Freilich, die Phantasie des Verfassers weiß vom Himmel nur wenig zu berichten, während seine Höllenvisionen reich und mannigfaltig aus all den Bildern gestaltet werden, die Orient und Griechenland schon lange zusammengetragen hatten 1 . Dieser Unterschied ist freilich auch bei dem Größten unter den Nachfolgern unseres Verfassers, bei Dante, deutlich zu spüren, aber wer die trockene Himmelsschilderung dieser Petrusschrift mit der johanneischen Seligkeit des himmlischen Jerusalem vergleicht, wird den gewaltigen Abstand in der Höhenlage beider Werke scharf empfinden. Eine Apokalypse in der Form einer Herrenoffenbarung ist auch die neuerdings erst in unsern Gesichtskreis getretene Epistula Apostolorum 2 . Nur ist es da der auferstandene Herr, der die Seinen um sich versammelt und sie über die himmlischen Dinge belehrt: über seinen Abstieg zur Erde, seine Fleischwerdung, sein Verhältnis zum Vater, die Auferstehung der Toten, aber auch über die Zeichen und Leiden der Endzeit, über die Missionsaufgabe der Jünger und die Pflicht zu tapferer Mahnpredigt und treuem Bekenntnis. Durchgehends sehen wir das Bemühen des Verfassers, die neutestamentlichen Grundlagen seiner Ausführungen deutlich zum Bewußtsein zu bringen. Aber was er darüber hinaus aus Eigenem gibt, trägt nicht nur die uns wohlbekannten Züge der allgemeinkirchlichen Meinung, sondern ist auch von gnostischer Denkweise befruchtet. Auf der einen Seite wird freilich die Leiblichkeit des auferstandenen Christus nachdrücklich behauptet, aber andrerseits die Göttlichkeit des Logos mit der des Vaters völlig gleichgesetzt. Der Vater ist in dem Logos mit seiner Gestalt, Macht, Vollkommenheit, Licht, Maß und Stimme*. Und als er zur Erde niederstieg, zog er die Weisheit und Kraft des ») Λ lb recht Dieterich, Nekyia (1893). *) Carl Schmidt Ge spräche Jesu ( T U 43) 1919. H. Duensing Epistula apostolorum 1925 (Kl. Texte 152). ») Epist. apost. 17 (28).

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Der Brief der Apostel

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V a t e r s an und kleidete sich in j e d e m Himmel in die Gestalt der dort wohnenden Engel, so daß er unerkannt blieb. So ist er denn auch der Jungfrau Maria als Gabriel erschienen und dann in ihren Leib hineingegangen und Fleisch geworden 1 . Auf Erden hat Christus die Heilslehre gepredigt, hat sie sogar in die Unterwelt getragen, und das menschliche Fleisch dadurch, daß er es annahm, zur Unverweslichkeit befähigt 2 . E r hat die Menschen aus der Gewalt der Archonten befreit und führt sie zur himmlischen Ruhe®. Das sind im Grunde alles gut katholische Gedanken, aber in Formen gekleidet, die von der Gnosis geschaffen sind. Diese Epistula entstammt dem zweiten Jahrhundert 4 , etwa der Zeit um 140 oder 170 und ist wohl in Ägypten geschrieben. Sie ist das älteste uns bekannte Beispiel einer solchen Offenbarungsschrift, die auf Reden des Auferstandenen zurückgehen will. In der Gnosis ist diese Form eifrig gepflegt worden und hat noch im dritten Jahrhundert so umfangreiche W e r k e wie das Buch Pistis Sophia erzeugt. E s begreift sich, daß diese Schriftstellerei der Kirche sehr schnell verdächtig geworden ist. A b e r sie ist nicht auszurotten gewesen, und die allgemein menschliche Neugier, die hinter den Vorhang des Jenseits zu schauen begehrt, hat im Bunde mit gnostisierendem Spekulationstrieb von einem Jahrhundert zum andern immer neue Apokalypsen erzeugt, denen es an eifrigen Lesern ungeachtet des Widerstandes der Kirche nicht gefehlt hat. Die christliche Briefliteratur ist durch den Apostel Paulus begründet worden. Nicht als ob er j e daran gedacht hätte, irgend etwas Literarisches zu schaffen. Seine Briefe sind ihm nie etwas anderes gewesen als Mittel zum Zweck apostolischen Wirkens, und wenn er alles hätte mündlich erledigen können, so würde er keine Zeile geschrieben haben. W e n n er den Kollossern 5 den R a t gibt, sich den Brief an die Laodicener zu beschaffen und diesen im Austausch ihren Brief zukommen zu lassen, so tut er das, weil er auf diese Weise Zeit spart und J) ») Epist. apost. 13—14 (24—25). Epist. apost. 21 (32) 5) Kol. 4, 16. ») Epist. apost. 28 (39). «) ZNW 20,173—176.

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nicht zweimal dasselbe zu schreiben braucht. Aber weil in diesen Briefen seine überragende Persönlichkeit zu lebendigster Wirkung kam, darum sind sie wirkliche Literatur werke von höchstem Rang geworden und als solche auch schnell von den Gemeinden erkannt worden. Jener Briefaustausch zwischen Kolossae und Laodicea wird nicht der erste gewesen sein und ist nicht der einzige geblieben. Man hat schon früh begonnen, Briefe des Apostels zu sammeln, in Korinth, in Ephesus, in Philippi 1 , und als gegen Ende des ersten Jahrhunderts sich jemand an die Aufgabe wagte, die sämtlichen Briefe des Paulus zusammenzubringen, waren ihm Abschriften von neun Gemeindebriefen und dem Brief an Philemon erreichbar. Dies ist der Grundstock unseres Briefkorpus. Was jener Sammler nicht mehr bekommen konnte, ist verloren — darunter sind ζ. B. zwei Briefe an die Korinther, von denen einer vor, der andere hinter unsern l.Kor. gehört. Auch in der alten Kirche hat niemand mehr Kunde von irgend einem Paulusbrief außerhalb unserer Sammlung. Aber diese selbst ist seitdem in der ganzen Kirche verbreitet und fleißig abgeschrieben worden. Schon Ignatius und Polykarp kennen sie in trajanischer Zeit. Schnell hat sich auch eine bestimmte Reihenfolge der Briefe durchgesetzt, die im Groben auf dem rein äußerlichen Prinzip der Länge beruht. Der längste Brief, also der an die Römer, kommt zuerst, der kürzeste zuletzt; wobei die Briefe an dieselbe Gemeinde zusammenbleiben. Es hat im zweiten Jahrhundert noch ein anderes Prinzip der Anordnung gegeben, bei dem die Korintherbriefe voranstanden*, und Marcion hat versucht', sie chronologisch zu stellen. Das schließen wir aus Nachrichten: alle uns erhaltenen Handschriften haben die Sammlung mit dem Römerbrief an der Spitze. In dieser Ursammlung befand sich aber bereits ein unechter Brief, nämlich der an die Epheser. Bald sind die Pastoralbriefe hinzugetreten: schon Polykarp zitiert aus ihnen 4 und ») Vgl. E. v. Dobschütz in Die evangelische Theologie 2 (1927) S. 9. ') Handb. zu Rom.4 Einl. S. 1 - 4 . >) Bd. 1, 272 f. *) Polyc. epist. 4, 1. 5, 2. 9, 2. 11, 4.

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Der Sammlung der Faulusbriefe

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las sie also wohl in seinem Pauluskodex. Sie haben ihren Platz vor dem Philemonbrief gefunden, so daß also nun eine Gruppe von Briefen an Einzelpersonen den Gemeindebriefen folgt. Wohl um die Mitte des zweiten Jahrhunderts hat man dann im Osten irgendwo, vielleicht in Ägypten, den Hebräerbrief für paulinisch erklärt und demgemäß der Sammlung eingegliedert. Seine schwankende Stellung in den Handschriften verrät noch heute, daß er erst später hineingekommen ist: er findet sich bald am Ende des ganzen Korpus, bald am Ende der Gemeindebriefe, bald in ihrer Mitte, vor oder hinter den Korintherbriefen oder zwischen Kolosser- und Galaterbrief. Schon ein Lehrer des alexandrinischen Klemens 1 nennt ihn als Brief des Paulus, zerbricht sich aber auch schon den Kopf über die dadurch erwachsenden Schwierigkeiten. Das kann nicht lange nach 150 gewesen sein. Aber die Abschriften des älteren Pauluskorpus waren damals schon so weit in der ganzen Kirche verbreitet, daß diese Erweiterung sich nur in beschränktem Umfang durchsetzen konnte. Im Osten ist es ziemlich geglückt, das Abendland hat den Hebräerbrief als nichtpaulinisch abgelehnt und sich erst infolge der kirchenpolitisch bedingten theologischen Einwirkungen des vierten Jahrhunderts mit ihm befreundet. Die Paulusbriefe sind, wie schon gesagt, das Vorbild aller weiteren altchristlichen Briefliteratur geworden. Weil sie bei allen Gemeinden der Christenheit in Aufnahme kamen, meinte man, sie seien auch zu dem Zweck geschrieben, und ahmte dies Vorbild nach. So entstanden die für die Gesamtkirche bestimmten und nur scheinbar mit Sonderanschriften versehenen Traktate, welche sich als Briefe des Jakobus, Petrus, Judas, Barnabas geben oder, wie der 1. Johannesbrief und der Hebräerbrief, die Briefform wenigstens teilweise aufrecht erhalten. Aber auch wirkliche altchristliche Briefe sind in Nachahmung des paulinischen Vorbildes geschrieben: wir haben den Brief des römischen Klemens und die sieben Schreiben des Ignatius bereits kennengelernt, zu denen das Begleitschreiben ») Euseb KG 6. 14, 4.

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des Polykarp hinzugerechnet werden muß. Andere Lehr- und Mahnbriefe kennen wir als Einlagen in größere Werke: so die sieben Sendschreiben der Apokalypse, die Korintherkorrespondenz der Paulusakten 1 , den Briefwechsel zwischen Klemens und Jakobus am Anfang der klementinischen Homilien. Wertlose Fälschungen sind der wohl im vierten Jahrhundert fabrizierte 1 Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca sowie der apokryphe Laodicenerbrief*, der jenes Kol. 4,16 erwähnte Paulusschreiben ersetzen soll. Von dem phantastischen „Brief der Apostel", der eine Apokalypse enthält, ist bereits* die Rede gewesen. Diese ganze reiche Literatur wollte direkt oder indirekt der Gemeinde autoritative Belehrung geben und hat es auch in weitgehender Weise getan. Aber je reicher sich die theologische Spekulation und die freie Schöpferkraft der Phantasie entfalteten, um so stärker wurden die Gegensätze innerhalb dieses Schrifttums und damit auch die Widersprüche der neuen Lehren gegen die altgewohnte Tradition der Gemeinde. Das treibende Element bei der Produktion neuer Schriften war der Geist der Gnosis, und wir haben gesehen, wie stark er in die kirchlichen Kreise hineinwirkte. Demgegenüber mußte die Gemeinde nach einem sicheren Schutz suchen, und sie fand ihn in der Begrenzung der autoritativen Lehre auf das Apostolische. Die Apostel sind die letzten, aber auch die einzigen Autoritäten, so lautete bald der kanonische Grundsatz, in dem die Selbstbesinnung der Kirche auf ihr Wesen sich aussprach. In ältester Zeit und noch bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts wird als höchste Autorität „der Herr" zitiert, und zwar in der Form der Vergangenheit, wie es sich ja von selbst versteht, „der Herr hat gesagt". Woher der Redner oder Schriftsteller das Herrenwort hat, pflegt er nicht mitzuteilen, und es ist im Grunde auch gleichgültig, so lange die Richtigkeit des Zitates keinem Zweifel unterliegt. Es wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß er seine Kenntnis aus den üblichen Quellen schöpft, und wenn er auf eine münd') s. o. S. 74. *) Hieron. vir. inl. 12. Kl. Texte 12. 4) o. S. 86.

*) Ausg. v. Harnack in

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Apostolische Autorität

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liehe Tradition zurückgreift, so mindert das seine Glaubwürdigkeit keineswegs. Dieser ideale Zustand konnte nicht aufrecht erhalten werden, als unter gnostischer Einwirkung Jesusworte von fremdem Klang und voll seltsamer Weisheit frei erfunden wurden, als jene neuen Evangelien auftauchten, von denen wir gehört haben. Nicht daß sie neu waren, machte die Gemeinde mißtrauisch — auch Matthäus und Lukas sind einmal ohne Schaden neu gewesen — sondern daß sie neue Lehren und ungewohnte Theologie durch Jesu Mund vortragen ließen. Schon das Johannesevangelium ist in Kleinasien auf Gegner gestoßen, denen seine Logoslehre verdächtig war, und die es wegen seiner Widersprüche zu der Darstellung der synoptischen Evangelien verwarfen 1 : es hat sich doch durchgesetzt. Als aber nun die gnostischen Evangelien und Offenbarungsschriften mit dem gleichen Anspruch auftraten, suchte die Kirche nach einem eindeutigen Kriterium und fand es in der Forderung apostolischer Abfassung. Nur die Apostel sind einwandfreie Künder der Überlieferung vom Herrn, folglich haben nur solche Evangelien Geltung in der Kirche, die von Aposteln verfaßt sind. Dadurch waren die Evangelien des Matthäus und des Johannes autorisiert — und der Widerspruch jener Kleinasiaten gegen das vierte Evangelium ist bezeichnenderweise mit der Behauptung verbunden, es sei nicht von dem Apostel Johannes, sondern von dem Irrlehrer Kerinth geschrieben*. Bei Markus und Lukas half man sich mit dem Hinweis darauf, daß beide Männer Apostelschüler seien, und demgemäß der eine die Autorität des Petrus, der andere die des Paulus zur Geltung bringe'. Damit waren diese vier Bücher aber in Wahrheit kanonisiert worden. Denn der Hinweis auf ihre apostolische Autorität, der uns zunächst nur als eine Besinnung auf gesunde historische Grundsätze erscheinen will, hatte den tieferen Sinn, daß diese Jesustradition — und nur diese — von dem in der Kirche waltenden heiligen Geist gewirkt und gesichert sei. i) Epiph. haer. 51, 3—4 usf. *) Epiph. hacr. 51, 3, 6. ') Justin dial. 103, 8. Irenaeus 3, 1, 1. 2. Fragm. Muratori 1—34 und Monarchien. Prologe (Kl. Texte l l S. 5. 12—16).

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Die Apostel waren die einzigen unbedingt legitimierten Geistträger in der Kirche: an ihren Kundgebungen war alles zu messen, was sich sonst noch als Wirkung des Geistes ausgab. So waren also ihre Schriften vom Geist inspiriert und damit von letzter, göttlicher Autorität. Sie traten den Urkunden des alten Bundes ebenbürtig oder, besser gesagt, als notwendige und vollendende Ergänzung zur Seite, sie waren auch „heilige Schrift". Neben das Alte Testament fügt sich ein Neues Testament, das man nun in der gleichen Weise mit den feierlichen Worten „es steht geschrieben" aufruft, die in älterer Zeit nur dem Alten Testament vorbehalten sind. Und wenn man jetzt Herrenworte zitiert, so geschieht es nicht im Präteritum, sondern lieber in der Gegenwartsform „der Herr sagt", denn er spricht nun stets gegenwärtig aus den heiligen Büchern zu seiner Gemeinde. Dieser Prozeß der Kanonisierung der Evangelienschriften ist in seinen Anfängen bei Justin 1 kurz nach 150 deutlich zu beobachten und ist zur Zeit des Irenaeus*, also ein Menschenalter später, vollendet. Gelegentlich ist freilich noch Unsicherheit vorhanden. Die Gemeinde von Rhossos in Syrien benutzte das Petrusevangelium*, und der antiochenische Bischof Serapion hatte sich durch den apostolischen Namen zur Anerkennung dieses Gebrauchs bewegen lassen. Das war nach dem Apostolizitätsprinzip richtig gehandelt. Als er aber den Text näher ansah und doketische Irrlehre darin feststellte, verbot er das Buch. Er prüfte also die Echtheit der apostolischen Etikette durch Vergleich mit der Kirchenlehre, und da er entscheidende Abweichungen fand, erklärte er — sachlich zutreffend — den Namen für unecht und die auf ihn sich gründende Autorität für nichtig. Mit den übrigen pseudoapostolischen Evangelien ist die Kirche nicht anders verfahren und ist so zu der allgemein angenommenen Anschauung gelangt, daß es mehr als vier Evangelien nicht gebe und auch nicht geben könne — das hat Irenaeus4 schon theoretisch und symbolisch begründet. 1) Justin dial. 49. 100. 101. 104. 105. 106. 107. l ) Irenaeus 3, 11, 8. 2, 22, 3. 2, 30, 2. ») Euseb KG 6,12, Z-6. *) Irenaeus 3, 11, 8.

Der Evangelienkanon

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Aber die Vierzahl der Evangelienschriften hatte auch ihre Nachteile. Es gab doch in Wahrheit für die Kirche nur e i n Evangelium, nur e i n e Botschaft Gottes an die Menschheit: wozu war die auf vier Bücher verteilt? Noch dazu mit so vielen Wiederholungen, aber auch mit Unstimmigkeiten und anscheinenden Widersprüchen der verschiedenen Texte? Der ideale Zustand war doch sicherlich e i η Evangelium in e i η e m Buch. Das war vielleicht in ältester Zeit auch der Fall gewesen, wo der Gebrauch der Synoptiker sich auf verschiedene Gegenden verteilt hatte. Marcion ließ auch nur e i η Evangelienbuch in seiner Kirche gelten. Um 180 haben zwei Männer den Weg betreten, den auch die Kirche bis auf den heutigen Tag benutzt, sobald es sich um volkstümliche Evangelisation durch „biblische Geschichte" handelt; sie haben aus den vier Texten einen einzigen gemacht. Der eine ist Bischof Theophilus von Antiochia gewesen; sein Werk ist spurlos untergegangen1. Dagegen hat der andere großen Erfolg gehabt: es war der Schüler Justins, Tatian. Seine Evangelienharmonie „aus vieren", Diatessaron genannt, reiht Perikopen aller vier Evangelisten zu einer fortlaufenden evangelischen Geschichte zusammen, und dies Buch ist in der syrischen Kirche in amtlichen, auch gottesdienstlichen Gebrauch genommen und erst im Laufe des fünften Jahrhunderts 1 durch das Vierevangelienbuch verdrängt worden. Unter der Hand ist Tatians Werk aber auch anderswo noch lange benutzt, und nach Ausweis der vorhandenen Übersetzungen haben Römer so gut wie Germanen aus ihm das Evangelium gelernt; auch eine arabische Bearbeitung ist erhalten. Das Original freilich ist verschollen, und man streitet sogar darum, ob es griechisch oder syrisch verfaßt war: doch ist jüngst ein griechisches Bruchstück am Euphrat ausgegraben worden*. Die Kirche hat jedoch im Ganzen eine solche Verkürzung der Evangelientexte abgelehnt. Der Kampf gegen die Willkür i) Hieron. epist. 121, 6, 15. «) Theodoret haer. fab. 1, 20 (4, 312 Schulze) Burkitt Evangelien da-mepharreshe 2, 173 ff. ') Fund in Dura: C. H. Kraeling A Greek Fragment of Tatians Diatessaron (Studies and Documents 3) 1935.

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Marcion und der Gnosis hatte ihr den Wert einer historisch gut fundierten Tradition gezeigt, die nun mit Ehrfucht gehütet wurde: sie war ja doch jetzt als niedergeschriebenes Gotteswort erkannt, und das durfte nicht willkürlich vermindert werden. So blieben die vier Evangelien intakt. Aber es ist doch nützlich festzustellen, daß sich eine talmudistische Kleinkrämerei nach Art der jüdischen Masorethen bei den Christen nicht entwickelt hat. Die Abschreiber haben sich bei allem Respekt vor Gottes Wort auch in den späteren Jahrhunderten nicht hindern lassen, den Text im einzelnen durch harmonisierende Korrekturen oder Herübernahme von Varianten aus andern Handschriften hin und her zu „verbessern", so daß ein ganzer Urwald von gegeneinander stehenden Lesarten, Zusätzen und Auslassungen entstanden ist. Und das gleiche Schicksal hat auch die Handschriften der Ubersetzungen des Neuen Testaments betroffen und so die Textkritik dieses heiligen Buches zum schwierigsten Gebiet philologischer Arbeit gemacht. Nur in Syrien sind die Kodizes der amtlichen Bibelübersetzung mit einer weit über das gewöhnliche Maß hinausgehenden, offenbar religiös bedingten, Sorgfalt kopiert worden und dadurch vor Entstellungen bewahrt geblieben. Die Paulusbriefe hat Marcion zuerst dem Evangelium gleichgesetzt 1 in bezug auf göttliche Offenbarungsautorität: dies ergab sich zwingend aus seiner Theologie. Aber auch die Großkirche schätzte ja diese Briefe von Anfang an, und sobald die Apostel in die eben charakterisierte Stellung einzigartiger Offenbarungsträger rückten, mußten auch ihre Briefe als inspirierte Kundgebungen des heiligen Geistes zu dem sich bildenden Neuen Testament gerechnet werden. Das läßt sich an den Zeugnissen der Schriftsteller nachprüfen, die gegen Ende des zweiten Jahrhunderts neben die Evangelien die apostolischen Briefe stellen 1 und sie allmählich dann auch mit der feierlichen Formel als „Schrift" zitieren 5 ; aber dieser Sprach») s. Bd. 1, 273. «) Iren. 1. 3, 6 (1, 31 Harvey); Apg als „Schrift"' 3, 12, 5. 9 (2, 57. 65 Harv.) ») Clemens Strom. 1, 87, 7 f. 7, 84, 2. 3 vgl. 7, 95, 3.

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Der Briefkanon

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gebrauch hat sich doch nur langsam durchgesetzt. Den Kern der Sammlung apostolischer Briefe bildet das paulinische Korpus, und Marcion hat keine weiteren Schreiben in seinem Kanon. Auch die alte syrische Kirche beschränkt ihren Briefkanon auf Paulus 1 . Im Laufe des vierten Jahrhunderts tauchen die drei großen katholischen Briefe — Jakobus, 1. Petrus, 1. Johannes — bei syrischen Vätern auf, und die amtliche Kirchenbibel des Syrer, die Peschitto, hat sie um 400 dem Neuen Testament angegliedert. Dieser „Dreibriefkanon" gilt auch im Bereich der antiochenischen Kirche, und die großen Prediger und Theologen, die dieser Kirchenprovinz angehören oder unter ihrem Einfluß stehen, erkennen keine anderen katholischen Briefe an. Im Westen können wir eine Entwicklung verfolgen, die von den beiden schon dem Polykarp von Smyrna um 115 bekannten Briefen, 1. Petrus und 1. Johannes, ausgeht und den Jakobusbrief beiseite läßt. Diese zwei Briefe bilden den Grundstock, an den sich seit dem endenden zweiten Jahrhundert die vier kleineren katholischen Briefe — 2. Petrus, 2. 3. Johannes, Judas — in allen möglichen Kombinationen anschließen: die erhaltenen lateinischen Kanonverzeichnisse zeigen uns anschaulich die Mannigfaltigkeit der kirchlichen Urteile über diesen Teil des Neuen Testaments. Die alexandrinische Kirche beweist ihre Verbundenheit mit Rom darin, daß auch sie diesen abendländischen Kanon benutzt: Klemens zitiert 1. Petrus, 1. und 2. Johannes, Judasbrief, und er hat diesen Schriften auch einen zusammenhängenden Kommentar in seinen „Hypotyposen" gewidmet*. Aber in Alexandria war man weitherzig, und so rechnet er auch den Barnabasbrief zu dieser Gruppe® und nennt seinen Verfasser einen Apostel 4 , behandelt sogar den römischen Klemensbrief als apostolisch® und zitiert die Didache als heilige Schrift*. Dieselbe Auffassung schimmert auch im Schrifttum des im l *) W. Bauer, Apostolos der Syrer 34. ) Clemens Alex. ed. Stählin 3, 203—215. ') Euseb KG 6, 14,1. «) Clem. Strom. 2, 31, 2. 2, 35, 5. ») Clem. Strom. 4, 105, 1. ·) Clem. Strom. 1, 100, 4.

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übrigen kritisch eingestellten Origenes noch gelegentlich durch, und hat sogar in den uns erhaltenen Bibelkodizes des fünften Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen. Sowohl die Sinaitische Handschrift wie der Alexandrinus bringen am Ende des Neuen Testaments einen Anhang: jene hat darin den Barnabasbrief und den Hirten des Hermas, dieser die beiden Klemensbriefe. So stark war das Bedürfnis der ägyptischen Christen, auch diese Schriften in ihrer Bibel zu lesen. Vereinigte man nun jenen abendländischen Briefkanon in seinem ganzen Umfang mit dem Kanon der Antiochener, so entstand ein Kanon von sieben katholischen Briefen, der durch den Jakobusbrief eröffnet wurde; dann folgten 1. 2. Petrus, 1. 2. 3. Johannes, Judas. Die Reihenfolge steht im Osten fest und beweist, daß der alte Dreibriefkanon die Grundlage bildet, während der Westen schwankt und gerne den römischen Apostel Petrus an die Spitze stellt. Dieser Kanon der sieben Briefe begegnet uns um 320 bei Euseb von Cäsarea und hat sich im Laufe des vierten Jahrhunderts weiter ausgebreitet: nach Ägypten und dem Abendlande zuerst, dann auch, im Zusammenhang mit der ägyptischen Kirchenpolitik, im Orient zugleich mit dem Nicaenischen Bekenntnis. Die Apostelgeschichte ist mit einer stillen Selbstverständlichkeit diesem Kanonisierungsprozeß gefolgt: war sie doch die Fortsetzung des Lukasevangeliums und zugleich die notwendige Ergänzung zu denApostelbriefen. Diese beiden Tatsachen mußten den Mangel apostolischer Verfasserschaft decken und haben es auch mit Erfolg getan. Aber es ist begreiflich, daß dies Buch in der älteren Zeit hinter den übrigen neutestamentlichen Schriften zurücktritt und selten zitiert wird; noch im Anfang des fünften Jahrhunderts ist es sogar in der Hauptstadt Konstantinopel 1 weiten Kreisen der Gemeinde so gut wie unbekannt gewesen. Auch scheint seine Anerkennung um 200 in Afrika noch nicht unbedingt festzustehen*, aber im allgemeinen ist es um diese Zeit bereits Bestandteil des Kanons, ') Johannes Chrys. hom. 1, 1 in Act. apost. (9, 1 Montf.) vom Jahre 401. *) Tertullian de praescr. 22.

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Die Apostelgeschichte. Kanon der Apokalypsen

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und sogar die altsyrische Kirche 1 hat es den Paulusb riefen beigesellt. Heiß umstritten ist dagegen der Kanon der Apokalypsen. Diese nehmen als Offenbarungen des Geistes ohne weiteres höchste Autorität für sich in Anspruch. Die johanneische Schrift verflucht ausdrücklich jeden, der ein Wort hinzufügt oder ausstreicht. Aber auch der Hirte des Hermas und die Petrusapokalypse haben energisch Gehör verlangt, und weite Kreise der Kirche haben es ihnen bewilligt. Namentlich Hermas ist im Abendland gegen Ende des zweiten Jahrhunderts viel gelesen und von Rom aus auch nach Ägypten gewandert, wo er sich am längsten gehalten hat. Denn in Rom wurde er in den Hintergrund gedrängt, sobald man den Kanon nach dem apostolischen Prinzip zu begrenzen anfing 2 , und hat seit dem dritten Jahrhundert nur noch als privates Lesebuch vereinzelt Beachtung gefunden, während er in Ägypten bis zum fünften Jahrhundert in hohem Ansehen steht und als wertvoller Anhang zum Neuen Testament geschätzt wird. Die Petrusapokalypse hat ein römischer Kritiker' um 200 wegen ihres apostolischen Namens im Kanon belassen, aber er notiert dazu, daß „manche von den Unsern sie nicht in der Kirche verlesen wissen wollen". Sie ist denn auch im Abendland nicht zu Ansehen gelangt, hat aber in Ägypten seit 200, wo Klemens sie in den Hypotyposen kommentierte, Verehrer gefunden, und wird in einzelnen Städten Palästinas sogar noch im fünften Jahrhundert am Karfreitag in den Kirchen verlesen 4 : was um diese Zeit wirklich nur noch eine Seltsamkeit ist. Die johanneische Apokalypse hat sich im zweiten Jahrhundert schnell durchgesetzt. Schon bald nach der Mitte des Jahrhunderts finden wir sie in Rom', wenig später in Gallien, Afrika und Ägypten, und seitdem ist ihr Ansehn und ihre apostolische Autorität im Abendland und am Nil feststehend. Im ') Doctrina Addaei p. 46 ed. Phillips. Th. Zahn Gesch. d. neutest. Kanons 1, 1, 373. l ) Fragm. Muratori Z. 73—80. ») Fragm. Muratori Z. 71—73. 4 ) Sozomenus 7, 19, 9. «) Justin dial. 81, 4.

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3. Dae Neue Testament

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Orient ist sie naturgemäß auch früh bekannt und respektiert 1 Aber dieselben Kreise, welche dem vierten Evangelium widerstrebten, lehnten auch die Apokalypse ab und bestritten ihre apostolische Herkunft, und das Mißtrauen gegen alle neue Prophetie, das in dem noch zu schildernden Montanistenkampf stärksten Ausdruck gewann, wirkte sich auch gegen dies Prophetenbuch aus 1 . Im dritten Jahrhundert erhob sich sogar in Ägypten von amtlicher Stella aus Widerspruch gegen das Offenbarungsbuch: Bischof Dionysios von Alexandria kämpfte um 250 gegen den groben Chiliasmus der am Ende der Dinge ein tausend Jahre währendes Schlaraffenland erhoffte und diese Erwartung durch die Apokalypse c. 20 zu stützen wußte. In einer Streitschrift an den Führer dieser Bewegung, Bischof Nepos von Arsinoe.hat er die Apokalypse einer scharfen Kritik unterzogen und ihr trotz aller Anerkennung ihres geistlichen Charakters die apostolische Verfasserschaft abgesprochen'. Das war eine gelehrte und theologisch bedingte Stellungnahme des Bischofs gegen einBuch, das nun einmal in denBibelnseinerKirchestand; und es ist auch weiterhin darin stehen geblieben. Dagegen hat Antiochia und die syrische Kirche die Apokalypse nicht aufgenommen, und denselben Standpunkt finden wir in Palästina4 und dem inneren Kleinasien 5 . Aber auch hier scheint dasVordringen der ägyptischen Nicaeapolitik gegen Ende des vierten Jahrhunderts den Kanon beeinflußt zu haben und somit der Apokalypse zu Gute gekommen zu sein, jedoch keineswegs mit dem gleichen Er Folg wie bei den 7 katholischen Briefen. Die byzantinische Kirche hat das Buch stets mit großer Zurückhaltung betrachtet und die Zwiespältigkeit des Urteils noch auf dem Konstantinopeler Konzil* von 692 bewußt sanktioniert. *) Presbyter bei Irenaeus 5, 30, 1 vgl. 33, 3 und Papias bei Euseb 3, 39, 12. Theophilus bei Euseb KG 4, 24. Apollonius bei Euseb 5, 18, 14. Melito von Sardes bei Euseb 4, 26, 2. *) Epiphan. haer. 51, 33 vgl. Irenaeus 3, 11, 9; Caius bei Euseb 3, 28, 2. ®) Euseb 7, 25 Dionys. Alex. ed. Feltoe p. 116 ff. 4 ) Hieronymus in Anecdota Maredsolana 3, 2 (1897) S. 5 f. Kyrill Hieros. Catech. 4, 36. «) Gregor Naz. carm. lib. 1 sect. 1 nr. 12 (2, 260 Ben.) vgl. carm. lib. 2 sect. 2 nr. 8, 289 ff. (2, 1104 Ben.) Amphilochius v. Ikonium bei Zahn Gesch. d. nt. Kanons 2, 1 S. 217. ·) Cone. Trull, can. 2 (6, 1139 Labbe).

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Die Apokalypse im Kanon

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Aus der altchristlichen Literatur mußte notwendig ein neutestamentlicher Kanon herauswachsen, sobald man ihre Erzeugnisse als Offenbarungen des heiligen Geistes ansah. Und diese Betrachtungsweise war mit dem lirchristlichen Geistbegriff gegeben: unbegrenzt wie die Wirkungen des Geistes waren auch die Möglichkeiten der Produktion neuer Schriften von autoritativem Charakter. Ein immer weiter sich ausdehnendes Neues Testament war um die Mitte des zweiten Jahrhunderts — und auch noch später — im Werden, und die Gnosis war die Werkstatt, in der die vorwärts treibenden Kräfte heimisch waren. Da hat die Kirche die ihr drohende Gefahr erkannt und der Entwicklung Halt geboten. Das Prinzip der Apostolizität legte die entscheidende Grenze in die Vergangenheit und brach die Geltung des freien prophetischen Geistes. Was auf dem Gebiet der Verfassung geschah, fand seine Parallele auf dem des Schrifttums: die Apostel wurden die Bürgen der bischöflichen Autorität sowohl wie der neutestamentlichen Bücher — sie sollten es auch für die Lehrform werden. Dann war das Fundament der katholischen Kirche sicher gegründet.

Glaubensregel und Theologie Die Frömmigkeit der griechischen Mysterien hat Gefallen daran gefunden, rituelle Formeln und geheimnisvoll klingende Sätze zu erfinden, in denen sich das Erleben des Mysten oder eine Grundwahrheit der Religion in einer nur dem Eingeweihten erkennbaren Weise ausdrückten 1 ; das war eine Art liturgische Bekenntnisbildung internen Charakters. Daneben finden wir aber auch in den Volksmassen gelegentlich ein Bekenntnis zur Gottheit in der Form der Akklamation, des immer wiederholten, rhythmisch im Sprechchor erschallenden Zurufs. Die Apostelgeschichte (19,34) schildert uns eine solche Szene mit lebendiger Anschaulichkeit: das Volk von Ephesus protestiert gegen die Missionspredigt des Paulus „und aus allen klang eine einzige Stimme und sie schrieen an die zwei Stunden lang: Groß ist die Artemis der Epheser". So bekennt man aber auch durch Akklamation die Göttlichkeit des in die Stadt einziehenden Herrschers 2 , so preist man den Sarapis 3 mit der Formel „Es gibt nur einen Zeus Sarapis", so feiert man den Mond oder die Sonne als den „einen Gott im Himmel"4. Und solche Massenkundgebung des Volkes wird uns gelegentlich5 geradezu als ein vom Gottesgeist gewirkter Enthusiasmus bezeichnet. Auch in der Urkirche 4 hören wir von dem in ekstatischer Ergriffenheit gestammelten Bekenntnis „Herr ist Jesus", dem im amtlichen Reichskult das Loyalitätsbekenntnis „Herr ist der Kaiser" entgegenstand 7 . Und wenn dem heidnischen Volk ') Sammlung bei A. Dieterich Mithrasliturgie 213—219 vgl. Firmicus Maternus de errore prof, relig. c. 21—26. 2 ) Athenaeus 5 p. 213 b. E. Peterson Heis Theos 141 ff. vgl. 270 ff. s ) O. Weinreich Neue Urkunden zur Sarapis-Religion (1919) 24—30. 4 ) E. Peterson Heis Theos 260, 268. s ) Dio Cassius 75, 4, 5—6. ·) 1. Kor. 12, 3 vgl. Rom. 10, 9. 7 ) Martyrium Polycarpi 8, 2.

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Das älteste Bekenntnis

II 101

der östlichen Städte der Bekenntnisruf zu dem „Einen Zeus Sarapis" ein vertrauter Klang war, so kleidete Paulus den christlichen Gegensatz zum heidnischen Vielgötterglauben in den Spruch1 „Für uns gibt es nur e i n e n Gott, den Vater, aus dem Alles ist und wir zu ihm, und e i n e n Herrn, Jesus Christus, durch den Alles ist und wir durch ihn". Das sind bereits wirkliche Anfänge christlicher Bekenntnisbildung, und es sind nicht die einzigen. Bei der Taufe bezeugt der Neuling seinen Glauben vor dem Täufer und vor der Gemeinde, aber auch die Gemeinde selbst bindet ihr Wissen um den Sinn von Tod und Auferstehung des Herrn, ihren Glauben an seine göttliche Herkunft und herrliche Wiederkunft in stilisierte Formeln, die bisweilen hymnischen Klang annehmen. Es ist kein Zufall, daß das vielgebrauchte alttestamentlicheWort für „bekennen" auch den Sinn von „lobpreisen" hat, und das Dankgebet der eucharistischen Feier wurde gerne zum feiernden Bekenntnis der Heilstaten Gottes an seiner Christenheit ausgebaut. Der Ausgangspunkt aller Bekenntnisbildung ist das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias, welches sich darin ausdrückt, daß man ihm diesen Titel — Christus — gibt 2 und ihn dementsprechend „Jesus Christus" nennt. Aber es verlor auf griechischem Boden schnell seine ursprüngliche Kraft und seinen Sinn, und „Christus" ist schon den Lesern der Paulusbriefe kaum mehr als der zweite Eigenname Jesu gewesen. Dafür treten zwei andere Aussagen® in den Vordergrund: Jesus ist „der Herr" und der „Sohn Gottes", und an diese Kerne schließen sich schnell weiterführende Zusätze an. Formt man den Satz „Jesus Christus, Gottes Sohn, (ist der) Heiland" so ergeben die Anfangsbuchstaben der fünf Worte dieses Bekenntnisses das griechische Wort „Ichthys", der Fisch: und darum hat man wohl schon früh einen Fisch als bildliches Symbol des christlichen Glaubens gewählt. Die erhaltenen gemalten und gekritzelten Denkmäler reichen nicht über das dritte ») 1. Kor. 8,6. *) Matth. 27, 17. 22. Joh. 1, 41. Apg. 9, 221. Joh. 5,1. ) „Herr" 1. Kor. 12, 3 Rom. 10,9 „Sohn Gottes" 1. Joh. 4, 15 vgl. 5, 5. 10 Hebr. 4, 14; Apg. 8, 37 als Taufbekenntnis.

3

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4. Glaubensregel und Theologie

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Jahrhundert hinauf, aber den Schriftstellern um 200 ist diese Symbolik ganz geläufig1 und demnach wohl altüberliefert. Man hat sie sogar erweitert und die geheimnisvollen Buchstaben mit einem kreuzförmigen Τ verbunden 2 : dann erhielt man das Bekenntnis zu „Jesus Christus, Gottes Sohn, dem gekreuzigten Heiland". Aber neben dieser geheimnisvollen Symbolik geht von Anfang an die freie Entfaltung der -Glaubensaussagen einher. Paulus selbst formuliert am Beginn des Römerbriefs das Evangelium Gottes als die Kunde von „seinem Sohn, der aus dem Geschlecht Davids war dem Fleische nach, und zum Gottessohn in Macht bestellt wurde seinem heiligen Geiste nach, seit seiner Auferstehung von den Toten, Jesus Christus unserm Herrn". Wenn er hier das Geheimnis der Person Jesu unter dem Gesichtspunkt der Davids- und der Gottessohnschaft darstellt, so kleidet er an anderer Stelle das Erlösungswerk in das Schema von der Erniedrigung und Erhöhung: „Jesus Christus, der in göttlicher Gestalt war und es doch nicht für sein Kleinod ansah, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an und ward ein Menschenbild und an Erscheinung wie ein Mensch erfunden, und erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott hoch erhöht und ihm den Namen geschenkt, der über jeden Namen ist, daß in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und jede Zunge bekenne, daß Jesus Christus der Herr ist, zu Ehren Gottes des Vaters". Das sind zwei formulierte Bekenntnisse des Christusglaubens3, das erste mehr lehrhaft gedacht, das zweite einem Hymnus gleich gebildet; und diese beiden Typen treffen wir im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder. Der eine wird im Katechumenenunterricht seine Stätte ') Tertullian de bapt. 1, vielleicht auch Clemens Paed. 3, 59, 2, Origenes in Matth, tom. 13, 10 (3, 230 Lom.); Aberkiosinschrift (bei Dölger Ichthys 2, 457. 486—490) mit Akrostichon, vgl Optatus v. Mileve schism. Donat. 3, 2 (p. 69 Ziwsa). «) Z N W 22, 263 und Oracula Sibyll. 8, 217—250. *) Rom. 1, 3 - 4 Phil. 2, 5 - 1 1 .

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Grundformen und Erweiterungen

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gefunden haben, der andere trug liturgischen Charakter und wurde besonders zur Ausgestaltung des eucharistischen Abendmahlsgebetes verwendet, bei dem die versammelte Gemeinde durch den Mund des Priesters Gott für Christi Menschwerdung und Erlösungstat Dank sagte. So ist es nicht unwahrscheinlich, daß wir die zahlreichen und wechselnden Bekenntnisformulierungen der altchristlichen Literatur als Widerhall einer in Lehre und Liturgie lebenden kirchlichen Gewohnheit ansehen und entsprechend verwerten dürfen, einer Gewohnheit, die nicht müde wurde, das Ganze und die Einzelheiten der Christusbotschaft in immer neuen Gestalten zum Ausdruck zu bringen. Paulus selbst fügt zu seinen eben genannten Bekenntnissen noch die Auferstehungstradition der Urgemeinde hinzu, die er unter die Hauptstücke der Christenlehre rechnet und durch eigenes Wissen erweitert 1 , und in dem nachpaulinischen Schrifttum sehen wir das Christusbekenntnis immer reicher werden. Zu den einfachen Aussagen der ersten Zeit treten weitere hinzu: Geburt aus der Jungfrau Maria und dem heiligen Geist1, wahrhaftes Menschentum mit Essen und Trinken', Taufe durch Johannes 4 , Leiden unter Pontius Pilatus®, Predigt in der Hölle und Himmelfahrt 6 , Sitzen zur Rechten Gottes 7 , sowie die Wiederkunft und das Gericht über die Lebendigen und die Toten®. Wir sehen, wie alle diese Lehrstücke, die uns aus dem Apostolicum wohl bekannt sind, schon um die erste Jahrhundertwende in kirchlichen Formulierungen erscheinen und ihnen Fülle und kräftige Bestimmtheit geben. Aber sie sind rein aus dem Gestaltungsbedürfnis der Gemeinde erwachsen und nicht durch einen besonderen Gegensatz bedingt. Nur wenn Ignatius es unterstreicht, daß Christus wahrhaft geboren, wahrhaft verfolgt, wahrhaft gekreuzigt sei, und hinzufügt, daß er gegessen und getrunken habe, dürfen wir darin mit Sicher>) 1. Kor. 15, 3—8. ') Ignat. Eph. 18, 2 Smyrn. 1,1. ') Ign. Trail. 9. ') Ign. Eph. 18, 2 Smyrn. 1, 1. «) Ign. Trail. 9, Magn. 11, Smyrn. 1, 2; vgl. 1. Tim. 6, 13. ·) 1. Petr. 3, 19. 22 in dem Bekenntnis 3, 18—22; vgl. 1. Tim. 3,16. 7) 1. Petr. 3. 22. 8) 2. Tim. 4.1.

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heit eine Zurückweisung doketischer Anschauungen sehen, die von einem wirklichen Menschentum Christi nichts wissen wollten 1 . Wir haben aus der Folgezeit noch weitere Christusbekenntnisse erhalten', die ihren Zusammenhang mit diesen frühesten Aussagen deutlich erkennen lassen. Das bedeutsamste steht in dem ältesten uns erhaltenen Eucharistiegebet, welches die Hippolytische Liturgie als Einleitung den Stiftungsworten des Abendmahls vorauf schickt: es zeigt uns für das eigentliche „Christus"bekenntnis einen und wohl den entscheidenden „Sitz im Leben der Kirche"*. Gleichzeitig mit diesem Bekenntnis ist aber auch eine zweigliedrige Form entstanden, welche die untrennbare Einheit von Gottes- und Christusglauben zum Ausdruck bringt. Paulus 4 spricht es gegenüber der Vielgötterei des heidnischen Glaubens mit betonter Schärfe aus, was der Christ bekennt: „Ein Gott, der Vater, aus dem Alles ist und wir zu ihm, und Ein Herr Jesus Christus, durch den Alles ist und wir durch ihn". Und solche Doppelformen finden wir nun in der alten Zeit immer wieder, in den Pastoralbriefen, bei Irenaeus und in Märtyrerakten". Das Bekenntnis des Justin vor den Richtern lautet: „Wir verehren den Gott der Christen, den einen, den wir für den uranfänglichen Schöpfer der ganzen Welt, der sichtbaren und unsichtbaren, halten, und den Herrn Jesus Christus, den Knecht Gottes, der von den Propheten vorausgesagt ist als der künftige Prophet des Heils für das Menschengeschlecht und Lehrer edlen Wissens". Und als in Smyrna um 200 ein theologischer Konflikt mit Noetos ausbrach, erklärten die Presbyter der Gemeinde ihren Glauben in folgender Weise*: „Auch wir wissen in Wahrheit Einen Gott, wir wissen Christus, wir wissen den Sohn, gelitten, wie er gelitten hat, gestorben, wie er gestorben ist, und auferstanden am dritten Tage, und weiland zur Rechten des Vaters, und kommend zu ') Bd. 1, 262. *) Didascalia 6, 23, 8; Const. Apost. 7, 36, 6; Justin dial. 85. 132. Vgl. ZNW 22. 266 f. «) Text S. 123. «) 1. Kor. 8, 6. *) 1. Tim. 6,13. 2. Tim. 4, 1. Polyc. Phil. 2, Iren. 3, 1, 2. 3, 4, 1. 3, 16, 6. Acta Justini 2, 5. Mart, des hl. Schapur bei Braun Ausgew. Akten Pers. Märtyrer S. 2. ·) Hippolyt, c. Noet. 1.

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Bekenntnisformel in zwei oder drei Gliedern

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richten die Lebendigen und die Toten. Und was wir da sagen, das haben wir überkommen". Herrschend geworden ist aber das dreigliedrige Bekenntnis zu Vater, Sohn und Geist. Schon die korinthische Gemeinde des Paulus kennt die Dreiheitsformel, wie der Schlußgruß des zweiten Korintherbriefes beweist, und das Matthäusevangelium verwertet sie liturgisch, wenn es die Taufe im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes 1 vorschreibt. Aus dieser Wurzel ist im Lauf der Jahrhunderte die unendliche Fülle der trinitarischen Bekenntnisse erwachsen. Man konnte den Grundstock in zweifacher Weise erweitern: indem man die einzelnen Glieder ausführlicher gestaltete oder indem man neue Glieder anhängte. Beide Wege sind betreten, aber auch beide Arten miteinander verbunden worden. Ende des ersten Jahrhunderts lesen wir beim römischen Klemens': „Haben wir nicht e i n e n Gott und e i n e n Christus und e i n e n Geist der Gnade, der auf uns ausgegossen ist, und e i n e Berufung in Christus?" und im zweiten Jahrhundert sieht ein Schriftsteller' in den fünf Broten der wunderbaren Speisung ein Bild des fünffachen christlichen Glaubens „an den Herrscher der ganzen Welt und an Jesum Christum und an den heiligen Geist und an die heilige Kirche und an die Vergebung der Sünden". Da finden wir das Trinitätsbekenntnis durch Anhänge zu einer fünfgliedrigen Formel erweitert. Um die Mitte des Jahrhunderts wird bei Justin mehrfach ein Taufbekenntnis erwähnt 4 , das etwa so gelautet haben mag: „Ich glaube an Gott, den Vater von Allem und Herrn, und an unsern Heiland Jesus Christus, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, und an den heiligen Geist, der durch die Propheten geweissagt hat". Hier ist der Dreitakt gewahrt, aber jedes Glied durch zusätzliche Aussagen verstärkt, und diese Weise der Erweiterung ist die für die ganze Symbolentwicklung fruchtbarste geworden. ') 2. Kor. 13, 13. Matth. 28, 19. *) 1. Klem. 46, 6. *) Epistula apostolorum 5 (16). 4 ) Justin Apol. 13, 3. 61, 3. 10. 13. Hahn BibL d. Symbole' S. 4 f. vgl. Z N W 21, 31 f.

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Eine Reihe ausführlicher Bekenntnisse solcher Art finden wir bei Irenaeus 1 gegen Ende des Jahrhunderts, bei Tertullian* um 200 und seinem Zeitgenossen Hippolyt von Rom 3 ; hier ist mit Händen zu greifen, wie gerade der zweite Artikel mit besonderer Liebe ausgebaut wird, und zwar durch mehr oder weniger vollständige Herübernahme des alten und ursprünglich selbständig bestehenden 4 Christusbekenntnisses. Das läßt sich in besonders lehrreicher Weise in Rom studieren. Da gab es ein altes, durch Dreigliederung jedes Artikels auf neun Glieder gebrachtes Trinitätsbekenntnis, das von da nach Ägypten gewandert ist und sich dort in zahlreichen Quellen erhalten hat 5 . Es lautet: Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen; Und an Jesus Christus, seinen eingebornen Sohn, unsern Herrn, Und an den hl. Geist, die hl. Kirche, des Fleisches Auferstehung. In den zweiten Artikel dieser straff gegliederten Formel ist nun ein Christusbekenntnis eingebaut und gleichzeitig der dritte Artikel und das Bekenntnis zur Sündenvergebung erweitert worden. Das Ergebnis ist das sogenannte altrömische Bekenntnis, welches allen Glaubensformeln des Abendlandes und damit auch unserm „Apostolicum" zugrunde liegt: Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen; Und an Christus Jesus, seinen eingebornen Sohn, unsern Herrn, Der geboren ist aus dem Hl. Geist und der Jungfrau Maria, Der unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde und begraben, am dritten Tage auferstand von den Toten, auffuhr in die Himmel, sitzet zur Rechten des Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten;

Und an den Hl. Geist, die hl. Kirche, die Vergebung der Sünden, des Fleisches Auferstehung. Die Gliederung der Sätze hebt den christologischen Zusatz deutlich heraus, lehrt aber zugleich noch ein Weiteres: es werden von Christus zwei verschiedene Aussagengruppen gebil>) Hahn Bibl. d. Symb.» S. 6 - 8 . ZNW 22, 272 f. 26, 93 f. *) Hahn Bibl. d. Symb.» S. 9—11 vgl. ZNW 21, 25—27. ») ZNW 26, 76—83. *) s. o. S. 100 ff. 5 ) Sitzungsber. Akad. Berlin 1919, 112—113 und 269—274. Festgabe für Harnack zum 70. Geburtstag (1921) S. 226 f.

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Symbol in Rom; im Orient

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det, die beide mit „Der" anfangen. Die erste nennt die Geburt aus dem Hl. Geist und der Jungfrau, will also augenscheinlich auf Grund von Lukas 1, 35 genauer darlegen, wieso Jesus in der ersten Zeile des Artikels als „der eingeborene Sohn Gottes" bezeichnet werden kann. Die zweite Gruppe vereinigt Aussagen von der Passion bis zur Erhöhung und künftigen Wiederkunft zum Gericht. Sie läßt sich unschwer mit der zweiten Bezeichnung Jesu in der einleitenden Zeile in Zusammenhang bringen: nach Phil. 2, 5—11 ist Jesus um seines im Leiden bewiesenen Gehorsams willen erhöht und mit dem Titel des „Herrn", des himmlischen Kyrios, geschmückt worden. Damit ist der ganze christologische Zusatz als eine biblisch-theologische Erläuterung der alten Vorlage, des einfachen Bekenntnisses zu „Jesus Christus, dem eingeborenen Sohn Gottes, unserm Herrn" erkannt worden 1 . Einen ganz entsprechenden Vorgang können wir in den morgenländischen Kirchen beobachten. Aus den zahlreichen Bekenntnissen des vierten Jahrhunderts läßt sich ein Urtypus herausarbeiten', der etwa so gelautet haben mag: Ich glaube an e i n e n Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren; Und an einen Herrn Jesus Christus, den eingebornen Sohn Gottes, Der aus dem Vater geboren wurde vor allen Äonen, durch den alles geworden ist, Der Mensch wurde, litt und auferstand am dritten Tage, und aufstieg in die Himmel, und kommen wird in Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Toten; Und an den HL Geist.

Auch dieses Symbol ist durch Einfügung christologischer Aussagen in ein einfacheres Trinitätsbekenntnis entstanden, das aber eine wesentlich andere Vorgeschichte erkennen läßt. Seine Grundlage ist das zweigliedrige Bekenntnis des Paulus' zu dem e i n e n Gott, dem Vater, aus dem alles ist und wir zu ihm, und e i n e m Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn. ») K. HoU Ges. Aufsätze 2,115—122. *) ZNW 21,1—24. *) 1. Kor.

8, 6.

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4. Glaubensregel und Theologie

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Das beweist nicht nur das doppelte e i η im ersten und zweiten Artikel, sondern auch die Formulierung „durch den alles geworden ist" im christologischen Teil, und endlich das Fehlen des e i η in dem wie ein nachträglicher Anhang erscheinenden dritten Artikel. Aus dieser paulinischen Urform hatte sich nun im Orient ein trinitarisches Bekenntnis entwickelt, das etwa so lautete: Ich glaube an e i η e η Gott, den Vater, den Allmächtigen, aus dem alles ist, und an e i n e n Herrn, Jesus Christus, den eingebomen Sohn Gottes, durch den alles ist, und an den Hl. Geist.

Aus diesem Symbol ist in Rom unter formaler Einwirkung des Taufsymbols durch Streichungen, Zusätze und straffe Gliederung jene neungliedrige Form hervorgegangen, die wir bereits kennen gelernt haben. Im Osten hat man den ersten Artikel stärker in ein deutliches Bekenntnis zum Weltschöpfer umgewandelt, wobei vielleicht traditionelle jüdische Formulierungen 1 eingewirkt haben. Ein Gegensatz gegen gnostische Trennung des höchsten Gottes vom Weltschöpfer ist jedenfalls nicht sicher als Ursache dieser Erweiterung zu erkennen: wohl aber hat sie später im Kampf gegen die Gnosis als Kennzeichen kirchlichen Christentums zu wirken vermocht. Unsicher ist auch, ob im zweiten Artikel die Bezeichnung Christi als des „Eingeborenen" (Monogenes) in polemischer Absicht erfolgt ist. Sie geht auf das Johannesevangelium 1 zurück und wird in der alten Zeit fast nie gebraucht, ist aber bei den Valentinianern* die Bezeichnung der von Christus unterschiedenen ersten Emanation des höchsten Götterpaares. Dem könnte das Bekenntnis zu der Identität von Christus und Monogenes entgegengesetzt sein4. Beachtenswert bleibt jedenfalls die Tatsache, daß die ältesten Symbole des Abendlandes den Monogenes nicht erwähnen 5 , daß er also nicht der allerfrühesten Schicht der Symbolbildung angehört. *) Vgl. Kol. 1, 16 Psalm 146, 6. Josephus c. Apion. 2, 121. Hermas Mand. 1, 1 und ZNW 21, 8 f. ! ) Joh. 1, 14. 18. 3, 16. 18. ») s. Bd. 1, 310. *) ZNW 22, 277 f. 26, 90 f. Iren. 1, 10, 3. Kattenbusch Apostol. Symbol. 2, 581—596. 5) ZNW 21, 11.

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Ausbau des zweiten Artikels. Der dritte Artikel

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Die erweiternde Tätigkeit hat nun aber im zweiten Artikel ganz in der gleichen Weise gewirkt wie in Rom: sie hat sich bemüht, die beiden Prädikate „Sohn Gottes" und „Herr" zu erläutern, und ist dazu vermutlich durch das römische Symbol angeregt worden. Aber theologisch geht der Osten andere Wege. Während Rom die Gottessohnschaft in schlichter Anknüpfung an die volkstümlich faßbare Vorstellung von der Jungfrauengeburt deutet, weist der Orient auf die vorweltliche Zeugung hin, die den Sohn von allem zeitlich bedingten Werden abscheidet. Eine direkte Bezugnahme auf den johanneischen Logosbegriff haben erst spätere Symbolformen eingefügt. Dieser Unterschied in der Deutung des Sohnesnamens ist durchgehend und trennt dauernd die Symbole des Ostens von den durch Rom bestimmten westlichen Formen. Die zweite Erweiterung der Vorlage durch Einfügung des Leidens und der Erhöhung ist kürzer gehalten als in Rom und läßt vor allem das Sitzen zur Rechten weg, wodurch die Beziehung auf Phil. 2 und damit die Erläuterung des Herrentitels undeutlich geworden ist. Man sieht, wie das in Rom so scharf hervortretende Motiv dieser beiden Zusätze im Osten nur abgeschwächt und in verallgemeinernder A r t wirksam ist. Dafür hat die Folgezeit ein um so üppigeres Wuchern neuer Bildungen aus dieser Wurzel in der morgenländischen Kirche erzeugt, während das Abendland durchweg das römische Bekenntnis und zwar in seiner lateinischen Übersetzung angenommen 1 und verhältnismäßig bescheiden weiterentwickelt hat. Die einfachste Form des dritten Artikels ist uns im Orient noch erhalten. Aber Erweiterungen haben auch da früh angesetzt, teils in der Form, daß der Hl. Geist als der verheißene Paraklet 1 oder als der schon in den Propheten wirksame und auf Christus hinweisende bezeichnet wird*, teils durch Zufügung weiterer Glaubenslehren wie Kirche, Sündenvergebung, Auferstehung und ewiges Leben: solche Formen haben wir bereits kennen gelernt 4 . Natürlich ist der Sinn dieser Anglie') Z N W 21, 4 f. Tertullian adv. Prax. 2. ») Justin Apol. 13. 3. 61, 13. Irenaeus 1, 10, 1 o. S. 105 vgl. Z N W 26, 93. *) o. S. 105 f.

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4. Glaubensregel und Theologie

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derung die Betonung des Glaubens, daß die genannten Dinge der Wirksamkeit des Hl. Geistes zu verdanken sind. Wie das Bischofsamt und der neutestamentliche Kanon, so ist auch das Glaubensbekenntnis aus rein innerkirchlichen Bedürfnissen hervorgegangen: nur ganz vereinzelt kann man den Gegensatz gegen Gnostiker oder andere Irrlehrer als treibendes Motiv für eine Formulierung vermuten. Die allmählich sich erweiternden Formeln stellen nur alttestamentliche Grundlehren und die wichtigsten Lehrbegriffe des Christentums wie Uberschriften für die einzelnen Abschnitte des Katechumenenunterrichts zusammen. Die knappen Stichworte der Glaubensregel verlangen den Kommentar des kirchlichen Lehramtes, und umgekehrt fügt das Bedürfnis der Glaubensunterweisung neue Worte oder Sätze in den T e x t des Bekenntnisses ein. Das Bekenntnis ist auch nach dem zweiten Jahrhundert keine starre Formel, sondern ein lebendiger und wandlungsfähiger Ausdruck der kirchlichen Glaubenslehre und hat diesen Charakter — im Osten stärker als im Westen — noch viele Jahrhunderte hindurch bewahrt. Das Trugbild eines alten, fest formulierten Bekenntnisses hat die Forschung lange Zeit irregeführt. In Wirklichkeit gibt es in der ganzen Alten Kirche nicht zwei Schriftsteller, die ein und dasselbe Symbol zitieren, und selbst ein und derselbe Kirchenvater formuliert „seinen Glauben" das eine Mal so und das andre Mal anders: daher die Fülle der Symbolformen, die uns die alten Quellen entgegenbringen 1 , und die sich durch neue Funde noch ständig vermehrt. Das Glaubensbekenntnis ist von Hause aus ein Stück kirchlicher Liturgie und hat an der geistlichen Freiheit des liturgischen Lebens teilgenommen, solange diese bestand 1 — das will sagen bis in das Mittelalter hinein: erst da ist es zur unabänderlich festen Formel erstarrt, die neuem Leben nicht mehr Raum gab. Das Bekenntnis der „Glaubensregel" bedeutete also für die Gemeinde viel mehr, als sein Wortlaut schlechthin besagt: ') Sammlung bei A. Hahn Bibliothek der Symbole u. Glaubensregeln. 3 A. 1897 und Lietzmann Symbole KL Texte 17/18. ') ZNW 26, 84 f.

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Das Symbol und die Gemeindelehre

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dem getauften Christen klingt bei jedem Satz die kirchliche Deutung mit, die er im Katechumenenunterricht empfangen hat. Und erst wenn man das voll in Rechnung stellt, kann man verstehen, wie sich dies nüchterne und unphilosophische Gebilde als Schutzwehr gegen die blendenden Spekulationen gnostischer Denker hat bewähren können. Irenaeus und Tertullian geben dem Leser einen Begriff davon, was durch eindringliche Erklärung aus der einfachen „Glaubensregel" als „Richtschnur der Wahrheit" herausgeholt werden kann. Sie zeigen aber auch, wie diese Regel samt ihrer Deutung als ein von der Kirche sorgsam gehütetes und weitergegebenes Vermächtnis der Apostel verehrt1, ja sogar auf Christus selbst zurückgeführt und als Lehre des hl. Geistes bezeichnet wird, der alle Wahrheit in diesen „christlichen Fahneneid" zusammengefaßt hat 2 . Hätten die Apostel auch nichts schriftlich hinterlassen, d. h. hätten wir auch keinen Kanon des Neuen Testaments, so würde allein diese Tradition genügen, um den Glauben der Kirche sicherzustellen. So urteilt Irenaeus*. Wir dürfen also das Symbol als ein Kompendium der Gemeindetheologie betrachten und daraus ersehen, welche Sätze jener Zeit als die entscheidenden Hauptlehren des Christentums galten. Aus den mancherlei Formulierungen des ersten Artikels entnehmen wir zunächst das Bekenntnis zum strengen Monotheismus, den man bewußtermaßen mit den Juden gemein hat. Das gleichfalls der Synagoge angehörende Bekenntnis zu Gott als dem Weltschöpfer, wobei gern die unsichtbare Geisterwelt ausdrücklich neben dieser Erdenwelt genannt wird, erwies sich als brauchbares Bollwerk gegen die Lehren Marcions und der Gnostiker, welche den Schöpfer der Welt von dem höchsten Gott getrennt wissen wollten. Aber man folgerte daraus auch die Identität eben dieses Schöpfergottes mit dem Gott des Alten Testaments und lehnte gnostische Spekulationen über das Pleroma ab4, zumal man durch !) Irenaeus 1, 10, 1. 2. 3, 4, 1. l ) TertulL de praescr. haer. 13 adv. Praxeam 2. 30. ») Iren. 3, 4, 1. *) Iren. 1, 22, 1 vgl. 2, 1, 1. 2, 9, 1.

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4. Glaubensregel und Theologie

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den zweiten Artikel die vorevangelische Wirksamkeit des Sohnes in den Propheten verbürgt sah 1 . Es ist bezeichnend, daß die beiden ältesten Aussagen des Bekenntnisses über Gott kaum in die Debatte gezogen werden. Seine Allmacht erscheint als selbstverständliche Voraussetzung seiner Schöpfertätigkeit 2 und wird deshalb nicht ausdrücklich behandelt: sie wird einfach ein Hoheitsprädikat*. Und wenn Gott als Vater bezeichnet wird, so wird zumeist nicht daran gedacht, daß er Jesus zum Sohn hat, sondern es ist sein Verhältnis zur ganzen Welt ins Auge gefaßt: er ist der Vater des Alls 4 , der wegen seiner Liebe Vater, wegen seiner Macht Herr, wegen seiner Weisheit unser Schöpfer und Bildner heißt 5 . Dieser Vatername des Weltschöpfers war Gemeingut des Christentums, des hellenistischen Judentums 6 und der philosophischen Aufklärungsreligion, die das Wort bis zu dem homerischen „Vater der Götter und Menschen" zurückzuführen erlaubte'. Er wurde also im Sinne eines allgemeinen Monotheismus verstanden und hatte für das Bewußtsein der Gemeinden keine Verbindung mehr mit dem jüdischen Volksempfinden, das Gott als den Vater Israels bezeichnete 8 . Man findet es heute mehr als j e befremdlich, daß der zweite Artikel von Leben und Lehre Jesu so völlig schweigt und seine ganze Aufmerksamkeit auf Geburt, Tod und Wiederkunft des Herrn richtet. Aber das ist im Sinne der alten Kirche durchaus notwendig. Leben und Lehre des Meisters ist dem Christen Vorbild und Anweisung zum christlichen Leben, und der Katechumenenunterricht macht ihn damit ausreichend bekannt. Aber ihre Autorität und ihren wirklichen Sinn erhalten Taten und Sprüche Jesu doch erst von dem metaphysischen Grund seiner Person und ihrer Stellung im göttlichen Erlösungsplan — der „Heilsökonomie" — aus: dieser muß vor ') Iren 3, 10, 6—11, 1. 3, 12, 9. *) Justin Dial. 16, 4. 38, 2. s ) Justin Dial. 83, 4. 96, 3. 142, 2. Irenaeus 2, 6, 2. 4 ) Justin Apol. 13, 1. 45, 1. 61, 3. 10. App. 6, 2. 9, 2. «) Irenaeus 5, 17, 1 (2, 369) vgl. 2, 35, 3 (1, 387). «) 3. Makk. 2, 21. 5, 7. Philo oft, vgl. Index Bd. 7, 636 f. 7 ) Epictet 1, 3, 1. 1, 9, 7. 1, 19, 12. 3, 24, 15 f. vgl. Justin ap. 22, 1. *) Bousset Judentum* 377 f.

1435]

Gott der Vater. Der Sohn

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allem unverrückbar festgelegt sein, dann folgt alles Weitere von selbst. Es wäre ein übler Irrtum, wenn man aus dem Fehlen der genannten Stücke auf eine Minderbewertung der Ethik schließen wollte; schweigt doch die Glaubensregel ebenso von den Sakramenten, deren entscheidende Bedeutung niemand in Abrede stellen wird; aber auch sie empfangen ihre Kraft erst durch die Wesenheit des Herrn. Diese also gilt es in erster Linie festzulegen. So beginnt der zweite Artikel mit dem Bekenntnis, daß der Herr Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Der Titel des „Christus" war für die Gemeinde längst Eigenname geworden und nur dem Schriftkundigen aus dem Alten Testament deutbar; der Name „Herr" war auch verblaßt und hatte seine ursprüngliche Kraft eingebüßt. Aber die klare Bildhaftigkeit der Bezeichnung „Sohn Gottes" widerstand der ausgleichenden Gewohnheit und reizte die Spekulation immer aufs neue zu theologischen Konstruktionen. Es scheint, als ob das Geschlechtsregister Jesu bei Lukas 3, 23—38 einen kindlichen Versuch solcher Theologie aufbewahrt hat, wenn es die Ahnenreihe bis auf Adam, den „Sohn Gottes" hinaufführt und Jesus also auf dem Umweg über Adam, der ja sein Prototyp ist, zur Gottessohnschaft verhilft. Weiteste Verbreitung hat dagegen die Lehre von der gottgewirkten Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria gefunden. Matthäus und Lukas tragen sie ihren Lesern vor, Ignatius redet mit Betonung von diesem Geheimnis1, und im römischen Taufsymbol ist der Satz „geboren aus dem heiligen Geist und der Jungfrau Maria" die authentische Erklärung des Sohnestitels. Der Gedanke, ein unbegreiflich hohes Menschentum durch göttliche Vaterschaft zu erklären, war der antiken Welt geläufig und auch in der Kaiserzeit noch durchaus im Volke lebendig*. Plutarch behauptet, eine Lehre der Ägypter zu kennen, wonach der Geist eines Gottes wohl im Stande sei, einem Weibe zu nahen und in ihr Keime des Werdens zu zeugen*. ») Ign. ad. Eph. 19, 1. ad Smyrn. 1, 1. «) H. Usener Das Weihnachtsfest* 71—77. Plut. Numa 4, Quaest. conv. 8,1 p. 718 b, vgl. E. Norden, Geburt des Kindes 78.

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4. Glaubensregel und Theologie

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Und daß ein solches von der Gottheit begnadetes Weib eine Jungfrau war, wird in der Regel die natürliche Annahme sein, sobald nicht ausdrücklich eine Ehefrau als Mutter des Wunderkindes genannt wird: wieweit in diese Vorstellungsreihe noch der aus Ägypten und Arabien bezeugte Mythus hineingewirkt hat, daß zur Wintersonnenwende die Göttin Kore (das Mädchen) oder Parthenos (die Jungfrau) den Sonnengott gebiert 1 , mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist der Gedanke der gottgewirkten Geburt von einer Jungfrau der heidnischen Welt jener Tage wohl vertraut. Aber auch dem Judentum ist derartiges nicht fremd. Es findet sich freilich nicht in den Kreisen der palaestinensischen Rabbinen, aber das hellenistische Judentum der Diaspora weiß von wunderbarer Erzeugung durch Gottes direkte Wirkung. Philo2 kündet seinen Lesern ein großes Geheimnis an und berichtet dann von vier Frauen der biblischen Geschichte, daß Gott sie wunderbar befruchtet habe, Sara, Lea, Rebekka und Zippora: und bei der letztgenannten wird ausdrücklich betont, daß „Moses, als er sie zu sich nahm, sie schwanger erfand, aber von keinem Sterblichen" — die Parallele zur Josephsgeschichte Matth. 1, 18 ist nicht zu verkennen. Und von hier aus gewinnen auch die Darlegungen des Paulus Gal. 4, 21—31 ein neues Gesicht und belehren uns, daß auch er für Isaak im Gegensatz zu dem „natürlich" geborenen Ismael eine gottgewirkte, wunderbare Erzeugung annimmt. Er kennt also die gleiche Tradition hellenistischer Rabbinen, die auch den Ausführungen des Philo zugrunde liegt*. Und wenn Philo in diesem Zusammenhang betont, daß Gott nur eine reine Jungfrau seiner Wundergabe würdige, so werden wir dadurch an die oben erwähnten heidnischen Gedanken erinnert. Es sind wirklich Vorstellungen antiker Naturreligion, veri) Epiphan. Haer. 51, 22, 8 - 1 1 (2, 285—287 Holl) vgl. Holl Ges. Aufs. 2, 144—146. 2 ) Philo Cher. 45—50 (1, 181 f.). ') M. Dibelius Jungfrauensohn und Krippenkind (Sitzungsber. Akad. Heidelberg 1931/32 Nr. 4) 27—37. 42—43.

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Der Sohn Gottes

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mutlich ägyptischer Herkunft 1 , die wir in diesem hellenistischen Judentum auf die Bibel angewendet finden. Damit ist uns aber auch sofort deutlich gemacht, wie ein aus solchen Kreisen stammender Christ das Prophetenwort des Jesaia 7,14 verstehen mußte. Er las in seinem griechischen Text: „Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: siehe, die Jungfrau (Parthenos) wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und du wirst seinen Namen Emmanuel heißen". Das war ihm die prophetische Ankündigung der wunderbaren Geburt des Gottessohnes Jesus aus der Jungfrau Maria. Diese Lehre war nicht nur von schlichtester Anschaulichkeit, sie war alttestamentlich begründet und hat sich schnell und mit sieghafter Gewalt durchgesetzt. Die Erzählungen des Matthäus und des Lukas lassen deutlich die Bezugnahme auf den Jesaiaspruch erkennen 1 und bringen dadurch der Gemeinde den Einklang von Weissagung und Erfüllung zum freudigen Bewußtsein. Der Apologet Justin demonstriert das mit sichtlicher Genugtuung seinen heidnischen Lesern und trägt es mit ausführlicher Erörterung aller Schriftprobleme dem Juden Tryphon vor*. Neben dieser Lehre von einer physischen Gottessohnschaft Jesu finden wir eine andere Theorie, die man die adoptianische zu nennen pflegt. In ihrer einfachsten Form hat sie ausgesagt, daß der Mensch Jesus durch das Herabkommen des heiligen Geistes bei der Taufe zum Sohne Gottes gemacht und am Ende seines Lebens zum Lohn für sein Wirken auferweckt und zur Rechten Gottes erhöht ist. In ihrer reinen Ausprägung ist uns diese Lehre nicht mehr erhalten: aber der abendländische Text des Lukasevangeliums 4 , der wohl auch wirklich den ursprünglichen Wortlaut wiedergibt, berichtet 3, 22, daß bei der Jordantaufe Jesu eine Stimme vom Himmel erklungen sei: Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt. Das ist unmißverständlich das nach Psalm 2, 7 geformte göttliche Zeugnis für die „Adoption" des Menschen Jesus zum Gottes») Dibelius 44. Norden 79. 2) Matth. 1, 23. Luk. 1, 31. Apol. 33. Dial. 66—85. *) Usener, Weihnachtsfest1 40—52.

s

) Justin

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söhn. Bei den Interpolatoren der jüdischen Testamente der zwölf Patriarchen 1 finden wir dieselbe Anschauung deutlich ausgedrückt, während bei dem bekanntesten Vertreter dieser adoptianischen Christologie, dem um 150 schreibenden Römer Hermas2, schon eine Verschiebung der ursprünglichen Anlage eingetreten ist. Nach Hermas ist Jesus ein bis zur Sündlosigkeit tugendhafter Mensch, der Gottes Wohlgefallen erregt Der heilige Gottesgeist vereinigt sich mit ihm, und da nun während seines Wirkens auf Erden Jesus in Reinheit dem Geiste dient und mit ihm zusammen wirkt, belohnt ihn Gott und erhöht ihn auf den himmlischen Thron, wo er mit dem heiligen Geist und den hohen Engeln sein Ratgeber wird. Da ist inhaltlich der alte Adoptianismus beibehalten: daß von der Taufe nicht gesprochen wird, mag Zufall sein. Aber als „Sohn Gottes" wird in diesem Zusammenhang und auch anderswo von Hermas der heilige Geist bezeichnet, also das präexistente göttliche Wesen, das einst die Welt geschaffen hat und auch nach der Auferstehung gesondert von dem erhöhten Jesus seine eigene ursprüngliche Sohneswürde behaup tet. Hier ist also der alte Adoptianismus bereits mit einer anderen, pneumatischen Sohnesvorstellung kombiniert — ähnlich wie Paulus Phil. 2 die eigentlich dem Adoptianismus angehörende und nur für einen Menschen passende Vorstellung einer als Lohn für gehorsame Leistung verliehenen Erhöhung mit der Herabkunft eines präexistenten Gotteswesens verbindet und sie auf dieses überträgt: da haben wir das Umgekehrte vor uns. Herrschend ist in der Kirche die „pneumatische" Christologie geworden, wonach der „Sohn Gottes" ein von Anfang an bei Gott existierendes Geisteswesen ist, das zur vorbestimmten Zeit in Menschengestalt auf Erden erscheint, als Jesus Christus in Palästina wandelt, lehrt und Wunder tut, schließlich nach erlittenem Kreuzestod aufersteht und gen Himmel fährt, um dort seinen ihm gebührenden Platz wieder einzunehTestament. Judae 24 1—2 vgl. Zabulon 9, 8. *) Hermas Sim. 5, 6, 4—8. 9, 1, 1. 9, 12, 1—8.

