Das verlorene Selbst: Eine Interpretation zu Sören Kierkegaards Schrift »Die Krankheit zum Tode« 9783666564475, 9783525564479, 9783647564470

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Das verlorene Selbst: Eine Interpretation zu Sören Kierkegaards Schrift »Die Krankheit zum Tode«
 9783666564475, 9783525564479, 9783647564470

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie

Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Christiane Tietz Band 140

Jürgen Boomgaarden

Das verlorene Selbst Eine Interpretation zu Søren Kierkegaards Schrift »Die Krankheit zum Tode«

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0429-162X ISBN 978-3-525-56447-9 ISBN 978-3-647-56447-0 (E-Book) ISBN 978-3-666-56447-5 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Edvard Munch: Der Weg des Todes 1890, India ink, 224 x 178 mm, Munch Museum, Oslo, MM T 250-recto, Ó Munch Museum / Munch-Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2014, Photo Ó Munch Museum.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Interpretationen zur »Krankheit zum Tode« von M. Theunissen und J. Ringleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die »Krankheit zum Tode« im Rahmen des Gesamtwerkes Kierkegaards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bedeutung der Verzweiflung in »Entweder – Oder« im Vergleich zur »Krankheit zum Tode« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorbemerkungen zur eigenen Interpretation . . . . . . . . . . . . . 5. Der Aufbau der »Krankheit zum Tode« . . . . . . . . . . . . . . . .

19 19 22 28 33 37

1. Teil Der Begriff der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Kapitel: Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verhältnis zwischen zweien . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis zum Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kapitel: Die Struktur der Verzweiflung . . . . . . . . . . . 1. Die Begründung zweier Verzweiflungsformen aus dem Setzungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relationale Bestimmungen der Verzweiflung . . . . . . . a) Die Relation von Missverhältnis und Verhältnis in der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Relation von Möglichkeit und Wirklichkeit in der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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3. Kapitel: Die Gestalt der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verzweiflungskrankheit im Horizont von Leben und Tod . . . . a) Der Tod im leiblich-seelischen und im geistigen Sinne . . . . . . b) Hoffnung und Hoffnungslosigkeit des Menschen . . . . . . . . . c) Ohnmacht und Macht in der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . d) Die Ambivalenz des Sterbens im geistigen Sinne . . . . . . . . . e) Der verzweifelte Umgang des Menschen mit seinem gebrochenen Selbstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Phänomenologie der Verzweiflungskrankheit . . . . . . . . . . . a) Die Bedeutung der Selbstaussage des Verzweifelten . . . . . . . . b) Die ärztliche Diagnose der Verzweiflungskrankheit . . . . . . . . c) Die Aufdeckung der Verzweiflungskrankheit . . . . . . . . . . . . d) Die Differenz der geistigen Struktur zum bloßen Leib-Seele-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Verzweiflungskrankheit im Vergleich zu leiblich-seelischer Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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c) Die synthetische Struktur der Verzweiflung . 3. Die Fortdauer der Verzweiflung . . . . . . . . . . 4. Die Verzweiflung über etwas und über sich selbst 5. Die ›Formel für alle Verzweiflung‹ . . . . . . . .

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4. Kapitel: Die Rettung aus der Verzweiflung . . . . . . . . . . . 1. Das Wesen des Glaubens angesichts der Verzweiflung . . . . a) Die Präfiguration des Glaubens durch den Gedanken der nichtigen Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der zum Äußersten gebrachte Mensch . . . . . . . . . . . c) Die Dialektik des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Glauben und Verstehen angesichts der Verzweiflung . . . . . a) Glauben als Aufgabe des Verstandes . . . . . . . . . . . . b) Die Verstandesleidenschaft im Glauben . . . . . . . . . . 3. Die göttliche Hilfe in der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . a) Gott als die umfassende Möglichkeit . . . . . . . . . . . . b) Die zweifache Art der göttlichen Hilfe . . . . . . . . . . . 4. Die strukturelle Auflösung der Verzweiflung . . . . . . . . . a) »Das Selbst ist Freiheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das mögliche Selbstsein in seiner synthetischen Struktur c) Die Konkretion der Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Dasein der Selbstgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9

Inhalt

2. Teil Die Formen der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kapitel: Die Verzweiflungsformen unter dem Gesichtspunkt ihrer synthetischen Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verzweiflung der Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Struktur der Verzweiflung der Unendlichkeit . . . . . . . . b) Die Phantasie und das Phantastische . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Schein des Phantastischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die phantastische Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Das akustische Motiv der Stille . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verzweiflung der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Endlichkeit als Inhaltslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Verlust der Ursprünglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zufälligkeit und Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verzweiflung der Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die in der Möglichkeit verzweifelte Selbstgestalt als Selbst jat± d}malim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die in der Möglichkeit verzweifelte Selbstgestalt in ihrem Verhältnis zur Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Spiegel der Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die beiden Grundarten der Verzweiflung der Möglichkeit . . . 4. Die Verzweiflung der Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Metapher der Vokale und Konsonanten . . . . . . . . . . . b) Die Verzweiflung der Notwendigkeit und die Zeit . . . . . . . . c) Die Verzweiflung im Sinne des Determinismus und Fatalismus d) Die Verzweiflung der Trivialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Spießbürger und die Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fatalismus / Determinismus und Spießbürgertum im Vergleich 5. Drei Charaktertypen der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kapitel: Die Verzweiflungsformen unter dem Gesichtspunkt ihrer Bewusstheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Differenzierungen des Bewusstseinsbegriffs . . . . . . . . . . . . a) Das gespaltene Bewusstsein in der Verzweiflung . . . . . . . . b) Das intendierte Missverständnis der bewussten Verzweiflung 2. Die Bestimmung der bewussten Verzweiflung durch den Negativitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Negativitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 b) Der rein dialektische und der ethisch-dialektische Sinn der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die graduelle Bestimmung der bewussten Verzweiflung . . . . . . . a) Der Zusammenhang der Vorstellung von der Verzweiflung und von sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die verschiedenen Grade des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . c) Der Bewusstseinszustand des ›Halb-Dunkel‹ . . . . . . . . . . . . d) Das Zusammenspiel von Erkenntnis und Wille im Verzweiflungsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Interpretation der Verzweiflungsformen unter den Aspekten der Stärke und Schwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Unterscheidung zwischen Anlass und Grund der Verzweiflung . 5. Der ›natürliche Mensch‹ und das Heidentum . . . . . . . . . . . . . a) Das Verständnis des natürlichen Menschen . . . . . . . . . . . . b) Das Heidentum in ästhetischer Perspektive . . . . . . . . . . . . c) Das Heidentum in ethischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 7. Kapitel: Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit . . . . . . . . . 1. Die Verzweiflung der reinen Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . a) Die Unmittelbarkeit des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sinnliche Beschränkung und eingebildete Größe im Glück . . . . c) Verzweiflung und Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Wesen des Unmittelbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Schicksalsschlag der ›zustoßenden‹ Verzweiflung . . . . . . . f) Die Verzweiflung ›im Rücken‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Der Verzweiflungszustand des ›Totstellens‹ . . . . . . . . . . . . h) Die Zeit nach dem Schicksalsschlag der Verzweiflung . . . . . . . i) Die Zuordnung zur übergeordneten Verzweiflungsform der Schwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion . . . . . . . . . a) Der Zwiespalt zwischen dunkler Selbstvorstellung und unmittelbarem Selbstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zeit ›nach‹ dem drohenden Bruch mit der Unmittelbarkeit . c) Die »blinde Tür« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Frage nach der Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die reflexiv-unmittelbare Verzweiflung im lebensgeschichtlichen Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der reflexiv-unmittelbar Verzweifelte und die Möglichkeit des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Inhalt

8. Kapitel: Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst . 1. Die Struktur der Verzweiflung am Ewigen . . . . . . . . . . . . . . . a) Die noch fehlende Totalitätsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . b) Der Fortschritt in der Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Bedeutung der Abstraktion seiner selbst für die höheren Verzweiflungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Wesen der Verzweiflung in der Verzweiflung am Ewigen . . . 2. Die Bedeutung von Schwachheit und Erleiden in der Verzweiflung am Ewigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verzweiflung der Schwäche und die Verzweiflung über seine Schwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis von Erleiden und Handeln . . . . . . . . . . . . . c) Das Beispiel des Erbschaftsfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verschlossenheit und Einsamkeit in der Verzweiflung am Ewigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Bedeutung der Verzweiflungsintensität für die Verschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die verschlossene Tür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Selbstverständnis des Verschlossenen . . . . . . . . . . . . . d) Das Bedürfnis nach Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Mögliche Mitwisser der Verschlossenheit? . . . . . . . . . . . . . 4. Die drei Möglichkeiten des am Ewigen Verzweifelnden . . . . . . . . a) Das ›Stehenbleiben‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Potenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Ausbruch in die Äußerlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Selbstmord als letzte Konsequenz der Verzweiflung am Ewigen . a) Die Konsequenz des Selbstmords beim absolut Verschlossenen . b) Die Konsequenz des Selbstmords beim nicht konsequent Verschlossenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Ausweg aus der Verzweiflung am Ewigen . . . . . . . . . . . . . 9. Kapitel: Die Verzweiflungsformen des Trotzes . . . . . . . . . . . . . 1. Die Struktur der Verzweiflung des Trotzes . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verzweiflung über die Schwäche im Vergleich zur Verzweiflung des Trotzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Nachahmung der Glaubenswahrheit . . . . . . . . . . . . . . c) Die versuchte Selbstkonstruktion ›im Anfang‹ . . . . . . . . . . . d) Die beiden Verzweiflungsformen innerhalb der Verzweiflung des Trotzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gestalt des trotzig Handelnden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Selbstentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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10. Kapitel: Die Verzweiflungsformen in ihrem Zusammenhang . . . . . 1. Das Verhältnis der strukturtheoretischen zur bewusstseinstheoretischen Darstellung der Verzweiflung . . . . . . . 2. Die Genese der Verzweiflungsformen, dargestellt am Verhältnis von Nichtselbstseinwollen und Selbstseinwollen . . . . . . . . . . . . . .

277

278

11. Kapitel: Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Mensch in der Verzweiflung . . . . . . . . 2. Die Frage nach sich selbst in der Verzweiflung 3. Die Verzweiflung als Heilmittel . . . . . . . . .

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Die Verzweiflung als Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293

12. Kapitel: Die Gottesbeziehung in der Sünde . . . . . . . . . . 1. Sünde als verfehltes Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Mensch als sein eigener Maßstab . . . . . . . . . . . . b) Die neue Qualität des ›Selbst‹ vor Gott . . . . . . . . . . . c) Die Potenzierung des ›Selbst‹ im Verhältnis zum Maßstab 2. Die Sünde als Ungehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Ungehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verzweifelte Geistigkeit und göttliche Geistigkeit . . . . . c) Die Definition der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sünde als Ärgernisnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Möglichkeit des Ärgernisses . . . . . . . . . . . . . . b) Die christologische Bedeutung des Ärgernisses . . . . . . c) Das Ärgernis als unglückliche Bewunderung . . . . . . .

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b) Das pervertierte Selbstsein jat± d}malim . . . . . c) Macht und Ohnmacht in der trotzigen Handlung d) Die eigene Verzauberung durch die Phantasie . . 3. Die Gestalt des trotzig Leidenden . . . . . . . . . . . a) Die Bedeutung des konkreten Nachteils . . . . . b) Die ›Übernahme‹ des konkreten Nachteils . . . . c) Der Anstoß am ›Pfahl im Fleisch‹ . . . . . . . . . d) Die Konkretion in der Verzweiflung . . . . . . . e) Die dämonische Qualität der Verzweiflung . . . . f) Die Verschlossenheit des trotzig Leidenden . . . g) Die Verzweiflung der Resignation . . . . . . . . . 4. Die Verfehlung der Daseinswirklichkeit . . . . . . .

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3. Teil

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13

Inhalt

d) Der Neid im Ärgernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Kapitel: Sünde als dogmatischer Begriff . . . . . . . . . . . . 1. Begreifen und Glauben angesichts der Sünde . . . . . . . . . a) Das Verhältnis zwischen Paradox, Glaube und Dogma . . b) Das Wesen des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die christliche Spekulation . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Nichtbegreifen als Wahrung des göttlichen Inkognito 2. Begreifen und Glauben der weggenommenen Sünde . . . . . a) Der relationale Positionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . b) Das doppelte Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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14. Kapitel: Die Formen der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontinuität und Konsequenz als Strukturmerkmale der höheren Sündenformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kontinuität der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Konsequenz der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Konsequenz der Sünde in ihrer dämonischen Qualität . . . . d) Die Umkehrung der Verzweiflungsbestimmung in der Sündenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Wille zur Sünde und die Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . 2. Die Sündenform, über die Sünde zu verzweifeln . . . . . . . . . . . a) Die ›Doppelzüngigkeit‹ des über seine Sünde verzweifelten Sünders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) »Das verzeihe ich mir nie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Sündenform, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln . . . a) Die Potenzierung zur Verzweiflung an der Vergebung der Sünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Potenzierung der Sünde durch die intensivere Vorstellung Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Ärgernis an Jesus Christus in der Verzweiflung an der Vergebung der Sünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die verschiedenen Formen des Ärgernisses . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenbetrachtung: Die Form der Sünde im Heidentum . . . . . . a) Die Unschuld der Heiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Sünde der Heiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Sündenform, das Christentum für Unwahrheit zu erklären . . . a) Die Potenzierung zur Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wahrer Gott und fehlerhafter Gott . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

c) Schwäche und Trotz in der Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Sünde wider den Heiligen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Kapitel: Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der sündige Mensch vor Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Begreifen der Sünde und das existentielle Sündenbewusstsein 3. Die Orientierung der Sündenformen am Trinitätsgedanken . . . .

366 368

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371 371 372 374

Skizze zu Struktur und Aufbau der Verzweiflungs- und Sündenformen .

377

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

379 379 380

Stellensynopse für ›Die Krankheit zum Tode‹ . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

393

Vorwort

Zu den anstößigsten Begriffen der christlichen Theologie gehört die Sünde. Steht im Zentrum der christlichen Theologie das Heil Gottes für den Menschen, so könnte es angesichts der evidenten Heilsbedürftigkeit dieser Welt naheliegen, auf eine besondere Sündenlehre zu verzichten. Was soll sie noch aufdecken, wenn soviel Leid, Schuld und Bosheit schon offen liegen? Soll der Mensch noch tiefer in Leid und Schuld hinabgedrückt werden? Es gehört zur Eigenart der christlichen Botschaft, dass das von ihr verkündete Heil wirkungslos zu verpuffen scheint, wo sie zur direkten Antwort auf die Heilsbedürftigkeit dieser Welt wird. Die Worte des Heils scheinen nicht erfüllen zu können, was sie versprechen. Der regelmäßige Anstieg des Interesses an der christlichen Religion nach Katastrophen und das ebenso regelmäßige Abebben einige Zeit später zeugen davon. Ein reflektiertes Sündenverständnis könnte dazu beitragen, von dieser heillosen Attraktivität der Heilsbotschaft wegzukommen. Das Bekenntnis der Sünde tritt gleichsam zwischen die Heilsbotschaft und die ›natürliche‹ Heilsbedürftigkeit des Menschen. Es entzieht das Heil dem direkten Zugriff des Menschen, aber öffnet ihn, das Heil zu empfangen. Wie lässt sich zwischen dem drängenden Befund menschlicher Not und Verzweiflung, dem Verständnis der Sünde und des Heils ein theologisch begründeter Zusammenhang für uns heute herstellen? Seine Relevanz hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, den modernen Menschen in seinem Selbstverständnis ernst zu nehmen. Auch wenn Kierkegaards Schriften vor über 150 Jahren verfasst wurden, ist in ihnen schon der Geist moderner Bürgerlichkeit zu spüren, der heute unsere westliche Gesellschaft auszeichnet. Mag ihre Christlichkeit und Beschaulichkeit gegenüber dem damaligen Dänemark merklich abgenommen haben, so ist doch die bei Kierkegaard mit philosophischem und psychologischem Scharfsinn gestellte Frage nach dem ›Selbst‹ eines jeden Menschen auch die unseres bürgerlichen Daseins. Kierkegaard hat sein Verständnis der Sünde vor allem in der Schrift »Die Krankheit zum Tode« (KT) entfaltet. Sie gehört sicher zu den bedeutendsten theologischen Schriften der Neuzeit und hat zudem noch weit in den Bereich der

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Vorwort

Philosophie und Psychologie hineingewirkt. Kierkegaards Interpretation des Sündenbegriffs durch eine Psychologie der Verzweiflung verleiht jenem sperrigen dogmatischen Terminus eine existentielle Wucht, der sich auch eineinhalb Jahrhunderte später ein interessierter Leser kaum entziehen kann. Kierkegaard entwindet das Thema der Sünde seinem theologischen Bezugsrahmen und stellt es an einen Schnittpunkt verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, aber auch literarischer und stilistischer Formen. In der KT kommen philosophische Spekulation, psychologische Analyse, theologische Dogmatik und Gesellschaftskritik in bunter Abfolge zusammen. Da wird streng axiomatisch formuliert, dann wieder gepredigt, werden Parabeln erzählt, wird gegen die Gesellschaft polemisiert und vieles mehr. Macht diese schillernde Vielfalt sicher auch den Reiz von Kierkegaards Schrift aus, so kann eine solche Uneinheitlichkeit doch zu der Annahme verführen, dass das Werk seinem Anspruch, Wissenschaftlichkeit mit ›Erbaulichkeit‹ zu verbinden, nicht gerecht zu werden vermag. Die Konsistenz der philosophischen Thesen scheint mangelhaft zu sein, die psychologischen Analysen durch theologische Vorgaben korrumpiert und die Theologie des Werks wiederum durch die Konzentration auf die ›Existenz‹ des Menschen ausgehöhlt. Kann man von einer Schrift, deren erbaulicher Charakter vom Autor in Abgrenzung gegenüber »einer bestimmten wissenschaftlichen Ferne vom Leben«1 betont wird, überhaupt strenge wissenschaftliche Konsistenz fordern? Im Rückblick auf die so vielfältigen historischen Rezeptionen Kierkegaards scheint eher ein allgemeiner Ruf zur ›Existenz‹ aufgenommen worden zu sein und nicht eine bestimmte Denkweise, geschweige denn ein Kierkegaard’sches ›System‹. Mag dies angesichts einer solchen Alternative der Intention des Dänen entsprochen zu haben, so wäre aber auch zu fragen, ob die zum großen Teil in philosophisch-theologischer Begriffssprache gefassten Aussagen Kierkegaards doch mehr sind als ein fehlerhaftes Gehäuse, in dem die kostbare existentielle Botschaft aufbewahrt ist. Vielmehr könnte erst die philosophisch-theologische Einkleidung des existentiellen Geistes diesem eine Bedeutung verleihen, mit der seine Wissenschaft und Leben erfüllende Wahrheit zu Tage tritt. Dass Kierkegaard seiner Schrift eine in hohem Maße stringente philosophisch-systematische Struktur zugrunde gelegt hat, aus deren Verständnis sich eine der Intention des Autors adäquate Interpretation von Verzweiflung und Sünde ergibt, wird die vorliegende Untersuchung zu zeigen versuchen. Mit ihrem systematischen Interesse schließt sie sich an einige neuere Inter1 Søren Kierkegaard, Sygdommen til Døden, SKS 11, 117 / Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, PhB 470, Hamburg 1995, S. 3, Zeile 19 (= 117 / 3,19). Zur Wahl dieser Übersetzung siehe die Bemerkungen im Literaturverzeichnis. Im Anschluss an das Literaturverzeichnis wurde eine Synopse zur Ausgabe der KT in den ›Gesammelten Werken‹ Abt. 24 erstellt.

Vorwort

17

pretationsversuche an, unter denen die des Philosophen Michael Theunissen und des Theologen Joachim Ringleben herausragen. Mit ihnen wird sich die vorliegende Interpretation immer wieder auseinandersetzen. Die Untersuchung verzichtet weitgehend auf eine Entfaltung historischer Perspektiven, sei es einer Betrachtung der KT innerhalb des Kierkegaard’schen Oeuvres oder sei es einer Aufarbeitung anderer Quellen, aus denen Gedanken für die Schrift geschöpft wurden.2 Wenn andere Schriften Kierkegaards hinzugezogen werden, dienen sie allein dem Zweck, die vorgelegte Interpretation der KT zu stützen oder zu vertiefen.3 Angesichts der Aufgabe, die mit dem grundlegenden Verständnis einer der wichtigsten Schriften Kierkegaards und sicher komplexesten Abhandlung über die Sünde innerhalb der evangelischen Theologie gestellt ist, scheint eine solche Beschränkung geraten zu sein. Kierkegaards hintergründige und doppeldeutige Thesen bedürfen einer sorgfältigen Interpretation, die zur eigenen Absicherung den ständigen Rückgriff auf andere Stellen der Schrift erfordert. So ist der Interpretationsaufwand immens, aber er wird belohnt mit einem Verständnis, das den Begriffen von Verzweiflung und Sünde eine nicht geahnte Tiefenstruktur verleiht. Allerdings wird dem Leser eine Interpretation zugemutet, die sich in einer relativ aufgeklärten Gesellschaft und besonders in einem wissenschaftlichen, von der Vernunft bestimmten Diskurs ungeheuerlich ausnimmt. [D]ie christliche Lehre von der Sünde besteht aus lauter Beleidigungen und Anzüglichkeiten gegen den Menschen, in Beschuldigungen über Beschuldigungen, sie ist die Klage, die sich das Göttliche als Ankläger gegen den Menschen zu erheben erlaubt (208 / 97,4–8).

In der KT werden Menschen vorgestellt, deren Verzweiflung zum Himmel schreit, die des dringenden Trostes bedürfen, und Kierkegaard scheint ihnen nicht mehr sagen zu wollen als ›Selbst schuld!‹ – dass darin die Lösung der Verzweiflung verborgen ist, kann die Anstößigkeit einer solchen Replik nicht schmälern. Aber nur so meint Kierkegaard den Leser im christlichen Sinne ›erbauen‹ und ›erwecken‹ zu können. Über dieses dringende Anliegen darf auch nicht die bewundernswerte ästhetische, spekulative und systematische Kraft hinwegtäuschen, die dem Werk auf nahezu jeder Seite abzuspüren ist. Deshalb bedeutet – selbstkritisch gesagt – die hier vorherrschende wissenschaftliche Betrachtung eine Verfälschung des Kierkegaard’schen Anliegens. 2 Zur Aufarbeitung anderer Quellen für KT siehe den Kommentar zu KT von Ringleben. 3 Es hat seine Berechtigung, wenn Romano Guardini KT zum eigentlichen Schlüssel des Kierkegaards Schaffens stilisiert (Ausgangspunkt, 54). Freilich hinkt die Metapher darin, dass Kierkegaards Schaffen eben kein System darstellt, dass sich durch Aufschlüsselung seiner Grundbegriffe im Kern erfassen ließe.

18

Vorwort

Das Bemühen, die Struktur der KT möglichst unter Einschluss aller Verzweiflungsformen aufzuhellen, verfällt dem gleichen Spott Kierkegaards, mit dem er jene Hegelianer bedenkt, die wie ihr Meister nur unter Schwierigkeiten China in den Ablauf des welthistorischen Prozesses unterbringen können.4 Die Beschäftigung mit Strukturfragen seiner Schrift könnte nur eine geistlos-verzweifelte sein, um sich ihrem wahren Anliegen nicht zu stellen. Fügten sich Kierkegaards Schriften schon damals nicht in die zeitgenössische Literatur, so auch nicht in die geisteswissenschaftliche Produktion unserer Tage. Eingedenk der Resistenz der KT gegen ihre wissenschaftliche und sonstige Aufbereitung ist auch dieser Versuch der Interpretation letztlich nur dadurch zu rechtfertigen, dass er vielleicht etwas zu dem ursprünglichen Ziel der Schrift Kierkegaards beizutragen vermag. Der Arbeit liegt der erste Teil meiner Habilitationsschrift zugrunde, die im Sommersemester 2004 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-SchillerUniversität Jena angenommen wurde. Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Martin Leiner, der das Erstgutachten erstellte und meine wissenschaftliche Arbeit nach Kräften gefördert hat. Ebenso danke ich Prof. Dr. Trowitzsch und Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Deuser, die das Zweit- bzw. Drittgutachten verfasst haben. Verschiedene Anregungen der Gutachter habe ich gerne aufgenommen und sind mit eigenen weiteren Überlegungen in die vorliegende Fassung eingeflossen. Ein besonderer Dank geht auch an Prof. Dr. Walter Dietz, der die Arbeit maßgeblich gefördert hat. Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar und Prof. Dr. Christiane Tietz danke ich für die Aufnahme der Studie in die ›Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie‹. Ebenso danke ich David Gippner und Harald Grauer für ihre Korrekturarbeiten. Der titelgebende Ausdruck des verlorenen Selbst findet seinen Anhalt im Werk Kierkegaards (148 / 30,8–14). Er steht dafür, dass der Mensch in der Heillosigkeit seiner Sünde nicht mehr er selbst ist. Aber Kierkegaard macht auch deutlich, dass Gott in seinem Heilshandeln den Menschen nicht verloren gehen lässt, sondern sein verlorenes Selbstsein aufsucht. Beides gibt der Sündenlehre eine unüberbietbare Innenspannung, die wohl nur unzureichend in einem systematischen Entwurf wiedergegeben werden kann. Denn: »Quis enim capiat, simul posse constare, ut salus in deo sit proxima et in nobis remotissima?«5

Koblenz, im Mai 2015 Jürgen Boomgaarden

4 SKS 7, 140 / AUN1, 140. 5 WA 5, 607, 2f.

Einleitung

1.

Die Interpretationen zur »Krankheit zum Tode« von M. Theunissen und J. Ringleben

Gegenüber einer früheren, oft mehr dem Geist als dem Buchstaben der Schriften Kierkegaards verpflichteten Rezeption sind in jüngerer Zeit bedeutende Versuche unternommen worden, Kierkegaards Schriften behutsam auszulegen und die Ergebnisse genau am Text auszuweisen. Konnte Walter Dietz noch 1993 eine »Rezeptionsflaute«1 des Kierkegaard’schen Werkes notieren, so hat sich dieser Befund in den darauf folgenden Jahren grundlegend verändert. Inzwischen sind zu fast allen wichtigen Schriften Kierkegaards grundlegende Monographien oder wegweisende Aufsätze erschienen. Diese akademische Kierkegaard-Renaissance schließt auch die KT ein, über die mehrere neuere Interpretationsvorschläge vorliegen.2 Zwei davon verdienen m. E. besondere Beachtung und werden auch in der hier vorliegenden Interpretation ständige Referenzen sein. Während andere Interpreten aufgrund einer thematischen Vorgabe die KT unter einem bestimmten Aspekt befragen, ist hier in beiden Fällen der Versuch unternommen worden, die ganze Schrift oder zumindest ihren ersten Abschnitt in ihren bzw. seinen Hauptaussagen und systematischen Linien unter Einbeziehung sorgfältiger Einzelexegesen zu erfassen.3 Dass es dabei nicht bloß um die 1 Dietz, Kierkegaard, 19. 2 Auswahlweise sei verwiesen auf Disse, Phänomenologie der Freiheitserfahrung, 114–125; Dietz, Kierkegaard, 90–156; Bösl, Unfreiheit und Selbstverfehlung, 171–231; Axt–Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 206–219; Tietz, Freiheit zu sich selbst, 11–123. Besonders zu erwähnen ist Kierkegaard Studies Yearbook, 1996, worin eine Diskussion um Grundbestimmungen der KT zwischen Theunissen, Hannay, Grøn, Deuser u. a. dokumentiert wird. Diese Diskussion wird in der folgenden Interpretation aufgegriffen werden. 3 Auch Christiane Tietz bietet in ihrem Werk Freiheit zu sich selbst, Göttingen 2005, eine weitgehende Interpretation der KT, die mir aber in ihrer Gesamtheit nicht zuletzt aufgrund ihrer darüber hinausgehenden systematischen Absicht, einen christlichen Begriff von Selbstannahme zu erstellen, nicht in gleichem Maße wie die Interpretationen von Ringleben und Theunissen für das Verständnis der Kierkegaard’schen Schrift bedeutsam erscheint.

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Einleitung

Klärung irgendwelcher Detailfragen geht, sondern das grundsätzliche Verständnis der Schrift berührt wird, ja das sich bei Kierkegaard aufgrund der besonderen Kompositionsweise seiner Schrift Detailfragen oft zu schweren Grundsatzproblemen auswachsen, wird an den divergierenden Interpretationen zu KT und damit der Verhältnisbestimmung von Verzweiflung und Sünde schnell deutlich. Zum einen ist Michael Theunissen zu erwähnen, der in seiner kleinen Schrift »Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard« (Frankfurt 1993) eine scharfsinnige Analyse des ersten Abschnitts der KT vorgelegt hat. Theunissens Ansatzpunkt ist eine sachgemäße Erhellung des Verzweiflungsphänomens, auf die hin er Kierkegaards Ausführungen kritisch prüft. »Die Rekonstruktion zielt vor allem darauf ab, Kierkegaards verdeckte Intentionen freizulegen und durch eine vorsichtige Korrektur seiner Begrifflichkeit eine rationale Auseinandersetzung mit seiner Verzweiflungsanalyse zu erleichtern.«4 Theunissen entfaltet ein alternatives Verständnis des Verzweiflungsbegriffs und bestreitet die Konsistenz der Kierkegaard’schen Aussagen in wesentlichen Punkten. Ein wichtiger Kritikpunkt Theunissens ist Kierkegaards Verhältnisbestimmung von verzweifeltem Selbstseinwollen und verzweifeltem Nichtselbstseinwollen, die sich nach KT aufeinander zurückführen lassen. Theunissen arbeitet eine ›eigentümliche‹ Asymmetrie zwischen beiden Formen heraus. Das verzweifelte Selbstseinwollen wird im Sinne eines Seinwollens dessen, was wir nicht sind, interpretiert. Dagegen lässt sich das Nichtselbstseinwollen in dem Sinne übersetzen, dass wir unter unserem Dasein leiden können, »ohne es durch ein fremdes zu überformen«.5 »Während also das verzweifelte Selbstseinwollen nicht ohne sein Gegenteil denkbar ist, kann das verzweifelte Nichtselbstseinwollen unabhängig von seinem Anderen vorkommen. Es stellt die ursprüngliche Form von Verzweiflung dar.«6 Theunissen meint des Weiteren, dass Kierkegaard seinen Durchgang durch die Bewusstseinsgestalten der Verzweiflung zwar an Hegels »Phänomenologie des Geistes« angelehnt habe, doch »[w]eil es ihm [sc. Kierkegaard] um die Freiheit des in den Prozess involvierten Subjekts zu tun ist, kündigt er den Automatismus auf, der bei Hegel das natürliche Bewußtsein zwangsläufig ins absolute Wissen aufhebt«.7 »[D]as von Kierkegaard begleitete Bewußtsein [steht] an mehreren Stationen seiner Reise vor Alternativen […] Ein Verzweifelter kann sich entweder progressiv oder regressiv weiterbewegen […]

4 5 6 7

Dennoch sind auch ihre Interpretationsvorschläge an entsprechender Stelle berücksichtigt und kommentiert worden. Theunissen, Begriff Verzweiflung, 14. Ebd., 28. Ebd. Ebd., 151. Zur Möglichkeit und den Problemen einer an Hegel angelehnten Interpretation siehe auch Hannay, Variety of Despair.

Interpretationen zur »Krankheit zum Tode« von Theunissen und Ringleben

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Allerdings deutet Kierkegaard außer den beiden Grundmöglichkeiten einer Vorwärtsbewegung und einer Rückwärtsbewegung noch eine dritte Möglichkeit an, nämlich, die aus der Bahn einer ständigen Potenzierung der Verzweiflung gleichsam seitwärts auszubrechen und den Sprung in den Glauben zu wagen.«8 Auch hier sieht Theunissen Kierkegaard nicht konsequent genug verfahren: »Der Seitensprung ist für den Verzweifelten selbst keine Möglichkeit, weil als ausgemacht gilt, was Kierkegaard ja auch klar genug ausspricht: Um zur Wahrheit zu gelangen, muß man durch alle Negativität hindurch.«9 Insofern bleibt für Theunissen hier noch ein »Rest von Automatismus«10, der das Bewusstsein nötigt, das ganze Pensum der Verzweiflungsformen zu durchlaufen. Neben dem ›transzendierenden‹ Interpretationsversuch Theunissens steht Joachim Ringlebens Buch »Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar« (Göttingen 1995). Im Unterschied zum Philosophen Theunissen bezieht der Theologe Ringleben den zweiten Abschnitt der KT, den Abschnitt über das Sündenverständnis, in seine Interpretation mit ein. Der Kommentar bietet ein eher affirmatives Verständnis der Kierkegaard’schen Schrift und formuliert nur an wenigen Stellen eine Kritik. Der Gesamtduktus seiner Interpretation zeichnet sich durch eine hegelianisierende Tendenz aus, welche die Hegelkritik und überhaupt die System- und Verstandeskritik Kierkegaards glättet oder als Missverständnis Hegels ansieht.11 Ein Grundgedanke der Interpretation Ringlebens ist das Verständnis der Verzweiflungsformen als eines eigenen Entwicklungszusammenhangs.12 Am Anfang steht das Selbst des Menschen, dem Ringleben eine Negativität eingestiftet sieht, die es in ständiger Bewegung auf sich und damit im ›Werden‹ hält. So gehören eine »strukturelle Unruhe und Mangelerfahrung«13 zum Selbst als Selbst. Es trägt die Frage nach ursprünglicher Einheit in seinem Sein und ist deshalb »ein krisenhaftes Sein, das so etwas wie Verzweiflung möglich macht«.14 In ihrer Entwicklung strebt die Abfolge der Verzweiflungsgestalten dann einem krisenhaften Kulminationspunkt zu, der »die äußerste Verschärfung und zugleich die höchste Möglichkeit restloser Überwindung«15 bedeutet. Als treibende Kraft in diesem Verzweiflungsprozess erkennt Ringleben das Ewige, die ewige Macht, die einerseits als das im Krankheitsprozess selber sich vollziehende Gericht in allen Verzweiflungsgestalten, aber auch andererseits als das 8 9 10 11 12 13 14 15

Ebd., 152f. Ebd., 154, Hervorhebung im Original. Ebd. Vgl. Ringleben, Aneignung. Ringleben, Kommentar, 129. Ebd. Ebd., 73. Ebd., 129.

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Einleitung

diese Täuschungen Abarbeitende verstanden wird. Der Prozess muss deshalb »zwingend und unaufhaltsam zur Selbsteinsicht der Krankheit« führen.16 Eine Eigenart der höchsten Verzweiflung des Trotzes ist ihre Aufhebung aller vorangegangenen Verzweiflungsgestalten in sich. Die in der Entwicklung der Verzweiflungsgestalten bisher verborgen gebliebene Kraft des Ewigen wird auf diesem Höhepunkt offenbar, und die Verzweiflung »ist endgültig erwacht zu ihrem krisenhaften Status als Auseinandersetzung mit dem Ewigen im Geist […] Verzweiflung weiß sich auf ihrem Gipfel nach ihrer Wahrheit und hält diese – anstatt sich vor ihr aufzulösen – verzweifelt durch: Widerstand des Geschöpfes zu sein gegen Gott.«17 Die Deutung der Verzweiflung als Sünde durch Kierkegaard im zweiten Abschnitt der KT wird als das ›letzte Resultat‹ und zugleich als ›Neueinsatz auf höherer Stufe‹ kommentiert. »Erst ihre Identifikation als Sünde gegen Gott macht die Verzweiflung vollständig durchsichtig – auch für sie selber […] Die Anthropologie wird also theologisch vollendet, indem sie ihrer letzten Wahrheit ansichtig wird.«18 Hier wird noch deutlicher, dass die Verzweiflung grundsätzlich in der Dialektik zwischen Sünde und Glaube zu deuten ist. Sie ist einerseits »tiefstes geistliches Elend«, andererseits als Weg in Richtung auf den Glauben zu deuten.19 Am Ende der ganzen Verzweiflungsabfolge kann der Mensch so zu der Einsicht gelangen, »dass Gott auch Verzweiflung und Sünde dazu gebrauchen kann, um zur Erkenntnis seiner zu führen«.20 Sowohl der Interpretationsversuch Theunissens als auch der Ringlebens haben neue Maßstäbe für das Verständnis der KT gesetzt. Aber ihre divergierenden Ergebnisse, die sich auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interpretationsansätze nicht harmonisieren lassen, sprechen für die Vieldeutigkeit und Schwierigkeit des Kierkegaard’schen Textes und lassen Raum für weitere Interpretationsversuche.

2.

Die »Krankheit zum Tode« im Rahmen des Gesamtwerkes Kierkegaards

Die vorliegende Interpretation der KT wird immer wieder auf andere Werke Kierkegaards verweisen. So wird sichtbar werden, dass sich in dieser kleinen Schrift zentrale Gedankenlinien der Philosophie und Theologie Kierkegaards bündeln. Ebenso sollen die Verweise die Interpretation selbst stützen. Manche 16 17 18 19 20

Ebd., 112. Ebd., 206. Ebd., 211. Ebd., 278. Ebd., 224.

Die »Krankheit zum Tode« im Rahmen des Gesamtwerkes Kierkegaards

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Stellen der KT erscheinen dem ersten Anschein nach rätselhaft oder vieldeutig und lassen sich erst durch weitere Stellen des Gesamtwerkes in ihrer Bedeutung aufhellen. Um den Leser eine Vorstellung der anderen Werke zu geben, die zur Interpretation der KT zu Rate gezogen wurden, soll im Folgenden ein kurze Information über diese gegeben werden. Dabei ist die Frage leitend, inwieweit sich von ihnen her gedankliche Verbindungslinien zu KT ziehen lassen. Søren Kierkegaard hat KT im März und April 1848 abgefasst. Ihre Veröffentlichung erfolgte am 28. Juni 1849. Kierkegaard nennt sich selbst als ihren Herausgeber und als Verfasser ›Anti-Climacus‹. Ihr gehen über zehn Jahre intensiven schriftstellerischen Schaffens voraus. Die Vorarbeiten zu seiner Dissertation »Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates« dürften bis in das Jahr 1837 zurückreichen.21 Nach einem Aufenthalt in Berlin, wo Kierkegaard sich nach hochgesteckten Erwartungen enttäuscht von der Philosophie Schellings abwandte, kehrte er nach Kopenhagen zurück und verfasste binnen eines Jahres seine große Schrift »Entweder – Oder«, die in ihrem ersten Teil dem romantischen Ästhetiker A gewidmet ist, der der Wirklichkeit ironisch gegenübersteht und sich seine eigene Welt der Vollkommenheit zu schaffen sucht. Der zweite Teil von EO soll die dem Ästhetiker A eigene Schwermut erklären. Das geschieht in der Form von Briefen, die ein gewisser Gerichtsrat Wilhelm, auch B genannt, an A gerichtet hat. Der Gerichtsrat weist auf die notwendige Entscheidung zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen hin. Allerdings modifiziert sich das titelgebende »Entweder – oder« im Ethischen zu einem ›Sowohl – als auch‹, weil im Ethischen das Dasein erst an Ästhetik eigentlich gewinnt.22 Auch wenn Kierkegaard seine Anschauung über das Ästhetische und Ethische bei Abfassung der KT schon längst gegenüber EO verändert hat, so sind doch dessen Motive auch dort noch zu greifen. Kierkegaard spricht in KT von dem ästhetischen Begriff der Geistlosigkeit (160 / 44,13ff) und führt im Kontrast dazu die ethisch-religiöse Bestimmung ein (160f / 44,31ff), durch welche die Verzweiflung des Menschen freigelegt wird. Die Verbindung des Ethischen mit dem Religiösen zeigt ein anderes Verständnis des Ethischen an, das in KT nicht als Lebensstrategie entfaltet wird, sondern zur Aufdeckung des wahren Zustands des Menschen dient. Die Bestimmungen des Ästhetischen und des Ethisch-Religiösen in ihrer Gegensätzlichkeit werden in KT besonders zur Bestimmung des ›Heidentums‹ angewandt und analysiert.

21 Schröer, Kierkegaard, 140. 22 Dietz, Kierkegaard, 218f hat einen Vergleich zwischen dem Ästhetiker und dem Ethiker in EO in Bezug auf die Freiheitsthematik zusammengestellt.

24

Einleitung

Eine nähere Betrachtung verdient der Verzweiflungsbegriff in EO, weil sich an ihm sehr gut der gedankliche Fortschritt hin zu KT aufzeigen lässt.23 Auf EO (1843) folgen im gleichen Jahr erscheinend die Schriften »Furcht und Zittern« und »Die Wiederholung«. Hier stehen nicht Gegensatz oder mögliche Einheit von Ethischem und Ästhetischem im Mittelpunkt, sondern es »wird die positive Begründung der Ausnahmeexistenz gesucht und die Eigenheit der religiösen Existenz mit Hilfe der Leidens- und Anfechtungsdimension analysiert«.24 Der Einzelne wird durch seinen Gottesbezug zum Selbst und ist darin als religiös zu verstehen. An Abraham und Hiob führt Kierkegaard vor, wie beide als gerechte Männer in ihrem Glauben angefochten werden, aber trotz allem Leid an Gott festhalten. Ihre Glaubenshaltung im Leiden zeichnet sie als religiöse Existenzen aus. Beide vertrauen allein auf Gottes Möglichkeiten und leben aus einem Glauben, der sich nicht aus eigener Kraft vollziehen lässt. Auch in KT wird der Glaube radikal an Gottes Möglichkeiten geknüpft und mit einer Leidsituation verbunden, wenn der Glaubende zugleich seines Untergangs gewahr wird (154f / 37,15ff). Der Glaube ist in KT für die Möglichkeit der Rettung aus der Verzweiflung entscheidend. Die Schrift »Die Wiederholung« zeigt am Beispiel eines sich verliebenden jungen Menschen, wie trotz ethischer Bemühung keine harmonische Einheit mit sich selbst erzielt wird. Sowohl »Furcht und Zittern« als auch »Die Wiederholung« bieten Beispiele dafür, dass ein Mensch nicht aus sich selbst oder einer ethischen Sollensanstrengung heraus das ›Gleichgewicht‹ in der ethischen Existenz erreichen kann. Wenn in KT der Mensch unter der Forderung, ein Selbst zu haben, gestellt ist (137 / 18,16–19), dann kann er diese Forderung ebenfalls nicht aus eigener Anstrengung erfüllen und durch sie ins ›Gleichgewicht‹ kommen, aber sie bringt ihn im Glauben in ein neues Verhältnis zu seiner Sünde, welche die Verzweiflung ist. Unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis erscheint 1844 das Werk »Der Begriff Angst« (BA). Der Autor sieht das ethische Scheitern des Menschen nicht nur als möglich, sondern als notwendig an. Die freie autonome Konstitution des Selbstseins aus einer vor-ethischen Unmittelbarkeit ist aufgrund der immanent unaufhebbaren Sünde des Menschen nicht möglich. Die zentrale Stellung des Sündenbegriffs in BA macht dieses Werk nicht zu einer dogmatischen Abhandlung, wie man meinen könnte. Vigilius versteht die Sünde als eine Bestimmung, die sich einer allgemeinen Definition in ihrem Wesen entzieht (SKS 4,329 / BA, 19,4f). Nur der je Einzelne weiß, was Sünde ist. Deshalb ist BA laut ihrem Untertitel eine psychologisch–hinweisende Erörterung. Diese Charakterisierung weist schon auf KT hin, die in ihrem Untertitel eine christlich-psy23 Zum Verzweiflungsbegriff in EO siehe nächstes Kapitel. 24 Dietz, Kierkegaard, 238.

Die »Krankheit zum Tode« im Rahmen des Gesamtwerkes Kierkegaards

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chologische Abhandlung genannt wird. Überhaupt finden sich viele Gedanken in BA, die in ähnlicher Weise auch in KT wiederkehren. Vigilius versteht den Menschen als eine Synthese des Seelischen und Leiblichen, deren beide Glieder sich im Dritten des Geistes vereinen (SKS 4,349 / BA, 44,5ff). Auch in KT wird der Mensch als eine Synthese von Leib und Seele begriffen. Zugleich wird er aber auch als Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit dargelegt, die als Dimensionen des Selbstverhältnisses zu verstehen sind, welches das Geistsein des Menschen auszeichnet. Vigilius denkt Leib, Seele und Geist mehr im Sinne einer Trichotomie – der Geist stört und erhält das Verhältnis zwischen Leib und Seele (SKS 4, 349 / BA, 44,13f) –, während Anti-Climacus den Geist konsequent als in sich durchsichtige Einheit von Verhältnissen auffasst, die von dem Leib-Seele-Verhältnis abzuheben sind.25 Der Begriff Angst fungiert in dem Werk als eine Zwischenbestimmung, die den Sündenfall zwar nicht erklärbar macht, aber doch die Bedingung seiner Möglichkeit aufzudecken hilft. Als Zwischenbestimmung steht die Angst zwischen einer noch unschuldigen Freiheit und einer zur Sünde sich neigenden, in sich verstrickten Freiheit. Aber die Angst ist es auch, die den Menschen zum christlichen Glauben führen kann. Sie weist den Menschen auf sein Versagen gegenüber der ethischen Forderung hin und damit auf seine Schuld. Wo der Mensch sich sein Versagen ganz zu eigen macht, eröffnet sich ihm im Glauben der Horizont der Versöhnung mit Gott (SKS 4, 454–461 / BA, 171–179). Man könnte geneigt sein, jene ›richtige Weise sich zu ängstigen‹ (SKS 4, 454 / BA, 171,12f) mit der Form der Verzweiflung in Verbindung zu setzen, die in KT dem Glauben zugeordnet ist. In dieser Verzweiflung verzweifelt man so, dass man durch die Verzweiflung hindurch im Glauben sich Gott anvertraut. Gewiss besteht hier eine Parallele zwischen der Bedeutung der Angst in BA und der Verzweiflung in KT. Allerdings ist in dem früheren Werk noch nicht die Komplexität der Glaubensbewegung in KT erreicht. In BA soll die Angst die Endlichkeit in ihrer Täuschung aufdecken und den Menschen nach seiner Unendlichkeit ›bilden‹ (SKS 4, 454f / BA, 171,30–172,10).26 In KT entfaltet Kierkegaard den Gedanken einer Verunendlichung und einer Verendlichung des Selbst, durch die der Mensch im Glauben zum wahren Selbst wird. Im selben Jahr wie BA erscheint unter dem Pseudonym Climacus die kleine Schrift »Philosophische Brocken«, die das immanent-ethische dem religiöschristlichen Existenzverständnis gegenüberstellt. Ersteres wird durch die Gestalt des Sokrates repräsentiert, nach dessen Lehre von der Wiedererinnerung 25 Zur unterschiedlichen Konstitution des Menschen in BA und KT siehe Dietz, Kierkegaard, 101, Anm. 33. 26 Vgl. dazu Bösch, Kierkegaard, 47–111.

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Einleitung

jeder Mensch durch sich selbst der Wahrheit der Ewigkeit ansichtig werden kann. Dagegen steht die christliche Lehre, die den Menschen durch eigene Schuld in die Unwahrheit gestellt und seine Versöhnung als Gottes Werk sieht, der selbst menschliche Gestalt annimmt. Im Sinne der sokratischen Mäeutik stellt sich Gott mit dem – lernenden – Menschen gleich und gebiert die Wahrheit, durch die der Mensch von seiner Unwahrheit erlöst wird. Die Deszendenz Gottes aus Liebe zum Menschen ist auch in KT ein wichtiger Gedanke (198f / 86,5–19). Das damit gegebene Paradox führt in den »Philosophischen Brocken« zu weiter reichenden Überlegungen über das Wesen des menschlichen Verstandes (SKS 4, 249f / PB, 43,31–45,22), die für das Verständnis der KT hilfreich sind. Im Jahr 1846 veröffentlicht Kierkegaard – ebenfalls unter dem Pseudonym Climacus – die »Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken«. Diese sehr umfangreiche Schrift wirft einerseits einen Blick zurück zu den bisherigen Formen der Existenz und bringt sie in eine äußerst differenzierte Ordnung. Andererseits weist sie mit ihrer Unterscheidung der Religiosität in die Formen A und B über die bisher erarbeiteten Existenzformen hinaus. In der Religiosität A hat der Mensch die ethische Sphäre verlassen und ist sich seiner Schuld in existentieller Weise bewusst. Diese Existenzinnerlichkeit ist darin unvollkommen, dass man sich noch der Teilhabe an der Wahrheit bewusst ist. Erst in der Religiosität B wird die Subjektivität des Menschen, die sein Existieren meint, als Unwahrheit verstanden. Dem Menschen ist nun von sich aus jeder Weg zur Wahrheit versperrt, und in dieser religiösen Haltung ist der Mensch im Glauben offen für den in die Zeitlichkeit gekommenen ewigen Gott. Für die Interpretation der KT sind die damit einhergehenden Ausführungen zur Struktur von Verstand und Wirklichkeit wichtig, mit denen Kierkegaard seine »Philosophischen Brocken« fortsetzt. Mit ihnen lässt sich Kierkegaards Verständnis des Sündenbegriffs besser erschließen. Die Erkenntnisse der »Nachschrift« bedeuten einen Einschnitt im persönlichen Existenzverständnis Kierkegaards und in der Auffassung seines bisherigen Werkes: »Sie [sc. die »Nachschrift«] bildet, um es noch einmal zu wiederholen, den Wendepunkt in der gesamten Wirksamkeit als Schriftsteller. Sie stellt das ›Fragmal‹ [sc. das Problem]: das Christ Werden. Nachdem sie vorerst die gesamte pseudonyme ästhetische Schriftstellerei in Beschlag genommen hat als Beschreibung des einen Weges, den man gehen muss um Christ zu werden: den zurück vom Ästhetischen zum Christ Werden hin: beschreibt sie selber den andern Weg: zurück vom System, vom Spekulativen usw. zum Christ Werden hin« (Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, SKS 16, 36 / SS, 49f; Hervorhebungen im Original). Ab diesem Zeitpunkt widmet sich Kierkegaard intensiv der Frage nach dem Werden eines Christen. Dabei versteht Kierkegaard ›Christwerden‹ in einer zweifachen Weise: »In der Christenheit – Christ werden ist entweder werden was

Die »Krankheit zum Tode« im Rahmen des Gesamtwerkes Kierkegaards

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man ist (die Innerlichkeit der Reflexion, oder die Reflexion der Verinnerlichung), oder es ist erst einmal aus einer Einbildung herausgerissen werden, was wiederum eine Bestimmung der Reflexion ist« (Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, SKS 16, 37 / SS, 50). Gerade der zweite Punkt stellt sich im weiteren Werk Kierkegaards als dringlich und entscheidend heraus. In KT ist mit dem Begriff der Verzweiflung eine Täuschung verbunden, an der der verzweifelte Mensch hartnäckig festhält und die ihm in der Christenheit das Christwerden versperrt. Die »Taten der Liebe« (1847) setzen das Thema des Christwerdens fort, indem zwischen einer menschlich-weltlichen Selbstliebe und einer in einem Sollensverhältnis zu Gott gründenden ›christlichen‹ Liebe unterschieden wird. Die Pflicht der Liebe hat nach Kierkegaard die »Veränderung der Ewigkeit erlitten« (SKS 9, 49 / LT, 49). Damit ist der Mensch vor der Verzweiflung gerettet und wird durch die Aufforderung ›Du sollst lieben‹ in Beziehung zu Gott und dem Nächsten gehalten. Ein weiteres wichtiges Werk zum Verständnis des Christwerdens und Christseins im Sinne Kierkegaards bilden die »Christlichen Reden« (1848). In fast allen Reden tauchen Gedanken auf, die auch in KT bedeutsam sind. Der Verlust des Ewigen, der ein wesentliches Merkmal der Verzweiflung in KT ist, wird in seiner Bedeutung für den Menschen bedacht (SKS 10, 144ff / CR, 142ff). Unter den Schriften Kierkegaards nach KT ragt die »Einübung in das Christentum« (1850) heraus. Kierkegaard gab sie wie KT unter dem Pseudonym AntiClimacus heraus. Im zweiten Teil dieser Schrift steht der Gedanke des Ärgernisses im Zentrum (SKS 12, 87ff / EC, 79ff), der auch in KT eine wichtige Rolle spielt. Durch den menschgewordenen Gott ist die Möglichkeit der Ärgernisnahme gegeben. Das Ärgernis kann sich besonders am göttlichen Anspruch Jesu oder an dessen kümmerlichen Menschsein entzünden. Die Deutung der Niedrigkeit Christi in der »Einübung« enthält mehrere wichtige Gesichtspunkte, die für ein weiterführendes Verständnis des zweiten Abschnitts der KT hilfreich sind (SKS 12, 132ff / EC, 130ff). Die »Einübung« besitzt eine besondere Bedeutung darin, dass sie die Christenheit ihrer Zeit in die Entscheidung rufen will, ob sie in ihrer Scheinchristlichkeit bleiben oder ihre Schuld vor Gott eingestehen will. Mit der Entscheidungsfrage sind die Weichen für Kierkegaards heftiger werdende Angriffe auf die bestehende Christenheit gestellt, die er dann in polemischer Weise in seiner Flugschrift »Der Augenblick« bis zu seinem Tod im Herbst 1855 fortsetzt.

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3.

Einleitung

Die Bedeutung der Verzweiflung in »Entweder – Oder« im Vergleich zur »Krankheit zum Tode«

Kierkegaard hat einen eigenen Verzweiflungsbegriff nicht erst in KT entwickelt, sondern ihm kommt schon vorher eine wichtige Bedeutung zu. Das Frühwerk EO setzt sich differenziert mit dem Wesen der Verzweiflung auseinander. Im zweiten Teil der Schrift entfaltet der Gerichtsrat Wilhelm seine Theorie des Ethischen.27 Als eine ›Theorie der Wahl‹ unternimmt sie »den Versuch, schrittweise die Bedingungen für eine Behebung defizitärer ästhetischer Existenzphänomene zu entfalten und das Ethische als Erfüllung dieser Bedingungen anzugeben«.28 In diesem Zusammenhang wird der Verzweiflungsbegriff eingebracht. Die Verzweiflung kündigt sich schon von selber im Leben eines der Unmittelbarkeit verhafteten, ästhetisch lebenden Menschen an. »Es kommt da im Leben des Menschen ein Augenblick, da die Unmittelbarkeit gleichsam reif geworden ist, und da der Geist eine höhere Form heischt, da er sich selber als Geist ergreifen will.«29 Das Ziel der sich ankündigenden Reifung ist die Bewusstwerdung des Menschen in seiner ›ewigen Gültigkeit‹, die er als Persönlichkeit besitzt. Diese Reifung geschieht nicht einfach von selbst, sondern setzt eine Wahl voraus. Wo ein Mensch sich gegen diese Entwicklung des Geistes sperrt, sündigt er. Wilhelm versteht Sünde in ihrem Wesen als die Weigerung, ›tief und innerlich zu wollen‹30. Sowohl jener, der die Reifung des Geistes wählt, als auch jener, der sich dagegen sperrt, verzweifelt in einer bestimmten Weise. Diese jeweilige Verzweiflung entsteht aber dann nicht erst, sondern kommt nur auf die eine oder andere Weise zum Vorschein, da »jegliche aesthetische Lebensanschauung Verzweiflung ist, und dass ein jeder, der aesthetisch lebt, verzweifelt ist, er wisse es nun oder wisse es nicht«.31 Welcher Art ist die Verzweiflung des Menschen, der sich gegen die Geistwerdung sperrt? Wilhelm identifiziert sie vor allem als Schwermut. Sie ist eigentlich eine Verzweiflung in Gedanken. »Dein Gedanke ist vorausgeeilt. Du hast durchschaut, daß alles eitel ist, aber du bist nicht weiter gekommen.«32 Der Mensch ist sich gedanklich voraus, er ›schwebt‹ beständig über sich selbst und

27 Kierkegaard hat das Werk unter dem Pseudonym ›Victor Eremita‹ verfasst, der als Herausgeber fungiert. Diese Pseudonymität ›verschachtelt‹ sich dann weiter in die Gestalten ›A‹, Gerichtsrat ›B‹, Ästhetiker und Verführer. Zum weiteren Verständnis von EO siehe Dunning, Dialectic of Inwardness, 32–140, und Harris, Between Nihilism and Faith. 28 Greve, Ethik, 79. 29 SKS 3, 183 / EO2, 201. 30 Ebd. 31 SKS 3, 186 / EO2, 205. 32 SKS 3, 188 / EO2, 207.

»Entweder – Oder« im Vergleich zur »Krankheit zum Tode«

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hat sich in das ›Nichts der Verzweiflung‹33 verflüchtigt. Einerseits ist er in seiner ästhetischen Lebensanschauung zu leichtsinnig, um in ethischem Sinne zu verzweifeln, andererseits ist er wiederum zu schwermütig, um von der Verzweiflung zu lassen. Dagegen steht die Forderung, dass der Mensch seine Verzweiflung nicht zurückhalten, sondern sie bewusst wählen soll. Damit verwirklicht er für sich die Form der Verzweiflung, die der Reifung des Geistes entspricht. In dieser Verzweiflung wählt der Mensch sich selbst in seiner Absolutheit, in seiner ewigen Bedeutung. Dieses Selbstsein versteht Wilhelm als den Inbegriff der Freiheit.34 Warum bedeutet diese Selbstwahl Verzweiflung? In dieser Verzweiflung verzweifelt der Mensch über alles Endliche einschließlich seiner selbst in seiner Endlichkeit und wählt zugleich sein absolutes Selbst. Dieser Umgang mit dem Endlichen unterscheidet die Verzweiflung der Selbstwahl von der Verzweiflung der Schwermut. Die ›endliche Verzweiflung‹, die den Schwermütigen quält, bedeutet eine Verhärtung, die ›absolute Verzweiflung‹ dagegen eine Verunendlichung.35 Wilhelm bezeichnet die endliche Verzweiflung auch als unfreie Verzweiflung36, weil die Endlichkeit gewählt wird, und das Verharren im Endlichen ist Unfreiheit. Der Mensch in der Selbstwahl wählt die Freiheit. Der Gegenstand der Wahl, man selbst, steht in einem besonderen Verhältnis zur Wahl: »Das was gewählt wird, ist nicht da und entsteht durch die Wahl; das, was gewählt wird, ist da, sonst wäre es keine Wahl.«37 Einerseits wird der Mensch erst durch diese Wahl er selbst, weil er in der Wahl seine Freiheit gewinnt, andererseits ist das Selbst dasjenige in seiner konkret menschlichen Ausformung, »kurz: es ist das ganze aesthetische Selbst, welches ethisch gewählt worden ist«.38 Die endlichen Bestimmtheiten werden nun nicht in einem bloß endlichen Sinne aufgefasst, sondern in unendlicher Weise durchdrungen. Man legt über die eigene Endlichkeit Rechenschaft vor Gott ab. Wilhelm greift deshalb auch den Ausdruck der Reue auf.39 Der Mensch ›reut sich zurück‹, bis er sich selbst findet in Gott.40 Die Reue steht in der Mitte der ethischen Existenz, die der zur Selbstwahl vorgestoßene Mensch führt. Sie ist »der Ausdruck dafür, daß das Böse mir wesentlich zugehört, und zugleich der Ausdruck dafür, daß es mir nicht wesentlich zuge-

33 34 35 36 37 38 39 40

SKS 3, 192 / EO2, 211. SKS 3, 205 / EO2, 227f. SKS 3, 212 / EO2, 235. SKS 3, 212 / EO2, 236. SKS 3, 207 / EO2, 229. SKS 3, 213 / EO2, 237. SKS 3, 207 / EO2, 230. Ebd.