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Adoptianismus. Pneumatische Christologie

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men. Diese Vorstellung begegnet bei Paulus und in der Logoslehre des Johannes, und ist durch sie die für die Folgezeit maßgebende geworden. Die orientalischen Formen des Taufsymbols haben die Lehre von der Logossohnschaft anstelle der Jungfrauengeburt ausdrücklich betont: nicht in dem Sinne, als ob man die Wundergeburt leugnen wollte, wohl aber, um die Sohnschaft des Logos als das Entscheidende vor allem zu bekennen. Über die Art der Menschwerdung des Logos ist damit noch nichts ausgesagt. Es konnte sich aus dieser Logoschristologie ein naiver Doketismus entwickeln, der dem auf Erden wandelnden Gotteswesen nur einen Scheinleib zusprach, oder man ließ den Geist in dem zur Adoption bestimmten Menschen Jesus als göttlichen Begleiter wohnen, wie es Hermas tut, oder — und das ist die kirchlich beliebteste Lösung des Problems geworden — man kombinierte die pneumatische Christologie mit der Lehre von der wunderbaren Geburt derart, daß der Gottesgeist oder der Logos in die Jungfrau Maria einging und durch sie wahrhaftiger Mensch wurde. In der Vorstellungswelt der frühen Gemeinden und ihrer Theologen mischen sich alle diese Gedankengänge oder stehen unverbunden nebeneinander: was die moderne Analyse säuberlich scheidet, finden wir im Leben der alten Christenheit eng beisammen und zumeist ohne ein Hervortreten von Gegensätzlichkeiten. Aber mit der Zeit wird sich die Theologie der verborgenen Spannungen bewußt und müht sich um wirksamen Ausgleich: und diese Arbeit bedeutet die Entwicklung des kirchlichen Dogmas. Was in der zweiten Hälfte des zweiten Artikels in Rom und im Osten ausgesagt wird, bildet eine zusammenhängende Reihe: Leiden, Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft zum Weltgericht, also das Erlösungsdrama der „Heilsökonomie" in Vergangenheit und Zukunft. Das sind die Taten des Gottessohnes Jesus Christus, in denen sich seine göttliche Erlösermacht offenbart: der erste entscheidende Akt gehört der Geschichte bereits an: es ist die Kreuzigung „unter Pontius Pilatus". Danach hat Jesus den Schauplatz dieser Erde verlas-

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4. Glaubensregel und Theologie

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sen: das Heilswerk tritt in das Licht der Eschatologie und wird im Weltgericht seine Vollendung finden. Und was ist das Ziel dieser Heilsökonomie? Sie wird von der Vorstellung eines Kampfes zwischen Gott und dem Teufel aus begriffen. Jesus hat die Fesseln des Teufels zerrissen, die Hölle niedergetreten und die Menschheit vom Tode befreit 1 und ihr den Weg zur Auferstehung in seiner Nachfolge gewiesen 2 . Und dieser Sieg ist ermöglicht worden durch Überlistung der Gegner, die sich an Jesus vergriffen, ohne zu ahnen, daß sie an diesen Sündlosen kein Anrecht hatten und in ihm einer unüberwindlichen Gotteskraft gegenüberstanden. Das ist volkstümlich bildhafte Theologie, die mit plastischer Anschaulichkeit gestaltet wurde und in den Gemeinden lebendig gewesen ist. Sie gehört zum ältesten Gut der Lehrtradition und ist von Gnostikern sowohl wie von Denkern der Kirche übernommen und weitergebildet worden'. Das den dritten Artikel eröffnende Bekenntnis zu dem in der Gemeinde sich offenbarenden Gottesgeist hat mit der Zeit mannigfach wechselnde theologische Ausdeutung gefunden, je mehr die urchristliche Anschauung vom Geisteswirken gegenüber den geregelten Ordnungen der Kirche zurücktrat. Man setzte den Geist gleich dem in Christus tätigen göttlichen Wesen — wie wir es eben bei Hermas gesehen haben 4 , wie es der Theorie des Adoptianismus, aber auch der Vorstellung von der wunderbaren Erzeugung Jesu entspricht; und man konnte sich dafür auf Paulus, insbesondere auf 2'. Kor. 3,17 berufen. Oder man dachte ihn als selbständiges Gotteswesen neben dem Vater und dem Logos, wie es sich aus der johanneischen Vorstellung vom Parakleten 5 ergab und wie es dem dreigliedrigen Aufbau des Symbols auch entsprach: dann war ') Gebet der Hippolytischen Kirchenordnung (Lietzmann, Messe u. Herrenmahl 42). s ) Ignat. Trail. 9. Smyrn. 1, 2. Iren. 1, 10, 1 (1, 91) und Iren, armen. Epideixis 6 (S. 4 Harnack, vgl. Z N W 26, 93). Didascalia syr. 6, 23, 8 bei Funk S. 382. ») Paulus 1. Kor. 2, 7—8. Kol. 2, 15. Ign. Eph. 19, 1; vgl. Justin Apol. 54. 55. Basilides bei Iren. 1, 24, 4 (1, 200). Origenes in Matth. Tom. 16, 8 (4, 27 Lo.) u. ö. 4 ) Vgl. auch 2. Clem. 14, 4. s ) Bd. 1, 245.

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Der dritte Artikel

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also der Geist eine dritte göttliche Person. Im Zusammenhang des Symbols wird als Funktion des heiligen Geistes teils die lebenspendende Glaubensstärkung der Gemeinde bezeichnet 1 — und das entspricht der johanneischen Lehre und dem ältesten Sinn der Formel — teils seine auf Christus hinweisende Wirksamkeit in den Propheten hervorgehoben*. Die übrigen Bestandteile des Artikels sind später und in verschiedenartiger Auswahl hinzugetreten, zuerst wohl die Kirche als Organ und als Ergebnis der Wirksamkeit des Geistes. Bei Hermas erscheint einmal® der heilige Geist in der Gestalt einer Greisin, nämlich der Kirche, und der Prediger des 2. Klemensbriefes nennt in Anknüpfung an das Ehegleichnis des Epheserbriefs die Kirche das weibliche Element neben dem männlichen Christus oder auch die Kirche den mit Christus als Geist zur Einheit verbundenen Leib4. Daneben wird genannt die Auferstehung des Fleisches im neungliedrigen Symbol von Rom und Ägypten® also die eschatologische Wirkung des Geistbesitzes für den einzelnen Gläubigen, eben das, was er in Nachfolge Christi in der Kirche zu gewinnen hofft. Das Symbol der Epistula Apostolorum" fügt statt dessen zu der Kirche die Sündenvergebung, natürlich die in der Taufe gewirkte, die im Taufsymbol mit gutem Grund als Gegenstand des Glaubens bekannt werden kann. Das ausgebildete römische Symbol vereinigt alle diese Elemente: darüber hinaus finden wir in alter Zeit keine Zusätze zum dritten Artikel — was uns besonders hinsichtlich des Abendmahls wundernimmt. 0 Tertullian praescr. haer. 13 adv. Praxeam 2. Iren. 4,33,7 (2,262). 4. antiochenisches Symbol, 1. Symbcl des Epiphanius; vgl. Lietzmann Symbole 6. 19. 31 und ZNW 21, 20 f. *) Justin Apol. 13, 3. 61, 13. Iren. 1,10,1 (1, 90). Epideixis 6 (S. 4 ed. Harnack, ZNW 26,93). Symbole von Jerusalem, Epiphanius 1. und 2. u. a.; vgl. ZNW 21, 20 f. ») Hermas Sim. 9, 1, 1; vgl. Vis. 3. Dibelius im Handb. Exk. zu Vis. 2, 3, 4. *) 2. Clem. 14; vgl. Eph. 1, 23. 5, 32. 6) o. S. 106. ·) o. S. 105.

Der Kultus Das Herz des christlichen Lebens ist der Gottesdienst der Gemeinde. Da ist die Stätte, wo die Kräfte der jenseitigen Welt in die Christenheit einströmen und sie zu dem neuen Volk der Gotteskinder machen, das nicht mehr von dieser Welt ist, sondern schon hier in wundersamer Gemeinschaft mit den himmlischen Bürgern des Gottesreiches lebt. Und das Hauptstück dieses Kultes ist die Feier des Abendmahls. Wir haben die älteste Form dieses Gcmeinschaftsmahles in der Urgemeinde kennen gelernt und gesehen, wie Paulus ihm die Bedeutung einer Gedächtnisfeier des Todes Christi zuschreibt 1 . An der Schwelle des zweiten Jahrhunderts tritt uns die älteste formulierte Abendmahlsliturgie in der Kirchenordnung der Didache* entgegen. Noch immer ist der heilige Ritus mit einem wirklichen gemeinsamen Essen verbunden, aber seine beiden Akte sind nicht mehr durch den Ablauf der ganzen Mahlzeit voneinander getrennt, sondern am Beginn der Feier zusammengelegt. Erst segnet der Liturg den Kelch, dann das Brot mit kurzen Gebeten, die ihre Herkunft aus dem Formenschatz der griechischen Synagoge deutlich erkennen lassen, aber mit christlich vergeistigtem Inhalt gefüllt sind. Dann erschallt der Ruf: „Es komme die Gnade und es vergehe diese Welt"! „Hosianna dem Sohne Davids" antwortet die Gemeinde. Es folgt die Mahnung: „Wenn einer heilig ist, trete er hinzu, wenn er es nicht ist, so tue er Buße. Maranatha, (Herr komm)". „Amen" respondiert die Gemeinde, und dann treten die Getauften zur Kommunion vor den Liturgen, so weit sie sich heilig, das heißt frei von schwerer Sünde, wissen. Und wer in Streit mit seinem Nächsten lebt, versöhnt sich vorher mit ihm. Dann setzt sich ») Bd. 1, 55. 124. 153 f. *) Didache 9—10. 14. Lietzmann, Messe u. Herrenmahl S. 230—238.

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Liturgie der Didache. Agapen

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die Gemeinde zu Tisch, und es hebt das gemeinsame Mahl an. Ist es zu Ende, so spricht der Liturg ein längeres Gebet des Dankes für die gespendete geistliche Nahrung und das durch Christus gewirkte ewige Leben: es mündet aus in eine Fürbitte für die jetzt noch in der Welt zerstreute, aber ihrer Vereinigung im Reiche Gottes entgegenharrende Kirche. Kein Wort vom Todesgedächtnis des Herrn, keine Erinnerung an das letzte Mahl des Herrn in der Nacht, da er verraten ward. Diese Liturgie steht noch ganz in der aus der Urzeit erwachsenen Tradition und ist von paulinischem Einfluß unberührt. Aber sie hat nicht mehr lange in der Kirche Bestand gehabt. Zwei Dinge haben die entscheidende Änderung bewirkt. Bald ist die Autorität des Paulus so überragend geworden, daß seine Worte den Sinn und Inhalt der Feier bestimmten. Und die Verbindung des sakramentalen Mahles mit einem Gemeindeessen löste sich. Es wurde aus der doch irgendwie profan erscheinenden Nähe des täglichen Abendessens herausgenommen, auf den Vormittag verlegt und mit dem Wortgottesdienst verbunden. Bei dem Apologeten Justin 1 finden wir um 150 in Rom diese Umgestaltung vollzogen. Die früheren Abendfeiern wurden nicht abgeschafft, aber sie verloren ihre alte Bedeutung und wurden zu halbkultischen Liebesmahlen, feierlichen Formen privater Wohltätigkeit. Wir haben nicht wenige Schilderungen* solcher „Agapen". Tertullian beschreibt sie' als beliebte Formen kirchlicher Geselligkeit, in denen bei bescheidenem Essen und Trinken das allgemeine Gespräch durch den Vortrag biblischer Abschnitte, Psalmengesang oder freie Rede abgelöst wird. In Rom* sind es um die gleiche Zeit Speisungen bedürftiger Gemeindeglieder in einem wohlbegüterten Haus. Ein Kleriker führt den Vorsitz, betet und bricht das Brot zu Beginn, das hier als „Eulogia" bezeichnet und vom Abendmahlsbrot, der „Eucharistie", unterschieden wird. Dann folgt das gemeinsame Essen. Es kann aber die ganze Feier auch dadurch ersetzt werden, daß der l ) Justin apol. 67, 3—5. l ) Das Material bei Lietzmann Messe u. Herrenmahl S. 197—202. ') Tertullian Apolog. 39, 16. *) Didascal. apost. ed. Hauler p. 113 f:

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Spender den Geladenen Lebensmittelpäckchen in die Hand drückt, die sie dankbar mit nach Hause nehmen. In dieser bescheidenen Form haben die Agapen abseits vom hohen liturgischen Leben der Kirche noch Jahrhunderte lang bestanden. Derselbe Justin, der uns die Vereinigung der beiden Elemente zum sonntäglichen Hauptgottesdienst meldet, gibt uns auch die erste Beschreibung seines Verlaufs: Am Sonntag versammelt sich die Gemeinde und hört erst Lesungen aus den Evangelien, dann aus den Prophetenschriften „so lange die Zeit reicht". Danach folgt eine ermahnende Predigt. So weit geht der erste Teil, der Wortgottesdienst, in dieser sehr summarischen Darstellung — aber auch die Schilderungen der Kirchenordnungen des'vierten Jahrhunderts 1 sind nicht ausgiebiger. Da wird etwas mehr gegliedert und vor allem Psalmengesang zwischen den biblischen Lesungen erwähnt, aber sonst hören wir auch nichts weiter. Vor allem wird von keinem liturgischen Gebet in diesem ersten Teil des Gottesdienstes berichtet. Aber so viel ist doch klar, daß wir hier eine Umgestaltung der mit Predigt verbundenen synagogalen Schriftlesungen vor uns haben, von denen uns die Erzählung des Lukasevangeliums 4, 16—30 das anschaulichste Bild gibt. Jesus verliest da am Sabbath den Prophetentext Jesaia 61, 1—2 und predigt darüber. Auch die Apostelgeschichte (13,14—16) weiß von der Lesung aus Gesetz und Propheten mit nachfolgender Ansprache am Sabbath, und aus der Mischna werden diese Nachrichten dahin ergänzt*, daß die Prophetenlektion nur dem Morgengottesdienst des Sabbaths eigen war und auf die Gesetzeslesungen folgte. Aber im übrigen wissen wir von diesem Teil des synagogalen Gottesdienstes so wenig und haben insbesondere von seiner Ausbildung auf hellenistischem Boden so gar keine Kenntnis, daß wir über die eben gemachten dürftigen Andeutungen kaum hinausgehen können. Während an diesem ersten Abschnitt des Gottesdienstes alle Mitglieder der Gemeinde teilnehmen und sogar Fremde zu») Const, apost. 2, 57, 5—9. 8, 5, 11—12. ») Mischna Megilla 4, 2; vgl. Elbogen jüd. Gottesdienst 176.

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Justin. Hippolyt

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gelassen werden können1, damit sie für das Christentum gewonnen werden, ist der zweite Teil nur für die Getauften bestimmt. Dennnursie dürfendasimMittelpunktderFeierstehendeAbendmahl genießen. Es hat also schon in früher Zeit die mehr oder minder deutlich markierte Entlassung der Katechumenen und Ungläubigen den ersten Teil beschlossen. Ist die Gemeinde der Getauften unter sich, so erhebt sie sich zum allgemeinen Kirchengebet und begrüßtsichdanachmitdemFriedenskuß.Dannbringt man dem Liturgen Brot und einen Becher gemischten Weines, und dieser sßricht darüber das „Eucharistiegebet". Die Gemeinde antwortet mit Amen und empfängt dann aus den Händen der Diakonen die Kommunion. Im Zentrum dieses Kultes stehtaber nicht eigentlich die Mahlzeit, das Genießen der geweihten Elemente, sondern die Weihehandlung selbst, die durch das Eucharistiegebet vollzogen wird. Wir haben aus der römischen Kirche um 200 den Wortlaut eines solchen Formulars erhalten1, aus dem alles Wesentliche mit Deutlichkeit hervorgeht: Bischof: Der Herr sei mit euch! Gemeinde: Und mit Deinem Geiste! Bischof: Die Herzen empor! Gemeinde: Wir haben sie beim Herren. Bischof: Laßt uns dem Herren danken! Gemeinde: Würdig ist es und recht. Bischof: Wir danken Dir Gott durch Deinen geliebten Knecht Jesus Christus, den Du in den letzten Zeiten entsandt hast uns zum Heiland und Erlöser und Boten Deines Ratschlusses, den von Dir ausgehenden Logos, durch den Du alles geschaffen hast, den Du geruht hast vom Himmel zu entsenden in den Schoß der Jungfrau, und in ihrem Leibe wurde er Fleisch und als Dein Sohn erwiesen, aus dem heiligen Geiste und der Jungfrau geboren. Deinen Willen zu erfüllen und Dir ein heiliges Volk zu bereiten, breitete er seine Hände aus, da er litt, auf daß er vom Leiden löse, die an Dich Glauben gewonnen haben. Und als er sich überlieferte dem freiwilligen Leiden, um den Tod zu löeen und die Bande des Teufels zu zerreißen und die Hölle zu zertreten und die Gerechten zu erleuchten und den Grenzstein aufzurichten und die Auferstehung zu offenbaren, nahm er ein Brot, dankte und sprach: „Nehmet, esset, dies ist mein Leib, der für euch gebrochen wird." Ebenso ') Const. Apost. 8, 6, 2. *) Hippolyts Kirchenordnung in Didascalia lat. ed. Hauler p. 106 f. Messe u. Herrenmahl S. 174 ff.

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auch den Becher und sagte:„Dies ist meinBlut,das für euch vergossen wird. So oft ihr dies tut, begeht ihr mein Gedächtnis." Indem wir also gedenken seines Todes und seiner Auferstehung, bringen wir Dir das Brot und den Becher dar und danken Dir, daß Du uns würdig geachtet hast, vor Dir zu stehen und Dir Priesterdienst zu leisten. Und wir bitten Dich, daß Du herabsendest Deinen heiligen Geist auf das Opfer der Gemeinde. Vereinige sie und gib allen Heiligen, die davon genießen, zur Erfüllung mit heiligem Geiste, zur Stärkung des Glaubens in der Wahrheit, damit wir Dich loben und preisen durch Deinen Knecht Jesus Christus, durch den Dir sei Preis und Ehre in Deiner heiligen Gemeinde jetzt und in alle Ewigkeit, Amen.

Es beginnt mit der „Eucharistia", d. h. dem Dank — aber nicht, wie bei den alten Tischgebeten, für irdische Nahrung, sondern für die Menschwerdung des göttlichen Logos in Jesus, der dies heilige Mahl an der Schwelle seiner Leidenszeit gestiftet hat, wie mit den Worten des Paulus und Matthäus wiedererzählt wird. Die Einsetzungsworte klingen aus in die Mahnung: „so oft ihr dies tut, begeht ihr mein Gedächtnis". Dies nehmen die folgenden Worte auf und bestimmen genauer Tod und Auferstehung des Herrn als Gegenstände solchen Gedenkens. Brot und Wein werden als die Opfergaben bezeichnet, die priesterlich vor Gott dargebracht sind. Und mit ganz antiker, aber auch alttestamentlicher Wendung fleht der Priester den Herrn an, seinen Geist in dieses Opfer hinabfahren zu lassen, damit es den Genießenden zur geistlichen Nahrung diene. Die Abendmahlselemente sind wie das Fleisch des Opfertieres, das nach dem Kultakt festlich von den Spendern und den Priestern verzehrt wird. Dieser Gedanke ist im Gebet derLiturgie ins Geistliche gewendet, aberwievielirdische Realität die Volksfrömmigkeit damit verband, sehen wir aus der Erläuterung Justins, der von der Verwandlung unsres Fleisches und Blutes durch den Genuß dieser durch den Logosanruf gesegneten Nahrung spricht 1 . Es ist die gleiche Vorstellung, die uns um 110 bereits bei Ignatius begegnet ist und schon von Paulus der korinthischen Gemeinde vorgetragen wird*. ») Justin apol. 66, 2; vgl. dial. 41, 1—3. 70, 4. 117, 1—5. *) Bd. 1, 125. 253.

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Die Eucharistie als Opfer

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Das Abendmahl ist das kultische Opfer der Christenheit, einmal weil es Eucharistia, Dankgebet, ist, und Gebete das eigentlich christliche Opfer sind 1 ; zweitens weil Brot und Wein — dazu oft auch noch mancherlei andere Gaben — von der Gemeinde zum Liturgen auf den Altar gebracht und dadurch Gott geopfert werden; drittens weil der Liturg die Elemente durch sein Gebet Gott weiht und dieser die Gabe annimmt, seinen heiligen Geist auf und in sie sendet und sie dadurch zur wunderwirkenden Opferspeise für die Gemeinde macht 2 . Auch dies ein Gedanke, dessen Wurzeln sich auf die paulinische Parallelisierung und Kontrastierung des Abendmahls mit j üdischem und heidnischem Opfermahl® zurückführen läßt. So ist es in dreifacher Hinsicht verständlich, wenn die Feier des Abendmahls als der christliche Opferakt 4 bezeichnet wird. Das Christentum baut seine Vorstellung vom wahren Israel mit klarem Bewußtsein aus und stellt dem alttestamentlichen Opfer nicht mehr bloß das einmalige Opfer auf Golgatha entgegen, wie es der Hebräerbrief tut, sondern schafft sich einen eigenen und regelmäßig wiederholten Kultakt im eucharistischen Opfer. Wir werden noch sehen, wie später auch dieAngleichung an die Vorstellung des Hebräerbriefs vollzogen wird, welche die klassische Opfertheorie der römisch-katholischen Kirche begründet. Im zweiten Jahrhundert sind einstweilen nur die drei soeben genannten Opferbegriffe nachweisbar. Und da zum Opfer ein Priester gehört, werden die liturgischen Vorsteher der Gemeinde mit den alttestamentlichen Priestertiteln bezeichnet. Schon der römische Klemens stellt die Episkopen und Diakonen in Parallele mit Hohempriester, Priester und Leviten; die Didache bezeichnet die Propheten als die christlichenHohenpricsterMJm 200 ist die Gleichung desBischofs mit demHohenpriester, der Presbyter mit den Priestern bezeugt; bald danach werden denn auch die Diakonen den Leviten gleichgesetzt'. ») Justin dial. 117, 2. 2 ) Messe u. Herrenmahl 176—186. 3 ) 1. Kor. 10,18—21. 4 ) Didache 14,1 Justin dial. 117.1—2; vgl. 1.Clem.40,2. 44.4 und Ign. Eph. 5,2. 5 ) l.Clem. 40,5. Did. 13,3. «) Tertullian de bapt. 17. Hippolyt Elenchos 1 Vorrede 6. Hauler Didascalia lat. p. 104, 10. 14; vgl. 109, 11. Didascalia syr. p. 45, 12—15 Achelis; vgl. p. 40, 25.

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5. Der Kultus

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Dieser Kultakt schließt die Gemeinde immer aufs neue zur geistlichen Einheit zusammen: das zeigt sich auch in der Sitte, den Abwesenden die geweihte Speise ins Haus zu bringen, damit keiner ausgeschlossen sei. Nach der Feier sammelt der Liturg Gaben für die Bedürfnisse der Liebestätigkeit ein, die seiner Verwaltung unterstellt ist. Aber vielfach ist es auch Sitte gewesen, Lebensmittel aller Art und sogar Blumen als Opfer auf den Altar zu legen und sie durch Handauflegung und Gebet des Priesters segnen zu lassen: in Hippolyts Kirchenordnung1 sind uns entsprechende Gebetsformulare aufbewahrt, und der Mosaikfußboden der ältesten uns erhaltenen Basilika zeigt uns eine solche Gaben bringende Opferprozession im Bilde*. Es ist ein und dasselbe Brot, von dem sie alle genießen, ein Wein, den sie alle trinken, und diese Speise ist Gegenbild — „Antitypus" — von Leib und Blut des Herrn und vereinigt somit die Genießenden zum „Körper Christi". Darum muß man aber mit den wundersamen Gaben ehrfürchtig umgehen: kein Ungläubiger darf davon genießen, kein Bröckchen zur Erde fallen, daß es nicht etwa verderbe oder von einem Mäuslein gefressen werde; kein Tropfen darf verschüttet werden: ein fremder Geist könnte es auflecken und dadurch Himmelskräfte gewinnen3. In derselben Zeit, welche die Abendmahlsliturgie in feste Formen gießt, hat auch das Einführungssakrament der Taufe seine Ausgestaltung gewonnen. Aus dem einfachen und gelegentlich unvermittelt vollzogenen Akt wird eine planmäßig aufgebaute Reihe feierlicher Handlungen. Zunächst wird die Zeit enger umgrenzt. Um 100 in Bithynien und noch um 200 in Rom war es üblich, daß man die Nacht vom Sonnabend zum Sonntag für die Tauffeier bestimmte, und zwar darum, weil es die allwöchentliche Wiederkehr der Auferstehungsnacht des Herrn war4. Dann wurde die Grenze noch enger gezogen und ') Didascalia lat. p. 115 f. Hauler. *) Es ist die um 310 erbaute Basilika von Aquileja; vgl. Vorträge d. Bibliothek Warburg 1925/26 S. 59 und Taf. 5. ») Didasc. lat. p. 117 Hauler. 4 ) Plinius epist. 10, 96 und dazu Geschichtl. Studien für A. Hauck (1916) S. 34—38. Hippolyt Kirchenordnung can. 45 f. p. 109 Funk.

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Die Taufe

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die Osternacht als das Jahresgedächtnis jener Erlösungsnacht zum Tauftermin ausgewählt: wenn Zeit und Ort nicht ausreichte, konnte die ganze Freudenzeit der fünfzig Tage bis Pfingsten zum Taufen benutzt werden. Das berichtet Tertullian 1 als die um 200 geläufige Sitte der afrikanischen Kirche. Aus dem Orient hören wir um diese Zeit nichts über ähnliche Begrenzungen. Sie mußten sich aber notwendig einstellen, sobald ein ausführliche Belehrung der Taufbegierigen, ein Katechumenenunterricht, nicht mehr in individueller Form, sondern als gemeinsame Unterweisung aller Kandidaten zur feststehenden Sitte wurde. Die Didachc bezeichnet noch eine sehr summarische Moralbelehrung als ausreichenden Unterricht; bei Justin ist wohl eine ausführlichere Christenlehre vorausgesetzt, aber von einem regelrechten Lehrgang ist bei ihm kein Wort gesagt. Und das trifft sogar für die Hippolytischc Kirchenordnung zu, in der doch die Probezeit des Katechumenats auf volle drei Jahre angesetzt wird: was in dieser Zeit geprüft werden soll, ist der Lebenswandel und die moralische Festigkeit des Bewerbers 1 . Der Taufakt selbst ist um 200 bereits voll ausgebildet und von einer Reihe naturreligiöser Zeremonien umgeben, die in den Mysterienkulten der Umwelt zahlreiche Parallelen haben. Die Vorbereitung des Täuflings erfolgt durch Fasten, das ein bis zwei Tage dauert und von einigen Freunden geteilt wird'. Dann wird das Taufwasser durch Austreibung der in ihm hausenden Elementargeister gereinigt und für den heiligen Akt vorbereitet 4 . Daneben bestand aber die Meinung, daß derTäufling selbst die unreinen Dämonen des Heidentums beherberge und erst von ihnen befreit werden müsse, ehe der Geist Christi in ihm Wohnung nehmen könne. Die einfachste Vorstellung ') Tertullian de baptismo 19. l ) Didache 1—6; vgl. 7 Anfang Justin apol. 61, 1. Hippolyt KO c. 42 p. 107 Funk. Origenes c. Cels. 3, 51. ») Didache 7, 4. Justin apol. 61, 2; vgl. Hippolyt KO 45, 7. 10 p. 109 Funk; vgl. Clemens Alex, excerpt. 84. 4 ) Clemens Alex, excerpt. 82. Cyprian ep. 70,1. Hippolyt KO 46,1 p. 109 Funk. Tertullian de bapt. 4; vgl. Dölger Exorzismus S. 160—167.

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ist die, daß die Taufe selbst diese Reinigung bewirkt 1 . Aber im dritten Jahrhundert entwickelt sich ein besonderer Ritus des Exorzismus, durch den die Dämonen aus dem Täufling vorher ausgetrieben werden. Der Priester legt ihm die Hand auf, bläst ihn an und salbt ihm Stirn, Ohren und Nase: worauf ein erneutes nächtliches Fasten folgt'. In der Morgenfrühe, wenn der Hahn kräht, beginnt die Taufe, zu der „lebendiges", d. h. fließendes Wasser erforderlich ist, eine Vorschrift, die dem allgemeinen antiken Kultbrauch entspricht. Nur im Notfall darf Zisternenwasser benutzt werden*. In Rom muß um 200 der Täufling, nachdem er sich entkleidet hat, zunächst dem Satanas und all seinem Dienst und seinen Werken, denen er bisher Untertan war, feierlich absagen und empfängt darauf noch einmal eine Salbung mit exorzisiertem öl. Dann steigt er in das Wasser, leistet nun dem neuen Herrn den Diensteid, das „Sakramentum", indem er das dreigliedrige Taufbekenntnis spricht, und wird von dem begleitenden Diakon dreimal untergetaucht. Er steigt heraus, empfängt eine Salbung durch den Presbyter und bekleidet sich wieder. Dann zieht man aus dem Taufraum in die Kirche, wo der Bischof den Neugetauften durch Handauflegung, Salbung, Bekreuzigung und Kuß die Gabe des heiligen Geistes übermittelt und ihn in die Gemeinschaft der Kirche Christi aufnimmt 1 . Sofort feiert die Gemeinde mit ihnen das Abendmahl: aber den durch die Taufe Neugeborenen wird außer dem Brot und Wein auch noch ein Becher mit Milch und Honig gereicht — sie sollen darin einen Vorgeschmack der Himmelsspeise sehen, die im gelobten Lande des Gottesreichs den Verklärten verheißen ist. Dieser Ritus ist uns um 200 aus Ägypten, Rom und Afrika bezeugt und dürfte in gnostischen Kreisen am Nil aus antikem Mysterienbrauch übernommen und von da aus in die Kirche eingedrungen sein5. ») Tertullian de bapt. 9 p. 208.11 f.; vgl. 5 p. 205,26 f. Reifferscheid. *) Hippolyt KO 45, 9 f. p'. 109 Funk. ») Didache 7, 1—2. Justin apol. 61, 3. Hippolyt KO 46. 2 p. 109 Funk. P. Stengel Griech. Kultusaltertümer» S. 162 Anm. 9. *) Hippolyt. KO c. 46 p. 109—112. Tertullian de bapt. 7—8. carnis resurr. 8 p. 36 f. Kroymann. ®) Hippolyt KO lat. I>

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Die Taufe. Wochenfasttage. Passah

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Der Kulttag der Woche ist von Anfang an der Sonntag gewesen, und an ihm findet der eucharistische Gottesdienst statt. Daneben sind uns seit alter Zeit die beiden Wochenfasttage des Mittwochs und des Freitags bekannt1, an denen man sich in Afrika bis zur „neunten Stunde", also bis 3 Uhr nachmittags, der Speise enthielt, während Eifrige die Nahrungsenthaltung bis zum Abend fortsetzten*. Man empfand das Fasten als eine besondere Steigerung der christlichen Lebenshaltung, als „Wachtdienst" und nannte es deshalb im Westen mit dem militärischen Namen Statio'. Der Christ stand auf der Wacht, um den wiederkommenden Herrn würdig zu empfangen. Aber pflichtmäßig ist diese Statio nicht überall gewesen. Die römische Gemeinde Hippolyts fastet im allgemeinen noch ganz nach Belieben und weiß von einem bindenden Fastengebot nur am Karfreitag und -samstag4. Die Urgemeinde hat bei ihrer gesetzlichen Art selbstverständlich das jüdische Passah und die ihm folgende 5Ctägige Festzeit bis Pfingsten mitgefeiert', und diese Feste sind nicht nur von ihrer judenchristlichen Nachfolgerin, sondern auch in der Heidenkirche übernommen worden. Das ist an sich nicht wunderbar, wenn wir uns erinnern, in wie engem Zusammenhang auch die „gesetzesfreie" Kirche mit der griechischen Synagoge gestanden hat4, aber bemerkenswert ist, daß diese Sitte keineswegs allgemein war. Bischof Polykarp von Smyrna feierte Mitte des zweiten Jahrhunderts das Passahfest „nach der Sitte der Apostel", mußte aber bei einem Besuch in Rom feststellen, daß es dort unbekannt war, und es gelang ihm nicht, die Römer zu diesem Fest zu bekehren 7 . In Smyrna und p. 111—113 Hauler. Clemens Alex. Paedag. 1, 6, 45. Strom. 7, 75, 2. Tertullian corona mil. 3. adv. Marc. 1,14 p. 308, 21 Kroymann. Η. Usener Kleine Schriften 4, 404—417. ») s. Bd. 1, 61 f. Didache 8,1. ! ) Tertullian de ieiun. 1 p. 275, 3 f. 2 p. 275, 26—28. 10 p. 287, 8 Wissowa. ®) Hermas Sim. 5, 1. Tertullian de oratione 19 p. 192, 11 Wissowa; vgl. Svennung Z N W 32, 294—308. Holl Ges. Schriften 2, 213. Emonds in Heilige Überlieferung, Festschrift f. J. Herwegen 1938 S. 27 f. ') Hippolyt KO c. 47, 2 p. 112 c. 55 p. 115 Funk. 5 ) Apg. 2, 1; vgl. Lev. 23, •15—21. ·) Bd. 1, 209 ff. ') Irenaeus bei Euseb KG 5, 24,16.

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dem übrigen Kleinasien wurde Passah „am vierzehnten" gefeiert, d. h. genau an dem gleichen Tage, an dem es auch die Juden begingen, nämlich wenn der Mond vierzehn Tage alt war, oder mit anderen Worten in der Vollmondnacht, und zwar der in den Frühlingsmonat fallenden. D a nun aber im Osten eine große Mannigfaltigkeit an Kalendern herrschte und die Juden sich, wie wir jetzt wissen 1 , den landesüblichen Kalendern anschlossen, so waren die Monatsgrenzen recht verschieden, und dementsprechend wurde Passah auch nicht überall am gleichen Vollmond gefeiert. Das hat weder Juden noch Christen gestört. A b e r wenn man nach dem Sinn fragt, den beide Religionsgemeinschaften mit dieser Feier verbanden, so ist die Gegensätzlichkeit schon im Ritus scharf ausgeprägt. Die Juden feiern ein fröhliches Mahl stolzer Erinnerung an den Auszug aus der ägyptischen Knechtschaft, die Christen begehen das Passah durch Fasten. Das werden wir von der Parallele des Freitags fastens innerhalb der Woche aus zu deuten haben. An das Passah knüpfte sich j a nach der Evangelientradition die Passion Jesu, und in diesem Sinne feiert die Gemeinde den Passahabend in Trauer mit Fasten und G e b e t 2 \Venn aber um den Hahnenschrei die Nacht zu weichen beginnt und das Freudenmahl der Juden zu Ende ist, dann endet das christliche Fasten mitsamt der Trauer, und die Gemeinde vereinigt sich beim eucharistischen Liebesmahl mit dem in ihrer Mitte weilenden Herrn'. Der Inhalt dieser christlichen Passahfeier ist also das Todcsgedächtnis des Herrn, und die spätere Kirche hat diese Weise als „Kreuzespassah" bezeichnet und ihre Vertreter nach dem Festdatum „Quartodezimaner", d. h. Anhänger des „Vierzehnten", genannt. Dieser Praxis stellte sich eine andere entgegen, welche das Jahresgedächtnis des T o d e s Jesu mit dem Wochengedächtnis gleichen Inhalts zu verbinden strebte und deshalb die Feier der Todesnacht am Sonnabend beginnen ließ und so das Ende des Fastens und den Beginn des eucharistischen Festmahles in die ') E. Schwartz Christi, u. jüd. Ostertafeln (Abh. Gotting. Ges. N F 8, 1905) 121 f. 2 ) Mark. 2, 20. ») Epistula apostol. c. 15 (26).

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Passah und Ostern

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Morgenfrühe des Sonntags, also in die Stunde der Auferstehung Christi, rückte: dann feierte man eigentlich die Auferstehung, und das vorausgehende Samstagfasten mit deni Todesgedächtnis erschien mehr als Vorbereitung auf das Fest des Sonntags. Und wer die Analogie der Passionsgeschichte weitertrieb, fing das Fasten bereits am Freitag an und feierte so den Todestag und den Tag der Grabesruhe Christi durch Trauer, den Auferstehungstag durch Freude. Während also jene kleinasiatische Feier das Passah an die Vollmondnacht band und es demgemäß durch alle Wochentage wandern ließ, schob man jetzt das Fest auf den Sonntag, der auf jene Vollmondnacht des jüdischen Passah folgte. Wir wissen nicht, wann und wo diese Weise aufgekommen ist. Nur daß sie nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts weite Verbreitung in der Christenheit gefunden hat, ist uns urkundlich bezeugt. U m diese Zeit gab es nämlich einen ernsthaften Streit um die richtige Art der Passahfeier, und aus Palästina, das mit Ägypten zusammenging, aus dem Pontos, aus Osroene, Korinth, Rom, Gallien wurden Synodalschreiben zugunsten der Sonntagsfeier — die wir jetzt Osterfest nennen — ausgegeben 1 . Bischof Viktor von Rom hat dann die Kleinasiaten aufgefordert, von ihrer „quartodezimanischen" Praxis abzulassen, und ihnen im Weigerungsfalle mit Aufhebung der kirchlichen Gemeinschaft gedroht. Aber der Wortführer der anderen Seite, Bischof Polykrates von Ephesos. wehrte sich energisch® unter Hinweis auf die apostolische Tradition Kleinasiens, welche durch die Gräber des Lieblingsjüngers Johannes, des Evangelisten Philippus' — er nennt ihn freilich zur Steigerung einen der Zwölf Apostel — und seiner Töchter bezeugt werde; und als weitere Träger der gleichen Überlieferung ruft er noch eine ganze Reihe bedeutender Kirchenmänner seines Landes an. Aber auch anderswo mißfiel dieses schroffe Vorgehen Roms 4 , und Irenaeus von Lyon, obwohl er sachlich dem Viktor beipflichtete, schrieb ihm einen Brief von peinlicher Deutlich') Euseb KG 5, 23, 2 - 4 . ») Brief des Polykrates bei Euseb KG 5, 24, 2—8. s) Bd. 1, 198. «) Euseb KG 5, 24, 10.

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keit. Darin wurde kräftig betont, daß auch unter den Freunden des Sonntagspassah im einzelnen noch mancherlei Differenzen seien, ohne daß dies den Frieden störe, und daß der Gegensatz zwischen Rom und Kleinasien einst, in den Tagen des Polykarp, doch noch viel größer gewesen sei. Damals habe man in Rom überhaupt kein Passah gefeiert und sich doch friedlich verständigt. Warum jetzt nicht, wo es sich nur um eine Abweichung im Tage handle: habe doch erst Bischof Soter, der Vorvorgänger des Viktor, die Osterfeier am Sonntag eingeführt 1 . Wir hören nichts vom Fortgang des Streites, aber die Kleinasiaten haben jedenfalls ihren Brauch nicht aufgegeben. (Jnd wo sich die neue Ostersitte durchsetzte, hat sie zuweilen auch auf die allwöchentliche Fastenpraxis zurückgewirkt und dem schon längst als Fasttag üblichen Freitag auch noch den Sonnabend zugesellt. Die Sitte des Samstagfastens begegnet uns um 200 im Westen als heftig umstrittene Übung1: doch hat es 200 Jahre gedauert, bis sie sich in diesem Kirchengebiet endgültig durchsetzte. Der Osten ist etwas später in den gleichen Kampf eingetreten und hat sich umgekehrt entschieden: dort ist das Sabbathfasten seit dem vierten Jahrhundert verboten® Mit Ostern hängt Pfingsten von Ursprung an zusammen. So hat man denn auch in der Kirche die 50 auf Ostern folgenden Tage als eine Freudenzeit begangen in Erinnerung an die Erscheinungen des Auferstandenen und an die Ausgießung des Heiligen Geistes; vor allem erwartete man in diesen Wochen die verheißende Wiederkunft des gen Himmel gefahrenen Herrn 4 . Weitere Jahresfeste kennt die Kirche dieser Periode noch nicht. Bei den ägyptischen Basiii dianern ist im zweiten Jahrhundert ein Fest der Taufe Christi mit vorausgehender Nachtfeier am 10. oder 6. Januar begangen worden®. Daraus ist spä') Brief des Irenaeus bei Euseb KG 5, 24, 12—17. Dazu Holl Ges. Schriften 2, 214—219. E. Schwartz ZNW 7, 1—22. 2) Tertullian de ieiunio 14 p. 293, 5. 15 p. 293, 19 Wissowa. Hippolyt in Danielem 4, 20, 3 p. 236, 5 Bonwetsch. ») Holl Ges. Schriften 2, 373—376. *) Tertullian de bapt. 19p. 217,6—12 Wissowa. 5) Clemens Strom. 1,146,1—2.

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Erster Osterstreit. Totenkult

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ter das Epiphanienfest der Großkirche entstanden, aber wir finden im dritten Jahrhundert noch keine Spuren dieser Übernahme. Wohl aber haben sich in einzelnen Gemeinden Jahresfeste eingestellt, nämlich die Gedächtnisfeiern ihrer Märtyrer bei der jährlichen Wiederkehr ihres Todestages: im letzten Grunde eine Steigerung des Jahrgedächtnisses, welches jede Familie ihren Toten zu widmen gewohnt war. Nicht umsonst finden wir auf zahllosen Grabplatten aller Jahrhunderte das Datum des Todestages angegeben, während das Jahr nur in den allerseltensten Fällen genannt wird. An diesem Tage fand sich die Familie am Grabe ein und gedachte des Entschlafenen in einer irgendwie kultisch geregelten Form: leider sind wir über Einzelheiten in dieser frühen Zeit gar nicht unterrichtet. Eine spätere Anweisung belehrt uns, daß auch die antike Sitte, den dritten, neunten, dreißigsten Tag nach dem Tode durch Gedenkakte zu feiern,* bei den Christen bekannt war: sie erwiesen an diesen Tagen ihre Anhänglichkeit an den Verstorbenen durch Psalmodieren, Bibellesungen und Gebete, vor allem aber durch Spenden an die Armen, auch wohl durch Erinnerungsmahle1, die natürlich als christliche Agapen gefeiert wurden und sich mit diesen allmählich in Wohltätigkeitsveranstaltungen umwandelten1. Warum der dreißigste meist durch den vierzigsten ersetzt wurde, ist uns nicht ganz durchsichtig und hat vermutlich seinen Grund in örtlichen Verschiedenheiten des zugrunde liegenden antiken Brauches. Aus dem zweiten Jahrhundert ist uns durch Zufall die Schilderung eines solchen Gedächtnisses am dritten Tage erhalten: da gehen die Angehörigen in die Gruft hinein, um am Grabe „das Brot zu brechen"'. Tertullian 4 erwähnt mehrfach als geläufige Sitte, am Jahrestag des Toten „für ihn Opfer darzubringen und für seine Seele zu beten". Da ist aus dem antiken Opfer, das dem Toten gespendet wird, ein christliches ') Const. Apost 8, 42, 1—5; 44, 1—4. Ambrosius de obitu Theodosii 3 (2,1198 a Bened.). E. Rohde Psyche 1, 232 ff. *) Canones Hippel. 33. *) Acta Johannis 72. 4 ) Tertullian de corona 3, exhort, cast. 11, monogamia 10.

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Wohltätigkeitsopfer geworden, das man Gott im Namen des Toten darbringt, indem man es bei der Eucharistie auf dem Tisch des Bischofs als dem Altar niederlegt 1 und mit Fürbittgebeten begleitet. Dieser Totenkult steigert sich nun beim Märtyrer wesentlich dadurch, daß er nicht auf den Kreis der Familie und Freunde beschränkt ist, sondern von der ganzen Gemeinde begangen wird. Wie sehr die Gemeinden die Märtyrer als ihre Helden feiern, auf die sie mit Stolz blicken, zeigen uns die Gemeindeschreiben über den Tod des Polykarp und der Lyoner Schar mit lebendigster Deutlichkeit. Bei Polykarp wird uns ausdrücklich versichert, viele hätten gewünscht, den Leichnam zu bergen und „mit seinem heiligen Fleisch Gemeinschaft zu haben", aber der Teufel habe es verhindert und bewirkt, daß es verbrannt worden sei. So sei nur die Asche gesammelt und an einem schicklichen Ort beigesetzt worden, an dem die Gemeinde mit Jauchzen und Freude den Jahrestag seines Martyriums begehen werde*. Aber man will an diesem Tage zugleich „der früheren Märtyrer gedenken": das besagt doch klar, daß mit der Einsetzung eines Gemeindefeiertags für Polykarp etwas Neues begründet wird, und daß man bisher das Gedächtnis von Märtyrern noch nicht amtlich von Gemeinde wegen beging. Wir können tatsächlich hier in Smyrna die Einführung des Märtyrerkultes als eines Kirchenfestes urkundlich im Jahr 156 festlegen. Über die römischen Verhältnisse erlaubt uns der erhaltene Märtyrerkalender des Jahres 354 präzise Schlüsse: dies Verzeichnis der offiziellen Gedenktage nennt keine Märtyrer der beiden ersten Jahrhunderte. Die ersten Märtyrer, deren Namen aufgeführt werden, sind die 203 gestorbenen afrikanischen Frauen Perpetua und Felicitas und die römischen Bischöfe Kallist (f 222), Pontian und Hippolyt (f nach 235). Der afrikanische Kalender nennt als älteste Märtyrer die Scillitaner vom Jahre 180, das aus verschiedenen orientalischen Quellen gespeiste syrische Martyrologium gedenkt nicht nur des Polykarp und ') Vgl. Hippolyt KO c. 53. *) Mart. Polyc. 17—18.

Märtyrerkult. Katakomben

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der wohl aus der gleichen Zeit stammenden Pergamener Märtyrer Karpus und Genossen, sondern auch des alten antioche^ nischen Bischofs Ignatius1. So scheint doch die kirchliche Feier des Martyriums am Jahrestage im Osten und auch in Afrika erheblich früher zur Sitte geworden zu sein als in Rom, wo sie erst kurz vor der Mitte des dritten Jahrhunderts sich Geltung verschafft — allerdings kennen wir nur die lateinische Tradition und nicht die des griechischen Roms. Der Totenkult ist auch das Gebiet, wo für unser Auge zuerst die Kirche mit der Kunst in ernsthafte Berührung tritt. Die Ausschmückung der uns erhaltenen Grabanlagen liefert uns die ältesten und auf längere Zeit auch die wichtigsten Denkmäler der christlichen Kunstgeschichte: freilich nur spärlich für das zweite und dann allmählich und örtlich sehr verschieden sich mehrend für das dritte Jahrhundert. Im großen und ganzen scheinen sich die Christen überall den Landessitten angepaßt zu haben, wo diese nicht ihrenAnschauungen zuwider waren. Noch in den späteren Jahrhunderten ist das leicht festzustellen, und für die früheren besitzt der Rückschluß innere Wahrscheinlichkeit. Aber die im Beginn der Kaiserzeit in Rom und bald auch im übrigen Westen aufkommende Sitte der Leichenverbrennung fand bei ihnen einmütige Ablehnung. So folgten sie in Rom dem Brauch der dort ansässigen Juden und legten unterirdische Grabkammern an, deren Wände mit rechteckigen Vertiefungen (Loculi) als Grabstellen versehen waren. In diese legte man, jüdischer Gewohnheit auch hierin folgend, die in Tücher gehüllten Leichen ohne Sarg und verschloß die Öffnung durch Platten von Ziegeln oder Marmor*. Bald verband man mehrere solcher Kammern, indem man sie an einen wagerechten Stollen anschloß, dessen Wände gleichfalls mit reihenweise übereinanderliegenden Loculi ausgestattet wurden; diese Gänge mehrten sich, wurden unter sich wieder verbunden, und bald entwickelte sich aus einer >) H. Achelis Die Martyrologien S. 17 f. Texte bei Lietzmann Die ältesten Martyrologien (Kl. Texte 2). *) Hipp. KO c. 61 gebraucht das griechische Wort Keramos (Horner Statutes of the Apostles p. 327, 19).

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kleinen Anfangsanlage ein immer weiter wucherndes System von kreuz und quer angeordneten Stollen und Kammern, die zuweilen sogar in mehreren Stockwerken übereinander lagen und auf diese Weise nach allen drei Dimensionen erweitert werden konnten. Die Kammern waren die bevorzugten Räume. Hier fanden die Mitglieder vornehmer Familien ihre gemeinsame Ruhestätte, hier setzte man Würdenträger der Gemeinde und bald auch Märtyrer bei. Für solche Persönlichkeiten bevorzugte man die Grabform des sogenannten Arkosols: unter einem in die Wand getieften Halbkreisbogen wird ein sargförmigerRaum ausgearbeitet, welcher die Leiche aufnimmt und dann durch eine wagerechte Platte oben abgeschlossen wird. Jedem Besucher der römischen Katakomben sind diese Grabformen, Gänge und Kammern bekannt und sie begegnen mit mancherlei Varianten überall wieder, wo sich derartige unterirdische Friedhofsanlagen befinden: und das ist fast in allen Ländern der alten Welt der Fall1. In Rom sind uns aber die ältesten datierbaren Anlagen dieser Art erhalten. Hier begegen uns auch die frühesten Beispiele künstlerischer Ausschmückung der Kammern und einzelner Gräber. Da wir in Rom zugleich die analoge Gestaltung der jüdischen Katakomben studieren können, wird uns der Zusammenhang des Bestattungswesens beider Religionsgemeinschaften unmittelbar anschaulich, und andererseits lassen die zahlreichen Denkmäler antiken Totenkultes uns die Anlehnung an römische Kunstübung leicht erkennen. Aus diesen Gründen ist Rom die klassische Stätte christlicher Archäologie geworden und hat durch seine von einem Jahrhundert zum andern ununterbrochen fortschreitende Denkmälerreihe ein eindrucksvolles und in sich geschlossenes Bild christlicher Kunstentwicklung geboten, mit dem kein andrer Ort in Wettbewerb treten kann. Aber dieses Uberragen Roms hat eine Verallgemeinerung der hier gewonnenen Erkenntnisse zur notwendigen Folge gehabt, und es ist eine der ») Liste bis 1900 von N. Müller in Hauck Realenc.' 10, 804—813. Cabrol-Leclercq Diction, d'archdol, chr6t. 2, 3441—2447.

Katakombenkunsi

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wichtigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der neueren Forschung, das künstlerische Eigenleben der übrigen, insbesondere der östlichen Länder zu erfassen. Die dazu notwendigen Denkmäler wachsen allmählich aus dem Boden oder treten aus dem Dunkel der Vergessenheit ans Licht. Für die ersten Anfänge der Kunst dürften aber die römischen Verhältnisse typisch sein. Sie entsprechen dem, was um 200 der alexandrinische Klemens als seine Lehrmeinung von sich gibt, daß der Christ für seinen Siegelring keine heidnischen Götterbilder oder Symbole des Krieges oder der Erotik verwenden solle, sondern etwa eine Taube, einen Fisch, ein Schiff, eine Lyra, einen Anker oder einen Fischer, also Bilder, denen sich ein christlicher Sinn abgewinnen lasse1. Hier wie sonst zeigt sich Klemens der antiken Kultur nicht feindlich, soweit eie eben seinen Glauben und seine Sittlichkeit nicht gefährdet. Ganz entsprechend ist in den römischen Katakomben überall da, wo es die Mittel erlauben, ganz unbefangen Bildschmuck auf weißer Stuckunterlage zur Verzierung des kahlen Tuffgesteins verwendet worden. Ein Gerüst von Linien täuscht eine Laube aus Rohrstäben oder Holzlatten vor, und von einer Stange zur andern winden sich Blumengerank, bunte Bänder und Kränze. Dazwischen sprießen Wunderblumen aus phantastischen Kelchen, grinsen Masken oder lächeln zierliche Köpfe, hüpfen Delphine graziös über einen Dreizack und gaukeln schillernde Schmetterlinge von Blume zu Blume. Die ganze fröhliche Welt hellenistischer Dekorationskunst, die wir in Pompeji bewundern, aber auch in den heidnischen Grabkammern der römischen Campagna und Isola sacra wiederfinden, begrüßt uns in den Räumen der christlichen Katakomben. Es fehlen nur, wie es Klemens verlangt und wie es ganz selbstverständlich ist, erotische Darstellungen und heidnische Götterbilder. Aber man ist da nicht überängstlich gewesen: die niedlichen Flügelwesen der alexandrinischen Kunst, die man Eroten oder Amoretten nennt, schweben unbehelligt mit ihren Brüdern, den Vögeln und Schmetterlingen, l

) Clemens Paed. 3, 59, 2.

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zwischen dem bunten Gerank, und selbst Amor und Psyche1 werden nicht unbedingt aus der Katakombenwelt verbannt. Klemens würde bei diesem Anblick doch die Stirn gerunzelt haben. Aber diese Figuren waren im allgemeinen Bewußtsein längst zu reindekorativenElementen geworden: wer hatte noch ein lebendiges Empfinden dafür, daß diese geflügelten Menschlein eigentlich Abbilder abgeschiedener Seelen waren, die dem Toten in der Kammer freundliche Gesellschaft leisten sollten? Unter den traditionellen Elementen hellenistischer Herkunft finden wir seit dem zweiten Jahrhundert das Bild einer schleiergeschmückten Frau, die ihre Hände betend erhebt, und die Gestalt eines Hirten, der ein Lamm auf dem Nacken trägt. Beide sind uns nicht fremd und begegnen in der antiken Formenwelt in mannigfachen Variationen, aber hier an christlicher Stätte heben sie sich bedeutsam aus dem Gewimmel der Ziermotive heraus: sie wollen etwas sagen, sind Symbole. Jeden christlichen Beschauer mußte der Lammträger an das Gleichnis vom „guten Hirten" erinnern, der das verlorene Schaf heimträgt zu der Herde und der kein anderer ist als Christus selbst*. Und späte Liturgien haben uns den Gedanken aufbewahrt, der dies Bild in die Gräber malen hieß. „Herr, laß diesen Entschlafenen vom Tode erlöst, von Sohuld befreit, dem Vater versöhnt, auf den Schultern des guten Hirten heimgebracht, im Gefolge des ewigen Königs immerwährende Seligkeit im Kreise der Heiligen genießen" heißt es bei den Lateinern1; die Griechen4 beten noch heute im Totenamt: „das verlorene Schaf bin ich: rufe mich zurück, ο Heiland, und rette mich". Katakombenbilder aus dem vierten Jahrhundert bestätigen uns diese Deutung des guten Hirten'.Die betenden Frauen begegnen uns gleichfalls immer wieder auf den christlichen Denkmälern des zweiten und dritten Jahrhunderts, bis sie — ganz wie der lammtragende Hirt — nach dem vierten Jahrhundert in den Hintergrund treten. Gelegentlich finden wir den Gestalten die ») Wilpert Malereien d. Katakomben Taf. 52. ») Luk. 15, 4—7. Joh. 10, 11—16. ') The Gelasian Sacramentary ed. Wilson p. 298 f. *) Griech. Euchologien (Athen 1899) p. 427. ») Wilpert Malereien Taf. 190. 222. 236.

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Symbolik

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Namen der Verstorbenen beigeschrieben und die Figuren selbst von dem bunten Gerank des Paradiesgartens umgeben1: das zeigt, daß sie als symbolische Darstellung der vor Gott anbetenden Seligen im Himmelreich verstanden werden sollen. Ahnliche Gestalten finden wir im linken Seitenschiff des rätselhaften Kultraums von Porta Maggiore in Rom. Man wird auch da die Möglichkeit einer symbolischen Bedeutung der betenden Frauen ernstlich zu erwägen haben, zumal die meisten übrigen Darstellungen zu allegorischer Sinngebung aus orphisch-pythagoreischen Gedankengängen heraus auffordern. Vielleicht sind es auch hier die Seelen der Abgeschiedenen1? Dann hätten wir Vorläuferinnen christlicher Figuren aus frühester Kaiserzeit vor uns. Neben diese dem antiken Figurenschatz entlehnten und nur durch symbolische Deutung christianisierten Gestalten tritt nun aber schon im zweiten Jahrhundert eine Reihe biblischer Szenen, die dem Alten Testament entlehnt sind und sämtlich Errettungen aus Todesnot zum Inhalt haben: Isaaks Opferung, Noah in der Arche. Daniel in der Löwengrube, die drei Männer im feurigen Ofen, Susanna. Dazu tritt die Geschichte des Jonas in einem dreiteiligen Zyklus: er wird ins Meer geworfen und vom Walfisch verschlungen, er wird aufs Land ausgespien, er ruht gerettet unter seiner Laube. Auch hier gibt uns die Liturgie des Abend- und des Morgenlandes Aufschluß über den Sinn der Bilder. Noch heute betet der katholische Priester am Bett des Sterbenden unter anderem, Gott möge seine Seele befreien, wie er Noah aus der Sintflut, Isaak vom Opfertod, Daniel aus der Löwengrube, die drei Jünglinge aus dem Feuerofen, Susanna von falscher Anklage befreit habe. Das Gebet geht auf älteste Wurzeln zurück und hat in griechischen wie in orientalischen Formeln seine Parallelen*. Seinen ») Wilpert Malereien Taf. 110 f. C. M. Kaufmann Handb. d. altchristl. Epigraphik S. 19. 34. 54. 55. 73. 74. 82. *) Bendinelli II monumento sotterraneo di Porta Maggiore (Monumenta antichi 31, 1927) p. 747. *) Rituale Romanum: Commendatio animae; vgl. Ps. Cyprian oratio II (3, 147 Härtel), dazu Schermann Orlens christianua 3, 303 bis 323, Baumstark ebenda N. S. 4, 298—305.

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jüdischen Ursprung bezeugt die Auswahl der Beispiele, und die Mischna hat uns auch wirklich ein Bußgebet zur Fastenzeit aufbewahrt, das den gleichen Typ aufweist 1 . Damit ist die Frage aufgeworfen, ob die Christen vielleicht nicht nur diese Gebete, sondern auch ihre bildliche Darstellung den Juden entlehnt haben. Seit die genauere Kenntnis der Malereien in römischen Judenkatakomben und östlichen Synagogen, vor allem aber die Ausgrabung der Synagoge in der Euphratfestung Dura uns über das Vorhandensein einer jüdischen Bildkunst aufgeklärt haben, dünkt uns eine solcheFragestellung durchaus nicht mehr so abwegig wie noch vor kurzem. Wir stellen fest, daß um 200 die Stadt Apamea in Phrygien unter dem Einfluß der dort vorhandenen jüdischen Kolonie Münzen mit dem Bilde Noahs und der Arche prägte, die mit der christlichen Noahdarstellung engste Verwandtschaft aufweisen*. In einer palästinensischen Synagoge, die man ins dritte Jahrhundert setzt, fand sich auf dem Mosaikfußboden das uns bekannte Bild des Daniel zwischen den Löwen*. In Dura treffen wir in derselben Zeit Isaaks Opferung als Wandbild an4, und dasselbe begegnet uns in einer palästinensischen Synagoge". Das verstärkt die Wahrscheinlichkeit der Vermutung, daß die christlichen Bilder des alttestamentlichen Rettungszyklus ebenso wie die Gebete der Totenliturgie auf jüdische Vorlagen zurückgehen oder vielmehr ohne erhebliche Änderungen aus der Welt der Synagoge herübergenommen und mit christlicher Sinngebung verwendet sind. Beliebt ist schon in früher Zeit dasBild des Moses, der aus dem Felsen Wasser schlägt: auch dies wohl nach jüdischer Vorlage geformt, wenn auch nicht ebenso sicher dem Rettungszyklus angehörend. Die Christen mögen dabei an das seelenrettende Taufwasser gedacht haben, und vielleicht ist auch der antike Gedanke an das im Paradies sprudelnde Lebenswasser *) Mischna Taanith 2, 4. *) Head Historie Numorum1 667, CabrolLeclercq Diction. 1, 2515. ») Revue biblique N. S. 16 (1919), 535 u. 30 (1921), 442. *) Illustrated London News 1933, 23. Juli S. 189 Fig. 10. ') Sukenik The ancient Synagogue of Beth Alpha Taf. 19.

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Bilder aus dem Alten und Neuen Testament

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nicht fern gewesen: dem Johannesevangelium1 ist diese Bildersprache vertraut. Unsicher ist die Bedeutung der Gruppe von Adam und Eva mit Lebensbaum und Schlange, die im 3. Jahrhundert erscheint und sich lange als beliebtes Motiv gehalten hat: ob es nur ein Symbol des Paradieses sein soll, das dem Entschlafenen winkt? Diesem alttestamentlichen Bestand gesellt sich bereits im zweiten Jahrhundert eine Reihe neutestamentlicher Bilder zu, die ebenfalls im Dienst der Erlösungssymbolik stehen und im besonderen die todüberwindende Kraft der Sakramente ins Bewußtsein rufen. Da steht voran die Darstellung der Taufe Christi als des Urbildes der Christentaufe. Aber auch ein Fischer, der mit der Angel einen Fisch aus dem Wasser zieht, kann unter besonderen Bedingungen — nämlich wenn er in der Nähe anderer Sinnbilder steht — als apostolischer „Menschenfischer" gelten; wie denn nach einem Wort des Tertullian die Christen als Fischlein im Wasser geboren werden nach dem Vorbild ihres Meisters, des „Fisches" Jesus Christus 1 . Dieser Christusfisch erscheint an der Wand einer der ältesten römischen Grüfte in San Callisto in Verbindung mit einem Körbchen voll Broten, in deren Mitte ein Glas mit rotem Wein leuchtet: die Abendmahlssymbolik ist nicht zu verkennen. In derselben Zeit ist das Abendmahl auch dargestellt worden unter der Form der Speisung der Fünftausend. Diese biblische Erzählung galt um der Deutung willen, die ihr das Johannesevangelium gibt und die in den Worten* gipfelt „Wer mein Fleisch isset und mein Blut trinket, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage erwecken", als Urbild des Abendmahls. Die Maler lassen in der Regel sieben Personen als Repräsentanten der Fünftausend auf halbkreisförmigem Polster um eine Tischplatte liegen, auf der sich Brote und die aus den Evangelien4 bekannten zwei Fische befinden, und helfen dem Verständnis des Beschauers dadurch ») Joh. 4, 14. 7, 38. 19, 34; vgl. 1. Joh. 5, 6. *) Tertullian baptism. 1; vgl. dazu S. 101. ·) Joh. 6, 54. ') Mark. 6, 38 u. Parall. Joh. 6, 9.

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5. Der Kultus

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nach, daß sie die am Ende der Mahlzeit gefüllten 12 Körbe mit Brocken 1 vollzählig oder andeutungsweise neben den Tisch gruppieren. In San Sebastiano an der Via Appia ist uns ein anderer und anscheinend älterer Typ erhalten, wenn auch das Bild erst nach 200 gemalt sein mag. Da ist eine größere Anzahl solcher Tischgesellschaften dargestellt, wie es das Evangelium auch schildert1, während Jesus mit den Jüngern durch die Reihen schreitend die Brote verteilt; am untern Rande des Bildes sieht man Diener mit den Körben herbeieilen'. Sakramentsbeziehung wird man auch in den Darstellungen der Samariterin am Brunnen finden, die auf das Lebenswasser Christi* hinweisen soll, sowie in den besonders beliebten Bildern des Gichtbrüchigen, der sein Bett schultert: er beweist ja augenscheinlich, daß des Menschen Sohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben®, nämlich im Sakrament der Taufe. Schon die wunderbare Speisung enthielt entsprechend der altkirchlichen Abendmahlslehre einen Hinweis auf die Auferstehung: aber die klassische Auferstehungsverheißung der alten Kunst ist die Szene der Auferweckung des Lazarus. Mit dem Zauberstab in der Hand steht Jesus vor einem tempelartigen Grabmonument, in dessen Türe der noch in Binden gehüllte Lazarus erscheint. Alle bisher besprochenen Bilder sind aus der Bibel hervorgeholt worden, um durch ihre symbolische Bedeutung belehrend und erhebend auf den Beschauer zu wirken, und wir haben Grund zu der Annahme, daß schon in der Malerei des hellenistischen Judentums das gleiche Motiv wirksam gewesen ist. Wir müssen aber feststellen, daß auch in dieser frühen Zeit schon neutestamentliche Szenen komponiert werden, die man nur mit Schwierigkeiten in eine der genannten theologischen Reihen einordnen kann, und die man lieber als rein gegenständlich interessierte Darstellungen auffassen wird. Hier wollen die Maler wirklich nur biblische Geschichte erzählen ») Mark. 6, 43 u. Parall. Joh. 6, 13. l ) Mark. 6, 39—40 u. Parall. ') Lietzmann Petrus u. Paulus 1 Taf. 9 u. S. 301 f. 4 ) Joh. 4, 14; vgl. o. S. 140. 141. *) Mark. 2, 10 u. Par.

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Neutestamentliche Bilder

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und überlassen es dem Beschauer, mit welcher religiösen Empfindung er darauf antworten will. Das gilt von dem Wunder der Blindenheilung und der Heilung der Blutflüssigen, die beide wohl durch die Lazaruserweckung angeregt sind und einen Zyklus von Heilungswundern eröffnen, der in den folgenden Jahrhunderten mit Liebe ausgestaltet wird. In eine ganz andere Richtung weist die beliebte Gruppe der Magier aus dem Morgenland, die dem Christuskind und seiner Mutter huldigen. Hier begegnet uns die erste Madonnendarstellung, die aber in der nächsten Folgezeit wohl Variation, aber keine ernstliche Weiterbildung erfahren hat. Bemerkenswert ist nur, daß daneben ein anderer Madonnentypus auftaucht': da steht der Prophet Bileam* vor der Mutter, die das göttliche Kind auf dem Schoß hält, und weissagt von dem „Stern, der aus Jakob aufgehen wird" — seine Hand deutet auf einen Stern, der zu Häupten der Maria leuchtet. Dies Motiv verschwindet für unser Wissen und wird erst erheblich später wieder aufgenommen. Von der Passionsgeschichte findet sich in dieser Zeit nur eine vereinzelte Spur: ein Bild der Prätextatkatakombe * zeigt vielleicht den dornengekrönten Jesus, wie er von zwei Soldaten mit Rohrstäben geschlagen wird. Damit ist im Großen und Ganzen der Kreis der biblischen Szenen erschöpft, die in der christlichen Kunst des zweiten und beginnenden dritten Jahrhunderts geschaffen sind. Deutlich erkennbar ist die lehrhafte Forderung einer symbolischen Bedeutung als erstes Prinzip der Auswahl, aber nicht minder klar tritt das Bestreben nach Lockerung der theologischen Fesseln und freier Darstellung bildhaften Stoffes zutage. Die Maler streben danach, eine biblische Geschichte um ihrer selbst willen zu schildern. Dies Motiv wirkt weiter und erzeugt die Bildserien der nächsten Jahrhunderte. Aber die Symbolik wird nicht beseitigt, sondern nimmt nur andere Formen an, denn sie ist von religiöser Kunst jeder Art schlechthin unabtrennbar. Wir haben gesehen, daß sie schon der jüdischen s

>) Wilpert Malereien d. Katakomben Taf. 22. ) Wilpert Malereien d. Katakomben Taf. 18.

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) Num. 24, 17.

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5. Der Kultus

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Kunst eignet. Die Basilika von Porta Maggiore in Rom 1 hat uns zu unserer Überraschung gelehrt, in welch gewaltigem Umfang die allegorische Deutung griechischer Mythen die ganz in antiken Formen lebende Dekoration dieses Kultraumes beseelt. Noch ist es uns nicht bekannt, welche religionsphilosophische Sekte sich in den Anfangsdezennien unserer Zeitrechnung dies prächtige Heim geschaffen hat: mit dem Hinweis auf Orphik undPytagoreismus ist noch nicht genug gesagt. Aber daß wir für das Verständnis der Bilder zur Allegorie und symbolischen Deutung greifen müssen, ist allseitig anerkannt. Dasselbe gilt für die bald nach 200 entstandene Aureliergruft am Viale Manzoni*. Sie ist die künstlerisch ausgeschmückte Grabstätte einer gnostischei Sekte, die allerlei rät. seihafte Szenen ihres Kultes und ihres Mythos an den Wänden abgeschildert hat. Aber es begegnen auch Adam und Eva nebst der Schlange, der gute Hirt mit dem Lamm auf der Schulter, und ein großes Bild scheint die Bergpredigt zu symbolisieren. Auf einem Hügel sitzt ein bärtiger Mann und liest aus einer Rolle vor, während am Hang um ihn und unter ihm Schafe weiden; ein ähnlicher Hirtentyp begegnet uns später im kirchlichen Bilderschatz. Hier sehen wir also auf einem Denkmal, das zwischen den Religionen steht, die gleiche Anwendung der dekorativen Kunst und zum Teil sogar die gleichen Gegenstände in analoger Bedeutung. Und wir lernen aus alledem, daß die junge Kirche die Kunst sich zunächst zwar als halb spielerische Dekoration gefallen läßt, dann aber sie ernsthaft ergreift und im Sinne der Zeit zu einem Ausdruck religiösen Empfindens gestaltet. Das Christentum gewann auf diese Weise in der Kunst ein neues und kräftiges Mittel der Volkserziehung, die Kunst bekam in kritischer Zeit einen neuen Inhalt geschenkt, der sich langsam entfaltete und ihr bis auf den heutigen Tag unerschöpfliches Leben einhaucht. ') G. Bendinelli II Monumento sotterraneo di Porta Maggiore in Roma 1927 (aus MonumentiAntichi Vol.31—1927), DazuVorträge d. Bibl. Warburg 1922/23 I S.66—70 und Gnomon 1929 S. 190—195. 2) G. Bendinelli II Monumento sepolcrale degli Aureli 1923 (aus Monumenti An· tichi Vol. 28—1922); vgl. S. 30 Fig. 12, S.51—56 Fig. 20. 21. 22, Taf.9:

Das Christentum und die Welt Der Sand Ägyptens, der unserer Wissenschaft schon so viel Neues und Lehrreiches beschert hat, ist uns noch einige Privatbriefe schuldig, in denen Menschen aus verschiedenen Bildungskreisen ihren Angehörigen die Gründe darlegen, die sie zum Eintritt in die christliche Kirche bewogen haben. Das würden für uns sichere Dokumente zur Prüfung der Frage sein, welchen Anreiz das Christentum auf die Menschen des zweiten und dritten Jahrhunderts ausübte 1 . Denn die Ausbreitung der Kirche in dieser ganzen Frühzeit vollzog sich ohne jeden äußeren Druck oder Massensuggestion durch Summierung von lauter Einzelbekehrungen, die keineswegs alle gleichen Motiven entsprungen sein werden. Einige wenige und dürftige Mitteilungen solcher Bekehrten aus gebildeten Ständen haben wir': aber was uns ganz fehlt und dabei doch als das Wichtigste erscheint, ist die Kenntnis der Stimmungen der niederen Volksschichten, die zu der neuen Religion übertraten und die Zahl ihrer Anhänger so gewaltig anschwellen ließen. So bleibt uns nichts anders übrig als von unserer allgemeinen Kenntnis der geistigen Umwelt aus die Züge im Christentum herauszusuchen, die eine besondere Anziehungskraft ausüben konnten. Vom Judentum war der neue Glaube abgelöst: die Synagogen dienten seinen Missionaren schon längst nicht mehr als Ausgangsstellen ihrer Propaganda, und die Judenschaft war emsig bemüht, der Öffentlichkeit ihren Gegensatz zu den Christen anschaulich zu machen9. Aber gerade diese Ablösung hatte wohl auch werbenden Reiz für die Heiden. Ein großer Teil der Dinge, die das Judentum so anziehend gemacht hatten, war in den Besitz der Christen übergegangen: Monotheis*) Ausgezeichnet behandelt das Problem A. D. Nock Conversion (Oxford 1933), bes. 187—271. *) Vgl. Nock Conversion S. 254 ff. s ) Martyr. Polycarpi 12, 2. 13, 1. 17, 2. 18, 1. Mart. Pionii 3, 6. 4, 8.

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6. Das Christentum und die Welt

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mus, reine Sittenlehre, uralte heilige Schriften; und die anstößigen Sonderbarkeiten der Speisegebote und Reinheitsvorschriften, der Sabbathheiligung, der Beschneidung waren weggefallen. Die Christen konnten ihre Religion mit noch größerem Recht als die zuverlässigste und reinste Offenbarung vernunftgemäßer Erkenntnis von Gott und Welt hinstellen, und die apologetischen Schriftsteller haben dies auch mit Eifer getan. Das wirkte auf die Gebildeten. Aber man ging weit darüber hinaus; man wies aus den Schriften der Propheten die Erfüllungen im Leben Jesu nach und demonstrierte dem Heiden die Wirklichkeiten der evangelischen Botschaft als gottgewollte Notwendigkeiten. Dadurch brachte man das Element des Geheimnisvollen und Wunderbaren in einer für den Verstand greifbaren Weise in die Verkündigung hinein und stärkte die überzeugendeKraft der Predigterheblich. Was von Jesu Wundertaten berichtet wurde, ließ ihn den Heiden als einen jener gefeierten Großen erscheinen, deren Typus uns Apollonius von Tyana ist. Seine Gottessohnschaft leuchtete den in antiker Vorstellungswelt aufgewachsenen Menschen ebenso leicht ein, wie ihnen seine Himmelfahrt und Erhöhung zur Rechten des Vaters als Heroisierung und nach dem Beispiel des Herakles als Aufnahme in den Kreis der göttlichen Wesenbegreiflich war 1 . Schwieriger zu erfassen und anstößig war und blieb zunächst sein schmählicher Kreuzestod: aber auch dafür gewann eine Zeit Verständnis, in der so mancher Philosoph die freie Äußerung seiner Überzeugung mit dem Leben hatte büßen müssen. Und die tapferen Martyrien der Christen zeigten das Weiterleben dieses Geistes bei seinen Schülern einer Welt, die sich gewöhnt hatte, die Todesverachtung starker Geister zu bewundern*. Selbst ein Mann wie Kaiser Mark Aurel kann sich gegen den Eindruck des christlichen Märtyrertodes nur dadurch wehren, daß er ihn aus diesem Parallelismus löst und als Ergebnis bloßen Widerspruchsgeistes und theatralische Geste abtut*. Aber das Volk dachte nicht so und wurde von solchem ') vgl. Celsus bei Origenes c. Celsum 3, 42. *) Nock Conversion S. 193—197. ») Mark Aurel 11, 3, 2.