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Einleitung

hört.«41 In der ethischen Existenz reut den Menschen das Böse und ›reut sich‹ damit aus dem Dasein ›hinaus‹ – in sein ewiges Selbst in Gott hinein. Das ewige Selbst »ist gleichsam außerhalb seiner«.42 Von dieser Verzweiflungsauffassung in EO lassen sich viele Perspektiven zu KTziehen. Eine Fülle von Motiven der späteren Schrift klingt schon im Frühwerk an. Die Unterscheidung zwischen der ›endlichen Verzweiflung‹, die den Menschen verhärtet, und einer ›absoluten Verzweiflung‹, die den Menschen zu sich selbst werden lässt, findet in KT trotz aller Abweichungen im einzelnen seine grundsätzliche Parallele in der Unterscheidung zwischen der Verzweiflung, mit der der Mensch sich gegen seine eigentliche Verzweiflung sperrt, und der Verzweiflung, die als erstes Moment des Glaubens an Gott anzusehen ist. Bei der letzten Form handelt es sich insofern um eine Wahl, als es »um das Ja der ganzen Persönlichkeit zum und beim Verzweifeln« geht (154 / 36, 24f). Auch die zentrale Bedeutung des Selbst im Sinne von Freiheit trifft für KT zu: »Das Selbst ist Freiheit« (145 / 26, 8). Ebenso ist die Reue in KTals ein konstitutives Moment der Wendung zu Gott und damit der Vergeistigung zu betrachten: »Soll aber die Reue zum Vorschein kommen, so müßte zuerst gründlich verzweifelt werden, so müßte das Geistes-Leben von Grund auf zum Durchbruch kommen« (174 / 60, 26–29).43 Doch die offensichtlichen Parallelen dürfen nicht den Blick auf wesentliche Unterschiede im Verständnis des Selbst und besonders in der Auffassung der Sünde und der damit verbundenen Bewertung der Verzweiflung verdecken. Gegenüber einer eher statischen Beschreibung in EO hat Kierkegaard in KT den Selbstbegriff im Sinne eines Verhaltens ausgelegt. Dass das Selbst in beiden Schriften als Freiheit gedeutet wird, impliziert wohl schon eine gewisse Dynamik, aber erst in KT gelingt es Kierkegaard, diese Freiheit im Sinne des Selbst in einem umfassenden Grundschema weiter auszulegen. Der Selbstbegriff wird in KTals ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, bestimmt (129 / 9,10f). Dem Selbstsein wohnt eine eigene Dynamik inne, die in den Bestimmungen des Frühwerks nur ansatzweise zu finden ist. Hier liegt die Betonung noch auf der ewigen Gültigkeit des Selbst und die Dynamik der Freiheit erwacht in der Wahl 41 SKS 3, 215 / EO2, 239. 42 SKS 3, 208 / EO2, 230. 43 Allerdings lassen sich gerade beim Reuebegriff entscheidende Weiterentwicklungen in Kierkegaards literarischem Werk feststellen. In BA wird der Reue an sich eine Vermittlung von Freiheit abgesprochen (Dunning, Dialectic of Inwardness, 157). Die von Wilhelm empfohlene Reue bleibt zudem abstrakt (Malantschuk, Stadien, 162). Die Unterschiede sind vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, dass in EO das Religiöse noch nicht als eigene Sphäre gegenüber dem Ethischen entwickelt ist. Zu einer positiven Würdigung des Reuebegriffs in EO kommt Dorothea Glöckner, weil die Reue sich dort in der Erfahrung der Liebe erfülle (Wiederholung, 94). Zur Bedeutung des Begriffes Reue im Werk Kierkegaards siehe auch Dietz, Kierkegaard, 213–216.

»Entweder – Oder« im Vergleich zur »Krankheit zum Tode«

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dieses Selbst. In KT hat Kierkegaard die Verhältnisbestimmung des Selbst mit dem Gottesverhältnis verschränkt. Das Selbstverhältnis verhält sich zu demjenigen, von dem das ganze Verhältnis gesetzt worden ist (129 / 9,29ff). In EO wird wohl eine Spannung zwischen dem Selbst des Menschen und seiner Gründung in Gott angedeutet, wenn das Selbst des Menschen sich »gleichsam außerhalb seiner«44 befindet, aber beides noch nicht in entsprechende Verhältnisbestimmungen gesetzt. Wählt der Mensch in EO nicht die Verzweiflung, durch die er sein ewiges Selbst erlangt, verharrt er in einer ›Verzweiflung der Gedanken‹, bei der schwermütig-passive Lebensbetrachtung und leidenschaftliche Ablenkung aufeinander folgen. Auch in KT sucht man in bestimmten Verzweiflungsformen die Zerstreuung oder verharrt in Schwermut, aber Kierkegaard eröffnet darüber hinaus eine ganze Reihe von Verzweiflungsformen, in denen die Betreffenden alle Kraft ihrer Verzweiflung widmen und sie beheben wollen.45 Sie kämpfen aufs Äußerste mit ihrer Verzweiflung und geraten doch immer tiefer in sie hinein. In diesen Formen sieht der Verzweifelnde dem Verzweifelnden, der durch seine Verzweiflung zum Glauben hindurchfindet, zum Verwechseln ähnlich und ist doch radikal von ihm unterschieden, weil er nicht wie dieser ganz in die Verzweiflung hineingeht, sondern sie nur loswerden will. Schon in EO weist Wilhelm für den Fall, dass jemand nicht in Zweifeln sich ergeht, aber dennoch verzweifelt sein kann, darauf hin, dass dieser »in tieferem Sinne die Verzweiflung nicht will«.46 Dieser Befund bestimmt auch durchgehend die höheren Verzweiflungsgestalten in KT. Alle diese Menschen wollen in tieferem Sinne nicht die Verzweiflung. Aber Kierkegaard-Anticlimacus beurteilt diesen Befund grundsätzlich anders als Wilhelm in EO.47 Wilhelm ist noch optimistisch, dass seine Zeit bald einen Fortschritt machen wird, was die Erkenntnis über das Wesen der Verzweiflung angeht. »Die Stunde ist wohl nicht sehr ferne, da man, vielleicht um recht teuren Preis, es erfahren wird, daß der wahre Ausgangspunkt für das Finden des Absoluten nicht Zweifel ist, sondern Verzweiflung.«48 Von diesem Optimismus fehlt in KT jede Spur – ganz im Ge-

44 SKS 3, 208 / EO2, 230. 45 Solche Formen hat Wilhelm noch nicht im Blick. »Dem Gerichtsrat fehlt der psychologische Blick in die Abgründe menschlicher Unfreiheit, um das Problematische seiner ethischen Lebensanschauung des absoluten Selbst zu erkennen« (Bösch, Kierkegaard, 249). 46 SKS 3, 204 / EO2, 226. 47 Zur Stellung Kierkegaards zum Gegensatz zwischen Ethiker und Ästhetiker sagt Dietz treffend: »Der Gegensatz von EO ist sicher auch sein eigener : In ihm selbst kämpft der Ästhetiker gegen den Ethiker und umgekehrt der Ethiker gegen den Ästhetiker« (Kierkegaard, 227, Hervorhebung im Original). 48 SKS 3, 205 / EO2, 227. Dietz betont die Naivität von Wilhelms Vertrauen in die grundlegende Güte des Menschen. »Schuld und Bosheit sind ihm nur relative, prinzipiell überwindbare

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Einleitung

genteil, das Leben der Menschen in der Christenheit ist so geistlos, dass man überhaupt keinen Ansatzpunkt mehr findet, »so wie wenn sich ein Wagenheber (und wie ein Wagenheber so ist die Erhebung durch das Christentum) nicht anbringen läßt, weil kein Boden da ist, sondern nur Moor und Moorgeflecht« (213f / 104, 12–15). Diese grundsätzlich andere Einschätzung in KT hat ihren Grund darin, dass der Widerwille gegen die Verzweiflung nun im Sinne eines Trotzes, einer Verstocktheit verstanden wird, die letztlich ewig sein will. Der Trotz bedeutet eine Potenzierung der Sünde, bei der eine Aufforderung zur Wahl, wie sie Wilhelm gibt, wirkungslos verpuffen muss.49 Das veränderte Sündenverständnis ist präzise in KT dokumentiert und wird vor allem in der Darlegung der höheren Sündenformen greifbar. »Die Sünde selbst bedeutet, daß man sich vom Guten losreißt, die Verzweiflung über die Sünde jedoch bedeutet, daß man sich ein zweites Mal losreißt« (221 / 113, 5ff). Damit hat man, wie Kierkegaard plastisch ausführt, »die Brücke hinter sich abgebrochen«, über die einen das Gute noch hätte nachfolgen können (221 / 113, 1–5). Man ist in seiner Sünde für das Gute unzugänglich. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zur Situation des Verzweifelten bei Wilhelm, der sich in seiner Sünde wohl vom Guten losgerissen hat, aber prinzipiell noch als empfänglich für das Gute beurteilt wird. Der über seine Sünde Verzweifelte in KT betrachtet Reue und Gnade nicht nur als nichtssagend, sondern als Feind. Die feindliche Haltung hat ihren Grund in der im Trotz veränderten Beziehung des Menschen zum Ewigen, zu Gott. Wilhelm verwendet für die Heilung des Ästhetikers von seiner Verzweiflung das Bild des Gebärens: »Du sollst lediglich Dich selbst gebären.«50 Er kann dieses Bild gebrauchen, weil er von der Vorstellung des Ewigen im Menschen ausgeht, dessen sich dieser in jenem ›Geburtsvorgang‹ bewusst wird – »die Persönlichkeit wird sich ihrer selbst bewußt werden in ihrer ewigen Gültigkeit«.51 Bei Kierkegaard-Anticlimacus ist es hingegen nicht so, dass der Sünder wie in EO nur den Augenblick der Geburt immerzu zurückhält und »fort und fort in den Wehen« bleibt,52 sondern er will

49

50 51 52

Beeinträchtigungen seines positiven Wirklichkeitsverständnisses« (Kierkegaard, 221, Anm. 62). Siehe auch Bösch, Kierkegaard, 250. Vgl. dazu Theunissen: »Auf dem Boden der Annahme, daß die Krankheit der Verzweiflung durch keine noch so große Anstrengung des Subjekts zu heilen sei, startet Kierkegaard in der Schrift von 1849 [sc. KT] geradezu eine Kampagne gegen die Therapie, die der Ethiker dem ästhetisch lebenden Adressaten seiner Briefe vorschlägt. Meint doch der Ethiker den Ästhetiker dadurch kurieren zu können, daß er ihm rät, die Verzweiflung, in der er sich befindet, auf die Spitze zu treiben. Die Empfehlung vertraut darauf, daß eine zugespitzte Verzweiflung in ihr Gegenteil umschlage, in das verzweiflungsfreie Selbstsein nach ethischen Grundsätzen« (Begriff Verzweiflung, 98). SKS 3, 198 / EO2, 219. SKS 3, 183 / EO2, 201. SKS 3, 198 / EO2, 219.

Vorbemerkungen zur eigenen Interpretation

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das Ewige in sich gänzlich loswerden. So ›wirft‹ er das Ewige jeden Augenblick von sich ab – aber gänzlich los wird er es dadurch nicht (133 / 13, 24–29). Dass Kierkegaard-Anticlimacus die Situation des Sünders in der Christenheit so anders als Wilhelm beurteilt, resultiert nicht zuletzt aus der grundlegenden Einbeziehung des Offenbarungsgedankens. Die Sünde kann nur aus der Offenbarung Gottes in Christus verstanden werden und entzündet sich auch an ihr. Die Menschen in der Christenheit – von den geistlosen bis zur den geistreichen – nehmen an dem Christusereignis Ärgernis, was die Verzweiflung in ihrem sündhaften Charakter auslöst. Bei Wilhelm ist die Schwermut als eine Sünde instar omnium anzusehen, weil in ihr der Mensch nicht tief und innerlich sein will.53 In KT wird noch weiter gefragt, warum der Mensch eigentlich nicht tief und innerlich im rechten Sinne sein will. Die Ursache dafür ist das Ärgernis an Christus, das als Konsequenz den Menschen in eine Distanz zu sich selbst bringt. Wie das zusammenhängt, wird eine der zentralen Fragen an KT sein.

4.

Vorbemerkungen zur eigenen Interpretation

Die große Schwierigkeit, das Verhältnis von Verzweiflung und Sünde in KT zu bestimmen, besteht darin, dass die für das Grundverständnis der Schrift wichtigen Absätze und einzelnen Sätze nahezu über den ganzen Text verstreut sind. Man stößt immer wieder auf neue Passagen, ja Gedankensplitter, in denen Grundlegendes in oft hochabstrakter und vieldeutiger Form geäußert wird. Schon Begriffe wie Selbst, Geist, Bewusstsein, Ewiges wecken wohl bestimmte Vorstellungen, aber bleiben in sich undifferenziert und diffus, wenn man sie nicht genauer definiert und ihnen einen bestimmten Ort in der Anthropologie Kierkegaards zuweist. Die Beweislast jeglicher Interpretation ist sehr groß, weil sie nur durch die Verknüpfung der einzelnen Vorstellungen und Begriffe zu einem kohärenten Zusammenhang oder durch den genauen Nachweis ihrer Unvereinbarkeit zu überzeugen vermag. Die folgende Interpretation versucht nachzuweisen, dass Kierkegaard in seiner »Buchstabenrechnung des Dialektischen«54 keine gravierenden Fehler unterlaufen sind, und präsentiert eine na53 SKS 3, 183 / EO2, 201. 54 SKS 20, 365 / KT, GW 24, 165. Kierkegaard äußert sich durchaus kritisch über sein Buch im ›Rapport betreffs der Krankheit zum Tode‹. Er sieht es als zu dialektisch und streng an, um auch rhetorisch wirken zu können, d. h. den Menschen zu erwecken und zu ergreifen. Doch dient ihm das Dialektische als Voraussetzung für das Rhetorische: »Die Sache ist die, bevor ich damit anfangen kann, das Rhetorische zu brauchen, muß mir das Dialektische stets ganz und gar geläufig sein, ich muß es zu vielen Malen durchgangen haben.« (Ebd.). Weiter heißt es dann im Hinblick auf KT: »Dies ist hier nicht der Fall gewesen« (Ebd.). Bedeutet Kierkegaards Urteil, dass ihm allein die »Geläufigkeit‹ im Umgang mit dem dialektischen Gedankengang fehlt oder ist dieser selbst noch nicht ausgereift? Die von Kierkegaard erhaltenen

34

Einleitung

hezu ungebrochene innere Logik der Verhältnisbestimmung von Verzweiflung und Sünde. Die Frage nach der Aufbaulogik der KT, nach der Entwicklung der einzelnen Verzweiflungsformen aus der anfänglichen anthropologischen Skizze und vor allem nach dem Verhältnis des ersten Abschnitts der KT zum zweiten, muss an zentraler Stelle jeder Interpretation stehen. Deshalb sind im Folgenden die Analysen unter Gesichtspunkten geordnet worden, die zentrale Sachverhalte der KT betreffen. So werden verschiedene wichtige Textabschnitte, die sich mit der Rettung aus der Verzweiflung beschäftigen, in einem Kapitel behandelt. Dennoch wird sich die Analyse weitgehend der Gedankenfolge des Textes anschließen. Die hier vorgestellte Interpretation weicht von der Theunissens als auch Ringlebens in entscheidenden Punkten ab, von denen einige kurz skizziert werden sollen. Theunissen behandelt Kierkegaards »Verzweiflungsanalyse wie ein Stück Philosophie, das man in gewissem Maße aus dem Ganzen herausbrechen kann«.55 In welchem Maße das möglich ist, wird wohl aus philosophischer Perspektive anders als aus theologischer beurteilt werden. Durch die Berücksichtigung der theologischen Dimension scheinen sich viele Sachprobleme der philosophischen Analyse zu lösen. Theunissens Plädoyer für das verzweifelte Nichtselbstseinwollen als die ursprüngliche Form der Verzweiflung56 ist dann nicht mehr überzeugend, wenn man im Kierkegaard’schen Sinne den ersten Abschnitt der KT im Horizont des zweiten liest. Der Verlust des Selbst durch die Sünde muss zu einem ebenso ursprünglich verzweifelten Selbstseinwollen führen. Damit weicht die im Folgenden versuchte Zuordnung des ersten zum zweiten Abschnitt auch von dem Vorschlag Ringlebens ab. Zwar konstatiert Ringleben wie andere Interpreten Parallelen zwischen den Verzweiflungs- und Sündenformen, aber die Verzweiflungsformen werden in einer linear zu nennenden Weise durch die Sündenformen fortgeschrieben, während hier hingegen eine verschränkte Zuordnung beider Formen vorgeführt wird.57 Sie allein scheint mir jene interpretatorische Aporie zu lösen, die höchste Verzweiflung am Ende des ersten Abschnitts noch irgendwie durch die Sünde steigern zu müssen, um die strukturelle Einheit der KT zu wahren. Im Zuge der hier vorgestellten GrundEntwürfe zum Anfang des Werks zeugen auf jeden Fall von einer intensiven Beschäftigung mit dessen logischer Grundstruktur. Seine Mühe sah er durch ein »vortreffliches Schema« belohnt, »welches jederzeit, wenn auch mehr versteckt, in Reden verwendet werden kann« (Ebd.). 55 Theunissen, Begriff Verzweiflung, 8. 56 Ebd., 28. 57 Siehe dazu die Skizze S. 377.

Vorbemerkungen zur eigenen Interpretation

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struktur der KT wird der Textabschnitt über das Ärgernis im Sinne einer unglücklichen Bewunderung Gottes nicht nur als eine »Beilage«, wie Kierkegaard dieses Kapitel betitelt hat, behandelt, sondern als eine Beschreibung, welche die Tiefenstruktur der KT in nuce enthält. Verändert sich von dieser strukturellen Neuinterpretation der Blick auf die einzelnen Verzweiflungsformen, so sind ebenso in dem einleitenden Abschnitt der Anthropologie neue Akzente zu setzen. Ringlebens Interpretation mittels der hegelianischen Denkfigur von Selbstsein und Anderssein scheint mir nicht haltbar. Kierkegaard entwickelt eine andere Logik für seine Anthropologie, die eine aus jener Denkfigur abgeleitete Bewegung durch den Widerspruch nicht in sich fasst. Daraus folgt konsequent, dass die fast durchgängig von den Interpreten angenommene ›natürliche‹ Aufgabe des Werdens, die dem Menschen gleichsam als Geschöpf mitgegeben sein soll, als ein Missverständnis des Kierkegaard’schen Textes aufgedeckt wird. Ebenso ist die Annahme eines vermeintlichen Werdens im Durchlauf der Verzweiflungsformen nicht haltbar. Kierkegaard bindet die Forderung des Werdens allein an den Menschen der Verzweiflung und schreibt ihre Einlösung allein dem Glauben zu. Die von Theunissen und Ringleben abweichende Interpretation der KT zentriert sich in der Verhältnisbestimmung von Verzweiflung und Sünde und will zu einem Neuverständnis der Theologie Kierkegaards beitragen. Trotz der hier hauptsächlich an Theunissen und Ringleben vorgetragenen Kritik ist mit Nachdruck auf die Darlegungen beider zu verweisen. Die im Folgenden überwiegend kritischen Anmerkungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Interpretationen wichtige Anregungen zu der hier vorliegenden gegeben haben und in vielen scharfsinnigen Einzelbeobachtungen und vor allem Hinweisen auf die Rezeption, aber auch auf die vorangehenden Traditionen der Kierkegaard’schen Gedanken, Maßgebliches geleistet haben. Ein Kierkegaards Sprachstil geschuldetes Problem jeglicher Interpretation der KT soll nicht unerwähnt bleiben. Bei Kierkegaard agiert nicht nur der Mensch, sondern auch das ›Selbst‹ und die Verzweiflung. Darüber hinaus ist noch das ›Selbst‹ mit ›sich selbst‹ beschäftigt. Diese eigenartige Stilistik hat Theunissens hartes Urteil herausgefordert: Die Lust an der Lektüre der Krankheit zum Tode wird vor allem dadurch beeinträchtigt, daß die Schrift in einer Sprache verfaßt ist, die ihren Gegenstand mystifiziert, indem sie an die Stelle der realen Subjekte zum einen das Selbst, zum anderen die Verzweiflung setzt. Beide Hypostasierungen haben stilistische Absurditäten zur Folge.58

Auch wenn man kein Urteil über die ästhetische Qualität des Kierkegaard’schen Stils fällen will, ist m. E. unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt der Kritik 58 Theunissen, Begriff Verzweiflung, 155.

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Einleitung

Theunissens grundsätzlich beizupflichten. Zwar sind einerseits inhaltliche Gründe für Kierkegaards Personifizierung von Selbst und Verzweiflung geltend zu machen. Denn der Mensch geht gerade seines eigentlichen Menschseins in der Verzweiflung verlustig und ist infolgedessen nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als ›Selbst jat± d}malim‹ (146 / 27,9) anzusprechen. Er ist in gewissem Sinn in sich ganz Verzweiflung, eine Karikatur eines Menschen, der nicht anders als ein Ausdruck von Verzweiflung zu bezeichnen ist. Die Verzweiflung ist das Wesen des sündigen Menschen und nicht etwas, das ihm nur akzidentiell anhängt. Nicht die Verzweiflung hängt an seinem Menschsein, sondern sein Menschsein an der Verzweiflung. Andererseits ist zu bedenken, dass die Personifizierung des Selbstbegriffs das Missverständnis einer dem Menschen innewohnenden Substanz fördert. Man erhält bisweilen den Eindruck, dass das ›Selbst‹ ein handelnder Kern im Menschen sei, zumal der Mensch in der Verzweiflung wie ›von selbst‹ gezwungen agiert. Auch die Rede vom ›Ewigen im Menschen‹ verführt zur Vorstellung einer ›Kernsubstanz‹ im Menschen. Dabei steht es außer frage, dass Kierkegaard seinen Selbstbegriff im Sinne einer Verhältnisbestimmung entworfen hat, durch die erst das Wesen des Menschen und der Verzweiflung gedeutet zu werden vermag. Angesichts dieser Sachlage wird im Folgenden eine Subjektivierung des Selbstbegriffs möglichst vermieden, auch wenn zur Verdeutlichung gelegentlich auf Kierkegaards Redeweise zurückgegriffen wird. Der Selbstbegriff ist im Sinne einer Selbststruktur zu verstehen, auch im Sinne einer Selbstgestalt, weil sich das ›Selbst‹ des Menschen in einem äußeren, freilich vieldeutigen Verhalten widerspiegelt, ebenso wie der Verlust des Selbst. Es handelt sich um ein ›Selbstsein‹ des Menschen, das nicht ein ontologisches Gegründetsein, sondern ein wesenhaftes ›Beziehungssein« bezeichnen soll, auch wenn das wahre Selbstsein zugleich das Gegründetsein in Gott impliziert. Zum Verständnis der KT ist es unerlässlich, die Wirkung ihrer Sätze auf den Leser mitzureflektieren. Es wird sich zeigen, dass viele begriffliche Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten der beabsichtigten Leserwirkung geschuldet sein dürften. So lässt sich die oft unklare Verwendung des Selbstbegriffs, bei der bisweilen offen bleibt, ob es sich um ein mögliches oder wirkliches Selbstsein handelt, auf die Intention des Autors zurückführen. Kierkegaard weckt in vielen Sätzen bestimmte Erwartungen beim Leser, die dann als Illusion entlarvt werden. Glaubt der Leser anfangs noch, er selbst zu sein, wird bei weiterer genauer Lektüre seine Enttäuschung Stück für Stück vom Autor vorangetrieben.

Der Aufbau der »Krankheit zum Tode«

5.

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Der Aufbau der »Krankheit zum Tode«

Kierkegaard hat seiner Schrift in zwei große Abschnitte und viele weitere Unterpunkte unterteilt. Einige Überschriften besitzen eine thesenartige Gestalt und geben schon Hinweise auf wichtige inhaltliche Entscheidungen. Im Folgenden soll anhand der Gliederung der Schrift ein erster Einblick in ihre Gedankenfolge gegeben werden. Die KT hat folgende übergeordnete Gliederung: 1. 2. 3. 4.

Vorwort Eingang Erster Abschnitt Zweiter Abschnitt

Kierkegaard beginnt mit einem »Vorwort«, in dem die Form der Untersuchung, ihre besondere Art der ›Erbaulichkeit‹ (117 / 3,34ff) vorgestellt wird. Er gibt den wichtigen Hinweis, dass die Verzweiflung in der ganzen Schrift nicht als Heilmittel, sondern als Krankheit zu deuten sei (118 / 4,17–25). Damit kündigt sich schon die ›Besorgtheit‹ (117 / 4,1) an, in der die ganze Schrift geschrieben worden ist. Im anschließenden »Eingang« unterstreicht Kierkegaard die christliche Sicht seines Buches mit einer Auslegung der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44) und setzt die Krankheit zum Tode (nach Joh 11,4: »Diese Krankheit ist nicht zum Tode«) in Beziehung zu Christ und Nicht–Christ. »Nur der Christ weiß, was unter der Krankheit zum Tode zu verstehen ist« (125 / 7,1f). Im folgenden ersten Abschnitt wird die Krankheit zum Tode als Verzweiflung enthüllt und in ihren Formen vorgestellt, während im zweiten Abschnitt die Krankheitsmetapher zurücktritt und die Verzweiflung als Sünde erläutert wird. Man könnte sagen, dass die Verzweiflung im ersten Abschnitt im Sinne einer allgemeinen Phänomenologie entfaltet wird, während der zweite Abschnitt die Verzweiflung unter theologisch-dogmatischen Gesichtspunkten abhandelt. Aber eine solche Bestimmung ist nur der Tendenz nach zutreffend. Der erste Abschnitt bringt auch theologische oder philosophische Einsichten, und der zweite Abschnitt enthält auch phänomenologische Betrachtungen. Handelt es sich bei den Überschriften der beiden Hauptabschnitte um echte Identitätsbestimmungen? Ist die Krankheit zum Tode mit der Verzweiflung und diese mit der Sünde identisch? Sicher ist die Krankheit zum Tode nur ein anderer Ausdruck für den Begriff Verzweiflung. Aber eine solche Gleichsetzung ist für die Begriffe Verzweiflung und Sünde nicht möglich. So heißt es dann auch im zweiten Abschnitt erläuternd: »[D]ie Sünde ist die Potenzierung der Verzweiflung« (191 / 77,7f). In welcher Weise dies zu verstehen ist und wie sich Sünde und Verzweiflung einander zuordnen, ist ein Hauptproblem der ganzen Schrift.

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Einleitung

Der erste Abschnitt ist in folgende drei Teile untergliedert: A. Daß die Verzweiflung die Krankheit zum Tode ist B. Die allgemeine Verbreitung dieser Krankheit (der Verzweiflung) C. Die Gestalten dieser Krankheit (der Verzweiflung)

In Teil A werden zentrale Aussagen über die Struktur der Verzweiflung getroffen. Die Struktur der Verzweiflung wird aus dem Wesen des Menschseins abgeleitet; es werden die Möglichkeit und Wirklichkeit von Verzweiflung erläutert und grundlegende Unterschiede wie die zwischen ›über etwas verzweifeln‹ und ›über sich selbst verzweifeln‹ besprochen. Teil A gliedert sich nochmals in drei Unterpunkte, von denen der erste, A, kurz erwähnt werden soll: A. Die Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann daher dreierlei bedeuten: sich verzweifelt nicht bewußt zu sein, dass man ein Selbst hat (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen; verzweifelt man selbst sein zu wollen (129 / 9,4–8)

Der erste Teilsatz »Die Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst« kündigt die elementaren anthropologischen Bestimmungen an, aus denen dann Formen der Verzweiflung abgeleitet werden. Die von Kierkegaard zuerst genannte Form »sich verzweifelt nicht bewußt zu sein, daß man ein Selbst hat (uneigentliche Verzweiflung)« wird nicht in den Ausführungen zu diesem Punkt erläutert. Nur wenn Kierkegaard davon redet, dass »ein Verzweifelter auf seine Verzweiflung, wie er meint, aufmerksam ist« (130 / 10,17f), mag angedeutet sein, dass viele Menschen wohl noch gar nicht auf ihre Verzweiflung aufmerksam geworden sind – bei ihnen ist die Verzweiflung noch in einem ›uneigentlichen‹ Status. Die anderen beiden in der Überschrift genannten Formen der Verzweiflung, »verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen« und »verzweifelt man selbst sein zu wollen«, sind die Formen eigentlicher Verzweiflung (130 / 10,2f), die aus den anthropologischen Bestimmungen abgeleitet werden. Aus ihnen entwickelt Kierkegaard im Verlauf des ersten Abschnitts seines Buches drei Typen der Verzweiflung, in denen sich der Mensch im grundsätzlichen Unterschied zu den uneigentlichen Verzweiflungstypen in seiner Verzweiflung bewusst ist, ein Selbst zu haben: – die Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst – die Verzweiflung des Trotzes in der Gestalt des handelnden Selbst – die Verzweiflung des Trotzes in der Gestalt des leidenden Selbst

Der zweite Abschnitt der KT ist nicht so durchstrukturiert wie der erste. Er unterteilt sich nicht in drei Hauptpunkte A, B und C, sondern in zwei Punkte und eine dazwischen geschobene »Beilage«:

Der Aufbau der »Krankheit zum Tode«

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A. Die Verzweiflung ist die Sünde Beilage zu A. Wird so aber nicht die Sünde in einem gewissen Sinne zu einer großen Seltenheit? (Die Moral) B. Die Fortsetzung der Sünde

Trotzdem ist eine gewisse Parallelität des zweiten Abschnitts zum ersten festzustellen. In Teil A des ersten Abschnitts werden die grundlegenden Strukturen dargelegt, welche die Verzweiflung als Krankheit zum Tode kennzeichnen. In Teil A des zweiten Abschnitts wird die grundlegende Struktur erläutert, welche die Verzweiflung als Sünde qualifiziert. Warum findet sich aber im zweiten Abschnitt kein dem ersten Abschnitt entsprechender Teil B wieder, der die allgemeine Verbreitung nun nicht der Verzweiflungskrankheit, sondern der Sünde aufzeigt? Kierkegaard hat dieses Thema in einer »Beilage« zu A untergebracht. Sie behandelt die Frage, inwiefern die Menschen in der Christenheit als Sünder bezeichnet werden können. Teil B »Die Fortsetzung der Sünde« nimmt in gewisser Weise die Stellung ein, die im ersten Abschnitt der Teil C »Die Gestalten dieser Krankheit« hat. Teil A und B des zweiten Abschnitts sind weiter unterteilt. Teil A gliedert sich in drei Kapitel, denen nach dem ersten Kapitel eine weitere »Beilage« eingeschoben ist: beilage. Daß die Definition der Sünde die Möglichkeit des Ärgernisses in sich schließt; eine allgemeine Bemerkung über das Ärgernis.