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Ansatzpunkte für die Mission

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Sterben gepackt. Lukian hat in seiner Verspottung des kynischen Predigers Peregrinus eine ähnliche Taktik befolgt: als der Gegenstand seines Hohns vor den zum olympischen Fest zusammengeströmten Hellenen den Scheiterhaufen besteigt und sich verbrennt, um ihnen ein Beispiel philosophischer Lebensverachtung zu geben, sieht er darin nichts anderes als Eitelkeit und Theaterspiel. Aber er berichtet uns in derselben Schrift auch von einer Lebensepisode des Peregrinus, die unsere höchste Aufmerksamkeit verdient. Der ruhelose Mann ist auch einmal unter die Christen gegangen: und nun charakterisiert Lukian in diesem Zusammenhang die Christen in einer sehr bezeichnenden Weise 1 . Sie sind ihm eine heillose Gesellschaft, die sich einbildet, unsterblich zu sein und ewig zu leben2, weshalb sie auch den Tod verachtet und sich ihm vielfach freiwillig hingibt. Zweitens verehren sie jenen gekreuzigten Sophisten und leben nach seinen Gesetzen, die sie „ohne überzeugenden Beweis" annehmen. Diese laufen darauf hinaus, daß sie allen irdischen Besitz gering werten und zum Gemeingut machen — weshalb denn auch ein geschäftstüchtiger Mann bei ihnen schnell reich werden kann. Mit Behagen schildert Lukian, wie Peregrinus als Märtyrer im Gefängnis von allen geehrt, beschenkt, gepflegt, sogar durch Deputationen auswärtiger Gemeinden unterstützt wird und „aus Ruhmsucht" wirklich zu sterben bereit ist. Aber der kluge Statthalter läßt den Narren laufen, der nun seine Rolle bei den Christen weiterspielt, bis er beim Genuß einer verbotenen Nahrung ertappt wird: da wird er von ihnen hinausgeworfen'. Selbst aus diesem Zerrbild ist deutlich, was die Umwelt an den Christen anerkannte: sie sterben in ihrem Glauben und für ihren Glauben4, sie leben wirklich nach den Geboten ihres Herrn in umfassender Bruderliebe, Sünder entfernen sie aus ihrer Gemeinschaft. Ihre Hoffnung ist Unsterblichkeit in ewigem Leben, und der Stifter ihrer Religion ist ein philosophischer Lehrer, der am Kreuz gestorben ist, aber von ihnen *) Lukian de morte Peregrini 13. *) vgl. auch Martyr. Justini 5, 1, 3. ») vgl. S. 44. *) so auch Celsus bei Origenes 2, 45. 1, 2. 8, 54.

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6. Das Christentum und die Welt

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göttlich verehrt wird. Man kann schon aus diesen wenigen Angaben herausempfinden, welche Anziehungskraft das Christentum für die Menschen jener Welt gehabt haben muß. Hier war religiöser Glaube so stark, daß er den Tod überwand und das Leben neu gestaltete, verbunden mit geheimnisvoller, uralter Weisheit und fortwirkender Wunderkraft. Eine ernste Sittlichkeit, die mit den Forderungen der Philosophie übereinstimmte, wurde zur tausendfältig sichtbaren Tatsache. Ein brüderlicher Geist, der keine gesellschaftlichen Schranken kannte, band die Glieder der einzelnen Gemeinden zusammen und linderte Armut und Krankheit, spannte aber auch ein Netz über den ganzen Erdkreis, das Städte und Länder zu einer mächtigen Organisation geistlicher Gemeinschaft und gegenseitiger Hilfeleistung in allen Nöten dieser Welt vereinigte 1 . Der Weg zu dieser Genossenschaft war nicht schwer zu finden, obwohl sie sicher keine öffentlichen Werbungsakte veranstaltet hat: er führte über die persönliche Berührung mit Christen, denen man im täglichen Leben begegnete und die von ihren inneren und äußeren Erfahrungen verheißungsvolle Berichte gaben. Das weckte die Neugier und ließ den Wunsch nach näherer Bekanntschaft mit der seltsamen Religion erwachen. Der Besuch eines Gottesdienstes war, wenigstens für seinen ersten Teil, dem gut eingeführten Fremden nicht verwehrt 2 . Wurde er gewonnen, so meldete er sich als Katechumen bei den „Lehrern" der Gemeinde an. Hier fand nun eine ernsthafte Prüfung statt'. Er hatte anzugeben, was ihn zum Übertritt in das Christentum bewege, und seine christlichen Freunde mußten eine Art Bürgschaft für ihn leisten. Dann wurden seine äußeren Lebensverhältnisse geprüft und ihm als erste Grundforderung die Vermeidung jedes außerehelichen Umgangs vorgelegt. War er Sklave eines christlichen Herrn, so mußte er von diesem zur Aufnahme empfohlen werden, diente er einem Heiden, so wurde ihm um des !) Harnack, Mission« S. 170—220. l ) Const. Apost. 8, 6, 2; vgl. von Synagogen Tertullian apol. 18, 9. ') vgl. Origenes c. Cels. 3, 51.

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Verbotene Berufe

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guten Rufes der Christen willen treue Arbeit zur Pflicht gemacht. Eine Reihe von Berufen war mit dem Christentum nicht vereinbar und mußte mit der Anmeldung aufgegeben werden. Dazu gehören nicht nur die schmutzigen Gewerbe der Prostitution, sondern auch die anrüchigen Künste des Schauspielers, des Gladiators1 und des Rennwagenlenkers samt allem, was diesen Berufen nahesteht. Nicht minder gilt natürlich ein Götzenpriester, Astrolog oder sonstiger Wahrsager als unannehmbar. Ein Bildhauer oder Maler muß sich verpflichten, keine Götterbilder anzufertigen, und einem Schulmeister wird empfohlen, seinen Beruf aufzugeben, weil er beim Unterricht genötigt ist, heidnische Mythologie zu behandeln. Aber es ist doch für die Haltung der Kirche gegenüber der antiken Literatur bezeichnend, daß sie an dieser Stelle bereit ist, milde Nachsicht zu üben4, wenn nämlich der arme Lehrer keinen andern Weg ehrlichen Verdienstes sieht. Ein Soldat muß die militärisch bedenkliche Verpflichtung auf sich nehmen, nicht zu töten und keinen Eid zu schwören; wer bereits Christ ist, darf überhaupt nicht Soldat werden. Und ganz entsprechend ist es dem Christen verwehrt, das Amt einer staatlichen oder städtischen Obrigkeit zu verwalten: denn damit ist Schwertgewalt und Götzendienst untrennbar verbunden*. Es ist sicher nicht leicht gewesen, diese Ablehnung so mannigfacher und zuweilen doch sehr lockender Berufe überall streng durchzuführen,aberim allgemeinen wird man den Regeln gefolgt sein. Die Gefahr, daß Christen die verpönten Gewerbe nachträglich ergriffen, war gering. Aber sehr schwer ist es der Kirche geworden, bei wachsender Einbürgerung in dieser Welt die Gemeindeglieder vom Besuch der öffentlichen Schauspiele aller Art, der lüsternen sowohl wie der blutigen, fernzuhalten, die nicht nur sittlich bedenklich waren, sondern die Teilnehmer auch immer wieder in neue Verbindung mit heidnischem Wesen brachten: die Lockungen dieser Reizmittel des antiken Lebens sind zu') vgl. auch Tertullian idol. 11 (p. 42, 9 ff. Wissowa). f ) s. auch Tertullian idol. 10 (p. 39 f. Wissowa). ») Hippolyt KO c. 40—41.

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6. Das Christentum und die Welt

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weilen stärker gewesen als das christliche Selbstbewußtsein*. Bedenken hat die Kirche auch gegenüber dem Besuch der öffentlichen Bäder gehabt, die aber doch Erholungsstätten für alle Kreise der Bevölkerung waren und zugleich die Mittelpunkte eines zwanglosen geselligen Verkehrs bildeten. So wurden sie denn im allgemeinen freigegeben und nur das gemeinsame Baden beider Geschlechter beanstandet — obwohl auch dies nicht ganz peinlich durchgeführt werden konnte*. Im übrigen unterschied sich die Lebenshaltung des Christen äußerlich nicht wesentlich von der eines sittlich gesund empfindenden Zeitgenossen: die Lebens- und Anstandsregeln, welche gegen 200 der alexandrinische Klemens den Christen vorschreibt, entsprechen weithin dem, was wir in stoischen Handbüchern der Moral zu lesen gewohnt sind. Wir finden dieselbe Abneigung gegen alles Unnatürliche in Körperpflege, Kleidung und Lebensführung, die Zurückweisung jedes aufdringlichen Luxus, die Empfehlung gesunder Schlichtheit auf allen Gebieten. Das eigentümlich Christliche kommt nur in Einzelheiten zur Geltung, etwa in der betonten Abneigung gegen das Tragen von Kränzen®, oder wenn der Gebrauch von Siegelringen mit heidnischen Bildern verboten wird, wenn die Männer ermahnt werden, Barbierstuben und Bazare zu meiden und das Würfelspiel zu unterlassen. Verpönt ist auch alles schwindelhafte Anpreisen und Schwören im Geschäftsverkehr4, ja alles Schwören in heidnischen Formeln überhaupt und selbstverständlich auch das Fluchen1. Die Scheu vor dem Aussprechen heidnischer Götternamen kann sich so weit steigern, daß sogar die Rezitation von Homerversen untersagt wird": aber das erscheint doch als eine Engherzigkeit, ') Minucius Felix Oct. 12, 5. 37, 11—12. Tertullian spectac. 26. Didascalia 13 S. 72, 33 ff. Achelis. Cyprian ad Dona tum 7—8. Clemens Paed. 3, 76, 3—77,4. ') Didascalia 2 S. 6,32—37. 3 S. 12,1—15 Achelis. Clemens Paed. 3, 31—33. 46—48. ') Clemens Paed. 2, 70—73. Tertullian coron. 1 apolog. 42, 6. Minucius Felix 12, 6. 38, 2. Mart. Pionii 18, 4. ') Clemens Paed. 3, 59, 2. 75,1—2. 79,1—2. «) Tertullian Apol. 32, idol. 11 (p. 41, 13 Wissowa). Didascalia 21 S. 104, 21. 15 S. 83, 32; vgl. Achelis Christentum i. d. ersten 3 Jh. (1912) 2 S. 426. ·) Didascalia 21 S. 104, 6 Achelis.

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Christliche Lebenshaltung

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der die gebildeten Kreise der Christenheit fern stehen, und bei einem Manne wie Klemens sind die Dichter und die Philosophen der Alten in hohen Ehren. Man gewinnt aus unsern Quellen durchaus den Eindruck, daß die Zurückhaltung der Christen von dieser Welt im wesentlichen eine innere war und nach außen keineswegs auffällig zur Schau gestellt wurde. Eine anständige Geselligkeit in der Form eines fröhlichen Mahles ist auch dem Christen unverwehrt und verbindet ihn nicht nur mit den Glaubensgenossen, sondern auch mit der heidnischen „Gesellschaft". Aber es wird erwartet, daß er bei solchen Gelegenheiten durch sein Benehmen der Gemeinde Ehre macht 1 . „Wir sind keine Brahmanen oder indische Fakire und hausen nicht lebensfern in Wäldern", ruft Tertullian* mit rhetorischer Entrüstung. „Wir verschmähen keine Gottesgabe, nur daß wir sie mit Sinn und Verstand benutzen. Auch unser Leben in dieser Welt braucht euer Forum, euern Fleischmarkt, eure Bäder, Läden und Werkstätten, die Gasthäuser und Wochenmärkte und was sonst zu eurem Wirtschaftsleben gehört. Wir fahren mit euch zur See, sind Soldaten oder Bauern, wir tauschen mit euch Waren aus, und was wir in Kunst und Handwerk hervorbringen, dient eurem Gebrauch. Aber eure Götterfeste feiern wir nicht mit, Kränze drücken wir nicht aufs Haupt, Schauspiele besuchen wir nicht, und wir kaufen euch keinen Weihrauch ab. Freilich gehen eure Tempelsteuern immer dürftiger ein: wir geben lieber Armen auf der Gasse statt Göttern in die Kasse. Die andern Steuern aber können sich bei den Christen für gewissenhafte Zahlung bedanken, und was in jenem einen Fall abgeht, ersetzt sich dem Staat reichlich, wenn er eure falschen Erklärungen und unehrlichen Schiebungen dagegen rechnet": Das ist eine scharf formulierte und sachlich zutreffende Zeichnung der wirklichen Stellung des Christen zum Wirtschaftsleben. Ein Idealbild ist es nicht. Störungen dieses friedlichen Einvernehmens mit der Umwelt mag es vereinzelt wohl einmal im engeren Kreise der ») Clemens Paed. 2, 4, 4. 10,1. 11, 1. l ) Tertullian apolog. 42.

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6. Das Christentum und die Welt

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Familie gegeben haben, wenn der neue Glaube nur einen Teil ergriffen hatte: wenigstens werden im Zusammenhang mit allgemeinen Warnungen vor Mischehen derartige Andeutungen gemacht1. Aber solche Unzuträglichkeiten ergaben sich ebenso, wenn ein Ehegatte der Isis oder einer andern Mysteriengottheit huldigte, und die römische Welt war an Toleranz gewöhnt. Daß ein christlicher Soldat mit seinen Dienstpflichten in Konflikt geriet, ist auch vorgekommen: Tertullian hat anläßlich eines solchen Falles eine Verteidigungsschrift ausgehen lassen 1 ; aber brennend ist dies Problem erst in Diokletianischer Zeit geworden. Es waren nicht solche Einzelheiten, aus denen der Gegensatz zu „dieser Welt" erwuchs, sondern umgekehrt: die Einzelfälle waren Auswirkungen der christlichen Gesamthaltung gegenüber dem Imperium Romanum* und das entscheidende Kampfgebiet war die Religion. Wir haben den Kaiserkult als das ideelle Einheitsband kennen gelernt4, das die ungeheure Vielheit der Völker zum Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit brachte: wer ihn ablehnte, stellte sich außerhalb der kulturellen Weltgemeinschaft. Nur die Juden hatten sich das Privileg der Duldung für ihre nationale Sonderreligion erworben — und mußten es doch immer wieder in blutigen Leiden verteidigen. Den Christen, die alle nationalen Bindungen von sich wiesen, wurde es versagt und mußte es versagt bleiben. Und an dieser Stelle kam der Gegensatz zwischen der Welt und dem Christentum zum Austrag. Wenn die Juden um ihrer Zurückhaltung und betonten Eigenart willen schon verhaßt waren, so wurden es die Christen noch mehr, und man vermutete bald hinter ihrer Abgeschlossenheit üble Dinge. Erst erschienen sie als jüdische Sekte, mit der sie den Vorwurf des Atheismus gemein hatten. Bald wurden auch die Judenfabeln auf sie übertragen. Es hieß, sie verehrten einen Eselskopf oder ein ähnliches Gebilde' und verübten Ritualmorde an kleinen Kindern, um ihr Fleisch zu l ) Tertullian uxor. 2, 4; vgl. apol. 3, 4. *) Tertullian de corona militis. ») s. o. S. 40 f. *) Bd. 1, 173. ") Tertullian apol. 16; vgl. Bd. 1, 79.

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Die Christen als Feinde der Menschheit

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verzehren1. Und schon recht früh war es verbreitete Überzeugung geworden, daß die Christen bei ihren geheimen „Liebesmahlen" Kinderfleisch genössen und blutschänderische Unzucht trieben. Wer mit übler Phantasie es weiterspann, wenn er hörte, daß die Christen beim Abendmahl das Fleisch und Blut des Menschensohnes1 genossen, und daß christliche „Brüder" ihre christlichen „Schwestern" heirateten, der konnte am Ende auf solche Gedanken kommen: „thyesteische Mahlzeiten" und „oedipodeische Liebe" nannte die gebildete öffentliche Meinung die kriminellen Produkte solchen Nachdenkens*. Aber auch wer diesen Unsinn nicht mitmachte, war doch überzeugt, daß die Christen Feinde des Menschengeschlechtes seien, einem gefährlichen Aberglauben huldigten4, und durch geheime Bindungen den Gesetzen und der Sitte Hohn sprächen1. So kann es nicht Wunder nehmen, daß sie gelegentlich Gegenstand aufgepeitschter Volkswut wurden, zumal wenn die Juden mit geschickten Händen den tobenden Haufen die Richtung wiesen* oder gar bei der Folter Geständnisse laut wurden, die jene Greuelkunde bestätigten7. Schon Nero hatte diese Stimmung zu seiner Entlastung zu benutzen verstanden*, und mehr als ein Jahrhundert später hören wir die Klage eines Christen', daß bei jedem öffentlichen Unheil, Überschwemmung oder Dürre, Erdbeben, Pest oder Hungersnot die wütende Menge brüllend den Tod der Christen verlange: vordie Löwen mit ihnen! Man muß diese allgemeine Stimmung in Rechnung stellen, wenn man die seltsame Weise begreifen will, in der sich der unvermeidliche Konflikt über den Kaiserkult gestaltete. Man hat viel über die rechtlichen Voraussetzungen der Christenprozesse nachgeforscht1', ohne bisher zu einem völlig klaren Ergebnis zu gelangen: und das ist eigentlich gar nicht ») Acta Lugdun. bei Euseb KG 5.1, 26. *) Joh. 6. *) Athenagoras Suppl. 3 Acta Lugdun. bei Euseb 5 , 1 , 1 4 ') Tacitus ann. 15,44. Sueton Nero 16. «) Celsus bei Origenes 1, 1. ·) Mart. Polyc. 12, 2. 13, 1. 17, 2. 18, 1. Tert. Scorp. 10 (p. 168, 12 Wissowa). ') Mart. Lugdun. bei Euseb KG 5,1, 14. ·) Bd. 1, 200. ·) Tertullian apol. 40,1—2; vgl. Cyprian ep. 59,6. 10 ) A. Alföldi Zu den Christenverfolgungen, Klio 31 (1938), 326 ff.

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6. Das Christentum und die Welt

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verwunderlich, denn im Jahre 112 ist es dem jüngeren Plinius, der als kaiserlicher Statthalter die Provinz Bithynien verwaltete, auch nicht besser gegangen. Er schreibt deshalb an den Kaiser Trajan 1 und bittet um Belehrung: er habe noch nie einer regelrechten prozessualen Untersuchung gegen die Christen beigewohnt und wisse deshalb vor allem nicht, ob schon der bloße Nachweis der Zugehörigkeit zum Christentum die Straffälligkeit ergebe, oder ob die Untersuchung auf verbrecherische Handlungen zu richten sei, die mit dieser Zugehörigkeit zusammenhingen. Er habe um dieser Unsicherheit willen einstweilen vom formellen Prozeßverfahren abgesehen und sich bei Personen, die ihm als Christen denunziert wurden, darauf beschränkt, sie zu fragen, ob sie Christen seien. Im Falle der Bejahung habe er sie aufgefordert, davon abzulassen, den beim Tribunal aufgestellten Bildern der Götter und des Kaisers Verehrung zu erweisen und Christus zu verfluchen. Wer das getan und dadurch sich augenscheinlich vom Christentum losgesagt habe, der sei straflos entlassen worden. Wer aber standhaft trotz mehrfacher Ermahnung bei seiner Weigerung geblieben sei, den habe er hinrichten lassen, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß ganz abgesehen von seinem Glauben jedenfalls diese Hartnäckigkeit und unbeugsame Widerspenstigkeit bestraft werden müsse. Römische Bürger seien dem Kaisergericht in Rom überwiesen worden. Übrigens habe er doch mehrfach genauere Verhöre über die Besonderheiten des christlichen Kultes angestellt, sogar unter Anwendung der Folter, aber nichts anderes gefunden als einen üblen und maßlosen Aberglauben. Daher habe er auf eine Fortführung dieser Methode verzichtet und wende sich an die Entscheidung des Kaisers. Die Sache sei von Bedeutung wegen der großen Zahl der Christen, die in so unsicherer Rechtslage stünden. Schon habe diese Bewegung nicht nur die Städte ergriffen, sondern überschwemme bereits die Dörfer und das Land, aber noch sei Aussicht, sie einzudämmen und zum Stillstand zu bringen, denn es sei auf der andern Seite auch ein ») Plinius epist. ad Traian. 96. 97.

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Plinius und Trajan

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Aufschwung des "hergebrachten Tempel- und Opferkults nicht zu verkennen. Trajan antwortet kurz und deutlich, es ließen sich keine allgemeinen, in klare Formen gefaßten Bestimmungen geben. Aufspüren solle man die Christen von Amts wegen nicht. Komme aber Anzeige an die Behörde, so müsse Bestrafung erfolgen, jedoch so, daß jeder, der sein Christentum ableugne und diese Erklärung durch Opfer an „unsere Götter" erhärte, begnadigt werde. Anonyme Anzeigen seien nicht zu berücksichtigen, denn sie lieferten ein höchst übles Beispiel und widersprächen dem Geist der Zeit. Aus diesem Briefwechsel geht klar hervor, daß weder den Amtsräten der bithynischen Präsidialkanzlei noch den Beamten des kaiserlichen Sekretariats in Rom1 juristisches Material zur Beantwortung der von Plinius gestellten Rechtsfrage vorlag, daß es also solches nicht gab; und zweitens, daß auch Trajan nicht den Wunsch hatte, eine grundsätzliche Entscheidung herbeizuführen, vermutlich weil er unübersehbare Folgen befürchtete. Was aber die altgedienten Kanzleibeamten ihrem Vorgesetzten vermitteln konnten, war die bewährte Verwaltungspraxis, nach der Plinius gehandelt hat: und eben diese wird denn auch vom Kaiser bestätigt, freilich unter betonter Ablehnung anonymer Ankläger. Danach kümmert sich die Behörde gar nicht um Glauben und Handlungen der Christen, sondern fordert von den Verdächtigen die Bekundung ihrer korrekten Staatsgesinnung durch Opfer vor den Bildern der Götter und des Kaisers. Dieser Aufforderung muß jeder Bewohner des römischen Reichsgebiets nachkommen: wer sie ablehnt, wird wegen Verletzung der schuldigen Ehrerbietung gegen die Majestät des Reiches, des Kaisers und ihrer Schirmgötter mit dem Tode bestraft. Und bei dieser Praxis ist es geblieben. Alle Märtyrerakten1 zeigen uns dasselbe Bild, daß der Richter nicht untersucht, daß weder Anklage noch Ver*) W. Weber in Festgabe für Karl Müller 1922 S. 26 ff. «) Sammlung von Texten: O. v. Gebhardt Acta martyrum selecta 1902 und R. Knopf Ausgewählte Märtyrerakten* (v. G. Krüger besorgt) 1929.

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6. Das Christentum und die Welt

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t-eidigung auf Grund allgemeiner Rechtsanschauung oder spezieller Gesetzesparagraphen stattfindet, sondern daß nur die Zugehörigkeit zum Christentum konstatiert wird, woraufhin der Befehl zum Schwören beim Genius des Kaisers und zum Opfern vor den Bildern erfolgt. Dann setzt häufig ein längeres Gespräch ein, in welchem der Richter die Angeklagten zum Opfer zu überreden versucht und sie auf die Folgen ihrer Weigerung hinweist. Die endgültige Ablehnung der Aufforderung löst dann das Todesurteil aus. Immer wieder jammern die christlichen Apologeten darüber, daß der Name Christ genüge, um die Verurteilung zu erzielen. Immer wieder fordern sie zur Untersuchung ihrer Lebensführung auf und weisen die volkstümlichen Greuelmärchen zurück. Immer wieder schildern sie die Sittenreinheit des Gemeindelebens und beteuern ihre Staatstreue und die Aufrichtigkeit ihres Gebets für Kaiser und Reich. Es hat nichts genutzt und konnte nichts nutzen, weil der Staat gerade diese Diskussion ablehnte. Er wünschte keine Religionsprozesse mit theoretischen Auseinandersetzungen, sondern seine Statthalter handelten aus der Vollmacht ihrer Stellung und gingen mit polizeilicher Zwangsgewalt gegen offenkundige Widersetzlichkeit vor, die sie aber in jedem Falle erst amtlich provozierten, um sie bestrafen zu können. Und jeder auf diese Weise konstatierte Fall von Opferverweigerung bewies wiederum die Berechtigung der amtlichenAnzweifelung der christlichenStaatsgesinnung. Das ganze Verfahren setzt die Annahme, daß die Christen grundsätzlich Staatsfeinde seien, als keines Beweises bedürftig voraus — und die Äußerungen der Zeitgenossen lassen an der Allgemeingültigkeit dieser Meinung auch wirklich keinen Zweifel aufkommen. Aus dieser Stimmung heraus ergab sich die Einstellung der staatlichen Behörden: sie führen keine „Prozesse", sondern greifen auf dem Verwaltungswege ein. Tertullian redet gelegentlich1 so, als ob es formulierte Gesetze gegeben habe, welche das Christsein verboten, und in einer Märtyrerakte 1 des Jahres 180 wird von einem Senats') Tertullian apolog. 4, 3—5. 10—11. 37, 2. «) Acta Apolonii 13. 23.

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Staatliche Grundsätze und Gesetze

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beschluß dieses Inhalts gesprochen. In mehreren Akten beruft sich der richtende Beamte ausdrücklich auf kaiserliche Edikte, welche von den Christen den Opferkult fordern 1 , und die ganze Decianische Verfolgung beruht auf einem derartigen Edikt, dessen Wortlaut in bezug auf den entscheidenden Punkt aus den zahlreich erhaltenen „Libelli" ermittelt werden kann 2 : die des Christentums Verdächtigen müssen eine Bescheinigung auswirken, daß sie „vor der zuständigen Behörde der Verordnung entsprechend Rauch- und Trankopfer dargebracht sowie Opferfleisch genossen haben". Ganz ähnlich werden die Edikte gelautet haben, von denen die früheren Märtyrerakten sprechen. Und als Analogie zu dem vorhin erwähnten Senatsbeschluß können die zahlreichen Gesetze* gelten, die in späteren Zeiten der christlich gewordene Staat erlassen hat, und in denen den Manichäern, Arianern oder sonstigen Häretikern die Ausübung ihres Kultes untersagt wird: auch da ist die Staatsfeindlichkeit dieser Sekten als anerkannt vorausgesetzt und jeder Erörterung von vornherein entzogen. Die Gesetze sind lediglich Anweisungen an die Behörden, in welcher Weise sie die Polizeigewalt den Sekten gegenüber handhaben sollen. Aber die beständige Wiederholung derselben Vorschrift in immer neuen Erlassen zeigt, daß die für die innere Politik verantwortlichen Beamten die Ausführung dieser Edikte den jeweiligen zeitlichen und örtlichen Umständen anpaßten und sie häufig ganz unterließen, weil ernsthafte Bedenken entgegenstanden. Genau so wird es mit den Christenedikten der früheren Zeit gewesen sein: derartige Erlasse wurden als politische Richtlinien aufgefaßt, deren Durchführung dem Ermessen der einzelnen Provinzialbehörden unterlag. Es ist eine große Linie, die von dem Edikt Trajans zu dem des Decius führt, und sie reicht noch über diese beiden Fixpunkte hüben und drüben hinaus. Unter Caracalla — also um 215—hat der berühmte Jurist Ulpian in seinem Werk über die Provinzialverwal4 ) Acta Carpi, Papylae etc. 4. 45. Acta Justini 5, 8. Acta Apolonii 45. Acta Pionii 3, 2; vgl. Acta Maximi 1, 8. Melito bei Euseb KG 4, 26, 5.10. l ) Vgl. v. Gebhardt Ausgew. Märtyrerakten S. 182 f. ») Ζ. B. Cod. Theod. 16, 5, 3. 5, 11 u. a.

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tung die kaiserlichen Edikte gegen die Christen gesammelt und die Strafpraxis in ein System gebracht 1 . Wenn die christlichen Apologeten zwei Edikte,eins des Kaisers Hadrian und ein anderes des Antoninus Pius, imWortlaut zitieren 1 , welche von dieser Linie abweichen, indem sie den Nachweis von Einzelverbrechen der Christen fordern oder sie gar in Schutz nehmen, so zeigt eben dieser Widerspruch zu der durch alle übrigen Zeugen bestätigten einheitlichen Haltung des Staates, daß wir es mit frei erfundenen oder tendenziös korrigierten Texten zu tun haben. Man hat sich früher bemüht, die Haltung der verschiedenen Kaiser zum Christentum* zu differenzieren und eine Anzahl besonderer Christenverfolgungen herauszuheben und sogar nach dem Vorbild des Euseb durch Ordnungszahlen zu bezeichnen. Die Voraussetzungen für solche Betrachtungen treffen nicht zu. Sobald es sich nicht um speziell stadtrömische Ereignisse handelt, ist die persönliche Neigung des jeweiligen Herrschers kaum von Einfluß auf den Gang der Dinge: höchstens, daß der Kaiser aus allgemein politischen Erwägungen heraus oder auf Anfrage eines Statthalters ein Christenedikt ausgehen läßt. Die „Christenverfolgungen" sind stets im Umfang begrenzt und ihr Ausbruch ist von örtlichen Bedingungen und dem Charakter des Statthalters abhängig. Domitian hat seinen Vetter Flavius Clemens töten lassen und seine Gattin Flavia Domitilla auf eine Insel verbannt „wegen Atheismus" — und es ist recht wahrscheinlich, daß damit das Christentum gemeint ist 4 . Vielleicht ist auch der wegen revolutionärer Umtriebe hingerichtete Acilius Glabrio seinem Glauben zum Opfer gefallen: die Familie ist jedenfalls schon im zweiten Jahrhundert als christlich nachweisbar 6 . Daß Domitian auch sonst gegen die Christen vorgegangen sei, melden uns die Berichterstatter nur in allgemein gehaltenen Worten*. Aber der ») Lactantius Instit. 5, 11, 19. *) bei Euseb KG 4, 9 und 13. *) Sammlung von Texten bei Preuschen, Analecta* 1909—10. *) Dio Cassius epit. 67, 14. Prosopogr. imp. Rom. 2 S. 66 nr. 170, S. 81 nr. 279. ') Sueton Domitian 10. Vgl. Leclercq Diet. 6, 1259—1274. ·) Euseb KG 3, 17. Hier. Chron. Olymp. 218, 2—4 und Anm. p. 569 und Dio Cass. epit. 67, 14.

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Erste Verfolgungen. Lyon und Vienne

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erste Klemensbrief redet um diese Zeit von drohender Verfolgung, und die gleichzeitig entstandene johanneische Offenbarung weiß, daß Rom trunken ist vom Blut der Heiligen und Märtyrer Jesu; der Seher schaut unter dem himmlischen Altar die Seelen der geschlachteten Zeugen 1 . Unter Trajan ist Ignatius von Antiochien nach Rom geschickt und dort hingerichtet worden2. Uber alle diese frühen Martyrien haben wir keine genauere Kunde. Erst als im Verlauf einer größeren Verfolgung am 22. Februar 136 der achtzigjährige Bischof Polykarp von Smyrna lebendig verbrannt worden war, und die Gemeinde einen ausführlichen Bericht über den Hergang nach Philomelion ins innere Kleinasien geschickt und gleichzeitig als Rundbrief verbreitet hatte, ist die Aufmerksamkeit der Christenheit für solche Urkunden erweckt und ihrer Erhaltung günstig gestimmt worden: war doch Polykarp ein Mann, dessen Name mit der Uberlieferung der hochgeschätzten Ignatiusbriefe eng verknüpft war*. Im Jahre 177 brach in Lyon und Vienne eine ähnliche durch Volkswut entfesselte Verfolgung aus, und auch diese Gemeinden schrieben darüber einen Brief nach Kleinasien*, der mit seinen lebendigen Schilderungen jeden Leser immer wieder aufs tiefste erschüttert. Hier wird wirklich auf die Christen Jagd gemacht: wir sehen die Verwirrung in den Gemeinden, die ersten Folterungen verbreiten Schrecken, einige fallen ab, die Mehrzahl hält sich scheu zurück, heidnische Sklaven sagen aus, was gewünscht wird. Da rast die Wut des Volkes los, das Gefängnis füllt sich mit Bekennern, und alle Qualen einer bestialischen Henkersphantasie brechen über die Unglücklichen herein. Auch die ersten Verleugner werden wieder festgenommen und gewinnen im Angesicht des Todes neuen Mut. Blutige Bilder leuchten schreckhaft vor unsern Augen auf. Von Fäusten zerschlagen und Füßen zertrampelt liegt der neunzigjährige Bischof Potheinos im Kerker, bis ihn nach zwei Tagen ein barmherziger Tod erlöst. Mit zerfetztem Leib und ») 1. Clem. 7,1. Apoc. 17, 6. 6,9. vgl. 2, 13. 12, 11. 20, 4. l ) Hieron. Chron. Olymp. 221, 4. ») Bd. 1, 251. 4) Euseb KG 5, 1, 3—3, 3.

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zerschmetterten Knochen hängt die Sklavin Blandina zum Fraß für die Tiere am Kreuz: umsonst, die Bestien rühren sie nicht an, und so endet sie auf dem Scheiterhaufen. Mitten in der Arena steht ein rotglühender Sessel, der mit seinen Molochsarmen die Christen packt: gen Himmel steigt der Opferdampf der verbrannten Leiber, und von allen Marterstätten gellt unaufhörlich der Todesruf: ich bin Christ, ich bin Christ! Im Kerker liegen sie in Reihen, hilflos in den Block gespannt und sterben einen stummen Tod: ihre Leichen geben ein gutes Hundefutter. Die jämmerlichen Reste kehrt der Henker zusammen mit den Köpfen der enthaupteten römischen Bürger auf einen Haufen: schließlich lodert die Flamme auf und macht alles zu Asche, die man hohnlachend in die Rhone streut, damit ihnen auch die Hoffnung der Auferstehung zunichte werde. Aber in all dies blutige Grauen fällt leuchtend ein Schein aus einer andern Welt. Den Christen tut sich in ihrer Pein der Himmel auf, Christus steigt von seinem Thron zur Rechten Gottes, wo ihn Stephanus in seiner Todesstunde erblickte, herab und spricht ihnen Trost zu, und über der Seligkeit der Gottesschau verblassen alle irdischen Qualen. Kein Schmerz rührt mehr an die Seelen der Begnadeten: von ihrem verzückten Antlitz strahlt die Herrlichkeit des Herrn zurück, sie lassen die Menschlichkeit hinter sich und sind den Engeln gleich geworden1. Waren sie bisher tapfere Bekenner ihres Glaubens, so bringt ihnen der Eintritt in jene Welt die Würde der „Märtyrer", der „Zeugen Gottes", die für die Wahrheit ihres Zeugnisses mit ihrem Leben eingestanden sind — so wie es Christus, „der echte und wahrhaftige Zeuge", als ihr Vorbild tat 2 . Die älteste Kirche legt Wert darauf, den Märtyrertitel nur denjenigen beizulegen, die für Christus den Tod erlitten haben: erst dadurch wird ihr Zeugnis vollkommen. Es ist eine der antiken Welt geläufige und auch im Spätjudentum auftau') K. Holl Ges. Aufsätze 2, 72 f. Mart. Polyc. 2, 2—4. Euseb KG 5, 1, 51. 55. Acta Carpi 39 u. ö. 2 ) Apoc. 1, 5. 3, 14. Euseb KG 5, 2, 2—3. Mart. Polyc. 1, 2. 17. 3. Ignat. ad Rom. 6, 3.

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Der Märtyrer als Enthusiast. Perpetua

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chende Vorstellung, daß der echte Prophet die Wahrheit seines Zeugnisses mit dem Tode besiegelt1, daß er aber auch beim Erleiden dieses Todes mit überirdischen Kräften begnadet ist, die den Schmerz der Marter überwinden*. So wird es begreiflich, daß auch für die junge Christenheit erst die Vollendung durch den Tod das Zeugnis vollgültig machte, daß auch Jesu Sterben von hier aus einen neuen Sinn gewann, und so die göttliche Offenbarung an die Menschheit durch eine sich dauernd mehrende Schar von „Zeugen" bestätigt wurde, die in ihrer Sterbestunde noch hier auf Erden bereits vom Glauben zum Schauen übergegangen waren'. Wir besitzen aus Afrika ein ganz eigenartiges Schriftstück, das uns den im Vollsinn des Wortes „enthusiastischen" Charakter dieser frühen Martyrien eindrucksvoll vor Augen stellt. Im Jahre 203 wird eine den höheren Ständen angehörige junge Frau namens Vibia Perpetua zugleich mit mehreren Sklaven wegen Christentums festgenommen. §ie hat ihre Erlebnisse und Empfindungen aufgezeichnet, und ihr Leidensgefährte Saturus hat das gleiche getan. Zu diesen Blättern hat die Gemeinde eine ausführliche Erzählung des weiteren Verlaufes hinzugefügt und das Ganze als wirksames Zeugnis der auch in der Gegenwart sich in Prophezeiungen, Visionen und Wundertaten offenbarenden Kraft des heiligen Geistes zur kirchlichen Vorlesung bestimmt 4 . Und tatsächlich sind diese Märtyrerakten in Afrika noch jahrhundertelang in den Kirchen verlesen und bei Abfassung anderer Akten nachgeahmt worden. Hier wird uns deutlich, daß die Märtyrer sich bewußt sind, von dem Moment der Einkerkerung an unter der Einwirkung besonderer Gottesgnade zu stehen: sie fordern visionäre Offenbarungen und erhalten das Gewünschte; sie haben Macht, durch ihr Gebet Verstorbene zu erlösen, sie schauen im Traumgesicht den Himmel und halten Zwiesprache mit *) Vgl. Apoc. 11, 7. Matth. 23,30.35.37.4. Makk. 7,15. *) Ascensio Isaiae 5, 7.14.4. Makk. 6, 5—7.13—14. 9, 21—22. ») Pauly-Wissowa 14, 2044—2052. *) Acta Perpetuae et Felicitatis: Aufzeichnungen der Perpetua c. 3—10, des Saturus c. 11—13.

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dem Herrn. Kein Wunder, daß sie auch als autoritäre Friedensstifter dem Bischof ihrer Gemeinde und seinem gelehrten Presbyter den Weg zur Versöhnung zeigen. An die Stelle der ungebundenen pneumatischen Propheten der Urchristenheit, die im Laufe des zweiten Jahrhunderts dem geordneten Bischofsamt weichen und sich anschicken zu verschwinden, treten jetzt die Konfessoren als die vom Geist erwählten Heroen, die mit außerordentlicher Vollmacht handeln und der normalen Leitung der Gemeinde gelegentlich nicht unerhebliche Schwierigkeiten machen. Insbesondere nehmen sie das Recht der Lossprechung gefallener Brüder für sich in Anspruch 1 , und daraus sind, wie wir noch sehen werden, kirchliche Konflikte von größerem Ausmaß entstanden. Um dieselbe Zeit, in der wir die brieflichen Berichte über Martyrien vorfinden, sehen wir aber auch bereits den zweiten und für die weitere Entwicklung maßgebenden Typ der Märtyrerakte aufkommen, das Verhörsprotokoll. Aus Rom ist uns der Bericht über das Verhör des Justin (um 165) erhalten, in Pergamon ist zur gleichen Zeit das Martyrium des Karpos und Papylas aufgezeichnet worden, und im Jahre 180 ist in Afrika der lapidare Text über die Märtyrer von Scilli entstanden. Diese Protokolle sind keine Wiedergabe amtlicher Aktenstücke, die sich die Gemeinde etwa unter der Hand beschafft hätte, sondern literarische Gebilde, die auf Grund persönlicher Erinnerungen von Augen- und Ohrenzeugen, möglicherweise auch durch Nachschriften unterstützt, das Verhör in der Form eines Protokolls vor dem Leser aufbauen, um durch die urkundliche Fassung den Eindruck der Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Ähnlich sind die Kreise der opponierenden Philosophen verfahren, wenn sie den Freimut ihrer Standesgenossen vor dem Gericht tyrannischer Kaiser schildern: auch sie kleiden ihre Berichte in protokollarische Form, die zwar letzten Endes auf Nachschriften der wirklich gewechselten Worte zurückgeht, aber der Stilisierung beträchtlichen Raum gewährt und insbesondere die Reden der Angeklagten zu wirkungs») Vgl. Euseb KG 5, 2, 5.

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Märtyrerakten in Protokollform

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vollen Apologien der guten Sache ausgestaltet 1 . Die Verfasser christlicher Märtyrerprotokolle sind diesem Vorbild gefolgt, und auch bei ihnen sind die Reden der Blutzeugen das ergiebigste Feld für die Betätigung ihrer rhetorischen Neigungen. In steigendem Maße enthalten sie theologische Darlegungen, die den Einfluß der gelehrten Apologetik verraten und sich bis zu eingehend begründeten Nachweisen der Nichtigkeit des Götzendienstes auswachsen, ja sogar in die Hoffnung auf Bekehrung des richtendenBeamten ausmünden8. Der schlichte Typ der Frühzeit, wie ihn die Akten des Justin und derScillitanerdarstellen, genügte den Anforderungen desErbauung suchenden Lesers nur kurze Zeit: man kann an den verschiedenen Redaktionen* der Scillitanerakten das Wachsen des Stoffes gut beobachten. Diese gelegentlichen Maßregelungen der Christen haben sich ungefähr zwei Jahrhunderte hindurch in den gleichen Bahnen bewegt. Die Erhaltung des uns vorliegenden Materials ist durch so viele Zufälligkeiten bedingt, daß wir die Frage, ob das Auf- und Absteigen von Verfolgungswellen mit Schwankungen der Innen- oder Außenpolitik des Reiches zusammenhängt, im Ganzen nicht beantworten können. Nur so viel läßt sich feststellen, daß in der späteren Antoninenzeit bis auf Septimius Severus4 die Nachrichten über Verfolgungen sich mehren, zu einer Zeit also, in der die wirtschaftliche und die militärische Krisis des Imperiums deutlich zu werden beginnt. Von Alexander Severus berichtet uns die wenig glaubwürdige Legende® allerlei christenfreundliche Züge. Aber der orientalische Synkretismus der syrischen Dynastie konnte allerdings keine große Neigung zu Christenverfolgungen haben, und die das Reich und den schwachen Alexander regierende Kaiserin-Mutter Julia Mamaea hat in einer der schlimmsten Kriegszeiten den berühmtesten Gelehrten der Christen, Oril ) U. Wilcken alexandr. Antisemitismus (Abh. sächs. Akad. 27, 1909, Nr. 23 S. 826 ff.), Lietzmann Griech. Papyri* (Kl. Texte 14) n. 20. 21. *) Ζ. B. Acta Apollonii 14—45. Acta Pionii 4. 8. 13—14. ») J. A. Robinson in Texts and Studies Bd. 1 (1891), Heft 2 S. 112—121. 4 ) Euseb KG 6, 1. 2, 2. 3,3. 4, 1—5, 7. Hist. Aug. Severus 17. ») Script, hist. Aug. Alexander Severus 22, 4. 29, 2. 43, 6. 49, 6.

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genes, an ihren Hof nach Antiochia befohlen1, um sich seines geistvollen Verkehrs erfreuen zu können. Als der thrakische Landsknecht Maximin 235 der orientalischen Dynastie ein blutiges Ende bereitete, war für solche ästhetisch-religiöse Sentimentalität kein Raum mehr. Der neue Kaiser regierte mit brutaler Gewalt und schlug tot, was der alten Zeit anzuhängen verdächtig war. Dazu gehörten anscheinend auch christliche Kleriker. Die beiden römischen Bischöfe verbannte er, und in Palästina gab es eine ausdrücklich gegen die Kirchenhäupter gerichtete Verfolgung, die Origenes mit einer Mahnrede zur Standhaftigkeit begleitete1. In Kappadokien und Pontus waren durch schwere Erdbeben ganze Städte in Trümmer gelegt, und die Volkswut hatte sich wieder auf die lange Zeit hindurch fast vergessene Parole besonnen, die Christen als Sündenböcke vor die Löwen zu fordern: der kappadokische Legat Licinius Serenianus war mit Eifer dem Verlangen nachgekommen*. In den Wirren der folgenden Jahre gelangte auch einmal wieder ein echter Orientale auf den Thron, der Araber Philippus (244—249). An ihn und seine Gemahlin Otacilia Severa hat Origenes Briefe geschrieben, und der späteren christlichen Tradition gilt er als Christ*. Das hat aber nicht verhindert, daß in Alexandria 249 eine Christenhetze vier Todesopfer forderte, zahllose Christen zur Flucht zwang und wüste Plünderungsszenen über ihre Häuser gehen ließ'. Alle diese Verfolgungen blieben Einzelerscheinungen von rein örtlicher Bedeutung, genau so wie alle ihre Vorgängerinnen. Mit dem Regierungsantritt des Decius änderte sich das Bild entscheidend. Dieser tatkräftige Soldatenkaiser erkannte die Notlage des Reiches in ihrer ganzen Schwere und wußte, daß es der Zusammenfassung aller Kräfte bedurfte, um das l

) Euseb KG 6, 21, 3—4. auch Hippolyt hat ihr eine Schrift über die Auferstehung gewidmet, Achelis 1, 2, 251 ff., vgl. S. 252. *) Euseb KG 6, 28. Origenes de martyrio, vgl. c. 7. 33 ed. Κoetschau. ') Firmilian v. Caesarea bei Cyprian ep. 75, 10. Origenes in Matth, comm. ser. 39 p. 75, 7 Klostermann. *) Euseb KG 6, 34. 36, 3. vgl. Johannes Chrys. de S. Babyla 6 (2, 544 f. Montf.) Hieronymus Chron. Olymp. 256, 1. «) Dionys. Alex, bei Euseb KG 6, 41, 1—9.

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Verfolgungen im 3. Jahrhundert Decius

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letzte Unheil abzuwenden: und vielleicht hat er auch wirklich den Niedergang des Imperiums mit dem Mangel an schuldiger Götterverehrung in ursächlichen Zusammenhang gebracht. So ordnete er denn schon Ende 249 an, daß an allen Orten des ganzen Reiches sämtliche Einwohner vor besonderen Opferkommissionen ihre ständige Anhänglichkeit an die Götter zu Protokoll erklären und durch einen Opferakt beweisen müßten1. Aber dieser Verordnung stand es an der Stirn geschrieben, daß sie eigentlich einen negativen Zweck hatte: es sollten die widerspenstigen Christen im ganzen Reich ermittelt und unschädlich gemacht werden, und man gab sich der Hoffnung hin, durch Drohungen die überwiegende Mehrzahl der Staatsreligion wieder zuzuführen. Wir haben zahlreiche Dokumente dieser religiösen Inquisition aus Ägypten erhalten in Gestalt der auf Papyrus geschriebenen Bescheinigung („Libellus") der örtlichen Opferkommissionen, daß der Inhaber des Papieres das Opfer vollzogen habe. Die an sich schon hoch wahrscheinliche Annahme, daß wirklich alle Einwohner, nicht bloß die verdächtigen Christen, vor der Behörde erscheinen mußten, wird durch diese Urkunden, unter denen sich auch die für eine heidnische Priesterin bestimmte befindet, zur Gewißheit erhoben'. Es war eine seltsame Form der Götterhuldigung: ein feierlicher Bittakt des ganzen Volkes für das ernstlich bedrohte Heil von Kaiser und Reich, aber er stellte sich zugleich mit schauerlicher Realität als eine blutige Polizeiaktion dar. Der Wandel der Zeiten spiegelt sich noch deutlicher darin, wenn man die Restaurationsbestrebungen des Augustus* zum Vergleich heranzieht. Dem Kaiser Decius wird das Gesetz des Handelns in vollem Umfang von den Gegnern vorgeschrieben. Die Decianische Verfolgung war also tatsächlich eine das ganze Reich umspannende, und ihr Ziel war die Wiedergewinnung der Christen für den Staatskult und damit die Vernichtung der gefährlichen Religion von innen heraus: die gewalt») Wittig bei Pauly-Wissowa 15, 1279—1284. Leclercq Diet, d'arch. 4, 309—339; zum Ganzen vgl. Alföldi. Klio31 (1938), 323ff. ') Wilcken Chrestomathie n. 125. Pauly-Wissowa 15, 1280 f. *) Bd. 1, 159.

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same Beseitigung der Unbeugsamen war nur nebenlaufendes Mittel zum Zweck. Dem entsprach auch die vorsichtige Abstufung der Gewaltmaßregeln, die vor allem Einschüchterung und Ermüdung des Widerstandswillens verfolgten und nur als äußerstes Mittel in besonderen Fällen den Tod vorsahen. Die Wirkung dieses ungeheuren Feldzuges ist denn auch ganz gewaltig gewesen. Daß der Staat zunächst nach dem hohen Klerus griff, um die Kirche führerlos zu machen, war seinem Wunsche angemessen: aber das Ziel wurde nur teilweise erreicht. Bischof Fabian von Rom starb als der erste am 20. Januar 250 den Märtyrertod, ihm folgte am 24. Januar Bischof Babylas von Antiochien, und auch der greise Bischof von Jerusalem, Alexander, ist im Gefängnis zu Caesarea umgekommen1. Aber Dionysius von Alexandria wurde von seinen Getreuen den Häschern entrissen und an einen versteckten Ort in Libyen gerettet 2 , und Cyprian von Carthago gelang es gleichfalls, sich zu verbergen: er hat von seiner Zufluchtsstätte aus mit der Gemeinde in brieflicher Verbindung 1 gestanden und dem Klerus Verhaltungsmaßregeln gegeben. Auch von Gregor, dem Bischof von Neocaesarea in Pontus, ist uns eine gelungene Flucht bezeugt4. In all diesen führerlos gewordenen Gemeinden blieben Kleriker zurück, welche die jetzt besonders nötige Seelsorge weiter trieben und die gesunden Elemente zusammenhielten'. Im Ganzen scheint der staatliche Zwang tatsächlich einen Massenabfall bewirkt zu haben. Der lange Frieden hatte ein Gefühl der Sicherheit und eine starke Hinneigung zu „dieser Welt" erzeugt und bereits ein Gewohnheitschristentum entstehen lassen, welches einer ernsten Belastung nicht standhielt: das wird von Kirchenmännern Afrikas, Ägyptens und Palästinas übereinstimmend* betont. In Spanien fielen zwei Bi') Euseb KG 6, 39, 1—4. Lietzmann Martyrologien S. 3. 8, 29. ) Euseb KG 6,40. 7,11, 22—23. ») Cyrian epist. 5—7. 10—19. *) Gregor Nyss. vita S. Gregorii Thaum. (opera 3,569 ed. Paris 1638). «) Dionys. Alex, bei Euseb KG 7, 11, 24. ·) Cyprian de lapeis 5—6. Dionys. Alex, bei Euseb KG 6, 41, 11—13. Origenes hom. in Jer. 4, 3 p. 25 f. Klostermann. 2

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Verfolgung des Decius

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schöfe, desgleichen in Afrika, und auch der Bischof Euktemon von Smyrna opferte mit dem Kranz im Haar und schwur das Christentum ab1. Wie viele Kirchenhäupter sonst noch versagt haben, wissen wir nicht: niemand hatte ein Interesse, das Andenken daran wach zu halten. Und die Laien strömten scharenweise zur Opferstelle, die Vornehmen und Begüterten voran: galt es doch die Rettung von Leben und Eigentum. Andere flohen aus der Stadt aufs Land, in die Berge, in die Wüste, um dem Opferzwang zu entrinnen. Das bedeutete wohl Preisgabe von Haus und Habe, und nicht wenige sind der Not der Einöde erlegen oder von räuberischen Horden gefangen und zu Sklaven gemacht worden*. Ein beliebtes Mittel der Rettung war die Bestechung: man verschaffte sich eino Opferbescheinigung, ohne das Opfer in Wirklichkeit zu vollziehen: so glaubte man sein Gewissen von der Sünde der Verleugnung rein zu halten. Aber die Kirche erkannte diesen Schleichweg nicht an und behandelte solche „Libellatici" als Abgefallene, wenn auch als geringer belastete*. Aber es fehlte nicht an Standhaften, welche alle Bedrückungen, Gefängnis und Folter aushielten und die Märtyrerkrone errangen. Es bleibt erstaunlich, daß wir kaum sichere Märtyrerakten aus der Decianischen Verfolgung besitzen: die Akten des Pionius stehen da in einsamer Größe: nicht einmal der Bericht über das Martyrium des römischen Bischofs Fabian, der Cyprian zugesandt wurde*, ist uns erhalten. So müssen wir uns mit unvollkommenen Mitteilungen begnügen. Die Ruhmesgeschichte zahlreicher ägyptischer Glaubenshelden erzählt Bischof Dionys in seinem Brief an Fabius von Antiochia*. Die Akten des Pionius von Smyrna knüpfen mit ihrer anschaulichen Schilderung bewußt an die Tradition des Polykarpmartyriums an und lehren uns auch noch einen mar') Cyprian epist. 59, 10. 65, 1. 67, 1. Mart. Pionii 15, 2. 18, 12—13. *) Cyprian de lapsis 8. 11. 13 Dionys, bei Euseb KG 6, 41, 11—13. 42, 2—4. Gregor Nyssen. vita S. Gregorii Thaum. (op. 3, 569 auch bei Preuschen Analecta* 1, 61). *) Cyprian epist. 55,14. 30, 3. de lapsis 27. *) Cyprian epist. 9, 1. 5 ) Erhalten bei Euseb KG 6, 41, 1—42, 6. vgl. 7, 11, 20—25.

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cionitischen Presbyter Metrodorus als Märtyrer kennen. Uber die Verfolgung im Pontus haben wir nur recht allgemeine Angaben1, und die Ereignisse in Rom und Carthago sind nur in großen Umrissen und gelegentlichen Einzelheiten aus den Briefen Cyprians zu erschließen1. Mehrfach hören wir,daß eingekerkerte Christennichtgetötet,sondern endlichlosgelassen wurden, und in demBerichtüber dieFolterungendesgroßenLehrersOrigenes betont Eusebius ausdrücklich, daß man sich bemüht habe, ihn nicht zu töten*. Das stimmt zu der Gesamttendenz dieser Verfolgung, die auf innere, nicht äußere Vernichtung ausging. Ein Jahr lang hat dieser gewaltige Feldzug gegen das Christentum gedauert: dann war es klar, daß er nicht mit einem Sieg enden konnte. Ende März 251 kehrt Cyprian aus seinem Asyl wieder nach Carthago zurück. Um dieselbe Zeit wurde der verwaiste römische Bischofsstuhl mit Cornelius besetzt, und der an der Gotenfront kämpfende Kaiser konnte es nicht hindern 4 . Als er zu Beginn des Juni in unglücklicher Schlacht den Tod fand, endete die Verfolgung von selbst, und Cyprian konnte von göttlicher Vergeltung reden, die mit dem Frieden die Sicherheit wiedergebracht habe5. Wäre die urchristliche Unbedingtheit noch herrschend gewesen, so würde der Staat wenigstens eine gewaltige Verringerung der Christenzahl als Erfolg gebucht haben. Aber auch diesen Vorteil schlug ihm die Kirche aus der Hand, indem sie anerkannte, daß Bekennermut in Todesgefahr eine besondere und deshalb hoch zu preisende Leistung sei, die aber eben darum nicht von jedermann betätigt werden könne. Man entschloß sich, der Schwachheit des Fleisches Rechnung zu tragen und den Gefallenen die Möglichkeit der Wiederaufnahme in die kirchliche Gemeinschaft zu eröffnen, wobei eine billige Berücksichtigung der Schwere des Einzelfalles zugesagt wurde. Diese Haltung blieb, wie wir noch sehen werden, nicht unwiderspro') bei Gregor Nyss. vita S. Greg. Thaumat. (opera 3, 567). *) Vgl. Cyprian epist. 22. 40. «) Euseb KG 6, 41, 20. Cyprian epist. 13, 4. 6. 14, 2. 21, 4. 39, 1—2. Acta Achatii 5, 6. Euseb KG 6, 39, 5. «) Cyprian epist. 55. 6. 8—9. Harnack Chronologie 2, 351. ,') Cyprian de lapsis 1. vgl. ad Demetr. 17.

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Verfolgungen unter Decius und Valerian

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chen, aber sie setzte sich durch und hatte den Erfolg, daß im allgemeinen bald nach 251 alles wieder so war wie vorher, nur daß die Kirche durch die heroischen Beispiele tapferen Martyriums und den endlich doch errungenen Sieg in ihrem Selbstbewußtsein mächtig gestärkt war. Daran änderten die in der nächsten Folgezeit mehrfach wieder aufflackernden Verfolgungsversuche nichts, die sich sämtlich als schwache Nachahmungen des Decianischen Vorbildes darstellen. Gallus erneuerte das Opferedikt und schickte eine Anzahl Kleriker in die Verbannung, darunter auch den Bischof Cornelius von Rom1, der dann 253 im Exil starb. Ob die neu ausbrechende Pest den Anstoß zu dieser lahmen Aktion gegeben hat, muß dahingestellt bleiben: daß man den Christen auch jetzt noch die Schuld an solchen Katastrophen zuschob, wird uns ausdrücklich bezeugt*: war übrigens noch anderthalb Jahrhundert später üblich. Kaiser Valerian war den Christen durchaus wohlgesinnt und duldete sie auch am Hof und in seiner nächsten Umgebung, bis die steigende Not des Reiches ihm das klare Urteil trübte. Als sein bester General Macrianus' Maßregeln gegen die Christen verlangte, die durch ihre Gebete die Wirkung seiner magischen Beschwörungen zu verhindern schienen, gab er nach4 und erließ im Sommer 257 ein Edikt, welches den Christen befahl, wenn sie schon die Staatsreligion nicht annehmen wollten, wenigstens die römischen Zeremonien mitzumachen — die Formulierung sollte wohl ein Entgegenkommen bedeuten. Zusammenkünfte der Gemeinden und insbesondere das Betreten der Katakomben, in denen man bisher in Verfolgungszeiten Unterschlupf gefunden hatte, wurden verboten. Und auch jetzt waren die Kleriker ausdrücklich als die entscheidend wichtigen Personen bezeichnet', auf die sich die Aufmerksamkeit der Behörden zu richten habe. ') Cyprian epist. 60, 1. 61, 3. Euseb KG 7, 1. Catal. Liberianus Chron. min. 1, 75. *) Cyprian ad Demetr. 3. de mortal. 1. 8.17. ') Proeopogr. imp. Rom. 2, 95 n. 374. Stein in Pauly-Wissowa 7, 259—262. «) Dionys. Alex, bei Euseb KG 7,10, 3—4. ») Acte Cypriani 1,1. 5—8. vgl. Acta Dionysii bei Euseb KG 7. 11, 7. 10.

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6. Das Christentum und die Welt

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Daraufhin wurde Dionys von Alexandria nebst einem seiner Presbyter und drei Diakonen an einen Ort in Libyen deportiert und Cyprian am 30. August 257 zur Verbannung in das nahe Küstenstädtchen Curubis verurteilt. Aber nach einiger Zeit wurde die Regierung strenger. Dionys kam an einen einsamen Ort, der doch näher bei Alexandria lag, so daß er seine heimlichen Gottesdienste fortsetzen konnte. Cyprian aber wurde heimberufen und am 14. September 258 enthauptet. Kurz vorher, am 6. August, war Bischof Xystus von Rom samt vier Diakonen in einer Katakombe überrascht und getötet worden, vier Tage später folgte ihm sein Archidiakon Laurentius im Tode, und jeder Tag brachte neue Opfer 1 . Das Grab eines in dieser Zeit umgekommenen Märtyrers Novatian ist jüngst gefunden worden*. Diese Verschärfung war die Auswirkung eines neuen Ediktes, welches strengstes Vorgehen gegen Kleriker und, was sehr bezeichnend ist, gegen christliche Senatoren, Ritter und andere Standespersonen vorschrieb; über kaiserliches Hauspersonal aus dem Sklavenstande sollte Zwangsarbeit verhängt werden'. Die Verfolgung hat in Afrika noch eine ganze Reihe Opfer gefordert, über deren Ausgang uns gute Berichte erhalten sind4. Die meisten dieser Märtyrer sind Kleriker aller Grade, aber vereinzelt werden auch Laien hingerichtet. Ein Berichterstatter klagt darüber, daß man absichtlich die festgenommenen Laien von den Klerikern abgesondert habe in der Hoffnung, sie dann leichter zum Abfall bringen zu können". Aus Spanien wird uns der Feuertod des Bischofs Fructuosus von Tarragona und zweier Diakonen gemeldet4, und Euseb verzeichnet drei Märtyrer in Palästina, dazu noch eine Angehörige der Marcionitenkirche7. Inzwischen loderte an mehr als einer Stelle des Westens Empörung der Heere auf, und im Osten drohten die Perser: Valerian ging ihnen mit halber Kraft entgegen und geriet auf ungeklärte Weise in Gefangenschaft, in der er nach einiger *) Cyprian, epist. 80, 1. Sieben Diakone nennt Lib. pontif. 25. ) Rivista di archeologia cristiana 10 (1933), 217. ') Cyprian epist. 80,1. *) Acta Montani et Lucii und Acta Mariani et Jacobi. s ) Acta Marian! et Jacobi 10, 2. ·) Acta Fructuosi (Knopf S. 83).') Euseb KG 7,12. s

1493]

Toleranzedikt des Gallienus

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Zeit starb. Jetzt griff Macrianus — weniger für sich als für seine Söhne — nach der Krone und ließ seine Truppen von Edessa nach Illyrien marschieren, wo Ende 261 das Unternehmen zusammenbrach. Dies allein würde es schon erklären, daß Valerians tatkräftiger und bewährter Sohn, Mitregent und Nachfolger Gallienus der von Macrianus angeregten Christenverfolgung ein Ende machte. Er hob sofort die Anordnungen seines Vaters auf und erließ eine Art Toleranzedikt 1 , in welchem den Christen der Gebrauch ihrer gottesdienstlichen Räume einschließlich der Friedhöfe wieder gestattet und Befehl gegeben wurde, sie „nicht zu belästigen". Das war mehr, als irgend ein Kaiser bisher je zugestanden hatte, denn es Schloß eine versteckte Anerkennung des Christentums als einer erlaubten Religionsgemeinschaft in sich. Die Zeit der künstlich aufrecht erhaltenen Gleichgültigkeit war vorüber: der Staat mußte jetzt deutlich Nein oder Ja zum Christentum sagen, denn es war eine Großmacht, die in zwei blutigen Verfolgungen noch stärker geworden war als vorher. Die Entscheidung des Gallienus war ein kleinlautes Ja und bedeutete einen Sieg der Christen. ») Euseb K.G 7, 13.

Die Apologeten Wir haben gesehen, daß der Staat sich den Christen gegenüber nicht auf rechtliche Diskussionen einließ, und von literarischer Erörterung des christlichen Problems oder gelehrter Bestreitung ihrer Lehren ist lange Zeit hindurch ebensowenig die Rede. Das Urteil über sie stand in der öffentlichen Meinung so unbedingt fest, daß man sich nicht die Mühe nahm, es näher zu begründen. Ob Tacitus oder Sueton, Plinius oder Fronto, Epiktet oder Mark Aurel, Lukian oder der Arzt Galen sie erwähnen 1 — immer geschieht es nur nebenbei und immer im Tone der Verachtung, an dem auch die Anerkennung ihres Todesmutes nichts ändert. Aber daß es im mündlichen Verkehr mancherlei Auseinandersetzungen gegeben hat, versteht sich von selbst, und es hat sich mit der Zeit eine Summe antichristlicher Gemeinplätze gebildet*. Auch die Verfolgungen sind zweifellos nicht ohne rhetorische Begleitfanfaren vor sich gegangen. Mögen die in den Akten überlieferten Reden der Märtyrer vor ihren Richtern auch meistens stilisierte Einlagen sein: es wird nicht selten wirklich eine Wechselrede mit leidenschaftlicher Anklage und nicht minder scharfer Verteidigung die Stelle der bürokratischen Formeln vertreten haben. Und vereinzelt hören wir auch von einem kynischen Philosophen*·, dem die Bekämpfung christlicher Predigt ein besonderes Anliegen war. Der erste, von dem wir eine regelrechte Streitschrift gegen die Christen kennenlernen, ist Celsus. Er mag in den letzten Jahren Mark Aurels geschrieben haben, ist uns aber im übrigen seinen Lebensumständen nach ebenso unbekannt wie seinem großen Gegner Origenes, dessen Werk l

) Tacitus Ann. 15, 44. Sueton Nero 16. Plinius epist. ad Traian. 96.97. Fronto bei Minucius Felix Oct. 9,6.31,2. Epictet 4,7,6. M. Aurel 11,3. Lucian de morte Peregrini 11—16. Pseudomantis 25. 38. Galen, de puls. diff. 2,4.3,3 (8,579.657ed.Kühn). «) Geffcken Zwei griech. Apologeten 240f. *) Crescens in Rom vgl. Justin apol. app. 3 und Tatian 19.

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Kritik am Christentum. Celsus

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uns jene Schrift aufbewahrt hat 1 . Celsus hat sich wirklich um Kenntnis des Christentums bemüht, kennt die Bibel und weiß über Kirchenlehre und Beweisgründe der Christen Bescheid, ja er setzt sich bereits mit literarischen Verteidigern des Christentums auseinander. Er zeigt am deutlichsten, welch geschlossener Front von Gegnerschaft die Christen gegenüberstanden. Auch wenn man die bereits früher erwähnten Greuelmärchen beiseite ließ, gab es der Angriffspunkte genug und übergenug. Man sah die Christen nun einmal in der gleichen Linie wie die verachteten Juden und höhnte über die Streitigkeiten zwischen diesen beiden Gruppen, die doch alles Wesentliche, insbesondere den lächerlichen Messiasglauben, gemeinsam hatten und sich eines besonderen Verhältnisses zu Gott rühmten, während sie doch in Wirklichkeit nur als übles Geschmeiß anzusehen seien, einer Schar von Fledermäusen, Ameisen, Fröschen oder Würmern vergleichbar*. Ihre gemeinsam anerkannte Autorität ist Moses, der sein Wissen von den Weisen der Vorzeit entlehnt hat und seinem Volk den Glauben an einen Gott zusammen mit Engelkult und Zauberei bescherte1. Und in seine Fußtapfen ist Jesus getreten: denn auch er war ein betrügerischer Zauberer, und seine angeblichen Wunder entsprechen dem, was noch heute die Gaukler auf dem Markte produzieren — freilich ohne sich deswegen als Söhne Gottes auszugeben4. Die von Moses berichteten Geschichten der Urzeit und der Patriarchen sind so töricht und schändlich, daß die anständigen Juden und Christen sich ihrer schämen und sie durch allegorische Erklärung unschädlich zu machen versuchen — freilich ohne Erfolg5. Es ist ein und derselbe Gott, den Juden und Christen verehren', aber er ist menschlichen Leidenschaften unterworfen, zürnt und droht, und ist schließlich nicht mächtig genug, seinem leidenden Sohn zu helfen oder seinen Tod zu rächen 7 . Er kann auch sein aus») Wiederherstellung von O. Glöckner Kl. Texte 151. *) Cels. bei Orig. 3,1. 5. 4, 2. 22. 23. 6, 50. ») Cels. bei Orig. 1, 17—26. 4) Cels. bei Orig. 1, 6. 26. 68. 2, 7. 32. Justin apol 1, 30. ») Cels. bei Orig. 4, 36—51. vgl. 1, 18. ·) Cels. bei Orig. 5, 59. T) Cels. bei Orig. 4, 72. 1, 54. 2, 34.

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7. Die Apologeten

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erwähltes Volk Israel nicht davon schützen, daß es in alle Welt zerstreut wird, so wenig er die Christen an allen Orten vor blutiger Verfolgung zu bewahren imstande ist1. Immerhin mag man den Juden ihre angestammte Volksreligion zubilligen: verwerflich sind auf jeden Fall die Proselyten, die sich unter Nichtachtung ihrer eigenen Weise ihnen anschließen, und vollends die Christen, die sich von den Juden abgezweigt haben und nun wurzellos und ohne volksmäßige Tradition in der Welt stehen. Sie jagen dem aberwitzigen Trugbild einer Weltreligion nach, die alle Völker von Europa, Asien und Afrika unter einem Gesetz vereinigen soll*! Zwecklos und undenkbar ist ihre Lehre von der Menschwerdung Gottes, die dem unwandelbaren Wesen eine Wandlung zum Minderen zuschreibt*. Und von der wunderbaren Geburt des Gottessohnes Jesus aus einer Jungfrau erzählen sie Fabeln, um die Tatsache zu verhüllen, daß ihn eine von dem Soldaten Panthera verführte Ehebrecherin geboren hat. Auch was sonst von seiner Taufe, den Weisen aus dem Morgenland, der Flucht nach Ägypten und seinen Wundern berichtet wird, ist ebenso unglaubwürdig wie seine in verdächtiger Heimlichkeit erfolgte Auferstehung 4 . Vielmehr beweist seine niedere Herkunft und sein schmählicher Tod zur Genüge, daß er kein Gottessohn, sondern ein Betrüger war, der am Kreuz die gebührende Strafe erlitt 5 . Kein Wunder also, daß seine Anhänger von menschlicher Weisheit nichts wissen wollen und sie für Torheit bei Gott erklären, daß sie immer nur Glauben und nochmals Glauben als Vorbedingung des Heils verlangen: ihr Werben gilt ja auch nur den Ungebildeten und Einfältigen. Was sie darüber hinaus an Gutem und Verständigem bringen, haben sie den Griechen entlehnt, freilich auch zumeist verdreht*. Ihre gesamte Lebenshaltung ist widerspruchsvoll und sinnlos, und Cels. bei Orig. 8, 69. vgl. 39. Justin app. 5,1. Minuc. Octav. 12,2. ) Cels. bei Orig. 5, 25. 41. 51. 33.8,72. *) Cels. bei Orig. 4,3.14. vgl. 6, 69. 72. «) Cels. bei Orig. 1, 28. 41. 58. 62. 68. 2, 55. 63. 70. ») Cels. bei Orig. 1, 69. 70. 71. 2, 5. 6, 74. ·) Cels. bei Orig. 1, 9. 6, 11.12.15.16. 19, vgl. 2, 5. l

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Celsus. Die ersten Apologeten. Quadratus

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das Beste wäre schon, wenn sie aus ihrer lebensfeindlichen Haltung die letzte Folgerung zögen und schlechthin aus der Welt gingen, ohne irgendwelche Nachkommenschaft zu hinterlassen, damit eine solche Gesellschaft völlig vom Erdboden verschwände1. Das war der geistige Hintergrund der Christenverfolgungen. So empfanden die johlenden Massen, die zur Christenhetze aufriefen und in der Arena ihre gierigen Augen mit Märtyrerblut sättigten; so dachten die gebildeten Kreise, so die hohen Beamten, die auf dem Tribunal ihre Todesurteile fällten. Es war ein kühnes und schwieriges Unterfangen, gegen eine solche feststehende Weltmeinung anzukämpfen, und doch war der Appell an die öffentliche Meinung, die Umstimmung der Gebildeten und in letzter Instanz des Kaisers das einzige Mittel, durch das sich eine Besserung der Lage erhoffen ließ. Und so haben sich denn seit der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts christliche Schriftsteller an diese schwere Aufgabe gewagt Seit ein sonst unbekannter Quadratus* an Kaiser Hadrian eine Verteidigungsschrift für die Christen richtete, sind immer aufs neue wieder Apologien verfaßt und den Herrschern gewidmet worden. Ob jemals eine dieser Flugschriften wirklich das kaiserliche Kabinett erreicht hat oder gar in die Hände des Herrn gelangt ist, muß dahingestellt bleiben und ist wohl mehr als fraglich. Klar ist aber, daß man versucht hat, diese Werke in den Kreisen der Gebildeten zu verbreiten, sie also in die üblichen Kanäle des Buchhandels zu leiten — und da ist der Erfolg augenscheinlich ausgeblieben*. Aber wenn auch der nächste Zweck nicht erreicht wurde, so ist doch das ganze Unternehmen von größter Bedeutung für die Entwicklung des Christentums geworden. Denn es trat nun mit vollem Bewußtsein aus der Enge der Weltabgeschlossenheit hervor und breitete seine Schätze vor den Trägern der römischen Reichekultur aus. Und es gab sich alle Mühe ») Cels. bei Orig. 8, 55. Justin app. 4, 1. Minuc. Oct. 9,1. Tertullian ScapuL 5. *) Euseb KG 4, 3.1—2. ·) Tertullian test. anim. 1 (p. 135, 10 Wissowa).

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7. Die Apologeten

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zu zeigen, daß die neue Religion mit den anerkennenswerten Idealen dieser Kultur, vor allem mit den besten Errungenschaften seiner Philosophie, nicht in unlöslichem Widerspruch stehe, sondern weithin übereinstimme, und letztlich vollende und zur gelebten Wirklichkeit bringe, was dort nur als Anfang und theoretische Konstruktion erscheine. Dabei wurden geschickt die Strömungen verwertet, die, aus pythagoreischen und platonischen Quellen fließend, eine Überwindung des zur Skepsis erstarrten Intellektualismus durch mystische Spekulation bewirkten und dem Neuplatonismus als der abschließenden Philosophie der Antike zustrebten. Die Apologeten wollten mit ihren Schriften in die Weltliteratur eintreten. Es ist kein Wunder, daß ihnen das nicht gleich gelang. Aber sie sind unverdrossen den Weg weitergegangen und haben die Voraussetzungen geschaffen, unter denen kaum ein Jahrhundert später ein Mann wie Origenes als Apologet und Systematiker des Christentums gleichwertig mit dem Neuplatoniker Plotin erscheinen und die höchste Bildung seines Zeitalters in seiner Person darstellen konnte. Die Apologeten haben den letzten und entscheidenden Schritt zur Eroberung der Welt durch das Christentum getan: sie haben den Geist griechischer Wissenschaft für die Botschaft der Kirche gewonnen. Die älteste uns erhaltene Apologie trägt den Namen eines Aristides aus Athen und mag um 140 entstanden sein: sie ist dem Kaiser Antoninus Pius gewidmet. Wir können sie aus einer syrischen Übersetzung, armenischen Resten und griechischen Auszügen leidlich wiederherstellen*. Da bringt ein Mann von bescheidenster Bildung eine billige Gelehrsamkeit zusammen, um zu beweisen, daß die alten Kulturvölker der Chaldäer, der Griechen und der Ägypter keine rechte Gotteserkenntnis haben, daß die Juden den Monotheismus und ihre gute Sittenlehre durch Engelkult und allerlei Ritualien verderben, und daß allein die Christen die Wahrheit besitzen und nach ihren Geboten leben. Das alles wird in unbeholfener Sprache mit primi') J. Geffcken Zwei griech. Apologeten S. 3—27. Goodspeed Apologeten S. 3—23.