Die Beilage greift die theologische Bestimmung des Selbst auf. Was wie ein kleiner Exkurs anmutet, enthüllt sich bei näherem Hinsehen als eine zentrale Überlegung, die den Schlüssel für die Verhältnisbestimmung von Verzweiflung und Sünde bereithält. Die Auslegung des Ärgernisses als unglückliche Bewunderung wirft Licht auf die Relation von Selbst- und Gottesverhältnis in der Verzweiflung. Auch Teil B »Die Fortsetzung der Sünde« ist dreigeteilt. Dass hier eine Steigerung von Sündenformen intendiert ist, lässt sich schon an den Überschriften ablesen: A. Die Sünde, über seine Sünde zu verzweifeln B. Die Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln (Ärgernis) C. Die Sünde, das Christentum modo ponendo aufzugeben, es für Unwahrheit zu erklären

Wenn sich in diesen Formen laut übergeordneter Überschrift die Sünde fortsetzt, dann sind damit Formen potenzierter Sünde gemeint. Auffälligerweise hat Kierkegaard bei der zweiten Sündenform noch den Ärgernisbegriff in Klammern hinzugefügt. Es wird aber bei der Lektüre sofort klar, dass auch die anderen Sündenarten Formen der Ärgernisnahme sind. Doch die besondere

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Einleitung

Auszeichnung der zweiten Sündenart als Ärgernis wird plausibler, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Vergebung der Sünden durch Christus erfolgt, der auch in der »Beilage« zum ersten Kapitel in Teil A als Ursache der Ärgernisnahme expliziert wird. Wenn man noch bedenkt, dass die folgende Sündenform als ›Sünde gegen den Heiligen Geist‹ erläutert wird, dann könnte sich eine trinitarische Differenzierung des Sündenbegriffs andeuten. Eine solche Aufstellung der Sündenformen muss aber genau am Text ausgewiesen werden. Für die Systematik der KT ist auffällig, dass es eine Dreiteilung sowohl der höheren Sündenformen als auch der höheren Verzweiflungsformen gibt. Lassen sie sich wechselseitig aufeinander beziehen? Es ist eine der Hauptthesen dieser Arbeit, dass die Sünden- und Verzweiflungsformen einander zugeordnet sind und jeweils das Gottes- und das Selbstverhältnis des Sünders bzw. des Verzweifelten darstellen.59

59 Die jeweils genaue Zuordnung wird im 14. Kapitel dieser Arbeit durchgeführt. Einen Überblick gibt die Skizze S. 377.

1. Teil

Der Begriff der Verzweiflung

Welche Struktur und Gestalt hat Verzweiflung? Kierkegaard gibt im ersten Abschnitt der KT darüber Auskunft. Die gedrängte Form, in der er dies tut, verlangt eine sehr nah am Text entlang gehende Analyse. Im Folgenden soll zuerst die Struktur der Verzweiflung in ihren vielfältigen Relationen dargestellt werden. Danach ist unter Aufnahme der Krankheitsmetapher ihre Stellung zwischen Leben und Tod zu erläutern. Im Anschluss daran werden Kierkegaards Aussagen zur Rettung aus der Verzweiflung näher betrachtet. Diese tragen zum Verständnis des Verzweiflungsbegriffs bei, weil sie zeigen, wie die in sich ausweglose Struktur der Verzweiflung von einer anderen Perspektive her doch zu durchbrechen ist. Kierkegaard hat in KT seine Analyse des Verzweiflungsphänomens in eine differenzierte Anthropologie eingebettet, die er zu Anfang des ersten Abschnitts in äußerst gedrängter Form und mehrdeutigen Bestimmungen umreißt. Für wesentliche Begriffe bleibt Kierkegaard eine schärfere Definition schuldig. Auf die Abhängigkeit vieler Begriffe vom Deutschen Idealismus ist immer wieder hingewiesen worden.1 Kierkegaard ordnet diese Begriffe in neuer Weise einander zu. Die Frage, in welchem Verhältnis das von Kierkegaard an den Anfang seiner Schrift gestellte Schema anthropologisch bedeutsamer Begriffe zu den im Folgenden ausgearbeiteten Verzweiflungsformen steht, wird für die Interpretation der gesamten Schrift entscheidend sein. Wenn Kierkegaard im Folgenden als Autor der Schrift genannt wird, so ist seine eigene Stellung zu seinem Werk mitzubedenken. Kierkegaard hat KTunter dem Pseudonym AntiClimacus veröffentlicht und nennt sich selbst als ihren Herausgeber. Climacus ist von Kierkegaard als Autorenname der »Philosophischen Brocken« und der »Nachschrift« ausgewählt worden. Der Name Climacus geht auf einen griechischen Einsiedler des 6. Jh. namens Johannes zurück, der ein Werk Paradiesesleiter verfasst und deshalb den Beinamen Climacus (jk_lan = Leiter) erhalten hat. In diesem Werk wird der geistliche Aufstieg 1 Siehe Hennigfeld / Stewart (Hg.), Kierkegaard und Schelling; Hühn, Kierkegaard und der Deutsche Idealismus; Hutter / Rasmussen (Hg.), Kierkegaard im Kontext des Deutschen Idealismus.

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Der Begriff der Verzweiflung

des Mönchs in dreißig Stufen – entsprechend der Lebensjahre Christi – beschrieben. Die Vorsilbe ›Anti-‹ im Pseudonym Anti-Climacus ist nicht als Widerrufung der unter Climacus geäußerten Position zu verstehen, sondern als Umkehrung der Blickrichtung (Anz, Selbstbewusstsein und Selbst, 49). Während Climacus mit seinen Gedanken sich auf das Christentum hinbewegt, aber sich selbst nicht als Christ bezeichnet, ist Anti-Climacus nach eigenem Selbstverständnis Christ. Zum Pseudonym Anti-Climacus geben die Tagebücher genauer Auskunft. »Das Pseudonym heißt: Johannes Anticlimacus im Gegensatz zu Climacus, der von sich sagte, er sei kein Christ; Anticlimacus ist der äußerste Gegensatz: Christ zu sein in außerordentlichem Maße – ich selber bringe es nur dahin, ganz einfältig ein Christ zu sein« (SKS 22, 128, NB11:204 / T 3, 256). Der Nachsatz deutet schon an, dass Kierkegaard sich selbst zwischen Climacus und Anti-Climacus einordnet. So heißt es dann auch an anderer Stelle in den Tagebüchern: »Ich habe mich höher bestimmt als Joh. Climacus, niedriger als Anticlimacus« (SKS 22, 130, NB11:209 / T 3, 257). Diese Einzeichnung der eigenen Person Kierkegaards zwischen Climacus und Anti-Climacus wirft Licht auf die systematische Bedeutung der beiden Pseudonyme. Sie bilden einen Spannungsbogen, der ein Werden beschreibt, wie es dem Christsein eigen ist. Nimmt man Climacus allein für sich, dann bleibt man mit dieser Position außerhalb des Christentums. Wenn man Anti-Climacus ganz ohne Climacus versteht, bedeutet sein außerordentliches Christsein sein Schuldigsein: »Dies bleibt seine persönliche Schuld, daß er sich selbst mit der Idealität verwechselt (das ist das Dämonische an ihm), aber seine Darstellung der Idealität kann völlig wahr sein, und ihr beuge ich mich« (SKS 22, 130, NB11:209 / T 3, 257). Wenn Kierkegaard für KT als Herausgeber auftritt und damit diese Schrift zu einer ›unecht‹ pseudonymen macht (vgl. KT, GW 24, X), dann nimmt er die Mittelstellung ein, die er oben in der Tagebuchnotiz beschrieben hat. Er steht in der Spannung zwischen dem ›Nicht-Christen‹ Climacus und dem außerordentlichen Christen Anti-Climacus. Kierkegaards Bestimmung des Christen zwischen Climacus und Anti-Climacus wird man am besten gemäß den Ausführungen Luthers zum Christsein im Werden zu deuten haben: »[Q]ui coepit esse Christianus, hoc restat, ut cogitet se nondum esse Christianum, sed querere, ut fiat Christianus […] Nam qui coepit, ille non putat se esse Christianum, sed valde cupit se fieri Christianum. Et quo magis proficit, hoc magis cupit fieri, et minus putat sese esse« (WA 38, 568,34f; 569,7–10).

1. Kapitel: Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

1.

Das Selbstverhältnis

Dass Verzweiflung primär ein menschliches Phänomen ist, mag unmittelbar einleuchten. So ist es ganz der Sache gemäß, dass Kierkegaard zuerst mit einer Analyse des Menschen beginnt. Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Der Geist ist das Selbst (129 / 9,9).

Diese Setzungen werden verständlicher, wenn man spätere Explikationen der Begriffe Geist und Selbst hinzunimmt. ›Reiner Geist‹ ist als »absolute Bewußtheit und Durchsichtigkeit« (157 / 40,21f) zu verstehen. Als absolute Bewusstheit wäre der Mensch sich seiner selbst gänzlich bewusst. Sich selbst durchsichtig wäre keine Dunkelheit, nichts Unbewusstes in ihm. Doch wie ist der Geistbegriff auf den Begriff des Selbst zu beziehen? ›Selbst‹ impliziert als Reflexivbestimmung ›Bewusstheit‹ und ›Durchsichtigkeit‹ als Merkmale des Geistes, weil man sich – eben als sich selbst, ›als Eigenstes‹ – durchschaut haben muss, um ›Selbst‹ zu sein. Kierkegaard hat in mehreren Anläufen sein Anfangsschema entwickelt (KT, GW 24, 166–170). Ob damit zugleich ›bestechende Klarheit‹ (Weisshaupt, Die Zeitlichkeit der Wahrheit, 108) erreicht wurde, scheint zweifelhaft. Weisshaupt interpretiert den Selbstbegriff, fußend auf Kierkegaards Satz ›das Selbst ist Reflexion‹ (147 / 28,10), zunächst dahingehend, »daß das Denken des Menschen rückbezüglich, reflexiv ist […] Als Geist ist der Mensch Reflexion auf sich« (Die Zeitlichkeit der Wahrheit, 109). Demgegenüber wird hier das Selbst, als welches sich der Mensch zu denken versucht, im Horizont des Selbst jat± d}malim verstanden werden, das mit der Explikation des Selbstbegriffs am Anfang der KT nicht gleichzusetzen ist. Das wahre Geistsein des Menschen wird von dessen Geistigkeit als denkendes Wesen abzuheben sein.

Kierkegaards anfängliche lapidare Auskunft könnte nahelegen, dass die Begriffe Geist und Selbst nahezu austauschbar sind. Wer ›Geist‹ hat, ist ›Selbst‹ und umgekehrt. Aber der weitere Text wird eine solch einfache Festlegung nicht zulassen. Die eben angeführten Merkmale des Geistes, Bewusstheit und

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Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

Durchsichtigkeit, sind Kierkegaards Definition des Teufels entnommen. Dieser Gestalt des Teufels gebührt das Maximum an Verzweiflung, dessen Wesen sich der auf dämonische Weise verzweifelte Mensch annähern wird. Nun gehört es aber zum Verständnis der Verzweiflung, dass in ihr »der Mensch sich nicht bewußt ist, als Geist bestimmt zu sein« (141 / 22,36f). Einerseits scheinen mit der Verzweiflung Geistigkeit und Bewusstheit zuzunehmen, andererseits soll mit der Verzweiflung konstitutiv eine Bewusstseinseinschränkung einhergehen. Wie passt das zusammen? Der offensichtliche Widerspruch lässt sich dadurch lösen, dass gefragt wird, in welcher Hinsicht von ›Geist‹ und dann auch von ›Selbst‹ gesprochen wird. Die Begriffe Durchsichtigkeit, Geist und Selbst lassen sich in verschiedener Hinsicht verstehen. Es könnte jemand mit ganzem Bewusstsein und insofern Durchsichtigkeit sich selbst zu etwas machen, was er selbst nicht ist. Er ist bewusst ein anderes ›Selbst‹, er versteht sich selbst in anderer Weise, als es ihm selbst eigentlich zukommt. Darin ist ihm sein eigentliches ›Selbst‹ verdunkelt, er ist sich nicht bewusst, als ›Geist‹ bestimmt zu sein; aber er ist eben nicht unbewusst, sondern ganz bewusst ein Anderer. Man könnte fragen, ob mit dieser Bewusstheit nicht auch die Bewusstheit des eigentlichen Selbstseins steigt. Denn um bewusst ein Anderer zu sein, muss man auch um seine eigentliche Selbstgestalt wissen, um sich von ihr absetzen zu können. In der Tat ist dieses eigentliche Selbstsein hier noch irgendwie präsent, sonst könnte der Betreffende auch nicht verzweifelt jemand Anderes sein wollen. Aber es ist dem verzweifelten Menschen nicht ›zusätzlich‹ bewusst, weil er sich eben mit seinem ganzen Bewusstsein von seinem eigentlichen Selbstsein abgesetzt hat. Es ist zu betonen, dass diese vorausgreifende Problematik in den ersten Sätzen der KT noch keine Rolle spielt. Kierkegaard formuliert ja nicht, dass der Mensch als Geist bestimmt sei, sondern Geist sei. Eine Modifikation dieser Rede wird erst in einem anderen Kontext sinnvoll sein. Hier hingegen ist der Mensch ›Geist‹ und ›Selbst‹. Er muss nicht erst beides werden. So wie der Mensch Mensch ist, ist er auch ›Geist‹ und ›Selbst‹. Erst wo er sein wahres Selbst- und Geistsein verdrängt oder verleugnet und damit in seinem Selbstsein, in seinem Geistsein die Krankheit der Verzweiflung ausbricht, ist auch sein Menschsein überhaupt gefährdet. Kierkegaard erklärt weiter zu diesem Verständnis des Selbst, bei dem der Mensch ganz als er selbst gedacht ist: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist dasjenige am Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält« (129 / 9,10–13).

Normalerweise verstehen wir unter einem Verhältnis die Beziehung zwischen zwei Entitäten. Ein bestimmtes Verhältnis ist eine Beziehung zwischen A und B.

Das Selbstverhältnis

47

Das Verhältnis bezieht sich auf A und B, aber schließt, als reines Verhältnis verstanden, sie streng genommen nicht ein, auch wenn es ohne sie gar nicht da wäre. Ein solches ›Verhältnis zwischen zweien‹ kann hier schwerlich gemeint sein. Wie soll sich ein solches Abstraktum von Verhältnis verhalten können, noch dazu zu sich selbst? Um einen Träger für ein Verhalten zu haben, greift man nicht auf das Verhältnis zurück, sondern auf seine Glieder. Diese können Träger eines Verhaltens sein, aber wie können sie sich zu sich selbst verhalten? Innerhalb des Verhältnisses könnten sie sich nur zu dem jeweils anderen Glied verhalten, dessen Anderssein als konstitutiv angesehen werden muss, um nicht die Verhältnisstruktur zu zerstören. Auch wenn beide Glieder gleich wären, dürften sie doch nicht ein und dasselbe sein. Aber diese Vorstellung eines Verhältnisses ist statisch gedacht; wenn man sich ein Verhältnis samt seiner Glieder als ein bewegtes vorstellt – und dafür spricht ja auch das Verhalten des Verhältnisses –, ließe sich die Aporie überwinden1. Wenn man sich einen Gegenstand in Bewegung vorzustellen versucht, dann kann man das Verhältnis zwischen dem Gegenstand an Ort x und demselben Gegenstand an Ort y bestimmen. Man würde das Verhältnis zwischen ein und demselben Gegenstand bestimmen. Aber wie soll sich der Gegenstand an Ort x zu sich selbst an Ort y verhalten, wenn er doch noch nicht dort hingelangt ist? Mit dieser Frage aber hat der Betrachter die Bewegung in zwei statische Zeitpunkte aufgeteilt und wird dem Gegenstand in Bewegung nicht gerecht. In Bewegung heißt, dass der Gegenstand hier und dort ist, ohne sich dabei zu verdoppeln. Stellt man den Gegenstand nun als in sich bewegt, als in Bewegung, vor, lässt sich sagen, dass er in seiner Bewegung sich zu sich selbst verhielte. Wenn der Gegenstand ein solcher nur in Bewegung ist, so dass es bei ihm um seine Bewegung selbst geht, die in ihrem Bewegtsein einsichtig gemacht werden soll, wäre seine Beschreibung als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durchaus angemessen. Es handelt sich hier sozusagen um ein Verhältnis zwischen ein und demselben und nicht um ein ›Verhältnis zwischen zweien‹. Die zwei Orte, zwischen denen die Bewegung erfolgt, bilden in gewissem Sinne eine Einheit, und man könnte von einer ›Bewegung auf der Stelle‹ sprechen.2 Kierkegaard redet aber von keinem Gegenstand, der eine solche Bewegung des Selbstverhältnisses vollzieht, sondern von einem Selbst. Das Selbst in seiner Bewusstheit und Durchsichtigkeit ist nicht etwas in Bewegung, sondern diese ›selbst‹. Darin ist der Mensch ›Geist‹. Er ist ein solcher, wenn er an zwei ›Orten‹ zugleich, also in Bewegung ist. Die Rede von den Orten ist hier nur zur Veranschaulichung gebraucht. Man könnte auch von den beiden Aspekten oder Di1 Zum Begriff der Bewegung bei Kierkegaard vgl. Eriksen, Concept of Motion, 294f. 2 Mit diesem Ausdruck wird dann Kierkegaard auch das Selbstwerden erklären (151 / 33,30ff). Siehe dazu hier Kapitel 5.3.b.

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Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

mensionen des Menschen sprechen, wenn er aus Endlichkeit und Unendlichkeit besteht. Aber es wäre eben ein Missverständnis, wenn man den Menschen aus den jeweiligen Dimensionen zusammensetzen zu können meint, während er beide in einer Bewegung von einem zum anderen ist. In der Bewegung bildet das einen mit dem anderen eine Einheit, sie sind eins. Aber wie ist nun der von Kierkegaard eingebrachte Selbstbegriff dem Verständnis eines Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält, zuzuordnen? Der Selbstbegriff wird von Kierkegaard zuerst mit der Vorstellung eines Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält, gleichgesetzt. Aber dann wird das ›Selbst‹ noch näher bestimmt als dasjenige am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Dass das Verhältnis sich wirklich zu sich selbst verhält, ist nur möglich, wenn es sich in seinem Verhalten stets als sich selbst weiß. Dieses stete Selbst-Bewusstsein schließt an die oben ausgeführte Bestimmung des Selbst als Durchsichtigkeit an. Damit ist der scheinbare Widerspruch beseitigt, dass der Selbstbegriff einmal mit der ganzen Struktur des Selbstverhältnisses gleichgesetzt wird und dann doch nur etwas am Verhältnis bezeichnen soll. Die Durchsichtigkeit ist ein Aspekt des Verhältnisses, aber durchzieht das ganze Verhältnis. Aber dann heißt es drittens noch, dass das Selbst nicht das Verhältnis sei. Wie ist das zu verstehen? Dieser Satz ist nur verständlich, wenn man das Verhältnis als ein von seinen Gliedern abstrahiertes auffasst. Dazu müsste das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, gleichsam wieder ›stillgelegt‹, die Bewegung unterbrochen werden, so dass wieder zwei Glieder mit ihrem ›Zwischen‹ des Verhältnisses betrachtet werden können. Dieses ›Verhältnis zwischen zweien‹ bedeutet der Selbstbegriff gerade nicht. Das Selbstverhältnis lässt sich nicht ohne weiteres in ein ›Verhältnis zwischen zweien‹ überführen, schon allein deswegen, weil es nicht zwischen zwei, sondern gleichsam nur in einem, in Einheit besteht. Kierkegaards Abgrenzung des Selbstbegriffs von der Vorstellung eines solchen Verhältnisses zwischen zweien wirft schon einen Blick auf die nächsten Sätze, in denen das Verhältnis zwischen zweien thematisiert wird (129 / 9,13–21). Es wird sich zeigen, dass es auch nicht sinnlos ist, den Menschen als ein Verhältnis zwischen zweien zu betrachten. Man muss dazu die Einheit des Selbstverhältnisses auflösen und als Beziehung zweier Glieder betrachten. Ringleben versteht die beiden Formulierungen, dass das Selbst etwas am Verhältnis ist und dann nicht das Verhältnis ist, als Beschreibung der inneren Dialektik eines Selbstverhältnisses. Mit dem Vollzug des Verhältnisses, dem Dass, ist ein vorübergehend Unterschiedenes (das, was ›an‹ ihm ist) notwendig, damit das Verhältnis nicht eine vorhandene Relation von zweien bleibt. »Das mit diesem Vollzug am Verhältnis vorübergehend (›durchsichtig‹) Unterschiedene (das, was ›an‹ ihm ist) ist notwendig, damit das Verhältnis nicht ein einfaches bleibt, (als vorhandene Relation von Zweien), sondern wirklich sich (zu

Das Selbstverhältnis

49

sich) verhält« (Kommentar, 62, Hervorhebungen im Original). Dass das Selbst sich vorübergehend von dem Verhältnis unterscheiden muss, um sich in ihm wirklich zu sich selbst zu verhalten, scheint mir aber nicht der Intention des Kierkegaard’schen Satzes zu entsprechen. Wenn das Selbst etwas am Verhältnis ist und nicht das Verhältnis ist, soll damit nicht eine dialektische Beziehung zwischen beiden angezeigt, sondern dem Missverständnis des Selbst als eines bloßen Verhältnisses zwischen zweien gewehrt werden. Kierkegaard sagt nichts von einem Unterschied. Seine Absicht liegt allein darin, die Besonderheit des Selbstverhältnisses zu charakterisieren. Ringleben hat die Einführung des Unterschiedsbegriffes vor allem in Anlehnung an Fichte vorgenommen, von dem her der Kierkegaard’sche Selbstbegriff als ein Verhältnis, das sich selbst im Vollzug zusieht (57), aufgefasst wird. Ein solches ›Zusehen‹ wird dem ›Selbst‹ bei Kierkegaard aber nicht vergönnt sein, sondern in seiner Durchsichtigkeit geht es unterschiedslos in seinem Vollzug auf. Deshalb ist es dem Kierkegaard’schen Selbstbegriff auch nicht eigen, dass sich das ›Selbst‹ als solches erst ausdrücklich ergreifen und vollziehen könnte (63). Die tiefere Ursache für diesen Eintrag des Unterschiedsbegriffes liegt wohl darin, dass Ringleben den Vollzugsakt des Selbstseins in dem Horizont eines ›Begreifens‹ (52) und ›Wissens‹ (57) interpretiert. Ein Denkakt lässt sich in der Tat schwerlich ohne den Unterschiedsbegriff verständlich machen. Aber damit wird Kierkegaards fundamentale Wendung gegen das »Geheimnis der gesamten neueren Philosophie, das ›cogito ergo sum‹«, durch das diesem entgegengesetzte ›wie du glaubst, so bist du‹ (206 / 95,5–9) von Anfang an in Ringlebens Interpretation ignoriert. Der den ganzen Menschen, sein Selbstsein auszeichnende Vollzugsakt, wie er sich dann im Glauben manifestiert, besitzt für Kierkegaard eine andere Struktur als ein Denkakt. Chr. Axt–Piscalar interpretiert ausgehend von dem Befund in BA die Anfangsbestimmungen Kierkegaards in dem Sinne, »dass wir uns immer schon im Vollzug von Selbsttätigkeit vorfinden« (Ohnmächtige Freiheit, 166, hervorgehoben im Original; siehe auch Fahrenbach, Ethik, 31). Dieser selbstbezügliche Vollzug ist im Hinblick auf die Bestimmungen des Menschen als Synthesis von Unendlichkeit / Endlichkeit usw. als Sünde zu deuten. »Damit ist sofort klar, dass der Mensch, indem er als Selbst sich zu sich selbst verhält, den Charakter seiner selbst als einer Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit im selbstbezüglichen Vollzug seiner selbst verfehlt« (Ohnmächtige Freiheit, 172). M.E. lassen sich aber für den fichteanisch inspirierten Gedanken, dass sich der Mensch als ›Vollzug von Selbsttätigkeit‹ vorfinde, keine Anhaltspunkte in den Eingangsbestimmungen des ersten Abschnitts – als auch später – finden, die in völliger Abstraktion von einer konkreten Anschauung des Menschen hic et nunc formuliert ist. Bezeichnenderweise setzt in dem einzigen in A.A gegebenen Beispiel eines konkreten Menschen dieser erst mit seiner Selbsttätigkeit ein, nachdem er meint, auf sich aufmerksam geworden zu sein, wenn er »nun mit aller Gewalt durch sich selbst und einzig durch sich selbst die Verzweiflung beheben will« (130 / 10,25f). Aber Axt–Piscalar versteht zu Recht die sündhafte Selbsttätigkeit als zum Scheitern verurteilt. Sie muss durch den von Gott geschenkten Glauben unterbrochen werden, um in die wahre Selbsttätigkeit überführt zu werden. »Der Glaube wird von Gott her eröffnet und bleibend begründet. Er unterbricht solcherart den von sich selbst anfangenden Selbstvollzug des Menschen« (Ohnmächtige Freiheit, 168). Der Selbstbegriff in KT wurde schon auf verschiedene Weise zu differenzieren versucht

50

Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

(z. B. Theunissen, Begriff Verzweiflung, 23; Disse, Phänomenologie der Freiheitserfahrung, 116f).3 Anton Bösl unterscheidet im Anschluss an Theunissen die beiden Formen: a) ›Selbst‹ (großgeschrieben) meint dabei jenes abstrakte Selbst, das als Chiffre für den reinen Prozess des Sich-zu-sich-Verhaltens steht. Dieses Selbst ist lediglich die negative Einheit der Synthesis und bloße Zusammensetzung polarer Momente, b) ›selbst‹ (kleingeschrieben) meint ein konkretes Selbst als mir vorgegebenes Dasein. Anti-Climacus differenziert nun zwischen diesen beiden Bedeutungsaspekten nicht und weitet die Bestimmungen für das abstrakte Selbst auf das konkrete Dasein aus (Unfreiheit und Selbstverfehlung, 187f). Besonders die erste Bestimmung dürfte so nicht zutreffen, weil mit dem Gedanken der negativen Einheit der Synthesis (129 / 9,18ff) der Mensch als ein Verhältnis zwischen zweien betrachtet wird, und »[s]o betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst« (129 / 9,17). Das Selbst ist »ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« (129 / 9,10f), während für die beiden Glieder des bloßen Verhältnisses zwischen zweien gilt, dass sie sich zum Verhältnis – und nicht sich zu sich (selbst) – verhalten (129 / 9,19). Man könnte aber nicht zu Unrecht das Verhältnis zwischen zweien (mit dem Dritten als negativer Einheit) in Zusammenhang mit dem Selbst jat± d}malim (146 / 27,7–12; siehe hier Kapitel 4.4.d.) setzen. Zwar steht für Kierkegaard dieser Selbstbegriff unter dem Vorzeichen von Verzweiflung und Sünde, während der Begriff der negativen Einheit im Verhältnis zwischen zweien am Anfang der KT zur Verdeutlichung der anthropologischen Struktur beiträgt, aber diese Struktur des Verhältnisses zwischen zweien mit seiner negativen Einheit ist faktisch mit der Struktur des Selbst jat± d}malim in seiner Verzweiflung identisch. Auch für das Selbst jat± d}malim gilt, dass der Mensch so betrachtet noch kein Selbst ist. So sind m. E. im Wesentlichen drei Formen der Rede vom Selbst zu unterscheiden: – Das Selbst als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Dieses Selbstverhältnis wird von Kierkegaard zum einen in seiner allgemeinen Beschreibung des Menschseins jenseits von Verzweiflung und Glaube vorgestellt, zum anderen ist ein solches Selbst gegeben, wenn die Verzweiflung ganz ›ausgerottet‹ ist (130 / 10,35–39). – Das Selbst im Sinne des Selbst jat± d}malim. Dieses Selbst der Möglichkeit nach meint das Selbst des Menschen, wie es ihm in Sünde und Verzweiflung zukommt. An dieses Selbst ergeht die Forderung Gottes, ein Selbst zu sein (137 / 18,16–19). – Das Selbst in dem ganzen Formenreichtum verfehlten Selbstseins, das der Mensch als Selbst jat± d}malim hervorbringt. Dies fängt an bei dem ›Selbst‹ als ›unschuldigem Mißbrauch der Sprache‹ (165 / 49,12ff) und reicht bis zur vergeistigten Selbstverdoppelung des höchst Verzweifelten (183 / 70,34ff). Für all diese Fehlformen der versuchten ›Selbstverwirklichung‹ gilt: »es wird eigentlich kein Selbst« (183 / 70,38). Es findet damit auch nicht ansatzweise ein wirkliches Sich-zu-sich-selbst-Verhalten statt, vielmehr muss zu all diesen selbstbezogenen Bemühungen gesagt werden: »[D]ie gesamte Handlung bleibt innerhalb einer Hypothese« (183 / 71,5f).