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Ans tides

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tiver Disposition vorgetragen und kann einem gebildeten Leser der Zeit wenig Eindruck gemacht haben. Aber sehen wir den Inhalt an. Aristides beginnt mit dem Hinweis darauf, daß der staunende Einblick in die wunderbare Ordnung der Welt ihn Gott als den Beweger des Alls kennen gelehrt habe, und was er weiter in negativen Formeln über Gott sagt, ist in den Hallen der Stoa bekannt und auch bei den Vertretern des philosophischen Judentums zu finden1. Aber dann stellt sich der Gegensatz ein: die Christen allein, das „dritte Geschlecht" in der Welt, haben die Wahrheit, die beiden andern Geschlechter, Juden und Heiden gehen irre. Die Heiden fehlen durch Anbetung des Geschaffenen statt des Schöpfers und durch ihren unmoralischen Polytheismus. Hier arbeitet der Verfasser mit Material, das bereits zu gleichem Zweck von. der jüdischen Apologetik zusammengestellt war und teils den Predigten alttestamentlicher Propheten, teils den antireligiösen Reden der Skeptiker und Epikuräer entstammt. Aber beide Quellen fließen in der gleichen Richtung, und die ganze Argumentation könnte in der Zeit Ciceros schon fast ebenso gelautet haben. Diese Diskussionen über den Unwert des Polytheismus sind rein akademische Deklamationen, die mit der lebendigen Religiosität der Gegenwart nichts zu tun haben und einen längst verstorbenen Gegner noch einmal totschlagen. Wenn man damit jetzt noch Eindruck machen wollte, mußte man sie etwa in Lukians Manier pikant zubereiten: das Thema an sich war langweilig. Wir bemerken im übrigen, daß von eigentlich Christlichem bisher kein Wort zu spüren ist, und auch die Ablehnung des jüdischen Ritualismus und Engeldienstes erfolgt ohne besondere Begründung. Erst am Ende setzt die positive Empfehlung des Christentums ein. Da wird nicht diskutiert, widerlegt oder bewiesen, sondern einfach erzählt. Die Christen stammen von Jesus Christus: der war als Gottes Sohn vom Himmel herabgekommen und hat von einer Jungfrau Fleisch angenommen. Als Verkünder seiner Lehre wählte er zwölf Jünger aus, die ») Vgl. GeffckenS. 31—41.

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7. Die Apologeten

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nach seinem Tod und seiner Auferstehung in der ganzen Welt die Wahrheit ausbreiteten, daß es nämlich gelte, nur den Weltschöpfer anzubeten und die Gebote Christi zu erfüllen. Wer das tut, wird nach der Auferstehung der Toten ewiges Leben gewinnen. Was dann als das Wesentliche der Gebote Christi mitgeteilt wird, entspricht der Katechismuslehre, die wir aus Didache und Barnabasbrief, Diognetbrief und anderen Apologeten kennen. Der Leser wird mehrfach ermuntert, sich aus den heiligen Schriften selbst zu unterrichten und mit der Versicherung entlassen, daß der Bestand der Welt nur den Gebeten der Christen zu verdanken sei: also möge sich der Heide rechtzeitig bekehren, ehe das Endgericht kommt. Wir haben in diesem Früherzeugnis der Apologetik ihre Elemente gewissermaßen im Rohzustand vor uns: unbearbeitet, unverbunden und ohne geistige Durchdringung werden sie dem Leser vorgesetzt. Kein Wunder, daß sie ihm nicht munden. Nur ein Jahrzehnt später schreibt der Palästinenser Justin in Rom seine Apologie an Antoninus Pius und seinen philosophischen Sohn Mark Aurel. Nach einem weiteren Jahrzehnt läßt er dieser Flugschrift ein breit ausgeführtes Religionsgespräch mit einem Juden namens Tryphon folgen. Ein Meister des Stils und der Stoffanordnung ist auch Justin nicht, aber doch ein redegewandter Mann und als „Philosoph" so gut gebildet wie viele seiner Zeitgenossen. Und daß er mit diesen Eigenschaften Christ geworden ist und im Christentum die echte Philosophie findet, gibt ihm seine wahre Bedeutung und macht ihn zum apologetischen Klassiker. Die traditionelle Polemik gegen den Polytheismus und seine Mythen finden wir auch bei ihm, aus den bekannten Quellen geschöpft. Aber all diese Dinge treten in ein neues Licht, weil Glaube, Mythos und Kult des Heidentums als trügerische Erfindung der Dämonen erscheint. Waren schon bei Paulus1 die Dämonen Empfänger heidnischer Opfer, so ist hier unter dem Einfluß des neuerwachenden Piatonismus diesen Mittelwesen zwischen Gott und Welt ein breites Wirkungsfeld eingeräumt. ») 1. Kor. 10. 20 f.

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Justin: Dämonenlehre. Weiseagungsbeweis

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Dem Plutarch sind sie bereits Vermittler zwischen Göttern und Menschen, und ihre Stimme ist es, die in den Orakeln klingt. Bei Justin gelten sie im gesamten Ablauf der Geschichte als die eigensüchtigen Gegner der göttlichen Wahrheit, als die Schöpfer von Lug und Trug und allerlei Blendwerk, das mit reizendem Gaukelspiel die Sinne der Menschen befriedigen soll. Gott hat durch die Propheten Weissagungen ausgehen lassen: in seltsamen Mythen und Kulten haben die Dämonen im Bunde mit den menschlichen Leidenschaften deren Erfüllung vorgetäuscht, um der echten Offenbarung Gottes ihre Beweiskraft zu nehmen. Aber jetzt ist ihr falsches Spiel entdeckt und die Wahrheit durch Christi Erscheinung klar zutage getreten. Uber ein Jahrtausend zuvor sind alle Einzelheiten der Heilsgeschichte, des Lebens und Leidens, der Auferstehung und Himmelfahrt Christi bis hin zur Zerstörung Jerusalems geweissagt: pünktlich sind sie alle zu ihrer Zeit erfüllt, und die Gewißheit dieser Erkenntnis macht uns auch das Eintreffen der noch ausstehenden Prophezeiungen von Christi Wiederkunft und dem Endgericht unzweifelhaft 1 . Das ist ein ganz rationaler Beweis für die Wahrheit des Christentums: er ist von dieser Grundlage aus in die Kirchenlehre und orthodoxe Apologetik übergegangen und wirkt bis auf den heutigen Tag. Und auf diesem Wege beweist Justin noch mehr. Erst diese Erfüllung von Weissagungen gibt uns die Gewähr für die Glaubwürdigkeit der Selbstaussagen Christi, die ihn als erstgeborenen Sohn Gottes erkennen lassen1. Was heißt das? Den kurzen Andeutungen der Apologie hat Justin in seinem Dialog genauere Aussagen folgen lassen. Gott ist ihm wie dem Aristides — und ebenso den übrigen Apologeten — die letzte Ursache der Welt und ein überweltliches Wesen, ewig unveränderlich und nur dem Auge der Vernunft erkennbar*. Kein Name nennt ihn recht, denn nur von seinen Wirkungen her vermögen wir über ihn preisend zu reden4. Kein Raum, auch nicht die ganze Welt, umfaßt ihn, der vor aller Welt war: ») Justin apoL 31—53. *) Justin apol. 53, 2. *) Justin dial. 3, 4. 7. *) apol. 10,1. 2 app. 6,1. 2.

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7. Die Apologeten

unausdenkbar ist die Vorstellung, er könne je die Kluft überschreiten, auf Erden sichtbar wenden und zu Menschen reden1. Er ist jenseits aller Wesenheit, wie Plato sagt, und Justin stimmt ihm zu und lobt die Philosophie*. Dieser „unnennbare Vater und Herr des Alls" ließ „am Anfang" und vor allem Geschaffenen eine Kraft aus sich hervorgehen, die wir den „Logos", das „Wort" Gottes nennen, da sie Gottes Botschaft den Menschen gebracht hat 1 . Und nun nutzt Justin den Doppelsinn des Griechischen aus, da ihm „Logos" sowohl „Wort" wie „Vernunft" bedeutet. So wie der Logos eines Menschen als „Vernunft" oder „Gedanke" erst in ihm ist und dann als gesprochenes „Wort" aus ihm hervorgeht, ohne daß der Mensch dadurch eine Verringerung seines inneren Logos, nämlich seiner Vernunft, erleidet, so ist auch Gottes Logos, der von Ewigkeit bei ihm ist — also seine Vernunft — nicht gemindert worden, als er den Logos aus sich hervorgehen ließ. Vielmehr war es, als ob ein Feuer an einem andern sich entzündet, ohne daß dieses dadurch kleiner wird. Diesen Vorgang bezeichnet Justin als die Zeugung des Sohnes Gottes: und da dieser Sohn nunmehr als selbständige Persönlichkeit aus Gott dem Vater herausgetreten ist, dürfen wir von ihm als einem „zweiten Gott" reden, obwohl weder Gottes Wesenheit geteilt, noch sein Ratschluß und Wille von ihm getrennt wurde*. Dieser Logos ist uns nun in den heiligen Schriften faßbar als der Sohn, der vor allem Geschaffenen erzeugt wurde. Zu ihm sprach bei der Weltschöpfung der Vater „lasset uns Menschen machen", er ist die „göttliche Weisheit", die als Beginn der Wege Gottes in den Sprüchen Salomos 8, 22 erscheint', und „durch ihn" hat Gott die Welt geschaffen und geordnet*: so ist er der Mittler zwischen der Unnahbarkeit des Vaters und der Bedürftigkeit der Welt. Er erschien den Menschen zuweilen sichtbar, und das Alte Testament nennt ihn oft den „Engel des Herrn" oder auch „den Herrn", der sich den Got») dial. 127. s ) dial. 4, 1 (vgl. Plato republ. 6 p. 509 b). apol. app. 13, 2. ») dial. 127, 2—4. 128, 1—2. vgl. 61, 1. «) dial. 61, 2. 128, 4. 56, 11. 5) Justin dial. 62.129, 3. ·) apol. app. 6, 3.

im

Justin: Logoslehre

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tesmännera im Wort, im Feuer, in Zeichen und Wundern offenbart, den wenige zu schauen gewürdigt werden 1 . Er redet durch die Propheten belehrend, mahnend und warnend, aber auch außerhalb des israelitischen Volkes ist seine Wirkung unverkennbar — wie denn schon die stoische Schule von einem in der ganzen Menschheit ausgestreuten „Samen des Logos" spricht. Wer nun diese Samenkörner in seiner Seele hat aufgehen lassen und nach den Weisungen des Logos gelebt hat, den rechnen wir Christen zu den Unsrigen: also Männer wie Heraklit, Sokrates und in jüngster Zeit den Stoiker Musonios. Aber die Welt hat sie ebenso wie uns als Gottesleugner gescholten, und die neidischen Dämonen haben sie dem Haß der Menge preisgegeben und das Todesurteil über sie verhängt*. Die letzte und entscheidende Offenbarung geschah aber dadurch, daß der Logos in seiner ganzen Fülle' selbst auf die Erde kam und Mensch wurde, so wie er es durch den Mund der Propheten voraus verkündet hatte. Und zum Zeichen, daß hier eine große Gottestat sich vollziehe, ließ er sich auf wunderbare Weise von einer Jungfrau geboren werden — wie er es viele Jahrhunderte zuvor durch Jesaias (7, 14) geweissagt hatte — und beglaubigte seine Sendung durch Heilungen und Totenerweckungen 4 . Seine Erscheinung rief nun freilich alle Dämonen auf den Plan: sie stritten wider ihn nach ihren Kräften und brachten ihn ans Kreuz; er aber erstand von den Toten und fuhr auf gen Himmel. Auch das hat der Logos in allen Einzelheiten vorausgesagt". Und wozu das alles? Weil Gott die Menschen zu sich ziehen will. Um ihretwillen hat er ja überhaupt nur die Welt geschaffen, damit sie sich durch würdigen Wandel in allen Tugenden zu ihm emporschwingen und frei von Leid und Vergänglichkeit an seiner Herrschaft teilhaben möchten*. Diesen Weg zu Gott hat der Logos unermüdlich gewiesen und ihn endlich durch sein persönliches Erscheinen der Menschheit ») dial. 61. 1. 128, 1. 2. ') apol. 46, 1 - 4 . app. 8,1—3. vgl. 10, 4 - 5 . *) apol. app. 8, 3.10,1. *) dial. 43, 3—8. 66-71. 84.1—2. apol. 33. 2.48. ') apol. 35—38. 45. dial. 86—97. ·) apol. 10, 2.

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7. Die Apologeten

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am eindringlichsten ans Herz gelegt. Er ist der »neue Gesetzgeber" geworden, aber dies „neue, ewige und endgültige" Gesetz ist das alte und von den Weisen längst erkannte der vernunftgemäßen Tugend1, dem die Menschen in voller Freiheit der Willensentscheidung folgen müssen, wenn sie gerettet werden wollen. Die Menschwerdung des Logos hat die Wahrheit in hellstem Licht vor ihnen aufleuchten lassen, und zum Zeichen dessen scheucht der Name des gekreuzigten Jesus Christus auch jetzt noch alle bösen Geister*: wer nun noch die Augen verschließt und blind dem Trug der Dämonen erliegt, wird im ewigen Feuer die Folgen gerechterweise tragen müssen*. Xenophons Fabel von Heiakies am Scheidewege gilt auch für die Lebensentscheidung gegenüber dem Christentum4. Bis hierhin reicht die „christliche Philosophie" des Justin — aber nicht weiter. Dies Christentum ist wirklich eine philosophische Konstruktion aus bekannten Elementen. Der Gottesbegriff ist der Popularphilosophie entlehnt und entspricht selbst in den Ausdrucksformen dem, was wir schon im ersten Jahrhundert bei religiös empfindenden Stoikern hören können*. Die Dämonenlehre ist, wie bereits gesagt, dem neuerwachenden Piatonismus zu verdanken6 und hat bei Justin nur eine zweckentsprechende Einordnung in die apologetische Linie erfahren: diese Mittelwesen dienen jetzt der Erklärung des heidnischen Kultlebens und werden gleichzeitig nach jüdischen Mustern7 den Engeln und Teufeln der Bibel gleichgesetzt. Jesus Christus ist schon vom Johannesevangelium als der Logos Gottes bezeichnet worden. Aber während dort diese Gleichung die historische Bedingtheit des Lebens Jesu aufheben und es zu ewiger Gültigkeit verklären soll, ist bei Justin eine fast entgegengesetzte Tendenz zu vermerken. Die Autorität der Lehren Christi soll auf diesem Wege unabweisbar gemacht und der verstandesmäßigen Nachprüfung einleuchtend i) dial. 18, 3. 11, 2. 43, 1. apol. 23, 1—2. 14, 2—16, 14. dial. 23, 1. 30,1. 93, 1—3. *) dial. 30, 3. 76, 6. 85. 2. *) apol. app. 7,1—9. *) apol. app. 11, 3—8. «) s. Bd. 1, 179—183. ·) Geffcken Zwei Apologeten 219 f. ^ s. Handb. zu 1. Kor. 10, 20. Über Philo a. Bd. 1, 92.

Justin: Logos und Dämonen

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gestaltet werden. Und wenn schon Jesus die fleischgewordene göttliche Vernunft war, so muß schließlich alles wahrhaft Vernünftige auf dieser Erde dem Christentum zufallen. Und der Schlußbeweis für die Gleichsetzung Jesu Christi mit dem Logos wird in nüchternstem Rationalismus durch Bezugnahme auf die erfüllten Weissagungen geliefert. Die Folge davon ist der gar nicht wegzudisputierende Eindruck, daß Leben und Tod Jesu nicht mit innerer Notwendigkeit und tieferem Sinn ihren Ablauf genommen haben, sondern aus dem rein äußerlichen Grunde, weil sie einmal so geweissagt worden waren, so und nicht anders Wirklichkeit geworden sind. Von einer „Hcilsbedeutung" des Todes oder einem „Werk Jesu" kann nicht die Rede sein, und die „Erlösung" besteht praktisch in der Mitteilung der philosophisch korrekten Gotteserkenntnis und Tugendlehre — die nun jeder nach freier Selbstverantwortung annehmen oder ablehnen kann. Hätten die Menschen den Trug der Dämonen rechtzeitig durchschaut und die von den Propheten und den guten Philosophen gepredigten Lehren des Logos besser beherzigt, so wäre die ganze Jesustragödie nicht nötig gewesen. Die Logoslehre selbst ist aus den uns bekannten Wurzeln erwachsen, die sich in jüdisches und hellenisches Erdreich herabsenken und uns nur in unauflöslicher Verschlingung sichtbar sind. Es finden sich Berührungen mit stoischen und mit platonisierenden Gedankengängen, und auch bei Philo 1 sind lehrreiche Parallelen festzustellen — ohne daß wir zu der Annahme berechtigt wären, Justin habe den Philo je in der Hand gehabt. Aber auf welchen Einzelwegen auch immer diese Lehre in die Werkstatt Justins eingedrungen sein mag, und wie fremdartig sie auch den alten christlichen Vorstellungen gegenüber erscheint: sie ist durch ihn und seine Kampfgenossen in die spekulative Theologie eingeführt und hat sich sofort und für Jahrhunderte siegreich auf den Thron gesetzt. Wenn man nun nach alledem erwartet, daß die Frömmigkeit der Apologeten sich in Moralismus erschöpft und ihr ») s. Bd. 1. 91 f.

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7. Die Apologeten

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Christentum eine philosophische Aufklärungsreligion darstellt, die mit dem philosophierenden Judentum der gebildeten Proselyten gleichgesetzt werden dürfte, so werden wir durchaus enttäuscht. Justin schildert die christliche Sittenlehre nicht, wie es ein Stoiker tun würde und wie ζ. B. Klemens der Alexandriner es getan hat, als einen Niederschlag vernünftiger Prinzipien, sondern als die Summe der Gebote Jesu, die er nach Stichworten geordnet im Wortlaut aneinanderreiht1. Dabei treten Keuschheit, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Geduld, Sanftmut, Wahrheitsliebe betont hervor. Aristides* geht von den 10 Geboten aus und bewegt sich sachlich in den gleichen Bahnen, ohne Jesusworte zu zitieren: Sorge für Bestattung der Toten fügt er als besonders wichtige Christenpflicht hinzu. Bei den andern Apologeten' treffen wir im wesentlichen das gleiche Bild. Es ist die einfache und nicht durch irgendwelche Theorien umgebogene Gemeindetradition, wie sie uns seit der Didache wohlbekannt ist, die auch bei diesen Männern als Summe der christlichen Lebensregeln angesehen wird. Sie sind der Wirkung dieser Lehren sicher in einer Welt, welche die stoische Ethik zu respektieren gelernt hat. Und sie versäumen nicht, gelegentlich zu betonen 4 , daß die von den Philosophen bloß gepredigten Tugenden bei den Christen wirklich ausgeübt werden, und zwar von den schlichtesten Menschen. Was wir bei der Ethik beobachtet haben, wiederholt sich auf allen andern Gebieten. Justin lebt durchaus in der Lehrtradition der Gemeinde und macht nicht den geringsten Versuch, sie mit seiner „Philosophie" in organische Verbindung zu bringen. Er kann sogar im Anschluß an die Glaubensregel die um jene Zeit schon deutlichere Gestalt gewinnende Trinitätsformel zitieren und vom Glauben an Gott den Schöpfer, an den Sohn Jesus Christus an zweiter und den „prophetischen Geist" an dritter Stelle reden — obwohl doch der Sohn als ') apol. 15—17. *) Aristides apol. 15,4—12. *) Athenagoras suppl. 32—33 resurr. mort. 23. Theophilus ad Autol. 3, 9—15. 4) Justin apol. 16, 8. app. 10, 8. Athenagoras 11. Minucius Felix Octav. 38. Orig. c. Cels. 3, 51. 7, 41. 44.

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Justin: Ethik. Gemeindelehren

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Logos mit dem in den Propheten sich offenbarenden Geist seiner Theorie nach identisch ist. Aber die Trinitätslehre ist ihm hier wichtig, ja er fügt noch den Glauben an die Engel hinein, um den Heiden zu beweisen, wie weit die Christen von einem kahlen Monotheismus, den jene Atheismus schelten, entfernt seien. Und Justin ist nicht der Einzige, der das tut1. Daß diese Trinitätslehre sich mit dem Schema seiner Logostheologie stößt, macht ihm keine Sorgen. Gemeindelehre hören wir auch hindurchklingen, wenn Justin von dem „Mysterium des Kreuzes" redet, durch welches Christus die Menschheit für sich erworben habe, und von der Erlösung der Gläubigen durch sein Blut und seinen Tod 1 ; oder wenn er die Konsekration der Abendmahlselemente durch Anrufung des Logos beschreibt und von der Wandlung spricht, die beim Genuß dieser geweihten Speise unser Fleisch und Blut ergreift*. Auch die Zukunftserwartung samt der Wiederkunft Christi ist ganz nach der biblischen Tradition gestaltet und umfaßt sowohl Auferstehung des Fleisches wie die Hoffnung auf das tausendjährige Reich im neuerstandenen Jerusalem4. In der neutestamentlichen Ausdrucksweise bleibt Justin auch, wenn er mit Vorliebe die „Aphtharsia", die Unverweslichkeit, als lockendes Ziel des Christenlebens bezeichnet'. Sein Schüler Tatian redet ähnlich·. Aber Theophilus bringt die hellenistische Anschauung, wenn er als den Lohn des Christen bezeichnet, daß er „Unsterblichkeit erhält und G o t t w i r d " 7 . Danach streben die griechischen Mystagogen audi*. So sehen wir das Christentum Justins in zwei Hälften auseinanderklaffen. Die eine ist eine philosophische Religion, die griechische Vorstellungen und Begriffe in ein loses biblisches Gewand kleidet und am Ende auf die Selbsterlösung des Menschen durch sittliche Entscheidung hinausläuft; die i) Justin apol. 13, 1—4. 6, 1—2. vgl. Athenagoras suppl. 10. 12. 24. Theophil, ad Autol. 2, 15. *) Justin dial. 134, 5. Ill, 3. ») Justin apol. 66, 2. *) apol. 18—20. 50. 52, 3. dial. 80, 5. 81, 4. *) Justin apoL 10, 3. 13, 2.19, 4. 39, 5. 42, 4. 52, 3. dial. 45, 4. · ) Tatian 7 , 1 . 32,1. *) Theophilus ad Autol. 2, 27. 8 ) Reitzenstein Hellen. Mysterienreligionen* 49. 257. 290 f.

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andere ist der irrationale Gemeindeglaube, in dem sich Jesusworte, Sakramentsmystik und Kirchentum zu einer wirksamen Einheit verbinden. Der j üdisch begründete Moralismus der Frühzeit ist überwunden, die Gnosis liegt abseits, aber auch Paulus und Johannes sind dem Verständnis entrückt Und die Aufgabe einer Vereinigung der beiden Teile ist noch nicht erfaßt. Die apologetische Schriftstellerei ist auch in den nächsten Jahrzehnten weitergegangen. Justins Schüler Tatian ist Syrer von Geburt und betont den Gegensatz seiner Rasse zu den Griechen immer wieder. Er haßt die griechische Sprache und Kultur, obwohl er die Mätzchen ihrer Rhetorik nicht verschmäht, und scheut sich nicht, die Schmutzkübel albernsten Klatsches über Plato und Aristoteles, Heraklit und Empedokles auszuschütten 1 . Ihm ist das Christentum wohl eine Philosphie, aber eben die Philosophie der Barbaren*, die älter ist als alle griechische Weisheit. Hatte Justin für einige platonische Lehren Moses als Quelle bezeichnet®, so geht Tatian weiter und erklärt frischweg die „Weisheit der griechischen Sophisten" als ein durch Mißverstand und Eitelkeit entstelltes Plagiat aus alttestamentlicher Quelle4. Den Beweis dafür liefert er in sehr grobschlächtiger Weise, indem er seitenlang Geschichtstabellen abschreibt und dadurch nachweist, daßMoses vor dem trojanischen Krieg und der griechischen Heroenzeit lebte'. Mit Vorliebe verweilt seine Schrift bei den Dämonen, ihren Eigenschaften und ihrer Wirksamkeit", von der er sich durch Christus erlöst weiß7, während die Logoslehre nur an der durch den Zusammenhang geforderten Stelle und mit einer starken Zurückhaltung gegenüber Justin behandelt wird*. Seine Abneigung gegen das „Töten von Tieren, um Fleisch zu essen", tritt schon in dieser Schrift hervor': später haben ihn seine asketischen Neigungen, insbesondere die Verwerfung der Ehe, zum Gegner der Kirche gemacht10. Als Verfasser einer Evangelienharmonie haben wir ihn bereits kennen gelernt". i) Tatian 1—3. *) Tatian 1. 12. 29. 31. 35. ') Justin apol 59—60. «) Tatian 40, 1. «) Tatian 31—41. ·) Tatian 9, 1. 12. 14—17. 7) Tatian 29, 2. 8) Tatian 5, 1—3. 7, 1, ») Tatian 23, 2. ") Euseb KG 4, 29, 1—3. Epiphan. haer. 46, 1, 1—2, 3. ") S. 93.

Tatian. Athenagoras

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Auch bei Tatians Zeitgenossen Athenagoras aus Athen spielen die Dämonen eine große Rolle, und die Logoslehre tritt noch mehr zurück: beide Männer wollen augenscheinlich die von Justin in Erwägung gezogenen „Samenkörner des Logos" in der außerbiblischen Welt nicht anerkennen. Aber Athenagoras ist nicht von dem temperamentvollen Haß des Syrers beseelt, sondern spendet den griechischen Weisen anerkennende Worte, freilich nur, um am Ende festzustellen, daß sie alle miteinander in Widerspruch stehen, weil sie den Antrieb zur Forschung ihrer eigenen Seele entnehmen. Dem gegenüber werden die Propheten vom Geiste Gottes getrieben und sind dadurch befähigt, einhellig für die göttliche Wahrheit Zeugnis abzulegen1. So stellt er das Christentum zwar als gleichberechtigt neben die Philosophie und fordert von diesem Standpunkt aus Toleranz vom Staate*: aber in Wirklichkeit ist das Christentum nicht rational, wie Justin seine Leser glauben machen will, sondern göttliche Offenbarung eigener Art; der Enthusiasmus der prophetischen Ekstase ist kein „menschlicher" Beweis, sondern gibt absolute Wahrheit 1 . Es ist überhaupt bezeichnend, daß die Prophetenschriften auch abgesehen vom Weissagungsbeweis bei den Apologeten ein überragendes Ansehen genießen: Justin, Tatian und Theophilus behaupten, durch ihr Studium bekehrt worden zu sein. Und auch der schwankende Augustin wird noch im vierten Jahrhundert von seinem Beichtiger Ambrosius auf den Propheten Jesaias verwiesen, diesmal freilich ohne Erfolg4. Bei Athenagoras wird das Irrationale dieses Hinweises auf die Propheten äußerlich nicht hervorgehoben; das würde seiner Tendenz widersprechen. Er bemüht sich, den wirklichen Gegensatz seiner Religion gegen alle Philosophie zu verbergen und hat sogar die Auferstehung des Fleisches den Griechen in einer besonderen Schrift einleuchtend zu machen versucht: und diese mündet aus in den Satz1, daß es Ziel des MenschenJ

) Athenag. suppl. 7, 1—2. *) Athenag. suppl. 1—2. *) Athenag. suppl. 9,1. 4) Justin dial. 7,1—8,1 Tatian 29. Theoph. 1,14. Augustin. conf. 9, 5, 13. *) Athenag. res. mort. 25. vgl. 13 und den Hinweis suppl. 31, 3.

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im

lebens sei, sich „an der Schau des Schöpfers und seiner Ratschlüsse ohne Aufhören zu erfreuen" — eine Formulierung, in der Bibel und Philosophie zusammenklingen. Der kurz nach 180 schreibende 1 Bischof Theophilus von Antiochia bringt in das uns bisher bekannt gewordene Bild der Apologetik keine neuen Züge: er schreibt ein gefälligeres Griechisch, stellt noch etwas mehr an billiger Gelehrsamkeit zur Schau als seine Vorgänger und kommt nach der Anerkennung vereinzelter Lichtblicke bei heidnischen Schriftsteilem doch im Ganzen auf eine runde Ablehnung aller griechischen Weisheit, die aus jungen Quellen stammend mit den uralten Lehren der alttestamentlichen Propheten keinen Vergleich aushalte. Elegant in der Form und flüchtig im Inhalt ist der ohne Verfassernamen überlieferte Brief an Diognet — womit doch wohl der gleichnamige Lehrer Mark Aurels gemeint sein soll. Viel gerühmt ist seine idealisierende Schilderung des Christentums mit ihren spitzen Formulierungen. Darin steht auch das Bekenntnis zum Pilgertum auf Erden 1 : „jede Fremde ist ihnen Vaterstadt und jede Vaterstadt Fremde" — man darf nicht „Vaterland" übersetzen, denn dieser Begriff fehlt der damaligen Welt*. Aber die Sache meint doch der Römer Caecilius, wenn er in dem graziösen Dialog Octavius seinem christlichen Gegner die Hoheit der altväterlichen Religion und ihre Verbundenheit mit der ruhmvollen Geschichte Roms vor die Seele stellt und für sie Anerkennung fordert4. Nur schade, daß er das offene Beknntnis vorausschickt, daß er als philosophischer Skeptiker an diese Dinge auch nicht glaube, sondern sie nur in Ehren halte. Octavius antwortet schneidend", die römische Geschichte sei eine Summe von Gottlosigkeit, Frevel, Gewalttat und habe nichts mit Göttern zu tun. Er empfindet diese Geschichte nicht als eigenes Schicksal, er so wenig wie die andern Millionen im Reich. Nur wenn es die rhetorische Wir>) Theoph. ad AutoL 3, 27. l ) Epist. ad Diognetum 5, 5. ») Lehrreich Celsus bei Orig. 8, 73. 74. 4) Minucius Felix Octavius 6—7. ') ebd. 25.

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Theophilus. Minucius Felix

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kung fordert, redet man patriotisch — und es ist bezeichnend, daß das ganze Religionsgespräch ausgeht von dem Handkuß, den der Patriot Caecilius nicht etwa einem altrömischen Kultbild, sondern einer Serapiskapelle zuwirft. Was im übrigen Caecilius den Christen vorhält und was Octavius seinem Gegner antwortet, bewegt sich in den uns bekannten Geleisen, ist aber gut geformt und eindrucksvoll geordnet, so daß dieser um 200 entstandene Dialog des Minucius Felix die lateinische Apologetik anständig eröffnet.

Kleinasien und der Montanismus Auf dem alten griechischen Kulturboden des westlichen Kleinasiens hat das Christentum am schnellsten Fuß gefaßt und sich von dort an den meerbespülten Rändern entlang nordwärts verbreitet. Auch ins Binnenland ist es eingedrungen, soweit die griechische Zunge klang. Immer ist es von den größeren Städten ausgegangen und hat in den kleinen Orten und schließlich auf dem Lande Anhänger gefunden. Aber im allgemeinen war die Grenze seiner Eroberungen da gesteckt, wo die nationalen Eigentümlichkeiten der zahlreichen kleinasiatischen Völker herrschend waren und ihre seltsamen Sprachen noch lebten: und das ist Jahrhunderte hindurch so geblieben 1 . Das kirchliche Christentum ging den Weg der griechischen Kultur: und der war in Kleinasien weitverzweigt und bequem ausgebaut. Ephesus war der durch Paulus begründete Zentralort der christlichen Mission. Von da ist die Botschaft ins Lykostal hinaufgetragen worden und in Phrygien eingedrungen, wo sie sich anscheinend schnell verbreitet hat. Ein zweiter Sammelpunkt christlichen Einflusses ist bald Smyrna geworden, Sardes und Pergamon kennt schon die johanneische Apokalypse als christliche Städte, und noch im Laufe des zweiten Jahrhunderts finden wir Gemeinden in den Küstenstädten Byzanz, Nikomedia, Amastris, Sinope und in den Hauptstädten der Binnenlandschaften Galatia (Ankyra) und Kappadokien (Caesarea) 1 . Diese kleinasiatische Christenheit war stolz auf ihre Eigenart: nicht nur auf Paulus konnte sie sich berufen, sondern sie war durch den Evangelisten Philippus auch mit Jerusalem verbunden, und der johanneische Kreis hat die Kirche mit dem vierten Evangelium beschenkt, um das sich bald die Legende vom ephesinischen Johannes l ) Holl Ges. Aufs. 2, 23»—248. «) Zusammenstellung bei Harnack Mission« 2, 7 3 2 - 7 8 5 .



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Das Christentum in Kleinasien. Theologie

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rankte. Es sind starke und mannigfaltige Kräfte gewesen, die sich hier regten, und die Kleinasiaten wußten das und mühten sich, die übrige Christenheit an ihrem Reichtum teilnehmen zu lassen. Wir haben bereits gesehen, wie im Osterstreit das Selbstbewußtsein dieser Kreise hart auf ähnliche Stimmungen in Rom stieß. Die Theologien des Christusproblems nahmen hier ihren Ausgang, als sie den Eroberungszug nach Rom und damit auch dem übrigen Westen antraten. Als erster wird uns ein Gerber aus Byzanz namens Theodotos genannt, der Ende des 2. Jahrhunderts nach der Reichshauptstadt übersiedelte und dort die „dynamistische" Lehre von der Einwohnung des Gottesgeistes ( = Christus) als inspirierender Kraft in dem Menschen Jesus vertrat 1 . Seine Schule baute diese Theologie mit den Hilfsmitteln der Philosophie weiter aus und hat auch nach dem Bruch des Meisters mit der Kirche noch erheblich gewirkt8. Wenig später erschien in Rom Noetos aus Smyrna mit der „monarchianischen" Lehre, daß Gott selbst Fleisch geworden sei und in der Gestalt Jesu Christi auf Erden gewandelt habe, gemartert und gestorben sei: der Unsichtbare sei sichtbar, der Ungeborene geboren, der Unsterbliche getötet worden*. In diese Paradoxa faßt er das Geheimnis der Person Jesu und hat viele Herzen und Köpfe damit gewonnen. Gleichzeitig mit Theodot ist auch Praxeas aus Kleinasien nach Rom gekommen, hat dort einige Zeit gewirkt und sich dann nach Karthago begeben, wo Tertullian eine leidenschaftliche und, wie er behauptet, siegreiche Abwehr gegen ihn eröffnete 4 . Auch ihm ist die Betonung der göttlichen Einheit das entscheidende Anliegen. „Ich und der Vater sind eins" und „wer mich sieht, der sieht den Vater"; „ich bin im Vater und der Vater in mir": das sind für ihn die entscheidenden Selbstzeugnisse Jesu*. So hat der Vater Geburt und Leiden erfahren: der allmächtige Gott selbst wird als Jesus Christus gepredigt, ') Hippol. Refut. 7, 35. Epiph. haer. 54, 1, 3. 3. 1. 5. vgl. o. S. 131. ') Hipp, bei Euseb KG 5, 28, 8—12. ») Hippol. Refut. 10, 27, c. Noetum 1 p. 43, 10 Lagarde. *) Tert. adv. Prax. 1. «) Tert. adv. Prax. 20 Joh. 10, 30. 14, 9. 11.

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8. Kleinasien und der Montanismus

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Gott hat sich selbst zu seinem Sohn gemacht, denn „ich bin Gott und ist kein Gott außer mir" spricht der Herr 1 . Es ist die scharf formulierte Absage gegen alle Logosspekulationen, die neben Gott dem Vater einen göttlichen Sohn als eigenes Wesen anerkennen wollen, es ist die Furcht der „Einfältigen" vor Polytheismus, welche zu dieser Ablehnung trinitarischer Ausdeutung der Glaubensregel treibt 1 . Und doch erkannte auch Praxeas die biblische Unterscheidung von Vater und Sohn an, nur daß er das Merkmal nicht in der Sphäre der Gottheit sucht. Für den Sohn bezeichnend ist seine Leiblichkeit, an der sich auch das Leiden vollzieht, so daß die mit dem Vater identische Gottheit nicht eigentlich leidet, sondern an dem Leiden, das den Leib trifft, teilnimmt*. So entgeht Praxeas dem Vorwurf, die Gottheit leidensfähig und somit „wandelbar" zu machen, was philosophisch verboten ist. Die betonten Paradoxa Noets sucht Praxeas zu vermeiden und gibt dadurch der Diskussion eine breitere Grundlage. Die unter unsern Augen in Rom und Afrika durchgekämpfte Streitfrage ist vorher schon in Kleinasien Gegenstand theologischer Erörterung gewesen, ohne daß dort eine Entscheidung gefallen wäre. Wir hören nur, daß die Presbyter von Smyrna der Einheitslehre des Noetos die in der Glaubensformel gegebene Zweiheit von Gott und Christus entgegengestellt und ihn exkommuniziert haben 4 . Eine theologische Lösung war das nicht, und der Monarchianismus blieb die volkstümliche Auffassung; wir werden seine Kraft noch in den folgenden Jahrhunderten spüren. Er wächst in immer neuen Formen aus der naiven Frömmigkeit eines sakramentalen Erlösungsglaubens hervor, der in der Menschwerdung der Gottheit die Bürgschaft künftiger Vergottung der Menschheit erblickt und sich mit allen theologischen Formeln abfindet, welche für diesen Grundgedanken Raum lassen. Wird aber der menschgewordene Christus als gesondertes Wesen 1) Tert. adv. Prax. 2. 10. 20 vgl. Jes. 45, 5. l ) Tert. adv. Prax. 3. *) Tert. adv. Prax. 27. 4 ) Hipp. c. Noet. 1 p. 43 Lagarde, Epiph. haer. 57,1.

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Praxeas. Sakramentstheologie

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von Gott unterschieden, so wird dieser Glaube angetastet und ist durch keine Vermittelungsversuche zu retten. Für das naive Denken gibt es nur e i n e n Gott — dieses monotheistische Dogma steht unangreifbar fest — und dieser ist in Christus Mensch geworden. Ein göttlicher Logos neben Gott ist ein zweiter Gott, wie Justin ja auch anerkennt 1 : mit solcher Lehre ist erstens der Monotheismus zerstört, und zweitens die gradlinige Folgerichtigkeit des Vergottungsglaubens zerbrochen, der sich mit keinem Ersatz für Gott zufrieden gibt. So mußte der Monarchianismus sowohl mit der philosophisch orientierten Logoslehre der Apologeten als auch mit den aus der Glaubensregel erwachsenden Trinitätsformeln zusammenstoßen und um sein Daseinsrecht kämpfen: die großen Kontroversen des 4. und 5. Jahrhunderts sind hierdurch im letzten Grunde bedingt. Während im Volk die ursprünglichen Anschauungen unverändert Frömmigkeit und Denkweise beherrschen, treten die Führer in die Kampflinie der Theorien ein, welche zum theologischen Ringen und damit zur Dogmengeschichte treibt. Wie stark die Volksfrömmigkeit dieser Kleinasiaten durch den Sakramentsglauben bestimmt ist, lehrt anschaulich die berühmte Inschrift des Aberkios von Hierapolis1, einem phrygischen Städtchen zwischen Eumenia und Synnada — man darf es nicht mit Hierapolis im Lykostal verwechseln. Ob dieser Aberkios Bischof war, ist nicht zu ermitteln, aber seine Identität mit dem Avircius Marcellus, dem eine in jener Gegend um 183 (oder 193?) entstandene antimontanistische Schrift gewidmet ist', darf als recht wahrscheinlich bezeichnet werden. Jedenfalls gehört die Inschrift an das Ende des 2. Jahrhunderts. Aberkios hat als 72jähriger diese Grabschrift selbst verfaßt und erzählt von dem größten Ereignis seines Lebens, einer Romreise, die ihn schließlich über Syrien und Mesopotamien zurück in die Heimat geführt hat. Er redet in poe») o. S. 180. l ) Bester Kommentar bei F. J. Dölger Ichthys 2, 454—507. Die heidnische Deutung der Inschrift ist nicht mehr der Erwähnung wert. *) Euseb K G 5, 16, 3. Vgl. Harnack Chronologie 1, 364 bzw. Holl zu Epiphanius Bd. 2, 222.

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tischen Formen und Phrasen und freut sich an geheimnisvoller Bildlichkeit, für die er beim christlichen Leser Verständnis erwartet 1 . Er weiß sich als Schüler des heiligen Hirten, der ihn die christliche Weisheit gelehrt hat. Der hat ihn nach Rom gesandt — d. h. er ist in Sachen der Kirche dorthin geschickt worden — „um das Kaisertum zu schauen und die goldbeschuhte und goldbekleidete Königin zu sehn". Damit ist die Stadt Rom gemeint So höflich spricht der loyale Christ der aufgeklärten Antoninenzeit: unter Domitian redete man von der babylonischen Hure auf den Sieben Hügeln1. Und dort sieht er das Volk mit leuchtendem Siegel, die christliche Gemeinde: aber auch in Syrien und am Euphrat findet er überall Glaubensgenossen, denn er hat als Reisegefährten Paulus mit auf dem Wagen·—in Prosa: eine Handschrift der Paulusbriefe führt er als kostbares Erbauungsbuch mit sich. Der Glaube schreitet ihm voran und rüstet ihm überall das Mahl, nämlich den Fisch von der Quelle, den die heilige Jungfrau gefangen hat, das ist Wein und Brot zum Genuß für die Freunde allerorten. Es ist hier nicht die Stelle, die einzelnen Wendungen des Gedichtes auszudeuten: das Entscheidende ist sicher, nämlich daß dem Verfasser das eucharistische Mahl die weltumspannende Einheit des Christenvolkes bewirkt. Es spendet den Genießenden die göttliche Nahrung des „Fisches von der Quelle", nämlich* „Jesus Christus, Gottes Sohn, den Heiland". Mit dem Fisch und dem Hirten sind wir mitten in der uns vertrauten Symbolik der Zeit um 200, und die Abendmahlsbilder der römischen Sakramentskapellen 4 bestätigen, daß Aberkios völlig recht hat, wenn er die Grundbegriffe seines Glaubens bei allen Freunden als dieselben erkennt. Auch Paulus ist ihm eine überall verehrte Größe: aber für seine Frömmigkeit ist das Ausschlaggebende die Gemeinschaft in der Himmelsspeise des Sakraments. Wir werden gut tun, diese Denk- und Empfindungsweise stets im Auge zu behalten: ihre Wurzeln ') Vers 19 „Jeder Genösse, der das versteht, bete für Aberkios." ') Offenb. 17, 3. 5. 9. 18. *) o. S. 101. «) o. S. 141.

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Aberkiosinschrift. Die neue Prophetie

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treten im Glauben der paulmischen und der johanneischen Gemeinden bereits klar zu Tage und senken sich an manchen Stellen in naturreligiöse Tiefen hinab 1 . Während die Kirche in ihrer Gesamtheit sich innerlich festigte, durch Amt, Kanon und Bekenntnis Sicherungen gegen gnostische Spekulation und enthusiastische Willkür schuf und in ihrer ganzen Lebenshaltung einen Frieden mit der umgebenden Welt anstrebte, blieben die Triebkräfte der Vorzeit in der Einsamkeit kleinasiatischer Bergtäler lebendig und schufen bald nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts die Bewegung der „Neuen Prophetie", der man in späteren Zeiten den Ketzeraamen des Montanismus gegeben hat. Wir haben gesehen, wie unerwünscht das freie Walten ekstatischer Geistesträger schon von den ersten Zeiten an dem Streben nach kirchlicher Ordnung und lehrhafter Klarheit der Verkündigung entgegentrat, haben auch das Mißtrauen der Gemeinden gegen falsche Propheten und ihre Schwindelmanöver kennen gelernt. Und doch wollte und konnte die Kirche den Geist nicht „dämpfen" und war bereit, ihn anzuerkennen, wenn er sich mit einwandfreier Deutlichkeit offenbarte — nur freilich sahen alle Verantwortlichen solchen Ereignissen mit Beklemmung entgegen und waren stets geneigt, auf alle „Beweise des Geistes und der Kraft" zugunsten einer gesunden Alltäglichkeit zu verzichten. Bischof und Prophet sind nun einmal ihrem Wesen nach Gegenspieler und müssen es sein; und daran hat sich nichts geändert bis zum heutigen Tage. So hat die katholische Kirche ihren wundervollen Organismus der Hierarchie ausgebildet, der als stets gegenwärtiger Träger und Vermittler des heiligen Geistes in der Vereinigung von Amt und Sakrament wirksam ist — und daneben sind immer aufs neue Geistesträger aus eigenem Recht aufgestanden und haben, allein oder in Bewegungen und Organisationen sich entfaltend, Anerkennung ihrer echten „Geistigkeit" erzwungen. Die eine Linie müßte eigentlich die andere ausschließen — und oft ist es auch dazu gekommen — aber das Bewußtsein der gemein') s. Bd. 1, 125.142. 237.

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samen Verwurzelung im echten Urchristentum ist im großen und ganzen doch stärker gewesen als die Empfindungen des Gegensatzes der Erscheinungsform. Das erste Auflodern der alten Geistesmächtigkeit erfolgte etwa 156 in einem Dorfe Ardabau an der Grenze von Mysien und Phrygien 1 : wir können seine Lage nicht feststellen. Da wurde ein Neugetaufter namens Montanus plötzlich vom Geist ergriffen, geriet in Ekstase und zeigte alle Erscheinungen der Glossolalie, die bald in verständliches Reden überging und den Sprecher als Propheten des heiligen Geistes offenbarte. Ihm schlossen sich zwei Frauen, Priska und Maximilla an: auch sie redeten in bewußtlosem Zustand seltsame Dinge und sprachen im Namen des göttlichen Geistes. Zweifel und Glaube rangen bei den Zuhörern miteinander, aber der Glaube siegte, und durch das phrygische Land flog die Kunde von einer neuen und nun endgültig abschließenden Offenbarung Gottes durch diese seine neuen Propheten. Man schrieb ihre Aussprüche nach und sammelte sie als heilige Urkunden, wie man die Worte der alttestamentlichen Propheten, die Reden Jesu und die Briefe seiner Apostel besaß. Wir haben noch einige Zitate aus solchen Spruchbüchern, die uns den ekstatisch-enthusiastischen Charakter dieser Prophetie deutlich erkennen lassen. Wie die Ekstatiker des Celsus1, so spricht auch Montanus nicht im eigenen Namen als Mensch, sondern der Gottesgeist ist der Redende": „Siehe, der Mensch ist wie eine Leier und ich schlage sie wie das Plektron. Der Mensch schläft und ich wache. Siehe, der Herr ist's, der den Menschen ihre Herzen nimmt und ihnen ein anderes gibt" oder „Hier ist kein Engel und kein Bote, sondern ich der Herr, Gott Vater, bin gekommen", „ich bin der Herr, Gott der Allmächtige, in einen Menschen eingekehrt". Hier herrscht auch ') Euseb KG 5, 16, 7. Epiph. haer. 48, 1, 2. Zusammenstellung der wichtigsten Quellen bei N. Bonwetsch Texte z. Geschichte d. Montanismus (Kl. Texte 129) 1914. Ausführlicher bei P. de Labriolle Les sources de l'histoire du Montanisme 1913. l ) s. o. S. 44. ') Epiph. haer. 48, 4, 1. 11, 9. 11, 1.

Montan us

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die monarchianische Theologie noch ganz ungebrochen und naiv, und darum kann die Inspirationsformel auch trinitarisch lauten1: „Ich bin der Vater und der Sohn und der Paraklet" — es gibt nur den einen allmächtigen Gott und Vater, der sich in Christus als Sohn offenbart hat und nun als der im Johannesevangelium geweissagte Paraklet 1 durch den Mund des Montanus sich kund tut: drei Namen für das eine Wesen. Dieser Enthusiasmus hat die volle Stärke urchristlichen Erlebens und empfindet die göttliche Einwohnung als unwiderstehliches Uberwältigtwerden des eigenen Menschentums. Die Prophetin Maximilla' muß die Weisheit des Herrn verkünden „gezwungen, mit und ohne ihren Willen"; das ist Uchtes Prophetentum, dem auch die bittere Klage nicht fehlt: „Ich werde verfolgt wie ein Wolf aus dem Schafstall; ich bin kein Wolf: Wort bin ich und Geist und Kraft." Es war nicht eine Wiederbelebung des allgemeinen Enthusiasmus der Urzeit, was sich hier in Phrygien abspielte. Wir hören zunächst nichts von einer ekstatischen Massenerscheinung oder um sich greifender Glossolalie, wie sie gelegentlich immer wieder im Lauf der Kirchengeschichte zu beobachten ist und noch heute in methodistischen Versammlungen aufflackert. Erst nach und nach hat die Bewegung das alte Feuer in einzelnen Gemeinden neu entzündet und neben oder nach den großen Drei auch allerlei kleine Propheten auf den Plan gerufen. Es sind ursprünglich nur drei Personen, die vom Geist ergriffen sind und als Propheten wirken, und sie sind sich ihrer Einzigartigkeit bewußt: „nach mir", sagt Maximilla4, „wird kein Prophet mehr kommen, sondern die Endvollendung". Diese Prophetie wollte nicht nachgeahmt, sondern als abschließende Gottesoffenbarung anerkannt werden. Was war ihr Inhalt? In erster Linie die Erwartung des baldigen Weltendes, das durch Kriege und Aufstände angekündigt wird5. Die schweren Kriegsnöte Mark Aurels und die ') Didymus de trin. 3, 41, 1. *) s. Bd. 1, 245. *) Epiph. haer. 48, 13,1. Euseb KG 5,16,17. 4) Epiph. haer. 48,2,4. «) Euseb KG 5,16,18.

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furchtbaren Pestjähre 1 waren wirklich dazu angetan, als Vorboten der Endzeit zu gelten und die vier apokalyptischen Reiter über der Erde schauen zu lassen*. Auch anderswo war um diese Zeit Weltuntergangsstimmung. In der Landschaft Pontus wurde ein Bischof von Traumgesichten heimgesucht, die ihm die Zukunft offenbarten. Er weissagte seiner Gemeinde, das Weltgericht werde binnen Jahresfrist kommen: woraufhin diese ihr Hab und Gut verschleuderte, die Äcker nicht mehr bestellte und in Furcht und Zittern unter tränenreichen Gebeten den jüngsten Tag erwartete. Und in Syrien zog ein Bischof gar mit seiner ganzen Gemeinde einschließlich der Kinder in die Wüste, dem wiederkommenden Christus entgegen: sie verirrten sich und wurden nur durch eine auch nicht gerade freundlich gemeinte Polizeistreife vor dem Hungertode gerettet». So lebten auch die „phrygischen" Propheten in Erwartung des baldigen Weltendes, und die Johannesoffenbarung (21, 1. 10) hatte ihnen das Bild der heiligen Stadt Jerusalem in die Seele geprägt, wie sie aus dem Himmel herniedersteigt auf die erneute Erde. Als Ort dieses künftigen Neuen Jerusalem wird uns Pepuza genannt — ein Flecken, der zwischen Peltai und Dionysopolis gelegen hat. Hier ist Christus als ein leuchtendes Frauenbild der schlafenden Priska im Traum erschienen4, hat ihr „die Weisheit ins Herz gesenkt und ihr offenbart, dieser Ort sei heilig und hierhin werde Jerusalem aus dem Himmel herabkommen". An anderer Stelle wird uns neben Pepuza noch das benachbarte Tymion als Ort der Zukunftserwartung genannt, wohin alle Gläubigen zusammenströmen sollen, um den Herrn zu erwarten. Aber in der Folgezeit hören wir immer nur von Pepuza als heiliger Stätte, und später hat hier auch die Zentralleitung der Montanistenkirche ihren Sitz genommen 1 . Epiphanius hat gehört*, daß dort noch bis auf seine Zeit Männer und Frauen den Tempelschlaf übten in der Hoffnung, *) s. o. S. 4 f. *) Matth. 24, 7 u. Parallelen Offenb. 6, 2 - 8 . *) Hippolyt in Danielem 4,18.19. 4 ) Epiph. haer. 49, 1, 3. 48,14,1. ·) Euseb KG 5,18, 2. Hieron. epist. 41, 3, 2. ·) Epiph. haer. 49, 1, 2. 4.

Eschatologische Stimmung

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daß auch ihnen ebenso wie der Priska Christus erscheinen werde; aber das sind schon Formen des entwickelten Montanismus, die wir uns hüten müssen, in die Frühzeit hineinzuverlegen. Aus dieser klar umrissenen „chiliastischen" Enderwartung heraus zieht die neue Prophetie nun rücksichtslos ihre Folgerungen. Die Ehe ist ein irdisches Band, das die völlige Hingabe an Gott hindert — so hatte schon Paulus in gleicher Lage gelehrt. So verlassen die Prophetinnen ihre Männer, um ganz ihrem Predigtberuf zu leben. Vielleicht haben sie ihr Beispiel zur Nachahmung empfohlen1, sicher von neuen Eheschließungen abgeraten, wie es jener pontische Bischof tat*. Möglich ist, daß Priska bereits früher asketische Neigungen hatte und mit ihrem Mann in einer „geistlichen Ehe" lebte*, ehe sie sich von ihm trennte: denn sie läßt sich von der Gemeinde als Jungfrau bezeichnen und betont in einem Spruch den Wert der Keuschheit für den Empfang von Offenbarungen 4 . Die ältesten Nachrichten lauten jedenfalls ganz bestimmt dahin, daß die Phryger die Ehe überhaupt untersagt hätten: erst bei Tertullian und in noch späterer Zeit wird das Verbot einer zweiten Ehe als ihre Besonderheit angegeben*. Daß diese asketische Stimmung der Volksauffassung entgegenkam, zeigen uns die apokryphenApostelakten jener Zeit, unter denen mindestens die Faulusakten kleinasiatischen Ursprungs sind. Da erscheint Ehelosigkeit als Zeichen echten Christentums·, und diese Meinung spiegelt sich im ältesten Montanismus wider. Fasten war den alten Christen eine geistliche Übung, durch die sie sich zum Empfang des wiederkommenden Herrn rüsteten: fastend standen sie „auf Wache" (Stationsfasten) 7 . Wenn die neue Prophetie dieParusieerwartung wieder belebte, so war eine Verstärkung des Fastens naheliegende Begleiterscheinung. Wir hören von Fastengesetzen, die über die kirch») Euseb KG 5, 18, 2. «) Hippol. in Danielem. 4, 19 p. 234, 17 Bonwetsch. ») s. Bd. 1, 138. 4) Euseb KG 5, 18, 3 Tertullian exh. castit. 10. ') vgl. auch Origenes de principiis 2,7,3 p. 151,2 Koetschau, in epist. ad Titum 5, 291 Lommatzsch. ·) o. S. 74. 79. ') o. S. 129.

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8. Kleinasien und der Montanismus

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liehe Gewohnheit hinausgingen, und Tertullian teilt uns die Regeln seiner Zeit und seines Landes genauer mit. Die allgemein üblichen Stationsfasten am Mittwoch und Freitag werden nicht nur bis zum frühen Nachmittag (3 Uhr), sondern bis zum Abend durchgehalten, dazu treten noch eigene Fasttage und zweimal im Jahr Abstinenzwochen (Xerophagien), in denen man sich aller saftigen Speisen, des Fleisches und Weines enthielt1. Diese Dinge wurden genau vorgeschrieben, weil Montanus eine Neigung zum Organisieren hatte, und dadurch fielen sie als Neuerungen den kirchlichen Kreisen noch stärker auf. Organisiert wurde auch das Spenden der Opfergaben innerhalb der Gemeinden, und die Prophetin forderte zur Ablieferung von Gold und Silber und kostbaren Kleidern auf. Es wurden besondere Verwalter zur Betreuung der gesammelten Gelder eingesetzt, und die wandernden Prediger der neuen Prophetie wurden aus der Zentralkasse unterhalten und nicht auf den doch oft sehr unsicheren guten Willen der besuchten Gemeinden angewiesen2. Das alles macht den Eindruck eines die ganze Bewegung durchströmenden zielbewußten Willens und hat auch nach dem Tode des Begründers fortgewirkt. Ita vierten Jahrhundert finden wir bei der Sekte einen in Pepuza residierenden Patriarchen, unter ihm die „Koinonen", d. h. „Teilhaber, Gesellschafter", deren Funktionen wir nicht erraten können, und dann an den einzelnen Orten Bischöfe mit Presbytern und Diakonen*. Es ist also nicht richtig, wenn man den Montanismus wesentlich als eine Reaktion der urchristlichen Geistesträger gegen das sich entfaltende Amt wertet: er hat die Gemeindeleitung durch die bekannten „Wahlämter" der Episkopen, Presbyter und Diakonen mitgemacht oder jedenfalls später angenommen, ohne darin einen Abfall von seinen Grundsätzen zu sehen. Aber es wurden auch Frauen zu diesen Ämtern zul

) Tertullian ieiun. 1. 2.10 vgl. Hieron. epist. 41, 3. Hippolyt Elenchus 8, 19, 2. *) Euseb KG 5,18,1—4. ') Hieron. epist. 41, 3 vgl. Cod. Justin. 1, 5, 20, 3.

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Organisation. Spätere Entwickelung

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gelassen, nachdem man in Priska und Maximilla den Beweis bekommen hatte, daß auch das weibliche Geschlecht den heiligen Geist empfangen könne: und das war der Kirche anstößig1. Epiphanius berichtet noch über eine Prozession von sieben weißgekleideten Jungfrauen, die feierlich mit Lichtern in den Händen die Kirche betreten, um zum Volke prophetische Bußworte zu sprechen*. Das wird wieder einer späteren Entwicklung angehören. Die älteste Form der phrygischen Bewegung beschränkte die Prophetie auf die drei bekannten Hauptpersonen: danach sollte keine weitere Prophetie mehr kommen, sondern das Ende anheben, auf welches der Bußruf vorbereitete. Aber die Parusie ließ auch diesmal auf sich warten, die Gegner höhnten weidlich darüber* — und nun setzte erst ein weiteres Wirken des Geistes in zahlreichen Männern und Frauen einzelner Gemeinden ein, welche das Erbe der Anfangszeit übernahmen und es der folgenden Generation übermittelten. Jetzt erst wird der Montanismus eine Bewegung, welche den Enthusiasmus in der Breite der urchristlichen Zeit pflegt. In diese Periode gehören die Jungfrauen, von denen Epiphanius berichtet, und die weissagende Schwester zu Karthago4. Es ist leicht verständlich, daß ein derartig in der künftigen Welt lebendes Christentum dem Reich dieser Welt mit betonter Ablehnung gegenüberstand: den Verfolgungen entzog sich der echte Christ dieser Gemeinden nicht durch die Flucht, sondern trat ihnen trotzig entgegen, und zuweilen trieb ihn sein Temperament zum Angriff vor. Die Märtyrerakten melden uns mehr als ein Beispiel von freiwilliger Selbsthingabe eines „Phrygiers", und Tertullian' bezeugt einen Prophetenspruch von herber Gewalt: „Wünscht euch nicht den Tod auf ») Epiphan. haer. 49, 2, 5 vgl. Firmilian bei Cyprian epist. 75, 10 Gallisches Schreiben bei Labriolle Sources 227, 8. *) Epiphan. haer. 49, 2, 3. ') Euseb KG 5, 19. Epiphan. haer. 48, 2, 4—7. *) Epiphan. haer. 49, 2, 3. Tertullian de anima 9; vgl. auch Mart. Polycarpi 4, Mart. Vienne bei Euseb KG 5, 1, 49 vgl Acta Pionii 11, 2 vgl. Acta Carpi 42—44. ») Tertullian fuga 9 anima 55.

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8. Kleinasien und der Montanismus

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dem Krankenlager, im Kindbett oder am gelinden Fieber, sondern imMartyrium, zurEhre dessen, der für euch gelitten hat." U n d die Gläubigen haben es sich wirklich so gewünscht. Die phrygische Prophetie hat sofort bei ihrem Beginn die Gemüter mächtig erregt. Was da vor sich ging, war in der Linie der alten Tradition, ja es konnte durchaus als die Erfüllung der im Johannesevangelium stehenden Verheißung gelten, daß ein Paraklet kommen und die Christenheit in alle Wahrheit leiten werde. Und so wollten jene Propheten ihr Wirken auch angesehen wissen, und sie fanden weithin Glauben damit. Aber in den maßgebenden Kreisender schon fortgeschrittenen Kirche mußte man bedenklich sein. Wir haben gesehen, welche Schutzmittel man gegen Gnosis und willkürliche Phantastik inzwischen mit Mühe aufgerichtet hatte. Das organisierte und mit apostolischer Würde bekleidete Kirchenamt konnte diese mit höchsten Ansprüchen auftretende Prophetie nicht anerkennen, und der eben erst sich festigende neutestamentliche Kanon apostolischer Schriften durfte die Aufzeichnungen der neuen Propheten nicht neben sich dulden. Aber wie dem Neuen begegnen? Augenscheinlich bot ihre Predigt inhaltlich keinen greifbaren Widerspruch zu Kirchenlehre und Kanon; also war von hier aus die Ablehnung nicht möglich — wie man gegenüber der Gnosis verfahren konnte. So blieb nur der Angriff auf die Personen übrig, das heißt die Anzweiflung der Echtheit des Prophetentums auf Grund der „Prüfung des Geistes" an den Taten seiner Werkzeuge. Das ist denn auch fleißig versucht worden, und wir hören von Kommissionen 1 , die ausgeschickt werden, um die Maximilla als Betrügerin zu entlarven: aber die Anhänger haben diesen Kritikern „den Mund gestopft". Da hat man denn ihren Lebenswandel untersucht und allerlei Vorwürfe gegen sie und schließlich auch gegen ihre Anhänger zusammengetragen, bis hin zu den Geschichten vom Selbstmord des Montanus und der Maximilla und dem Todessturz ihres Gönners Theodotos ') Euseb KG 5, 16, 17. 18, 13.

Die Gegnerschaft der Kirche

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— die unse:: Berichterstatter selbst nicht glaubt 1 . Später hören wir dann von den Greueln schauerlicher Mysterien, bei denen das Blut eines geschlachtetenKindes eine Rolle spielt*. Da sind wir auf dem Boden des üblichen Ketzerklatsches. In die älteste Zeit führt uns dagegen die vom Martyrium ausgehende Kritik. Das eine Mal heißt es: ihr habt keine Märtyrer, also fehlt euch der Geist, den ihr zu besitzen vorgebt. Das andere Mal dagegen wird das Vorhandensein zahlreicher Märtyrer anerkannt, aber auf die Tatsache hingewiesen, daß die eigenen, kirchlich anerkannten Märtyrer den Verkehr mit den phrygischen Märtyrern schon im Gefängnis abgelehnt haben'. Da nun aber nach allgemeiner Ansicht Märtyrer im Gefängnis Geistesträger sind, so ist das negative Urteil über die gefangenen Phrvgier ein autoritativer Spruch des Geistes, der die ganze Bewegung trifft. Es gab eine erhebliche Schriftstellerei gegen die neue Prophetie: der ausführliche Bericht Eusebs beruht auf mehreren Werken aus dieser Kampfeszeit, und auch Epiphanius hat noch derartige Quellen zur Verfügung. Und dieser Sturm rief zum erstenmal die Leiter der kleinasiatischen Gemeinden zu gemeinsamen Synoden 4 auf, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Malen die Mittel einer wirksamen Abwehr berieten und die Anhänger der Bewegung aus der Kirche ausschlossen. So wurde der Montanismus wider seinen Willen zur Sekte. Aber er breitete sich trotzdem gewaltig aus. In Rom merkte man ihn bald, um 200 griff er nach Afrika über, wo Tertullian sein begeisterter Anwalt wurde; aber auch in dem mit Kleinasien eng verbundenen Südgallien fand er schon in früher Zeit Freunde, und Irenaeus von Lyon5 redet sehr ernstlich von der Sünde wider den heiligen Geist bei denen, welche die neuen Offenbarungen des Parakleten nicht anerkennen wollen. Die gallischen Gemeinden von Lyon und Vienne haben den Gemeinden von Asia und Phrygia nicht nur den bekannten Be') Euseb KG 5, 16, 13—15. *) Epiphan. haer. 48, 14, 6 Philastrius haer. 49, 5. ») Euseb KG 5, 16, 12. 20—22. *) Euseb KG 5, 16, 10. 6 ) Iren. 3, 11, 9 (2, 51 Harvey).

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8. Kleinasien und der Montanismus

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rieht über die Leiden ihrer Märtyrer übersandt und ihr Urteil in Sachen des Montanismus abgegeben, sondern auch mehrere Schreiben dieser Männer beigelegt, in denen diese Autoritäten sich für den Frieden der Kirchen aussprachen: an Bischof Eleutheros von Rom war in gleichem Sinne geschrieben1. Das war offenbar eine durch jene synodalen Verdammnisurteile ausgelöste Vermittlungsaktion. Aber es kam nicht zu der erstrebten Einigung. Die im Osten zutage getretenen Gegensätze brachen auch im Westen auf; Rom* und Karthago wurden die Mittelpunkte weiterer Montanistenkämpfe. Als im Verlauf der decianischen Verfolgung die Meinungen über die Behandlung der Gefallenen auseinandergingen, hielten es die Montanisten mit dem rücksichtslosen Radikalismus und verstärkten dadurch die Feindseligkeit gegenüber der Großkirche. Auch in Kleinasien ging der Kampf weiter, und der Bischof Firmilian von Caesarea berichtet uns nicht nur von einer neuen Prophetin, die im Jahre 236 auftrat, sondern vor allem von einer großen Synode zu xkonium, welche sogar die Anerkennung der montanistischen Taufe ablehnte'. Dann versagen die Zeugnisse. Man hat die Inschriften Kleinasiens nach den Schicksalen der Montanistengemeinden gefragt, aber die Antwort ist recht dürftig ausgefallen: als wirklich montanistisch können nur wenige Inschriften angesprochen werden4. Epiphanius hat um 370 allerlei von noch blühenden Montanistengemeinden in Kleinasien gehört, und Hieronymus bezeugt wenig später die Fortexistenz der Sekte in ihrer alten Hochburg Ankyra aus eigener Anschauung*. Ein Historiker des 5. Jahrhunderts* behauptet, daß sie sich zu seiner Zeit nur noch in Phrygien und seiner nächsten Umgebung gehalten haben, sonst aber ausgerottet sind. Die kaiserliche Gesetzgebung seit den Tagen >) Euseb KG 5,1, 3. 3, 4. *) Gaius gegen Proklos Euseb 2, 25, 6. 6, 20, 3 u. ö. ') Firmilian bei Cyprian epist 75,10. 19. *) W. Schepelern Der Montanismus und die phrygischen Kulte (1929) S. 81 f., Gr6goire Byzantion 8 (1933) 58 ff. Die afrikanischen Inschriften geben ebenfalls nur wenig aus. *) Epiphan. haer. 48, 14, 2 Jiieron. comm. in Gal. lib. 2 praef. vgl. Euseb KG 5,16, 4. ·) Sozomenos 2, 32,5.

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Ausgang der Bewegung

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Konstantins hat ihre Vernichtung immer aufs neue anbefohlen: der Name der „Phryger" kehrt ständig wieder in den Ketzerlisten der christlichen Staatskultgesetze1. Als abgetrennte Sekte sind sie nach kaum zwei Jahrhunderten untergegangen. Aber ihr Anliegen lebt in der Kirche unter andern Formen und Namen weiter: der Glaube an immer neue Offenbarungen des hl. Geistes in begnadeten Männern und Frauen, die leidenschaftliche Verachtung dieser Welt, und die völlige Hingabe an die Erwartung der Wiederkunft des Herrn. ') Sozomenos 2, 32, 2: Sammlung der Gesetze bei Labriolle Sources 196—203. 230—235.

Gallien Schon früh im zweiten Jahrhundert muß das Christentum in den von alter griechischer Kultur belebten Küstenstrich eingedrungen sein, der von den beiden Hafenstädten Arles und Marseille beherrscht wird. Aber direkte Zeugnisse dafür fehlen uns: erst in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts beginnen die Belege, die sich dann Anfang des vierten häufen1. Und doch ist die Sache kaum zu bezweifeln, weil sich um 180 bereits Gemeinden im Rhonetal finden und im Jahre 177 die vorhin1 geschilderte Christenverfolgung über die Gemeinden zu Vienne und Lyon ergeht. Vienne gehört noch zu der alten römischen Provinz der republikanischen Zeit, Lyon liegt etwa 30 Kilometer nördlich und ist durch Augustus zur Hauptstadt des von Caesar eroberten neuen Galliens gemacht worden: und der hauptstädtische Bischof lenkte auch die Kirche von Vienne* und vermutlich auch die kleinen Diasporagemeinden des Rhonetals4. Obwohl die von Italienern besiedelte Bürgerkolonie Lyon einen durchaus römischen Charakter hatte, war doch auch die keltische Bevölkerung Galliens und das griechische Element von der Rhonemündung vertreten. Das Christentum ist hier wie in Rom mit griechischer Zunge gepredigt worden, und Griechisch blieb noch lange die Sprache seiner Bildungsschicht. Unter den Märtyrern von 177 finden wir aber bereits zahlreiche lateinische Namen 5 , und Bi schof Irenaeus behauptet, daß er fleißig Keltisch sprechen müsse': er sagt leider nicht, ob nur im täglichen Umgang oder auch in der Predigt, etwa bei der Missionswerbung. Aber das letztere scheint doch der Fall zu sein, denn er weist bei Ge>) Harnack Mission 4 2, 872—880. *) o. S. 159 f. ') o. S. 56. «) Iren. 1, 13, 7 (1, 126). ») Hirschfeld Sitz.-Ber. Akad. Berlin 1895, 386f. Martyrol. Hieron. zum 2. Juni. •) Iren, praef. (p. 1, 6 ed. Harvey):

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Beziehungen zu Kleinasien

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legenheit auf die Bekehrung der ungebildeten einheimischen Bevölkerung unter Kelten und Germanen hin1. Besonders enge Beziehungen bestanden zwischen der Gemeinde von Lyon und den Kleinasiaten. Es ist doch kaum Zufall, daß unter den Märtyrern nur bei zweien ausdrücklich ihre ausländische Herkunft vermerkt wird, und beide sind aus Kleinasien: Attalos aus Pergamon und der „schon seit vielen Jahren in Gallien ansässige" Arzt Alexander aus Phrygien. Dazu kommt noch der Sklave Pontikos, dessen Heimat durch seinen Namen angezeigt wird*. Vor allem aber ist Irenaeus, der später ag die Stelle des Märtyrerbischofs Potheinos tritt, aus Smyrna gebürtig, und seine Kindheitserinnerungen verbinden ihn noch mit dem greisen Bischof Polykarp*. Diese persönlichen Beziehungen haben naturgemäß auch ihre geistigen Auswirkungen gehabt und den jungen Missionsgemeinden des gallischen Westens die Meinungen und Stimmungen des alten Heimatbodens des hellenistischen Christentums vermittelt. Wir haben bereits gesehen, wie die Bewegung des Montanismus in Gallien einen lebhaften Widerhall fand, und wenn der Lyoneser Märtyerbericht an dem eben erwähnten phrygischen Arzt Alexander seine Begabung mit „apostolischem Charisma" rühmend hervorhebt, so werden wir in ihm einen Träger jenes abgeleiteten montanistischen Prophetentums erkennen dürfen. Und die durchaus positive Einstellung des Irenaeus zu dem Problem der neuen Prophetie zeigt, daß es sich bei ihm nicht um eine Ausnahmeerscheinung handelt, sondern daß sein Auftreten die freudige Billigung der gesamten Gemeinde findet. Selbst die Märtyrer im Gefängnis haben an dem kirchlichen Ringen um Anerkennung des Montanismus aktiv teilgenommen und dem römischen Bischof Eleutheros ihre Meinung nicht verhehlt 4 . Der Montanismus ist das deutlichste Beispiel für die innere Verbindung Galliens mit Kleinasien; aber wer schärfer zusieht, ') Iren. 3. 4,1 (2,16) 1,10, 2 (1,92 f.). ») Euseb KG 5,1,17.49. 53. ») Iren, bei Euseb KG 5, 20.5-6. Iren. 3,3. 4 (2,12). *) Euseb KG 5, 3, 4—4,2.

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9. Gallien

wird auch andere Fäden entdecken, welche das Christentum beider Gegenden zusammenknüpfen. Das gilt insbesondere von der Theologie des bischöflichen Wortführers der Provinz. Irenaeus stammte, wie eben gesagt ist, aus Smyrna und mag gegen 140 geboren sein. Die Verfolgung in Lyon hat er als Presbyter dieser Gemeinde erlebt: er überbringt die Schreiben der Märtyrer in Sachen des Montanismus nach Rom. Nach seiner Rückkehr ist er dann der Nachfolger des seinen Martern erlegenen Bischofs Potheinos geworden1, also wohl im Jahre 178. Wir hören dann noch von seinem Auftreten im Osterstreit, wo er als Anwalt der kleinasiatischen Selbständigkeit Rom gegenübertritt* — dann schweigen unsere Quellen von seinen Taten und Schicksalen. Um so genauer wissen wir über seine Theologie Bescheid, denn er hat sie uns in zwei Werken dargelegt, die zwar — ebenso wie alle übrigen Schriften des Irenaeus — im Urtext verloren, aber durch gute Übersetzungen erhalten sind. Das weitaus bedeutendere von beiden ist der „Elenchos", die „Widerlegung und Abwehr der falschen Gnosis" in fünf Büchern. Die ketzerbestreitenden Kirchenväter der nächsten Jahrhunderte haben diese Quelle fleißig ausgeschrieben und uns dadurch zahlreiche Stellen im ursprünglichen Wortlaut aufbewahrt, aber dann hat man sie im griechischen Kirchengebiet vergessen, so daß keine Handschrift des Ganzen erhalten ist. Im Westen ist das Werk mit größerer Beständigkeit geschätzt worden. Man hat es früh, vielleicht schon zu Lebzeiten des Verfassers, ins Lateinische übersetzt und diese Übersetzung immer wieder abgeschrieben, so daß uns noch heute mehr als ein Dutzend Handschriften erhalten sind. Aber auch die Armenier haben eine Übersetzung angefertigt, von der uns die beiden letzten Bücher vorliegen; und eine armenische Übersetzung muß uns auch den verlorenen Urtext der zweiten Schrift des Irenaeus ersetzen, die dem Euseb' noch bekannt war und den Titel trägt „Darlegung der apostolischen >) Euseb KG 5, 4, 1—2. 8. ») s. o. S. 131 f. ») Euseb KG 5, 26.

Irenaeus: Schriften

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Verkündigung" („Epideixis"). Dies ist eine kurze und ganz in den Bahnen des Hauptwerks gehende Zusammenfassung der christlichen Lehre, vielleicht als Handbuch für katechetische Unterweisung gedacht, die uns keine neuen Gedanken vorlegt, aber an manchen Stellen glückliche Formulierungen bringt. In dem Elenchos des Irenaeus haben wir das älteste Werk kirchlicher Ketzerabwehr erhalten, da das vor ihm verfaßte „Syntagma" des Apologeten Justin verloren ist. Irenaeus widmet sein Buch einem uns sonst nicht bekannten Freunde „und all den Seinen", also wohl einem Bischof und seiner Gemeinde, als Hilfsmittel im Kampf gegen die Häretiker, damit er ihnen antworten, aber auch die Irrenden wieder zur Kirche zurückführen und die Neubekehrten im Glauben bestärken kann 1 . Wir haben also das erste umfangreiche Werk rein innerkirchlichen Schrifttums vor uns. Im ersten Buch werden die Lehren der Valeatinianer und daran anschließend die anderer Gnostiker dargestellt. Mit dem zweiten Buch hebt die Widerlegung an, die sich in den folgenden Büchern immer mehr zu einer positiven Darlegung der rechten kirchlichen Lehre entwickelt. Disposition und übersichtliche Gedankenführung fehlen durchaus, und die Breite des Vortrage mit einer Fülle von Wiederholungen macht das Lesen weniger reizvoll, als das Thema verspricht. Und doch ist das Ganze um seines Inhalts willen überaus wichtig und zeigt uns zugleich, auf welcher Bildungsstufe die christlichen Kreise standen, um deren Gewinnung sich die spekulative Gnosis bemühte. Es sind dieselben Leute, welche die Schriften der Apologeten und die Traktate der Gnostiker lesen: und sie gehören einem bildungsfrohen, aber noch ungelenken Mittelstand an, der jetzt die Führung der Christenheit in die Hand nimmt. Ihnen erscheinen die geheimnisvollen Weisheitslehren der Gnostiker, die letztlich aus vertrauten Gesprächen Jesu mit Jüngern seines engsten Kreises stammen und nur für einen kleinen Kreis Auserwählter bestimmt sein wollen, als eine ) Wolff p. 180ff. «) Reste bei Bidez p. 1·—23·. ») Bidez p. 3*—7*. 4 ) Bidez p. 1·. *) Vita Plotini 14. Bidez p. 29—36. ·) Vita Plotini 16.

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1. Zusammenbruch und Neubau des Reiches

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Er nimmt mit voller Hingabe auf, was ihm der weit überlegene Geist des Meisters beschert, aber er verarbeitet es und bringt es in vereinfachte Formen, die seiner eigenen Art besser entsprechen und eine leichter faßliche Darstellung erlauben. Porphyrius will auf weitere Kreise wirken, wenn er auch noch so oft beteuert, daß seineWorte nur für Auserwählte bestimmt sind. Er weiß wohl, daß sich in den gebildeten Schichten seiner Zeitgenossen Hunderte und Tausende nach solcher Belehrung sehnen, und daß man ihnen den Zugang zu den befreienden Wahrheiten nicht verschließen darf. Seinen Schriften fehlt die herbe Strenge der plotinischen Traktate. Sie sind mit flotter Feder geschrieben, anschaulich und in einfachem, leicht verständlichen Fluß der Darlegung, mit so viel Rhetorik, wie der Geschmack des Publikums zu erwarten berechtigt ist Dabei hat er ganz deutlich das Bestreben, die überlieferten Religionsformen zu schonen und ihre relative Berechtigung durch allegorische und symbolische Deutung zu erweisen. Freilich, der magische Hokuspokus spielt jetzt für den Denker keine Rolle mehr, und die volkstümlichen Vorstellungen naturreligiöser Art werden einer scharfen Kritik unterzogen, die für jeden Einzelfall die Fülle des Fraglichen und Fragwürdigen aufweist 1 . Die Antworten soll natürlich das Studium seiner plotinischen Philosophie erbringen. Wie das gemeint ist, zeigt eine durch Augustins Polemik uns erhaltene Schrift „von der Heimkehr der Seele"*. Da hören wir von einem„pneumatischen Träger der Seele, einem„Astralleib",der je nach den Neigungen der Seele sich dem Materiellen zuwenden kann.Dann verdichtet er sich,nimmtLuftteilchenauf und kommt dadurch unter denEinfluß der bösen Dämonen, die in der Luft ihr Wesen treiben. Ein solcher Astralleib zieht die Seele hinab, so daß sie nach dem Tode in immer neue Leiber eingehen muß und viel Leid erträgt, um ihre Schuld zu sühnen. Es gibt zwei Wege zur Befreiung. Der eine ist der allem Volk bekannte der mystisch-magischen Riten der „Theurgen", *) Epist. ad Anebonem bei Jamblichus de mysteriis ed. Parthey xxix—xlv. *) Bruchstücke bei Bidez p. 27*—44*.

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Porphyrius

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insbesondere der „Chaldäer". Sie reinigen durch symbolische Handlungen den Astraileib und gewinnen ihm einen guten Dämon zum Freund, der ihn mitsamt der innewohnenden Seele von der Erde hebt und zu den himmlichen Sphären der Planeten emporträgt. Aber dieser Weg ist unsicher und gefährlich, da Neid und Mißgunst irdischer Zauberer und die Rachsucht böser Dämonen einer solchen Befreiungsmagie mit heftigem Widerstand begegnen. Der zweite Weg ist der einer philosophischen Selbsterlösung durch Abwendung vom Leiblichen und geistiges Streben nach Gott: und dieser Weg allein führt zur endgültigen Befreiung von jeder Wiederverkörperung und zur Vereinigung mit Gott und seinem Sohn, dem der Menschenseele wesensgleichen Nus. Wer zu diesem philosophischen Aufstieg nicht stark genug ist, muß den niederen Weg mit der großen Masse gehen: einen allgemeinen Heilsweg für jedermann gibt es nicht. Der Aufstieg des Philosophen ist durch strenge Askese gekennzeichnet: Enthaltung von Fleisch ist die unerläßliche Grundlage, und als eine Gruppe vonPlotinschülern diese Vorschrift außer acht lassen wollte, hat Porphyrius eine scharfe Abwehr solcher Ketzerei ausgehen lassen1. Am wirkungsvollsten kommt die Bedeutung der Askese für die Befreiung vom Irdischen in dem „Brief an Marcella" zum Ausdruck*. Diese Frau war die Gattin eines seiner philosophischen Freunde und verlor durch den Tod ihres Mannes die Stütze ihres äußeren und inneren Lebens: sie stand plötzlich mit der Sorge für sieben Kinder allein in der Welt. Da hat sie Porphyrius geheiratet, um ihr helfen zu können, obwohl er bereits in vorgerücktem Alter war. Das erschien aber der Welt und wohl auch manchen Freunden als ein Verrat seiner asketischen Grundsätze, und so sah er sich genötigt, von einer Reise aus in einem offenen Brief an die daheimgebliebene Gattin seinen Schritt zu rechtfertigen. Er hält ihr einen mit der reichen Fülle überlieferter Spruchweisheit gezierten Philosophenspiegel vor und bekennt sich gemeinsam mit ihr zu dem *) Porph. de abstinentia bei A. Nauck, Porphyrii opuscula selecta« p. 85—270. *) ebenda p. 273—297.

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1. Zusammenbruch und Neubau des Reiches

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Ideal einer weltflüchtigen und Gott zugewandten Lebensführung, die unter pietätvoller Anerkennung der überlieferten Religionsformen letztlich nach der Gottgleichheit der erlösten Seele ringt. Und die vier Elemente dieser philosophischen Religion heißen Glaube, Wahrheit, Liebe, Hoffnung 1 — der Seitenblick auf die paulinische Trias ist unverkennbar, so gut wie die Anspielung auf das Jesuswort Markus 9, 43. 45 in der Aufforderung, um des Seelenheiles willen nicht bloß ein Glied, sondern den ganzen Leib abzuhauen. Er weiß sich als Philosoph über das Gaukelspiel der Sinnlichkeit erhaben und sieht in seiner Lebensgefährtin nicht das Weib, wie sie in ihm nicht den Mann: nur die jungfräuliche Seele gebiert deiu reinen Nus Kinder der Seligkeit*. Wer das Weltbild und die philosophische Konstruktion des Origenes mit den Gestaltungen des rlotin und Porphyrius vergleicht, wird betroffen die große Ähnlichkeit erkennen, die zwischen dem Denken des Christen und dem der Heiden obwaltet. Es ist bei jedem Schritt dieser Männer zu spüren, daß sie innerlich verbunden sind und in Ammonios Sakkas einen gemeinsamen Lehrer besitzen. Der erste Systematiker des Christentums und der letzte des Griechentums entstammen derselben Schule: und beiden ist die nach der gleichen Methode betriebene strenge Wissenschaft Religion geworden, beide suchen und finden Gott als das höchste Gut auf einem Wege, der mit asketischer Rauheit von dieser Welt weg in ein besseres Jenseits führt. Und doch besteht Feindschaft zwischen beiden Lagern. In welchem Maße, darüber belehrt uns die Streitschrift des Porphyrius gegen die Christen, mit ihren 15 Büchern das umfangreichste, aber auch eindringlichste und scharfsinnigste Werk philosophischer Polemik, das im ersten Jahrtausend der christlichen Geschichte zu verzeichnen ist. Freilich ist es als Ganzes für uns verloren, und auch die zahlreichen Gegenschriften der bedeutendsten christlichen Gelehrten hat man in gleicher Weise dem Untergang geweiht, um jede Spur dieses ') epist. ad Marcellam 24.

*) epist. ad Marcellam 33. 34.

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Porphyrius

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gefährlichen Giftes aus der Welt zu schaffen. Aber eine kleine Zahl von Zitaten ist uns doch erhalten, und ein fingierter Dialog des Makarius von Magnesia bringt reichliche Auszüge aus einem christenfeindlichen Werk, das mit höchster Wahrscheinlichkeit als das des Porphyrius angesprochen werden d a r f . So können wir uns zwar nicht über die Gesamtanlage und den Gedankengang der Streitschrift, wohl aber über ihre Haltung und Methode ein Urteil bilden. Wir haben gesehen, wie hoch Porphyrius trotz aller philosophischen Aufklärung die pietätvolle Rücksicht auf die „Religion der Väter" schätzt: eben darum sind ihm die Christen von vornherein verwerflich, weil sie die väterlichen Überlieferungen verachten und sich den fremden und verächtlichen Mythen der Juden ergeben: aber auch dabei sind sie nicht geblieben, sondern haben sich selbst einen neuen und einsamen Weg zurechtgemacht, der freilich nicht auf vernünftigen Gründen aufgebaut ist, sondern blinden Glauben erfordert*. Die neue Religion kann schon darum nicht Wahrheit sein, weil sie die vorchristliche Menschheit vernachlässigt und sich nur an die moralisch Kranken wendet'. Dazu kommen unhaltbare Lehren von einem leidenden Gottessohn, von einer Vernichtung des Himmels und einer Auferstehung des Leibes, die mit dem wahren Gottesbegriff in Widerspruch stehen4. Aber bei diesen allgemeinen Einwendungen, die sich mit der Polemik des Celsus" berühren, bleibt Porphyrius nicht stehen. Es ist für ihn bezeichnend, daß er seine Kritik gegen die Bibel richtet, ihre Unglaubwürdigkeit und die inneren Widersprüche ihrer Lehren nachweist, und so von selbst zu einer Ablehnung der in früheren Zeiten von ihm noch verehrten Person Jesu gelangt. Gegen die allegorische Deutung des Alten Testaments durch einen Gelehrten wie Origenes findet er scharfe Worte, ') Sammlung der Reste bei v. Harnack, Porphyrius gegen die Christen (Abhandl. Akad. Berlin 1916 Nr. 1). Dazu vgl. A. B. Hulen, Porphyry's Work against the Christians (Yale Studies in Religion Nr. 1) 1933. *) Harnack Fragm. 1. 52. 73. ») Fr. 81. 82. 87. «) Fr. 84. 85. 89. 92. 94. ») Bd. 2, 173—175.

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1. Zusammenbrach und Neubau des Reiches

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ohne daran zu denken, daß er dieselbe Methode unbedenklich bei Homer zur Anwendung bringt1. Die alttestamentliche Zeitrechnung hat er mit eigener Gelehrsamkeit untersucht und als geschulter Chronograph die Entstehung des Buches Daniel in der Zeit des Antiochus Ephiphanes mit durchschlagenden Gründen erwiesen — die freilich damals mit Entrüstung von den Christen abgelehnt wurden*. Sein voller Haß aber richtet sich gegen die Evangelisten und Apostel, die er als unwissende, aber dummschlaue Betrüger hinzustellen bemüht ist. Mit hämischer Kritik, die in den blühendsten Zeiten der Aufklärung Nachfolge gefunden hat, spielt er die Widersprüche ihrer Berichte, die historische Unmöglichkeit einzelner Nachrichten oder legendarischer Erzählungen gegeneinander aus und wird nicht müde, die Charakterfehler und Unsinnigkeiten der beiden Hauptapostel Petrus und Paulus zu schildern*. Auch Jesus selbst findet keine Gnade vor seinen Augen. Seine Gleichnisse sind trivial und dabei doch unverständlich, und wenn seine Geheimnisse vor den Weisen verborgen und den Unmündigen offenbar sind (Matth. 11, 25), dann ist dem Menschen das Streben nach Unwissenheit und Unvernunft nur anzuraten. Kein Wunder, denn Jesus selbst verfügte auch nicht über eine angemessene Schulbildung. Seine Seligpreisung der Armen und Ablehnung der Reichen zerstört jedes ernsthafte sittliche Streben, und wer alles, was er hat, verkauft und den Armen gibt (Matth. 19, 21), verzichtet auf die Freiheit und macht sich freiwillig zum Bettler, der anderen lästig fällt4. Übrigens ist Jesus keinswegs seinen eigenen Lehren gefolgt. Er predigt Furchtlosigkeit, aber als er verhaftet war, hat er in Gethsemane gezittert und gezagt, und weder vor dem Hohenpriester noch vor Pilatus so gesprochen, wie es eines weisen und göttlichen Mannes würdig gewesen wäre — wie anders hat da Apollonios von Tyana vor Domitian gestanden und ist dann wunderbar aus dem Saal verschwunden und we0 Fr. 39; vgl de antro Nympharum. «) Fr. 40. 41. 68. 43. 2—18. 49. 55.19—37. *) Fr. 54. 52. 56. 58.

») Fr.

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Porphyrius

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nige Stunden später in Puteoli allen sichtbar erschienen1! Aber wirkliche Wunder konnte Jesus nicht tun. Warum hätte er sich sonst geweigert, von der Zinne des Tempels herabzuspringen? Warum ist er nicht nach seinem Tode dem Pilatus, dem Herodes, dem Hohenpriester oder lieber noch dem Senat und Volk von Rom als Auferstandener erschienen? Dann hätte alle Welt an ihn geglaubt, und seine durch falsche Prophezeiungen irregeführten Anhänger brauchten sich nicht als Schwindler strafen und um seinetwillen töten zu lassen: wie denn auf diesem angeblichen Sündenträger der Welt in Wirklichkeit die Schuld für vieles Blutvergießen liegt*. Es ist handgreiflich, daß diese Kritik der Bibel und dem Christentum mit nüchternstem Rationalismus zu Leibe geht und den ganzen Stolz des wissenschaftlich geschulten Denkers gegenüber einem verächtlichen Aberglauben zur Schau trägt. Aber in diesen Eigenschaften des Philosophen wurzelt keineswegs die treibende Kraft und die lebendige Seele seiner Polemik. Wir haben ja gesehen, wie verständnisvoll dieser Rationalist den naturreligiösen Vorstellungen der griechischen Religion,selbst demZauberspuk derTheurgen und Magier begegnen kann, wie er hellenistischer Erlösungsmystik huldigt und die alles Verstandesmäßige hinter sich zurücklassende Ekstase als seligstes Lebensziel ersehnt, ja wie seine ganze Weltanschauung sich weithin mit der des Christen Origenes berührt. Nicht aus wissenschaftlichen Gegensätzen, ja nicht einmal aus religiösen Stimmungen entspringt der glühende Haß gegen das Christentum, der sich in des Porphyrius Streitschrift offenbart, sondern ausdenlebendigenSpannungen derZeit saugt er seine Nahrung. Er quillt mit innerer Notwendigkeit aus dem Selbstbehauptungswillen einer zur letzten Vergeistigung entwickelten alten und stolzen Kultur, die sich einem mächtig emporstrebenden Neuen gegenübersieht, das sie mit Recht als ein ganz Anderes und trotz aller Angleichungsbestrebungen völlig Fremdartiges empfindet. Hier gibt es nur Kampf auf Leben und Tod: und ») Fr. 62. 63 vgl. Philostrat, vita Apollonii 8, 8—10. 65. 66. 60. 61.

*) Fr. 48. 64.

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1. Zusammenbrach und Neubau des Reiches

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diese Erkenntnis führt dem Porphyrius die Feder und macht ihn für uns zum Repräsentanten des spätantikenLebensgefühls. Wie sehr er das ist, sehen wir aber nicht nur an seinem Haß, sondern erst recht an den Dingen, denen er seine liebevolle Zuneigung schenkt. Darunter spielen die Orakel und theurgischen Wunderlichkeiten eine bedeutende Rolle, und wir können feststellen, daß die Neupia toniker der folgenden Generationen noch inbrünstiger an diesen seltsamen Spekulationen hängen. Was im Laufe des zweiten Jahrhunderts sich als Gnosis entfaltete und aus tausend Quellen getränkt wurde1, das wuchs im dritten munter weiter und verband sich gerne mit den religiösen Bestrebungen des modernisierten Pythagoreertums und des Piatonismus: dieser außerchristlichen Gnosis konnte der Abwehrkampf der Kirche naturgemäß nichts anhaben. Wir dürfen mit Sicherheit behaupten, daß die meisten Erzeugnisse dieser Bestrebungen spurlos untergegangen sind: um so kostbarer sind für uns die wenigen erhaltenen Reste. Porphyrius kennt mehrere Orakelsammlungen gnostischer Theurgen*. Eine davon wird bei ihm und mehr noch bei seinen Nachfolgern so oft zitiert, daß wir uns ein leidlich klares Bild von ihrem Inhalt machen können: es ist die Sammlung der Chaldäischen Orakel*. Dem Titel entsprechend fließen diese Sprüche in Hexametern dahin, die metrisch zwar etwas korrekter sind als die jüdischen Sibyllinenverse, aber doch nicht selten den Leser die Nöte des Dichters mitleiden lassen. Sie künden von dem Einen, dem höchsten Wesen, dem Nus, der allem verstandesmäßigen Denken unerreichbar über der Welt schwebt, die er durch ein Mittelwesen, den „zweiten Nus" geschaffen hat. Auch von dem göttlichen Schweigen( Sige)4 und einer Dreiheit ist die Rede. Die Welt ist in drei Stufen aufgebaut; dem feurigen Empyreum, dem Reich des Äthers, in dem sich die sieben Planetensphären bewegen, und dem unterhalb der Mondsphäre liegenden Raum der Materie*. l ) Bd. 1, 282 ff. ») s. o. S. 24 f. *) Ausgabe mit Kommentar von Wilh. Kroll de oraculis Chaldaicis 1894 (Breslauer philolog. Abhandlungen Bd. 7, Heft 1). Dazu Kroll im Rheinischen Museum f. Philologie Bd. 50 (1895) S. 636—639. *) VgL Bd. 1,310 Kroll S. 16. «) Kroll S. 31.

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Chaldäische Orakel. Hermetische Schriften

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Und diese ganze Welt ist belebt von zahllosen göttlichen und dämonischen Wesen, deren Einwirkungen weithin das Schicksal der Menschen bestimmen. Ergibt sich der Mensch der Knechtschaft des Leibes, so verfällt er den bösen Dämonen der Erde und dem naturhaften Schicksal, der Heimarmene 1 . Läßt sich aber der göttliche Funke der Menschenseele, der Nus, durch die in der Welt ringsum verstreuten Symbole an seine himmlische Abkunft erinnern, so öffnet sich ihr mit Hilfe der freundlichen Götter der Weg der Rückkehr zum höchsten Gott. Und da Gottes Wesen sich im Feuer ausdrückt, so ist der Kultus des Feuers der zum Heil führende Ritus. Leider haben uns die philosophischen Ausleger über diese Seite der Orakelreligion Näheres nicht mitgeteilt: aber es ist höchst wahrscheinlich, daß der Leser zu einer Feuermagie angeleitet wurde, die ihn in den Stand setzte, Tote zu beschwören und Götter erscheinen zu lassen*. Und so mündet diese Orakelphilosophie trotz ihrer großen Worte schließlich aus in eine Kultsymbolik, welche die Brücke zu den niederen Regionen des Aberglaubens schlägt. Eine Stufe höher stehen die zahlreichen Schriften, welche den Namen des Hermes Trismegistos tragen und dadurch bekunden, daß sie ebenso wie jene Orakel als göttliche Offenbarungen gewertet werden wollen. Denn dieser „dreimalgroße Hermes" ist kein anderer als der altägyptische Weisheitsgott Thot*. Man hat vor nicht langer Zeit auch wirklich geglaubt, in diesen Schriften den griechisch geformten Niederschlag ägyptischer Religiosität zu besitzen, und ist dann zur Annahme iranischer Einflüsse fortgeschritten 4 . Aber wenn hier der alte Orient einwirkt, so jedenfalls nur sehr indirekt: im ganzen wie im einzelnen tragen diese Offenbarungen den Charakter des philosophierenden Mystizismus des zweiten oder dritten Jahrhunderts. Eine Sammlung solcher Traktate ist uns handschriftlich erhalten, und darüber hinaus werden in einem enzyklo>) Kroll S. 48 f. 52—54 62 f. «) Kroll S. 54—58. ') A. Erman, Die Religion der Ägypter* 407. 343 ff. 4) R. Reitzenstein, Poimandres 1904. R. Reitzenstein u. Η. H. Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus 1926 (Studien d. Bibl. Warburg Bd. 7).

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1. Zusammenbruch und Neubau des Reiches

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pädischen Sammelwerk des 5. Jahrhunderts zahlreiche weitere Bruchstücke mitgeteilt. Auch Übersetzungen und gelegentliche Zitate bei christlichen Schriftstellern erweitern unsere Kenntnis 1 . Die einzelnen Schriften sind von mäßigem Umfang und meist in die Form einer Unterweisung des Hermes an seinen Sohn Tat oder an Asklepios, einmal auch der Isis an Horos gekleidet. Ihr Inhalt ist Mitteilung tieferer Erkenntnis von Gott, der Welt und dem Menschen, und zwar in dem uns nun bereits ganz geläufig gewordenen Sinne einer erlösenden Gnosis. Der Mensch soll durch diese vollkommene Einsicht in den Stand gesetzt werden, sich über seine irdische Daseinsform zu erheben und Gott zu werden'. Dem Leser wird aber keine methodisch durchdachte Philosophie vorgetragen, ja nicht einmal Übereinstimmung der Aussagen über die bedeutsamsten Probleme wird angestrebt: werdie Widersprüche sammeln will,kann reiche Beute machen. Diese Literatur entzieht sich jeder Systematik, und auch das Mittel einer Scheidung verschiedener zeitlich auseinanderliegender Schichten9 kann man nicht mit Erfolg anwenden. Mit echt gnostischer Willkür und selbstbewußter Unbekümmertheit lassen die verschiedenen Verfasser ihrer religiös beschwingten Phantasie die Zügel schießen und bauen ihre Welt vor uns auf. Wir vernehmen die stoische Predigt von der Erkennbarkeit Gottes aus der Betrachtung der Natur und des zweckmäßigen Baues des menschlichen Körpers, hören, daß Gott die ganze Welt durchdringt und in allem ist: „alles ist Gottes voll"4. Aber mit diesem Pantheismus vereinigt sich unbedenklich ein auf die äußersten Spitzen der Transzendenz getriebenes Gottesbild platonisierender Herkunft. Gott ist weder durch die Prädikate Nus, Licht, Geist, noch durch den Begriff des Seins ') Sammlung mit englischer Übersetzung bei Walter Scott, Hermetica, 4 Bde. 1924—1936. *) Hennetica 4, 7 10, 6 Asclepius p. 376, 1 f. gr. Scott, Kore Kosmu bei Stobaeus Ecl. 6. p. 408, 14 ( = p. 496, 22 Scott). ·) Josef Kroll, Die Lehren des Hermes Trismegistos 1914. W. Kroll bei Pauly-Wissowa 8, 804—820. W. Bousset in Göttinger Gel. Anzeigen 1914, 748 δ. 4 ) Hermetica 5, 4—6. 9 11,6.

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Hermetische Schriften

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zu erfassen: er ist vielmehr von allen diesen Realitäten die Ursache1. Und wenn er auch zuweilen als die alles verursachende letzte Einheit (Monas) bezeichnet und gefeiert wird, so lesen wir dafür an anderer Stelle, daß er der Eine und zugleich die Quelle des Einen ist*. Will man sein Wesen positiv beschreiben, so muß man es den Willen nennen, von dem alles Sein und Werden stammt'. Wie in der Gottesvorstellung, so mischen sich auch im Weltbild stoische und platonische Elemente. Wir finden den Gegen, satz der intelligiblenWelt der Ideen und des sinnlich erfaßbaren Kosmos der gottfeindlichen Materie4, hören von dem Schöpferwirken des vom höchsten Gott ausgesandten Demiurgen, des Logos oder Nus, der einmal auch als der Sonnengott Helios beschrieben wird', und lernen die Planetensphären samt den zahllosen Dämonenwesen zwischen Himmel und Erde kennen. Im Mittelpunkt des Interesses steht der Mensch, der an den irdischen Leib gebunden allem Unheil preisgegeben ist, vom unbarmherzigen Schicksal4 bedroht wird und so zum eigenen Verderben den Körper als „das Gewand der Unwissenheit, den lebendigen Tod" mit sich herumträgt 7 . Aber er ist doch letztlich göttlichen Ursprungs, und der weltschaffende Nus spürt allüberall den verstreuten Samenkörnern der göttlichen Wesenheit 8 nach, weckt durch seinen Ruf die mit Nus begabten Menschen — das sind freilich nicht alle! — aus dem Schlaf der Sinnentrunkenheit* und lehrt sie den Weg der Gnosis, den Aufstieg der Seele10 zu Gott aus den Fesseln des Leibes. In einem der eindrucksvollsten Traktate 11 vollzieht sich parallel mit den Worten des Hermes das Mysterium der geistigen Wiedergeburt an seinem Sohn und Schüler Tat zum Vorbild für jeden Leser. Sünde ist Unwissenheit, Gnosis ist Frömmigkeit", so klingt es uns immer wieder entgegen und mahnt den Schüler, dem Leib und seinen Leidenschaften abzusagen. Als dämonen0 Herrn. 2,12—14 12,1. l ) Herrn. 4,10 5, 2. ») Herrn. 10,2—4. *) Herrn. 1, 7 16, 12. 17. «) Herrn. 16, 5. ·) Herrn. 12, 5. ') Herrn. 7, 2.3. ·) Herrn. 9, 3—4. 6. ·) Herrn. 1, 27 7, 1—3. ") Herrn. 1, 25 4, 11. ») Herrn. 13. ") Herrn. 1, 20 11. 21; 6. 5 9, 4.

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1. Zusammenbruch und Neubau des Reiches

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gewirkte Laster werden genannt Ehebruch, Mord, Elternmißhandlung, Tempelraub, unfromme Taten, Selbstmord, und an anderer Stelle werden zwölf Gesinnungssünden aufgezählt, welche die sinnliche Seele beherrschen1. Aber der Gegensatz zwischen Geist und Leib scheint nicht zu eigentlicher Askese geführt zu haben: die Schriften müßten sonst mehr Spuren davon bewahrt haben als die einzige Bemerkung am Schluß des lateinischen Asklepiosgesprächs, daß nach dem Gebet sich die Teilnehmer zu einer „reinen und vegetarischen Mahlzeit" begeben. Und von sexueller Askese wird überhaupt nicht gesprochen, wir hören im Gegenteil einmal*, daß Kinderlosigkeit das größte Unglück und Unrecht sei. Man gewinnt durchaus den Eindruck, daß sich die ethischen Forderungen dieser Mystiker wesentlich in den Bahnen der stoischen Moral bewegen und es dem Einzelnen überlassen wird, ob erdem nachdrücklich eingeschärftenKampf gegen den Leib bestimmte Formen geben will oder nicht. Auch kultische Vorschriften fehlen gänzlich. Der Weg zur „Vergottung" wird durch Kontemplation beschritten, durch Konzentration aller Seelenkräfte auf die heilbringenden Erkenntnisse, welche durch das Lesen der hermetischen Schriften vermittelt werden'. Wir haben also im deutlichen Gegensatz zu den bekannten magischen und theurgischen Praktiken, aber auch zu den gnostischen Kulturorganisationen, eine rein literarisch gewordene Buchmystik vor uns. Aber sie strebt dem gleichen Ziele zu wie jene: der Aufstieg der Seele nach dem Tode durch die himmlischen Sphären4 wird bereits hier auf Erden vorbereitet, und besonders Begnadeten gelingt es, die Seele zeitweilig vom Leibe zu lösen und in der Ekstase Visionen zu schauen und das Gefühl der Gottgleichheit zu erleben". Von dem sonst in gnostischen Kreisen beliebten Synkretismus ist kaum etwas zu spüren. Die Götter der Griechen und Römer sind verschwunden; wenn sie je einmal' erwähnt werden,so erscheinen sie als kosmische Kräfte oder Wesen der Sternen>) Herrn. 9, 3 13,7. *) Herrn. 2.17. ») Vgl. besonders Herrn. 13. ) Herrn. 1, 24—26. «) Herrn. 6, 1 10, 5 11, 20 13, 3. ·) Asclepius 19. 27.

4

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Hermetische Schriften

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weit. Der Sonnengott Helios spiegelt in seiner überragenden Bedeutung1 Anschauungen stoischer Theologen, vielleicht auch die amtliche Religiosität der Zeit wider. Die als redende Personen auftretenden ägyptischen Götter werden als Träger höchster Offenbarungen gewertet, aber nicht eigentlich mehr als nationale, kultbedürftige Gottheiten empfunden. Man darf ruhig behaupten, daß die hermetischen Schriften dem „Heidentum" der Zeit kühl, ja vielleicht ablehnend gegenüberstehen. Wesentlich anders verhalten sie sich zum Judentum. Dessen Vorstellungswelt hat die Phantasie und die Ausdrucksformen der Schriftsteller recht stark beeinflußt*. Es will doch etwas bedeuten, daß die beiden Darstellungen der Weltschöpfung, in Traktat 1 und in 3, auf der Grundlage des mosaischen Berichtes der Septuaginta aufgebaut sind, ja daß eine ganze Reihe von seltsam klingenden Einzelausführungen in den Schriften Philos entscheidende Parallelen findet. Das berühmte Schlußgebet des Poimandres mit seinem Neunmalheilig klingt so biblisch, daß es später sogar ganz unbefangen in eine christliche Liturgierolle aufgenommen worden ist'. Und diese Berührungen mit hellenistisch-jüdischer Weisheit beschränken sich nicht auf die genannten zwei Traktate, sondern finden sich auch an anderen Stellen der hermetischen Schriften. Das beweist, daß die früher 4 von uns geschilderte Propaganda des Diasporajudentums diese Kreise mystischer Spekulanten erreicht und sie tief beeindruckt hat: vielleicht erklärt das auch ihr Abrücken vom landläufigen Heidentum. Die Entstehungszeit dieser Hermesbücher ist noch immer unsicher: man kann ihre Anfänge ins zweite Jahrhundert verlegen, aber je tiefer wir ins dritte hinabgehen, um so begreiflicher wird diese ganze Literatur in ihrer Gesamtheit: man wird sie gern in die Zeit zwischen Numenios5 und Porphyrios setzen. ») Herrn. 5, 3 10, 2 16, 5. 12. «) Grundlegend die Studie von C. H. Dodd, The Bible and the Greeks (1935) S. 99—248. ») Herrn 1, 31—32: dazu vgl. Reitzenstein und Wendland Gött. Nachr. 1910. 324—329. Der Papyrus stammt aus dem 4. oder endenden 3. Jh. (Schubert). ) Lact. mort. 6. ») Lact, instit. 5, 2, 2.

») Lact. mort. 12. 13. Euseb, KG 8, 2, 4 8, 5.

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2. Der Endkampf des Christentums

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Der andere Zeuge ist Euseb, der um diese Zeit als wissenschaftlicher Gehilfe des gelehrten Presbyters Pamphilos im palästinischen Cäsarea lebte. Er hat mit der Gewissenhaftigkeit eines Historikers die Geschichte der Verfolgung geschrieben, soweit sie seinem Blick erreichbar war: das achte Buch seiner Kirchengeschichte erzählt die Ereignisse im Orient bis zum Toleranzedikt des Galerius von 311: das Werk ist damals sofort ausgegeben worden, also fast gleichzeitig mit den letzten Ereignissen verfaßt. Eine besondere Schrift über die Märtyrer in Palästina ist wohl in denselben Monaten entstanden und später der Kirchengeschichte als Beilage eingefügt worden: hier berichtet Euseb reichlich von dem, was er zu Hause oder auf Reisen mit eigenen Augen gesehen hat. Zu diesen beiden Darstellungen treten dann nicht wenige gesondert überlieferte Märtyrerakten1 von verschiedenem Wert Nur Laktanz weiß von der Vorgeschichte des Ediktes von 303 zu erzählen*: es mag Hofklatsch dabei sein, der in der Residenz umlief, aber im ganzen klingt der Bericht sehr wahrscheinlich. Danach soll Diokletian während einer Reise im Orient bei einem seiner gewohnten Orakelopfer ohne göttliche Antwort geblieben sein, weil christliches Personal der Handlung beiwohnte und sich zum Schutz gegen die angerufenen Dämonen bekreuzigte. Er befahl darauf, die ganze Hofdienerschaft zum Opfer zu veranlassen: wer sich weigere, solle ausgepeitscht werden. Gleichzeitig erging ein Befehl an die militärischen Kommandostellen, daß sämtliche Christen aus dem Heer zu entfernen seien. Im darauf folgenden Winter 302/3 erhielt er in Nikomedia Besuch von Galerius, der schon längst den Wunsch hatte, etwas gegen die Christen zu unternehmen und von seiner dem Kybeledienst ergebenen Mutter aufgehetzt war. Lange wehrte sich der Alte und wollte es mit der Beseitigung der *) Texte bei R. Knopf, Ausgewählte Märtyrerakten, 3. Aufl. v. G. Krüger 1929. Kritische Aufzählung bei Harnack, Chronologie 2, 473 bis 482. Dazu H. Delehaye, Les passions des martyrs et les genres litteraires 1921 und desselben Autors Origines du culte des martyrs 2. 6d. 1933. *) Lact, mort 10—11. Instit. 4, 27, 4.

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Beginn der Verfolgung

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Christen aus Hof- und Militärdienst genug sein lassen. Endlich gab er dem Drängen des Galerius nach und berief einen Kronrat von Juristen und Offizieren, welche zur Christenverfolgung rieten. Dann wurde das Apolloorakel in Didyma befragt1, und als auch dieses zustimmte, entschloß sich Diokletian zum Einschreiten, wünschte aber Blutvergießen zu vermeiden. Auch Eusebius1 bestätigt, daß der eigentlichen Verfolgung eine Säuberung des Hofes und Heeres vorausging, und macht Galerius allein für diese Maßregel verantwortlich. Es wird schon stimmen, daß Galerius von Natur aus leidenschaftlichen Haßempfindungen gegen die Christen zuneigte und sich für berufen hielt, seinen leibhaftigen Vater Mars* und die übrigen römischen Götter an ihren Verächtern zu rächen. Und daß der vorsichtig erwägende, dem Cäsar geistig weit überlegene Diokletian von plötzlichem Zuschlagen nichts wissen wollte, kann auch nicht wohl bezweifelt werden. Aber es ist andrerseits auch sicher, daß eine betonte Pflege der altrömischen Staatsreligion mindestens seit den neunziger Jahren zum Programm Diokletians gehört. In einem Edikt des Jahres 295 werden die vielfach zur Unsitte gewordenen Ehen unter Blutsverwandten verboten, und zwar unter mehrfach wiederholtem Hinweis auf die Vorschriften des guten alten Rechts, das mit religiöser Ehrfurcht bewahrt werden müsse. Wenn die unsterblichen Götter sähen, daß alle Bewohner des Reichs ein frommes, ruhiges und keusches Leben führten, dann würden sie dem römischen Namen wie bisher so auch in Zukunft wohlgesinnt und gnädig sein4. Kurz danach ist ein anderes Edikt' erschienen, welches zum Schutze der alten Götter einen regelrechten Religionskrieg anordnet — und zwar gegen die „aus dem feindlichen Perservolke in die römische Welt eingedrungenen" Manichäer, über ») Lact. mort. 11, 7 und Euseb Vita Const. 2,50. 54. Vgl. A. Rehm, Philologus 93 (1938) S. 74—84. ') Euseb, KG 8.1. 7 und 8 Anhang 1 p. 796 Schwartz. ») Aurel. Victor Epitome 40, 17 Lact. mort. 9, 9. ') Collatio 6, 4,1 bei Mommsen, Collectio librorum iuris anteiustiniani 3,157 K. Stade. Der Politiker Diokletian (Diss. 1926) S. 78 ff. ») Collatio 15, 3,1 p. 187 Mommsen. Stade S. 86 ff.

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2. Der Endkampf des Christentums

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deren Unwesen Julianus, der Prokonsul von Afrika, einen Bericht eingereicht hat. Der Kaiser führt die von den Weisen der alten Zeit festgesetzte Religion und Lebensordnung auf die Vorsehung der unsterblichen Götter zurück und bezeichnet jede Kritik dieser altüberlieferten Anschauungen durch neue Religionen schlechthin als unstatthaft. Nun ist bekannt geworden, daß die Manichäer schon im Perserland viel Unheil angerichtet haben,und es stehtzu befürchten, daß sie das friedliche römische Volk mit ihren abscheulichen persischen Bräuchen vergiften: wie denn der Bericht desProkonsuls bereits aller Art Übeltaten bei ihnen festgestellt hat. Darum sollen ihre Führer samt den heiligen Schriften verbrannt, die hartnäckigen Anhänger geköpft oder, wenn sie Honoratioren sind, in die Bergwerke geschickt werden—wobei die Vermögen demFiskus anheimfallen. Dieses Edikt atmet allerdings den ganzen Haß des römischen Feldherrn gegen den Landesfeind an der Ostgrenze und ist augenscheinlich veranlaßt durch einen Propagandafeldzug von persischen Manichäern, die vor der Verfolgung im eigenen Lande nach Afrika geflüchtet waren. Aber die Begründung der Strafmaßnahmen ist so allgemein und „altrömisch" gehalten, daß man daraufhin auch eine Christenverfolgung hätte anordnen können. Es war nur abzuwarten, ob die Christen irgendwo und irgendwie als ebenso gefährlich empfunden würden wie diese Manichäer: die zur Verfolgung erforderliche Stimmung war da, das lehrt uns das Edikt. Von hier aus begreift sich das von Laktanz geschilderte Drängen des Galerius und auch sein endlicher Sieg über die staatspolitischen Bedenken Diokletians: denn in der grundsätzlichen Einstellung stimmte der Augustus mit seinem Cäsar überein. Im Februar 303 war es so weit, daß Diokletian nachgab, freilich mit der Einschränkung, es dürfe kein Blut vergossen werden. Am Terminalienfest des 23. Februar erschien in der Morgenfrühe der Polizeipräfekt mit seinen Leuten vor dor Kirche von Nikomedia. Die Türen wurden aufgebrochen, die Bibeln verbrannt, die Einrichtung der Plünderung preisgegeben. Dann erschienen Pioniere und machten das Gebäude dem Erd-

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Das erste Edikt (303)

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boden gleich1. Am folgenden Tage erging ein Edikt, welches den Christen in aller Form den Krieg ansagte. Darin wird auf das Bestreben der Kaiser hingewiesen, den Staat nach altrömischen Begriffen von Gesetz und Ordnung zu reformieren und die Christen, die den Glauben der Väter verlassen haben, zu guter Gesinnung zurückzuführen: es gehe nicht an, daß sie fernerhin nach eigenem Gutdünken sich Lebensordnungen gäben und hie und da allerlei Volk zu Gemeinden zusammenschlössen. Deshalb wird angeordnet, daß alle Honoratioren, die beim Christentum beharren, ihre Vorzugsstellung verlieren, und die kaiserlichen Hofleute, die meistens Freigelassene waren, bei gleichem Verhalten in die Sklaverei zurückkehren sollten. Im übrigen wird allen Christen der Rechtsschutz entzogen, den der Staat seinen vollberechtigten Bürgern gewährt. Die Kirchengebäude sollen niedergerissen und die heiligen Schriften verbrannt werden*. Natürlich war die Erregung in der christlichen Bevölkerung groß, und als gleich danach zweimal in kurzem Abstand Feuer im Kaiserpalast ausbrach, sah man darin Racheakte der Christen. Sofort setzte eine grausam und blutig durchgeführte Untersuchung ein, die zunächst am Hof, dann aber auch in der Stadt zahlreiche Märtyrer forderte. Die Kaiserin Prisca und ihre Tochter Valeria wurden zum Opfer gezwungen, der Bischof Anthimus von Nikomedia enthauptet und zahlreiche Kleriker und Laien einzeln und scharenweise umgebracht'. Zu allem Unheil gab es um diese Zeit in Antiochia und dem kappadokischen Melitene kleine Putsche von lächerlicher Geringfügigkeit: aber Diokletian war zornig geworden. Er strafte in Antiochia über alles Maß hinaus und witterte im Hintergrund christliche Machenschaften4. So ging ein zweites Edikt aus, welches die Einkerkerung aller Kleriker anordnete, und bald folgte ein drittes, welches ») Lact. mort. 12. *) Lact. mort. 13 und Euseb, KG 8, 2, 4 = mart. Palaest. pr. 1. Die Motivierung nach Lact. 34, 1—2. ') Lact, mort. 14 Euseb, KG 8, 6, 1—9. *) Euseb, KG 8, 6, 8 Libanius oratio 11, 159 19, 45 20, 18 ed. Förster.

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2. Der Endkampf des Christentums

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verfügte, die Verhafteten durch die Folter zum Opfer zu zwingen1. Und nun setzte mit voller Wucht die blutige Verfolgung ein, welche als furchtbarste Prüfung unaustilgbar in der Erinnerung der Kirche haftet und den Namen Diokletians über alle seine Vorgänger hinaus gebrandmarkt hat: er ist in der Legendenliteratur der Folgezeit der Typus des Verfolgers schlechthin geworden. Aber auch die historisch zuverlässigen Berichte sind schauerlich genug. Alle Greuel der früheren Zeiten begegnen uns vervielfältigt wieder und werden durch neue Erfindungen einer teuflischen Henkersphantasie bereichert und überboten. Auch die Leichen werden jetzt noch gestraft: man weigert ihnen die Bestattung und überläßt sie den Tieren zum Fraß, ja vereinzelt werden sie sogar wieder ausgegraben und ins Meer geworfen 1 . Aber daß auch diesmal die Absicht nicht die Ausrottung, sondern die Bekehrung der Christen war, ergibt sich aus einer gelegentlich angewandten seltsamen Prozedur: man fesselte die Hände der Unglücklichen oder lähmte sie durch Feuer und warf dann aus den kraftlosen Gliedern Weihrauch in die Opferflamme. Man konnte dasselbe Ergebnis erzielen, wenn man die Bewußtlosigkeit des Gemarterten zum Opferakt mißbrauchte, aber es genügte schließlich auch, ihn einfach zu entlassen und zu erklären, er habe sich gefügt. Wer konnte das nachprüfen? Nicht einmal der Betroffene, der doch nur von seinen bewußten Handlungen eine Erinnerung haben konnte. Die Absicht war, die Zahl der verleugnenden Kleriker möglichst groß erscheinen zu lassen und dadurch Mutlosigkeit in die Reihen der Gemeinden zu tragen. Die Menge der Schwachen war wirklich nicht klein: aber diesem Blendwerk ist die Kirche doch wirksam begegnet'. Die Zahl der Todesopfer war — wenn man von dem Strafgericht in Nikomedia absieht — im ersten Jahre der Verfolgung nicht groß. Euseb, der darüber genau Buch geführt hat, nennt für i) Euseb, KG 8, 6, 8—10. ! ) Euseb, KG 8, 6, 7. ') Euseb, mart. Pal. 1, 4. Petrus Alex. can. 14 (Lagarde reliquiae iur. eccl. antiqu. graece p. 73). Cone. Ancyranum can. 3.

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Das zweite und dritte Edikt

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Palästina und Antiochia zusammen vier Tote. Im zweiten Jahr steigert sich die Zahl nach derselben Quelle, aber es scheint sich wesentlich um eine einzige große Aktion zu handeln, bei der freiwillige Provokation eine erhebliche Rolle spielt1. Das Verfolgungsedikt galt, wie sich von selbst versteht, für das ganze Reich: es trug die Namen beider Kaiser und beider Cäsaren am Kopf, und Lactanz versichert uns noch ausdrücklich, Diokletian habe dem Maximian und dem Konstantius die Durchführung brieflich ans Herz gelegt. Dieser begnügte sich, die Kirchen zerstören zu lassen, während Maximian auf italienischem Gebiet kräftig Zugriff1. Obwohl zu vermuten ist, daß nicht wenige der in Rom und dem übrigen Italien verehrten Märtyrer der diokletianischen Verfolgung angehören, sind uns zuverlässige Angaben nicht erhalten. Besser sind wir über Afrika unterrichtet. Da erfahren wir aus den Akten, daß der Prokonsul Anulihus in Numidien* nicht nur gegen Kleriker vorging und die Auslieferung von Bibeln erzwang, sondern schon im Februar 304 eine kleine Gemeinde von 49 Personen wegen verbotener Abendmahlsfeier in Karthago hinrichten ließ 4 . Im Dezember 304 wird eine vortiehme Dame Crispina in Theveste enthauptet, nachdem ihr schon andere Frauen vorausgeschickt sind. Und vielleicht darf die Hinrichtung der Maxima mit ihren beiden Gefährtinnen, die an einem 29. Juli unter Anulinus stattfand, auch dem Jahre 304 zugeschrieben werden". In Afrika scheint demnach schon seit Anfang 304 die blutige Verfolgung auch auf Laien ausgedehnt worden zu sein. Jedenfalls ist die Zahl der Todesopfer nicht gering gewesen. Das lehren uns die zahlreichen Märtyrernamen auf Inschriften und in liturgischen Texten,'1 die mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit auf die diokletianische Verfolgung zurückl ) Euseb mart. Pal. 3, 1—4. *) Lact, mort 15, 6—7. ») Florus 4 ) Acta Felicis (Knopf Optat. 3, 8 p. 90, 16, Diehl Inscr. n. 2100. S. 90). v. Soden, Urkunden z. Entstehungsgeschichte d. Donatismus S. 39—41, Acta Saturnini (Ruinart p. 414—422). ») Acta Crispinae (Knopf S. 109), vgl. Diehl, Inscr. lat. Christ, n. 2042. 2043. Acta Maximae (Analecta Bollandiana 9, 107).

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2. Der Endkampf des Christentums

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geführt werden können: man muß sie freilich sorgfältig von den großen Märtyrerlisten späterer Kampfzeiten scheiden1. Ganz dürftig sind wir über das gleichfalls dem Maximian unterstehende Spanien unterrichtet. Hier beruht unser Wissen wesentlich auf den wenig ergiebigen Versen des um 400 schreibenden spanischen Dichters Prudentius. Er nennt eine stattliche Reihe von Märtyrern seines Vaterlandes und erzählt das Martyrium des gefeierten Vincentius von Saragossa breit und schematisch*: aber ob all diese Heiligen der diokletianischen Verfolgung angehören, ist nicht durchweg sicher. Und die meisten Legenden aus Spanien sind unzuverlässig. Wir bleiben auf allgemeine Erwägungen angewiesen, denn die meist aus später Zeit stammenden Inschriften helfen auch nicht weiter. Nur der Bischof Ossius von Cordoba teilt uns selbst mit, daß er damals als Konfessor Zeugnis abgelegt habe'. Wir haben feststellen können, daß in Afrika bereits seit Anfang des Jahres 304 auch gegen die Laien mit blutigem Zwang vorgegangen wurde. Und dieselbe Tatsache können wir für die Gebiete des Galerius und des Diokletian beobachten. Am 1. April 304 wurden in Thessalonich fünf Frauen und ein Junge angeklagt, weil sie christliche Schriften versteckt und nach ihrer Verhaftung das Opfer verweigert hätten; nur drei von ihnen werden verbrannt, die drei anderen wegen unreifer Jugend zu Gefängnis begnadigt4. So scheint es doch, als ob das berüchtigte vierte Edikt, welches allgemeinen Opferzwang für alle Christen im ganzen Reich anordnete, bereits Anfang 304 erlassen worden ist: Euseb ist sich über die Datierung nicht im klaren5. Die Verschärfung wird mit der allgemeinen politischen Lage zusammenhängen. Diokletian kam im November 303 nach Rom und beging dort ') Delehaye, Les origines du culte des martyrs8 (1933) S. 386—400. Die Inschriften jetzt bequem bei Diehl, Inscr. lat. christ. n. 2031—2104. 1911. 1931. *) Prudentius Peristephanon 4 und 5; ganz unsicher 9. *) Brief des Ossius bei Athanasius hist. Arian. 44, 1. 4) Acta Agapes (Knopf p. 95). ®) Euseb, mart. Pal. 3, 1 = 4, 8. Dazu N. Baynes in The Classical Quarterly 18 (1924), 189—193. Laktanz erwähnt dies Edikt nicht.

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Das vierte Edikt. Der Thronwechsel

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sein 20jähriges Regierungsjubiläum, die „Vicennalien". Auf der beschleunigten Rückreise zog er sich eine schwere Erkältung zu, von der er sich das ganze folgende Jahr hindurch nicht erholen konnte: im Dezember 304 hieß es sogar, er sei gestorben. Während dieser ganzen Zeit hatten Galerius und Maximian sichtlich freie Hand gegenüber den Christen. Diokletian fühlte sich verbraucht und krank und hatte sich deshalb entschlossen, die Krone niederzulegen: es gelang ihm, den noch sehr lebenskräftigen Maximian zum gleichen Verzicht zu bewegen1. Am 1. Mai 305 wurde auf einem Paradefeld bei Nikomedia der Rücktrittsakt von beiden Augusti feierlich vollzogen. Die bisherigen Kronprinzen Konstantius und Galerius rückten nun zu Augusti auf, Caesares wurden im Westen ein höherer Offizier namens Severus, im Osten ein Neffe des Galerius,der sichMaximinusDaja nannte.Zugleich wurden die Verwaltungsbezirke der vier Herrscher neu abgegrenzt. Galerius trat als Rangältester an die Spitze des Kaiserkollegiums. Die Söhne der Kaiser gingen leer aus; das waren Maxentius, des Maximian Sohn, und der junge Konstantin, der einstweilen noch am Hofe des Galerius weilte, nach einigen Monaten aber in fluchtartiger Eile abreiste und seinen schwer erkrankten Vater aufsuchte1. Er traf ihn in Boulogne und begleitete ihn bis York, wo er am 25. Juli 306 starb. Der Sohn wurde sofort von seinen Truppen als Augustus begrüßt. Galerius mußte sich damit abfinden und erkannte ihn wenigstens als Caesar an; zum Augustus an des Konstantinus Statt ernannte er den Severus*. Um dieselbe Zeit 4 ließ sich auch der andere übergangene Sohn, Maxentius in Rom, von den unzufriedenen Prätorianern auf den Schild heben. Gegen ihn wollte Galerius militärisch einschreiten und schickte den Severus vor. Aber dessen Truppen gingen zu dem Sohn ihres alten Feldherrn über, und als nun gar der Alte selbst auf dem Plan erschien und den abgel ») Panegyrici lat. 7 (6), 9, 5. ) Zosimus 2, 8 Lact. mort. 24. ») Lact. mort. 25, 5, Paneg. 7 (6), 5, 3. 4) Darstellung dieser Ereignisse bei Lact. mort. 26—30, Zosimus 2, 9—11.

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2. Der Endkampf des Christentums

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legten Purpur des Augustus wieder aufnahm, wurde die Lage des Severus hoffnungslos: in Ravenna fand er den Tod. Das war im April 307. Nun begab sich Maximian nach Trier, verhandelte mit Konstantin und ernannte ihn zum Augustus: er brauchte ihn dringend zur Rückendeckung bei seinem Kampf gegen Osten. Der politische Bund wurde durch die Heirat Konstantins mit seiner Jugendverlobten Fausta, der Tochter Maximians, besiegelt. Wir besitzen noch die amtlich bestellte Festrede 1 zur Hochzeit des jungen Paares, und wer die Verhältnisse kennt, liest sie mit besonderer Freude; er bemerkt auch, daß von dem teuren Schwager Maxentius kein Wort verlautet. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ermangelte offenbar damals bereits der rechten Herzlichkeit. Galerius zog, wie zu erwarten war, als Rächer des Severus und Hüter seiner oberkaiserlichen Autorität nach Italien. Aber auch ihm versagten die Truppen für den Zug gegen Rom den Gehorsam; er mußte zurück und hinterließ den Italienern das Andenken eines Mordbrenners. Nun wurde Ruhe im Westen. Maxentius regierte als Augustus in Italien, Afrika und Spanien, Konstantin in Gallien und Britannien. Der alte Maximian wurde von seinem Sohn abgesetzt und flüchtete zu seinem Schwiegersohn, ging auch einmal nach Carnuntum (an der pannonischen Donaugrenze, bei Preßburg), wo er mit Galerius und Diokletian zusammentraf. Hier wurde am 11. November 308 einer der Generale aus dem Freundeskreis des Galerius, Licinius, zum Augustus des Westens ernannt. Diokletian ließ sich durch kein Zureden bewegen, seine Ruhe aufzugeben und den Ruhm seines zwanzigjährigen Regiments aufs Spiel zu setzen: seine Proklamation zum Konsul des Jahres 309 ist das aktenmäßige Überbleibsel dieser verzweifelten Verhandlungen. Sachlich wurde kaum etwas geändert. Der neue Herr hatte sich mit der Verwaltung Pannoniens zu begnügen. Maximian kehrte zu Konstantin zurück, verursachte noch einige Unruhe und mußte schließlich (310) als unmögliche Figur aus der Geschichte verschwinden. Maxentius setzte sich durch, l

) Panegyr. lat. 7 (6).

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Die zweite Tetrarchie. Maximins Verfolgung

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auch gegen den rebellierenden Präfekten Alexander in Afrika. Die Christenverfolgung hörte seit 306 im westlichen Reichsteil auf, und nicht nur Konstantin, sondern auch Maxentius wird ausdrücklich als Wiederhersteller der Kultusfreiheit gelobt 1 . Anders war es im Osten. Uber die Gebiete des Licinius und des Galerius können wir freilich nur sagen, daß an der Lage nichts geändert wurde. Die wenigen datierbaren Akten scheinen dem Jahre 304 anzugehören, und die Menge des übrigen Stoffes ergibt keine Jahresdaten. Wir können hier wie sonst nur den allgemeinen Schluß ziehen, daß die meisten Märtyrer, die uns durch liturgische Sakraltradition genannt werden, dieser letzten und größten Verfolgung zuzuschreiben sind. Nur zufällig hören wir, daß unter Galerius in Phrygien eine ganze christliche Ortschaft mitsamt den Einwohnern verbrannt worden ist, und daß man in Kappadokien und im Pontos die Christen scheußlich gemartert hat*. Dagegen liefert uns Euseb gute Kunde über die Zustände im Gebiet des Maximinus. Als der neue Caesar sein Amt antrat, verschärfte er die Verfolgung zunächst. Dann aber wurde dem Blutvergießen Einhalt geboten und als Normalstrafe die Blendung eines Auges und die Lähmung eines Beines angeordnet: wozu dann als Abschluß Zwangsarbeit in den Bergwerken in Palästina oder in Kilikien trat 1 . Diese Methode wird seit 307 angewendet, und Euseb zeichnet eindrucksvoll das Bild solcher Transporte von Verstümmelten beiderlei Geschlechts und jeden Alters, die aus Ägypten nach Palästina verschickt werden. Daß die Todesstrafe in besonderen Fällen, namentlich bei provozierendem Auftreten, beibehalten wurde, versteht sich von selbst. Aber im ganzen fühlten die Christen eine Erleichterung ihrer Lage, bis plötzlich wieder der Opferzwang neu in Erinnerung gebracht wurde. Diesmal ging eine positive Aktion zur Förderung der Staatskulte parallel: verfallene Tempel wurden wieder aufge0 Optatus Milev. 1,18 Euseb. K G 8, 14,1. Uber Konstantin Lact, mort. 24, 9. ' ) Euseb, K G 8, 11, 1 12, 1. 6. Lactantius, Inst. 5, 11, 10. ») Euseb, mart. Pal. 4,1 K G 8,12, 9—10 Lact. mort. 36, 6 f.

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baut und das Priesterwesen organisatorisch zusammengefaßt1. In dieser neuen Welle des Hasses ging am 16. Februar 309 auch Pamphilus, der gelehrte Gönner des Euseb, unter, nachdem er zwei Jahre lang unangefochten im Gefängnis gesessen hatte: sogar zu literarischen Arbeiten hatte ihm die Haft die Möglichkeit gegeben*. Mit ihm starben noch elf andere: im ganzen nennt uns Euseb 23 Todesopfer dieser verschärften Handhabung des Opferzwanges in Palästina. Das nächste Jahr 310/311 brachte den unglücklichen Arbeitern in den Bergwerken, die sich bereits wieder zu Gemeinden zusammengeschlossen hatten und Andachtsträume einrichteten, eine unvermutete Verschlimmerung ihrer Lage durch schikanöse Ortsveränderungen. Und eine ganze Gemeinde von arbeitsunfähigen Krüppeln, 39 an der Zahl, wurde abgeschlachtet, offenbar weil sie durch ständige gottesdienstliche Übungen am Ort ihrer Deportation den Gegner gereizt hatte*. Wenn man die Berichte über die Leiden aller dieser Märtyrer liest, die zum guten Teil auf Augenzeugenschaft beruhen, die langen Reihen von Namen durchmustert, die uns in den Heiligenkalendern der Provinzen erhalten sind, so wird man von der Größe dieses Kampfes und dem Todesmut, mit dem er durchgehalten wurde, aufs tiefste gepackt. Die Gemeinden wurden weithin in Trümmer geschlagen, viele, allzuviele vom Klerus versagten und wurden „Traditoren", d. h. sie retteten ihr Leben durch Auslieferung der heiligen Schriften oder listige Täuschung der Behörden. In Afrika so gut wie in Palästina war ein Kleriker, der mit heiler Haut die Verfolgungszeit überstanden hatte, schon deswegen verdächtig — und vielfach mit Recht4. Und zu der Schwäche der einen gesellte sich Ehrgeiz und unlautere Geschäftigkeit anderer", wie denn das Unglück gemeinhin auch die bösen Triebe üppiger gedeihen läßt. ») Euseb, mart. Pal. 9, 2 KG 8, 14, 9 Lact. mort. 36, 5. f ) Euseb, mart. Pal. 7, 4 11, 1—28 Photios bibl. cod. 113 p. 92 b ed. Bekker. Unterschrift hinter Esther im Cod. Sinaiticus der Septuaginta. ') Euseb, mart. Pal. 13, 4—10. 4) Versammlung von Cirta bei v. Soden, Urkunden z. Gesch. d. Donatismus n. 5 S. 7 f. Epiphan. haer. 68, 8, 4. 5 ) Euseb, mart. Pal. 12.

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Toleranzedikt des Galerius (311)

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Aber alle diese üblen Dinge, obwohl sie Massenserscheinungen waren, haben das Schicksal der Kirche nicht bestimmt, sondern das Heldentum der Wenigen errang den Sieg. Die Staatspolitik bahnte dazu den Weg. Galerius erkrankte schwer, sein Zustand wurde hoffnungslos. Am 30. April 311 erließ er in Nikomedia ein Edikt1, welches der Christenverfolgung ein Ende machen sollte. Darin wird ausgeführt, daß die von den früheren Erlassen verfolgte Absicht, die Christen zum Staatskultus zurückzuführen, nicht erreicht worden sei. Die große Mehrzahl habe sich halsstarrig erwiesen und ehre jetzt weder die Staatsgötter noch diene sie dem Christengott. Da habe denn doch der Kaiser in traditioneller Milde beschlossen, das Christentum und den Gemeindegottesdienst wieder zu erlauben, natürlich im Rahmen der für die öffentliche Ordnung geltenden Vorschriften. Ausführungsbestimmungen würden den Behörden noch zugehen. Nun möchten die Christen aber auch zu ihrem Gott für das Heil des Kaisers, des Reiches und ihr eigenes beten. Fünf Tage danach starb Galerius (am 5. Mai 311). Es ist aus dem Wortlaut ersichtlich, daß sein „Toleranzedikt" keineswegs das reuevolle Bekenntnis eines bußfertigen Sünders ist, als welches die Christen es werten, sondern ein aus staatspolitischen Erwägungen erwachsener Akt: und die Vermutung* ist wohl begründet, daß Konstantin im Zuge allgemeiner Verhandlungen mit dem sterbenden Augustus die Aufhebung der Christenverfolgungen erzwungen hat. Maximin, der nunmehr rangälteste Augustus, erließ denn auch durch seinen Praefectus Praetorio Sabinus die angekündigte Ausführungsbestimmung': aber man kann in ihrer dürftigen Formulierung das Mißvergnügen des Kaisers über diese Konzession deutlich spüren. Es ging doch ein Freudenrausch durch den ganzen Osten. Die Gefängnisse öffneten sich, aus den Bergwerken strömten die Scharen der verstümmelten und mißhandelten Bekenner ») Lact. mort. 33,11. 34. Euseb, KG 8,17,1—11. Konstantin S. 58 f. *) Euseb, KG 9,1, 3—6.

«) E. Schwartz,

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hervor, und die Befreiten vereinten sich mit den Freigebliebenen zu dankerfüllten Gottesdiensten. Nicht volle sechs Monate, d. h. bis zum Oktober 311, dauerte dieser Friede. Da verordnete Maximin neue Einschränkungen der Kultusfreiheit. Erst wurde das Feiern auf den Friedhöfen verboten. Dann gab es neue Martyrien: am 24. November 311 starb Bischof Petrus von Alexandrien, und am 7. Januar 312 wurde der als Gelehrter hoch angesehene Presbyter Lukian von Antiochia in Nikomedia hingerichtet, während Maximin selbst in der Stadt weilte. Und die beiden waren nicht die einzigen Opfer dieser Zeit Im Herbst 312 begann ein von strebsamen Beamten geförderter Sturm von Petitionen der Städte an den Kaiser1: Er möge den Christen den Aufenthalt in ihnen versagen. Nikomedia und Antiochia machten den Anfang, zahlreiche andere folgten. Und es ist begreiflich, daß Maximin den Bittstellern stets eine gnädige Antwort erteilte. Die so geehrte Stadt verewigte ihr Gesuch und den kaiserlichen Bescheid auf einer Inschriftplattc1. Euseb teilt uns den Text des kaiserlichen Erlasses mit, den er in Tyrus von der öffentlich aufgestellten Tafel abgeschrieben hat, und seine Zuverlässigkeit wird dadurch bestätigt, daß wir in dem lykischen Städtchen Arykanda eine solche Inschrift wirklich gefunden haben, deren Text mit Euseb wörtlich übereinstimmt. Und hier ist auch der rhetorische Schwall der städtischen Eingabe erhalten. Aber dieser kaiserliche Bescheid war nur eine schöne Geste, der keine Ausführungsbefehle folgten — praktisch war ja auch eine Verbannung sämtlicher Christen aus den Hauptstädten gar nicht durchführbar. Ein im folgenden Jahre (313) ergangenes Schreiben an den Präfekten Sabinus' gibt das auch ziemlich unverblümt zu und erneuert den alten Befehl, Gewaltmaßregeln gegen die Christen zu vermeiden und sie durch gütliches Zureden zu gewinnen. Es ist klar, daß die erwähnten ') Euseb, KG 9, 2—4, Maximin bei Euseb, KG 9, 9 β, 4. Zum Datum vgl. 9, 10, 12. l ) Euseb, KG 9, 7, 1—14. Inschrift von Arykanda bei Dittenberger, Or. inscr. n. 569. Schwartz, Göttinger Nachrichten 1904, 529 f. ') Euseb, KG 9, 9 a, 1—9.

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Maximin. Konstantin und Maxentiue

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Antworten an die Städte für Schikane aller A r t freie Bahn schufen. Und für die nötige Volksstimmung wurde durch amtliche Verbreitung bösartig gefälschter Pilatusakten gesorgt 1 . Wenn nun Maximin mit einem Male wieder den Beamten Milde einschärfen ließ, so mußte ein besonderer Anlaß dazu vorhanden sein: und der wurde allerdings im Winter 312 auf 313 durch die äußere Politik geliefert. Mit dem Tode des Galerius waren die Fragen der Machtverteilung ernstlich in Bewegung gekommen. Maximin rückte in das zum Gebiet des Licinius gehörige Kleinasien ein und nahm es für seinen Reichsteil in Anspruch. Licinius mußte sich fügen. Er Schloß sich nun an Konstantin an und verlobte sich mit seiner Schwester Konstantia: damit war ihm eine Anwartschaft für die Zukunft gegeben. In der Gegenwart hatte Konstantin dafür die Gewißheit seiner wohlwollenden Neutralität im Entscheidungskampf um den Westen. Während nämlich die drei Augusti Maximin, Konstantin, Licinius sich gegenseitig anerkannten und formell als echte Erben der diokletianischen Tetrarchie erschienen 1 , galt Maxentius als Usurpator. Ihm gegenüber ließ Konstantin seine eigene Legitimität betonen*: sein Vater war der hochgeehrte Augustus Konstantius, während Maxentius von dem gestürzten Maximian abstammte, dessen Andenken verflucht und geächtet war4. Und Konstantius wiederum war der Sohn des mit Recht gefeierten Kaisers Claudius, des Gotensiegers von 269/70. Das hatte bis dahin noch niemand gewußt, aber seit 310 wurde die erfreuliche Kunde amtlich verbreitet. So war also Konstantin schon der dritte Kronenträger einer ruhmvollen Dynastie'. Dadurch gewann er ein angeborenes Recht, als Hüter ehrwürdigster römischer Traditionen aufzutreten und Rom und den hohen Senat von der unwürdigen Knechtschaft des Tyrannen zu befreien*. Maxentius seinerseits sah die Gefahr und versuchte, sich ») Euseb, KG 9, 5, 1 7, 1. ') Dessau, Inscr. lat. sei. n. 663. 664. *) Paneg. Iat. 6 (7), 2 und 4, 1, vgl. die S. 146 erwähnten Münzen. 4 ) Lact, mort 42, 1. Dessau, Inscr. lat. n. 627. 630—633. 644. «) Paneg. lat. 6 (7), 2, 4. *) „Befreiung Roms" das Schlagwort Lact. mort. 44, 11 Paneg. Iat. 12 (9), 3, 2. Euseb, KG 9, 9, 2. Dessau, Inscr. lat. n.694.

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2. Der Endkampf des Christentums

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durch ein Bündnis mit Maximin zu sichern: die Ehrenpflicht, den Tod seines Vaters zu rächen, gab ihm die zum Krieg erforderlich scheinende moralische Rückendeckung1. So beobachteten sich beide Gegner eine Weile wie sprungbereite Raubtiere. Plötzlich und auch für seine Umgebung überraschend ging Konstantin mit seinen in Germanenkämpfen gut geschulten Truppen über die Alpen, gewann Susa, Turin, Mailand, Verona, auchAquileja fiel ihm zu, und unerwartet schnell stand er vor Rom. Maxentius hatte die Stadt gut verproviantiert und eine mächtige Armee darin zusammengezogen. Jetzt wurde er durch ein sibyllinisches Orakel von altbewährter Zweideutigkeit dazu ermutigt, dem Feind vor den Toren entgegenzutreten. Er ließ an der Stelle des heutigen Ponte Molle die Brücke über den Tiber umbauen und zog mit den Truppen hinüber. Von der Stadtmauer aus sah eine große Schar Eulen dem Ausmarsch zu: darüber soll sich Konstantin gefreut haben. Er griff an, schlug den Gegner und hatte das Glück, daß Maxentius auf der Flucht von der Brücke gerissen wurde und ertrank. Damit war der Krieg entschieden. Konstantin zog als alleiniger Beherrscher des ganzen Westreichs in Rom ein und wurde vom Senat als oberster Augustus begrüßt*. Das geschah am 28. Oktober 312. Alle Welt erblickte in dem überraschend glücklichen Ausgang des konstantinischen Unternehmens ein Urteil höherer Mächte. Die Eulengeschichte ist ein Widerschein dieses Glaubens: die Versammlung der Unglücksvögel erscheint als ein Vorzeichen, ein Prodigium, wie man es aus des Livius Geschichtserzählung kannte. Als der Senat im Jahre 315 dem Konstantin einen Triumphbogen errichtete, schrieb er in dem Widmungstext den Sieg nicht nur der Größe des kaiserlichen Genies, sondern auch der „Inspiration der Gottheit" zu*. Dieser Gedanke findet sich in immer neuen Wendungen in einer Prunkrede der gleichen Zeit, aber einige Jahre später (321) !) Lact. mort. 43, 4. Zosimos 2, 14, 1. l ) Lact. mort. 44. Euseb. KG 9, 9, 1—9. Zosimos 2, 16. Paneg. lat. 12 (9), 16—20. ») Dessau, Inscr. lat. sei n. 694.

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Sturz des Maxentius (312)

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reicht das schon nicht mehr aus, und der kaiserliche Hofrhetor Nazarius weiß zu rühmen, daß Konstantin bei allen seinen Unternehmungen unter göttlichem Schutz gestanden, daß aber im Kampf gegen Maxentius der hochselige Vater Konstantius persönlich an der Spitze einer himmlischen Heerschar ihm Beistand geleistet habe 1 . Die Christen dachten nicht anders. Euseb in dem 315 angefügten neunten Buch seiner Kirchengeschichte stellt Konstantins Siegeszug unter den wunderbaren Schutz Gottes, den der Kaiser im Gebet zum Himmelsgott und seinem Logos Jesus Christus erfleht habe*. Nach dem Sieg habe der Kaiser dann sein Bild mit einem Kreuz in der Hand in Rom aufstellen lassen und in der Aufschrift darauf hingewiesen, daß er diesem Zeichen den Sieg verdanke. Der etwa gleichzeitig schreibende Laktanz weiß Genaueres zu berichten: im Traum sei Konstantin angewiesen worden, das göttliche Zeichen des Christusmonogramms ρ auf den Schilden seiner Soldaten anbringen zu lassen. Das habe er getan und so den Sieg erfochten*. Aber mehr als zwanzig Jahre später konnte Euseb in der Gedächtnisrede auf den am 22. Mai 337 verstorbenen Kaiser die Darstellung seiner Kirchengeschichte wesentlich ergänzen. Konstantin sei, so erzählt er, in der Zeit des Entscheidungskampfes zur Erkenntnis der christlichen Wahrheit durchgedrungen und habe Gott um eine Offenbarung seines Wesens und um seinen Beistand gebeten. Da sei ihm ein Zeichen geworden: am frühen Nachmittage habe über der Sonne ein Lichtkreuz geleuchtet mit der Beischrift „Hierdurch siege!" Der Kaiser mitsamt dem ganzen Heer sah das mit Staunen. In der folgenden Nacht erschien Christus mit jenem Lichtkreuz in der Hand dem Konstantin und ermahnte ihn, eine Nachbildung des himmlischen Zeichens als Schutzmittel anzufertigen. Daraufhin wurde die alsLabarum bekannte Standarte der kaiserlichen Leibwache geschaffen,welchedurchihren waagerechten Querbalken dasKreuz ') Paneg. lat. 12 (9), 2 , 4 1 1 11, 4 13, 2 16, 2 22, 1 25, 4 und Paneg. 4 (10), 14, 1—7 29, 1. *) Euseb, KG 9, 9. 1—2. ») Lact. mort. 44,5—6.

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2. Der Endkampf des Christentums

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nachbildet und in einem Kranz das Christusmonogramm ) Rufin KG 10, 4. Socrates 1, 11, 2.

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Synode zu Nicia (325)

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lege. Und der siegreiche Gestalter des Neuen stellte ihnen die Aufgabe und wies ihnen den Weg zur Lösung: wie hätten sie ihn nicht in Dankbarkeit und Vertrauen betreten sollen? Es kam der Tag der feierlichen Eröffnung der Synode1. In der hohen Mittelhalle des Kaiserpalastes saßen die Bischöfe auf den an beiden Längsseiten sich hinziehenden Sitzreihen in erwartungsvollem Schweigen. Ein Kammerherr trat ein, ihm folgte ein zweiter, ein dritter, aber es fehlte die sonst übliche militärische Begleitung, nur die engste Umgebung des Herrschers, soweit sie dem christlichen Glauben angehörte, betrat den Saal. Ein Wink des Zeremonienmeisters, alle erhoben sich: der Kaiser erschien in voller Pracht „leuchtend wie ein Gottesengel vom Himmel", von den feurigen Strahlen des Purpurmantels umloht und im hell schimmernden Schmuck von Gold und Edelstein. Mit gesenktem Blick, aber majestätischer Haltung schritt er langsam seinem Platz an der Stirnseite zu, der durch einen kleinen goldenen Sessel bezeichnet war, Aber er setzte sich nicht, bis ihn die Bischöfe durch Winken dazu aufforderten, und dann setzten sich alle mit ihm zugleich. Nun erhob sich der Führer des zurRechten sitzenden Teils, der Bischof der Hauptstadt Nikomedia, Eusebius*, und richtete eine dankerfüllte Begrüßungsrede an den Kaiser. Dieser antwortete mit einer kurzenAnsprache, die in gewählten Wendungen seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß dem durch militärische Erfolge gewonnenen Sieg über die Tyrannen nun auch die Überwindung der sehr viel bedenklicheren Zwistigkeiten in der Kirche folgen würde. Freudig blicke er auf die Versammlung mit dem Wunsche, sie möge ein Herz und eine Seele werden und der ganzen Welt Frieden und Eintracht schenken. Er sprach lateinisch, um die Feierlichkeit eines Staatsaktes hervorzuheben; ein Dolmetscher ließ die griechische Übersetzung folgen. Dann hüben die Verhandlungen mit Anklagen und Gegenreden an, und die Teilnehmer merkten bald, daß der Kaiser auch Griechisch konnte. Er hörte nicht nur aufmerksam zu und ») Euseb, vita Const. 3, 10—14. Kephalaion dazu (p. 72, 18 Heikel).

*) Euseb, vita Const. 3, 11 und

III 106 4. Der arianische Streit bis zum Tode Konstantins

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gab Zeichen seiner Zustimmung und seines Mißfallens, sondern griff auch selbst in die Debatte ein, um sie zu dem gewünschten Friedensziele zu führen1. Aber wir haben keine historisch brauchbare Darstellung der Verhandlungen. Niemand erzählt von diesem so wichtigen Geschehen^ und Protokolle hat es entweder aus staatsrechtlichen Gründen nie gegeben*, oder sie sind aus guten kirchlichen Gründen früh in Vergessenheit gesenkt worden. So müssen wir uns an die geringen Reste der Uberlieferung halten. Die drei in Antiochia vorläufig Exkommunizierten wurden wieder aufgenommen. Wie das gemacht wurde, erfahren wir durch Euseb*. Er legte als Bekenntnis seines Glaubens das alte Taufsymbol seiner Gemeinde von Caesarea vor, und der Kaiser erklärte es für einwandfrei, natürlich stimmte die Synode zu, und der Fall war erledigt. Bei den beiden andern wird es ebenso gegangen sein, denn der Kaiser hatte an diesen Verurteilungen kein Interesse; er wünschte größtmögliche Einheit Diesem Ziele würde es entsprochen haben, wenn die Synode eines der alten traditionellen Taufbekenntnisse feierlich als Ausdruck des wahren Glaubens anerkannt, die Negationen des Arius abgelehnt und alle Versuche, in das unaussprechliche und dem Verstand unfaßbare Mysterium der Zeugung des Sohnes aus dem Vater einzudringen, als unfromm und unnützlich bezeichnet hätte. Es wäre nur Sache der Formulierung gewesen, eine solche Erklärung auch den theologisch interessierten Kreisen schmackhaft zu machen, und es ist nicht zu bezweifeln, daß die Synode einem derartigen Wunsch des Kaisers nachgekommen wäre. Später hat man mehr als einmal versucht, auf eine solche Lösung zurückzukommen: da war aber nicht mehr möglich, was in Nicaea noch leicht erreichbar scheint Wir sind deshalb nicht wenig überrascht, zu hören, daß der Kaiser mit allem Nachdruck die Einfügung einer bisher von keiner Partei vertretenen Formel, nämlich des „homousios", in das Glaubensbekenntnis wünschte und eine Kommis*) Eueeb, vita Const 3, 13. ·) Urk. 22.