3 Weitere Literatur zum Selbstbegriff siehe Bösl, Unfreiheit und Selbstverfehlung, 56, Anm. 3.

Das Verhältnis zwischen zweien

2.

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Das Verhältnis zwischen zweien Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst (129 / 9,13–17).

Mit Unendlichkeit und Endlichkeit, mit Zeitlichem und Ewigem, mit Freiheit und Notwendigkeit werden die komplementären Glieder des Menschseins genannt. Die Begriffspaare von Unendlichkeit / Endlichkeit und Freiheit / Notwendigkeit dienen später zur Differenzierung der Verzweiflungsgestalten unter dem Gesichtspunkt ihrer synthetischen Struktur. Allerdings tauscht Kierkegaard bei der Beschreibung der Verzweiflungsgestalten den Begriff der Freiheit gegen den der Möglichkeit aus und verwendet den Freiheitsbegriff für die Charakterisierung des Selbstverhältnisses als Ganzes: »Das Selbst ist Freiheit« (145 / 26,8). Die Freiheit des Selbst ist in der zum Selbstverhältnis erhobenen Synthese von Möglichkeit und Notwendigkeit gegeben. Das Begriffspaar des Zeitlichen / Ewigen geht in die Bestimmung der Verzweiflungsgestalten unter dem Gesichtspunkt der Bewusstheit ein, den Kierkegaard an späterer Stelle behandelt. Nach dem Bewusstseinsgrad des Selbstseins, das ewig ist, lassen sich die Verzweiflungsgestalten ordnen. Kierkegaard spricht dann nicht vom Zeitlichen / Ewigen, sondern vom Irdischen / Ewigen, aber entfaltet den Umgang mit Irdischem ebenso als zeitliche Angelegenheit.

Die Glieder bilden zusammen eine Synthese, die der Mensch ist. Eine Synthese ist für Kierkegaard ein Verhältnis zwischen zweien, dem nicht die Qualität des menschlichen Selbstseins zuzusprechen ist. Kierkegaard baut mit diesem Gedankengang eine Spannung auf, die er im Folgenden noch vertiefen wird. Nun wird der Mensch als Synthese betrachtet, die als Verhältnis zwischen zweien gilt. Dieser Verhältnisbegriff entspricht jenem, dem Kierkegaard zuvor die Qualität des Selbst abgesprochen hat (129 / 9,12f: »Das Selbst ist nicht das Verhältnis«). Der Mensch wurde zuerst als ›Geist‹ und als ›Selbst‹ definiert, während er nun als Synthese bestimmt wird, die nicht als Selbst zu bezeichnen ist. Kierkegaard will aber – wie vielleicht anzunehmen wäre – damit nicht sagen, dass der Mensch als Synthese erst noch zu einem ›Selbst‹ werden soll, sondern es handelt sich bei der Synthese um eine andere Betrachtungsweise des Menschen. Die synthetische Betrachtung des Menschen hat von dessen Selbstsein abstrahiert zugunsten des bloßen Aspekts des Verhältnisses zwischen zweien. Die Einheit der Bewegung, in der beide Glieder der Synthese eine Einheit bilden, das Selbst als endliches unendlich und als unendliches endlich ist, wird aufgelöst in die Statik eines Verhältnisses zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit.

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Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

Kierkegaard sieht von der Selbsthaftigkeit, die dem Menschen in seiner Geistigkeit eigen ist, ab und betrachtet das menschliche Selbstsein ›uneigentlich‹ im Sinne einer Synthese. Indem der Mensch ›im Geist‹ nun nicht mehr als Selbstverhältnis angesehen wird, fällt auch eine wesentliche Eigenart des Selbstverhältnisses in dieser Abstrahierung weg, die Kierkegaard im Folgenden einführen wird: Indem dieses Verhältnis sich zu sich selbst verhält, verhält es sich zu ›etwas Anderem‹. Durch die Betrachtung der Synthese ist es möglich, den Menschen für sich genommen zu thematisieren. Deshalb kann Kierkegaard nun direkt formulieren: »Der Mensch ist eine Synthese« (129 / 9,13f), während anfangs die Beziehung zwischen ›Mensch‹ und ›Selbst‹ nur indirekt über den Geistbegriff ausgesagt werden konnte: »Der Mensch ist Geist […] Der Geist ist das Selbst« (129 / 9,9). Mit dem Begriff des Geistes, der die Durchsichtigkeit des Menschen auf seinen göttlichen Grund hin festhält, wird der konstitutive Gottesbezug des menschlichen Selbstseins ausgedrückt. Der Mensch ist nur vor Gott und in Gott gegründet ›er selbst‹. In der synthetischen Betrachtungsweise des Menschen abstrahiert Kierkegaard von der Aussage, dass der Mensch Geist ist. Dennoch ist auch die synthetische Betrachtung für das Gottesverhältnis von Bedeutung. Mit ihr ist es möglich, die verzerrten Gottes- und Selbstvorstellungen zu thematisieren. Kierkegaard kommt zu Beginn seiner Erläuterung der Verzweiflungsgestalten im ersten Abschnitt auf die Betrachtung des »Selbst, als Synthese« (145 / 26,4), zurück, um anhand dieser synthetischen Struktur die einzelnen Verzweiflungsgestalten aufzuzeigen. Die Betrachtung des Menschen als Synthese erfüllt die wichtige Funktion, als Bindeglied zwischen der Betrachtung des Menschen als Geist, der als ›Selbst‹ sich zu sich selbst verhält, und seiner Betrachtung als verzweifeltes ›Selbst‹, das sein Selbstsein verloren hat, zu dienen. Vom ›Selbst‹ des Menschen, als Geist verstanden, allein lässt sich die Struktur der Verzweiflung nicht direkt eruieren, auch wenn Kierkegaard im Folgenden aus dem Setzungsverhältnis, das der Synthese zugrunde liegt, die zwei grundlegenden Formen der Verzweiflung ableiten wird. Das Verständnis des Menschen als Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit usw. impliziert eine Abstraktion, durch die nicht der wirkliche Zustand des Menschen beschrieben wird. Als eine solche Synthese betrachtet ist der Mensch einerseits nicht als wirkliches ›Selbst‹ gesetzt, weil die synthetische Betrachtung vom ›Selbst‹ abstrahiert, andererseits ist der Mensch auch nicht als verzweifeltes ›Selbst‹ gesetzt, weil von einem möglichen Selbst-Verlust abgesehen wird. Die Abstraktion von der Selbsthaftigkeit der Synthese ist nicht gleichzusetzen mit der Beschreibung des Verlustes der Selbsthaftigkeit, auch wenn beide dieselbe Synthesisstruktur thematisieren. Nur als Synthese eines

Das Verhältnis zwischen zweien

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verzweiflungslosen oder eines verzweifelten Selbstseins hätte sie eine näher bestimmte Gestalt. Lässt man diese beiden Möglichkeiten der näheren Bestimmung weg, ergibt sich die von Kierkegaard hier gemeinte ›bloße‹ Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit usw. Kierkegaard führt den Synthesisbegriff weiter aus: Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis, und im Verhältnis zum Verhältnis (129 / 9,18ff).

Es ist deutlich, dass der Begriff ›Verhältnis zwischen zweien‹ nicht vom Verhältnis selbst, sondern von den zweien aus gedacht ist. Zum ersten Mal ist hier von den zweien als handelnden Subjekten die Rede und nicht von einem sich verhaltenden Verhältnis. Die beiden Glieder sind miteinander verbunden und bilden so ein Drittes, die Einheit beider, aus. Es handelt sich dabei um eine negative Einheit, weil sie nur durch die Negation der beiden Einzelglieder beschrieben werden kann. Es ist das leere ›Zwischen‹ beider Glieder, in dem sie irgendwie zusammenkommen. Sie bilden eine Einheit und können sie doch nur bilden, wenn sie von sich abstrahieren. Die Einzelglieder bleiben vom Verhältnis als negativer Einheit ausgeschlossen und können sich deshalb nur zum Verhältnis verhalten. Die Betrachtung der negativen Einheit geht über die Beschreibung einer bloßen Synthese hinaus, wenn die Einzelglieder nicht nur im Verhältnis zueinander betrachtet werden, sondern auch in ihrer Beziehung, ihrem Verhältnis oder Verhalten zu dem Verhältnis selbst, das sie miteinander hervorbringen. Dies negative Einheitsverhältnis ist durch das Verhältnis der Synthesenglieder zueinander erzeugt. So kann von zwei Verhältnissen gesprochen werden, wie es Kierkegaard auch macht: »[…] im Verhältnis zum Verhältnis«.4 Dagegen ist das Selbst, als Selbstverhältnis verstanden, etwas ›am Verhältnis‹ und verhält sich nicht ›zum Verhältnis‹. Theunissen hat den Versuch gemacht, die Anfangsbestimmungen Kierkegaards überhaupt im Sinne eines Negativismus auszulegen, indem Kierkegaard das Selbst auf Negativität verpflichtet habe (Grund der Verzweiflung, 32). Dieser Versuch muss aber zugleich die Anfangsbestimmungen zugunsten späterer Textstellen wieder relativieren: »Kierkegaard schränkt die Geltung des darstellungsmäßigen Anfangs im nachhinein ein, indem er betont, das dort antizipierte Selbst sei nur die ›negative Form des Selbst‹« (31). Dass sich die später genannte ›negative Form des Selbst‹ (182 / 69,36f) auf den hier am Anfang explizierten Selbstbegriff beziehe, ist nicht zwingend. Die ›negative Form des Selbst‹ ist eine Hilfe, mit der man selbst verzweifelt über sich selbst bestimmten will (182 / 69,29f), 4 Dietz hat darauf aufmerksam gemacht, dass der dänische Begriff forhold die beiden Begriffskomponenten Verhältnis und Verhalten beinhaltet (Kierkegaard, 104). Wenn »die zwei […] sich […] im Verhältnis zum Verhältnis« (129 / 9,19f) verhalten, dann ist das in dem Sinne gemeint, dass die zwei sich in ihrem Verhalten zum Verhältnis verhalten.

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Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

während der Mensch des genannten Selbst hier am Anfang nicht in seiner Verzweiflungsgestalt dargestellt wird. Theunissen versucht dann, die in den Anfangsbestimmungen genannte ›negative Einheit‹ unter Rückgriff auf die spekulative Negationstheorie mit dem als positiven Dritten genannten Selbst zu verbinden. Das bedeutet »rein doxographisch«: »Die Positivität des positiven Dritten ist nichts anderes als Hegels ›absolute Negativität‹, die aus der Reflexion des Negativen (der ›negativen Einheit‹) entsteht« (Grund der Verzweiflung, 32). Dieser kühnen These wird hier nicht gefolgt werden. Von der ›negativen Einheit‹ eines reflektierten Dritten, der Vorstellung eines möglichen Selbst, führt für Kierkegaard kein Weg zum positiven Dritten eines wirklichen Selbst. Schon die strikte Gegenüberstellung des Verhältnisses zwischen zweien, in dem sich die zwei »im Verhältnis zum Verhältnis« verhalten, zum Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, lässt einen Übergang vom einen zum anderen schwerlich zu. Die zwei Glieder des ›Verhältnisses zwischen zweien‹ können sich mehr oder weniger intensiv im Verhältnis zum Verhältnis verhalten, sie werden sich nicht zu einem Verhältnis verwandeln, das sich zu sich selbst verhält.

Es wird von einem Verhältnis gesprochen, das sich zum Verhältnis verhält, d. h. das bloße Verhältnis zwischen zweien verhält sich zu seiner Einheit, die nur in dem ›Zwischen‹ besteht und aufgrund des Ausschlusses beider Glieder abstrakt und leer bleibt. Die Einheit als Verhältnis zwischen zweien ist keine positive Einheit, weil die Einheit eben aus zweien besteht oder anders gesagt: Die negative Einheit ist nicht positiv, weil sie ihre zwei Glieder nicht beinhaltet. Eine positive Einheit wäre nur dann gegeben, wenn beide Beziehungsglieder als Einheit bestünden. Durch die Synthese wird nur eine negative Einheit hervorgebracht. Kierkegaard gibt dazu ein Beispiel: […] so ist unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis (129 / 9,20f).5

Diese Feststellung entbehrt nicht einer gewissen Tautologie. Dass ein Verhältnis zwischen zweien ein Verhältnis ist, expliziert nichts wirklich Neues. Aber diese Beobachtung spiegelt nur den vorher mitgeteilten Sachverhalt wider. Das Verhältnis zwischen Seele und Leib ist das Verhältnis zwischen zweien, und ›im Verhältnis‹ zueinander verhalten sie sich ›zum Verhältnis‹ unter der Bestimmung Seele. Das Verhältnis unter der Bestimmung Seele ist nur eine negative Einheit, die nichts ›Positives‹ an sich hat, sondern allein durch den Ausschluss der Einzelglieder gebildet wird. Weshalb kann von einem Verhältnis unter der Bestimmung Seele gesprochen werden? Kierkegaard macht deutlich, dass die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Seele und Leib seelischer Natur ist. Die Seele bestimmt den Leib. Sie legt das rechte Verhalten, das rechte Verhältnis zwischen beiden fest. In der 5 Zum Verständnis der Leiblichkeit bei Kierkegaard vgl. Holl, Konzeption des Selbst, 121–125.

Das Verhältnis zwischen zweien

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seelischen Bestimmung sind beide vereint, ohne zur Einheit gebracht zu sein. Seele und Leib verhalten sich zum jeweils anderen – auch der Leib kann der Seele dienen oder gegen sie revoltieren (vgl. SKS 4, 437 / BA, 150, 5f) –, nicht zu sich selbst. Erst wo der Geist durch die Seele im Leib tätig ist und dadurch das Verhältnis zwischen beiden bestimmt, es durchgeistigt wird, liegt ein Selbstverhältnis vor. Und als solches ist der Mensch aufzufassen. Kierkegaard will in seiner Schrift jeden Menschen als »eine seelisch-leibliche Synthese mit der Anlage, Geist zu sein« (158 / 42,3f), betrachten. Damit steht die seelisch-leibliche Synthese nicht allein unter der Bestimmung Seele, die nicht mehr als die der Seele dienende Funktion des Leibes besagt, sondern unter der Bestimmung Geist, welche die Selbsthaftigkeit des Menschen in den Blick kommen lässt. Kierkegaard kontrastiert das Verhältnis unter der Bestimmung Seele, wo sich nur das eine zum anderen verhält und das Verhältnis selbst beide ausschließt, mit dem Selbstverhältnis unter der Bestimmung Geist, wo das ›eine‹ sich zu sich selbst verhält und das Verhältnis deshalb ›beide‹ in sich einschließt. Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, so ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und das ist das Selbst (129 / 9,22f).

Auch hier redet Kierkegaard von einem Dritten, das als ›Selbst‹ Verhältnis ist, aber es verhalten sich in diesem Fall keine zwei ›im Verhältnis zum Verhältnis‹ (129 / 9,20). Die Rede von zweien ›im Verhältnis‹ ist nun ungenügend, weil die zwei zugleich ein und dasselbe sind. Das Verhältnis verhält sich zu sich selbst und ist damit eine positive Einheit. Das Dritte ist nicht mehr ein Verhältnis, wozu sich das Verhältnis (zwischen zweien) verhält, sondern es ist etwas ›am Verhältnis‹ (129 / 9,11). Es ist einfach das ›Dass‹ des Verhältnisses. Ringleben dreht diesen Sachverhalt aufgrund seines Eintrags einer an Hegel angelehnten Dialektik um, wenn er über das bloß synthetische Verhältnis sagt: »Nur als das Verhältnis, das sie [sc. die zwei Glieder des Verhältnisses] zueinander haben, ›verhalten‹ sie sich auch dazu, nicht aber auch davon unterschieden. Ihr Verhältnis ›zum‹ Verhältnis besteht lediglich darin, daß sie dies Verhältnis sind« (Kommentar, 65, Hervorhebung im Original). Wären die zwei Glieder das Verhältnis, zu dem sie sich verhalten, würden sie sich nicht zu ihm verhalten, sondern wären es eben. Ihr Defizit ist nicht ihre fehlende Differenz zum Verhältnis, zu dem sie sich verhalten, sondern ihre fehlende Einheit mit ihm.

Unter der Bestimmung Seele lässt sich das eine Verhältnis gleichsam in zwei Verhältnisse zerlegen. Zwei im Verhältnis verhalten sich zum Verhältnis als Einheit, zu ihrem ›Zwischen‹, das in der Bestimmung durch die Seele besteht. Diese Verdoppelung von Verhältnis und Verhalten ist im Verhältnis zu sich selbst verschwunden. Die Rede von einem Dritten bedeutet nur noch einen gewissen Perspektivenwechsel, mit dem etwas am Verhältnis thematisiert wird. Deshalb sagt Kierkegaard ausdrücklich, dass »dieses Verhältnis« (129 / 9,22f; Hervor-

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Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

hebung von JB), eben das Verhältnis zu sich selbst, das positive Dritte ist. Es ist kein anderes Verhältnis, wozu das Verhältnis zu sich selbst sich verhält, sondern es ist dieses Verhältnis. Das Dritte ist das bloße ›Dass‹ des Verhältnisses zu sich selbst. Von einem Verhalten zu seinem ›Selbst‹ kann beim Verhältnis zu sich selbst streng genommen keine Rede sein, weil das ›Selbst‹ dieses Verhältnis zu sich selbst in seiner Ganzheit ist. Das Verhältnis verhält sich zu sich selbst, aber nicht zu seinem ›Selbst‹. Das ›Selbst‹ ist nicht ein Verhältnis, wozu sich ein Verhältnis zwischen zweien verhält, sondern es ist eben das »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« (129 / 9,10f).

3.

Das Verhältnis zum Anderen

Ein wichtiger Punkt ist bei dem bisher entfalteten Selbstverhältnis noch ungeklärt. Ist es eine immerwährende Struktur oder ist es gemacht worden? Zwei Möglichkeiten bieten sich an. Das Selbstverhältnis hat sich entweder selbst gesetzt oder ist durch etwas Anderes gesetzt worden (129 / 9,24ff).6 Die zweite Möglichkeit wird von Kierkegaard näher analysiert: Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch etwas anderes gesetzt, so ist das Verhältnis zwar das Dritte, aber dieses Verhältnis, das Dritte, ist dann doch wieder ein Verhältnis, verhält sich zu demjenigen, wovon das ganze Verhältnis gesetzt worden ist (129 / 9,27–31).7

Kierkegaard bringt ein neues Verhältnis ein, das mit dem ›Dritten‹, dem Selbst, zusammenzudenken ist. Dabei achtet er darauf, dass das neu eingeführte Verhältnis mit dem Verhältnis, das der Selbstbegriff von sich aus bedeutet, vom 6 Dietz macht auf die Großschreibung des ›Anderen‹ im dänischen Originaltext aufmerksam, durch die deutlich werde, dass ein bestimmtes Anderes, nicht ein beliebig Anderes gemeint sei (Kierkegaard, 117, Anm. 68). Fahrenbach hat mit Verweis darauf, dass im ersten Abschnitt vom Selbst im ›menschlichen‹ und nicht im ›theologischen‹ Aspekt gehandelt werde, eine fraglose Identifizierung mit dem christlichen Schöpfungsgedanken abgelehnt (Ethik, 31). Das ist insofern richtig, als die Anfangsbestimmungen eben weder den verzweifelten noch den glaubenden einzelnen Menschen beschreiben, sondern die bloße Struktur des Menschseins entfalten. Vom zweiten Abschnitt her, der die Offenbarung Gottes einbezieht, fällt dann aber Licht auf die Eingangsbestimmungen, und das Andere kann niemand anderes als der christliche Schöpfergott sein. Zur Diskussion um den Begriff des Anderen in KT siehe Disse, Phänomenologie der Freiheitserfahrung, 122, bes. Anm. 29. 7 Wenn es hier nun heißt: »das Verhältnis ist […] das Dritte«, also das Selbst, wirft das nochmals ein Licht auf die zuvor gemachte Aussage »das Selbst ist nicht das Verhältnis« (129 / 9,12). Letzteres Zitat gerät dann nicht in Widerspruch zu der ersten Aussage, wenn sein Verhältnisbegriff präzisiert wird zum ›Verhältnis zwischen zweien‹, wie er auch von mir interpretiert wurde.

Das Verhältnis zum Anderen

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Leser nicht einfach gleichgesetzt wird. So kann »dieses Verhältnis […] dann doch wieder ein Verhältnis« sein. Das neu eingeführte Verhältnis wird gegenüber dem Dritten in einen leichten Gegensatz (»zwar … aber«) gebracht. Denn mit dem Dritten, dem als Verhältnis entworfenen Selbstbegriff, ist das Selbstverhältnis in gewisser Weise schon als in sich geschlossen zu betrachten. Diese Geschlossenheit wird nun nicht wieder aufgebrochen, sondern in einer Weise verstanden, in der das ›Selbst‹ in das neu angesprochene Verhältnis integriert ist. Als gesetztes Glied eines Verhältnisses ist das ›Selbst‹ – wie Kierkegaard dann sagt (130 / 9,32) – abgeleitet von einem Anderen. Um das ›Selbst‹ zu erfassen, muss es also ursprünglich in seinem Verhältnis zum Anderen gesehen werden. Als Glied eines Verhältnisses geht es ganz in dem vom Anderen bestimmten Verhältnis auf, weil es nichts Eigenes gegenüber dem Anderen, sondern eben nur Abgeleitetes darstellt. Es ist als solches nichts ›anderes‹ gegenüber dem Anderen. Bestände in diesem Setzungsverhältnis die gegenseitige ›Andersheit‹, welche die Glieder der menschlichen Synthese auszeichnet, könnte dem Verhältnis zwischen dem setzenden Anderen und dem Gesetzten wiederum ein darüber hinausgehendes ›Dass‹, gewissermaßen ein beide Glieder einendes ›Selbst‹, eigen sein. Die Möglichkeit eines beide Glieder einenden Ganzen zu eröffnen ist aber keinesfalls Kierkegaards Absicht. Vielmehr ist das Setzungsverhältnis von solcher Art, dass zwar von der Differenz des Setzenden gegenüber dem Gesetzten gesprochen werden muss, nicht aber von einer Differenz des Gesetzten gegenüber dem Setzenden. Deshalb verhält sich auch das Gesetzte nicht direkt zu dem es Setzenden, sondern zu sich selbst. Als ganz und gar Abgeleitetes verhält es sich in diesem Verhalten aber zugleich zu dem es Setzenden. Es fällt mit dem Setzenden nicht zusammen und ist doch ganz und gar von ihm bestimmt. Diese Bestimmung durch das Setzende ist nicht in einem seinsmäßigen Sinne zu verstehen, sondern in einem ›akustischen‹.8 Der Mensch hört vom ihn setzenden Anderen sich selbst – darin ist er selbst gesetzt. Er empfängt vom Anderen hörend sein Selbstsein. Er hört sich selbst – im Setzungsverhältnis – und so hört er sich selbst – im Selbstverhältnis. Die akustische Dimension erschließt Unterschied und Einheit von Selbst- und Setzungsverhältnis.9 Über die Frage nach der Bedeutung des Verhältnisses zum Anderen für die Grundlegung des Selbstverhältnisses hat sich ein interessanter Disput entsponnen, der im Folgenden kurz dokumentiert werden soll, weil er sehr klar die Interpretationsalternativen aufzeigt. Für Theunissen lautet der existenzdialektische Grundsatz der Verzweiflungsanalyse 8 Zum Motiv der Stille siehe hier Kapitel 5.1.e. 9 Kierkegaard kann das Setzungsverhältnis auch visuell deuten, wenn das Selbst im Anderen »durchsichtig« gründet. Hier wird ebenso deutlich, dass das Selbst ganz und gar vom Setzenden bestimmt ist.

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Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

Kierkegaards: »Wir wollen unmittelbar nicht sein, was wir sind« (Begriff Verzweiflung, 18, hervorgehoben im Original). Theunissen sieht sich durch die methodische Abstraktion von Kierkegaards theologischen Vorentscheidungen »zur vorläufigen Epoch¦ von der Bestimmung des Gesetztseins durch Gott« genötigt (19). Alastair Hannay problematisiert ein solches Vorgehen: The crux is to be found in what seems to be an inevitable implication of Theunissen’s reconstruction, namely that the notion of a God-established self enters Kierkegaard’s analysis as that form of selfhood in which the pre-given self can envisage it’s pre-given situation as acceptable, at least according to Kierkegaard. It is the form under which we can in principle finally accept what we are. Not wanting to be oneself, then, is not wanting to be the pre-given self until this grasp of it is available and appropriated. On my reading, however, the self we don’t want to be is the God-established self right from the start (Basic Despair, 16; zu den Interpretationsalternativen siehe auch Paradigmatic Despair, 161f). Hermann Deuser hat ein Schema entworfen, welches das hier aufgeworfene Interpretationsproblem der Anfangsbestimmungen in KT sehr gut verdeutlicht. A und B stellen die Relate dar, die aufeinander bezogen ein Verhältnis darstellen. Das ›positive Dritte‹ und damit das Selbst dieses nun als Selbstverhältnis aufzufassenden Verhältnisses wird durch C vertreten. Wie ist nun das Gesetztsein des Verhältnisses hierauf zu beziehen? Das entscheidende Problem jeder Kierkegaard-Interpretation liegt schließlich im Gesetztsein des Verhältnisses. Weil es sich dabei um eine Funktion sowohl interner als auch externer Art handelt, soll das Gesetztsein hier mit C’ bezeichnet werden: C’ j C j A—B Nach Theunissens Unterscheidungen […] müßte jetzt vom Dasein gesprochen werden, und zwar im Sinne der Relation, d. h. in allen ihren konstitutiven Bestandteilen (A, B, C), während C’ als Rahmenproblematik suspendiert bleibt. An dieser Stelle ergibt sich eine der Kernfragen in der Diskussion mit Hannay : Ist das wahre Selbst – jedenfalls für Kierkegaard – demgegenüber nicht doch nichts anderes als das theologisch begründete Gesetztsein des Verhältnisses? Die Selbständigkeit des Daseins (A, B, C) wäre demnach überflüssig, und C und C’ fielen zusammen? (Grundsätzliches, 118f, Hervorhebungen im Original). Theunissen hat gegenüber den Einwänden von Hannay zu bedenken gegeben: Das Gesetztsein des Selbst durch Gott steht bei meiner Rekonstruktion von vornherein mit im Blick, nur als ein eingeklammertes. Außerdem löse ich die Klammer spätestens beim Übergang zum Endprodukt der Verzweiflung auf, dort, wo das vorher nur nominelle Selbstseinwollen zu einem wirklichen wird, zu einem verzweifelten Pochen auf einer verunglückten Konstitution. Denn an diesem Punkt empört sich der Verzweifelte in nachvollziehbarer Weise über die Macht, die sein Selbst gesetzt hat. Demgegenüber

Das Verhältnis zum Anderen

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war bis dahin nicht einsichtig, daß er sich von dieser Macht losreißen will, und zwar darum nicht, weil an dem Selbst, das er offenkundig loswerden will, das Gesetztsein durch Gott noch uneinsichtig war (Für einen rationaleren Kierkegaard, 83). Demgegenüber wird in der vorliegenden Interpretation die These vertreten, dass in der Verzweiflungsreihe von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende der Mensch sich nicht klar darüber wird, dass er sich von Gott – und zwar dem in Christus offenbarten – losreißen will. Die höchst Verzweifelten besitzen entweder eine völlig verzerrte Gottesvorstellung oder Gott ist ihnen überflüssig. Der trotzig handelnde Verzweifelte begnügt sich damit, auf sich selbst zu sehen (182 / 70,27ff), und der trotzig leidende Verzweifelte will sich von Gott nicht losreißen, sondern ihm aufnötigen (187 / 75,34ff). Aber diesen und allen anderen Verzweiflungsvorstellungen liegt ein den Verzweifelten unbewusstes Ärgernisnehmen an der Christusoffenbarung zugrunde, dessen Struktur als Sünde von Kierkegaard im zweiten Abschnitt der KT behandelt wird.