·) Schwartz, Konstantin* 127.

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Das Homousios zu Nicäa

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sion beauftragte, eine dementsprechende Redaktion dee Symbols durchzuführen. Das Ergebnis1 ist das „Nicänische Bekenntnis" zu der Zeugung des Sohnes „aus der Substanz (Usia) des Vaters" und seine Bezeichnung als „wesenseins (homousios) mit dem Vater", wozu dann am Ende die Verdammung der arianischen Sätze tritt Was den Kaiser zu diesem Schritt veranlaßte, ist uns völlig dunkel, unbekannt auch die theologische Stelle, welche ihm dies Stichwort zugeflüstert hat — das er doch nicht aus eigenem Studium haben konnte. Man hat früher an abendländischen Einfluß, etwa durch Ossius, gedacht: aber im Westen ist dies Wort auch in seiner lateinischen Ubersetzung nicht als theologisches Schlagwort bekannt und auch im Streit der Dionyse* von Rom aus nicht gebraucht worden. Dagegen benutzen es die alexandrinischen Ankläger ihres Bischofs, und bei den meletianischen Denunzianten des Arius erscheint es gleichfalls wieder. Wir erinnern uns, daß auch Paul von Samosata' von dieser Formel Gebrauch machte. Und wo wir ihr in diesen Zeiten begegnen, ist sie ein Panier, um das sich die ungelehrte und schlicht sein wollende Gemeindegläubigkeit schart zum Schutz gegen die Logosspekulationen des Origenes und seiner Anhänger: sie ist ein Protest gegen jede durchgedachte Hypostasenlehre. Mit dieser philosophischen Vokabel wird die Einheit und Monarchie Gottes behauptet und jedes weitere Durchdenken des Trinitätsproblems zurückgeschoben. Aus solchen Erwägungen heraus wird man das Wort dem Kaiser empfohlen haben, und diesem konnte es dadurch mundgerecht gemacht werden, daß es gleichermaßen dieLukianisten wie die alexandrinischen Origenisten traf. So wurde denn seine Einfügung in das Symbol befohlen und durchgeführt. Der theologische Dilettantismus des Monarchen griff mit der ganzen ungeheuren Macht seiner Stellung in eine Entwicklung der wissenschaftlichen Spekulation ein, die nach ihren eigenen Gesetzen hätte ablaufen müssen, und diese Störung hat sich am Staat, desi) Urk. 24 und dazu Lietzmann in ZNW 24 (1925), 193—202. *)s. o. S. 82f. *)s. o. S. 88.

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4. Der arianische Streit bis zum Tode Konstantins

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sen Interessen der Kaiser wahrzunehmen glaubte, nicht minder schwer gerächt als an der Kirche, die sich seinem Willen beugte. Aber zunächst sah alles prächtig aus. Die Synodalen verhandelten über die vorgelegte Bekenntnisformel, ließen sich durch beruhigende Erklärungen gewinnen und taten schließlich dem Kaiser den Gefallen, seinemVorschlag zuzustimmen. Wie schwer das den wissenschaftlichGebildetenunterihnen wurde,siehtman an dem Brief, den Euseb zur Rechtfertigung seiner Haltung an seine Gemeinde nach Caesarea schrieb. Aus den gewundenen Erläuterungen liest man deutlich heraus, daß es nur das Gefühl einer Pflicht gegenüber dem Kaiser, dem Wohltäter und Einiger der Kirche war, das ihn zu dieser Verleugnung seiner bisher offen vertretenen Anschauungen bewogen hatte. Anderen Männern von geistigem Rang wird es nicht anders gegangen sein. Man fand sich in das Unvermeidliche und hoffte, der Zweck der kirchlichen Befriedung werde das bedenkliche Mittel heiligen1. Nur zwei Männer blieben in Opposition, aber auch diese nicht aus theologischen Gründen. Euseb von Nikomedia und der Ortsbischof Theognios von Nicaea unterzeichneten zwar das Glaubensbekenntnis, weigerten sich aber, der Verdammung des Arius beizustimmen, weil sie in den amtlichen Formulierungen eine Entstellung seiner Lehre erblickten*. Beide Bischöfe wußten genau, was sie taten. Sie waren im Gegensatz zu den übrigen Kollegen an das Leben bei Hofe gewöhnt und ließen sich durch die prächtige Aufmachung der Staatsaktion nicht blenden; sie wußten auch, wie schnell an allerhöchster Stelle der Wind umschlagen konnte. Zunächst wurde ihnen ihre Haltung natürlich übel vermerkt, aber man stellte ihnen eine Frist, um die Unterschrift nachzuholen. Die Verdammten selbst, Arius und die beiden Bischöfe Secundus von Ptolemais und Theonas von Marmarika, wurden sofort aus Ägypten verwiesen*. Sie kamen nach Bithynien und fanden bei den beiden opponierenden Bischöfen freundliche Aufnahme und kirchliche Anerkennung. Das war dem Kaiser *) Vgl. den zornigen Erguß des Eustathius bei Theodoret, KG 1, 8, 1—5. ') Urk. 31, 2. Dazu K. Müller ZNW 1925, 290. *) Urk.23,5.

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Nicäa: Verurteilungen. Kanones. Ostertermin

III 109

zu stark, und er schickte die zwei Übeltäter, ohne die vom Konzil gestellte Frist innezuhalten, in die Verbannung nach Gallien1. Auf Euseb, der es bis zuletzt mit Licinius gehalten hatte, war er ohnehin ernstlich böse und forderte nun die nikomedische Gemeinde zur Wahl eines neuen Bischofs auf*. Bischof Theodot von Laodicea wurde durch ein besonderes Schreiben* auf das Schicksal der beiden Verbannten hingewiesen, um ihn vor ähnlicher Unbesonnenheit zu warnen. Als der Glaubenszwist im Sinne und in der Gegenwart des Kaisers erledigt war, ging die Synode an schlichtere Alltagsarbeit heran und beriet Fragen der kirchlichen Organisation und Disziplin: das Ergebnis liegt in mehreren Briefen und 20 Kanones vor. Den Meletianern wird — im deutlichen Gegensatz zu Alexanders Meinung — bei Rückkehr zur Kirche Anerkennung ihrer Weihen in Aussicht gestellt, nur daß ihre Bischöfe auf die Ausübung ihrer Funktionen verzichten müssen zugunsten der von Alexander geweihten. Meletios selbst soll sich nach Lykopolis zurückziehen und sich mit seinem Bischofstitel begnügen, aber fernerer Weihen sich enthalten 4 . Das war ganz die gleiche Lösung, die man auch für rückkehrende Novatianer festsetzte®. Bischof Alexander ersuchte daraufhin den Meletios um eine Liste der von ihm geweihten Kleriker und erhielt auch wirklich ein Verzeichnis*, das 29 Bischöfe, 5 Presbyter und 3 Diakonen aufzählte: aber die weiteren Verhandlungen gerieten bald ins Stocken und machten erneutes Eingreifen des Kaisers nötig. Schon auf der Synode von Arles 7 war die einheitliche Feier des Osterfestes für die ganze Christenheit gefordert worden. In Nicaea wurde diese Vorschrift erneut und diesmal mit betontem Nachdruck ausgesprochen. Denn gerade im Einflußgebiet von Antiochia herrschte noch immer die alte Sitte, Ostern am Sonntag nach dem jüdischen Passah zu feiern, während Alexandria und Rom längst den Ostervollmond nach eigenen Zyklen berechneten und sich nicht bei den Juden Rats ') Philostorgis 2,1 b p. 12,26 ed. Bidez. ') Urk. 27. *) Urk. 28. *) Urk. 23, 6 - 7 . «) can. 8; vgl. Urk. 23, 6. 7. ·) Äthan, apol. c. Arian. 71. ^ Can. 1 Arlee.

III 110 4. Der arianische Streit bis zum Tode Konstantins

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erholten. Jetzt wurde dies „Feiern mit den Juden" verboten und die einheitliche Regelung des Festes auf Grund selbständiger christlicher Ansetzung verordnet. In der Begeisterung für die gute Sache wurde darüber hinweggesehen, daß die verschiedenen christlichen Zyklen auch nicht immer das gleiche Resultat ergaben 1 — wie denn die Christenheit trotz aller Konzilsbeschlüsse bis auf den heutigen Tag nicht imstande gewesen ist, das Ideal eines allen gemeinsamen Osterdatums durchzuführen. Damals aber glaubte man, am Ziele zu sein, und Konstantin hat in einem Rundschreiben* seiner hohen Befriedigung über das gewonnene Ergebnis Ausdruck geliehen. Am 19. Juni 325 wurden Symbol und Kanones offiziell unterzeichnet. Ehe die Synode auseinanderging, versammelte der Kaiser ihre Mitglieder noch einmal und hielt ihnen eine bewegliche Abschiedsrede, in der er sie dringend zum Frieden und zur persönlichen Verträglichkeit mahnte, auch anklingen ließ, daß Gelehrsamkeit nicht jedermanns Sache sei. Schließlich bat er sie, seiner ständig im Gebet zu gedenken. Er durfte glauben, die Einigung der Kirche erreicht zu haben, und konnte in froher Stimmung mit den Bischöfen am 25. Juli sein zwanzigjähriges Regierungsjubiläum durch ein großes Prunkmahl feiern und als Volksfest im ganzen Reiche begehen lassen*. Vielleicht war er sogar der Meinung, daß er jetzt die notwendige Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche grundsätzlich gefunden habe und daß es weiterhin nur Sache geschickter Menschenbehandlung sei, das reibungslose Ineinandergreifen der beiden mächtigen Räder zu gewährleisten. Aus staatlichem Einigungsinteresse schafft der Kaiser eine höchste kirchliche Instanz im Generalkonzil. Die Kirche macht aus rein kirchlichen Erwägungen von diesem Instrument gern Gebrauch, zumal da es ja nur die Erweiterung und Vollendung einer in zahlreichen Ansätzen schon vorhandenen kirchlichen Einrichtung ist. Auf dem Konzil werden kirchliche Fragen in kirchlichen Formen verhandelt und entschieden. ») Vgl. E. Schwartz, Christi, u. jüd. Ostcrtafeln (Gött. Abh. N. F. Bd. 8,1905) S. 118 f. «) Urk. 26. *) Euseb, vita Const. 3,15.16. 21—22.

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Zweite Tagung von Nicäa (327)

III 111

Daß der Kaiser — ein Katechumen — zugegen ist und in die Verhandlungen eingreift, ist natürlich etwas Neues, wird aber als Zeichen positiver Förderung der Kirche durch den Staat freudig begrüßt. Und die Beschlüsse des Konzils werden vom Kaiser aufgenommen und als kaiserliche Entscheidungen an die Betroffenen weitergegeben. Ja, man kann an der Zahl solcher Briefe aus der Hofkanzlei 1 ersehen, wie lebhaft der Monarch für die Durchführung derKonzilsarbeit interessiert ist.Und dieKirche hat sogar noch den weiteren Vorteil, daß ihre Verdammungsurteile auch staatliche Folgen haben: die Arianer und die widerstrebenden Bischöfe Euseb und Theognios werden nicht nur kirchlich exkommuniziert, sondern auch durch die Staatsgewalt von ihren Sitzen entfernt und verbannt 1 . Konnte es wohl eine schönere Harmonie vonKirche und Staat geben? Nur im tiefsten Herzensgrunde mancher Bischöfe regte sich das unbehagliche Gefühl, daß doch nicht alles in Ordnung sei, und daß man in Sachen des Glaubens eigentlich einen großen Fehler gemacht habe, dem Kaiser zulieb. Nun, man mußte der Zukunft vertrauen. Einstweilen zeigten sich in Ägypten Schwierigkeiten mit den Meletianern, die sich im Laufe des nächsten Jahres noch steigerten. Auch scheint die Exkommunikation der Arianer und die Verbannung ihrer Häupter keineswegs die Bewegung erstickt zu haben: vielmehr regte sich lebhafte Opposition. Und der Kaiser hielt es für nützlich, im Spätherbst 327 die Synode noch einmal nach Nicaea zusammenzurufen1, um einen endgültigen Abschluß zu erreichen. Arius und sein Leidensgefährte Euzoios hatten ein Gnadengesuch4 eingereicht, das von den Damen des kaiserlichen Hauses befürwortet wurde. Dann hatte er auf kaiserlichen Befehl ein Glaubensbekenntnis vorgelegt, ein Symbol alten Stils ohne irgendeins der aktuellen Schlagworte, nur mit der Schlußwendung, man wünsche Frieden mit der Kirche und sei überflüssigen Spitzfindigkeiten abgeneigt. In einer Audienz versicherte er den Kaiser seiner Zui) Urk. 25. 26. 27. 28; vgl. Euseb, vita Const. 3, 24. ») Urk. 27,16. ») dagegen Bardy, Rech. Sc. ReL 1933, 430 δ. •) Urk. 30.

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Stimmung zu dem Nicänischen Dekret, und dieser hielt es für zweckmäßig, ihm zu glauben1. Die Synode nahm den Arius in Gnaden wieder auf*. Daraufhin schrieben auch Euseb und Theognios an die Synode um Revision des Urteils und Fürsprache beim Kaiser*. Auch sie erreichten das Gewünschte und wurden sogar in ihre Bistümer wieder eingesetzt: die Platzhalter Amphion und Chrestos verschwinden lautlos wieder in dem Dunkel, aus dem sie für uns aufgetaucht sind. Und Arius wird in einem eigenen kaiserlichen Schreiben4 dem Bischof Alexander zur Aufnahme in den Klerus mit einem kaum zu überbietenden Nachdruck empfohlen und vor seiner Abreise noch in huldvollster Weise an den Hof geladen. Auch die Angelegenheit der Meletianer kam in dieser zweiten Sitzung der Synode zum Abschluß: ihre Aufnahme unter den vorhin genannten Bedingungen wurde dekretiert. Mit anderen Worten: die Tagung des Konzils von 327 bedeutete eine erhebliche Milderung und im weiten Umfang eine Zurücknahme der Urteile von 325, freilich in einer durchaus einwandfreien Form. Und die Kosten dieser Revision trug der Bischof von Alexandria. Es ist begreiflich, daß die spätere, von Athanasius inspirierte Geschichtschreibung diese zweite Sitzung von Nicaea der Vergessenheit überliefert hat, und daß nur durch Kombination versteckter Nachrichtenreste der Tatbestand annähernd ermittelt werden kann*. Die landläufige Form der Kirchenhistorie sieht nun auch den weiteren Ablauf der Ereignisse als einen Kampf gegen und für das Nicänische Bekenntnis oder, wie Goethe6 es drastisch ausdrückt: „Zwei Gegner sind es, die sich boxen, die Arianer und Orthodoxen." Das ist schon darum für diese grundlegende Anfangszeit nicht richtig, weil es nicänische Theologen gar nicht gab und nach dem vorhin7 über das Homousios Ausgeführten auch nicht geben konnte. Das Nicaenum erkannten alle an, auch Arius, und jeder dachte sich seine eigene Theologie dabei. ») Urk. 32, 2. *) Urk. 31, 4 p. 65, 15—17. *) Urk. 31. wonach der Bericht Socr. 1. 14, 1. «) Urk. 32, 29. «) E. Schwartz. Gött. Nachr. 1911, 381. Opitz. ZNW 33 (1934). 156—158. «) Goethe, Zahme Xenien 9 (4, 124 Jubil.-Ausg.). ') s. S. 106 f.

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Eustathios von Antiochia

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Und der Kaiser war damit zufrieden. Wenn er sich auch gelegentlich das Vergnügen machte, sein theologisches Steckenpferd — er hatte wirklich eins! — zu tummeln und dabei erschreckliche Dinge zum besten gab1, so war er doch Staatsmann genug, von niemand die Anerkennung dieser seiner Leistungen zu fordern, und das hat er bis an sein Lebensende so gehalten. Was die Kirche beunruhigte, waren vielmehr ältere Gegensätze theologischer und vor allem machtpolitischer Art: und diese bekamen jetzt eine ganz andere Schärfe, seit die leitenden Kirchenmänner gespürt hatten, daß die Anlehnung an den Staat dem von kaiserlicher Gunst getragenen Kämpfer unbeschränkte äußere Machtmittel zur Niederringung des Gegners in die Hand geben konnte. Freilich galt es dabei klug vorzugehen; denn daß Konstantin nicht einfach zu lenken war, hatte wohl jeder inzwischen gemerkt. Der Bischofsthron von Antiochia war im Herbst 324 mit Eustathios besetzt worden, der bis dahin Bischof von Beroea gewesen war. Gegen ihn erhob sich gegen Ende der zwanziger Jahre ein Gewitter. Eine Synode trat in seiner Stadt zusammen und setzte ihn ab, woraufhin der Kaiser ihn nach Thrakien verbannte: da ist er nach einigen Jahren gestorben*. Er war ein scharfer Gegner des Origenes, und wir haben von ihm einen Traktat, in dem er am Beispiel der Hexe von Endor die zu mißbilligende Allegorese des Alexandriners und die eigene gute Methode illustriert; diese sucht freilich dem Wortlaut besser gerecht zu werden und führt zu einem ziemlich rationalistisch-aufgeklärten Ergebnis. Kein Wunder, daß er mit Euseb von Caesarea in literarische Fehde geraten ist und auch gegen die Arianer geschrieben hat. Sein Hauptanliegen war die reinliche Scheidung eines vollen Menschentums Jesu von dem in diesem „Menschen" als seinem Tempel wohnenden Göttlichen, dem Logos oder der Sophia, dem unendlichen und unbegreifl

) Urk. 27,1—5, Urk. 34 an vielen Stellen. Rede an die Synode bei Gelasius, KG 2, 7. Dazu G. Loeschcke im Rhein. Museum f. Philologie N. F. 61, 43. 5 ff. ') Socrates 1, 23, 8. 24, 1—9. Sozomenos 2, 18, 4. 19,1—7. Hieron. vir. inl. 85.

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4. Der arianische Streit bis zum Tode Konstantine

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liehen Gottessohn „von Natur", der während seiner Einwohnung in Jesu Leib zugleich alle Himmel und die Erde durch waltet, der Menschenseelen erforscht und als „eine göttliche und unaussprechliche Macht" alles umfaßt 1 . Das kam doch so ziemlich auf die Ansicht des Paul von Samosata heraus, der Logos wurde zu einer Funktion des Vatergottes. Und man kann es verstehen, wenn die OrigenistendenEustathius einen Sabellianer schalten. Aber weder das noch sein Eintreten für das Nicänische Bekenntnis — falls es historisch ist — hat den Grund für seine Absetzung geliefert. Vielmehr sind sich alle Zeugen einig darüber, daß sein Wandel als eines Priesters unwürdig bezeichnet worden sei, und Athanasius weiß noch von einer Anklage wegen Beleidigung der Kaiserin-Mutter Helena zu berichten 1 . Dieses Urteil löste aber in der Stadt kräftigen Widerstand aus, und es kam zu Straßendemonstrationen und Tumulten, zu deren Unterdrückung Militär aufgeboten werden mußte. Konstantin schickte einen General nach Antiochia mit dem Auftrag, den Unruhen energisch, aber ohne Blutvergießen, ein Ende zu machen: und das scheint gelungen zu sein. Die Synode wählte zum Nachfolger des Abgesetzten den Euseb von Caesarea: aber der war klug genug, unter Hinweis auf das in Nicaea ergangene Verbot des Ubergangs von einem Bischofsstuhl auf einen andern, den gefährlichen Posten abzulehnen. Der Kaiser belobte ihn dafür und empfahl der Synode zwei andere Kandidaten, von denen der aus Kappadokien stammende PresbyterEuphronios gewählt wurde*. Aber die halbe Gemeinde blieb demEustathios treu und spaltete sich ab: zu diesen Separatisten werden auch die eben erst mit Mühe versöhnten alten Paulusanhänger 4 gehört haben. Und seitdem ist die antiochenische Zentrale des Ostens in ihrer kirchenpolitischen Wirksamkeit gelähmt. Jeder Inhaber des antiochenischen Thrones ist nur zur Hälfte Herr im eigenen Hause und muß mit der ') Vgl. die Fragmente bei F. Cavallera S. Eustathii in Lazarum homilia, Paris 1905. Traktat über die Hexe von Endor ed. Klostermann (Kleine Texte 83). *) E. Schwartz, Gött. Nachr. 1908, 356. Z N W 34 (1935), 159. Äthan, hist. Arian 4. ») Euseb, vita Const. 3, 60. 61. 62. ') s. S. 87.

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Eustathius abgesetzt. Schisma. Antiochenische Kanones III 115

empfindlich spürbaren Gegnerschaft des Eustathianerbischofs rechnen. Dieser Zustand hat etwa 80 Jahre lang gedauert und die ganze orientalische Kirchengeschichte kräftig beeinQußt. Dieselbe Synode von Antiochia, welche den Eustathius absetzte, dürfte auch die 25 Kanones beschlossen haben, die zu allgemeiner Geltung in der Kirche gekommen sind und seit alters fälschlich der sogenannten Kirchweihsynode von 341 zugeschrieben werden 1 . Die erhaltene Teilnehmerliste der Synode beweist die zeitliche Nähe des nicänischen Konzils, und Euseb von Caesarea steht an der Spitze der Namenreihe: er war nach seiner Ablehnung des Thrones vom Kaiser ausdrücklich ersucht worden, an der antiochenischen Synode teilzunehmen*. Inhaltlich bringen die Kanones eine systematische Weiterbildung der in Nicaea beschlossenen Ordnungen, und die Notwendigkeit einer Sicherung gegen die Organisation von Separatistengemeinden macht sich geltend. Die Selbständigkeit der provinzialen Verwaltungsbezirke wird ausgebaut, die regelmäßige Abhaltung von Provinzialsynoden verordnet und ihre Zuständigkeit geregelt. Und das Problem Staat und Kirche meldet sich an in dem Verbot, kirchliche Dinge ohne Erlaubnis des Metropoliten vor den Kaiser zu bringen oder an ihn gegen ein kirchliches Urteil zu appellieren®. Übrigens ist der Stuhl von Antiochia auch noch dadurch vom Unheil verfolgt worden, daß Bischof Euphronios und ebenso seine nächsten Nachfolger nach ganz kurzer Amtszeit vom Tode abgerufen wurden. Aber wir haben über alle diese antiochenischen Dinge wenig genaue und verläßliche Kunde und müssen uns darüber klar sein, daß eins der wichtigsten Kapitel der Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts nicht geschrieben werden kann. Auch sonst bleiben uns viele Einzelschicksale in dieser Zeit dunkel. Wir hören bei einer späteren Gelegenheit 4 mit einigem Erstaunen, daß nicht nur Bischof Marcell von Ankyra, sondern noch eine ganze Reihe anderer Bischöfe, darunter sogar Paulus von Konstantinopel, als ') E. Schwartz, Gött. Nachr. 1911, 389—400. «) Euseb, vita Const. 3, 61 p. 109, 22 Heikel. ') Can. Antioch. 11. 12 «) Äthan, hist. Ar. 5—8

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Opfer der kaiserlichen Friedenspolitik haben in die Verbannung gehen müssen. Der den gehorsamen Bischöfen so gnädige Kaiser unterdrückte jede ernstliche Opposition mit rücksichtsloser Gewalt. Besser sind wir über die Schicksale des alexandrinischen Patriarchats unterrichtet. Alexander brachte trotz der vorhin angemerkten Verluste doch einen wertvollen Gewinn aus Nicaea nach Hause. Das Konzil hatte in seinem sechsten Kanon feierlich als von alters her bestehende Sitte anerkannt, daß der alexandrinische Bischof Oberhirt von ganz Ägypten einschließlich Libyens und der Pentapolis sei. Das war die endgültige Bestätigung einer planmäßig und klug aufgebauten Herrschaft, die über die diokletianischen Provinzgrenzen weit hinausgriff und nur in der Obergewalt des römischen Bischofs über mittel- und unteritalienisches Gebiet eine Parallele hatte. Auch dies ist schwerlich zufällig, sondern das Ergebnis der von uns schon mehrfach beobachteten kirchenpolitischen Geistesverwandtschaft beider Städte. Wenn der nicänische Kanon noch hinzufügte, daß „gleicherweise in Antiochia und in den anderen Provinzen die Vorrechte der Kirchen erhalten bleiben sollten", so bedeutete das einstweilen nicht allzuviel, und fürs erste hatte Alexandria von Antiochia nichts zu fürchten — wir haben die Gründe kennengelernt. Ernstliche Sorgen mußte aber dem Alexander die meletianische Bewegung bereiten, die von dem nicänischen Frieden nichts wissen wollte. Und dazu kam nun noch die Wiederaufnahme des Arius in der zweiten Sitzung und die darauf gegründete Forderung des Kaisers. Zwar gab sie sich den Anschein, als ob dem geistlichen Urteil Alexanders nicht vorgegriffen werden solle1, aber es war deutlich, daß hier nur die höflichere Form eines Befehls gewählt war. Der Brief wird einen todkranken Mann erreicht haben, der die Antwort hinauszögern konnte: am 17. April 328 starb Alexander. Bei der Wahl seines Nachfolgers wurde die neue von Alexander dekretierte Wahlordnung erprobt, welche auch nach l

) Urk. 32, 4.

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Alexander • . Alexandrien stirbt (328). Athanasius

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außen hin kundtat, daß es dem Bischof gelungen war, die bisherigen Vorrechte seiner städtischen Presbyter zu brechen. Sie durften nicht mehr allein die Wahl vornehmen und einen aus ihrem Kreis zum Bischof machen, sondern die ägyptischen Bischöfe, soviele dazu Lust hatten, kamen in der Hauptstadt zusammen und wählten frei — in diesem Falle, wie es auch anderswo üblich war, den vertrauten Diakon des Verstorbenen, Athanasius mit Namen, einen Mann im Anfang der Dreißiger. Am 8. Juni 328 wurde er geweiht1. Er war mit seinem Bischof auf dem nicänischen Konzil gewesen, und es ist durchaus glaubhaft, daß ihn dieser zum Nachfolger gewünscht hat*. Aber so ganz glatt ist die Wahl doch nicht verlaufen. Es hatten sich 54 Bischöfe in Alexandria eingefunden und angesichts der Bedeutung des kommenden Aktes eidlich untereinander vereinbart, vor der Wahl eine sorgfältige Prüfung etwaiger gegen die Kandidaten vorgebrachter Bedenken vorzunehmen. Das scheint, wie auch die lange Zeit zwischen dem Tode Alexanders und der Wahl des Nachfolgers — fast zwei Monate — vermuten läßt, erhebliche Schwierigkeiten gemacht zu haben, so daß schließlich sieben Bischöfe die Geduld verloren, sich zusammentaten und den Athanasius wählten und weihten. Der Kaiser erkannte ihn an*. Athanasius kam so freilich auf den Bischofsstuhl, geriet aber zugleich in eine schwierige Lage. Die Meletianer hatten sich klugerweise zum Zwecke der Bischofswahl mit den übrigen Bischöfen verständigt, vermutlich, weil sie sich davon praktischen Vorteil versprachen. Jetzt mußten sie sich geprellt fühlen, und sie eröffneten sofort den Krieg gegen den neuen Mann. Der wehrte sich und hieß seine Bischöfe das Gleiche tun. So kam es an vielen Orten zu argen Zusammenstößen, und als die >) Äthan. Feetbriefe, Vorbericht (Übers, v. Larsow S. 26). Hist, aceph. 17 p. 83 ed. Fronten. Aber der syr. Text behauptet, es sei ein Sonntag gewesen, was der liturgischen Sitte entspricht; dann wäre der 9. Juni das Datum. *) Äthan, apol. c. Ar. 6, 2. Sozom. 2,17,1. 3. *) Sozomenos 2,17,4 25,6. Äthan. apoL c. Arian. 6,4. Philostorg. 2,11 p. 23. Uber die Wahlordnung s. Eutychius Annalen bei E. Schwartz, Gött. Nachr. 1908, 350.

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Meletianer eines Tages vor dem Kaiser Klage gegen Athanasius führten, hatten sie eine ganze Liste von Gewalttaten aufzuweisen. Athanasius verteidigte sich durch Angriff und beschuldigte die Gegner des Abfalls vom nicänischen Glauben1. Seine Anwälte waren zwei ägyptische Presbyter, die sich zur Zeit am Hofe aufhielten, aber der Kaiser zitierte ihn doch, um ihn persönlich zu verhören. Um die Jahreswende 331/332 erschien er in der kaiserlichen Villa Psamathia bei Nikomedia vor Konstantin. Die Hauptklagen der Meletianer lauteten einmal auf Bestechung eines kaiserlichen Feldjägers und zweitens auf Kirchenfrevel gegen Ischyras. Dieser war Presbyter in der Gemeinschaft des Kolluthos und wurde dem Athanasius gelegentlich einer Visitationsreise in die Mareotis denunziert. Der Bischof sandte den Presbyter Makarios, um den Ischyras holen, zu lassen. Da soll es nun im Dorf einen üblen Auftritt gegeben haben, bei dem Makarios einen Bischofsstuhl und den Altartisch umwarf: dabei ging ein Abendmahlskelch in Trümmer. Und für diese Heiligtumsschändung wurde Athanasius verantwortlich gemacht*. Athanasius gelang es, sich vollkommen zu rechtfertigen. Er kehrte Ende März mitten in der Karwoche 332 wieder heim* und brachte den Alexandrinern ein kaiserliches Schreiben mit, welches sie kräftig wegen ihres Unverstandes, ihrer Ungebärdigkeit und ihrer Feindschaft gegen den Bischof ausschilt, den Athanasius von denAnklagen der bösen Feinde freispricht und ihn als Gottesmann rühmt4. Ischyras selbst gab die Unwahrheit der sämtlichen Anklagen feierlich zu Protokoll5. Es war ein glänzender Erfolg, den Athanasius durch sein persönliches Auftreten erzielt hatte, und er war um so höher anzuschlagen, als der Bischof auf einen unfreundlichen Empfang hatte gefaßt sein müssen. Kurz zuvor nämlich hatte der Kaiser durch Euseb von *) Sozom. 2, 22, 1—3. Äthan, apol. c. Ar. 59—60 p. 139—141 Opitz mit den Anm. *) Äthan, apol. c. Arian. 63 p. 142 f. Opitz. Schwartz, Gött. Nachr. 1911, 373 Anm. 4. ») Festbriefe 4 p. 77. 80 Larsow; vgl. p. 27 (irrig zu Brief 3 notiert). *) Äthan, apol. c. Ar. 61—62. ') Äthan, apol. 64.

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Meletianer und Arius gegen Athanasius

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Nikomedia den Athanasius an die noch immer unerledigte Aufnahme des Arius erinnern lassen, und der Mittelsmann hatte auf die bedenklichen Folgen einer Ablehnung deutlich hingewiesen: die Antwort war ein glattes Nein gewesen. Da kam ein Brief des Kaisers, Athanasius möge sich auf sofortige Absetzung undVerbannung gefaßt machen, wenn er denArius nicht aufnehme. Wieder ging die Antwort zurück, die Aufnahme eines Ketzers in die katholische Kirche sei unmöglich. Und Konstantin gab sich für diesmal zufrieden und ließ den mutigen Mann seinen Widerspruch nicht entgelten1. Ob in Psamathia über diese Sache gesprochen worden ist, wird uns nicht mitgeteilt. Aber es ist nicht unwahrscheinlich, daß Athanasius auf Tatsachen hingewiesen hat, die von erneuter Agitation des Arius für seine in Nicaea verurteilte Ketzerei zeugten, somit also seine Weigerung rechtfertigten. Dieser dagegen scheint seine Stellung für sicherer gehalten zu haben, als sie war. Er wußte, daß Konstantin auf seine Rückführung nicht verzichten konnte, schon im Interesse der Konzilsautorität nicht, die den Reuigen begnadigt hatte. Nun glaubte er sich berechtigt, den Kaiser mahnen zu können, und schrieb ihm einen temperamentvollen Brief. Die Massen stünden hinter ihm und warteten gleich ihm auf Erfüllung der Zusagen. Wenn der Bischof ihm die Aufnahme noch weiterhin weigere, so möge ihm die Freiheit gegeben werden, mit seinen Anhängern eine eigene gesetzlich anerkannte Gemeinde zu bilden'. Die Antwort* wurde durch zwei Feldjäger überbracht und im Palast des Statthalters öffentlich verlesen. Es war eine kräftige und auch im Ton grobe Absage an Arius und seine Pläne, untermischt mit theologischen Zurechtweisungen seiner Irrlehren. Einer etwaigen Separatistengemeinde wurden erhebliche Zuschläge zur Grundsteuer und zu sonstigen öffentlichen Abgaben in Aussicht gestellt. Und dann folgt zum Schluß völlig überraschend eine Einladung, an den Hof zu kommen und vor dem Kaiser, dem „Gottesmann", selbst die Korrekt») Äthan, apol. c. Ar. 59; 3-6. ') Urk. 34, 5. 8 - 1 1 . ») Urk. 34, auf 333 datiert ( = zu p. 75, 7 Opitz).

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heit seines Glaubens nachzuweisen. Mit einem eigenhändigen Segenswunsch schließt das seltsame Schreiben. Gleichzeitig erging aber ein kaiserliches Edikt 1 an die breiteste kirchliche Of' fentlichkeit, welches die Arianer den Anhängern des Christenfeindes Porphyrios gleichstellte, die Schriften des Arius zu verbrennen befahl und ihren heimlichen Besitz mit Todesstrafe bedrohte. Arius reiste zum Kaiser und überzeugte ihn wieder einmal durch persönliches Bekenntnis in einer Audienz von seiner Rechtgläubigkeit*. So hatte es im Jahre 333 zeitweilig den Anschein, als ob beiden Gegnern die kaiserliche Gnadensonne in gleichem Maße strahle. Die Meletianer ließen sich dadurch täuschen und griffen zu einem verzweifelten Mittel, um die Machtstellung des Athanasius zu erschüttern: Johannes Archaph, ihr Führer und Nachfolger des Meletius, klagte ihn des Mordes an. Er sollte einen Bischof namens Arsenios haben umbringen lassen. Und zwar sei dieser von einem Bischof namens Plusianos im Auftrag seines Oberen in seinem Hause an eine Säule gebunden und dann das Haus angezündet worden'. Der Kaiser beauftragte sofort seinen Halbbruder Dalmatius 4 , der in Antiochia residierte und den für jene Zeit seltsamen Titel eines Zensors' führte, mit der Untersuchung des Falles; auch wurde eine Synode zu gleichem Zwecke dorthin zusammenberufen. Aber Athanasius war nicht müßig. Er setzte seinen findigsten Diakon auf die Spur des verschollenen Bischofs, und in kürzester Frist hatte dieser den Arsenios in einem oberägyptischen Kloster entdeckt. Zwar gelang es den Mönchen, ihren Schützling nilab zu verschiffen, aber zwei der hauptbeteiligten Klosterbrüder wurden verhaftet, nach Alexandria geschafft und mußten dort vor dem militärischen Oberkommando gestehen, daß Arsenios lebe und also nicht umgebracht sei. Die Mönche schickten sofort an Johannes Archaph eine Warnung, er möge nun die Anklage gegen Athanasius nicht vorbringen. *) Urk. 33. «) Äthan, apol. c. Ärian. 84, 4=de synod. 21. ») Sozom. 2. 25, 12. *) Pauly-Wissowa, Realenc. 4,2455. ») Darüber s. O. Seeck, Regesten S. 127.

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Athanasius und Arsenius

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aber sie kamen zu spät 1 . Athanasius entdeckte sein angebliches Opfer auch in dem neuen Versteck zu Tyrus und ließ ihn dem dortigen Bischof Paulus vorführen. Vor diesem wurde trotz anfänglichen Leugnens seine Identität festgestellt und damit der Mordklage der Boden endgültig entzogen. Athanasius meldete das Ergebnis sofort dem Kaiser. Dieser ließ die Untersuchung des Dalmatius einstellen, sagte die Synode ab und schrieb dem wiederum so glänzend Gerechtfertigten einen warmen Glückwunschbrief, der öffentlich bekanntgemacht werden sollte. Er mündete in die Drohung aus, daß gegen die Meletianer nicht mehr nach Kirchenrecht, sondern wegen staatsgefährlicher Umtriebe eingeschritten werden solle, wenn sie noch einmal derartige Dinge anzettelten*. Johannes Archaph erkannte seine Niederlage und schrieb an Konstantin einen Entschuldigungsbrief, in dem er auch von Verständigung und einträchtiger Gemeinschaft mit Athanasius sprach. Das freute den Kaiser, und er lud ihn mit gnädigen Worten at. seinen HoP. Arsenios Schloß sich gleichfalls wieder der „katholischen" Kirche an und unterstellte sich dem Athanasius4. Es sah so aus, als wolle der Frieden in Ägypten einkehren. Aber die Freundlichkeit des Kaisers gegen die bußfertigen Sünder Arius und Johannes Archaph war verdächtig. Plötzlich, im Frühjahr 334, veranlaßte Konstantin eine Synode in Caesarea zur Untersuchung der gegen Athanasius erhobenen Anklagen. NatürlichwarderOrtsbischofEuseb der Vorsitzende dieses Gerichtshofes und der Namensvetter aus Nikomedia sein einflußreichstes Mitglied. Athanasius lehnte es ab, vor diesen ihm ausgesprochen feindlichen Richtern zu erscheinen, und man mußte das einstweilen hinnehmen. In Alexandria hatte er die Behörden auf seiner Seite und ging brutal gegen die Meletianer vor*. Es nahte das dreißigjährige Regierungsjubiläum, das Kon') Brief der Mönche bei Äthan, apol. c. Arien. 67. *) Bericht bei Äthan, apol. c. Arian. 65; der Brief des Kaisera ebd. 68. *) Äthan apoL c. Arian. 70, 2. 4) ebd. 69,2—4. «) Sozora. 2,25,1. Synodalschreiben der Orientalen von Sardic'a 7 bei Hilarius 4 p. 54, 1 Feder. Äthan. Festbriefe, Vorbericht 6 p. 28 Larsow. Dazu E. Schwartz, Gött. Nachr. 1911, 376. Holl Ges. Sehr. 2, 283.

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stantin unter anderem durch feierliche Einweihung der von ihm erbauten Grabeskirche in Jerusalem begehen wollte: und bei dieser Gelegenheit sollte eine große repräsentative Synode das Gegenstück zu der vor zehn Jahren abgehaltenen nicänischen darstellen1. Vorher war es nötig, die Kirche in Ordnung zu bringen, das heißt aber das Athanasiusproblem zu lösen. Die Eusebianer, wie man die Orientalen nach ihrem in Nikomedia sitzenden Führer zu nennen pflegt, hatten beim Kaiser eine Art Vorsynode in Tyrus angeregt, ihm Vorschläge für die Auswahl der Teilnehmer unterbreitet und einen kaiserlichen Kommissar als Leiter und Garanten der Ordnung erbeten. Konstantin gewährte alles, schickte den Konsular Dionysios als Regierungsvertreter und versprach, gegebenenfalls widerstrebende Angeklagte — soll heißen Athanasius — gewaltsam zum Gehorsam gegen kaiserliche Befehle anzuhalten*. Noch im Juli 335* begannen die Verhandlungen. Als Ankläger traten auf der uns schon bekannte Ischyras mit dem zerbrochenen Abendmahlskelch, umgeben von einem Kranz meletianischer Bischöfe, die sich über erlittene Mißhandlungen beschwerten. Zur Verstärkung der Anklage wies man auf die Unregelmäßigkeit der Wahl des Athanasius hin, und auch der zum Leben erstandene Arsenius tauchte wieder auf. Denn wenn er auch nicht gerade ermordet war, so konnte er doch über grausame Behandlung berechtigte Klage führen4. Nach einigem Schwanken kam Athanasius, von einer Schar getreuer Bischöfe begleitet, deren Liste 49 Namen aufweist5. Diese protestierten zunächst gegen die Anwesenheit der ihrem Patriarchen feindlichen Eusebianer. Sodann weigerte sich Athanasius, den Anklagen des Ischyras Rede zu stehen, weil dieser überhaupt kein Kleriker sei, und es kam zu beträchtlichen Lärmszenen, bis er durch den Konsular gezwungen wurde*. ») Euseb, vita Const. 4, 47. *) Euseb, vita Const. 4, 42, 3—4; vgl. Äthan, apol. 71, 2. Die Urkunden der Synode stellt E. Schwartz Gött. Nachr. 1911, 413—416 zusammen. ») Äthan. Festbriefe Vorbericht 8 p. 28 Larsow. *) Sozom. 2, 25, 3—7.12. «) Äthan, apol. 78. 7. J. Bell Jews and Christians in Egypt (1924) S. 60, 38 ff. K. Holl Ges. Sehr. 2, 288. ·) Sozom. 2, 25, 18. Äthan, apol. 71, 5.

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Synode zu Tyrus (335)

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Die Synode beschloß, eine Kommission zur Untersuchung des Tatbestandes nach der Mareotis zu senden: aber sie ging dabei so parteiisch vor, daß nicht nur die Athanasianer protestierten, sondern auch ein sachlich denkender Mann wie Alexander von Tbessalonich 1 den Dionys darauf hinwies. Das hatte nun zwar ein Warnungsschreiben 1 von dieser Seite zur Folge, nutzte aber nichts. Bald darauf ertönen laute Proteste gegen die Methoden der Kommission aus Ägypten, die von Beschwerden bei kaiserlichen Beamten begleitet sind*. Und jetzt vernehmen wir aus dem Munde der treuen Athanasianer die Forderung, daß die Anklagen gegen Athanasius vor das Kaisergericht gebracht werden möchten 4 . Und damit war der Wunsch des Patriarchen selbst ausgesprochen. Dieser verließ die Synode heimlich und begab sich auf Umwegen nach Konstantinopel. Er war in Tyrus zuletzt seines Lebens nicht mehr sicher gewesen, und die Beamten hatten sein Verschwinden begünstigt®. Am 30. Oktober traf er in der Hauptstadt ein*. In Tyrus sprach man über den Abwesenden das Urteil auf Absetzung und Verbannung aus Alexandria, weil er seinerzeit im Ungehorsam gegen den kaiserlichen Befehl nicht in Caesarea erschienen sei, in Tyrus sich ungebührlich betragen habe und im Falle Ischyras nach Befund der Untersuchungskommission die volle Schuld trage. Die Meletianer wurden mit Ämtern und Würden in die Kirchengemeinschaft aufgenommen 7 . Die Synodalen reisten nunmehr, durch kaiserlichen Befehl zur Eile gemahnt, nach Jerusalem und feierten am 17. September 335 mit dem Kaiser die Einweihung der prächtigen Basilika auf dem Golgathafelsen 8 . Als er von ihnen die Wiedereinsetzung des Arius in sein alexandrinisches Amt verlangte, taten sie ihm nicht ungern diesen Gefallen und richteten an die Ägypter ein diesbezügliches Schreiben*. ') Äthan, apol. 80, vgl. 77. 78. *) Äthan, apol. 81. ») Äthan, apol. 73. 74—75. 76 (datiert 8. Sept. 335). Die Erzählung 72. Vgl. 82—83. «) Äthan, apol. 79,1 (p. 160, 6 Opitz). 5) Sozom. 2, 25,13.14. ·) Äthan. Festbriefe Vorbericht 8 p. 28 Larsow mit falschem Jahr (336 statt 335). 7 ) Sozom. 2, 25, 15—19. *) Chronicon paschale p. 531, 11 ed. Dindorf. Aber der Kirchweihtag ist liturgisch der 14.Sept. ·) Äthan.desynod.21.

III 124 4. Der arianische Streit bis zum Tode Konstantins

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Der Kaiser war nach der Hauptstadt zurückgekehrt, und anscheinend sind ihm die Häupter der Eusebianer schnell gefolgt, weil sie an weiteren Jubiläumsfeierlichkeiten teilnehmen wollten, vielleicht auch, weil sie von der Reise des Athanasius wußten. Dieser stellte sich geschickt dem Kaiser in den Weg, wurde von seiner Begleitung erkannt, erhielt jedoch nur mit Schwierigkeiten eine Audienz. Aber in dieser bewährte Athanasius die Zauberkraft seiner Persönlichkeit. Konstantin berief sofort eine neue Synode der tyrischen Richter nach Konstantinopel zusammen. Aber kaum war das Schreiben abgegangen, da gelang es den Eusebianern, zum Kaiser vorzudringen und ihm mitzuteilen, Athanasius habe gedroht, die Getreidetransporte für die Hauptstadt zu verhindern. Dazu hatte der Patriarch von Alexandria allerdings die Macht, und das Ausbleiben der Frachtschiffe bedeutete Hungersnot für die Volksmasse, die gewohnt war, täglich 80000 Scheffel Weizen1 ausgeteilt zu bekommen. In rasendem Zorn loderte der Kaiser auf und verbannte den Athanasius sofort ohne Verhör nach Trier. Noch am selben Tage, dem 7. November 335, trat der Verurteilte die Reise an*. Mit erleichtertem Herzen konnte Euseb von Caesarea dem Kaiser seine Jubiläumsrede vortragen und sich mit den übrigen Amtsbrüdern zum Festmahl an die kaiserliche Tafel setzen*: der Gegner war endgültig niedergezwungen. In Alexandria erhob sich lautes Klagen um den Verlust des Oberhirten, und der Klerus samt den „gottgeweihten Jungfrauen" veranstalteten Bittprozessionen für seine Rückkehr. Aber der Kaiser gebot ihnen Schweigen und lehnte schroff eine Begnadigung des rechtskräftig verurteilten Aufriihrers ab. Selbst der wundertätige Asket aus der Wüste, der heilige Antonius, bekam auf seine Briefe nur die kühle Antwort, der Kaiser sei nicht in der Lage, ein kirchliches Synodalurteil zu ignorieren, auch sei es nicht wohl glaubhaft daß eine solch große Schar angesehener und trefflicher Bischöfe nach Haß und Gunst geurteilt habe*. l ) Socrates 2,13, 5. *) Äthan. apoL 87,1—2. Festbriefe, Vorbericht 8 p. 28 Larsow (irrig zu 336). *) Euseb, vita Const 4, 46. 4) Sozomenos 2, 31.

[779]

Athanasius verbannt (335). Konstantins Tod (337)

III 125

Der Meletianerbischof Johannes Archaph scheint die Vakanz des alexandrinischen Thrones für eine günstige Gelegenheit zur Ausdehnung seiner Macht angesehen zu haben. Aber seine Haltung löste kräftigen Widerstand aus, und der Lärm drang bis zu den Ohren des Kaisers: da mußte auch Johannes in die Verbannung gehen1. Um diese Zeit scheint auch Arius gestorben zu sein. In Alexandria fand er trotz allem keine Wirksamkeit, so blieb er in Konstantinopel und erlag dort einem plötzlichen Tod auf der Straße. Athanasius hat daraus zwanzig Jahre später eine wenig erbauliche Wundergeschichte gemacht*, die seitdem zum eisernen Bestand der populären Polemik gehört, dem kritischen Leser aber höchstens als Bericht über einen Giftmord erscheint. Kaiser Konstantin wurde kurz nach Ostern 337 von einem Unwohlsein befallen, das sich rasch verschlimmerte. Da ließ er sich taufen, legte sich im weißen Gewand des „Neugeborenen" aufs Totenbett und starb am Pfingstsonntag dem 22. Mai in Ankyrona bei Nikomedia*. Er scheint, trotz der gegenteiligen Versicherungen der Historiker, die Grenze der 60 nicht überschritten zu haben4. Sein Sohn Konstantius setzte ihn in der Rotunde der hauptstädtischen Apostelkirche bei, die der Kaiser zu diesem Zweck hatte bauen lassen. Der Sarg stand inmitten von zwölf den Aposteln gewidmeten Sarkophagen*. ») Sozom. 2, 31. *) Äthan, epist. ad Serap. de morte Arii, danach Rufin und die andern Historiker. *) Euseb, vita Const. 61—64. Hieron. Chron. Ol. 279, 1 p. 234, 8 ed. Helm. Aurelius Victor Caes. 41, 15. *) Seeck, Untergang 1, 407. ») Euseb, vita Const. 4, 60. 71.

Konstantin Nach dem Sieg über Licinius hat Konstantin den Feldherrnstab aus der Hand gelegt. Seine Stellung war so unangreifbar hoch, daß er den etwa noch zu erringenden Schlachtenruhm seinen Söhnen überlassen konnte. Der älteste, Konstantinus, wurde schon in seinem zwölften Jahr Oberstkommandierender einer Armee, welche die Alemannen besiegte: der Vater stand aber doch vorsorglich im Hintergrund und lenkte von Trier aus den Feldzug1. Drei Jahre später, im Frühjahr 332, schlug der junge Prinz die Goten an der Donau mit verheerender Wirkung. Der bald danach erfolgte Sieg über die Sarmaten scheint seinem fast gleichaltrigen Halbbruder Konstantius zugeschrieben worden zu sein*. Die Folge dieser Ereignisse war die Ansiedlung von 300 000 Sarmaten in den verödeten Grenzgebieten diesseits der Donau. Aber auch die Kampfgrenze am Euphrat erforderte verstärkte Aufmerksamkeit. Zunächst wurde Konstantius mit der Sicherung dieses Gebietes betraut, als aber die Lage ernster wurde, entschloß sich der Kaiser angesichts der Größe der Aufgabe, selbst gegen die Perser zu Felde zu ziehen: aber mitten unter den Vorbereitungen ereilte ihn der Tod. Im Jahre 335 hatte der Verwalter der kaiserlichen Kamelherden, Calocaeros in Cypern, den wahrhaft irrsinnigen Gedanken, sich zum unabhängigen König der Insel aufzuwerfen. Der jüngere Dalmatius, Sohn des antiochenischen Zensors, also ein Neffe des Kaisers, erhielt den Auftrag, diesen Aufstand niederzuwerfen: er hat den Unglücklichen in Tarsos lebendig verbrennen lassen. Schon früh war Konstantins ältester Sohn Crispus® in ähnlicher Weise mit militärischen Aufgaben betraut worden, die 0 Seeck, Untergang 4, 380 f. l ) Seeck 4, 382. Wissowa 4, 1722 n. 9 und Untergang 3, 558 f.

s

) Seeck bei Pauly-

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Kriege. Verwaltungsreform

III 127

ihn mit den Ruhmestiteln eines Franken- und Alemannensiegers schmückten, und im Kampf gegen Licinius hatte er als Befehlshaber der Flotte entscheidend mitgewirkt1. Auf ihn durfte Konstantin die stolzesten Hoffnungen setzen. Und gerade diesem Sohn hat der Vater selbst den Tod bestimmt: er starb 326 in Pola durch Gift. Ob er mit seiner Stiefmutter Fausta ein ehebrecherisches Verhältnis hatte und diese versucht hat, sich durch die Rolle der Frau Potiphars zu retten, muß ungewiß bleiben. Aber bald nach dem Tode des Crispus wurde sie auf Befehl Konstantins in einem heißen Bade erstickt. An die Stelle des Crispus trat im Nachfolgeplan des Kaisers seinBrudersohnDalmatius der Jüngere, der 335 die Caesarwürde erhielt, während der andere Neffe Hannibalianus als Herrscher eines jenseits des Euphrat zu begründenden großarmenischen Reiches in Aussicht genommen wurde. Die Gedankengänge Diokletians blieben also auch für die weitere Entwicklung des Reichsaufbaus maßgebend, obwohl sie der starken Persönlichkeit Konstantins nicht standgehalten hatten. Er mochte sich mit Recht als eine Ausnahme einschätzen und deshalb bei der Ordnung seiner Nachfolge wieder auf die vorangegangene Regel zurückgreifen. Auch die Weiterbildung der Verwaltung bewegte sich in der von Diokletian eingeschlagenen Richtung. Die Praefecti praetorio wurden jetzt auch des letzten Restes militärischer Funktionen beraubt, und dadurch vollendete sich die Scheidung der Zivilverwaltung vom Militärwesen. Und statt der früheren Auffassung, daß zu der Person des Kaisers ein solcher Präfekt als sein Reichskanzler gehört, erscheint jetzt als das zweckmäßige die Aufteilung des Reichsgebiets in Präfektursprengel, die unabhängig von der Zahl der Kaiser oder Caesaren ihre zentrale Oberleitung in der Person ihres Praefectus praetorio besitzen*. Auch innerhalb dieser Gebiete wird die Verwaltung straffer vereinheitlicht, und die Leiter der Diözesen und der Provinzen werden trotz aller Schonung ihrer äußeren Würde in steigendem Maße ausführende Organe der vom Prä») o. S. 66.

«) Seeck, Regesten S. 141—149.

I I I 128

5. Konstantin

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fekten ergehenden Weisungen. Die Machtfülle dieser Reichskanzler wird planmäßig erhöht bis zu dem Grade, daß ihre Gerichtsbarkeit ausdrücklich gegen eine Appellation an den Kaiser gesichert wird1. Sie regieren in ihrem Gebiet unumschränkt und können sogar im Rahmen der allgemeinen kaiserlichen Rechtsordnung Gesetze geben. Daneben werden am Hof neue Organe der kaiserlichen Verwaltung und Gesetzgebung ausgebildet. Der kaiserliche Staatsrat, das Konsistorium, wird eine Behörde mit vorwiegend ständigen Mitgliedern, die den höchsten Rang der Comites besitzen. Die Vorbereitung und Ausarbeitung der Gesetze sowie die Erledigung der Bittschriften besorgt der Quaestor sacri palatii, der im Ostreich auch die Patente einer bestimmten Anzahl von Stabsoffizieren auszufertigen hat*. Das gesamte übrige militärische und zivile Anstellungswesen untersteht dem Primicerius notariorum', dem Chef der kaiserlichen Kabinettssekretäre, die uns unter dem Titel „Tribunus et notarius" auch in außerordentlichen Missionen vielfach begegnen. In seinem Büro wird die Notitia dignitatum, die Rangliste des Reiches, auf dem laufenden gehalten: das uns erhaltene Exemplar eines Auszuges daraus ist die Grundlage unserer Kenntnis des Beamtenwesens dieser Jahrhunderte 4 . Der Magister officiorum beaufsichtigt die Waffenfabriken und leitet den Sicherheitsund Polizeidienst 5 : ihm unterstehen insbesondere die vielgenannten Agentes in rebus, d. h. das kaiserliche Feldjägerkorps. Der Finanzminister heißt Comes sacrarum largitionum, wörtlich „Minister der kaiserlichen Spenden", nämlich der in Geld oder Naturalien erfolgenden und zum Gewohnheitsrecht gewordenen Spenden an die Truppen und die Volksmassen der Hauptstädte. Da schließlich jede kaiserliche Zahlung als Ausfluß allerhöchster Gnade, also als Spendung, angesehen wurde, ' ) Cod. Theod. 11,30,16, vgl. E. Stein, Gesch. d. spätröm. Reiches I, 179 f. *) Notitia dignitatum. Or. 12, Oc. 10. Mommsen, Ges. Schriften 6. 392. ») Not. dignit.. Or. 18, Oc. 16. 4 ) Notitia dignitatum ed. O. Seeck 1876 und mit reichem Kommentar Ed. Böcking 1839—1853. Dazu Polaschek bei Pauly-Wissowa 17, 1077—1116. ») N o t dign., Or. II, Oc. 9.

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Reichs- und Hofämter. Heeresreform

III 129

so erschien die Staatskasse als das „Spendungsamt" (Largitio) schlechthin1. Selbstverständlich unterstanden diesem Ministerium auch die Münzstätten 1 . Der Comes rerum privatarum' verwaltet das kaiserliche Privatvermögen, dessen Hauptquelle die Einkünfte aus den über das ganze Reich verteilten riesenhaften Domänen darstellen. Diese beiden Finanzminister bilden mit dem Quaestor und dem Magister officiorum die ständigen Mitglieder des Konsistoriums. Zu den obersten Hofämtern gehört ferner der kommandierende General des Gardekorps, der Comes domesticorum, und der allmählich zu immer höherer Würde aufsteigende Oberstkämmerer, der Praepositus sacri cubiculi — nach orientalischer Sitte stets ein Eunuche: in der uns erhaltenen Notitia dignitatum rangiert er unter den höchsten Exzellenzen, den Viri inlustres, gleich nach den Reichskanzlern und den Generalobersten vor den vier Konsistorialministern. Ihm untersteht der Chef der Kammerherren (Primicerius sacri cubiculi) mit seinen Hofbeamten, darunter den Zeremonienmeistern (Silentiarii) und der Garderobeverwaltung (Sacra vestis). Zugleich mit diesem für die nächsten Jahrhunderte grundlegenden Ausbau der Regierungszentrale erfolgte eine Reform des Heerwesens, in welcher sich die von Diokletian begonnene Entwicklung4 konsequent fortsetzte. Die obersten Spitzen des Heeres sind die beiden Generalobersten (Magistri militum), von denen einer die Infanterie, der andere die Kavallerie befehligt. Nach Konstantin sind diese Stellen vermehrt worden und nicht mehr nach den Waffengattungen, sondern nach dem geographischen Kommandobereich unterschieden. Ihnen unterstehen direkt die mobilen Feldarmeen, die „Comitatenses", und die Elitetruppen der „Palatini", die nach Bedarf an jede Front geworfen werden können und die eigentlichen Träger der Kriegsführung sind. Diese Formationen von erstklassigen Soldaten werden mit allem Nachdruck an Zahl und Güte verl ) Enßlin bei Pauly-Wissowa 12, 835 f. ») Not. dign., Or. 13, Oc. 11. Seeck bei Pauly-Wissowa 4, 671—675. ') Not. dign., Or. 14, Oc. 12. Seeck bei Pauly-Wissowa 4, 664—670. ') s. o. S. 12 und Bd. 2, 10 f.

Li e t z m a n n , Gesch. d. Alten Kirche 3.

9

III 130

5. Konstantin

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stärkt und nehmen auch die besten Elemente der Grenztruppen in sich auf, die aus dem Grenzschutz herausgezogen und in städtischen Garnisonen des inneren Landes konzentriert werden1. Die bodenständigen Truppenkörper des Heimatschutzes unterstehen den Generalen (Duces) der einzelnen Provinzen, sichern die Städte und vor allem die Grenzkastelle, in denen sie mit Weib und Kind angesiedelt wohnen. In beide Klassen von Soldaten dringen in steigendem Maße „Barbaren" ein, und das germanische Element erweist sich schon unter Konstantin als unentbehrlich für die Feldschlacht. Mit ehrlichem Ingrimm klagt der Historiker Ammianus1, daß dieser Kaiser meist Barbaren zu höchsten Reichswürden habe aufsteigen lassen. Es war eine unausweichliche Notwendigkeit geworden. An eine Verminderung der Geldaufwendungen für das Heer war natürlich weniger als je zu denken. Dem stand die Unmöglichkeit einer ernstlichen Erhöhung der Steuerlasten gegenüber. Konstantin hat die Senatoren mit einer nach ihrem Grundbesitz abgestuften Standessteuer belegt*, die nicht in Naturalien, sondern in Gold entrichtet werden mußte. Und von allen Gewerbetreibenden bis herab zu den Dirnen und bettelnden Hausierern wurde alle fünf Jahre — und zuweilen noch öfter — eine nach der Höbe des Betriebskapitals bemessene Geldzahlung erhoben4. Aber damit waren auch die letzten Möglichkeiten einer direkten Besteuerung erschöpft. Das von Diokletian bereits in unsicheren Versuchen angewandte Mittel einer wirtschaftlichen Besserung durch Stabilisierung der Währung hat Konstantin mit einem in gewissem Sinne dauernden Erfolg angewendet. Er schuf eine Goldwährung, deren Träger der Goldsolidus von AlA Gramm Feinmetall war5, also einen Goldwert von etwa 11 Reichsmark besaß; und diese Münze hat während der ganzen byzantinischen -) Zosim. 2, 34, 2. Stein, Gesch. 1,189. *) Ammian. Marcell. 21,10, 8. vgl. N. Enßlin, Germanen in röm. Diensten, Das Gymnasium 52, 1941. a ) Die Collatio glebalis s. Seeck bei Pauly-Wissowa 4, 365. ) O. Seeck, Die Briefe des Libanius S. 194. «) Socr. 2, 40. 8—17 und Epiph. haer. 73, 25—26 mit den Unterschriften. ») Vgl. o. S. 225.

III 230

8. Konstantius als Alleinherrscher

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vorläufig vom Amt suspendiert. Für die Stelle des entsetzten Eudoxios von Antiochia bestimmten sie einen gewissen Anianos, der aber sein Bistum gar nicht übernehmen konnte, da der Comes Leonas ihn sorfort über die Grenze abschob. Ganz wie in Rimini schickten auch hier beide Parteien ihre Zehnergesandtschaften an das Hoflager, um das Ergebnis der Verhandlungen zu melden, aber die übrigen Mitglieder der Synode waren glücklicher als ihre abendländischen Brüder: sie durften ungehindert nach Hause reisen. Der Kaiser war in Konstantinopel, und hier prallten nun die Gegner im Endkampf aufeinander. Es hat den Homoiusianern nichts genutzt, daß sie den Neuarianismus des Aetios und Eunomios dem Kaiser in so schwarzen Farben malten, daß dieser eine Untersuchung durch den neu ernannten (11. Dezember 359) Stadtpräfekten Honoratus anordnete und die Anhomöer in einer Sitzung des Staatsrates verurteilen ließ1. Der Kaiser wollte von dem Homoiusios, das Silvanus von Tarsus zu verteidigen suchte, auch nichts wissen und bestand auf der Annahme des homöischen Bekenntnisses, dem soeben die Synode von Rimini sich gebeugt hatte; und was ihm dort gelungen war, wurde auch hier erreicht. Nach einigem Sträuben unterzeichneten die Vertreter von Seleukia in der Neujahrsnacht 360 die gewünschte Formel*. Daneben aber ging der Kampf um die Bischofsstühle erbittert weiter und es wurde bald klar, daß Acacius und seine Leute in der Gunst des Kaisers standen und ihre Antwort auf die theoretischen Absetzungsdekrete von Seleukia mit der ganzen Wucht des staatlichen Armes zu erteilen vermochten. Sie hielten eine eigene Synode, und auf dieser wurden sämtliche Führer der Homoiusianerpartei, an ihrer Spitze Basilius von Ankyra, Kyrill von Jerusalem und Makedonios von Konstantinopel abgesetzt: den Thron der Hauptstadt bestieg der antiochenische Bischof Eudoxios' und feierte seinen Amts') Brief bei Hilar. 4, 174f. Sozom. 4, 23, 3. 4. Theodoret, KG 2, 27. 4—18, wo die falsche Lesart homousios stets in homoiusios zu verbessern ist: ebenso Philost. 4, 12 p. 64, 21 Bidez. *) Sozom. 4, 23, 8. ») s. o. S. 222.

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Acacius. Eudoxios. Der Sieg des Homoios

III 231

antritt durch die Weihung der großen Sophienkirche1 am 15. Februar 360. Auch Euetathius von Sebaste, dem wir als Förderer asketischer Bestrebungen noch später begegnen werden, verfiel dem Urteil dieser Acacianersynode®. Der Sieg war auf der ganzen Linie erfochten. Die Hofbischöfe hatten die Anweisungen des Kaisers mit glänzendem Geschick in die Tat umgesetzt und in vollkommenem Zus^mmenspiel mit den Staatskommissaren und den Hofbeamten die Unterwerfung des gesamten Episkopats im Morgen- und Abendlande unter die Homoiosformel erreicht. Sie durften triumphieren, und Konstantius mochte sich dem Vater ebenbürtig dünken. Als kirchlichen Führer betrachtete sich Acacius, der mit dem Thron von Caesarea nicht nur die Metropolitenstellung, sondern auch die von seinem Vorgänger Euseb aufgebaute Bibliothek geerbt hatte und beides zu benutzen wußte. Er war klug und beredt, aber er wußte auch mit Tatkraft zu handeln*. Da Athanasius ausgeschaltet war, stand kein ebenbürtiger Gegenspieler auf der andern Seite, und die kaiserliche Gunst war wohlverdient. Man durfte sich schmeicheln, den nicänischen Fehler Konstantins wieder gutgemacht zu haben: das Homousios mit seinen Schwierigkeiten war beseitigt, und die ganze origenistische Spekulation über Usia verboten, und aus all dem Streit hatte man eine für alle annehmbare neutrale Formel in dem Bekenntnis des Homoios gefunden. War nicht so der Friede aufs beste und in rein sachlicher Weise gesichert? Nein, die Rechnung war falsch. Seit Nicaea waren 35 Jahre verflossen, und selbst damals wäre wohl eine neutrale Formel, nicht aber ein Spekulationsverbot möglich gewesen. Der eigentliche Fehler Konstantins war ja die staatliche Befürwortung einer bestimmten theologischen Formel gewesen, die keine Aussicht hatte, von sich aus die Herzen der Kirchenmänner *) Spuren ihrer Vorhalle sind jüngst aufgedeckt worden, s. Λ. M. Schneider in Forschungen u. Fortschritte 1935, Nr. 22, S. 282 f. Byzant. Zeitschr. 1936, 85. *) Socr. 2, 40, 43—46, 16; Synodalschreiben bei Theodoret, KG 2, 28. ') Sozom. 4, 23.2.

III 232

8. Konstantius als Alleinherrscher

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zu gewinnen. Inzwischen war die theologische Wissenschaft weiter entwickelt und hatte in den Kreisen der Homoiusianer zu einer fruchtbaren Weiterbildung der origenistischen Traditionen geführt, während im Abendlande entweder die Gedanken Tertullians und Novatians oder naiver Monarchianismus unbehelligt ihr Eigenleben führten. Alles das war durch die Politik der Zwangseinheit in Unruhe gebracht und durcheinandergewirrt worden, und die kaiserliche Einheitsformel wurde auch jetzt wieder abgelehnt1, aber mit viel größerer Leidenschaftlichkeit als damals die nicänische. Was man einst dem Konstantin aus ehrlicher Anhänglichkeit verziehen hatte, das wurde dem Sohne böse angerechnet, und die Vergewaltigung so vieler Gewissen, die Verbannung so zahlreicher und angesehener Bischöfe erzeugten in allen Landen eine Summe von bitterem Haß, wie ihn die konstantinische Zeit nicht gekannt hatte. Der kirchliche Triumphbogen des Konstantius stand auf sumpfigem Grunde — aber fürerst stand er. Und der Kaiser mußte froh sein, diesen Sorgen für den Augenblick enthoben zu sein; denn an der Ostgrenze sah es bös aus. Die Perser hatten nach einigen Jahren der Ruhe plötzlich wieder Lust zu kriegerischen Unternehmungen bekommen und waren im Sommer 359 in Mesopotamien eingefallen. Das Land um Nisibis war in Flammen aufgegangen, und im Oktober war auch die Stadt Amida an der armenischen Grenze nach langer Gegenwehr erobert und zerstört worden. Zwar war König Schapur nach dieser seine Kräfte merklich schwächenden Leistung wieder heimgekehrt,aber esstandaußer Zweifel, daßdernächste Frühling neue Angriffe bescheren würde. Konstantius mußte die Ostarmeeverstärken,wennervor schlimmeren Überraschungen gesichert sein wollte, und so ließ er denn an seinen Caesar Julian den Befehl abgehen, eine beträchtliche Zahl ausgewählter Mannschaften zur Verfügung des Kaisers zu stellen. Es waren nicht bloß militärische Erwägungen, die diesen Auftrag veranlaßten. Konstantius war in der letzten Zeit wieder durch allerlei Ängste vor Empörern beunruhigt worden, ») Vgl. Hilar. 4.43—47.

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Perserkrieg. Julians Erhebung

III 233

und die vorsorglich vollzogenen Hinrichtungen hatten ihm die innere Sicherheit nicht wiedergegeben. Die soldatischen Erfolge Julians mußten unter diesen Umständen sein natürliches Mißtrauen gegen den Kronprinzen noch steigern: und da war ihm die Gelegenheit hoch willkommen, die ihm unauffällig erlaubte, dem gefährlichen Mann einen Teil seiner Truppen aus der Hand zu nehmen. Julian war arglos genug, dem Befehl zu gehorchen, aber die Soldaten wurden unwillig. Sie waren nur zum rheinischen Grenzschutz verpflichtet und mochten nicht nach dem Osten, fürchteten auch nicht ohne Grund, daß die Verminderung der Truppen die Alemannen zu einem Einfall reizen und alles Kriegselend über ihre Heimat und ihre Angehörigen bringen könnte. So meuterten zwei Bataillone beim Durchmarsch durch das Hauptquartier in Paris, und zwar in der Form, daß sie den Julian zum Augustus ausriefen. Die Losung wurde von andern aufgenommen, und der anfangs ehrlich widerstrebende Prinz mußte sich fügen. In der Nacht vorher war ihm überdies im Traum der Genius des Reiches erschienen und hatte ihn auf eine Lebensentscheidung vorbereitet 1 . So fiel der Würfel und Julian mußte das Spiel um die Krone wagen. Er schrieb an Konstantius, verlangte nur Anerkennung seiner Augustuswürde für den Bereich der gallischen Präfektur* und zeigte sich in allenFormen so bescheiden wie möglich. Die Botschaft erreichte den Kaiser in Kappadokien (Frühjahr 360) und löste bei ihm rasenden Zorn aus. Er lehnte jede Verhandlung ab und ordnete einen Wechsel in den höchsten Beamtenposten Galliens an*. Dann zog er nach einigem Schwanken weiter gegen die Perser, die ihm aber zuvorkameti und dann geschickt auswichen, so daß sie zwar Singara und Bezabde (am Oberlauf des Tigris) zerstörten, aber vom römischen Heere nicht gestellt werden konnten. Julian blieb seinerseits auch auf seinem Posten und kämpfte gegen die wieder unruhig gewordenen Alemannen. Er ') Amm. Marc. 20, 5, 10. ') Am. Marc. 20, 9, 3—5.

*) Julian, epist. ad Athen, p. 285 d.

III 234

8. Konstantius als Alleinherrschet

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erfuhr bei dieser Gelegenheit1, daß Konstantius selbst sie gegen ihn gehetzt hatte. Das befreite ihn von den letzten Hemmungen, und er zog nun im Sommer 361 vom Oberrhein an die Donau und dann stromabwärts in die Gegend von Nisch, wo er sein Winterquartier aufschlug. Italien war ihm zugefallen und auch die Balkanhalbinsel huldigte ihm. Dagegen blieb Afrika mit seinen Kornfeldern dem Konstantius treu und in Aquileia verschanzten sich auch ein paar tausend Mann, die dem Usurpator nicht dienen wollten. Leicht schien ihm der Sieg nicht gelingen zu sollen. Konstantius hatte den Winter 360/361 in Antiochia zugebracht und sich dort zum drittenmal verheiratet, nachdem ihm seine zweite Frau Eusebia im Februar 360 gestorben war. Im Frühjahr war er nach Edessa gegangen, um den Perserkrieg zu betreiben. Dann kamen die Nachrichten über Julians Zug und zugleich erhielt er die Gewißheit, daß die Perser dieses Jahr Ruhe halten würden. So konnte er denn seine Truppen gegen den unbotmäßigen Prinzen führen, und diese marschierten nicht ungern. Aber den Kaiser schreckten nächtliche Gesichte und böse Vorzeichen am hellen Tag. Als er am Fuß des Taurusgebirges anlangte, packte ihn ein Fieber. Er kam noch bis Mopsukrene und starb dort am 3. November 361 im Alter von 44 Jahren. Der antiochenische Bischof Euzoios hat ihn auf dem Totenbett getauft*. *) Seeck, Gesch. d. Untergangs 4, 491. tes 2, 47, 4.

*) Philostorg. 6, 5. Socra-

Der Geist der Epigonenzeit Konstantins politische Meisterschaft zeigt sich nicht nur in den militärischen und kulturellen Eroberungen, die er gemacht hat, sondern auch in denen, die zu vermeiden er für zweckmäßig hielt. Niemand hätte ihn an schärferem Vorgehen gegen den heidnischen Kult hindern können: aber er wußte sehr wohl, daß eine solche Politik ihm zahllose Herzen entfremdet hätte, auf deren Zuneigung er Wert legte, und diß eine abwartende Haltung zwar langsamer, aber auch viel sicherer zu dem erwünschten Ziel der Christianisierung des Reiches führen würde. Ein solcher Umschwung konnte ohnehin nur imLaufe von Generationen durchgeführt werden: also ging er behutsam vor. Seine Söhne waren weniger bedenklich. Im Jahre 341 erschien ein Gesetz, das in schroffem Ton „den Wahnsinn der Opfer abzuschaffen" befahl 1 , übrigens auf ein Opferverbot des Vaters Konstantin Bezug nahm. Das wird ein auf bestimmte Fälle begrenztes Vorgehen gewesen sein*, während jetzt dem gesamten Opferkult dei Garaus gemacht werden sollte. Wir haben keine Quellen, die uns erlauben würden, die Wirkung dieses Gesetzes zu studieren. Aber wir erfahren, daß zehn Jahre später Magnentius sich durch Gestattung nächtlicher Opfer beliebt zu machen versuchte, und daß Konstant e s im November 353 dieses Zugeständnis des Usurpators aufhob*. Im nächsten Jahre wurde ganz allgemein die Schließung der Tempel „an allen Orten und in sämtlichen Städten" angeordnet, jegliches Opfer verboten und etwaigen Übertretern die Todesstrafe mit nachfolgender Konfiskation des Vermögens angedroht. Die Provinzialstatthalter haben Maßregelung zu erwarten, falls sie sich in der Ahndung solcher Verbrechen nachlässig zeigen. Und im Februar 356 wird nochmals 0 Cod. Theod. 16,10, 2.

l

) s. o. S. 140.

») Cod. Theod. 16,10,5.