Würde sich auch von einem Verhältnis, das sich nicht zu sich selbst verhält, wie es unter der Bestimmung Seele erläutert wurde, sagen lassen, dass es sich zu etwas Anderem verhält? Grundsätzlich muss diese Frage verneint werden, weil nicht die Einheit des Selbstseins in einem solchen Verhältnis zwischen zweien vorhanden ist, die das Verhältnis zu Gott kennzeichnet. Doch muss hinzugefügt werden, dass eine negative Einheit ausgemacht werden konnte, zu der sich das Verhältnis zwischen zweien verhält. Diese negative Einheit wäre der Ansatzpunkt für das Verhältnis zu dem setzenden Anderen. Aber weil sie eben nur eine ›leere‹ Relation ist, in der das Verhältnis zwischen zweien nicht positiv präsent ist, verhielte sich hier kein Selbst zu dem setzenden Anderen, zu Gott, noch wäre auf ihn hin das Verhältnis durchsichtig. Wo diese auf Gott hin transparente Selbststruktur nicht da ist, kann also nur eine immanente Behandlung des Verhältnisses zwischen zweien zur negativen Einheit hin erfolgen. Das ist unter der Bestimmung Seele kein Defizit, da hier nicht über die Bestimmung der negativen Einheit hinausgegangen werden soll. Wenn aber unter der Bestimmung Geist, die für den Selbstbegriff maßgeblich ist, ein Verhältnis in einer solchen Immanenz verbleibt, kann hier nur – im Sinne Kierkegaards – eine furchtbare Krankheit vorliegen. Doch Kierkegaard ging es bisher nur um die jenseits von Krankheit und Gesundung vorliegende Selbststruktur in ihrem Selbst- und Gottesverhältnis. Ringleben legt das »indem« (130 / 9,33–10,2: »[…] ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und sich, indem es sich zu sich selbst verhält, zu etwas anderem verhält«) als »ein höchst spannungsvolles, vielmehr ein widersprüchliches Zugleich« (Kommentar, 76) aus. Gemäß der von Ringleben verfolgten Einheit–Unterschiedsdialektik besteht der Widerspruch darin, dass der Bezug auf sich selber (als Selbst) nur zu haben sei als Bezug nicht auf sich selber (auf das Andere). Damit wird behauptet, dass eine strukturelle Unruhe und Mangelerfahrung zum Selbst als Selbst gehören. Diese Struktur macht dann so etwas wie Verzweiflung möglich. Aber eine Unruhe als Möglichkeit der Verzweiflung ist dem Kierkegaard’schen Text schwerlich zu entnehmen. Das ›Selbst‹, das »nicht durch sich selbst zu

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Das Wesen des Menschen jenseits von Verzweiflung und Glaube

Gleichgewicht und Ruhe kommen oder darin sein kann« (130 / 10,9f), ist nicht ein mögliches verzweifeltes Selbst, sondern das verzweifelte Selbst, wie es sich laut Kierkegaard in der Formel »verzweifelt man selbst sein wollen« ausdrückt. Ringlebens Rekonstruktion läuft auf die These hinaus, dass das Andere ein Selbst als defizitäres Verhältnis gesetzt hat, das sich zum rechten Verhältnis hindurcharbeiten muss. Dagegen wird hier die These vertreten, dass das von der Macht gesetzte Selbst keinen potentiellen noch aktuellen Mangel noch irgendwelche Unruhe an sich hat, weil es durchsichtig in jener Macht gründet. Sowenig es einen möglichen Übergang von der Verzweiflung zum Glauben bei Kierkegaard geben wird, so wenig gibt es einen möglichen Übergang vom ›gesunden‹ Selbstverhältnis zum ›kranken‹ Missverhältnis. Man kann nur von dem vom Anderen gesetzten Selbstverhältnis ausgehend erklären, dass zwei Formen eigentlicher Verzweiflung möglich sind. Diese werden nicht vom Anderen dem gesetzten Selbstverhältnis ermöglicht, sondern sind dem vom Anderen gesetzten Selbstverhältnis als Verzweiflungsformen strukturell möglich, wie im Folgenden dargelegt werden soll. Für Marius G. Mjaaland eröffnet sich von der Überschrift A.A des ersten Abschnitts ausgehend die Interpretationsperspektive für die Aussagen über den Menschen in den ersten Passagen des selbigen Absatzes. Die Überschrift mit ihrer vorläufigen Erklärung der Verzweiflung mache deutlich: »Von der Verzweiflung her wird die Frage nach dem Menschen gestellt.« Von daher werde dann auch »eine andere Art des Fragens nötig, ein Fragen nach dem Bruch im Geist, nach der Eröffnung und dem Abgrund des Selbst, das nicht sich selbst sein will« (Alterität und Textur, 59). Dieser Bruch sei mit Kierkegaards Aussagen über das Setzungsverhältnis gegeben und stelle die Frage nach dem Menschen in ein neues Licht: »Die Frage nach dem Menschen als Geist trifft so als Infragestellung des Selbstverhältnisses ein, geht aber durch diese Frage als ein Riss durch das ganze Selbstverhältnis hindurch […]« (64, Hervorhebung im Original). Der in der vorliegenden Interpretation gewählte Ausgangspunkt ist ein anderer. Kierkegaard beginnt nicht mit der ausdrücklichen Frage nach dem Menschen, sondern mit der Feststellung, dass der Mensch Geist sei und die folgenden Fragen dienen zur Präzisierung dieser Aussage. Von dieser Erklärung ausgehend wird dann gesagt: »So ist es zu erklären, dass zwei Formen eigentlicher Verzweiflung möglich sind« (130 / 10,2f). Kierkegaard zeichnet nicht nachträglich einen Bruch in das vorher dargelegte Selbstverhältnis ein, sondern er zeigt die strukturelle Möglichkeit von Verzweiflungsformen auf. Auch die analytisch konstruierende Weise, wie das Setzungsverhältnis von Kierkegaard eingeführt und mit dem Selbstverhältnis verbunden wird, weist auf keinen dadurch entstehenden Bruch oder Abgrund des Selbst hin. Die Unruhe entsteht in A. A. nicht dort, wo allgemein über den Menschen und die möglichen Verzweiflungsformen gesprochen wird, sondern beim ›Fall‹ eines konkret Verzweifelten, der, vermeintlich auf seine Verzweiflung aufmerksam geworden, sich durch sein Arbeiten gegen die Verzweiflung nur noch tiefer in seine Verzweiflung hineinarbeitet. Als Verzweifelnder ist er haltlos im doppelten Sinne. Er doch in seiner Verzweiflung weder einen Halt an sich selbst noch in der Macht, die ihn gesetzt hat und – das ist sein einziger Halt – in der Verzweiflung hält. Er ist in sich selbst ins Missverhältnis geraten und damit zugleich in seinem Setzungsverhältnis. Das macht die Verzweiflung erst recht verzweifelt.

2. Kapitel: Die Struktur der Verzweiflung

1.

Die Begründung zweier Verzweiflungsformen aus dem Setzungsverhältnis

Erst nach der Darstellung des Menschen jenseits von Glaube und Verzweiflung entwickelt Kierkegaard im Rückgriff auf die zwei Möglichkeiten des Setzens sein Verständnis der Verzweiflung.1 So ist es zu erklären, daß zwei Formen eigentlicher Verzweiflung möglich sind. Hätte das Selbst des Menschen sich selbst gesetzt, so käme nur eine Form in Frage, diejenige, nicht man selbst sein zu wollen, sich selbst loswerden zu wollen, aber es käme nicht in Betracht, verzweifelt man selbst sein zu wollen (130 / 10,2–6, Hervorhebung im Original).

Wieso käme bei einem sich selbst setzenden Selbst des Menschen nur die eine Verzweiflungsform in Frage, nicht man selbst sein zu wollen? Der sich selbst gesetzt habende Mensch könnte versuchen, seine Selbstsetzung irgendwie loszuwerden. Damit wird er aber schwerlich sich selbst los, weil er eben nur durch sich selbst sich selbst wieder loswerden könnte – ein verzweifeltes Unterfangen. Die Form ›verzweifelt man selbst sein wollen‹ käme nicht in Betracht, weil dieser sich selbst gesetzt habende Mensch durch sein Selbstsetzen er selbst ist. Kierkegaard geht von der Vorstellung eines durch etwas Anderes gesetzten Selbst aus, die beide Verzweiflungsformen zu integrieren vermag. Wie ist die Form ›nicht man selbst sein wollen, sich selbst loswerden wollen‹ aus der Vorstellung eines gesetzten Selbst abzuleiten? Die doppelte Beschreibung dieser Form birgt eine Ambivalenz in sich. Das gilt schon allein für die erste Beschreibung. ›Nicht man selbst sein wollen‹ kann bedeuten 1 Insofern ist Rasmussens zentrale Frage, ob die Psychologie Kierkegaards »als Phänomenologie des homo incurvatus oder eher als Strukturanalyse des menschlichen Subjekts zu verstehen« ist (Subjektivitätstheorien, 357), mit einem ›sowohl als auch‹ zu beantworten, ohne den Unterschied beider Deutungsebenen zu verwischen.

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Die Struktur der Verzweiflung

(a), dass man (noch) nicht man selbst ist und es auch nicht sein will. (b), dass man wohl man selbst ist, diese Selbstgestalt aber nicht sein will.

Die letztere Interpretation tendiert eindeutig zur zweiten Beschreibung: ›Sich selbst loswerden wollen‹ kann man nur, wenn man irgendwie schon man selbst ist. Doch gibt die zweite Verzweiflungsform ›verzweifelt man selbst sein wollen‹ offensichtlich den Fall vor, dass man nicht man selbst ist. Der Interpretationsknoten löst sich, wenn man sich von der Alternative, ob das Selbst des Verzweifelten da ist oder nicht, löst und stattdessen von dem ›Selbst der Möglichkeit nach‹ spricht, wie es Kierkegaard dann selbst tun wird. Man will nicht die Möglichkeit ergreifen, man selbst sein zu wollen, und meint damit, sich selbst loswerden zu können. Aber die vertane Möglichkeit scheint sich nicht in der Vergangenheit zu verlieren, sondern kehrt ständig in die Gegenwart zurück. Man wird die Möglichkeit des Selbstseins nicht los, auch wenn man sie willentlich ständig verstreichen lässt. Eine derartige Möglichkeit kann nicht vom Menschen selbst in der Zeitlichkeit gesetzt sein, sondern in ihrer Kontinuität haftet ihr etwas Ewiges an. Sie ist nicht vom Menschen, sondern von dem Anderen her gegeben. Aber damit ist nicht gesagt, dass das setzende Andere dem Menschen seine Selbstgestalt nur als eine solche Möglichkeit gesetzt hat, die er ergreifen soll und an der er sich zu bewähren hat. Vielmehr hat das Andere eine Selbststruktur gesetzt, in der man sich zu sich selbst verhält, und nicht eine Selbststruktur, in der man ein solches Verhalten nur als Möglichkeit besitzt. Von einer ursprünglich im richtigen Verhältnis befindlichen Selbstgestalt des Menschen ist hier nicht mehr die Rede, sondern von einem Verzweifelten, der – und das ist mit seiner Verzweiflung untrennbar verbunden – eine solche Selbstgestalt nur der Möglichkeit nach hat. Nur in dieser Möglichkeitsgestalt ist dem Verzweifelten seine von Gott gesetzte Selbstgestalt noch da. Dass die Möglichkeit dem Verzweifelten nicht von sich aus angehört, sondern von einem Anderen gesetzt ist, erklärt auch die zweite Form der Verzweiflung. Der Mensch will verzweifelt er selbst sein. Eine solche Verzweiflung könnte überhaupt nicht aufkommen, wenn der Mensch selber die Möglichkeit dazu in sich trüge. Er bräuchte sie einfach nur zu verwirklichen, wie jemand, der sich selbst zu setzen vermag. Doch die Möglichkeit des Selbstseins rührt von dem Anderen her und kann von dem Verzweifelten nicht durch sich selbst ergriffen werden. So bedeutet die zweite Form ›verzweifelt man selbst sein wollen‹ ein verzweifeltes ›Durch sich selbst man selbst sein wollen‹, was den Menschen nur noch tiefer in die Verzweiflung stürzen wird, wie Kierkegaard später ausführt. An der Formel ›verzweifelt man selbst sein wollen‹ wird die Beziehung des Menschen zum setzenden Anderen sichtbar, weil sie der Ausdruck für die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses (des Selbst) [ist], der Ausdruck dafür, daß das Selbst nicht durch sich selbst zu Gleichgewicht und Ruhe

Die Begründung zweier Verzweiflungsformen aus dem Setzungsverhältnis

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kommen oder darin sein kann, sondern nur dadurch, daß es sich, indem es sich zu sich selbst verhält, zu demjenigen verhält, von dem das ganze Verhältnis gesetzt worden ist (130 / 10,7–13).

Die zweite Verzweiflungsform ist nur möglich bei der Annahme eines von einem Anderen gesetzten Selbst und drückt die Abhängigkeit vom setzenden Anderen aus. Während der Mensch nicht durch sich selbst zu Gleichgewicht und Ruhe kommen oder darin sein kann, kommt er zu Gleichgewicht und ist ruhig, wenn er selbst sich zu sich selbst verhält und darin sich zu dem Anderen verhält. Wie ist die Selbststruktur des Menschen beschaffen, der durch sich selbst nicht zu Gleichgewicht und Ruhe in seinem Selbstsein finden kann? Ein ungleichgewichtiges und ruheloses Verhältnis ließe sich seiner Struktur nach im sogenannten Verhältnis zwischen zweien festmachen. Durch sich selbst, durch das Verhältnis der Glieder zueinander, kann dieses Verhältnis zwischen zweien nicht die Einheit eines positiven Selbstseins sein. Wenn eine solche Synthese unter der Bestimmung Geist, als mögliches Selbst, betrachtet und damit unter die Forderung, die Gestalt eines Selbstseins zu haben, gestellt wird, kann es sich bei ihr nur um ein ›erkranktes‹ Selbstsein handeln, das im Streben nach sich selbst ruhelos ist. Der Mensch will verzweifelt er selbst sein und ist es doch nur der Möglichkeit nach. Der Mensch in dieser ruhelos verzweifelten Selbstgestalt kann nicht durch sich selbst, nicht durch sein Verhalten zum Selbst werden, das sich zu sich selbst verhält. Wenn der Verzweifelte selbst in sich die Möglichkeit hätte, zur Ruhe zu finden, wäre seine Lage gar nicht so verzweifelt. Doch hat sich angedeutet, dass die Lage auch nicht als fatal zu bezeichnen ist, weil es ständig eine Möglichkeit gibt, nur nicht im Verzweifelten selbst. Die Lage ist gewiss paradox. Der Mensch mit ›erkranktem‹ Selbstsein kann nicht durch sich selbst und sein Verhalten gesunden, und doch hätte er gerade durch ein ›gesundes‹ Verhalten ein Selbst, dass er sich zu sich selbst verhält. Das macht die Therapie am verzweifelten Patienten so schwierig. Der Arzt kann dem Verzweifelten nicht einfach ein bestimmtes Verhalten zur Gesundung empfehlen, und doch hängt an einem bestimmten Verhalten die Heilung der Krankheit. Weder scheint es angebracht, dem Patienten zu empfehlen, er solle aufhören zu verzweifeln – das führte zur Verdrängung –, noch ist zu empfehlen, immer weiter und tiefer zu verzweifeln – das führte nur zur Verhärtung. Indem der Verzweifelte durch sich selbst zur Ruhe zu kommen versucht, will er gerade nicht er selbst sein, der durch etwas Anderes gesetzt ist, sondern eine Selbstgestalt haben, die er sich selbst setzt.2 Es will sich selbst in seiner Einheit setzen. Ein solches Wollen kann nur aus einem ›erkrankten‹ Selbstsein kommen, in dem der Mensch seiner Einheit schon verlustig gegangen ist und die Glieder 2 Vgl. dazu Roth, Homo incurvatus, 32: »Der homo incurvatus in se ipsum will ein Selbst sein, ohne ein Selbst zu sein, d. h. er will ein Selbst sein, ohne sein Selbst wahrhaft anzunehmen.«

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Die Struktur der Verzweiflung

seiner synthetischen Struktur einander entfremdet sind. Weil ›durch sich selbst man selbst sein wollen‹ heißt: verzweifelt man selbst sein wollen, ist dies die Grundformel aller Verzweiflung, auf die man jegliche Form der Verzweiflung zurückführen kann. In welcher Weise ist dann die erste Form ›verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ auf die zweite Form der Verzweiflung zurückzuführen, wie Kierkegaard feststellt (130 / 10,12–17)? ›Verzweifelt man selbst sein‹ will man durch sich selbst, was in der Form ›verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ dem Verzweifelten noch verdeckt ist. Der nicht er selbst sein wollende Verzweifelte steht mehr oder weniger passiv seinem verzweifelten Selbstsein gegenüber, ohne ihm eine aus sich selbst heraus entwickelte Selbstgestalt entgegenzusetzen. Er reflektiert nicht, dass in dieser Passivität auch ein aktivisches Verhalten steckt, das in einem sich dem setzenden Anderen entziehen wollenden Selbstseinwollen seinen Grund hat. Die daraus resultierende Verzweiflung seiner selbst will er nicht annehmen und verzweifelt nicht er selbst sein. Er will sein verzweifeltes Selbstsein nicht sein, weil es nicht das Selbst ist, das er sein will und vermeint zu sein: ein nicht verzweifeltes Selbst, wie er es will. In den höheren Verzweiflungsformen tritt das aktive Moment hervor. Der Mensch kämpft offensiv gegen sein verzweifeltes Selbstsein und wird noch verzweifelter.

2.

Relationale Bestimmungen der Verzweiflung

a)

Die Relation von Missverhältnis und Verhältnis in der Verzweiflung

Kierkegaard verdeutlicht weiter die Grundstruktur jeder Verzweiflung, wenn er sie durch die Relation von Missverhältnis und Verhältnis erläutert: Das Mißverhältnis der Verzweiflung ist kein einfaches Mißverhältnis, sondern ein Mißverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und von etwas anderem gesetzt ist, so daß sich das Mißverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis im Verhältnis zu der Macht, von der es gesetzt wurde, zugleich unendlich reflektiert (130 / 10,28–34).

Das Selbstsein des Menschen ist aus seiner Ruhe und seinem Gleichgewicht geraten, so dass in der Verzweiflung ein Missverhältnis vorliegt. So wie die Formel ›verzweifelt man selbst sein wollen‹ strukturell den Hinweis auf das durch ein Anderes gesetztes Selbstverhältnis enthielt, wird nun das Missverhältnis zu dem Selbstverhältnis in Beziehung gesetzt. Die Rede von dem »Mißverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«, könnte im Sinne eines im bestehenden Verhältnis eingeschachtelten Missverhältnisses gedeutet werden, so dass sich der Verzweifelte auch noch im Missverhältnis zu sich selbst

Relationale Bestimmungen der Verzweiflung

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verhalten würde. Doch wurde von Kierkegaard gesagt, dass im Selbstverhältnis überhaupt kein verzweifeltes Ungleichgewicht herrscht. Er entwirft nicht das Bild eines verzweifelten Ungleichgewichts, in dem das verzweiflungslose Gleichgewicht weiterbesteht, so dass sich im ruhelosen Ungleichgewicht der Verzweiflung noch das ruhige, gleichgewichtige Selbstverhältnis durchziehen würde. Entweder hat der Mensch ein Missverhältnis seiner Selbststruktur und ist verzweifelt oder er ist im Selbstverhältnis und nicht verzweifelt. Und doch muss von einem Missverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, gesprochen werden, weil das Missverhältnis gerade in dem Selbstverhältnis so Raum genommen hat, dass dieses Verhältnis sich nicht mehr zu sich selbst verhält. Dies ist kein einmaliger Vorgang, sondern geschieht ständig – nicht weil sich das Selbstverhältnis immer wieder einstellt, sondern weil dessen Möglichkeit vom Missverhältnis nicht zu beseitigen ist. Diese Möglichkeit des Selbstverhältnisses hängt dem Missverhältnis wie ein Schatten an, macht es zum Missverhältnis; diese Möglichkeit ist eigentlich ein Nichts, sie hat ja keine Wirklichkeit, und ist doch dem Missverhältnis präsent. Das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ist der Maßstab für das Missverhältnis, den es gleichsam weggeworfen hat und dessen Maße es doch trägt. Dieses Maßstabs des Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält, ist das Missverhältnis verlustig gegangen. Im zweiten Abschnitt der KT wird das Missverhältnis mit seinem Maßstab unausweichlich konfrontiert werden, wenn Gott als Maßstab (193 / 80,4) offenbar machen wird, was der Mensch nicht ist, »dasjenige nämlich, was sein Ziel und Maßstab ist« (194 / 80,16). So wie das Selbstverhältnis, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu der Macht verhält, von der es gesetzt worden ist, spiegelt sich das Missverhältnis im Verhältnis zu der Macht, von der es als Selbstverhältnis gesetzt wurde. Aus dem am verzweiflungslosen Selbstverhältnis gewonnenen Befund der Verzweiflungsstruktur lässt sich leicht auf die Formel für das nicht verzweifelte Selbstsein zurückschließen. Das ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz ausgerottet ist: indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, von der es gesetzt wurde (130 / 10,35–39).

Auffällig ist der Zusatz »indem es es selbst sein will«, der zu der Beschreibung des Selbstverhältnisses hinzukommt. Der Wille scheint erst mit der Verzweiflung geweckt worden zu sein, aber als Wille gegen das wahre Selbstsein. In der Befreiung von der Verzweiflung wird der Wille nicht gebrochen, sondern ist ganz dem wahren Selbstsein verpflichtet. So hängt der Wille irgendwie mit der Verzweiflung zusammen, aber er ist es auch, der durch sein ›Selbstseinwollen‹ die

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Die Struktur der Verzweiflung

Verzweiflung überwindet. So wird Kierkegaard ein verzweifeltes Wollen, wie es in den beiden vorgestellten Formen gegeben ist, von einem Verzweifeln-wollen unterscheiden, durch das die Verzweiflung beendet wird. Während der verzweifelte Mensch sich von seinem Grund, dem setzenden Anderen losgerissen hat und grundlos im Nichts schwebt, gründet der sich zu sich selbst verhaltende Mensch durchsichtig im setzenden Anderen. Durch seine Struktur als Selbstverhältnis vermag der Mensch sich nicht in seinen Grund zu ›setzen‹, sondern im Selbstverhältnis verhält er sich durchsichtig auf seinen Grund hin.3 Allein in der Durchsichtigkeit besteht die Qualität des indirekten Sich-Verhaltens zum Grund hin.

b)

Die Relation von Möglichkeit und Wirklichkeit in der Verzweiflung

Kierkegaard beginnt in seinem Kapitel A.B »Möglichkeit und Wirklichkeit der Verzweiflung« mit einer ›rein dialektischen‹ Betrachtung über die Verzweiflung (130 / 11,1f). An späterer Stelle hebt er einen rein dialektischen Sinn von einem ethisch-dialektischen ab (159 / 43,8–14). Die ethische Dimension wird also in den anfänglichen Bestimmungen des Kapitels ausgespart. Erst im nächsten Abschnitt (131 / 11,15ff) wird Kierkegaard auf das Verderben (corruptio) und den Sturz in die Verzweiflung eingehen. Die Verzweiflung ist rein dialektisch betrachtet sowohl ein Vorzug als auch ein Mangel, als solcher Mangel allerdings »das größte Unglück und Elend« (131 / 11,16). Damit ist noch keine ethische Aussage getroffen worden, sondern es wird lediglich gesagt, dass dem Menschen ein Mangel widerfahren, ein Unglück geschehen ist, dessen ethische Dimension im Dunkel bleibt. Freilich ist eine solche Betrachtung der Verzweiflung äußerst ungenügend, wenn hier »über sie geradezu in sinnloser Weise« geredet wird, »wie über etwas, das mit ihm [sc. dem Verzweifelnden] geschieht« (130 / 10,18f). Diese Bestimmung kommt nicht ohne eine entscheidende Abstraktion aus. Sie abstrahiert von einem ›wirklich‹ Verzweifelten und darin von der wirklichen Verzweiflung, um nur den Begriff der Verzweiflung, die nicht wirkliche, nur mögliche Verzweiflung zu reflektieren. In dieser Perspektive zeigt sich die Verzweiflung als ungeheurer Vorzug. Denn im Begriff der Verzweiflung ist die Bestimmung Geist mitgegeben. Verzweiflung ist weder als ein körperliches Gebrechen noch als eine psychische Erkrankung aufzufassen, wie sie beide auch bei Tieren denkbar wären, sondern ist eine Erkrankung des ganzen Menschen in 3 Deshalb ist auch die von Emanuel Hirsch in seine Übersetzung eingetragene aktivische Form des Sich-Gründens dem Sachverhalt nicht angemessen. Siehe dazu Dietz, Kierkegaard, 143, Anm. 114.

Relationale Bestimmungen der Verzweiflung

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seinem Geistsein.4 Deshalb zeugt die mögliche Verzweiflung von unendlichem Aufgerichtetsein und Erhabenheit (131 / 11,8f). Solcher Vorzug ist nur dem Menschen überhaupt zuzusprechen, nicht dem wirklichen Menschen, von dem abstrahiert wird. Für einen wirklich Verzweifelten ist die Verzweiflung kein Vorzug, sondern ein Verderben (131 / 11,15ff). Die Möglichkeit dieser Krankheit ist der Vorzug des Menschen vor dem Tier ; auf diese Krankheit aufmerksam zu sein, ist der Vorzug des Christen vor dem natürlichen Menschen; von dieser Krankheit geheilt zu sein, ist die Seligkeit des Christen (131 / 11,10–14).

Kierkegaard betrachtet hier die Verzweiflung in ihren verschiedenen Modi: Möglichkeit der Verzweiflung – Wirklichkeit der Verzweiflung – überwundene Verzweiflung. Der Vorzug des Christen, auf diese Krankheit aufmerksam zu sein, macht ihn zu einem, der durch und durch verzweifelt – in dem Sinne, dass er durch die Verzweiflung hindurch geht und im Hindurchgehen die Möglichkeit der Verzweiflung ständig zunichte macht. Der Christ wird sich als derjenige herausstellen, der sich zu sich selbst verhält und darin die Verzweiflung überwunden hat. Dagegen ist es der ›natürliche Mensch‹, der in der wirklichen Verzweiflung ›steckenbleibt‹, weil er nur ›meint‹ (130 / 10,18), auf seine Verzweiflung aufmerksam zu sein, aber sich ihrer Wirklichkeit nicht stellt. Die zweifache Bestimmung des Christen in seinem Vorzug vor dem ›natürlichen Menschen‹, seine Aufmerksamkeit auf die Krankheit und ihre Heilung, steht für eine Bewegung, ein Werden, das in der zweifachen Bestimmung des Selbstbegriffs, des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens (130 / 10,36f: »indem es [sc. das Selbst] sich zu sich selbst verhält«) – das entspräche der Heilung von dieser Krankheit – und des Selbstseinwollens (130 / 10,37: »indem es es selbst sein will«) – das entspräche der Aufmerksamkeit auf diese Krankheit – vorgezeichnet ist. Die nun aus der rein dialektischen Behandlung des Themas hinausgehende Untersuchung bringt mit der Deutung der Verzweiflungswirklichkeit ein neues Möglichkeits- und Wirklichkeitsverständnis ein: Von der Art ist das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit sonst nicht; ist es ein Vorzug, das und das sein zu können, so ist es ein noch größerer Vorzug, es zu sein, das heißt, das Sein verhält sich zum Seinkönnen wie eine Steigerung. Was dagegen die 4 Schon die Definition des Menschen als Synthese hebt ihn vom Tier ab. Schmidinger verweist auf SKS 24, 475f / NB25:58 (Problem des Interesses, 301). Doch sinkt der Mensch in der Sünde der Unwissenheit geradezu noch unter die tierische Bestimmung. »In geistlosem Unwissendsein von Gott und in eitlem Wissen von der Welt sinkt so der Heide unter das Tier. Gott töten ist der grausigste Selbstmord. Gottes ganz vergessen des Menschen tiefster Fall, so tief kann das Tier nicht fallen« (SKS 10, 75 / CR, 69f). Zu Kierkegaards Verständnis des Tieres siehe auch Christensen, Zwei Kierkegaardstudien, 40f.

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Die Struktur der Verzweiflung

Verzweiflung angeht, so verhält sich das Sein wie ein Sturz zum Seinkönnen; so unendlich der Vorzug der Möglichkeit ist, so tief ist der Sturz (131 / 11,17–23).5

Oben wurde die Möglichkeit der Verzweiflungskrankheit als ein Vorzug des Menschen gewürdigt; wollte man in dieser rein dialektischen Betrachtung zur Wirklichkeit der Verzweiflung fortgehen, müsste es »ein noch größerer Vorzug« sein, verzweifelt zu sein. Der Mensch wäre nicht nur gemäß seiner Möglichkeit der Krankheit zum Geistsein disponiert, sondern würde dann mit der Verzweiflung sein Geistsein verwirklichen. Die Wirklichkeit fasste der Mensch hier als die »ausgefüllte und ergänzte, die wirksame Möglichkeit« auf (131 / 11,36). In der ethischen Betrachtung aber muss der Vorzug der Möglichkeit der Verzweiflung ganz anders interpretiert werden. Der Vorzug der Möglichkeit der Verzweiflung besteht nicht in der angelegten Geistigkeit des Menschen, die bei der Verwirklichung der Verzweiflung zur Entfaltung käme, sondern der wahre Vorzug der Möglichkeit der Verzweiflung besteht darin, dass hier die Verzweiflung keine Wirklichkeit hat. In der ethischen Perspektive des Sündenfalls zeigen sich die Begriffe von Geistigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit in neuem Licht. Die Steigerung besteht nicht im Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit der Verzweiflung, ihrer geistigen Wirklichkeit, sondern in ihrem Gegenteil: nicht verzweifelt sein – aber ist eine solche Wirklichkeit nicht der bloßen Möglichkeit der Verzweiflung gleichzusetzen? Was also in bezug auf die Verzweiflung die Steigerung bedeutet, ist, es nicht zu sein. Doch ist diese Bestimmung abermals zweideutig. Nicht verzweifelt zu sein ist nicht dasselbe wie nicht lahm, blind und dergleichen zu sein. Wenn nicht verzweifelt zu sein weder mehr noch weniger bedeutet als es nicht zu sein, so bedeutet das gerade, daß man es ist. Nicht verzweifelt zu sein muß die vernichtete Möglichkeit bedeuten, es zu sein; wenn es wahr sein soll, daß ein Mensch nicht verzweifelt ist, so muß er in jedem Augenblick die Möglichkeit vernichten (131 / 11,24–32).