III 236

9. Der Geist der Epigonenzeit

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kurz die Todesdrohung für Opfern wiederholt und ausdrücklich auf alles „Verehren von Götterbildern" ausgedehnt1. Das muß doch ein furchtbarer Schlag gegen das alte Kultleben gewesen sein, und an manchen Orten, wo die Christen in großer Uberzahl waren oder sich gut geschützt wußten, mag es zu Gewalttaten gekommen sein. Wir haben einige Nachrichten der Art erhalten. In Baalbek hat ein Diakon namens Kyrill zahlreiche Götterbilder zerschlagen lassen, in Arethusa (Rastan bei Horns) in Syrien ließ der uns wohl bekannte* Bischof Markus eine Kirche auf den Trümmern eines Tempels errichten, im kappadokischen Caesarea wurde ein Tempel desZeus und des Apollo zerstört. InÄgypten hatder General Artemios sich besonders durch solche Gewaltakte hervorgetan, und der Comes Heraklius benutzte die Androhung ähnlichen Tuns als Druckmittel gegen die widerspenstigen Massen*. Die klägliche Schilderung, die Libanius4 von den Zuständen unter Konstantius später gibt, mag in erheblichem Maße zutreffen. Aber ebenso sicher ist, daß abseits vom Blick der eifrigen Beamten der Kult in aller Stille weiterging und sogar Geistliche der Christen nichts dabei fanden, den Heroen ihre Verehrung zu beweisen — wenn es nützlich war. Julian* erzählt in einem Briefe ganz beglückt von einem solchen Erlebnis seiner Prinzenzeit. Im April 357 hat Konstantius die Stadt Rom zum ersten Male besucht und von ihrer alten Herrlichkeit einen ganz tiefen Eindruck empfangen. Die wundervollen Baudenkmäler erschienen ihm eins immer schöner als das andere, und die gigantische Anlage des Trajansforums deuchte ihn der unüberbietbare Gipfel menschlichen Könnens. Auch der Senat der Stadt begrüßte ihn in der Kuria in festlicher Sitzung, und die unbefangene Geschwätzigkeit des Volkes gefiel ihm so sehr, daß auch er sich mit ungewohnter Freundlichkeit betrug. Zum Dank ließ er den schon von seinem Vater für Rom bestimmten ») Cod. Theod. 16,10, 4 (vom Jahre 354 oder 346?). 16,10, 6 (v. J. 356). *) s. o. S. 225. *) Theodoret, KG 3, 6, 3 3, 7, 6—10; Kappadokien: Sozom. 5, 4, 2. Ägypten: Theodoret 3, 18 Äthan, hist. Ar. 54. *) Libanius or. 17, 7 (2, 209 Förster) or. 18, 23 (2, 246) u. ö. Vgl. Am. Marc. 22, 4, 3. ") Julian ep. 79 (p. 85 if. Bidez).

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Die alten Kulte. Kalender des Philokalus

III 237

Obelisken aus Ägypten verfrachten und im Circus Maximus aufstellen. Es ist derselbe, der heute auf dem Lateranplatz steht 1 . Und die gute Laune des Herrschers erwies sich auch den heiligen Traditionen der Stadt gnädig: die Privilegien der Vestalinnen blieben ungeschmälert, die Priesterstellen wurden der Sitte gemäß mit Mitgliedern der alten Familien besetzt, die Beiträge für den Tempelkult wurden weitergezahlt. Nur e i η Opfer forderte die Christlichkeit des Kaisers: der Altar der Victoria mußte aus dem Sitzungssaal der Kuria verschwinden — wenigstens für eine Weile. Unter Julian ist er natürlich wieder hereingekommen*. Die Opferverbote sind um diese Zeit in Vergessenheit geraten, denn nun erscheinen wieder literarische und inschriftliche Zeugnisse, die von Opfern, Tempelstiftungen und auflebendem Mithraskult melden*. Ein wertvolles Zeugnis für das Nebeneinander von Christentum und Heidentum im damaligen Rom liefert uns der Kalender des Jahres 354, der mit offizieller Unterstützung von dem päpstlichen Hofbuchhändler Furius Dionysius Filocalus herausgegeben ist, und der für uns eine Quelle spätcntiker Kulturgeschichte von höchstem Range darstellt 4 . Es ist ein Gemisch von profan-heidnischer und christlicher Amtlichkeit. Vier Großstädte des Reiches, Rom, Konstantinopel, Alexandria durch Frauengestalten, Trier durch einen gewappneten Mann in Siegerpose symbolisiert, eröffnen das Buch. Dann kommt eine Liste der amtlich gefeierten Geburtstage der konsekrierten Herrscher von Augustus bis zu Konstantin dem Großen und des regierenden Konstantius. Der nun folgende Tageskalender bringt die sieben Planeten im Bilde und mit tabellarischer Übersicht über die von ihnen beherrschten Tage und Stunden der Nacht und des Tages: Saturn und Mars sind schädlich, Merkur, Mond und l ) Am. Marc. 16,10,13—17 17, 4,12—23. *) Symmachus relat. 3, 4—7 p. 281 ed. Seeck. *) J. Geffcken, Ausgang d. Heidentums S. 101. 281 f. Am. Marc. 19,10, 4 Dessau Inscr. lat. sei. 3222. 4267. ') Ausgabe von Mommsen in Chron. min. l t 39—148, der Monatskalender CIL 1* 254 ff., die Bilder von Strzygowski im 1. Ergänzungsheft zum Jahrbuch ) de trin. 8, 26 vgl. 2, 29—35.

I I I 260

9. Der Geist der Epigonenzeit

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Auf der Synode zu Rimini erschien er ungeladen und verlangte vom Kaiser, seinem Ankläger Saturninus von Arles persönlich gegenübertreten zu dürfen. Das wurde verhindert und der gefährliche Mann als Verstörer des Orients nun wieder nach Gallien zurück ausgewiesen1. Und sofort kündigte er dem Kaiser verschärften Kampf an*, indem er die Bischöfe seiner Heimat zum unermüdlichen Widerstand gegen die Christenverfolgung aufruft, die der „Antichrist" Konstantius mit heuchlerischer Miene als Wolf im Schafskleide betreibt. Es ist die einzige Schrift, in der er nach langem, wohlerwogenen Schweigen seinen Tadel mit rücksichtsloser Schärfe auch gegen die kaiserliche Person richtet, und man liest sie mit Bangen um den kühnen Sprecher. Er setzte seinen Kopf aufs Spiel. Aber Konstantius hatte keine Lust, der opponierenden Kirche blutige Märtyrer zu verschaffen. Sonst hätte er schon längst den Bischof Lucifer von Cagliari (in Sardinien) hinrichten lassen, der eine noch viel gröbere Sprache ihm gegenüber gebrauchte. Der war ein wilder Fanatiker und richtete eine Anzahl Streitschriften' an den Kaiser, in denen er die Zumutung eines Verkehrs mit Häretikern ebenso energisch ablehnte, wie er sich dagegen verwahrte, einen Angeklagten — nämlich Athanasius — ungehört und abwesend zu verurteilen. Er bewies mit einer überwältigenden Fülle von Zitaten, daß solche Forderungen den göttlichen Geboten zuwider seien und warnte den Kaiser vor falschem Vertrauen auf die in politischen Erfolgen sich angeblich erweisende göttliche Gnade: er hält ihm lehrreiche Beispiele aus der israelitischen Königsgeschichte vor und fordert ihn auf, Buße zu tun. Das alles aber in einem Ton, den wohl selten ein Monarch zu hören bekommen hat. Beständig wird der Kaiser als Arianer und Häretiker bezeichnet, der den Antichrist an Christi Statt erwählt hat, sein Unverstand ») Hilar, ad Const. 2, 3 (4, 198 Feder) Sulp. Severus Chron. 2, 45, 3—4 Hieron. Chron. Ol. 284, 3. ») Contra Constantium (2, 561—583 ed. Bened.). *) von Athanasius ins Griechische übersetzt, vgl. Coli. Avell. 2. 88.

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Lucifer von Cagliari

III 261

und seine Verkehrtheit werden gegeißelt und biblische Scheltworte des Judasbriefes auf ihn bezogen. Konstantius hat diesen Kritiker zwar verbannt — die Traktate sind im Exil geschrieben — aber ihm trotz seiner Grobheit weiter kein Leid angetan. Der streitbare Bischof hat die Unbefangenheit gehabt, einen Kodex mit seinen Schriften dem Kaiser überreichen zu lassen, und dieser ließ nur durch einen Kammerherrn höflich bei Lucifer anfragen, ob die Sendung wirklich von Seiner Heiligkeit stamme. Die Antwort lautete bejahend, und der Verfasser betonte, daß er mit Freuden bereit sei, den ihm bevorstehenden Tod zu erleiden1. Er schrieb über dies Thema sofort noch einen Traktat mit verstärkter Tonart gegen den „Dummkopf von Kaiser", in dem die Beschimpfungen sich häufen und sogar Cicero mit „Quousque tandem" zitiert wird 1 — aber der Kaiser strafte ihn nicht dafür. Er scheint ihn nicht ganz ernst genommen zu haben. Der Kirche wäre es auch besser gewesen, wenn sie sich dieser kaiserlichen Einschätzung angeschlossen hätte. Wir werden noch sehen, wieviel Unheil der blinde Polterer später angerichtet hat, der in allem das Gegenstück zu dem kultivierten und politisch klugen Hilarius war*. Lucifer ist stolz auf seine Unbekanntschaft mit heidnischer Weisheit und betont auch, daß er die Sprache des Volkes schreibe4: und eben dies hat ihn den Philologen der Gegenwart wertvoller gemacht als den Gebildeten seiner Zeit. Als Theologe bedeutet er nichts, da er aller Problematik — und nicht bloß der seiner Gegenwart — fernsteht und nur von den Schlagworten Nicaea und Arianismus gelenkt wird. Sein Beweismaterial entnimmt er der lateinischen Bibel, die zu zitieren er nicht müde wird: und das ist uns eine bedeutsame Tatsache, weil sie uns vor Augen führt, wie lebendig die Schrift auch in den Kreisen der Kirche ist, die von theologischer Gelehrsamkeit unberührt sind. *) Lucifer epist. 3. 4 p. 321 f. ed. Härtel. *) Lucifer moriendum esse 4. 12 p. 292, 20 310, 11. ·) Vgl. dessen Zusätze zu de synodis. 4 ) Lucifer moriendum esse 11 p. 306, 19 und de non parcendo 21 p. 256, 7.

Julian Der unerwartete Tod des Konstantius entschied die Thronfolge ohne Weiterungen und vielleicht hat der sterbende Kaiser wirklich seinen Gegner zum Erben der Krone bestimmt. Julian marschierte von Nisch nach Konstantinopel und wurde dort am 11. Dezember 361 festlich begrüßt. Dort empfing er auch die Huldigungen der von allen Seiten dem neuen Weltherrscher nahenden Gesandtschaften fremder Völker. Als der Leichnam des Konstantius von seinen Truppen zur Hauptstadt geleitet worden war, stieg Julian mit großem Gefolge zum Hafen hinab und führte den Toten zu seiner Ruhestätte in der Apostelkirche, neben dem großen Vater. Er ließ ihm auch die Ehre der Konsekration zuteil werden. Dann aber hob das Strafgericht über die Männer an, denen die Schuld an den Mißgriffen des Konstantius und den gegen Julian gesponnenen Ränken zugeschrieben wurde. Unter dem Vorsitz des zum Praefectus Praetorio erhobenen Sallustius1, seines treuen Helfers in bedrängten Zeiten, wurde inChalkedon ein außerordentlicher Gerichtshof aus hohen Staatsbeamten undMilitärs errichtet, der eine Reihe von Todesurteilen fällte und Verbannungen verhängte. Die schlimmsten Wüteriche wurden lebendig verbrannt. Das gab ein großes Aufatmen der Befreiung, und nun lag die Welt offen vor dem Bringer einer neuen Zeit. Die Schnelligkeit und Größe der letzten Ereignisse hatten Julian fast betroffen gemacht, und die Briefe aus diesen ersten Tagen seiner Alleinherrschaft lassen das den Leser spüren. Er fühlt die Schwere der Last, die ihm die Götter auf die Schultern gelegt haben: seine Götter, an die er glaubt und denen sein Leben geweiht ist*. Seine Mutter Basilina hatte er schon l ) Seeck bei Pauly-Wissowa 2. Reihe 1, 2072—2075. *) Für dieses Kapitel ist durchweg die mit vollendeter Darstellungskunst geschriebene und von grundlegender Forschung unterbaute Julianbiographie von Joseph Bidez, Vie de l'empereur Julien (1930) zu vergleichen. Deutsch 1940. Ferner v. Borries bei Pauly-Wissowa 10, 26—91.

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Jugendjahre

III 263

als ganz kleines Kind verloren, sein Vater war dem siebenjährigen Knaben durch den dynastischen Mord von 337 entrissen. So wuchs er in stiller Verborgenheit in Nikomedia heran, erzogen von einem treuen Sklaven, der einst seinerMutter Homer und Hesiod vorgelesen hatte, und von dem Ortsbischof Eusebius, der mit ihm entfernt verwandt war, betreut 1 Drei Jahre später wurde er mit seinem Bruder Gallus ins innere Kappadokien verschickt, wo er sechs Jahre auf der kaiserlichen Domäne Macellum, nicht weit von Caesarea, in Einsamkeit verlebte. Hier erhielt er Unterricht in der christlichen Religion und lernte mit Eifer biblische Texte auswendig: die Lehrer bestaunten die Fortschritte ihres Zöglings. Er besuchte nicht nur den Gottesdienst der Gemeinde, sondern trat als Lektor in den niederen Klerus ein und las auch wirklich die liturgischen Bibelabschnitte in der Kirche vor 1 . In dieser Zeit lernte er auch den späteren alexandrinischen Bischof Georg kennen, der damals noch in seiner kappadokischen Heimat lebte und eine gute Bibliothek besaß. Aus ihr hat der wissensdurstige Junge mehrfach Bücher entliehen und sie sich abgeschrieben, übrigens auch gründlich in dem ganzen Bestand herumstöbern dürfen, denn nach dem Tode des Besitzers schreibt er: „ich kenne die Bücher Georgs ,wenn nicht alle, so doch viele" — und gibt Anweisung, sie nach Antiochia zu schaffen. Sie enthielt wertvolle christliche Literatur, aber auch Philosophen und Redner®, und sie hat dem frühreifen Prinzen wohl die erste Bekanntschaft mit dem Griechentum vermittelt. Als im Jahre 347 Gallus an den Hof berufen wurde, verließ auch Julian das Exil in Macellum und begab sich nach Konstantinopel. Hier studierte er mit großem Fleiß, aber nur eingeschränkter Freude Grammatik und Rhetorik nach hergebrachter Art, bis er nach Nikomedia verwiesen wurde: und in dieser Stadt erfüllte sich sein Schicksal. Obwohl es ihm streng verboten war, den hier lehrenden Libanius zu hören, ge') Julian Misopogon p. 352 a b. Am. Marc. 22, 9, 4. *) Julian ad Athen, p. 271 c d . Sozom. 5, 2, 9—10. Eunapius vitae soph.: Maximus p. 47. ») Julian epist. 106. 107 p. 184 ff.

ΠΙ 264

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lang es ihm, sich heimlich Nachschriften seiner Vorlesungen zu verschaffen 1 . Das gab ihm mehr als der trockene Unterricht der hauptstädtischen Schulmeister. Am Geist des Liba•ius entzündete sich seine Begeisterung für echtes Griechentum und im Kreis seiner Schüler lernte er das kennen, was fortab sein Leben bestimmte: den geheimnisvollen Verkehr mit den Göttern. Bis dahin war er überzeugter Christ gewesen und hatte die Götzen gehaßt. Jetzt hörte er ihre weissagenden Stimmen, und das wurde seine religiöse Erfahrung*, die der Christenlehre den Garaus machte und sich in seiner Seele mit der Romantik des Griechentums zur Einheit Zusammenschloß. Als der Bruder Gallus im März 351 zum Caesar ernannt wurde, bekam Julian noch größere Freiheit zur Fortführung seiner Studien bewilligt. Es zeigte sich schnell, daß die mystischen Umtriebe der philosophierenden Freunde stärkeren Eindruck auf sein Seele gemacht hatten, als die griechische Klarheit des Libanius. Julian ging nach Pergamon, um den greisen Aidesios zu hören, der die priesterliche Weisheit des Jamblichos hütete. Der empfahl ihn mit dunkeln Worten an seine Jünger Eusebios und Chrysanthios und die wiesen ihn schließlich mit noch geheimnisvolleren Andeutungen an Maximus von Ephesus. Julian reiste zu ihm und „hing sich an ihn und biß sich fest in seine Weisheit ein"*, bis er schließlich die Einweihung in die Mysterien erlangte, die in unterirdischer Grotte mit Geisterstimmen und Gespenstererscheinungen, Donner, Blitz und Feuerzauber gefeiert wurde 4 . Von nun an fühlte er sich vom Sonnengott zur Rettung des Reiches durch Wiederherstellung des alten Götterkultes berufen, das Christentum erschien ihm als der zu überwindende Feind. Aber niemand außer den wenigen Vertrauten durfte davon etwas merken. Äußerlich spielte er den treuen Christen, solange seine abhängige Stellung und auch die Rücksicht auf die christlichen Soldaten es erforderte; noch am 6. Januar 361 ») Liban. or. 18, 14. 15. *) Liban. or. 13, 11. ») Eunapius vitae soph. p. 48-51. 4) Bidez, Vie p. 79ff. Greg. Naz. or. 4,55 (1,102 Bened.).

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Der Ruf der Götter. Reform des Hofes

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nahm er an der Feier des Epiphanienfestes in Paris teil1. Aber seit dem Entschluß zum Kampf um die Krone fühlt er sich frei. Seinen Truppen gestattet er jeden Kult nach ihrem Willen, und in der Proklamation an die Athener bekennt er sich zum Glauben an Athena und ihre aus Sonne und Mond herabsteigenden Schutzengel*. Der durch immer erneute Orakelsprüche und eine Fülle von Mysterienweihen dauernd sich verstärkende Ruf der Götter nach einem Wiederaufstieg in alter Pracht und Herrlichkeit gibt ihm die innere Sicherheit, mit der er seine natürliche Zaghaftigkeit überwindet und das große Reformwerk beginnt. Den Anfang macht eine Neugestaltung des Hoflebens. Der ganze Apparat der Hofschranzen und Eunuchen bis hinab zum Mundkoch und Hofbarbier verschwindet, desgleichen die Fülle der Büros mit ihren Akten, aber auch die Agenten und der ganze Spionagedienst des Konstantius'. Beseitigt wird auch das persische Zeremoniell und die Unnahbarkeit der allerhöchsten Person, ja der Kaiser erscheint sogar zu Fuß unter den übrigen Würdenträgern, um den Konsuln von 362 zum Amtsantritt zu gratulieren — was denn doch als unpassend empfunden wurde. Der Konstantinopeler Senat kam zu ungeahnten Ehren und wurde mit allerlei Vorrechten beschenkt, und, was ganz unerhört war, der Kaiser erschien mehrfach im Sitzungssaal und nahm an den Verhandlungen teil: das hatte angeblich sein Vorbild Mark Aurel auch schon getan4. Sein Bemühen war, die leitenden Kreise der Gesellschaft in ihrem Selbstgefühl zu heben, bei ihnen so etwas wie Stolz auf ihr Hellenentum zu erwecken und sie aus dem Sklavensinn der vorangegangenen Zeit zu dem Bewußtsein sittlicher Freiheit zu führen. Er wollte nicht engherzig sein und zog deshalb nicht nur seine alten philosophischen Freunde, sondern auch Männer aus dem gegnerischen Lager, sogar Christen, in seine Nähe und stellte sie auf verantwortliche Posten. „Wir verkeh») Am. Marc. 21, 2, 5 Zonaras 13, 11, 6. l ) Zonaras 13, 11, 6 Julian ad Athen, p. 275 a b vgl. d. *) Am. Marc. 22, 4, 9 22, 7, 5 Socrates 3, 1, 50. 51. Liban. or. 2, 58. *) Cod. Theod. 9, 2, 111, 23, 2 Liban. or. 18, 154 Script, hist. Aug. M. Ant 10, 7 und dazu Ν. H. Baynes. The historia Augusta (1926).

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1920]

ren untereinander nicht mit derhöfischenHeuchelei,dieduwohl allein bisher kennen gelernt hast — bei der man den Leuten Komplimente sagt, die man grimmiger haßt als die schlimmsten Feinde — nein, mit allem schuldigen Freimut tadeln wir einander, wenn es nötig ist, und schelten uns, und haben uns dabei nicht weniger lieb als die besten Freunde": so schreibt Julian an einen ehemaligen Hofmann des Konstantius, um ihn für sich zu gewinnen1. Er will wirklich und aus aufrichtiger Überzeugung ein aufgeklärter Monarch sein, der freie Leute um sich hat: sein Reich soll nach Piatos Ideal ausgerichtet sein und von Philosophen regiert werden. Er ist mit Zagen und schweren Sorgen an seine große Aufgabe herangegangen1, hat sie aber dann mit wachsendem Mut kräftig angefaßt, je mehr er sich nicht nur von dem Zuspruch der Freunde, sondern vor allem von den Göttern selbst gefördert sah, die mit ihren Offenbarungen seine Schritte begleiteten. Was in der Hauptstadt geschah, fand seine Nachbildung im Lande. Auch hier sollte das griechische Stadtwesen wieder aufstehen und die Ratsherrn ein Kollegium würdiger Senatoren bilden. Julian schränkte die Befreiungen von munizipalen Amtern ein, nahm sie vor allem den christlichen Klerikern und Mönchen, und stärkte dadurch die Zahl und die finanzielle Leistungsfähigkeit der städtischen Behörden, erleichterte auch ihre Verpflichtungen und schuf so neue Möglichkeiten für diese absterbenden Gebilde. Da er zugleich größere Ordnung in das Steuerwesen brachte und auf verschiedenen Gebieten sparsamere Wirtschaft einführte, auch die mißbräuchliche Benutzung der kaiserlichen Post ganz erheblich einschränkte, so kam es wirklich zu einer spürbaren Besserung einzelner Zweige des öffentlichen Lebens. Der entscheidende Umschwung setzte aber auf dem religiösen Feld ein. Die Wiederherstellung der alten Kulte in vollem Umfang wurde angeordnet. Das bedeutete Öffnung der geschlossenen und Neubau der zerstörten Tempel, Auszahlung ») Julian ep. 32 p. 60. Dazu Bidez, Vie p. 217 f. *) Vgl. seine epist. ad Themistium p. 253 a—267 b.

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Verwaltungsreform. Kultische Restauratiou

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der eingezogenen Tempelvermögen und Gehälter an die Priester und das sonstige Kultpersonal, Anweisung der für die Opfer erforderlichen Summen, Wiederbelebung der öffentlich gefeierten Feste und vieles andere dazu1. Als Konstantin einst ein Wiederherstellungsgesetz zugunsten der Christen erlassen hatte, verursachte die Rückerstattung des entfremdeten Gutes nicht wenige Schwierigkeiten, obwohl die Konfiskationen der Verfolgungszeit höchstens um 10 Jahre zurücklagen. Jetzt sollte um 50 Jahre zurückgegriffen werden: das war völlig undurchführbar und konnte tatsächlich nur in einer Minderzahl von Fällen und bei gutem Willen aller Beteiligten verwirklicht werden. Die kurze Regierungszeit Julians reichte nicht aus, um auch nur alle Verwickelungen dieses Geschäftes zumBewußtsein zu bringen, geschweige denn an die Lösung heranzutreten. Libanius mag noch so stolz von den entwendeten Säulen reden, die zu Schiff oder auf Lastwagen zurückgebracht und an ihren alten Plätzen wieder eingefügt wurden* — die meisten blieben doch stehen, wo sie jetzt standen, und wer hatte denn große Lust, Geld und Mühe an Tempelbauten zu wenden, die dem Volk gleichgültig geworden waren? An einzelnen Orten freilich war es anders. Namentlich in syrischen Städten hat die heidnische Bevölkerung die Gelegenheit wahrgenommen, sich mit blutigen Greueln für die Zerstörung ihrer alten Heiligtümer zu rächen, und wir haben über die Ereignisse in Baalbek (Heliopolis), Arethusa und Bostra genauere Kunde. Am schlimmsten ging es in Alexandria zu, wo die empörte Menge den allgemein unbeliebten Bischof Georg am 24. Dezember 361 totschlug und noch zwei hohe Staatsbeamte grausam ermordete. Aber das waren zerstörende Ausbrüche der Volkswut, keine positiven Leistungen für den alten Glauben. In diesem Punkte standen dem idealistischen Julian bittere Enttäuschungen bevor*. l ) Am. Marc. 22, 5, 2 Liban. or. 18, 126 Sozom. 5, 3, 1—2 Socrat. 3, 1, 48. ') Liban. or. 18, 126 vgl. Zonaras 13, 12, 30. 31. ») Sozom. 5, 9—10. Philostorg. p. 228 Bidez mit den Anm. Theodoret, KG 3, 7, 1—10. Greg. Naz. or. 4, 88—91. Libanius epist. 763, 3 Am. Marc. 22, 11, 3—10. Bidez. Vie p. 230—235.

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Den Christen oder, wie er sie ständig nannte, den „Galiläern" gegenüber wünschte der Kaiser völlig unparteiisch zu sein. Zunächst rief er alle verbannten Bischöfe zurück in ihre Heimat — natürlich nicht in ihre Ämter, die ihn nicht kümmerten — und auch ihre konfiszierten Vermögen wurden ihnen wiedergegeben1. Dann versammelte er die Häupter der streitenden Parteien mit einer begleitenden Schar von Laien in seinem Palast und ermahnte sie eindringlich zur Eintracht — denn er wußte aus Erfahrung, „daß Christen einander gefährlichere Gegner sind wie wilde Bestien"1. Seinen Erwartungen zuwider blieb es die nächste Zeit hindurch wirklich still in der Kirche und die Parteien benutzten den notwendig gewordenenBurgfrieden, um sich zu festigen und künftigeEntscheidungenvorzubereiten. In Konstantinopel erschien der von Julian an den Hof berufene und sogar mit einem Landgut beschenkte Aetios', nach ihm sein Freund Eunomios, der sein Bistum Kyzikos im Stich ließ, und noch eine Reihe von anhomöischen Gesinnungsgenossen, die unter dem Patronat des Eudoxios4 sich auf eine kirchenpolitische Rolle vorbereiteten. In Alexandria war Athanasius am 21. Februar 362 wieder eingetroffen und konnte ungehindert sein Amt antreten, da — wie bereits erzählt — Georg einem Volksaufstand zum Opfer gefallen war. Übrigens hatte Julian diese Gewalttat, obwohl sie auch Staatsbeamte betroffen hatte, mit merkwürdiger Gelassenheit ertragen und den Alexandrinern einen höflichen Brief* mit moralischen Vorwürfen geschrieben. Die arianische Gemeinde in der Stadt mußte sich mit der Herrschaft des Athanasius abfinden und wählte einen eigenen Bischof namens Lucius': jeder konnte ja nun ungehindert tun, was er wollte. Aus Oberägypten kamen zwei Verbannte in das Delta, um von hier aus in ihre Heimat zu fahren, Euseb von Vercelli und Lucifer von Cagliari. ») Julian epist. 110 p. 187,19 f. epist. 46 p. 65 f. epist. 114 p. 193,11. *) Am. Marc. 22, 5, 4. ») Julian epist. 46 p. 65 f. Philostorg. 9, 4 p. 117 7, 6 p. 84 Bidez. *) s. o. S. 230 f. 5) Julian epist. 60 p. 69 B. = Socrates 3, 3, 5—25. ·) Sozomenoe 5, 7,1, aber in hist. Ar. 14=Sozomenos 6,5, 2 wird er als Presbyter bezeichnet, 367 jedoch will er das Bistum an sich reißen, hist. Ar. 18.

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Rückkehr der verbannten Bischöfe

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Athanasius besprach mit Euseb die Lage und berief eine Synode, um für den Zusammenschluß aller nicänisch Gesinnten eine breite Grundlage zu schaffen. Das war besonders im Hinblick auf Antiochia notwendig, wo die Dinge ganz unübersichtlich waren und eine ordnende Hand dringend erforderten. Lucifer glaubte diese zu besitzen und reiste dorthin: wir werden sehen, was er ausgerichtet hat. In Alexandria gesellte sich zu Eusebios noch ein weiterer Heimkehrer, Asterius von Petra, und aus Antiochia sandte Lucifer zwei seiner Diakonen, und die Stadtgemeinde tat das gleiche. Aus dem syrischen Laodicea kamen im Auftrag des Bischofs Apollinaris einige Mönche. Das Ergebnis der Beratung war ein sorgfältig durchdachter Friedensvorschlag von einer programmatischen Bedeutung, die weit über den besonderen örtlichen Anlaß hinausging: er war in einem Synodalschreiben1 niedergelegt, das einer fünfköpfigen Bischofskommission mit Euseb, Lucifer und Asterios an der Spitze die Ordnung der antiochenischen Kirche anvertraute. Die vom Unheil verfolgte Kirche der anatolischen Hauptstadt hatte nach dem Scheiden des Eudoxius erst 360 in dem Armenier Meletios wieder einen Bischof bekommen*. Er hatte sich dem Hof durch Unterzeichnung der Formel von Seleukia empfohlen, und in einer uns erhaltenen Predigt*, die vor dem Kaiser über die berühmte Stelle der Proverbien (8,22) „der Herr hat mich geschaffen als Anfang seiner Wege" gehalten ist, bleibt er auch ganz korrekt in den Grenzen des Bekenntnisses zum Homoios,ohne sich um Substanz und Hypostase zu kümmern, wenn auch bei näherem Zusehen die Ansatzpunkte für eine homoiusianische Theologie unverkennbarsind.Und da er sofort seinen Frieden mit den von Eudoxios gemaßregelten Klerikern machte, mit andern aber in Konflikt kam, wurde er seinen bisherigen Gönnern so verdächtig, daß er schon nach einem Monat seiner Stelle enthoben und nach Armenien zurückgeschickt wurde*. An seinen Platz trat Euzoios, den wir als Freund des Arius *) Tomus ad Antiochenos bei Äthan, op. 1, 2 p. 770—775 Montf. 2, 318 ff. Opitz. *) s. o. S. 222. Vgl. E. Schwartz, ZNW 34 (1935), 162 f. F. Cavallera, Le schisme d'Antioche (1905) p. 71 ff. *) Epiphan. haer. 73, 29—33. ') Epiphan. 73, 35 Hieron. Chron. OL 284, 4.

III 270

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aus dessen erster Zeit kennen1 und der bisher in Alexandria unter Georg gewirkt hatte. Sein Name genügte, um weite Kreise abzuschrecken, und so trennte sich denn ein großer Teil der Gemeinde von ihm ab und betrachtete den verjagten Meletios nach wie vor als ihren rechtmäßigen Bischof. Diese „Meletianer" hielten ihre Gottesdienste anfänglich außerhalb der Stadt, später zogen sie in die nach der Verfolgung wiederhergestellte1 Kirche „in der Altstadt". Da sie theologisch den Homousianern zuneigten, so lag es nahe, sie mit der anderen Sondergemeinde zu vereinigen, die als „Eustathianer" schon auf eine dreißigjährige Geschichte zurückblicken konnten* und das Nicänum als ihr Panier betrachteten: ihr geistlicher Führer war damals ein Presbyter namens Paulinos. Es muß der alexandrinischen Synode, also in erster Linie dem Athanasius und wohl auch dem Einfluß des Abendländers Euseb von Vercelli hoch angerechnet werden, daß sie die Zeichen der Zeit verstanden und die Engherzigkeit der jüngsten Vergangenheit überwanden. Es wurde Friede und Kirchengemeinschaft allen Gutwilligen in Aussicht gestellt, die sich von den Arianern fernhielten und drei Bedingungen erfüllten. Sie mußten die arianische Häresie verfluchen, das nicänische Bekenntnis annehmen und drittens diejenigen verdammen, welche den Heiligen Geist für ein Geschöpf erklärten und ihn von der Wesenheit (Usia) Christi sonderten. Weitere Forderungen sollten nicht gestellt werden, insbesondere wird der „Wisch von Serdika"4 scharf abgelehnt. Das Bekenntnis zu drei Hypostasen, wenn es nicht in arianischem Sinne gemeint werde, sei ebensowenig zu beanstanden wie.das zu einer Hypostase oder — was dasselbe sei — Usia, wofern dies nicht als Deckmantel für Sabellianismus diene. Das war ein gewaltiger Fortschritt, und auf dieser Grundlage hätte der Friede zwischen Meletianern und Eustathianern in Antiochia hergestellt werden und damit die Kirchen») s. o. S. 111 Socr. 2, 44 3, 9, 4 Sozora. 4, 28 5,13, 3 Theodoret, KG 2, 31, 10—11. *) Theodoret, KG 1, 3, 1 2, 31, 11 3, 4, 3. Vgl. Socr. 3, 9, 4 Chron. pasch, p. 548 Dindorf. ·) s. o. S. 114. 4 ) Tomus 5 p. 772 e s. o. S. 196.

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Die Kirchenspaltung in Antiochia

III 271

geschichte des Orients entscheidend beeinflußt werden können. Aber als die Kommission mit dem Schriftstück am Bestimmungsort anlangte, war es bereits zu spät. Lucifer von Calaris, der Mann des unentwegten Radikalismus, hatte den Führer der Eustathianer, Paulinus, zum Bischof geweiht und damit diesen alten Freunden des Athanasius zwar einen Gefallen getan, zugleich aber auch jede Verhandlungsmöglichkeit mit den viel zahlreicheren und bedeutenderen Anhängern des Meletios abgeschnitten: und eben das wollte er. Nun gab es also drei Gemeinden in Antiochia, und eine vierte war schon im Entstehen. Das waren die Anhänger des Apollinaris von Laodicea, der in enger theologischer und kirchenpolitischer Verbindung mit Athanasius stand und mit Konsequenz eine Christologie ausgearbeitet hatte, die neue Fragen stellte und neue Kämpfe heraufbeschwor. Für ihn war die Homousie von GottVater und Sohn selbstverständlich und die gleiche Aussage galt auch für den Heiligen Geist. Die Gottheit ist eine Einheit, die sich im Vater darstellt, dessen Sohn und nicht Bruder der Logos ist, der seinerseits wieder den Geist sendet 1 . Eine Gottheit in drei Personen (Prosopa) ist die Formel des Apollinaris, obwohl er auch gelegentlich von e i n e r Usia oder Natur (Physis) und von Hypostasen statt Personen spricht*. Aber sein ganzes Interesse ist der Frage der Menschwerdung zugewandt. Wie kann man sich vorstellen, daß die zweite Person der göttlichen Trias Mensch wurde? Jedenfalls nicht so, meint er, daß die ihrem Wesen nach vollkommene und unwandelbare Gottheit einen vollständigen Menschen mit sich vereinigte, denn zwei Vollkommene können keine Einheit ergeben, sondern nur ein Zwitterding darstellen. Sobald zwei selbständige Wesenheiten sich vereinigen zu einem Mischwesen, muß irgendeine Minderung eintreten, um die Einheit des Neuen zu ermöglichen'. Und da die Gottheit unwandelbar ist, kann die Verkürzung nur auf Seiten der ') Texte nach Lietzmann, Apollinaris 1 p. 173, 1. 24 175, 24 f. *) Apoll, p. 167, 19 172 3. 13. Usia 170, 27 177, 1 180, 14 Physis 172, 6 Hypostase p. 171, 22 173, 6. ») p. 234 fr. 113 p. 224 fr. 81 p. 214 fr. 42 vgl. p. 228 fr. 91. 92.

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10. Julian

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Menschheit liegen. Die Schrift gibt den zur rechten Erkenntnis weisenden Fingerzeig mit den Worten „das Wort ward Fleisch". Damit ist gesagt, daß die Göttlichkeit des Logos sich nur mit der Körperlichkeit der Menschheit verband oder anders ausgedrückt, daß der Logos als Seele in dem von Maria genommenen Leibe Wohnung nahm. Die Einheit jeder menschlichen Person entsteht durch das Zusammenwirken von Leib und Seele. In Christus war an die Stelle der Seele der Logos getreten und von der Erzeugung an sein Lebensprinzip geworden. Nicht ein göttliches Denken und Wollen hat sich mit einem menschlichen verbunden — das ergäbe zwei Wesen und nimmermehr eine Einheit — sondern die Gottheit des Logos bildet mit der menschlichen Körperlichkeit „eine Natur", ein wollendes und handelndes Wesen 1 . Da nun solchergestalt die volle dem Vater „wesenseine" Logosnatur mit menschlichem Fleisch vereinigt ist, findet eine wahre Vergottung dieses Fleisches statt, dadurch daß es die göttlichen Eigenschaften annimmt. Und durch diese „Heiligung" des menschlichen Bestandteils Jesu wird unsere Erlösung bewirkt, denn sein Fleisch ist Fleisch von unserm Fleisch, mit uns Menschen „wesenseins", und die Vergottung, die sich an ihm vollzieht, und Leidenschaften, Sünde und Tod substantiell beseitigt, geht auf uns über, wenn wir es als Nahrung im Abendmahl genießen 1 : denn dies letztere ist tatsächlich unter der „Aneignung im Glauben" zu verstehen. Das ist also eine genauere Ausführung der uns schon von Athanasius her bekannten Erlösungslehre*, nur daß hier mit scharfer Logik eine wirklich vorstellbare Konstruktion der gottmenschlichen PersönlichkeitChristi vor uns aufgebaut wird: Gott wohnt in einem menschlichen Leibe, der das Organ einer physisch gedachten Erlösung wird. Christus hatte keine „menschliche Seele" — so lautet die negative Formulierung einer Haupteinsicht, das Vorbild seines Leibes war der Salomonische Tempel, der auch keine Seele, keine Vernunft, keinen Willen besaß'. ') p. 181,1. 9 f. 185, 5. 11 191, 7 f. 204 fr. 2. 206, 26 f. 207, 2. 12. 27. ) p. 168, 10—16 vgl. 235 fr. 116 (Abendmahl). 178,13—17 179, 7—9 188, 9—18. ») s. o. S. 249. «) p. 187, 5 - 1 5 . 190, 18—19. «) p. 204 fr. 2. !

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Apollinaris von Laodicea

III 273

Eben diese These war das Neue an der Lehre des Apollinaris, das was seinen Darlegungen die klare Anschaulichkeit gab und den vom Meister ausgehenden Flugblättern zu großer Verbreitung verhalf. Und es war auch etwas Neues gegenüber den bisher verhandelten und sich auf das Logosproblem mit einer gewissen Einseitigkeit richtenden Fragen. Das nicänische Homousios wurde als unbestritten feststehende Voraussetzung anerkannt, und nun erfolgte ein Schritt in ein noch fast unbetretenes Gebiet, das die kirchliche Frömmigkeit wissenschaftlich zu bereichern versprach. Die apollinaristischen Sendboten predigten mit Eifer und Erfolg die neue Lehre und warben damit zugleich für die Anerkennung des Nicänums, auf dessen Boden allein so schöne Früchte wachsen konnten. Aber schnell kamen auch die Bedenken. Athanasius hatte ja einst Ahnliches vorgetragen, aber vor den letzten Folgerungen der Logik, die Apollinaris tapfer und zuversichtlich zog, halt gemacht. Für ihn war es eine volle Menschlichkeit, mit der sich der Logos verbunden hatte 1 . Jetzt klang ihm das Wort von dem „Leib ohne Seele" anstößig ins Ohr — obwohl es eben der Kern der Lösung war — und andere Leute ärgerten sich nicht minder an der kühnen Formulierung. Die Folge dieser Bedenken war eine Verhandlung mit Abgesandten des Apollinaris auf der alexandrinischen Synode und die im Sendschreiben formulierte These, „der Heiland habe keinen Leib ohne Seele, Sinnesempfindung und Verstand gehabt, denn es war unmöglich, da der Herr um unseretwillen Mensch wurde, daß sein Leib ohne Verstand (Nus) war, und nicht nur der Leib, sondern auch die Seele ist durch den Logos erlöst worden". Die Apollinaristen stimmten dem zu, aber dachten sich etwas anderes dabei als Athanasius. Dieser meinte, wie der zweite Satz deutlich zeigt, in Christus müsse auch eine aus der Menschheitsreihe stammende Seele gewesen sein, damit sie durch Berührung mit der Gottheit erlöst und vergottet werden und dadurch das Heil nicht nur auf die Leiber, sondern auch auf die Seelen der übrigen Menschheit übertragen werden ') s. o. S. 248.

III 274

10. Julian

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konnte. Die Apollinaristen 1 ließen den letzten Satz in ihrem Bewußtsein verschwinden und stimmten mit Betonung der Behauptung zu, Christus habe keinen seelen- und vernunftlosen Leib gehabt — weil nämlich (aber das sagten sie nicht laut) der Logos Seele und Vernunft dieses Leibes gewesen sei. Man hätte, um sie festzulegen, deutlicher von einer „menschlichen" Seele und Vernunft in Christus reden müssen: aber das tat man nicht, und zwar wohl mit kluger Absicht, denn zu den führenden Männern der antiochenischen Meletiospartei gehörte ein gewisser Vitalis, der eifriger Verehrer des Apollinaris war'. Und da es sich bei diesen alexandrinischen Verhandlungen um die Beseitigung von Gegensätzen innerhalb der zu Nicaea neigenden Christenheit Antiochias handelte, war man zu möglichster Nachgiebigkeit geneigt. Es hat damals schon nichts geholfen und wir werden noch sehen, welch mächtiger Brand mit der Zeit aus diesen ersten Funken entstanden ist. Das Synodalschreiben hat zu der Forderung auf Anerkennung des Nicänums hinzugefügt, daß auch der Heilige Geist in die göttliche Usia miteinbezogen werden müsse, daß also auch für ihn die Formel des Homousios gelte. Diese These hatte Athanasius vor nicht langer Zeit in seinen aus der Wüste datierten Briefen an Serapion von Thmu'is verteidigt, und sie war damals gerade zu höherer Bedeutung gelangt, weil in den Kreisen der Homoiusianer die Annäherung an die nicänische Lehre vom Sohn zu einer schärferen Unterordnung des Geistes geführt hatte'. Das hatte seinen Grund darin, daß die in origenistischenTraditionen der theologischen Wissenschaft lebenden Kreise die Logoslehre auszubauen strebten und dementsprechend fast nur dem Verhältnis des Sohnes zum Vater nachgingen; dabei wurde die Frage nach der Wesenheit des Heiligen Geistes gar nicht oder nur nebenbei berührt. Die im Gemeindeglauben wurzelnden Theologen dachten aber von vornherein trinitarisch und wurden zur stärkeren Hervorhebung der zweiten Person in der Dreieinigkeit nur durch die Gegner

J

«) Apollinaris p. 256, 7—15. *) Chron. pasch, p. 548 Dindorf. ) Vgl. Loofs in Haucks Realencycl. 12, 46 f.

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Synode zu Alexandria (362)

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gedrängt. So ist es leicht verständlich, daß ihnen der Ausbau der Dreiheitslehre und somit die richtige Einordnung des Heiligen Geistes sehr am Herzen lag und bei guter Gelegenheit mit Betonung in den Vordergrund gerückt wurde. Wir können das bei Athanasius, aber ebensogut auch bei Apollinaris beobachten, und die Abendländer haben diesen Standpunkt schon seit den Tagen Tertullians eingenommen und festgehalten. Aber erst jetzt, gegen 360, tritt dieser Gegensatz scharf hervor, und die These der alexandrinischen Synode ist das erste Grollen eines kommenden Gewitters. Dieses Konzil des Athanasius vom Sommer 362 hat zwar seine nächstliegende Aufgabe, die Einigung der antiochenischen Gemeinde unter dem Nicänum, nicht gelöst, aber es hat kirchengeschichtlich eine viel größere Bedeutung, als die Teilnehmer damals ahnen konnten. Es bezeichnet den Abschluß der mit Nicaea beginnenden Periode theologischer Kämpfe und eröffnet einen neuen Abschnitt, dessen Programm klar herausgestellt wird: In der Zukunft gilt die Arbeit erstens der Einigung unter dem Nicänum, zweitens dem Ausbau der Trinitätslehre, drittens der Lehre von der Person Christi, d. h. von der Fleischwerdung Gottes. Die Regierungszeit Julians gab allen Beteiligten Zeit, über diese Dinge nachzudenken. *

Es war begreiflich, daß der Kaiser an seinen Hof vor allem die Männer zu ziehen wünschte, die ihm Führer zur Erkenntnis der Wahrheit gewesen waren und die er also für die rechten Wegweiser seiner Zeit halten mußte. Das war vor allem der große Maximus von Ephesus, der nach einigem Zögern sich zur Zusage entschloß. Wie ein Triumphator zog er durch Kleinasien und wurde in Konstantinopel vom Kaiser sofort in den Senat geleitet und dort begrüßt. Auch Priscus aus Athen ließ sich bereden, während Chrysanthios in Sardes blieb*. Ob es der Einfluß dieser Männer oder die Frucht eigener Erfahrungen war, was Julian von seinem ursprünglichen Toleranzprogramm abdrängte, läßt sich nicht sagen. ') Eunapius, Vitae p. 55 f. Am. Marc. 22, 7, 3.

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Der Sonnenkult als Reichsreligion war bis auf Diokletian eine politische Notwendigkeit gewesen, das Christentum war seit Konstantin der ideologische Einheitsfaktor des Reiches geworden. Jetzt konnten nicht diese beiden Religionen samt den alten Götterkulten unter dem Schlagwort der Toleranz friedlich nebeneinandergestellt werden. Das hätte einen Verzicht auf den religiösen Unterbau der Reichseinheit bedeutet, den das Imperium jetzt so wenig wie früher entbehren konnte. Und die Religionen waren nicht im geringsten zu friedlichen Gefühlen geneigt, sondern rangen im Kampf um Tod und Leben ohne jede Bereitwilligkeit zum Waffenstillstand. Wenn also Julian einmal entschlossen war, sich vom Christentum zu lösen, so mußte er es auch bekämpfen und den Sonnenkult wieder zur Staatsreligion machen: und seit Anfang 362 hat er diesen Weg, wenn auch sehr zaghaft, beschritten. Er hatte keine Lust, eine diokletianische Verfolgung einzuleiten, wußte auch, daß so etwas bei der fortgeschrittenen Christianisierung des Reiches gar nicht in Betracht kommen konnte. Aber er vertraute auf die geistige Überlegenheit seiner Sache und hoffte, dem Christentum den Zugang zu höherer Bildung und damit die Wurzeln seiner Anziehungskraft abschneiden zu können. Das wurde sehr geschickt ins Werk gesetzt. Am 17. Juni 362 erschien ein Gesetz, welches die Erteilung allen Schulunterrichts von der Erlaubnis der städtischen Behörde abhängig machte: und diese wurde angewiesen, den Charakter des Kandidaten in erster Linie zu prüfen 1 . Die Erlaubnis sei dann dem Kaiser zur Bestätigung vorzulegen. Wir stellen zunächst fest, daß sich in diesem Erlaß die wichtige Erkenntnis auszusprechen scheint, daß aller Unterricht volkserzieherische Bedeutung hat und deshalb die Aufmerksamkeit des Staates verdient. Das war etwas ganz Neues, und wenn auch schon seit langem die Philosophen erklärt hatten, daß Charaktererziehung wichtiger als gelehrte Schulung sei, so wurde das doch jetzt zum erstenmal in gesetzliche Form gekleidet. Die städtischen Behörden rings im Reich werden den kaiser0 Cod. Theod. 13, 3, 5. Julian epist. 61 p. 72.

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Das Unterrichtsgesetz gegen die Christen

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liehen Erlaß mit einigem Kopfschütteln gelesen haben, denn — was heißt Charakter? Und wie soll man feststellen, ob ein Kandidat das Erfordernis besitzt? Da müßte man wohl gar Philosophen zur Prüfung heranziehen? Denn welcher Stadtvater konnte auch nur von sich selbst behaupten, diese seltsame Eigenschaft in ausreichendem Maße zu besitzen? Aber bald erfuhr die Öffentlichkeit, daß die Sache gar nicht so schwierig sei. In einer ausführlichen Kundgebung 1 setzte Julian auseinander, daß die entscheidende Charaktereigenschaft des Lehrers in der Übereinstimmung seiner Lehre mit seiner wahren Meinung liege und daß es eine verächtliche Krämerseele verrate, etwas zu loben, was man für schlecht halte. Dies sei aber der Fall bei den Lehrern der Galiläer, die sich anmaßten, Homer und Hesiod, Domosthenes, Herodot, Thukydides, Isokrates und Lysias zu unterrichten. Denn die Weltanschauung dieser Klassiker beruhe auf ihrem Glauben an die Götter — und eben diesen beschimpften die Christen. Dann müßten sie aber auch ehrlich darauf verzichten, die Alten zu erklären und sollten sich an ihren Matthäus und Lukas halten. Der Jugend solle der Zugang zur Wahrheit unbehindert sein: unterrichten dürften aber in klassischer Literatur keine Christen. Nun war alles klar und die Dekurionen aller Städte wußten, woran sie waren. Der vom Lehramt ausschließende Charakterfehler bestand ganz einfach im christlichen Bekenntnis. Das Gesetz verursachte ungeheure Aufregung, es war ein schwerer und als niederträchtig empfundener Schlag gegen die Christen, und diese haben Julian den Angriff auf ihre geistigen Waffen als seine schlimmste Schandtat angerechnet. Aber auch die Nichtchristen waren befremdet und Ammian 1 nennt das Gesetz „unduldsam und wert, mit ewigem Schweigen zugedeckt zu werden". Charakterfeste Christen wie Marius Victorinus und Prohaeresios traten vom Lehramt zurück, obwohl der Kaiser geneigt war, bei berühmten Männern Ausnahmen zu gestatten 1 . Der vorhin genannte Apollinaris und sein Vater ') Julian epist. 61 c p. 73—75. ») Am. Marc. 22, 10, 7. conf. 8, 5, 10 Hieron. Chron. Ol. 285, 3.

') Aug.

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aber taten noch ein übriges: sie produzierten antike Literatur mit christlichem Inhalt, will sagen machten aus biblischen Stoffen menandrische Komödien, euripideische Tragödien, pindarische Oden und homerische Epen, sogar platonische Dialoge wurden aus Evangelienstoffen fabriziert 1 . Diese von den Zeitgenossen bewunderten, aber dann doch schnell wieder beiseite gelegten Erzeugnisse sind glücklicherweise zumeist untergegangen: nur ein Psalter in Hexametern hat sich bis auf unsere Zeit gerettet. Aber Julian blieb nicht bei dieser negativen Aktion stehen: er schritt nun zu planmäßiger Förderung, zu einem wohldurchdachten Wiederaufbau der alten Religion. Sein Selbstbewußtsein stieg auch durch die göttlichen Offenbarungen, die ihm sein Lehrer Maximus vermittelte und die ihn überzeugten, Alexander der Große in neuer Verkörperung zu sein*. Das mag auch dazu beigetragen haben, daß er im Frühjahr 362 den Plan zu einem groß angelegten Perserfeldzug entwarf und zu dessen weiterer Vorbereitung nach Antiochia reiste, nicht ohne unterwegs der Großen Mutter Kybele von Pessinus seine Verehrung erwiesen zu haben. Welche Wünsche und Hoffnungen die gebildeten „Hellenen" ihm in Antiochia entgegenbrachten, kann man in der Rede lesen', mit der sein alter Lehrer Libanius ihn dort bei seinem ersten Auftreten begrüßte. Der Kaiser hat sich redlich bemüht, sie zu erfüllen. In Antiochia hat Julian seine wertvollsten Erfahrungen über das religiöse Leben seiner Zeit gemacht und danach seine Pläne entworfen. Als er bald nach Mitte Juli einzog, konnte er bemerken, daß das Adonisfest für die Bevölkerung der orientalischen Hauptstadt noch lebendige Sitte war, denn die Klagen um den Tod des Geliebten der Aphrodite tönten ihm von allen Seiten ins Ohr. Aber als er bald danach im August nach Daphne eilte, um dort das große Jahresfest des Apollo mitzufeiern, mußte er mit schmerzlicher Enttäuschung feststellen, daß gar nichts vorbereitet war und statt der Hekatombe von >) Socrates 3, 16, 1—5. Sozomenos 5, 18, 3—4. l ) Socr. 3, 21, 6—7. *) Liban. or. 13 vgl. besonders § 47.

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Neubelebung der alten Kulte

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Stieren nur eine Gans geopfert wurde. Er führte das darauf zurück, daß die städtische Verwaltung in christlichen Händen lag1, aber konnte sich nicht verhehlen, daß an freiwilligen Spenden niemand gehindert war. Er tat selbst nun, was ihm möglich war, und soweit sein Arm reichte, blühte der Opferkult auf. Aber er arbeitete mit einer unruhigen Hast und einer Geflissentlichkeit, die auf das solcher Dinge längst entwöhnte Volk lächerlich wirkte. Wenn er des guten Beispiels halber in feierlicher Prozession irgendein heiliges Gerät zum Tempel trug und dabei ein Gefolge von niederer Weiblichkeit freundlich duldete, so erschien das den Antiochenern als eine Szene von würdeloser Komik. Und die maßlose Verschwendung, mit der Hunderte von Stieren abgeschlachtet, ungezählte Mengen von Kleinvieh und Vögeln ans Messer geliefert wurden, konnte einer Zeit, die das nicht mehr kannte, nur als unsinnig erscheinen. Den Soldaten lag die angenehme Pflicht ob, all dies Opferfleisch aufzuessen, und wenn sie dann nach getaner Arbeit einen guten Trunk draufsetzten und schließlich sinnlos berauscht in die Kaserne getragen werden mußten, so wirkten sie nicht gerade werbend für die vom Kaiser gepredigte Religion8. Das alles entging Julian nicht, aber er biß die Zähne zusammen und blickte unverwandt auf sein hohes Ziel. Er weiß wohl, daß seine Religion nicht einfach die der Alten ist, aber er hält sie für im Wesen mit ihr identisch. Er sieht die Mythen und Kultformen mit den Augen des Neuplatonikers, und hat von Porphyrius, mehr noch von Jamblich und Maximus gelernt, die heiligen Texte allegorisch zu deuten und in der Theurgie der modernen Propheten die Geheimnisse alten Mysterientums zu erfassen. Wenn man seine Reden auf die Göttermutter Kybele oder auf den König Helios liest, so erhält man einen anschaulichen Unterricht in dieser philosophischen Theologie des Mythus, die schließlich nur eine Verkleidung des in platonisierende Formen gepreßten spätantiken Monotheismus ist. Der König Helios ist der in die Welt der Ideen erhobene Reichs*) Am. Marc. 22, 9, 15. Julian Misopogon p. 361 d—363 a. *) Am Marc. 22,14, 3. 22,12, 6—7.

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gott Aurelians, dessen gnädigem Schutz Julian sein Leben und seine Pläne empfiehlt. Aber diese Spekulationen sind nur für denkleinenKreisder Gebildeten: für das Volk sind die sichtbaren Symbole und die theurgisch wirksamen Riten der altüberliefertenKulte, und diese gilt es demEmpfinden derMassen wiedernahezubringen.Daßes mit einfachem Wiederherstellen der Formen nicht getan war, ja selbst diese erste Aufgabe nicht leicht erfüllt werden konnte, zeigte sich nur zu bald. EinneuerWeg mußte betreten werden, und Julian fand ihn. Wir haben zwei Schreiben 1 von ihm erhalten, in denen er ein Programm für die Neubelebung der väterlichen Religion entwickelt, in dem einen mit kurzen Vorschriften, in dem andern in Form einer predigtmäßigen Darlegung. Beide Schriftstücke sind Entwürfe füreine am tlich auszugebende Denkschrift. Julian macht Ernst mit seiner Würde des Reichsoberpriesters, des Pontifex Maximus, und ordnet eine Neugestaltung des Priesterwesens an. Die Provinzen erhalten Oberpriester, denen das ganze Kultwesen der Provinz unterstellt ist und denen vor allem die Visitation des Kultpersonals obliegt. Wer den Anforderungen nicht entspricht, die die Würde seines Amtes an ihn stellt, soll abgesetzt werden. Es ist zu verlangen, daß die ganze Familie des Priesters am Kult der Götter teilnimmt und nicht etwa einzelne ihrer Glieder oder Dienstboten dem Christentum huldigen. Verboten ist ihm und den Seinen der Besuch des Theaters oder der Kneipen und ebenso der Betrieb eines nicht ehrbaren Gewerbes 1 . Der Priester soll keusch sein, nicht nur in Werken, sondern auch in Worten und Gedanken. Das soll man in seinem Gespräch merken, aber auch an dem, was er liest. Ausgeschlossen sind für ihn ebensogut die Verse der alten Jambendichter und Komiker wie moderne erotische Romane. Philosophen soll er lesen — außer Epikur und dem Skeptiker Pyrrhon — die Götterhymnen auswendig lernen und dreimal des Tags zu den Göttern beten 1 . Dementsprel

) Julian epist. 84 an Arsakios, Oberpriester von Galatien und epist. 89 an Oberpriester Theodoros. l ) Julian epist. 89 p. 153, 6 ff. ep. 84 p. 144, 18 ff. ep. 89 p. 170, 20 ff. 173, 3. ») ep. 89 p. 168, 10 ff. 169, 6 ff. 170, 2 ff.

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Ethische Vorschriften für die Priester

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chend soll der Nachwuchs für dies hohe Amt aus denBestenund Frömmsten der Städte genommen werden ohne Rücksicht auf Armut oder Reichtum 1 . Der Priester soll innerhalb seines Tempels von der Würde seiner Stellung erfüllt sein und auch außerhalb gegenüber den Beamten das Ansehen seines Amtes wahren*. Darüber hinaus aber ist ihm eine große Aufgabe vorgezeichnet, nämlich mit Wort und Tat die Menschenliebe zu fördern. „Die Juden lassen keinen der Ihrigen zum Bettler werden und die Christen füttern außer ihren eigenen auch noch unsere Armen durch, aber wir lassen die unsrigen ohne Hilfe". Jetzt gilt es, die griechisch Gesinnten zu solchen Leistungen zu erziehen und auch auf diesem Gebiet den Göttern Opfer zu bringen. „Gerade diese Dinge haben ja das meiste zur Verbreitung des Christentums beigetragen: Barmherzigkeit gegen die Fremden, Sorge für die Bestattung der Toten, und die scheinbare Ehrbarkeit ihrer Lebensführung." Darum sollen in allen Städten zahlreiche Pilgerherbergen eingerichtet und aus staatlichen Mitteln Fremde und Bettler gespeist werden. Für die Provinz Galatia stellt der Kaiser jährlich 30 000 Scheffel Getreide und 24 000 Liter Wein zur Verfügung, und ein Fünftel davon wird den Priestern für ihre Armenpflege überwiesen'. „Und die Leute sollen lernen, von ihrer Habe allen Menschen etwas abzugeben, den Bessergestellten großzügig, den Mittellosen und Armen zur Abwehr der Not, und, so wunderlich es klingt, selbst den Feinden Kleidung und Nahrung zu geben ist fromme Pflicht, denn wir geben dem Menschen als solchem, nicht der Person" — sagt Julian 4 . Er will die Galiläer mit ihren eigenen Waffen schlagen, will eine Organisation des heidnischen Klerus nach christlichem Muster aufbauen, will seine Priester nach Grundsätzen und zu Aufgaben erziehen, die er bei den Christen gelernt hat — aber die Menschen starrten ihn befremdet an, denn in ihren Seelen fanden solche Töne keinen Widerhall". Er war und blieb dem Volke unverständlich. Was er da brachte, war etwas völlig ») ep. 89 p. 173, 5 ff. *) ep. 89 p. 146, 12—20. ») ep. 84 p. 144, 13—16. 145, 17—20. *) ep. 89 p. 158. «) Sozom. 5, 16, 2.

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Neues, kein Wiederbeleben alter Kulte und volkstümlicher Bräuche, sondern eine philosophische Humanitätsreligion mit moralischen Vorschriften und unbequemen Zumutungen ohne ein die Herzen gewinnendes Ziel Hier fehlte der letzte Ernst, der im Christentum auch die schlichteste Seele anpackte und bezwang. Das konnte Julian nicht verstehen. Er glaubte, durch neue Maßregeln gegen die Christen weiter zu kommen. So wurden sie aus den Offiziersstellen und den höheren Verwaltungs- und Richterposten entfernt 1 und amtlich in jeder Weise zurückgesetzt. Das ging soweit, daß er der von den Persern bedrohten Stadt Nisibis, die überwiegend christlich geworden war und den Tempelkult abgelehnt hatte, mitteilen ließ, er werde ihr nicht eher zu Hilfe kommen, bis sie sich zum „Griechentum" bekehrt habe1. Der Stadt Konstantia in Palästina wurde aus dem gleichen Grunde die von Konstantin verliehene Selbstverwaltung genommen und Gaza ihr übergeordnet®. Caesarea, die Hauptstadt von Kappadokien wurde aus der Liste der Städte gestrichen, das Kirchenvermögen eingezogen, die Kleriker der Militärbehörde unterstellt, die übrigen christlichen Einwohner mit Steuerschikanen bedrückt. Das kam daher, daß hier nach Julians Regierungsantritt auch der letzte noch vorhandene Tempel, der der Tyche, zerstört worden war: die unmittelbaren Täter waren sofort mitsamt dem Bischof Eupsychios hingerichtet worden4. Besonders verhaßt war ihm auch Edessa wegen seiner christlichen Einwohnerschaft. Als es in dieser Stadt einen in Krawall ausartenden Streit zwischen der Arianerkirche und den gnostischen Valentinianern gegeben hatte, verfügte er Einziehung des gesamten Kirchengutes, damit die Kirchenleute durch Armut zur Mäßigung erzogen würden und in Befolgung des christlichen Gebotes (Matth. 19,21ff.)leichter in den Him*) Socrat. 3, 13, 1—2 vgl. Julian epistulae et leges ed. Bidez et Cumont (1922) n. 50 p. 57. Julian epist. 83 p. 143 f. ep. 88 p. 150, 12. *) Sozom. 5, 3, 5 vgl. Julian epist. et leges η. 91. ') Sozom. 5, 3, 6. 7 Julian ep. et leges η. 56 vgl. ο. S. 141 Anm. 1. 4 ) Sozom. 5, 4, 1—6 5,11, 8. Julian ep. et leges η. 125.

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Maßregeln gegen die Christen

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mel kämen — wozu er gerne mithelfen wolle. Der Erlaß fängt, wie es Julian liebt, mit der Versicherung an, daß er grundsätzlich den Galiläern gegenüber jegliche Milde walten lasse und niemanden gegen seinen Willen zwingen wolle1: es ist schwer zu sagen, ob das ehrliche Selbsttäuschung oder haßerfüllter Hohn ist. Die Christen haben ihm nachgesagt, daß er zwar milde rede, aber es nicht ungern sehe, wenn seine Anweisungen durch Gewalttaten überschritten würden 1 . Nur durften sie nicht zu weit gehen, und die blutigen Martyrien, die uns aufgezählt werden, schreiben auch die christlichen Berichterstatter nicht auf das Konto des Kaisers, Seiner Art entsprach mehr die harmlos aussehende, aber schmerzlich wirkende Schikane. Die zerstörten Tempel sollten wieder aufgebaut werden. Das war vielfach praktisch unmöglich und sinnlos: dann mußte der entsprechende Wert in Geld entrichtet werden — und das traf immer' Unter Konstantin war es Sitte gewesen, die dem christlichen Klerus aus den städtischen Einkünften zustehenden Verpflegungsgelder auch an die Witwen und heiligen Jungfrauen zu zahlen. Julian hob das Gesetz auf und verlangte Rückzahlung der Beträge, selbst von den hilflosen Weiblein: das gab natürlich ein lautes Klagen4. Bischof Eleusios von Kyzikos mußte sogar eine von ihm zerstörte Novatianerkirche aus seinen Mitteln aufbauen, obwohl der Kaiser an dieser Sekte doch kein anderes Wohlgefallen haben konnte, als daß sie den Katholiken feindlich waren. Und später mußte derselbe Eleusios sogar die Stadt verlassen, weil seine Tätigkeit aufreizend wirke und mit ihm wurde ausgewiesen, was an fremden Christen zugezogen war*. Es war leicht, bei ausbrechenden Unruhen die Schuld auf die Christen zu schieben, und der Bischof Titus von Bostra hat sich daraufhin einmal mit einer Eingabe an den Kaiser gewendet und auf die gespannte Lage hingewiesen, die nur infolge der bischöflichen Ermahnungen noch friedlich geblieben sei. Man wird es nicht als staatsmännisch klug bezeichnen kön>) Julian ep. 115 p. 196. Sozom. 6,1, 1. Zur Toleranz vgl. die Anm. von Bidez zu epist. p. 196,1. *) Sozom. 5,15,13 vgl. 5, 9,13. ') Sozom. 5,5,5 5, 10, 9. *) Sozom. 5, 5, 2—3. «) Sozom. 5, 5, 10 5. 15, 5—7.

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nen, wenn Julian darauf mit einer Kundgebung an die Einwohner von Bostra antwortet, in der er sie auffordert, den Bischof aus der Stadt hinauszuwerfen, weil er so Böses von ihnen rede 1 . Und es ist wirklicher Hohn, wenn dies Schreiben mit der Versicherung beginnt, die Bischöfe müßten dem Kaiser eigentlich dankbar sein, denn er habe sie nicht in die Verbannung geschickt, wie sein Vorgänger, sondern sie zurückkehren lassen. Statt dessen seien sie über das Ende ihrer Tyrannei entrüstet und hetzten das Volk zum Widerstand gegen die humanen Gesetze des Kaisers auf. Und dabei, werde keinerlei Zwang zur Bekehrung geübt, im Gegenteil fordere man von denen, die mit freiem Willen zum Opfer kämen, erst formelle Entsühnung, ehe man sie zulasse. Aber es war doch eine seltsame Art der Freiwilligkeit. Die Soldaten zum Beispiel erhielten ihre übliche Geldspende vor dem von den Köpfen des Zeus, Ares und Hermes umgebenen Kaiserbild erst, nachdem sie Weihrauch in eine Altarflamme geworfen hatten. Gewiß, der Soldat konnte auf diese heidnische Kulthandlung — und damit natürlich auch auf die Geldspende — verzichten, er wurde nicht bestraft und konnte nach freiem Willen handeln, aber wenn er das Geld nahm, später aber Reue empfand und das Geld zurückgeben wollte, wurde er entlassen*. War das ehrliche Toleranz, wie Julian behauptete? Dabei machte der Kaiser aus seinem Haß gegen die Galiläer kein Hehl, schalt auf sie, wo er Gelegenheit hatte, und schrieb sogar eine Kampfschrift gegen sie, in der er die Gelehrsamkeit des Celsus und des Porphyrios mit ziemlich trivialen eigenen Gedanken mischt: wir haben noch Reste davon in der Gegenschrift des alexandrinischen Kyrill enthalten'. Aber er wollte nicht nur mit dem Wort, sondern mit einer monumentalen Tat das Christentum widerlegen. Der Tempel zu Jerusalem, dessen Zerstörung zu den grundlegenden Beweisen für die Wahrheit des Christentums gehörte4, sollte wieder aufgebaut werden. Er hatte für die Juden, schon wegen ihres Christen») Sozom. 5, 15, 11. 12 Julian epist. 114 p. 193—195. *) Sozom. 5, 17, 3. 8—12. *) Juliani imp. libri c. Christianos rec. C. J. Neumann 1880. *) s. Bd. 1, 190. 232 f. Sozom. 5, 22, 6 Philostorg. 7, 9 und p. 235 f.

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Schikane. Tempelbau in Jerusalem. Daphne

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hasses1, eine gewisse Vorliebe,achtete sie auchihres Opferkultes und Rituals halber, und ihr Gott mit seiner nationalen Bestimmtheit fügte sich in seinSystem1. Jetzt ließ er die Häupter der Judenschaft vor sich kommen und kündigte ihnen seine Absicht an. Er beauftragte einen ihm nahestehenden Beamten, den Antiochener Alypios, mit der Aufsicht über den Bau und stellte bedeutende Summen dafür zur Verfügung. Auch die Judensammelten mit größtem Eifer für das Werk und legten selbst Hand an. Aber als man an den Fundamenten arbeitete, zerstörte ein Erdbeben das bisher Gefertigte und begrub eine Anzahl Bauleute unter den Trümmern. Ein Brand kam hinzu und vollendete die Vernichtung*. Der Plan wurde nicht wieder aufgenommen. Am wenigsten Glück hatte Julian bei seinen Antiochenern: sie mochten ihn alle nicht leiden, ohne Unterschied derKonfession. Bei den Christen ist das begreiflich: und sie zeigten ihm ihre Abneigung in wirkungsvoller Art. In dem paradiesischen Vorort Daphne lag der bereits erwähnte Apollotempel an einem der noch heute lustig sprudelnden Wasserfälle, der als „kastalischer Quell" bezeichnet einst Orakel gespendet hatte. Aber Julian gelang es nicht, den Quell zum Reden zu bringen, und seine Theurgen erklärten ihm, daran sei der Leichnam des Märtyrers Babylas schuld, den der Caesar Gallus kürzlich dort hatte in einer Kapelle beisetzen lassen. Sofort ordnete Julian die Entfernung des Sarges an. Das war für die christliche Volksmenge von Antiochia eine große Sache: man bemächtigte sich des Heiligtums und fuhr den schweren Steinsarkophag in großer Prozession mit Psalmengesang über neun Kilometer weit zum christlichen Friedhof. In einer der nächsten Nächte (am 22. Oktober 362) „fiel Feuer vom Himmel" und fraß den Apollotempel bis auf die nackten Mauern. Julian vermutete natürlich Brandstiftung durch Christen und ließ zur Strafe die „Große Kirche" ') Die Juden zerstörten damals christliche Kirchen in Damaskus, Gaza, Askalon, Beirut, Alexandria, Ambrosius epist. 40,15. *) Julian epist. 89 p. 160 Note 2. c. Galilaeos p. 115 d 306 b. VgL J. Vogt, Kaiser Julian und das Judentum, 1939. *)Rufin hist. eccl. 10, 38—40. Am. Marc. 23,1, 2—3. Julian epist. et leges η. 134.

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schließen, aber Gewißheit wurde nicht erzielt, auch nicht durch Folterung des Apollopriesters. In der Stadt erhielt sich hartnäckig das Gerücht, ein zerstreuter Philosophieprofessor habe im Tempel noch nächtlich geweilt und beim Heimgehet vergessen, die Kerzen auszulöschen: da sei durch Funkenflug der Brand entstanden 1 . Das Ansehen des Kaisers wurde durch diese ganze Geschichte nicht gemehrt. Er hatte überhaupt bei allem guten Willen keine glückliche Hand im Verkehr mit den Antiochenern. Mochte es sich um Verteilung brachliegenden Geländes handeln oder um Maßregeln zur Abwehr einer Hungersnot, immer griff er daneben und wurde bitter gescholten. Seine Preisfestsetzung vertrieb die Waren vom Markt, und als er große Mengen Korn aus andern Orten kommen ließ, schoben sich die Zwischenhändler ein und machten ihr Geschäft. Die Antiochener aber waren mit Brot allein nicht zufrieden und jammerten überMangel an Fleisch, Fisch und Geflügel1. So etwas wäre auch einem beliebten Fürsten übelgenommen worden. Julian aber war ausgesprochen unbeliebt, ja er war den Antiochenern eine komische Figur. Jedes Laster hätte ihm die leichtfertige Stadt gerne verziehen, aber seine Tugendhaftigkeit weckte Abneigung und Spott. Wenn Zirkusrennen war, blieb er zu Hause, kam höchstens einmal bei einem Götterfest hin und ging nach ein paar Läufen wieder heim. Ins Theater kam er auch nicht und hatte keine Hofbühne. Weder Athleten noch Sänger oder Tänzer erfreuten sein Herz und den Weibern gegenüber blieb er kühl, er hatte weder einen Harem noch Mätressen — aber auch keine Lustknaben. Er gab keine üppigen Festessen und betrank sich nicht. Ja, er hatte, was das allerschlimmste war, auch kein Verständnis dafür, daß seine lieben Antiochener in all diesen Dingen den Reiz des Lebens sahen und ihnen bei Tag und Nacht bis zum Übermaß huldigten: er hielt ihnen statt dessen philosophische Moralpredigten und ermahnte sie, die Tempel der Götter fleißig zu besuchen. Wenn sie ihm aber !) Am. Marc. 22,12, 8—13, 3. Sozom. 5, 20, 5—6. Philostorg. 7, 8 p. 86—94, wo auch die andern Zeugnisse. *) Julian Misopogon p. 350 a bis c, 368 c—370 a d. epist. et leges η. 100. 101.

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Der Kaiser unbeliebt

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diesen letztgenanten Wunsch einmal erfüllten und sich mit heiterem Getümmel in den Hof des Heiligtums drängten, so war's ihm auch wieder nicht recht und er klagte über Unordnung. Und wie sah der Mann ausl Sein Haupthaar war struppig und wurde so selten geschnitten wie seine Nägel, die Finger waren mit Tinte bekleckst, und Rasieren war ihm unbekannt Auf Wangen und Kinn wuchs ein flatterndes Gebilde, welches er einen Philosophenbart nach dem Vorbild Mark Aurels nannte, das aber in Wirklichkeit wie ein Ziegenbart aussah und ihm den Spitznamen der Ziegenbock verschaffte 1 . So höhnte ihn das Volk, und er hörte es und ärgerte sich darüber und vergaß schließlich, daß er Kaiser war. Er setzte sich an seinen Tisch und schrieb, wie ein beliebiger Literat, eine Schrift gegen die „barthassenden" Antiochener (den „Misopogon"), hielt ihnen ihre Frechheit und Undankbarkeit vor, erklärte und verteidigte sein Verhalten und kündigte schließlich an, daß er die Stadt verlassen und nicht mehr zurückkommen werde*. Die Antiochener werden sich beim Lesen dieser Schrift unter großer Heiterkeit seines Entschlusses gefreut haben. Julian stand nicht über den kleinen und großen Gegensätzen der Menschen und hatte kein Gefühl für Würde. Das bewies der Misopogon, und nicht weniger eine zweite Schrift, die er ohne äußere Veranlassung schrieb, die „Caesares". Hier reden bei einem himmlischen Gastmahl die verstorbenen römischen Kaiser an der Tafel der Götter miteinander und schließlich auch mit dem hinzutretenden großen Alexander. Sie werden fast alle mit höhnischer Kritik durchgehechelt bis auf den einen Mark Aurel, in dem Julian sein Idealbild zeichnet. Während Konstantin zu dem sündenvergebenden Jesus flüchtet, bekennt sich Julian stolz zu den Geboten des Mithra, seines Führers im Leben und Sterben. Er empfindet aber auch hier nicht das Unwürdige der Verspottung seiner eigenen Vorgänger und vergißt, daß einem Kaiser nicht erlaubt ist, was einem Lukian Beifall verschaffen mag. ») Julien Mieopogon p. 338 c—340 a. 342 b—344 c. 345 c—346 d. ») p. 364 d 370 b.