Die Bestimmung ›Nicht-verzweifelt-sein‹ muss mehr als nur ›es nicht zu sein‹ bedeuten. Das heißt, dass die Möglichkeit der Verzweiflung jeden Augenblick zunichte gemacht wird.6 Ein solcher nicht Verzweifelter macht nicht seine vorhergehende oder immer wiederkommende Wirklichkeit der Verzweiflung zunichte, sondern deren Möglichkeit. Der Wirklichkeitsbegriff ist nun auf den Zustand des Nicht-verzweifelt-Seins zu beziehen, aber die diesem Zustand verbundene Vernichtung der Möglichkeit besteht darin, dass ein Mensch durch die Wirklichkeit der Verzweiflung hindurchgeht, ohne in ihr zu verzweifeln. Der 5 Ringleben weist zu Recht hier auf den Gedanken des Sündenfalls hin (Kommentar, 97). 6 Für das der Verzweiflung zugrunde liegende Ärgernis an Christus heißt das: »[D]er Glaube überwindet die Welt, indem er jeden Augenblick den Feind überwindet im eignen Innern, die Möglichkeit des Ärgernisses« (SKS 12, 88 / EC, 80).

Relationale Bestimmungen der Verzweiflung

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Nicht-Verzweifelte hat ständig mit der ›Möglichkeit der Wirklichkeit der Verzweiflung‹ zu tun. Das ist nur zu verstehen, wenn man das für den Begriff der Verzweiflung geltende Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit berücksichtigt. Schon hinsichtlich der Möglichkeit und Wirklichkeit, verzweifelt zu sein, wurde behauptet, dass dieses Verhältnis eigener Art sei (131 / 11,17f,32ff). Für die Möglichkeit und Wirklichkeit, nicht verzweifelt zu sein, wird die Aussage wiederholt, aber in anderer Weise präzisiert als im ersten Fall (131 / 11,36–12,2). Verzweifeltsein besteht in einem Sturz von der Möglichkeit der Verzweiflung in ihre Wirklichkeit, Nichtverzweifeltsein in der Wirklichkeit der stetigen Vernichtung der Möglichkeit zu verzweifeln. In beiden Fällen ist die Wirklichkeit nicht als »die ausgefüllte und ergänzte« (131 / 11,36) Möglichkeit zu verstehen.

c)

Die synthetische Struktur der Verzweiflung

Um das Wesen der Verzweiflung deutlich zu machen, ist nochmals darauf hinzuweisen, dass sich von Verzweiflung nur in der Spannung zwischen Missverhältnis und Verhältnis sinnvoll reden lässt. So wie die Grundform der Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein wollen, zugleich die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses vom Anderen anzeigt (130 / 10,3–12), so drückt auch die Bezeichnung der Verzweiflung als Missverhältnis aus, dass in dem Missverhältnis zugleich das Verhältnis auf bestimmte Weise mitgegeben ist. In dieser Perspektive ist der folgende Satz über die Möglichkeit des Missverhältnisses in der Synthese zu lesen: Aber die Synthese ist nicht das Mißverhältnis, sie ist nur die Möglichkeit, oder, in der Synthese liegt die Möglichkeit des Mißverhältnisses (131 / 12,4ff).

Auf den ersten Blick scheint Kierkegaard sagen zu wollen, dass die Synthese so als Möglichkeit gegeben sei, dass sie entweder als adäquates Verhältnis oder als Missverhältnis verwirklicht werden könne. Dem Mensch wäre in seiner Setzung als Synthese zugleich die Forderung oder Aufgabe der angemessenen Verwirklichung mitgegeben. Ein solches Verständnis würde aber die Absicht Kierkegaards nicht berücksichtigen können, den spezifischen Charakter des Missverhältnisses darzulegen. Denn bestände zuerst nur die Synthese, die sich adäquat oder inadäquat, im Sinne eines rechten Verhältnisses oder eines Missverhältnisses, verwirklichen ließe, bliebe der Verzweiflungscharakter des Missverhältnisses weiterhin dunkel. Dem Missverhältnis wäre keine Spannung zu einem Verhältnis inhärent, was die Verzweiflung ermöglicht. Das Missverhältnis könnte in seinem Missstand nicht an einem adäquaten Verhältnis abgelesen werden, weil

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Die Struktur der Verzweiflung

es sich als solches eben nicht verwirklicht hat. Wie aber lässt sich dann der Verzweiflungscharakter des Missverhältnisses plausibel machen? Das Missverhältnis steht in Bezug zu »dem Verhältnis einer Synthese, das sich zu sich selbst verhält« (131 / 12,3f), d. h., das Selbstverhältnis ist dem Missverhältnis in bestimmter Weise präsent und macht es zu einem verzweifelten Missverhältnis. Kierkegaard spricht von »dem Verhältnis einer Synthese, das sich zu sich selbst verhält« (Hervorhebung von JB). Eine Synthese wurde als ein ›Verhältnis zwischen zweien‹ (129 / 9,16f) von ihm eingeführt, das gerade kein Selbstverhältnis darstellt, aber als Verhältnis zwischen zweien liegt sie ihrer Struktur nach auch dem Selbstverhältnis zugrunde. Der Synthesisbegriff fungiert nun als Beschreibung der Selbstverhältnis und Missverhältnis verbindenden Struktur. Die Synthese ist nur die Möglichkeit des Missverhältnisses – nicht weil aus ihr die Möglichkeit eines sich verwirklichenden Missverhältnisses entspringen könnte, sondern weil die dem Selbstverhältnis entnommene Synthesisstruktur es erst möglich macht, das Missverhältnis als echten Missstand im Sinne einer Verzweiflung zu begreifen. Durch den Verhältnis und Missverhältnis verbindenden Synthesisbegriff kann das Missverhältnis nicht als ein natürliches Schicksal, als etwas unabhängig von dem Selbstverhältnis sich Entwickelndes, sondern als verzweifelte Abkehr vom Selbstverhältnis aufgeklärt werden. Die Verzweiflung ist ein wirkliches Missverhältnis, in dem der Verzweifelte sich aktiv gegen das sich zu sich selbst verhaltende Verhältnis verhält. Die menschliche Natur hängt dem Menschen so an, dass er sich nicht wirklich gegen sie verhalten kann. Auch bei einem ›unnatürlichen‹ Verhalten bliebe der Mensch noch in der Spannweite seiner Natürlichkeit. Seiner Natur gegenüber ist der Mensch passiv ; er kann sich nur in ihr verhalten, ihm stößt immer nur Menschlich-Natürliches zu. Der ihm widerfahrende Charakter seiner Natur findet seinen allgemeinen Ausdruck im Tod, »der das Los aller ist« (132 / 12,12).7 Insofern ist die Verzweiflung nichts Natürliches, als in ihr der Mensch sich aktiv gegen sich selbst verhält. Aufgrund seiner Konstitution als Synthese zwischen zweien kann er sich gegen sich selbst verhalten, also Missverhältnis im Verhältnis sein. Kierkegaard legt damit die Verantwortung für die Verzweiflung dem Menschen selbst zur Last. Dass er verzweifle, liege an ihm selbst. Die Verzweiflung liegt nicht im Menschen als Geschöpf Gottes, in seiner eigentlichen synthetischen Konstitution als Selbstverhältnis begründet. Der Mensch kann nicht den ihn setzenden Anderen anklagen, warum er in ihm die Möglichkeit mitgesetzt habe, zu verzweifeln. Diese Möglichkeit liegt nicht in seiner natürlichen Verfasstheit als Geschöpf Gottes. Gott hat den Menschen ursprünglich in 7 Zum Verständnis von Tod und Sterben bei Kierkegaard, siehe Theunissen, Das Erbauliche; Stokes / Buben (Hg.), Kierkegaard and Death.

Relationale Bestimmungen der Verzweiflung

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das richtige Verhältnis, in eine Synthese, die sich zu sich selbst verhält, gesetzt (132 / 12,14ff) und nicht etwa nur als eine Synthese zwischen zweien geschaffen. So kann die Verzweiflung nur im Menschen selbst begründet liegen, nicht in seinem Schöpfer. Man könnte fragen, ob aufgrund der auf den Anderen bzw. Gott verweisenden Struktur von Verzweiflung dieser nicht doch zur Verantwortung zu ziehen sei. Aber Gott ist nur für das Selbstverhältnis, nicht aber für das Missverhältnis, weder in seiner Möglichkeit noch Wirklichkeit, verantwortlich zu machen. Wenn der Verzweifelte Gott zur Verantwortung ziehen wollte – und das wird er auf dem Höhepunkt der Verzweiflung –, missversteht er die Verzweiflung als etwas, was mit dem Menschen geschieht, und sieht nicht, dass es an ihm selbst liegt, auch wenn er nur verzweifeln kann, weil er ursprünglich von Gott in das Selbstverhältnis gesetzt ist. Woher kommt also die Verzweiflung? Von dem Verhältnis, in dem die Synthese sich zu sich selbst verhält, indem Gott, der den Menschen zu dem Verhältnis machte, es gleichsam aus seiner Hand losläßt, das heißt, indem das Verhältnis sich zu sich selbst verhält (132 / 12,17–21).

Auch dieser Satz gewinnt erst seinen Sinn, wenn man wieder Beziehung und Unterschied zwischen dem Begriff der Synthesis und des (Selbst-)Verhältnisses berücksichtigt. Mit dem Synthesisbegriff ist allein noch nicht ausgemacht, ob es sich um ein Missverhältnis oder um ein richtiges Verhältnis handeln soll. Er kann nur durch seine Bestimmung als Selbstverhältnis zur ›richtigen‹ Synthese qualifiziert werden. Deshalb kann gemäß dem Zitat die Synthese sich zu sich selbst verhalten, »indem das Verhältnis sich zu sich selbst verhält« (Hervorhebung von JB). Wenn die Synthese im falschen Verhältnis, im Missverhältnis besteht, so ist sie in ihrer Struktur als Synthese noch von der Synthese im richtigen Verhältnis abhängig, was die Verzweiflung auslöst. Man könnte versucht sein, die Aussagen in einen Folgezusammenhang zu bringen. Zuerst bringt Gott die Synthese in das richtige Verhältnis und lässt sie dann aus seiner Hand. Aber Kierkegaards Formulierung legt nahe, dass die Schöpfung des Menschen zum zu sich selbst verhaltenden Verhältnis sein Loslassen aus Gottes Hand bedeutet. Die Bestimmung als Selbstverhältnis ist mit der Bestimmung, dass Gott den Menschen aus seiner Hand loslässt, d. h. ihn setzt, mitgegeben. Beide Bestimmungen, Selbstverhältnis und Setzungsverhältnis, hängen aus der Perspektive des Selbstverhältnisses so ineinander, dass das ›Selbst‹ des Menschen sich zu dem setzenden Anderen verhält, indem es sich zu sich selbst verhält, d. h. dass im Selbstverhältnis der Mensch auf den ihn loslassenden Gott durchsichtig wird (vgl. 130 / 9,32–10,2).

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Die Struktur der Verzweiflung

Die Aussage, dass Gott den Menschen aus seiner Hand lässt, darf also nicht dahingehend missverstanden werden, dass Gott den Menschen gewissermaßen auf sich selber gestellt sein lässt und zusieht, ob er sich im Sinne des Missverhältnisses oder des richtigen Verhältnisses verhält. Gott hat in der Erschaffung des Menschen sich selbst zurückgenommen, ohne etwas von seiner Allmacht aufzugeben. Nur so ist der Mensch in Gott gegründet frei – seine Gründung in Gott ist seine Freiheit.8 Kierkegaard sagt, dass Gott den Menschen zu einem Verhältnis und nicht zu einer Synthese macht. Allein der Synthesisbegriff hätte hier die alternative Möglichkeit des Missverhältnisses oder des richtigen Verhältnisses einbringen können.9 Christiane Tietz interpretiert das Loslassen aus Gottes Hand als Eröffnung menschlicher Selbstbestimmung. Der Mensch »bestimmt die Bedingungen seiner Existenz zwar nicht selber, bestimmt aber selbst, ob und wie sehr er ihnen gemäß lebt« (Freiheit zu sich selbst, 38). Mit dieser Interpretation ist schwerlich vereinbar, dass die aus Gottes Hand kommende Synthese nach Kierkegaard im rechten Verhältnis, im Selbstverhältnis ist. Tietz deutet dieses rechte Verhältnis im Sinne einer Forderung um, wenn in ihr »sich kein Element der Synthesis auf Kosten seines polaren Gegenübers durchsetzen soll« (Ebd., Hervorhebung im Original). Auch die von Tietz gezogene Verbindung des aus Gottes Hand noch nicht losgelassenen Selbst mit dem Selbst jat± d}malim (Ebd., Anm. 22) erscheint problematisch, wenn letzteres von Kierkegaard als nicht daseiendes verstanden wird und ein Mensch in diesem Zustand verzweifelt ist.

Das Verhältnis, zu dem Gott den Menschen macht, ist das richtige Verhältnis, das Selbstverhältnis. Indem Gott den Menschen aus seiner Hand lässt, ermöglicht er ihm nicht nur, sich zu ihm, dem Setzenden, in rechter Weise zu verhalten, sondern im Loslassen hat Gott sogleich das rechte Verhältnis des Gesetzten zu ihm verwirklicht.10

8 Siehe dazu SKS 20, 57, NB:69: »Der, dem ich absolut alles verdanke, obgleich er doch ebenso absolut alles behält, gerade der hat mich unabhängig gemacht« (Übersetzung: Dietz, Kierkegaard, 68). Vgl. auch Hühn, Kierkegaard, 211f. 9 Gemäß seinem Verständnis der Sünde in BA will Kierkegaard beim Menschen keine Freiheit der Sünde und damit zur Sünde voraussetzen, sondern von der Freiheit gilt, dass »sie dadurch gesetzt wurde, daß ihr Mißbrauch gesetzt wurde« (SKS 4, 362 / BA, 60,38f). Oder noch schärfer : Der freie Wille (liberum arbitrium) hat »am Anfang ebensowenig wie später in der Welt existiert […], da er ein Gedanken-Unding ist« (SKS 4, 355 / BA, 50,37ff). Zur neueren Diskussion um das Verhältnis von Freiheit und Sünde vgl. Pröpper, Faktum der Sünde; Pannenberg, Sünde, Freiheit, Identität; Theunissen, Freiheit und Schuld. 10 Deshalb ist für Kierkegaard das Hereinkommen der Sünde in die Welt auch nicht logisch erklärbar, weder durch den Begriff der Notwendigkeit noch durch die falsche Annahme eines praelapsarischen freien Willens (Siehe SKS 4, 354f / BA, 50,34–51,4).

Die Fortdauer der Verzweiflung

3.

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Die Fortdauer der Verzweiflung

Die Verzweiflung wurde als Missverhältnis im Verhältnis beschrieben. Diese Bestimmung ist noch sehr vage, und es stellt sich die Frage, wie das Missverhältnis als fortdauerndes Geschehen aufrechterhalten wird. Für Kierkegaard ergibt sich die Fortdauer nicht aus dem Missverhältnis, sondern aus dem Selbstverhältnis. Das heißt, jedesmal wenn das Mißverhältnis sich äußert, und in jedem Augenblick, indem es besteht, muß man auf das Verhältnis zurückgehen (132 / 12,36–39).

Das Missverhältnis bezieht seine Dauer aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, also aus dem, was es selbst nicht ist. Es würde sofort sein Ende finden, wenn es nicht an das gebunden wäre, von dem es sich gerade lossagt. Der im Missverhältnis beharrende Mensch kann sich nicht aus sich selbst aufrechterhalten – wie könnte er das auch, wenn er ja gerade sich selbst verloren hat? Das bedeutet aber auch, dass der im Missverhältnis beharrende Mensch dieses nicht durch sich selbst beenden und wieder in das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, eingehen kann. Die Fortdauer des Missverhältnisses ist von besonderer Art, weil sie zwar durch das Selbstverhältnis erfolgt, aber als Missverhältnis nicht wie das Selbstverhältnis Kontinuität besitzt. Das menschliche Verhältnis im Missverhältnis gründet nicht mehr als ›Selbst‹ in der setzenden Macht und kann so keinen Bestand und keine Dauer mehr haben. Aber weil es sich nur als gegründetes Verhältnis von seinem Grund lossagen kann, führt es diesen Grund dennoch mit sich. Um diesem eigenartigen Ineinander von Dauer und Unbeständigkeit Rechnung zu tragen, spricht Kierkegaard von den Augenblicken, in denen das Missverhältnis besteht. Die Verzweiflung kommt nicht über die ›Dauer‹ eines Augenblicks hinaus, sie hat nicht die Dauer des Ewigen, weil sie von diesem losgekommen unbeständig ist; aber weil die Verzweiflung in vielen Augenblicken, in jedem Augenblick stattfindet, als ob der Mensch doch nicht von dem Ewigen losgekommen sei, liegt doch eine gewisse Dauer vor. Kierkegaard erläutert diesen Sachverhalt an einem Beispiel, in dem er eine normale Krankheit der Verzweiflungskrankheit gegenüberstellt (132 / 12,39–13,21). Die Wirklichkeit der Verzweiflungskrankheit unterscheidet sich von der Wirklichkeit einer seelisch-körperlichen Krankheit darin, dass ihr Ursprung dem Erkrankten ständig präsent ist, die Krankheit gleichsam ständig ausbricht. Kierkegaard sprach davon, dass die Synthese des Menschen von Gottes Hand ursprünglich im richtigen Verhältnis sei (vgl. 132 / 12,14ff). Es handelte sich dabei um keinen vergangenen Ursprung, von dem der Mensch sich zeitlich immer weiter entfernt, sondern von dem er sich ständig neu in die Verzweiflung entfernt. Die Wirklichkeit der Verzweiflung besteht nicht wie jede

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Die Struktur der Verzweiflung

andere Krankheit »von dem Augenblick an« (132 / 13,2), wo sie begann, sondern sie besteht in jedem Augenblick neu. Bei jeder anderen Krankheit kann von einem »Fortbestehen der Krankheit« (132 / 13,10) ab einem bestimmten Augenblick geredet werden. Eine solche Fortdauer gibt es bei der Verzweiflung nicht, weil sie anderen Ursprungs ist. Ihr Fortbestehen ist ›augenblicklich‹, es verdichtet sich in jedem Augenblick neu. Der Verzweifelte schaut nicht auf einen vergangenen Zeitpunkt zurück, an dem er vielleicht zum ersten Mal verzweifelt gewesen ist, sondern er lässt »das gesamte Vorhergehende in der Möglichkeit als etwas Gegenwärtiges weiterbestehen« (132f / 13,20f). In jedem Augenblick wiederholt sich streng genommen nicht dasselbe, sondern es findet eine Potenzierung statt. Es gehen jedem Augenblick immer mehr Augenblicke voraus, die als vorhergehende nicht vergangene werden, sondern die Gegenwart des Augenblicks immer höher qualifizieren. Das Vorhergehende ist die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Für die unbeständige und doch andauernde Wirklichkeit der Verzweiflung gilt, dass sie in jedem Augenblick in ihre Möglichkeit aufzulösen ist (132 / 13,7f). Nicht die Kontinuität einer reinen Wirklichkeit liegt vor, sondern die Verzweiflungskrankheit besteht in einer immer wiederkehrenden Möglichkeit. Doch ist die Wirklichkeit der Krankheit nicht in dem Sinne bloß die Möglichkeit der Krankheit, dass es erst gar nicht zur Krankheit käme. Vielmehr ist die Verzweiflung nur in der Weise wirklich, dass ihre Wirklichkeit ganz von ihrer Möglichkeit her gedacht ist. Die Wirklichkeit der Verzweiflung entspringt ihrer ständigen Möglichkeit. Der Verzweifelte zieht sich die Verzweiflung jeden Augenblick zu, er fängt also bei der Möglichkeit der Verzweiflung immer wieder von vorne an; er tritt in gewisser Weise auf der Stelle und kommt nur darin vorwärts, dass die Möglichkeit der Verzweiflung durch die Hinzunahme des Vorhergehenden ständig wächst und die Verzweiflung des Verzweifelnden intensiviert. Es lässt sich nun besser verstehen, warum der Verzweifelte sich mit all seinem vermeintlichen Arbeiten immer tiefer in die Verzweiflung hineingräbt (vgl. 130 / 10,27f). Man möchte einwenden, dass dieser vermeintliche Arbeiter doch nicht seine Verzweiflung verwirklichen sondern loswerden will. Aber darin liegt die Tücke der Verzweiflung, dass derjenige, der die Verzweiflung loswerden will, sich aktiv ihre Verwirklichung zuzieht – sie ist der ›Sturz‹ in die Verzweiflung. Während der Verzweifelte ständig aus der Möglichkeit der Verzweiflung in deren Wirklichkeit ›stürzt‹, ist der Nichtverzweifelte dauernd dabei, die Möglichkeit der Verzweiflung zunichte zu machen. Darin besteht seine Wirklichkeit. Das gesamte Vorhergehende besteht im Augenblick der Nichtverzweiflung nicht in der Möglichkeit – der Möglichkeit, zu verzweifeln – als etwas Gegenwärtiges weiter, sondern diese Möglichkeit wird vernichtet. Der Nichtverzweifelte macht in jedem Augenblick durch sein Verhalten wirklich, dass für ihn nicht die

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Möglichkeit besteht zu verzweifeln. Als Nichtverzweifelter verhält er sich nur zu sich selbst, ist »im richtigen Verhältnis« (132 / 12,15f), was es ihm nicht möglich macht, zu verzweifeln. Wenn der Verzweifelte meint, seine Verzweiflung zu erkennen, wird er trotzdem in seiner Verzweiflung hervorrufenden Strategie fortfahren. Der Mensch behandelt seine Verzweiflung so, wie er jede andere Krankheit versteht. Er will sie zu einer Wirklichkeit machen, »deren Ursprung mehr und mehr zu etwas Vergangenem wird« (132 / 13,3f; Hervorhebung im Original). Ihre Entwicklung soll nicht »jede[n] Augenblick auf ihn als Ursache zurückzuführen« (132 / 13,12f) sein. Der Verzweifelte will sich von seiner Verzweiflung entfernen, indem er die Verzweiflung zu etwas Vergangenem zu machen sucht. Aber weil die Verzweiflung mit dem Ewigen zusammenhängt, müsste das Ewige mit der Zeit vergehen – was unmöglich ist. Die Verzweiflung wird in diesem Bemühen entsprechend einer leiblich-seelischen Krankheit behandelt und kann auch gar nicht anders verstanden werden, weil der Verzweifelte sich selbst verloren hat. Die Erkenntnis, dass er selbst sich die Verzweiflung ständig zuzieht, würde dem Verzweifelten »sowohl grausam wie unmenschlich« (132 / 13,4f) vorkommen. Deshalb wird er es in seiner Verzweiflung nicht akzeptieren wollen. Und doch läge darin die Erkenntnis, wie er in der Verzweiflung am Ewigen hängt, am Ewigen, das ihn als Menschen setzt. Der Verzweifelte würde nicht die Wahrheit seiner Verzweiflung als unmenschlich ablehnen, sondern das zutiefst Menschliche in ihrer Tiefe sehen, und die Verzweiflung wäre überwunden. Er würde in der Verzweiflung entdecken, was ihn als Menschen hält, er würde durch das Missverhältnis hindurch das Verhältnis entdecken, an das das Missverhältnis noch gebunden ist – dann wäre die Verzweiflung unmöglich noch Verzweiflung. Der Verzweifelte brächte so Zeit und Ewigkeit in ihr rechtes Verhältnis. Das Ewige würde nicht mehr wie eine Krankheit des Menschen angesehen, die man loswerden muss, sondern der Mensch würde in seinem Verhalten am Ewigen hängen, das ihn gesetzt hat. Aber der Verzweifelte will das Ewige ›ein für allemal‹ (133 / 13,25, Hervorhebung im Original) abwerfen, er will es zum Vergangenen verzeitlichen.11 Diese Möglichkeit gelingt ihm auch im Augenblick, »in dem er es [sc. das Ewige] nicht hat« (133 / 13,26f). Er vermag das Ewige abzuwerfen, »von sich abgeworfen haben« (133 / 13,27); er hat das Ewige in die Zeit hineingeholt, in die Vergan11 Vgl. die in ihrer Struktur diesem Ansinnen ähnlichen Beispiele in den »Christlichen Reden« (1848), wo man vordergründig des Ewigen sich nicht entledigen, sondern es gewinnen will: »Wollte z. B. einer das Ewige ergreifen, um davon zeitlichen Vorteil zu haben, so ist er verloren; wollte einer den heiligen Geist um Geld kaufen, so ist er verloren. Und weshalb ist er verloren? Weil er in der Zeitlichkeit das Ewige verloren hat; denn er hat das Ewige eben dadurch verloren, daß er es zum Zeitlichen herabdrücken wollte« (SKS 10,147 / CR, 146, Hervorhebung im Original).

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Die Struktur der Verzweiflung

genheit gedrückt. Er macht das Ewige zu einem vergehenden ›Einmal‹. Der Verzweifelte hat sich von der Ewigkeit abgewandt und ganz der Zeit verschrieben; deshalb muss ihm sein Bemühen im ganz zeitlich verstandenen Augenblick erfolgreich erscheinen. Rein zeitlich gesehen ist er die Ewigkeit losgeworden. Aber wenn man den Augenblick in seinem wirklichen Zeit–Ewigkeitsverhältnis betrachtet, ist das Ewige keinen Augenblick vergangen, sondern das dem Verzweifelten zeitlich vergangene Ewige ist ewig gegenwärtig. Die Zeit lässt sich unmöglich von ihrem Ewigkeitsbezug lösen. Verstände der Verzweifelte den Augenblick nicht als Zeitpunkt, an dem man etwas macht, das dann vergeht, sondern verstände er sich im Augenblick, in dem er in seiner ganzen Zeitlichkeit vor der Ewigkeit steht, wäre er von seiner Verzweiflung genesen. Der Nicht-Verzweifelte vernichtet in jedem Augenblick ›ein für allemal‹ die Verzweiflung, wenn er ihre Möglichkeit vernichtet (vgl. 131 / 11,31f). Aber ist sein Verhalten nicht genauso illusorisch, wenn bei ihm die Möglichkeit der Verzweiflung auch wiederkehrt? Beim Verzweifelten wie Nicht-Verzweifelten kehrt das Ewige jeden Augenblick wieder, beim einen als das, woran er verzweifelt, beim anderen als das, woran er nicht verzweifelt. Das Ewige in der Verzweiflung wird dem einen ständig zur Ursache, zu verzweifeln, dem anderen zur ständigen Ursache, nicht zu verzweifeln. Der Gedanke einer felix culpa ist dadurch verwehrt, dass die Möglichkeit der Verzweiflung vom Nicht-Verzweifelten nicht verwirklicht, sondern zunichte gemacht wird. Die Eigenart des Heils liegt darin, dass es als Ewiges in dem Gewand der möglichen Verzweiflung auf den Menschen zukommt und nicht außerhalb dieser Möglichkeit steht. Mit ihm ist ständig die Möglichkeit verbunden, dass der Mensch an ihm Anstoß nimmt und den Weg in die Verzweiflung einschlägt. Kierkegaards Augenblickbegriff besitzt seine Eigenart darin, dass zum einen ein Augenblick auf den anderen folgt, sonst hieße es nicht »jeden Augenblick« (133 / 13,28), und zum anderen jeder Augenblick alle anderen, das gesamte Vorhergehende, enthält, als wäre die Zeit doch nur ein einziger Augenblick (vgl. 132f / 13,19ff). Beide Augenblickdimensionen bilden auch die jeweiligen Zielpunkte des Verzweifelten und Nicht-Verzweifelten. Der Verzweifelte will den einzigen Augenblick zu einem unter vielen machen, um dem Ewigen zu entkommen, der Nicht-Verzweifelte will jeden Augenblick zu einem einzigen Augenblick machen, weil er sich in ihm dem Ewigen zuwendet. Damit lässt er allein den Augenblick wahrhaft Augenblick sein, weil jeder Augenblick vom Ewigen abhängt. Kierkegaard gibt als Grund für die Wirklichkeit des Ewigen das Selbstverhältnis des Menschen an, das jeder Verzweiflung zugehört (133 / 13,29ff). Der Gedanke, dass erst das Selbstverhältnis das Missverhältnis und damit die Verzweiflung ermöglicht, erscheint im Zusammenhang mit der Bestimmung des

Die Verzweiflung über etwas und über sich selbst

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»Ewigen im Menschen« (132 / 13,23), d. h. der dem Menschen eingestifteten Gottesbeziehung, in einem neuen Licht. Das Ewige ist so mit der Verzweiflung verbunden, dass die Verzweiflung als Bestimmung des Geistes sich zum ›Ewigen im Menschen‹ verhält. Worin liegt das Missverhältnis, das sich aus dem Selbstverhältnis ergibt? Das Missverhältnis liegt darin, dass der Mensch sich direkt zum Ewigen verhalten will. Er kann sich aber nicht direkt zum Ewigen, zu der Macht, die ihn in seinem ganzen Verhältnis gesetzt hat, verhalten, sondern nur dadurch, dass er sich zu sich selbst verhält, verhält er sich zu der Macht des Ewigen. In der Verzweiflung ist dem Menschen das Ewige nicht das, wozu er sich in seinem ganzen Verhalten verhält, sondern wozu er sich selbst verhalten will. Der Verzweifelte meint in seinem Selbstanspruch sich Gott gegenüber verhalten zu können, wie es in den höheren Formen der Verzweiflung deutlich wird, während der Nicht-Verzweifelte durch sein selbstloses Verhalten sich selbst von Gott empfängt. Die Differenz des Setzungsverhältnisses zum Selbstverhältnis wird vom Verzweifelten gewissermaßen in letzteres eingeholt. Nur dort kann er das Ewige, die ihm eingestiftete Gottesbeziehung treffen, aber dieser Erfolg ist nur mit der Verzweiflung über sich selbst zu erkaufen. Damit hat der Mensch sein Selbstverhältnis in ein gänzliches Missverhältnis verwandelt. Das Ewige wird von ihm wie etwas ihm Anhängendes genommen, das er loswerden will. Der Mensch wirft wirklich das Ewige von sich ab (133 / 13,26f), er sagt sich von seinem Selbstverhältnis jeden Augenblick los. Die Verzweiflungstat des Menschen schlägt durch bis auf den Grund des Menschseins und trifft dort das Selbstverhältnis. Aber sie vermag seinen Grund nicht auszulöschen, sonst müsste auch das Setzungsverhältnis direkt getroffen werden. Der verzweifelte Mensch ist im Augenblick erfolgreich, und doch hat er sich dazu verurteilt, seinen Erfolg ständig wiederholen zu müssen. Das Verhältnis zu sich selbst, sein Selbstsein, kann der Mensch nicht loswerden, nicht ›ein für allemal‹ (133 / 13,25), sondern nur ›allemal‹, d. h. ständig, wird er es los.