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10. Julian

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Nach Abschluß aller Vorbereitungen verließ Julian am 5. März 363 Antiochia: der ihn geleitenden Menge, die ihm glückliche Kriegsfahrt und ruhmvolle Heimkehr wünschte, gab er die ungnädige Antwort, sie würden ihn nicht Wiedersehen; nach beendetem Kriege gedenke er sich nach Tarsus zu begeben. Er hat Wort gehalten, aber anders als er meinte. Das Heer zog nach Hierapolis (Membidj), ging dann über den Euphrat und marschierte nach Carrhae (Harran), wo er die letzten Anordnungen traf. Eine Armee von 30 000 Mann Elitetruppen unter dem Befehl der Generäle Prokopius und Sebastian zweigte er als Flankenschutz ab und hieß sie im nördlichen Mesopotamien, diesseits des Tigris operieren. Sie sollte sich mit den armenischen Truppen des verbündeten Königs Arsakes vereinigen und dann das Land verwüstend nach Süden ziehen, und zur Entscheidung verfügbar zu sein. Er selbst mit der Hauptarmee zog nach Süden und erreichte am 27. März bei Kallinikum (Rakka) den Euphrat wieder, auf dessen linkem Ufer er nun weitermarschierte, während auf dem Fluß eine große Transportflotte den Zug begleitete. Als man am 6. April sich dem verlassenen Dura (Salihiye)1 näherte, erblickte man zum erstenmal in weiter Ferne persische Truppen. Am nächsten Tag waren sie verschwunden, aber das Heer marschierte jetzt in Kampfformation. Die Festung Anatha (Anah) ergab sich ohne Gegenwehr, andere leichte Eroberungen folgten, und kurz hinter Diacira (Hit) kam es zum ersten Zusammenstoß mit feindlichen Truppen, der einen glücklichen Ausgang nahm. Aber man spürte bald, daß es nun Ernst wurde. Die Festung Pirisabora (Ambar?) erforderte die Anwendung größter Belagerungsmaschinen, und auch die Einnahme des stark befestigten Maiozamalcha verlangte schwere Kämpfe. Das Heer befand sich jetzt in dem von zahlreichen Kanälen durchzogenen Gartenland zwischen Euphrat und Tigris, dem heutigen Bagdad gegenüber, und näherte sich der feind0 s. Bd. 2, 35. 140.

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Der Perserfeldzug (363)

III 289

liehen Hauptstadt Ktesiphon, die am linken Tigrisufer 42 Kilometer südöstlich von Bagdad liegt. Die Flotte wurde auf einem Kanal in den Tigris übergeleitet, und von den Ruinen des alten Seleucia aus versuchte das Heer den Übergang über den Strom zu erzwingen. Das gelang in heißem Kampf, und die Perser wurden unter schweren Verlusten in ihre Hauptstadt zurückgeworfen. Von einer Belagerung dieser mit allen Mitteln befestigten Großstadt konnte keine Rede sein, und so beschloß man, dem Tigrislauf entgegen, auf dem linken Flußufer nach Norden zu ziehen. Die Flotte, die ja nicht stromaufwärts fahren konnte und von mindestens 20 000 Mann hätte gezogen werden müssen, wurde verbrannt. Aber nun stellten sich die Sorgen ein. Der Feind hemmte die Verpflegung, indem er Feuer an die auf den Feldern stehende Ernte legte. Und weder die Armee des Prokop und Sebastian noch die armenischen Hilfstruppen ließen sich sehen. Dazu drückte die Sommerhitze und quälte die Truppen durch alles erfüllende Schwärme von Fliegen und Mücken. Man opferte und befragte die Götter, aber es kam keine hoffnungsvolleAntwort. Am 16. Juni wurde der Abmarsch endgültig beschlossen, und am nächsten Morgen nahm man bereits mit der Vorhut des Perserkönigs Fühlung, nach einigenTagen kam es zum Kampf mit der Hauptmacht.Die römischenLegionen bewährten ihren Ruf und zwangen die herrlich gepanzerten Reihen der persischen Lanzenträger, Bogenschützen, Reiter und Elefantenkämpfer zum Rückzug. Ein dreitägiger Waffenstillstand folgte. Da ist in einer Nacht dem Julian wiederum — wie einst in Gallien — der Genius des römischen Volkes erschienen, hat aber diesmal traurig mit verhülltem Haupt das Zelt verlassen. Und als der Kaiser in die Nacht hinaustrat, fiel ein Stern mit leuchtender Bahn vom Himmel. Am Morgen ging der Marsch weiter: es war der 26. Juni. Die Perser hüteten sich, die römische Schlachtreihe noch einmal herauszufordern, aber sie begleiteten das Heer mit einem Schleier von Reiterschwärmen, die hie und da vorbrachen und es nicht zur Ruhe kommen ließen. Die Nachhut wurde angegriffen, es gab Verwirrung.

III 290

10. Julian

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Julian eilt hin, ohne Panzer, nur mit einem Schild gedeckt, er springt unter die Kämpfenden, ordnet die Reihen. Da kommt Meldung von der Vorhut: dasselbe Bild, und nun auch hier der Kaiser imGetümmel ohne Rücksicht auf seine Person. Jetzt werfen sich persische Panzerreiter, von Elefanten unterstützt auf den linken Flügel des Mitteltreffens und bringen ihn zum Weichen. Julian fliegt an die bedrohte Stelle und reißt seine Truppen vorwärts. Da trifft ihn ein Reiterspeer in die Seite. Er wird ins Zelt gebracht, verbunden, will wieder in den Kampf. Vom Blutverlust entkräftet sinkt er zurück. Er weiß, daß es zu Ende geht, als er erfährt, daß er sich an einem Ort namens Phrygia befindet: so sollte die Stelle seines Todes nach einer alten Weissagung heißen. DieFreunde stehen um ihn, und er nimmt von ihnen und vom Leben Abschied. Die Nachricht vom Tode eines Freundes beschert ihm den letzten Schmerz. Nun bleibt er mit seinen Vertrauten Maximus und Priskus allein und spricht mit ihnen von der Erhabenheit der Seele. Wieder öffnet sich die Wunde für einen Blutstrom. Das Atmen wird ihm schwer. Es ist Mitternacht. Ein Trunk Wasser gibt ihm Labung, dann scheidet er vom Leben. Am nächsten Morgen wurde nach einigem Schwanken der General der Gardetruppen Jovian zum Kaiser ausgerufen, derselbe, der vor zwei Jahren dem Leichnam des Konstantius dasEhrengeleit gegeben hatte. Er führte die Armee weiter stromaufwärts, ging hinter Dura (Dor) über den Tigris und erreichte über Hatra, U r und Nisibis das römische Gebiet. Mit den Persern schloß er vor dem Tigrisübergang einen schmachvollen Frieden, der ihnen die östlichen Provinzen am Oberlauf des Tigris, aber auch Singara und Nisibis auslieferte: und es war ein jämmerliches Zugeständnis, daß die römischen Einwohner dieser Städte auswandern durften — oder vielmehr mußten. Ammian, der die Geschichte dieses Feldzuges miterlebt und aufgezeichnet hat 1 , redet davon mit tiefer Entrüstung. Auch Er ist die Hauptquelle für alles oben Erzählte: 23, 2—5 24 und 25. Uber eine Legende v o m Tode Julians s. Norman H. Baynes im Journal of Roman Studies 27 (1937), 22—29.

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Julians Tod

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den verbündeten König von Armenien mußte Jovian der persischen Rache preisgeben. Die Nordarmee fand man in der Nähe von Singara, und der eine ihrer Kommandanten brachte den toten Kaiser nach Tarsus: dort wurde er seinem Wunsch gemäß bestattet. Seine Freunde hätten ihm und seinem Ruhme lieber ein Denkmal in der ewigen Stadt erbaut.

Der Kultus In den vorangegangenen Kapiteln ist vom letzten Kampf und Sieg des Christentums in der römischen Welt erzählt und von viel Kirchenpolitik und gelehrter Theologie berichtet worden, so viel, daß der Leser in Gefahr kommt zu glauben, in diesen Dingen erschöpfe sich das Wesen und Wirken der Kirche des vierten Jahrhunderts. Darum ist es Zeit, daß wir uns dem inneren Leben der Christenheit zuwenden und nach dem Geist fragen, der für diesen weltumspannenden Organismus Seele und Kraftquelle war: und dieser muß im Gottesdienst der Gemeinde am reinsten zu erfassen sein. Während uns für den Beginn des dritten Jahrhunderts in der Hippolytischen Kirchenordnung ein römisches Formular überliefert ist, haben wir für Mitte und zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts mehrere griechische Quellen, die uns reichen Stoff darbieten, während unser Wissen um die Kultformen des Abendlandes mühsam aus kleinen Bruchstücken zusammengesetzt werden muß. Aus Jerusalem haben wir eine genaue Beschreibung des Abendmahlsgottesdienstes durch die Katechesen des Bischofs Kyrill 1 , die gegen 350 in der Konstantinischen Grabeskirche gehalten worden sind. Und die „apostolischen Konstitutionen" geben nicht nur im zweiten Buch eine kurze Beschreibung der Sonntagsfeier, sondern bringen im achten ein vollständiges Formular mit allen Gebeten. Nehmen wir dazu noch gelegentliche Äußerungen der Kirchenväter 8 , so haben wir allen Grund, von reichlichem Quellenmaterial zu sprechen. Die „Konstitutionen" sind ein auf älteren Texten aufgebautes Sammelwerk von Kirchenordnungen und lassen sich mit Sicherheit in die Jahre um 380 datieren: daß sie in Antiochia verfaßt seien, ist nicht so sicher, wie man bisher angenommen hat, und es mehren sich die Zeichen, die auf Kon' ) s. o. S. 246. 2 ) Diese Zeugnisse gesammelt bei F. E. Brightman, Liturgies eastern and western 1, 467—481 506—509 518—534.

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Der Hauptgottesdienst

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stantinopel, zum mindesten als Ort der Redaktion, hindeuten 1 . Aus Ägypten sind uns Gebetstexte aus der Mitte des vierten Jahrhunderts überliefert, die mit dem Namen des Serapion von Thmu'is, des Freundes des Athanasius, verbunden sind, und die durch Papyrusfunde ergänzt werden'. Für das Kirchgebäude hat sich um diese Zeit schon ein Idealtypus ausgebildet, der mit mancherlei örtlich und provinziell bedingten Abwandlungen überall im Osten und Westen in die Erscheinung tritt: es ist ein langer, rechteckiger Saal, der aus der einen, östlichen, Schmalwand den Raum für den Klerus und das von ihm betreute Kultmysterium, meist in Gestalt einer halbkreisförmigen Apsis, herauswachsen läßt. Hier sitzt in der Mitte des Halbrundes der Bischof auf seinem Thron, zu beiden Seiten von den Presbytern umgeben, an den Enden stehen die Diakonen als Hüter der Ordnung. Die Gemeinde füllt den Saal, aber nicht als Masse, sondern als gegliederter Organismus: Männer und Frauen sitzen getrennt, und innerhalb der Geschlechter sollen auch die Jungen eigene Gruppen bilden, während die Kinder bei den Eltern stehen. Ein Diakon hält die Ordnung im Raum aufrecht und verhindert störendes Schwatzen oder Lachen. Auch die Eingänge in den Saal sind gesondert für Männer und Frauen, und Türhüter und Diakonissen sorgen für Beachtung der Vorschriften. Nicht jedem Gemeindemitglied ist der Eintritt gestattet: wer mit Kirchenbuße belegt ist, muß vor der Türe bleiben und in manchen Fällen gar die Eintretenden mit reuiger Geste um ihr fürbittendes Gebet angehen: so will es die strenge Bußzucht. Der erste Teil des Gottesdienstes hat zum wesentlichen Inhalt Schriftverlesung und Predigt. Die Konstitutionen schreiben eine stattliche Reihe von Bibellesungen vor. Den Anfang machen zwei alttestamentliche Lektionen, eine aus den geschichtlichen Büchern, die andere aus den Propheten oder den Lehrschriften. Dann tritt ein Sänger auf und stimmt einen ') E. Schwartz, Die pseudapostolischen Kirchenordnungen (1910) S. 27. f ) Wilcken, Mitteil. a. d. Würzburger Papyrussammlung (Abh. Berl. Akad. 1933 Nr. 6) p. 31—36.

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11. Der Kultus

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Psalm an: die Gemeinde lauscht andächtig und antwortet mit dem Kehrvers, wenn ein solcher vorhanden ist, oder dem endenden Halleluja; auch andere Formen bis zum vollen Wechselgesang zwischen Psalmsänger und Gemeinde sind denkbar und gelegentlich auch nachzuweisen 1 . Es folgt eine Lesung "aus den Paulusbriefen oder der Apostelgeschichte, dann aber erhebt sich die Gemeinde, und statt des Vorlesers (Anagnostes) tritt jetzt ein Diakon oder gar ein Presbyter an das Lesepult, um das Evangelium mit verstärkter Feierlichkeit zu rezitieren. Wir wüßten gerne, in welchem Umfange schon damals die Auswahl der Texte durch das Kirchenjahr bestimmt gewesen ist, aber die Forschung steht hier noch in den Anfängen 1 , und unsere Kenntnisse sind für das fünfte Jahrhundert ausgiebiger als für das vierte, in dem diese Dinge offenbar erst begonnen haben, sich in festere Formen zu fügen. Jedenfalls sind für die Kirchenfeste und die Wochentage der Fastenzeiten zuerst bestimmte biblische Lesungen festgestellt worden, während an gewöhnlichen Sonn- und Wochentagen die Lektionennach dem Belieben des Bischofs wechseln.Und zweifellos ist auch anfänglich nur an großen kirchlichen Zentren ein derartiges System der Lesungen ausgebaut worden, und die Provinz hat erst allmählich das Vorbild von der Hauptstadt übernommen. Wir werden noch genauer davon zu reden haben. Den Lesungen folgt die Predigt oder vielmehr die Predigten, denn „die Presbyter sollen das Volk ermahnen, einer nach dem andern, aber nicht alle, und als letzter von allen der Bischof". So lautet die Vorschrift der Konstitutionen, und wir können feststellen, daß ihr die Wirklichkeit entsprach. Denn in den Predigten des antiochenischen Presbyters Johannes Chrysostomus wird mehrfach auf folgende Predigten anderer Presbyter und vor allem des Bischofs hingewiesen, und um i) Const, apost. 2, 57, 6 vgl. Euseb, KG 2, 17, 22. Philo vita contempl. 80 (6, 68): Kehrvers ζ. B. Ps. 42, 6. 12 43, 5 46, 8. 12 57, 6. 12 80, 4. 8. 20 anders 136. Basilius epist. 207, 3 hat beides. *) A. Rahlfs, Die alttest. Lektionen d. griech. Kirche. Gotting. Nachr. 1915, 28—136. A. Baumstark, Nichtevang. syr. Perikopenordnungen 1921 (Liturgiegesch. Forschungen hrsg. v. Dölger u. a. Heft 3).

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Der Hauptgottesdienst: Predigt

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dieselbe Zeit wird uns die gleiche Sitte auch für Jerusalem bezeugt 1 . Die griechische Gemeinde war von Hause aus zum Anhören kunstvoller Reden geneigt — das war das Ergebnis einer jahrhundertelangen Erziehung zur Rhetorik — und so durfte man ihr unbedenklich eine Predigtmenge zumuten, die unter anderen Umständen abschreckend gewirkt hätte. Es wird nicht selten vorgekommen sein, daß die begeisterten Redner die für den Wortgottesdiesnt übliche Zeit von zwei Stunden 1 überschritten, und sie durften auf die Verzeihung ihrer Hörer zählen, wenn sie den Reiz künstlerischer Gestaltung mit fesselndem Inhalt zu verbinden wußten. Sie konnten sogar auf Äußerungen des Beifalls und laute Zurufe aus der Gemeinde rechnen, obwohl das verpönt war und von ernsten Predigern gerügt wurde'. Mit dem Ende der Predigten Schloß der öffentliche, jedermann zugängliche Teil des Gottesdienstes, und die Ungetauften wurden gruppenweise vom Diakon zu einem Schlußgebet aufgerufen und über ihnen ein Segensgebet gesprochen, dessen einzelne Sätze durch das Kyrie eleison der Gemeinde aufgenommen wurden: so verließen die Katechumenen und nach ihnen die zur Taufe Angemeldeten (Photizomenoi), dann die Kranken und endlich die in der Halle vor der Tür wartenden Büßer die Kirche. Die Türen schließen sich und die„Gläubigen", d. h. die Gemeinde der Getauften, knien nieder zum Gebet. Der Diakon rezitiert die Sätze des allgemeinen Kirchengebets, und die Gemeinde antwortet auf jede Bitte mit dem Kyrie eleison. Dann betet der Bischof für die Gemeinde und entbietet ihr den Friedensgruß. Der Diakon ruft „Grüßet einander mit dem heiligen Kuß", und der Klerus küßt den Bischof, die Gemeinde folgt dem Beispiel, die Männer küssen einander und ebenso die Frauen: die christliche Liebesgemeinschaft tritt in die Erscheinung, bereit, dasMysterium zu feiern. Mahnend klingt der Ruf des Diakonen: Kein Katechumen! Kein >) Joh. Chrys. 2 p. 531b 316 c 362 d 622 a: weitere Stellen bei Bingham, Origines 6, 127 ff. Aetheriae peregrinatio 43,2 p. 93, 24 Geyer. *) Joh. Chrys. 2, 368 b 3, 53 b 73 c. ') Joh. Chrys. 2, 25 a 7, 232 d 10, 33 a 239 e.

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11. Der Kultus

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Ungetaufter! Kein Ungläubiger! Kein Falschgläubiger! Keiner in Haß gegen einen! Keiner in Heuchelei! Aufrecht laßt uns vor dem Herrn mit Furcht und Zittern stehen zum Opfern! Inzwischen hat ein Subdiakon dem Bischof und dem Presbyterium ein Wasserbecken gereicht und die Zeremonie der symbolischen Händewaschung ist vollzogen. Schweigend sieht die Gemeinde zu, wie die Opfergaben, das Brot und der Wein, von Diakonen zum Altar gebracht und dort vom Bischof im Kreis der Presbyter in Empfang genommen werden. Dieser spricht ein stilles Gebet und wird dann mit einem Prachtgewand für die darauf folgende hochfeierliche Handlung geschmückt. Und nun klingt vom Altar her der Dreieinigkeitsgruß der Gnade Gottes, der Liebe Christi und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Die Gemeinde antwortet mit dem alten Wunsche „Und mit deinem Geiste". „Empor den Sinn" — „Wir haben ihn beim Herrn". „Laßt uns dem Herrn danken" — „Würdig ist es und recht". Das „eucharistische Hochgebet" hebt an mit der altüberlieferten Wiederholung der Antwort: „Würdig ist es wahrlich und recht, dir vor allem Lob zu singen, dem wahrhaftig seienden Gott" — und nun dämpft er seine Stimme zur halblauten Rezitation des langen Dankgebets, welches mit dem Preise Gottes und seines eingebornen Sohnes anhebt, die Schöpfung und wunderbar zweckmäßige Ordnung der Welt feiert und des Menschen gedenkt, der als Bürger dieser Welt (Kosmopolites) und Mikrokosmos nach Gottes Ebenbild ins Leben trat. In seiner Seele trug er die Samenkörner der Gotteserkenntnis und die Macht zur Unsterblichkeit, aber durch den Trug der Schlange und des Weibes fiel er, verlor das Paradies, aber nicht die barmherzige Fürsorge Gottes, der ihm die Herrschaft über die Natur verlieh und ihm Wiedergeburt und Auferstehung verhieß. Der Beter durchwandert die ganze alttestamentliche Heilsgeschichte bis auf Josua und den Mauerfall von Jericho, dann bricht er plötzlich ab und seine Stimme schwillt nun allmählich wieder zu voller Stärke: „Für all das sei dir Ehre, Herr, Allmächtiger. Dich

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Der Hauptgottesdienst: Eucharistiegebet

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beten zahllose Engelscharen an, Erzengel, Throne, Herrschaften, Mächte, Gewalten, Kräfte ewiger Heerscharen, die Cherubim und die sechsflügeligen Seraphim, die mit zwei Flügeln ihre Füße bedecken, mit zweien ihr Haupt, mit zweien fliegen und stimmen ein mit tausend mal tausend Erzengeln und zehntausend mal zehntausend Engeln, die unaufhörlich und nimmer schweigend rufen": ergriffen fällt die Gemeinde ein in den Triumphgesang der Engel und singt das „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, Himmel und Erde sind seiner Ehre voll, gelobt sei er in Ewigkeit, Amen". Der Himmel ist offen und die Gemeinde schreitet über die Schranken von Raum und Zeit in die Lebensgemeinschaft der oberen Welt1. In ehrfürchtiger Stille blickt sie zum noch verhängten Altar, wo die Lippen des Bischofs leise des heiligen Gottes erlösenden Ratschluß preisen, daß der Schöpfer des Menschen Mensch ward, geboren von der Jungfrau, und wunderwirkend unter dem Volk wandelte und Gottes Namen denen offenbarte, die nichts von ihm wußten. Und als er das alles recht getan, vollendete er des Vaters Willen, gab sich in die Hände der Ungerechten und litt unter Pontius Pilatus den Tod am Kreuz und ward begraben, auf daß er die Seinen vom Leid erlöse und dem Tod entreiße und die Bande des Teufels sprenge und die Menschen von seinem Trug befreie. Er stand auf am dritten Tage und fuhr gen Himmel und setzte sich zur Rechten Gottes, seines Vaters. Wir gedenken alles dessen, was er für uns erduldet und danken dir, allmächtiger Gott, nicht wie wir sollen, aber doch so gut wir es vermögen, und erfüllen sein Vermächtnis: denn in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot — und nun schweben die geheimnisvollen Stiftungsworte über dem Teller mit dem Brot und über dem Becher mit dem Wein und laut klingen die Sprüche vom Leib und vom Blut samt dem Amen der Gemeinde. Des Leidens, des Todes, der Auferstehung Gedächtnis wird verkündet, und zum Himmel schwingt sich das Gebet, >) Joh. ChrysostomuB in Matth, hom. 19 (7, 248 c Montf.) c. Anhom. 4, 5 (1, 478 d e).

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Gott möge seinen heiligen Geist auf dies Opfer senden und das Brot zum Leibe, den Kelch zum Blut seines Christus machen, auf daß alle, die davon genießen, gestärkt werden in der Frömmigkeit, Vergebung der Sünden erlangen, vom Teufel und seinem Blendwerk erlöst, mit heiligem Geiste erfüllt, Christi würdig gemacht werden und das ewige Leben gewinnen, da der allmächtige Vater ihnen versöhnt ist. Das Wunder geschieht, der Gottesgeist steigt aus Himmelshöhen herab in die Elemente — in späteren Jahrhunderten haben besonders Begnadete das mit Augen zu sehen vermocht 1 — und wandelt sie zur lebenwirkenden geistlichen Speise. Das „unblutige Opfer" der Christenheit ist aufs neue vollzogen, denn im Mysterium ist wiederum Christi Leib für uns im Tode gebrochen, sein Blut vergossen zur Vergebung der Sünden, das Opfer von Golgatha ist durch göttliches Wunder erneute Wirklichkeit geworden. In dem Augenblick, da die Einsetzungsworte über Brot und Wein gesprochen wurden, geschah aufs neue, was sie aussagen, aufs neue ist der allmächtige Herrscher mit der Menschheit durch seines Sohnes Hingabe versöhnt*. Das christliche Opfer der Eucharistie ist ein echtes Mysterium, göttliches Handeln in irdischen Symbolen — und die Gemeinde fühlt das Grauen des Todes und die Schauer der Ewigkeit und die sieghafte Gewalt des unbegreiflichen Lebenswunders, das Christus den Seinen spendet. Das Opfer ist vollbracht, Christus, das Gotteslamm, ist wiederum geschlachtet' — aber es ist auch ein Opfer der Gemeinde, das sie Gott darbringt und das sie, wie alle Opfer, mit Bitten begleiten darf. In langer Reihe bringt der Bischof die Fürbitten der Kirche vor Gottes Angesicht und der Diakon rezitiert eine kürzere Fassung laut mit dem Kyrie eleison der Gemeinde. Dann öffnen sich die Vorhänge, die bis dahin den Blick auf den Altar versperrt hatten, und der Bischof trägt das Opfer der Gemeinde entgegen 4 , die Austeilung des Abendmahls be4 ) Johannes Moschos, Pratum spirituale c. 25. *) Lietzmann, Messe u. Herrenmahl S. 191 f. O. Casel im Jahrb. f. Liturgiewiss. 6 (1926), 114 ff. 13 (1936), 99—171. ») Joh. Chrys. 11. 23 d. 4 ) Joh. Chrys. 11, 23 d 577 f. 10, 340 e.

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Der Hauptgottesdienst: Opfer und Abendmahl

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ginnt. „Das Heilige den Heiligen" ruft der Bischof und die Gemeinde antwortet mit dem Gesang: „Einer ist heilig, einer der Herr, Jesus Christus zur Ehre des Vaters bist du gepriesen in Ewigkeit. Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Hosianna demSohne Davids. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, Gott ist der Herr und unter uns erschienen, Hosianna in der Höhe!" Dann genießt der Bischof die heiligen Elemente, spendet sie dem Klerus und dann der in langer Reihe zum Altar hintretenden Gemeinde. Der Bischof reicht das Brot mit den Worten „Leib Christi", der Diakon den Kelch und spricht dazu „Blut Christi", der Kommunikant antwortet jedesmal mit Amen. Während der ganzen Kommunion wird der 34. Psalm gesungen, dessen Stich wort der neunte Vers ist: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist; wohl dem, der auf ihn traut". Am Ende der Feier sprechen Diakon und Bischof ein Dankgebet, und mit dem Segen des Bischofs wird die Gemeinde entlassen. Schon unsere Quellen des vierten Jahrhunderts lassen uns mancherlei Verschiedenheiten der Kirchenprovinzen erkennen, und bei genauerer Prüfung vermögen wir sogar denAustausch von Gebetsformeln und die gegenseitige Beeinflussung zu erkennen. InSyrien bildet sich ein eigenerTypus aus, der mit dersoebengeschilderten großen Liturgie der Konstitutionen nächst verwandt ist, und inByzanz sind aus dieser Wurzel die maßgebenden Liturgien des Mittelalters, die nach den Heiligen Basilius undChrysostomus genannt sind, erwachsen. In Jerusalem ist die sogenannte Jakobusliturgie geformt worden, die aber auch nur eine Variante der gleichen Urform ist und mancherlei nähere Berührungen mit der Basiliusliturgie aufweist. Auf ihr haben die syrischen Nationalkirchen ihre Liturgien aufgebaut. Dagegen ist in Ägypten, wie zu erwarten steht, eine ursprünglich große Selbständigkeit und wurzelhafte Eigenart zu spüren, die aber schon im vierten Jahrhundert weithin von syrischen Einflüssen erschüttert wird. Die später dort herrschende Markusliturgie läßt nur bei eindringlicher Befragung noch die Spuren altägyptischer Besonderheit erkennen. Die

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ganz eigenartige Liturgie des Serapion bringt den Charakter des Kultes als eines Mysteriums, bei dem das Opfer von Golgatha sich wiederholt, mit großer Klarheit zum Ausdruck. Weniger deutlich, aber alt und weit verbreitet, ist die in den Konstitutionen 1 ausgesprochene Vorstellung, daß Christus seinem Gott und Vater v o r seinem Leiden ein geistliches Opfer dargebracht habe: und dieses wird nun jeweils im Kultus wiederholt, so daß also die Messe eine Nachahmung des Stiftungsaktes ist: der Priester tut, was Christus tat. Aber man sieht nicht recht ein, wieso Christi Tun am Gründonnerstagabend ein Opfer sein kann: da muß man auch hier schon eine mystische Vorwegnahme des Karfreitags zu Hilfe nehmen. Dem Reichtum morgenländischer Quellen steht ein betrüblicher Mangel an westlichen Zeugen für die Ausgestaltung der Liturgie des Hauptgottesdienstes entgegen. Wir sind da fast völlig auf Rückschlüsse aus späteren Tatbeständen angewiesen und können für das vierte Jahrhundert nur die Vermutung aufstellen, daß sowohl die äußere Form wie der religiöse Inhalt im ganzen dieselben gewesen sein werden. Unter dem Namen des Ambrosius läuft eine kleine Schrift um, die gerade die zentrale Handlung der Konsekration mit einer verblüffenden Offenheit behandelt: sie ist von der literarischen Kritik mit unsicheren Händen hin- und hergeschoben worden, bis sie neuerdings* mit starken Gründen für die stenographische Nachschrift einer Katechese des Ambrosius erklärt und damit nach Mailand und in die Zeit zwischen 374 und 397 festgelegt ist. Der Redner betont die Übereinstimmung seines Ritus mit dem römischen, und in derTat stimmen die im Wortlaut mitgeteilten Gebete weithin mit den heute noch üblichen Texten des römischen Kanons überein. Eine vergleichende Prüfung* zeigt, daß die uns aus Hippolyts Kirchenordnung bekannte Urgestalt4 starke Veränderungen durch Übernahme ägyptischer Formeln erlitten hat, die ihrerseits ') Const, apost. 8, 46, 14. *) G. Morin im Jahrb. f. Liturgiewiss. 8, 86—106. Text der Schrift „de sacramentis" bei Rauschen, Florileg. patrist. Nr. 7 Monum. eucharistica. *) Lietzmann, Messe u. Herrenmahl S. 43—47. 58—60.117—122, vgl. 97. 4 ) s. Bd. 2,124.

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Liturgie des Abendlandes

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wieder unter der Einwirkung syrischer Einflüsse gestanden haben: So strömen liturgische Anregungen des Ostens über Alexandria nach Rom, und wir werden nicht fehlgehen, wenn wir Athanasius als den Vermittler betrachten. Eigenartig ist nun aber, daß in Rom die bei Hippolyt noch deutlich ausgeprägte Epiklese mit der Bitte um Herabkunft des Heiligen Geistes, die im ganzen Orient lebendig ist, verloren geht. An ihre Stelle tritt ein Gebet um freundliche Aufnahme dieses fleckenlosen, geistigen, unblutigen Opfers, das von den Engeln auf den himmlischen Altar getragen werden möge. Dafür finden wir aber vor den Einsetzungsworten eine neue und sehr bedeutsame Formel: „Mach uns dies Opfer zugerechnet, gültig, geistig, annehmbar, weil es das Abbild des Leibes und Blutes unseres Herrn Jesu Christi ist." Die Wortwahl ist nicht allzu geschickt und verrät die Mischung von älteren Elementen verschiedener Herkunft, aber soviel ist klar, daß der Beter in der Eucharistie nicht einfach ein Opfer der Gemeinde sieht, sondern die wirkliche Opferung von Leib und Blut Christi, deren sühnende Wirkung der Gemeinde angerechnet werden mag: eben darum bittet er. DieseVorstellung verdrängt die ältere,wonachBrot undWein durch die Konsekration zur Himmelsspeise für die Gläubigen werden, jetzt in den Hintergrund, und damit erlischt im Abendland die zu dieser Vorstellung gehörige Epiklese. Die Messe als Kultopfer Christi entwickelt das Opfergebet, während die Messe als das Abendmahl der Gemeinde die Epiklese schafft. Beide Vorstellungen leben nun nebeneinander durch die Jahrhunderte bis auf die Gegenwart, aber ihre Einwirkung auf die Ausgestaltung der liturgischen Formen wechselt nach Ort und Zeit. Es haben sich gewichtige Stimmen dafür erhoben, die Anschauung von dem Opferakt Christi im Mysterium als die ältere gelten zu lassen und dementsprechend auch die abendländischen Opfergebete, die sich in großer Zahl und Mannigfaltigkeit in den liturgischen Dokumenten des frühen Mittelalters finden, als Zeugen der Urzeit anzurufen 1 . Diese Auffassung 0 O. Casel im Jahrb. f. Liturgiewiss. 6 (1926), 113—204, 209—217.

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wird vor allen Dingen den Forschern einleuchten, die vom Studium antiken Mysterienwesens herkommend, an die christlichen Liturgien herantreten, und sie hat von hier aus gesehen eine gewisse innere Wahrscheinlichkeit für sich. Aber wenn man sich an die vorhandenen Texte hält und ihre zeitliche Abfolge beachtet, wird man zwangsläufig zu dem entgegengesetzten Ergebnis geführt 1 . Es muß doch der Grundsatz gelten, daß die Gebete im Zeitpunkt ihrer Entstehung den Gedanken desBeters rein zum Ausdruck bringen: erst spätere Generationen legen in überliefertes liturgisches Gut ihre neuen Anliegen hinein. Das äußere Bild des Gottesdienstes erfuhr im Laufe des vierten Jahrhunderts eine reichere Ausgestaltung. Die Gunst der Zeiten machte die Kirche reich und erlaubte ihr prachtvolle Kirchenbauten, die von selbst auf die Ausschmückung der Kultgeräte bis hin zu Stoff, Schriftform und Einband der Bibeln einwirkten, vor allem aber die Kleidung des amtierenden Klerus zu einer angemessenen Prunkentfaltung nötigten und sie auch in der Form von der Gewandung des Alltags schieden. Während in den ersten Jahrhunderten die Kleriker beim Gottesdienst die allgemein üblichen Festkleider trugen, bildete sich nunmehr eine besondere liturgische Tracht aus, die zugleich die Rangstufen des Klerus zum sichtbaren Ausdruck brachte. Aber erst die folgenden Jahrhunderte lassen uns in diese Entwicklung einen Einblick tun und für die konstantinische Periode und die ihr folgenden Zeiten sind wir fast ausschließlich auf reine Vermutung angewiesen. Auch die einzelnen Akte der Messe werden nun mit größerer, ja theatralischer Feierlichkeit ausgestaltet. Zwei Gelegenheiten boten sich zu einer solchen Weiterbildung von selbst an, nämlich das Lesen des Evangeliums und das Hintragen der Opfergaben zum Altar. Beide Handlungen wurden zu Prozessionen ausgestaltet, die wirkungsvoll den Gang des Gottesdienstes belebten. Rechts und links von dem Kultraum der Apsis befanden sich meist die beiden Sakristeien, deren Türöffnungen auf die Seitenschiffe gerichtet waren. Die eine hieß ') Lietzmann, Messe u. Herrenmehl S. 116 Anm. 1.

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Liturgische Gewänder. Die Einzüge

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das „Diakonikon" und enthielt die Kleider und Kultgeräte: sie war gelegentlich mit der Apsis durch eine kleine Nebentür verbunden. Die andere war die „Prothesis" und diente zur Vorbereitung der heiligen Handlung: und aus ihr trat nun bei der Katechumenenmesse der Klerus in festlichem Aufzug mit brennenden Kerzenheraus und trug die biblischen Vorlesebücher zum Lesepult oder Ambon. Und wiederum bewegte sichbei der Gläubigenmesse der Zug der Geistlichen aus dieser Tür in das Mittelschiff und trug die Opfergaben feierlich zum Altar. Dies sind die beiden „Einzüge", die bis auf den heutigen Tag für alle orientalischen Liturgien charakteristisch sind. Die großen Kirchenväter des vierten Jahrhunderts erwähnen sie noch nicht ausdrücklich, aber eine archäologische Beobachtung macht uns die Entstehung dieser Sitte für das Ende des vierten Jahrhunderts wahrscheinlich: wir begegnen im fünften, und zwar bereits seit dem Jahre 401, einer Reihe von Kirchen, in denen eine der beiden Sakristeien durch eine weitgeöffnete und vielfach auch durch Rundbogen und Ornamentierung ausgezeichnete Tür als besonders bedeutungsvoll bezeichnet ist. Das spricht dafür, daß aus dieser Pforte die Prozession des Klerus herausschritt 1 . Der bisher geschilderte Meßgottesdienst fand selbstverständlich an allen Sonntagen statt, wurde aber auch an anderen Tagen abgehalten. In der Häufigkeit der Meßfeier begegnen wir seit früher Zeit und noch bis in späte Jahrhunderte einer verwirrenden Mannigfaltigkeit, auf die auch von den Kirchenvätern mit Betonung hingewiesen wird*. Im Abendland ist es schon seit Cyprian' üblich, das Meßopfer täglich darzubringen und das Abendmahl zu nehmen, und diese Sitte wird mit einigem Stolz gegenüber dem Orient hervorgehoben: die Eucharistie sei ja gerade das „tägliche Brot", um das im Vaterunser gebetet werde'. Aber auch Euseb redet davon, daß „täglich" das Gedächtnis des Leibes und Blutes Christi gefeiert werde, ') H. W. Beyer, Der syrische Kirchenbau (1925) S. 34. 40. 43. *) Augustin epist. 54, 2 tract. 26, 15 in Joh. de serm. in monte 2, 7, 25. 26. Ambros. de sacr. 5, 4, 25. ') Cypr. orat. dom. 18. Ambrosius epist. 20, 5.

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und Johannes Chrysostomus klagt in den achtziger Jahren in Antiochia, daß beim täglichen Opfer kein Kommunikant sich einfinde und die Kirche leer sei 1 . Aber vielleicht ist das im Osten doch nur rhetorische Formel, denn an anderer Stelle spricht derselbe Prediger davon, daß „sozusagen" an jedem Tage die heiligen Mysterien gefeiert werden* und nennt einmal ausdrücklich drei Tage, nämlich Freitag, Samstag und Sonntag als liturgisch durch Meßfeier ausgezeichnet*. Im ganzen finden wir eine große Verschiedenheit der östlichen Kirchen in dieser Hinsicht. Manche halten an der einmaligen Eucharistiefeier des Sonntags fest, so Alexandria und Jerusalem. In Cypern sind nach dem Zeugnis des Epiphanius die beiden Wochenfasttage Mittwoch und Freitag auch durch Abendmahlsgottesdienste ausgezeichnet, die aber erst nach Abschluß des Tagesfastens zur neunten Stunde (Non), also nachmittags um 3 Uhr, abgehalten werden, während die Sonntagsmesse frühmorgens liegt. In Alexandria findet an den beiden Fasttagen Predigtgottesdienst ohne Abendmahl statt 4 . In Kappadokien ist zu Sonntag, Mittwoch und Freitag auch noch der Samstag hinzugetreten, vermutlich weil auch an ihm dort, wie vielfach und besonders im Abendland, gefastet wurde: es wurde also viermal in der Woche Vollgottesdienst abgehalten 5 . Antiochia begeht, wie wir bereits gehört haben, die Meßfeier dreimal, am Freitag, Sonnabend und Sonntag: dort scheint also der Mittwoch als pflichtmäßiger Fasttag bereits im Schwinden zu sein. Die apostolischen Konstitutionen* berücksichtigen dagegen die Fasttage überhaupt nicht, sondern folgen einer anderen Tendenz, welche den Samstag als biblischen Sabbath und Ruhetag dem Sonntag angleichen, also wohl nur an diesen beiden Tagen Meßfeiern ansetzen. Nehmen wir nun 1

) Euseb dem. ev. 1, 10 (p. 46, 13) Joh. Chrys. hom. 3, 4 in Eph. (11, 23 a Montf.) hom. 3, 6 de incompreh. (1, 469 a). *) hom. 50, 3 in Matth. (7, 517 d). vgl. de Phil. 4 (1, 499 e). ») hom. 5, 3 in 1. Timoth. (11, 577 e) vgl. hom. 3, 4 adv. Jud. (1. 611 a). 4 ) Socrates 5, 22, 45. 55 Epiph. de fide 22, 1 (3 522 f. Holl). Carl Schmidt in Neutest. Studien f. G. Heinrici (1914). 66—78. ®) Basil, epist. 93 (3, 186 f.). ·) Const, ap. 8, 33.

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Gottesdienstliche Zeiten

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dazu noch die Gedenktage der Märtyrer, die selbstverständlich eine Darbringung des eucharistischen Opfers erfordern und in jeder Provinz, ja in jeder Stadt, nach örtlichem Herkommen verschieden begangen werden, so ergibt sich eine erhebliche Mannigfaltigkeit und auch bei einer geringen Zahl regelmäßiger Wochentagsfeiern doch sehr reichliche Übung der eucharistischen Liturgie. Es wird leicht verständlich, warum Johannes Chrysostomus von „sozusagen" täglicher Feier sprechen kann. Wenn wir aber von täglicher Kommunion der Gemeindeglieder hören, so ist nicht immer an den Empfang der Eucharistie in der Kirche zu denken. Schon Basilius 1 kennt um 370 die Sitte, mehrere Hostien mit nach Hause zu nehmen und dort täglich für sich allein zu kommunizieren. *

Außer diesen Hauptgottesdiensten sind aber fast allgemein im vierten Jahrhundert noch zwei andere Feiern in den Kirchen Sitte geworden, nämlich rein liturgische Andachten, eine am frühen Morgen bei Sonnenaufgang und eine entsprechende Abendfeier. In der heutigen liturgischen Sprache der abendländischen Kirche heißen diese Feiern Laudes und Vesper. Die erste beginnt mit dem Morgenpsalm 63 wie die zweite mit dem „Abendopfer" Psalm 141, dann folgt jedesmal die Entlassung der Katechumenen und der übrigen nicht Vollberechtigten unter Gebet — wie in der Messe —, danach das übliche allgemeine Kirchengebet der „Gläubigen" d. h. der Getauften nebst Fürbitte und Segen des Bischofs*. Wenn diese Andachten schon eine Übertragung der ursprünglich als Pflicht des Einzelnen gebräuchlichen Morgenund Abendgebete in die Kirche sind, so trifft das nicht minder für die übrigen „kanonischen Stunden" zu: diese sind durch den sich stetig verstärkenden Einfluß des Mönchtums auch auf die Gemeinschaft der an den Kirchen amtierenden „Weltgeistlichen" übergegangen. ') Basil, epist. 93 (3, 186 f.). «) Const. Apost. 2, 59 8, 35—39. Hilarius tract, in Ps. 64, 12 (p. 244 Zingerlc). Vgl. S. Bäumer, Gcschichtc des Breviers (1895) S. 91—94 über Joh. Chrys.

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Dreimal am Tage, nämlich morgens, nachmittags und abends, pflegten die Juden 1 ihr „Achtzehnbittengebet" zu sprechen. Die Christen haben diese Sitte mit angemessener Änderung beibehalten und so schreibt die Didache (8, 3) dreimal am Tage ein Vaterunser vor. Um 200 empfiehlt Tertullian® bereits zwei weitere Gebetszeiten, die dritte, sechste und neunte Stunde (Terz um 9 Uhr, Sext um 12 Uhr, Non um 15 Uhr), so daß der Tag durch fünf Gebete gegliedert ist, die sich in Abständen von 3 Stunden folgen. Sein Zeitgenosse, der Alexandriner Klemens kennt dieselbe Gebetsordnung, fügt aber auch für den christlichen Gnostiker noch die Empfehlung häufigen Betens während der N a c h t hinzu, und der römische Hippolyt schreibt gegen 220 außer den fünf Tagesgebeten noch um Mitternacht und beim ersten Hahnenschrei (d. h. um 0 U h r und 3 Uhr) Gebet vor', so daß also die Siebenzahl der kanonischen Stunden bereits im frühen dritten Jahrhundert erreicht ist. Man muß auch diese Weisung zum Gebet in Betracht ziehen, wenn man die Geistesart der hippolytischen Separatistengemeinde würdigen will. Und die Bekanntschaft mit den Sitten des alexandrinischen Lehrers zeigt aufs neue, wie dieser Kreis die traditionellen Beziehungen zu Ägypten pflegt. Andererseits ist es klar, daß diese auch die Nacht in den Gebetskreis einschließende Leistung nur einerstark asketisch gestimmten Gemeinde zusagt und nicht als allgemeine Regel für die Christenheit schlechthin gelten kann. Origenes 4 erklärt ein dreimaliges Gebet am Tage, früh, mittags und abends, für pflichtmäßig und fügt ein viertes um Mitternacht als unerläßlich hinzu. Für die große Masse der Christen bleibt das dreimalige Gebet am Tage die Regel auch im vierten Jahrhundert, aber mit dem erstarkenden Einfluß des heranwachsenden Mönchtums mehren sich auch die Bestrebungen, die Laien zu fleißigerem privaten Gebet — alle drei Stunden — zu veranlassen und sie an den regelmäßigen Besuch der Laudes und Vespern l ) E. Schürer, Gesch. d. jüd. Volkes 24, 539. Mischna Berachot 4,1. ' ) Tert. orat. 25 (p. 197 f. Wissowa). s) Clem. Strom. 7, 40, 3 49, 4 Paed. 2, 79, 2. Hippol. KO 32 (p. 116—118 Funk). 4) Orig. de orat. 12, 2.

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Gebetstunden

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in der Kirche zu gewöhnen1. Diese Feiern werden vielfach weiter ausgebaut und mit Gebeten und Hymnen, die Vespern auch mit Predigten, ausgestattet*. Obwohl wir in bezug auf Kirchenpoesie von der Uberlieferung weithin in Stich gelassen werden, sind uns doch ein paar solcher Hymnen des vierten Jahrhunderts erhalten: vor allem ist der bis heute indergriechischenKirchegebräuchliche Abendhymnus „Freundliches Licht" bereits um diese Zeit als ein altes Lied bezeugt und in Gebrauch*. Im Abendlande entstehen die mächtigen Hymnen des Ambrosius, und in Syrien entfaltet sich die Poesie des mönchischen Dichters Ephrem von Edessa. Wo aber das Mönchtum in der Lage ist, direkten Einfluß auf das kirchliche Leben auszuüben, da dringen auch die übrigen kanonischen Stunden in die tägliche Liturgie ein und rufen bald auch zur Nachtzeit den Klerus ins Gotteshaus: und die Gemeinde folgt in dem Maße, wie sie den immer kräftiger hervortetenden Einwirkungen mönchischer Frömmigkeit gehorcht. In dem von Basilius beherrschten kappadokischen Caesarea und in der Pilgerstadt Jerusalem läßt sich das besonders anschaulich studieren*. Hier können wir auch beobachten, wie gegen Ende des Jahrhunderts die mönchische Sitte des Durchwachens der ganzen Nacht zu einer Vorbereitung auf Kirchenfeste, insbesondere auch Heiligentage, ausgebaut wird, und wie sich die Laien an diesen „Vigilien" oder „Pannychien" des Klerus mit steigendem Eifer beteiligen und am Psalmodieren teilnehmen'. Das liturgische Leben der Kirche und des hinter ihr *) Joh. Chrys. hom. 4, 5 de S. Anna (4, 737 c) hom. 18, 5 in Acta (9, 150 d) hom. 6, 1 in 1. Tim. (11, 579ab). *) Epiph. de fide 23, 1. Socrates 5, 22, 55. ») Basil, spir. sanct. 29, 73 (3, 62 b). Smothers in Recherches de sciences relig. 19 (1929), 266—283. Andere Hymnen Const, ap. 7, 47—49. Greg. Naz. Carm. l a n. 32 (2, 290). Für die Frühzeit vgl. J. Kroll, Die Hymnendichtung des frühen Christentums, Antike 2, 1926, 258—281. *) Uber Basilius s. Bäumer, Gesch. d. Breviers S. 79—84, Jerusalem schildert Aetheria (vgl. ebenda S. 105—119). ') Äthan, apol. de fuga 24, 3 hist. Arian. 81. Basilius hom. in Ps. 114, 1 (1, 199 b). Basil, epist. 207, 3. Greg. Naz. or. 5, 25 (1, 163 a), carm. 1 b, 10, 920 (2, 460) 2 a, 50, 41 (2, 944). Hilar, tract, in Ps. 118 lit. 7, 6 (1, 322a). Aetheriae peregr. 27, 7 29, 2 36 38. Am. Marceil. 28, 6, 27.

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stehenden Mönchtums erfaßt die Gemeinde in einem bisher nie gekannten Ausmaße. *

Wir müssen an dieser Stelle aus einem besonderen Grunde einer frommen Übung gedenken, die im vierten Jahrhundert eine für die ganze Folgezeit maßgebende Bedeutung gewinnt, nämlich der Pilgerfahrten ins Heilige Land. Schon im dritten Jahrhundert war die mit dem Namen des Origenes verbundene Bibelwissenschaft den örtlichen Uberlieferungen nachgegangen, die in allen Teilen von Palästina und den angrenzenden Gebieten am Boden hafteten, undEuseb hat in einem biblischen Ortslexikon den Ertrag seinerStudien übersichtlich zusammengestellt. Zu seiner Zeit ist auch die Kaiserin-Mutter Helena als hochgeehrte Pilgerin im Heiligen Lande erschienen und hat Kirchenbauten in Bethlehem und auf dem Olberg angeregt. Dies und die von Konstantin unmittelbar ausgehende Errichtung von Kirchen an Orten, die durch biblische Erinnerungen geweiht erschienen, hat der Sitte des Wallfahrens einen gewaltigen Auftrieb gegeben, der bald auch in schriftlichen Aufzeichnungen seinen Niederschlag fand. Schon aus dem Jahre 333 ist uns das Reisetagebuch eines Mannes aus Bordeaux erhalten 1 , der sich alle Stationen seiner über Norditalien, die Balkanhalbinsel, Konstantinopel, Kleinasien und Syrien führenden Reise sorgfältig aufgeschrieben hat und bei Jerusalem und einigen andern biblischen Orten auch ein paar Worte über die besuchten Sehenswürdigkeiten sagt. Etwa fünfzig Jahre später* ist aber ein Bericht entstanden, der zu den liebenswürdigsten Schriften gehört, die uns das gesamte christliche Altertum beschert hat. Er stammt aus der Feder einer Dame namens Aetheria, deren Keimat ein Kloster im Westen ist; ob es in Südfrankreich oder in Spanien liegt, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Die Pilgerin verfügt offen') Itinera Hierosolymitana ed. Geyer (Corp. script, eccl. lat. 39) p. 3—33. ') Noch vor der 394 (Chron. Edess. n. 38) erfolgten Überführung der Thomasreliquie aus dem „Martyrium" in die große neue Kirche zu Edessa: peregrin. 17, 1 19, 2 (p. 60,14f. 61, 25 Geyer).

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Wallfahrten nach Jerusalem

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bar über große Geldmittel und wird überall mit sichtlicher Ehrerbietung behandelt. Ihre Aufgabe nimmt sie sehr ernst und studiert das Land der Bibel mit einer Gründlichkeit, die einem Gelehrten Ehre machen würde. Drei volle Jahre lebt sie in Jerusalem und unternimmt von diesem Zentrum aus planmäßige Reisen nach allen Richtungen, um ein vollständiges Bild zu gewinnen. Dann reist sie über Antiochia und Kleinasien nach Konstanthiopel und schreibt hier für die Klosterschwestern in der Heimat den uns erhaltenen ausführlichen Reisebericht, nicht in rhetorischer Kunstsprache, sondern in volksmäßigem Latein, so wie ihr der fröhliche Plaudermund gewachsen ist, und mit einer prachtvollen Anschaulichkeit. Sie hat wirklich viel gesehen und alle Orte besucht, von denen in der Bibel die Rede ist, und was die Führer ihr nicht aus eigenem Antrieb zeigen, das erfragt sie sich — „wie ich ja ziemlich neugierig bin", sagt sie selbst1. Den Abschluß ihrer Erzählung bildet aber eine ausführliche Beschreibung der liturgischen Gebräuche der Jerusalemer Kirche, die für uns von unschätzbarem Wert ist und uns zeigt, wie die heilige Stadt im vierten Jahrhundert ein kultisches Zentrum wird, das durch die Pilgermassen seine Wirkungen über die ganze Kirche ausstrahlt. Den entscheidenden Anstoß dazu gaben natürlich die konstantmischen Bauten am Heiligen Grabe, die nach der Entdeckung undFreilegung der verschütteten und durch ein Aphroditeheiligtum entweihten Höhle auf kaiserlichen Befehl von Bischof Makarios in Angriff genommen und 335 vollendet worden 1 waren. Über dem Grabe (demselben, das heute noch zu sehen ist) erhob sich ein kuppelgedeckterRundbau, der in der jetzigenRotunde der Grabeskirche seine Nachfolge gefunden hat. Er wurde als Auferstehungskapelle (Anastasis) bezeichnet. Davor nach Osten zu, an der Stelle der heutigen griechischen Kathedrale, dehnte sich ein annähernd quadratischer, von Säulenhallen umgebener Hof räum, in dessen südöstlicher Ecke sichdervoneinem Kreuz überragte Golgathafelsen erhob. In dieser Gegend muß man auch bei den AusschachtungsarbeitenHolzgefundenhaben, ») Aeth. peregr. 16, 3.

2

) s. o. S. 122 Euseb, vita Const. 3, 25—40.

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das man für Reste des Kreuzes Christi erklärte: Rufin teilt uns mit, was um 375 die Fremdenführer über die Auffindung von drei Kreuzen—nämlich Christi und der beiden Schächer—durch die Kaiserin Helena und die wunderbare Ermittelung des echten Christuskreuzes den Pilgern erzählten 1 . Man hat Stücke der Reliquie an den Kaiser nach Konstantinopel, nach Rom und wohl noch nach manchen andern Orten 8 abgeben müssen, aber der Hauptteil blieb doch in Jerusalem und wurde in silbernem Behälter verschlossen in der Grabeskirche aufbewahrt. An diesen Hof Schloß sich an der Ostseite die eigentliche Hauptkirche an, eine mächtige fünfschiffige Basilika mit Emporen über der unteren Säulenreihe der Seitenschiffe. Sie begann etwa da, wo heute die griechische Kirche aufhört und erstreckte sich über der sogenannten Helenakrypta weithin nach Osten in die Gegend, die jetzt von dem Gebäudekomplex des abessinischen Klosters eingenommen wird. Die Apsis der Kirche lag nach Westen, also der Anastasis zugewendet, die Eingänge blickten nach Osten und mündeten in einen säulenumgebenen Vorhof, dessen prächtig geformte Torfassade .auf die nord-südlich verlaufende Hauptstraße von Jerusalem führte: deren Linie wird heute noch durch die schnurgerade Lädenreihe des vom Muristan nach dem Damaskustor führenden Chan-es-Zet bezeichnet. Diese große und präohtige Kirchenanlage ist nun der Mittelpunkt des neu erstandenen liturgischen Lebens, von dem Aetheria uns berichtet. Auch an gewöhnlichen Wochentagen beginnt der Gottesdienst schon bei währender Nacht. Noch „vor dem ersten Hahnenschrei", also etwa um 3 Uhr früh, werden alle Türen der Anastasisrotunde geöffnet und die vor den Toren harrenden Mönche und Nonnen samt der sie begleitenden Schar frommer Laien beiderlei Geschlechts füllen den Raum und beginnen die nächtliche Frühandacht (Matutin, Mette), bei der wie in allen diesen „kanonischen Stunden" der Gesang von Psalmen und Hymnen mit Gebeten wechselt, die von zwei oder Rufin hist. eccl. 10, 7—8. 2) Cyrill. Cat. 4, 10 10, 19 13, 4. Diehl, Inscript. n. 268 (Afrika 359).

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Die Grabeskirche in Jerusalem. Täglicher Gottesdienst III 311

drei Presbytern oder Diakonen gesprochen werden. Bei Sonnenaufgang beginnen die „Laudes" mit dem Gesang der üblichen Hymnen. Währenddessen erscheint der Bischof, geleitet von seinem Klerus. Er betritt den durch ein Gitter umschlossenen Raum der Grabeshöhle und spricht von dort aus das allgemeine Kirchengebet, dasselbe, welches auch im sonntäglichen Hauptgottesdienst erscheint, unter Beifügung der ihm besonders am Herzen liegenden Namen. Dann erfolgt ganz wie in der Katechumenenmesse Gebet und Segen erst über den Katechumenen, dann über den Getauften, den „Gläubigen", und danach drängt sich alles an den Bischof, um ihm beim Herausgehen die Hand zu küssen und von ihm gesegnet zu werden. Dieselbe Gestalt haben die gleichfalls vom Bischof geleiteten Andachten am Mittag (Sext) und um 3 Uhr (Non). Feierlicher ist die „um die zehnte Stunde" — also gegen 4 Uhr — beginnende Vesper, das „Lychnikon" oder „Lucernare". Da strahlt die ganze Anastasisrotunde im Licht der Kerzen, das an der in dem Grabesraum brennenden ewigen Lampe entzündet ist. Diesmal eröffnet ein länger ausgedehnter Gesangsteil die Feier, dann erhebt sich der Bischof von seinem Thron und ein Diakon rezitiert die fast endlose Reihe von Namen, denen die Fürbitte gilt, und nach jedem Namen fallen die Chorknaben mit lautem Kyrie eleison ein. Wiederum spricht der Bischof das allgemeine Kirchengebet, und diesmal spricht die ganze Gemeinde laut die Worte mit. Danach folgt, wie immer, Gebet, Segen und Entlassung der Katechumenen und Gläubigen. Aber nun zieht der Bischof mit der gesamten Schar der Andächtigen unter Hymnengesang von der Anastasis über den Hof zu dem von Kerzen und Lampen erhellten Kreuz auf dem Golgathafelsen, betet und segnet erst „vor dem Kreuz", dann „hinter dem Kreuz", also in dem Raum zwischen dem Felsen und der Westwand der Basilika. Mit Einbruch der Finsternis ist die Feier beendet, man küßt nach Möglichkeit dem Bischof die Hand und begibt sich nach Hause. So geht es die ganze Woche durch: aber sonntags ändert sich das Bild. Da staut sich die wartende Menge in der Nacht

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bereits von der Hauptstraße kommend im Atrium der Basilika, wo Lampen brennen und einige Priester und Diakone die wie üblich aus Gesang und Gebet im Wechsel bestehende Andacht des Volkes betreuen. Diesmal werden die Türen zur Anastasis nicht vor dem ersten Hahnenschrei aufgemacht, aber sobald dies Zeichen ertönt, öffnen sich alle Wege, und die hereinflutende Menge findet den Bischof bereits in der hell erleuchteten Anastasis thronend. Dreimal folgen einander die Rezitation eines Psalms, die Antwortpsalmodie der Gemeinde, ein Gebet, und am Ende das Namengedenken. Und nun bringt man Räuchergeräte, und Weihrauchwolken entquellen der Grufthöhle und erfüllen das ganzeRund der Anastasis.DerBischof erhebt sich und liest aus dem Evangelienbuch die Auf erstehungsgeschichte vor, bei deren Beginn die ganze Volksmenge in laute und tränenreiche Klage über das Leiden Christi ausbricht. Dann folgt Prozession zum Kreuz, wo Gebet und Segen dieFeier schließen. Während der Bischof sich nun nach Hause begibt, und die meisten Laien seinem Beispiel folgen und sich noch eine Weile zur Ruhe legen, kehren die Eifrigen und vor allem sämtliche Mönche wieder zur Anastasis zurück und beten und singen dort unter Leitung von Priestern und Diakonen bis zum Anbruch des Tages. Bei Sonnenaufgang zieht alles in die große Basilika, wo nun der Hauptgottesdienst mit Meßopfer und Kommunion stattfindet: Er dauert drei bis vier Stunden, weil mehrere Presbyter und am Ende auch noch der Bischof predigen: das ist, wie wir wissen1, auch anderwärts im Orient üblich. Aber damit nicht genug: nach Beendigung dieser Feier geleiten die Mönche unter Gesang den Bischof mit einem Gefolge frommer Laien zur Anastasis, deren Türen sich diesmal nur den Getauften öffnen: und hier finden Dankgebet, allgemeines Kirchengebet und Segen statt und bilden den Abschluß der Sonntagsmesse, die sich auf diese Weis·*; bis gegen Mittag hinziehen kann. Am Spätnachmittag findet dann die Vesper wie alltäglich statt. Nach dieser Regel läuft das kirchliche Kultleben das ganze Jahr hindurch, nur die Festtage bringen eine Änderung hervor, ») s. o. S. 294.

Jerusalem: Sonntag. Fastenzeit. Gründonnerstag

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und unter diesen ist von stärkster Bedeutung das Osterfest. Sein Herannahen kündigt sich durch die große Fastenzeit an, die nach Matth. 4,2 vierzig Tage umfaßt: und da im Orient Samstag und Sonntag nicht gefastet werden darf, muß man schon acht Wochen vor Ostern beginnen, um die vorgeschriebene Zeit zu erreichen. Und unter Fasten versteht man hier völlige Enthaltung von allen üblichen Speisen, selbst Brot und Ol sind verboten: die Nahrung der Fastenden besteht in Mehlbrei und Wasser. Die Andachten in den Fastenwochen werden verstärkt, insofern auch vormittags um 9 Uhr Stundengebet gehalten wird und jeden Freitag sich an dieVesper eine bis zur nächsten Morgenfrühe ausgedehnte Nachtwache (Vigilia, Pannychis) anschließt. In der siebenten Woche wird am Nachmittag des Samstages eine Prozession nach Bethanien unternommen und das Gedächtnis des Lazarus und der Salbung des Herrn (Joh. 12) begangen. Dann hebt mit dem Palmsonntag die Karwoche an. An diesem Tage wird vom frühesten Nachmittag an auf dem ölberg gefeiert, und von 5 Uhr an bewegt sich dann die Palm- und Olivenzweige schwingende Prozession bergab und kommt beim Dunkeln zur Vesperfeier in die Anastasis. Der Gründonnerstag ist dadurch ausgezeichnet, daß am frühen Nachmittag von 2 bis 5 Uhr dreimal das Meßopfer dargebracht wird, erst in der Basilika, dann vor und hinter dem Kreuz, worauf alles Volk kommuniziert. Man begibt sich nach Hause und stärkt sioh dort für die bevorstehenden Anstrengungen. Denn um 7 Uhr beginnt die Nachtfeier in der Kirche auf dem ölberg. Hymnen und Antiphonen wechseln mit Gebeten und biblischen Lesungen bis gegen Mitternacht, dann zieht alles zum Himmelfahrtsplatz auf dem Gipfel und setzt dort die Andaoht „bis zum ersten Hahnenschrei" fort. Und nun werden mehr als zweihundert Kerzen angezündet, bei deren flackerndem Schein die singende und betende Gemeinde hinabsteigt zu den Olivenhainen von Gethsemane. Dort lauscht sie der Verlesung der biblischen Berichte vom Beten und Ringen des Herrn, vom Schlafen der Jünger und von dem Judaskuß und der Gefangennahme: und weit hinab bis in die Stadt hinein

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schallt das laute Wehklagen des Volkes. In langsamem Zuge geht es weiter, durch das Stadttor zur Grabeskirche und hin zum Kreuz. Es ist inzwischen hell geworden und müde Ohren nehmen als letzte Lektion den Bericht über das Verhör vor Pilatus entgegen. Dann mahnt der Bischof die Gemeinde zu unermüdlichem weiteren Ausharren in der Andachtsübung und entläßt sie zur häuslichen Ruhe. Es ist Karfreitag, und wer nicht auf dem ölberg war, hat wenigstens in der Zionskirche (bei der heutigen Dormitio Mariae) eine nächtliche Andacht vor der Säule der Geißelung Jesu verrichten können. Um 7 Uhr betritt der Bischof den großen Hof der Grabeskirche: sein Thron ist in dem Raum zwischen Kreuz und Basilika aufgestellt und ein Zug von Geistlichen legt auf den davor aufgebauten Altar das silberne Behältnis mit der Kreuzesreliquie. Es wird geöffnet, Holz und Inschrift erscheinen, und nun nimmt der Bischof das heilige Kreuz in seine Hände und das Volk zieht in langer Prozession vor dem Altar vorüber. Jeder einzelne kniet nieder und küßt die Reliquie — und die Diakone geben fleißig acht, daß keiner die Gelegenheit des Kusses benutzt, um ein Splitterchen von dem hochheiligen Holze abzubeißen und sich als wunderkräftiges Schutzmittel mit nach Hause zu nehmen. Darum ist auch nur Küssen erlaubt, aber das Berühren mit den Händen verboten. Nach dem Kreuz wird auch dem von einem Diakonen gehaltenen Ring Salomos und Salböl-Horn der israelitischen Könige Verehrung erwiesen. Bis Mittag dauert dieser Zug der Andächtigen, dann beginnt „vor dem Kreuz" das Passionsgedächtnis, die Verlesung des letzten Aktes der Leidensgeschichte, seiner alttestamentlichen Voraussage, seiner apostolischen Verkündigung, seiner Erzählung bei den vier Evangelisten: das Ganze umrahmt von Gebeten und den Gesängen, aber auch von dem lauten Weinen und Klagen des Volkes, das zum höchsten Jammer anschwillt, wenn um 3 Uhr das Wort des Evangelisten kündet: „Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied." Die Menge drängt sich nun in die große Kirche, wo Non und Vesper bis zum Abend

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Jerusalem: Karfreitag. Die Osternach»

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gehalten werden, und bei Einbruch der Nacht schließt in der Anastasis das Evangelium von der Grablegung den Trauertag der Christenheit. Die erschöpfte Volksmenge begibt sich heim, und nur die Stärkeren und Jüngeren aus den Laien und den Klerikern durchwachen auch diese Nacht wieder. Am Karsamstag richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Vorbereitung der Ostervigilie, während welcher die Taufe der angemeldeten und durch den Unterricht des Bischofs vorbereiteten Katechumenen stattfindet. Unsere Berichterstatterin begnügt sich hier mit der kurzen Bemerkung, daß dies alles in Jerusalem „wie bei uns" gehalten werde. Aber wir können die Lücke in ihrer Erzählung vollständig aus den Katechesen des Bischofs Kyrill 1 ergänzen. Die Täuflinge werden in die Vorhalle der Vaufkapelle geführt und mit dem Gesicht nach Westen, dem Lande der Finsternis, aufgestellt. Sie strecken die Hand aus und rufen dem Teufel zu „Ich sage dir ab, Satanas, und allen deinen Werken und allem deinem Troß und allem deinem Dienst". Und dann wenden sie sich dem Osten, dem Lande des Lichts, zu und bekennen: „Ich glaube an den Vater und an den Sohn und an den Heiligen Geist und an eine Taufe der Buße". Die Tür des Baptisteriums öffnet sich, und die Schar betritt den Innenraum. Sofort entkleiden sich alle und stehen nackt da „wie Adam im Paradiese, ohne sich zu schämen". Nun werden sie vom Kopf bis zu den Füßen gesalbt mit geweihtem öl, das die Kraft hat, alle Spuren der Sünden zu tilgen und alle unsichtbaren Angriffe des Bösen abzuwehren. Sie treten einzeln an die in den Boden eingetiefte Taufwanne heran, sprechen das Glaubensbekenntnis und werden dreimal untergetaucht — wie Christus drei Tage im Grabe lag — und tauchen wieder auf — wie Christus auferstand: das nachbildende Symbol ist heilbringende Wirklichkeit, sie sind zu einem neuen Leben wiedergeboren. Als Christus aus der Jordantaufe emporstieg, senkte sich vom Himmel der Heilige Geist auf ihn herab: so werden jetzt die „Neugeborenen" an Stirn, Ohren, Nase und Brust mit ») Cyrill Cat. myst. 1—4 vgl. Kl. Texte n. 5 S. 10—14. S. auch Bd. 2, 128.

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heiligem ö l gesalbt und dadurch mit dem Heiligen Geiste begabt: erst jetzt sind sie wirklich „Christen", das heißt Gesalbte. Sie legen weiße Kleider an und begeben sich mit dem Bischof zur Anastasis 1 , wo dieser für sie betet. Dann ziehen sie unter seiner Führung in die mit höchstem Schmuck strahlende Basilika ein, und der eucharistische Gottesdienst der Osternacht beginnt, an dem sie zum erstenmal auch als Abendmahlsgäste teilnehmen. In der Morgenfrühe des Ostersonntags ist wieder wie an allen Sonntagen Andacht in der Anastasis mit Verlesung des Auferstehungsevangeliums, diesmal mit nachfolgendem eucharistischen Opfer: aber die Feier wird abgekürzt, damit das übernächtige Volk bald entlassen werden kann. Wenn es sich aus den Toren der Kirche in die Straßen ergießt, ist der kirchliche Teil des Osterfestes beendet — und damit auch das Fasten. Die Freude des natürlichen und ausgehungerten Menschen an Essen und Trinken tritt — damals wie heute noch in der Ostkirche — in ihre anerkannten Rechte. Das Osterfasten beginnt in dieser Zeit eine immer bedeutsamer werdende Rolle im kirchlichen Leben zu spielen. Ursprünglich wurde nur am Karsamstag gefastet nach der Vorschrift des Evangeliums (Matth. 9, 15), denn das war der Tag, wo „der Bräutigam von ihnen genommen war", und diese Sitte hat sich lange gehalten. Dann nahm man noch den Trauertag des Karfreitag, der ja ohnehin Wochenfasttag war, dazu und fastete zwei Tage vor Ostern*. Andere gingen weiter und nahmen noch mehr Tage hinzu; ein vierzigstündiges, also Gründonnerstag gegen Mittag beginnendes und „zum Hahnenschrei" in der Osternacht endendes Fasten wird uns auch bezeugt. Im Laufe des dritten Jahrhunderts wird es in Syrien und in Ägypten Sitte, die ganze Karwoche hindurch zu fasten*, und ') Dies wieder nach Aetheria peregr.· 38. *) TertulL de ieiun. 2. 13 p. 275,17—19 291, 16 (Reifferscheid). Irenaeus bei Euseb, KG 5, 24, 12. Epiphan. haer. 50,1, 5 2, 4. Hippolyt. KO c. 55 p. 115 Funk. Dionys. Alex, epist. ad Basilid. p. 102, 8 Feltoe. *) Didascalia c. 21 p. 111, 31 bis 35 Achelis=Const, ap. 5,18. Dionys. Alex, epist. ad Basilid. p. 101, 9 Feltoe. Dazu E. Schwartz, Christi, u. jüd. Ostertafeln S. 113—115. K. Holl, Ges. Schriften 2, 373—376.

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Das Osterfasten

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noch Athanasius hält es in den ersten Jahren seiner Regierung nicht anders. Aber als Verbannter in Trier lernt er die abendländische Sitte eines vierzigtägigen Osterfastens kennen und führt sie im Jahre 337 in Ägypten ein: die uns erhaltenen österlichen Hirtenbriefe lassen uns die Zeit mit Genauigkeit festlegen, und wir haben zum Oberfluß noch dasSchreiben erhalten, in demAthanasius seinenFreund Serapion vonThmui's bittet, für die Einführung dieser neuen Fastensitte persönlich wirken zu wollen. Aus den mitgeteiltenDaten ersehen wir, daß die Fastenzeit j eweils am Montag nach dem sechsten Sonntag vor Ostern (Invokavit) begann, also sechs Wochen zu je sechs Fasttagen umfaßte — sonntags darf nicht gefastet werden — und somit zwar nicht genau auf vierzig, sondern nur auf sechsunddreißig Fasttage kam. Aber wenn man die vier Sonntage in die Bußzeit einrechnete, ergab sich sogar eine Gesamtdauer der Vorbereitung von 41 Tagen1. So ist die „Zeit der 40 Tage" (Tessarakoste, Quadragesima) dem vierten Jahrhundert ein geläufiger Begriff, der uns schon auf dem Konzil von Nicaea (can. 5) und bei Eusebius begegnet und danach an verschiedenen Orten erscheint: so in Jerusalem 1 gegen die Mitte des Jahrhunderts: und diese Zeit umfaßt sechs Wochen, in denen die Karwoche Inbegriffen ist. Aber im Orient regte sich Widerstand gegen alles Samstagfasten in dem gleichen Maße, wie dieser Tag als biblischer Sabbath dem Sonntag angeglichen wurde, und so wurde auch das Fasten in der Quadragesima auf fünf Wochentage beschränkt. Aber der Name der „Zeit der 40 Tage" haftete bereits fest an einer sechswöchigen Periode. Man fastete also sechs Wochen zu fünf Fasttagen und nannte dieseZeit die „Quadragesima", obwohl sie jetzt nur noch 30 Fasttage umfaßte; dazu fügte man die Karwoche mit ihren sechs Fasttagen—denn Karsamstag wird überall und unbestritten gefastet — so daß nunmehr in sieben Wochen das gleiche Ergebnis von sechsunddreißig Fasttagen erzielt wurde, wie anderswo, und vor allem im Abendlande, in sechs. i) Zuletzt E. Schwartz, ZNW 34 (1935), 129—137. Äthan. Festbriefe p. 127 Larsow. *) Euseb de paschate 4 bei Migne Patr. gr. 24, 697c Cyrill. Procatech. 4 Cat. ill. 4,3 vgl. 18,32. conc.Laod. can.45.49-52.

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11. Der Kultus

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Diese siebenwöchige Vorbereitung auf Ostern finden wir in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts im antiochenischbyzantinischen Gebiet und in Kappadokien1. Wir haben bereits von der Pilgerin Aetheria vernommen, daß die JerusalemerKirche strenger war und im ganzen acht Wochen fastete, um wirklich auf vierzig Tage zu kommen — wozu dann der Karsamstag als einundvierzigster noch hinzutrat. Und in Cypern hat Bischof Epiphanius, der gegen das Samstagsfasten nichts einzuwenden hatte, zwar nur sieben Wochen fasten lassen, aber bei sechs Wochentagen schließlich zweiundvierzig Fasttage erzielt1. Anderswo war man nachsichtiger und fastete nur drei Wochen, oder behandelte jedenfalls nur die letzten drei Wochen vor Ostern mit ganzer Strenge. Es hat da noch lange große Unterschiede gegeben*, sowohl im Osten wie im Abendlande, über das wir kaum etwas Genaueres wissen. Und zu den Differenzen in der Zeit kommen noch die in der Art des Fastens hinzu. Die ganze Härte der Jerusalemer Mönchsdisziplin4 wird nur selten auferlegt worden sein. Vielfach wurde der Genuß von Früchten und Eiern gestattet, an manchen Orten durfte man auch Fische, ja sogar Geflügel essen: nur Fleisch war überall und unbedingt verboten. Und es wird damals so gewesen sein wie heute, daß nämlich der Orient das Abendland an Strenge übertraf. Diese österliche Fastenzeit ist zugleich aber auch die beliebteste Predigtzeit gewesen. Nicht nur, daß in den Morgenstunden der Bischof seine Katechumenen unterwies, wobei es jedem Getauften freistand, in die Kirche zu kommen und den Lehrvorträgen zuzuhören, auch in der abendlichen Zeit, also den Vesperfeiern wurden gern Reihenpredigten gehalten, die das Volk um die Katheder beliebter Redner versammelte. Aus Antiochia sind uns mehrere Predigtfolgen des großen Johannes Chrysostomus erhalten aus der Fastenzeit, die sich sämt') Joh. Chrys. hom. 30, 1 in Genes. (4, 293 f.). Const, ap. 5,13 Ps.Ignat. ad Philip. 13, 3 Basil, hom. 14, 1 in ebriosos (2, 122 e). S. auch o. S. 304 f. *) s. o. S. 312 f. Epiph. de fide 22, 9 (3, 523) und dazu K. Holl, Ges. Schriften 2, 370—377. Zum Ganzen F. X. Funk, Kirchengeschichtl. Abhandl. u. Untersuchungen 1 (1897), 241—278. ») Socrates 5, 22, 32 bis 41.