4.

Die Verzweiflung über etwas und über sich selbst

Die Struktur der Verzweiflung expliziert Kierkegaard an Unterschied und Beziehung zwischen der Verzweiflung über etwas und über sich selbst (134f / 15,28–16,10). Ein angefügtes Beispiel illustriert die Relation beider Formen der Verzweiflung. Cesare Borgia ist mit der Losung »entweder Caesar oder gar nichts« (134 / 15,34) angetreten – sein Name ist ihm also Programm –, aber er wird nicht Caesar und verzweifelt darüber. Diese Verzweiflung über etwas zeigt sich genauer als Verzweiflung über sich selbst. Cesare Borgia verzweifelt über sein ›Selbst‹, das nicht Caesar wurde.

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Die Struktur der Verzweiflung

Kierkegaards weitere Auskunft: »Über etwas verzweifeln bedeutet also noch keine eigentliche Verzweiflung. Es ist der Anfang« (135 / 16,23f) wird von Theunissen kritisiert: »Die Auskunft widerspricht der Tatsache, daß die in A [sc. Teil A der KT] nur an Beispielen erläuterte Verzweiflung über etwas ihre begriffliche Entfaltung im Kontext der Ausführungen zum verzweifelten Nichtselbstseinwollen erfährt. Ist dieses doch eine Form und faktisch die Grundform eigentlicher Verzweiflung. Der Widerspruch läßt sich schwerlich dadurch auflösen, daß man die noch nicht eigentliche Verzweiflung gegen die uneigentliche abgrenzt. Denn die Verzweiflung über etwas wird genauso gekennzeichnet wie die uneigentliche, so, daß in ihr der Mensch weder seiner noch ihrer bewußt ist und kein Bewußtsein von ihr hat, sofern er weder weiß, was sie an sich ist, noch realisiert, daß er sich in einem verzweifelten Zustand befindet« (Begriff Verzweiflung, 74). Die von Theunissen beobachtete Ähnlichkeit der Verzweiflung über etwas mit der uneigentlichen Verzweiflung ist einerseits zutreffend. Hier wird geistlos über etwas verzweifelt. Andererseits kann man auch geistvoll über etwas verzweifeln, wenn man es zu seinem vermeintlichen Selbstsein potenziert. Dann liegt eine eigentliche Verzweiflung vor. Diese ist sowohl bei der Geliebten (135 / 16,27–17,2) als auch bei Cesare Borgia der Fall, und deshalb werden jene zu Recht im Kontext des verzweifelten Nichtselbstseinwollens entfaltet. In dieser Selbst-Verzweiflung, hinter der das gesteigerte Etwas eines Anlasses steckt, verzweifelt man jedoch wie bei der geistlosen Variante immer noch über den Anlass der Verzweiflung, ohne zu bemerken, woran man verzweifelt. Insofern weiß der Mensch auch hier nicht, was die Verzweiflung an sich ist, noch realisiert er wirklich, in welch verzweifeltem Zustand er sich befindet.

Die ›Selbstischkeit‹12 Cesares lässt sich bei genauerem Hinsehen schon aus seiner Losung erschließen. Er will nicht etwas werden, sondern entweder alles, gottgleicher Herrscher über alle, oder gar nichts. Etwas Dazwischenliegendes kommt für ihn nicht in Frage. Wenn Cesare Borgia Caesar geworden wäre, fährt Kierkegaard fort, wäre das wohl seine ganze Lust gewesen, aber auch seine Verzweiflung, weil er dabei nur verzweifelt sich selbst losgeworden wäre. Nicht Caesar geworden, verzweifelt er hingegen darüber, dass er sich selbst nicht verwirklichen konnte. Das caesarische ›Selbst‹ ist für Cesare eine programmatische Setzung, durch die er meint, er selbst zu werden. Sie soll ihm dazu dienen, sich selbst in seiner Verzweiflung, wie er nicht zu sein meint, loszuwerden. »[D]ieses Selbst, das nicht Caesar wurde, ist für ihn das Unerträgliche« (135 / 16,5f). Wenn er selbst Caesar geworden wäre, bestände das Unerträgliche gleichfalls darin, dass er dabei »dennoch nicht er selbst geworden [wäre]« (135 / 16,13), d. h. im Cäsarentum nicht sich selbst gefunden hätte. Er wäre sich selbst also nur verzweifelt losgeworden, weil sein Caesar-Sein sein verzweifeltes Selbstsein nicht auszulöschen 12 Vgl. dazu in BA den Begriff des Selbstischen, das »erst durch die Sünde und in der Sünde zustande kommt« (SKS 4, 382 / BA, 84,16–85,1).

Die Verzweiflung über etwas und über sich selbst

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vermag. Cesares Werden-wollen ist im tieferen Sinn eine Flucht vor sich selbst, ein Sich-loswerden-wollen. Der alternative Zusatz von Cesares totalitärer Losung verrät, wie es um sein Ansinnen bestellt ist. Caesar zu werden, wäre nicht deshalb seine Lust gewesen, weil er ein äußerlich anderer würde. Seine Verzweiflung ist über dieses Anfangsstadium schon fortgeschritten. Er will nicht ein anderer sein, er will nur er selbst sein. Sein Lust am Caesarentum ernährt sich daraus, dass er glaubt, damit ganz er selbst sein zu können. Würde er nur darüber verzweifeln, dass er nicht Caesar wurde, verzweifelte er über etwas anderes, das er nicht ist. Aber indem er über sich selbst verzweifelt, dass er nicht Caesar wurde, geht es ihm nicht um etwas anderes, sondern nur um sich selbst, darum, sein von der Verzweiflung angegriffenes gegenwärtiges Selbstsein hinter sich zu lassen und seine SelbstErfüllung im Cäsarentum zu finden. Cesare Borgia ist ein unruhiger Geist, der vergessen will, weil »es drinnen zu stark lärmt« (180 / 67,14). Freilich sieht es einen Augenblick lang aus, als würde hier über etwas verzweifelt. Der Mensch verzweifelt ja über etwas in der Zeit, über den fehlgeschlagenen Versuch, an einem bestimmten Zeitpunkt Herrscher zu werden, über eine bestimmte Sache in seinem Leben. Er scheint darüber zu verzweifeln, dass er etwas für sich nicht gewinnen kann. Aber im selben Augenblick fällt das Licht der Ewigkeit auf diese Verzweiflung, weil im Augenblick der Verzweiflung sich Zeitliches und Ewiges verbindet. Nun zeigt sich die Verzweiflung nicht mehr als eine über etwas, sondern über die ewige Selbstgestalt. »Indem er über etwas verzweifelte, verzweifelte er eigentlich über sich selbst, und will nun sich selber loswerden« (134 / 15,31ff, Hervorhebung im Original). Beide Aspekte werden dadurch hervorgerufen, dass der Mensch das Ewige in seine Zeit herunterzureißen versucht. Das Ewige erscheint deshalb wie eines unter vielen ›Etwas‹, zu denen der Mensch in Beziehung tritt, aber in Wahrheit ist es er selbst, um den es ihm in seiner Verzweiflung ständig geht. Die Verzweiflung wird von einem Schein begleitet, mit dem der Verzweifelte sich selbst zu täuschen vermag. Denn sein verzweifeltes Selbstseinwollen suggeriert, dass er etwas erreichen will, das ihm als ureigenstes Recht zusteht: er selbst zu sein. Wenn er darüber verzweifeln würde, dass er – ohne Hilfsmittel – nicht fliegen kann, würde man seine Verzweiflung nicht so recht ernstnehmen. Aber so scheint sich die Verzweiflung am höchsten und edelsten Gegenstand, über den man verzweifeln kann, festzumachen: am eigenen Selbst. Dem Menschen ist ein furchtbares Unglück zugestoßen, und sein Leben ist nun solange sinnlos, bis er sein Selbst wiedergewonnen hat. Das ist der Eindruck, den der Mensch in der Verzweiflung von sich hat. Der Verzweifelte will nichts Unmögliches, nichts Absurdes, er will kein anderer sein, als der er ist – aber gerade das hat ihm sein Schicksal verwehrt. Auch Cesare Borgia will für sich kein anderer sein, als der er selbst ist. Sein

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Die Struktur der Verzweiflung

Selbst ernährt sich vom Herrschen, er ist herrschsüchtig (134 / 15,33). Das Herrschen erscheint ihm als seine ganze Lust, mit der er sein Leben zu befriedigen hofft. Caesar zu werden ist für ihn kein maßloses Verlangen oder egoistische Verbohrtheit, sondern nur der Kampf gegen sein quälendes Unglück, dass sein Selbst sich nur im Herrschen erfüllt, er aber nicht Caesar wird. Er hat sich sein Herrscher-Selbst nicht ausgesucht; doch nun kann er nur verzweifelt versuchen, es anzunehmen und für sich auszufüllen, damit seine quälende Sucht ein Ende hat.

5.

Die ›Formel für alle Verzweiflung‹

Kierkegaard nennt als Formel für alle Verzweiflung: »über sich verzweifeln, verzweifelt sich selbst loswerden wollen«: Über sich verzweifeln, verzweifelt sich selbst loswerden wollen, ist die Formel für alle Verzweiflung, so daß infolgedessen die zweite Form der Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen, auf die erste zurückgeführt werden kann, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, so wie wir im Vorhergehenden die Form, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, in diejenige, verzweifelt man selbst sein zu wollen, aufgelöst haben (135f / 17,3–9).

Der Verzweifelte will sein Selbstsein loswerden, das er nicht als sein Selbst ansieht und sein will – das besagt die Formel ›Verzweifelt sich selbst loswerden wollen‹. Verzweifelt sich selbst loswerden wollen ist der Grund aller Verzweiflung, weil es dem Menschen eine Qual ist »gezwungen zu werden, ein Selbst zu sein, wie er es nicht sein will« (136 / 17,24f). Diese Qual loszuwerden ist seine eigentliche Intention. Wie könnte er auch das von Gott losgerissene Selbstsein sein wollen, das ihn in die Verzweiflung stürzt? ›Verzweifelt sich selbst loswerden wollen‹ heißt nach Kierkegaard zugleich ›über sich verzweifeln‹ – das Selbstsein ist zum Verzweifeln und dieses Verzweifeln bedeutet, dass man sich nur loswerden wollen kann. Kierkegaard behauptet, dass die zweite Form der Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein wollen, auf die erste zurückgeführt werden kann: verzweifelt nicht man selbst sein wollen. Aus der Verzweiflung des ›Verzweifelt sich selbst loswerden wollen‹, das dem ›Nicht man selbst sein wollen‹ entspricht (130 / 10,4f), ergibt sich das verzweifelte Selbstseinwollen. Verzweifelt sich selbst loswerden wollen impliziert die vermeintliche Erkenntnis, dass man selbst dieses nur Verzweiflung hervorrufende Selbst, das man sein soll, eben nicht ist, und ruft den notwendigen Wunsch hervor, man selbst sein zu wollen. Denn wie sollte ein Mensch ohne Selbst sein können? Man kann die Argumentation aber auch umkehren. Nach Kierkegaard lassen sich die beiden Grundformen der Verzweiflung wechselseitig aufeinander zu-

Die ›Formel für alle Verzweiflung‹

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rückführen. Wie sich die Form ›verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ aus der Form ›verzweifelt man selbst sein wollen‹ ableiten lässt, wurde oben schon im Ansatz gezeigt.13 In dem passiven Verhalten des Nichtselbstseinwollens steckt ein aktiver Selbstwille, aus dem die Abwehr des verzweifelten Selbstseins resultiert und der dann in den höheren Verzweiflungsformen hervortritt. Die Aktivität dieses Willens richtet sich primär nicht auf anderes, sondern auf den Urheber des Willens, auf das Selbst. Was er mit seinem ›Verzweifelt sich selbst loswerden wollen‹ eigentlich will, ist dem Verzweifelten nicht klar : »[E]r will nämlich sein Selbst von der Macht losreißen, von der es gesetzt wurde« (136 / 17,16f). Dass er sich im Grunde seiner Verzweiflung gegen Gott richtet, ist dem Menschen nicht bewusst, ihm geht es in seiner Verzweiflung nur um sich selbst. Noch in seiner höchsten Verzweiflung wird seine widergöttliche Haltung darin bestehen, dass er sich Gott geradezu aufdrängt, der sich vermeintlich gegen ihn selbst gestellt hat. Das wahre Gottesverhältnis des Verzweifelten wird Kierkegaard erst im zweiten Abschnitt seiner Schrift thematisieren. Hingegen konzentriert sich der erste Abschnitt der KT auf das Ineinander von verzweifeltem Selbstseinwollen und Nichtselbstseinwollen und entwickelt aus ihm die verschiedenen Formen der Verzweiflung. Der Mensch ist in seinem gebrochenen Selbstverhältnis in mannigfacher Weise mit seinem verzweifelten Selbstsein beschäftigt, das er nicht sein will, weil er sich in seinem eigentlichen Selbstsein nicht verzweifelt wähnt und dieses sein will. Damit klärt sich auch, wie jene Wendung Kierkegaards zu verstehen ist, dass »[d]as Selbst, das er [sc. der Verzweifelnde] verzweifelt sein will, […] ein Selbst [ist], das er nicht ist« (136 / 17,13f). Alastair Hannay hat durchaus recht, wenn er bei Kierkegaard vermutet: [H]e is really claiming that any striving after a goal of selfhood at all is despair – any striving to become a ›better‹ self than the self one is – because to strive in this selfimproving way is to try to be a self in a way that is not that of being a God-established self, and only the latter gives you the condition in which you can be rid of despair (Basic Despair, 18, Hervorhebung im Original). Aber das Selbstsein, dem gegenüber der Mensch ein besseres Selbst in seiner Verzweiflung sein will, ist das verzweifelte Selbstsein. Erst im Hinblick auf die Sündhaftigkeit des verzweifelten Menschen zeigt sich, dass dieser sein in Gott gegründetes Selbstsein loswerden will, wodurch das Verzweiflungsgeschehen ausgelöst wird. Ansonsten ist der Verdacht Theunissens gegenüber der Interpretation Hannays nicht von der Hand zu weisen, es werde auf pure Faktizität des menschlichen Daseins rekurriert, das im eigenen Bemühen zu spezifizieren nur Verzweiflung sein kann (Für einen rationaleren Kierkegaard, 87). 13 Siehe hier Kapitel 2.1.

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Die Struktur der Verzweiflung

Der Verzweifelte will sein vermeintlich falsches Selbstsein loswerden und wahrhaft er selbst werden. Ihm ist in seiner Verzweiflung nicht bewusst, dass er damit ein Selbst sein will, dass er nicht ist. Sein versuchtes Losreißen von der göttlichen Macht verdreht ihm in seiner Verzweiflung seine Selbst- und Gottesvorstellung. Die Macht, die ihn gesetzt hat, ist ihm in seiner Verzweiflung so etwas wie ein Schicksal, das aus seinem Selbst ein anderes gemacht hat und gegen das nun das eigene Selbst zurückgewonnen werden muss. Von dieser Anschauung wird der im ersten Abschnitt der KT vorgestellte Verzweifelte im Prinzip nicht lassen. Er wird der Macht, die ihn gesetzt hat, nie zugestehen, dass sie ihn selbst ins rechte Verhältnis gesetzt hat. Wie schon angedeutet, wird der Mensch in der allerhöchsten Verzweiflung jener Macht geradezu andemonstrieren wollen, dass ihr ein Fehler beim Setzen widerfahren sei, so dass sie ein Selbst gesetzt habe, das er, der Verzweifelte, nicht sei (187 / 76,12–22). Die im Selbstverhältnis bestehende allerhöchste Verzweiflung endet genau im Gegenteil dessen, was dieser Verzweifelte in seinem Gottesverhältnis zugleich ständig versucht: »[S]ie [sc. die Verzweiflung] will nicht einmal im Trotz ihr Selbst von der Macht losreißen, von der es gesetzt worden ist, sie will zum Trotz sich ihr aufnötigen« (187 / 75,34ff). Theunissen hat dem verzweifelten Nichtselbstseinwollen ein Primat vor dem verzweifelten Selbstseinwollen eingeräumt. Er begründet diese Umstellung mit der eigentümlichen Asymmetrie beider Formen: »Daß wir sein wollen, was wir nicht sind, weil wir nicht sein wollen, was wir sind, ist immer der Fall. Hingegen ist es keineswegs immer und notwendig so, daß wir nicht sein wollen, was wir sind, weil wir sein wollten, was wir nicht sind. Wir können unter unserem Dasein leiden, ohne es durch ein fremdes zu überformen. Während also das verzweifelte Selbstseinwollen nicht ohne sein Gegenteil denkbar ist, kann das verzweifelte Nichtselbstseinwollen unabhängig von seinem Anderen vorkommen. Es stellt die ursprünglichere Form von Verzweiflung dar« (Begriff Verzweiflung, 28). Theunissens Argumentation ist einleuchtend, beruht aber auf der Annahme, dass das verzweifelte Selbstseinwollen mit Ein-anderer-sein-wollen gleichzusetzen sei. Diese Annahme ist nicht notwendig einzuführen, weil das Selbstseinwollen ein Selbstsein, wie man es selbst will, meint, das in dieser Selbstbestimmung durch sich selbst Antrieb und Ziel hat. Demgegenüber kann Ein-anderer-sein-wollen, sich durch Fremdes überformen zu wollen, nur ein geistloser, noch selbstvergessener Versuch des Selbstseins sein. Deshalb ordnet es Kierkegaard auch der Unmittelbarkeit zu. Dass allerdings auch der in tieferem Sinn Selbstseinwollende sich in seinem Bemühen um sich selbst mit Fremdem in seiner Geistigkeit überformt, zeigt die Unmöglichkeit seines Unterfangens. Aber er hängt sich nicht an anderes, sondern bestimmt das andere durch sich selbst in seiner Selbstvorstellung, die ein unmittelbar Ein-anderer-sein-wollender noch gar nicht entwickelt hat. Grøn hat in seiner Auseinandersetzung mit Theunissen kritisch eingewandt: »Wenn man verzweifelt ein anderer sein will als man selbst, braucht man keine ausgesprochene

Die ›Formel für alle Verzweiflung‹

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Vorstellung von diesem ›Anderen‹ zu haben. Entscheidend ist, daß man sich in dieser Vorstellung von sich selbst distanziert: Das, was man sein will, ist eben gerade ein ›anderer‹ als der, der man ist« (Begriff Verzweiflung, 39). Aber auch Theunissen ist darin zuzustimmen, dass sich eine Verzweiflung denken lässt, in der man nicht man selbst sein will – weil man an sich selbst leidet –, ohne dass man deshalb sich selbst anders haben möchte. Man will verzweifelt man selbst sein. Eine solche Verzweiflung ist in der ›Verzweiflung am Ewigen‹ (175ff / 61ff) gegeben.

Warum der Mensch die Aktivität des Selbstseinwollens ausübt und nicht bloß verzweifelt nicht er selbst sein will, erschließt sich aus der Lust, die dem Selbstseinwollen innewohnt: So aber will er ja doch sich selbst loswerden, das Selbst loswerden, das er ist, um das Selbst zu sein, das er sich selbst erdacht hat. Ein Selbst zu sein, wie er es will, das wäre für ihn, wenn auch in einem anderen Sinne ebenso verzweifelt, seine ganze Lust (136 / 17, 20–24).

Dem Verzweifelten scheint sein Bemühen, sich selbst loszuwerden, nicht zugleich sein Ziel zu sein, sondern er will es, um die Selbstgestalt zu sein, die er selbst sich erdacht hat. Aber das Selbstsein loswerden, das er ist, heißt schon im Grunde die selbst erdachte Selbstgestalt zu sein. Der Verzweifelte will nicht zuerst sein Selbstsein loswerden, um sich dann eine neue Identität zu suchen. Denn jedes augenblickliche Abwerfen des Selbstseins (133 / 13,26f), das er ist, bedeutet ihm schon er selbst zu sein, wie er will. Damit hat sein Wille, er selbst, über sein faktisches Selbstsein gesiegt. Ein Selbst zu sein, wie er es will, wäre die ganze Lust des Verzweifelten. Das ist seine Freiheit, die er verzweifelt sucht: selbst zu sein, wie er will.14 Es ist nicht entscheidend, ob man selbst Caesar oder Geliebte werden will (Kierkegaards Beispiele 134 / 15,34–16,15; 135 / 16,27–17,2) – eine solche Vorgabe hüllt die Verzweiflung nur in den ihr eigentümlichen Schein. In beiden Fällen ist der Mensch über etwas in Verzweiflung geraten, das ihm möglich gewesen wäre, während über sein eigentliches Verlangen, sich selbst loszuwerden, gesagt werden muss: »[N]ichts ist unmöglicher« (133 / 13,25f). Entscheidend ist nicht, wer man sein will oder wollte, sondern zu sein, wie man will.15 Daran hängt die eigentliche Lust des Verzweifelten. Sonst würde er nur über etwas verzweifeln, aber nicht über sich selbst. An sich selbst, an Cesare Borgia als selbstbestimmten Caesar, und nicht an caesarischer Macht und Titeln an sich 14 Kierkegaard nennt es in seinem ›Rapport betreffs der Krankheit zum Tode‹ die »Selbstsucht verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder verzweifelt man selbst sein wollen« (SKS 20, 365 / KT, GW 24, 165). 15 Vgl. SKS 10, 92 / CR, 89, Hervorhebung im Original: »[W]as aber im Grunde ein jeder Mensch am meisten liebt, mehr als sein einziges Kind, das Kind der Verheißungen, mehr als seine Geliebte, die einzige im Himmel und auf Erden, ist doch wohl sein eigner Wille.«

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Die Struktur der Verzweiflung

hätte er seine ganze Lust gehabt. Doch das selbst gewollte Selbst wird dem Verzweifelten kein aus dem Willen geborenes Selbst. Das selbstische Wollen geht nicht in ein willentliches Selbstsein über. Durch den Willen erschafft man sich nicht selbst – aber da kommt der Verstand zur Hilfe, denn dieser vermag ein solches auf seine Weise. Mit dem Verstand erschafft sich der Verzweifelte ein Selbstsein, eine abstrakte Selbstgestalt, die er sein will (136 / 17,20ff). Wenn Cesare Borgia sich erdacht hat, Caesar zu sein, dann will er diesen Gedanken mit aller Anstrengung in die Wirklichkeit ziehen, wirklich selbst Caesar sein. Aber ob ihm das gelingt oder nicht, er muss verzweifelt bleiben (135 / 16,8–11). Auch als Caesar wäre er nicht er selbst geworden, wie er will, weil er sein verzweifeltes Selbstsein so nicht loswird. Als Caesar wäre Cesare sich selbst in seiner alten äußerlichen Bestimmung losgeworden und hätte selbstbewusst eine neue angenommen. Subjektiv im Inneren, wo seine Verzweiflung herrscht, wäre er aber nicht das Selbst, wie er will – auch wenn er seinen Willen nach außen hin durchgesetzt hätte. Aber der Verzweifelte durchschaut sich nicht. Ihm verheißt sein Denken eine Lust, die doch nie seine Verzweiflung beenden kann, auch wenn sich seine Lust äußerlich erfüllte (135 / 15,39–16,3). Caesar zu sein oder Geliebte zu sein, ist nur eine zeitliche Angelegenheit, so sehr man sich auch für ewig in die Geschichte eingegriffelt oder auf ewig Liebe geschworen hat, und reicht nicht als Ersatz an das ewige Selbst heran, das die Verzweifelten im Grunde loswerden wollen. So ist der Grund der Verzweiflung sowohl die Lust, ein Selbst zu sein, wie man will, als auch die Qual, ein Selbst zu sein, das man nicht sein will. Aus den unterschiedlichen Zuordnungen von Lust und Qual, von Selbstseinwollen und Nichtselbstseinwollen resultieren die unterschiedlichen Formen der Verzweiflung. Eine weitergehende Rückführung der Verzweiflung ist nicht möglich. Aber wie ist der Mensch in dieses in jeder Hinsicht verzweifelte Verhältnis zu sich selbst geraten? Wieso identifiziert er sich nicht einfach mit sich selbst, sondern will sich loswerden oder er selbst sein? Hierauf wird der zweite Abschnitt der KT eine Antwort geben. Die Begegnung des Menschen mit der göttlichen Offenbarung löst eine unglückliche Bewunderung aus, die im Sich-selbst-loswerdenwollen und im Selbstseinwollen eine verzweifelte Gestalt annimmt.

3. Kapitel: Die Gestalt der Verzweiflung

1.

Die Verzweiflungskrankheit im Horizont von Leben und Tod

a)

Der Tod im leiblich-seelischen und im geistigen Sinne Nur der Christ weiß, was unter der Krankheit zum Tode zu verstehen ist (125 / 7,1f).

Ihm ist das Leben durch Christus sein Heil und seine Heilung das Sterben und Absterben (118 / 4,24f).1 Das Leben wird also durch Sterben und Absterben gewonnen. Dieses Absterben kann sich nur auf den Tod der Verzweiflung beziehen, dem der Christ abstirbt. Er kann im Absterben von dieser Krankheit zum Tode nicht als verzweifelt bezeichnet werden, weil er darin die Hoffnung auf das Leben hat. Die Krankheit zum Tode ist nicht in der Weise als Durchgang zum Leben anzusehen, dass der Christ zuerst einmal verzweifeln müsste, um dann nicht mehr verzweifeln zu müssen. Das Letzte der Krankheit zum Tode ist der Tod, aus dem es keinen Ausweg gibt. Wer von der Krankheit zum Tode befallen ist, dem bietet die Krankheit selbst keinen Ausweg, sondern lässt ihn ewig dem Tod verfallen sein (133 / 14,11–15). Es müsste schon das Leben selbst sich in der Krankheit zum Tode Raum verschaffen, so dass der Christ im Verzweifeln nicht mehr verzweifelte. Damit wäre die Krankheit zum Tode in sich gebrochen. Wo nur die Krankheit zum Tode ist, herrscht allein der Tod. Wer in ihr ist, kann nicht selbst aus ihr herausfinden. Die Krankheit zum Tode endet nicht mit dem leiblichen Tod. Der leibliche Tod verändert hinsichtlich der Verzweiflung nichts mehr – wie sollte er auch, wenn Verzweiflung eine geistige Krankheit ist und deshalb durch eine für Leib und Seele tödliche Krankheit nicht zu Ende gebracht werden kann? Dagegen ist für den nicht-verzweifelten Christen der irdische Tod ein Durchgang zum Leben (133 / 14,8f). Dieser Tod bedeutet das Sterben des synthetischen Leib-SeeleVerhältnisses, das für sich gesehen nicht mehr als eine negative Einheit aus1 Vgl. zum ›Absterben‹ als das von Gott Geforderte SKS 25, 143, NB27:25 / T 5, 131.

86

Die Gestalt der Verzweiflung

macht. In ihr ist der Mensch in seinem Grund nicht befasst. Zwar stirbt im leiblichen Tod der ganze Mensch mit Leib und Seele. Aber seine von Gott gesetzte Einheit, sein Selbstsein, wo der ganze Mensch der Eine und Einzelne vor Gott ist, stirbt nicht mit, weil sie in der Ewigkeit Gottes gründet. Wenn aber der Mensch die Einheit seines Selbstseins in der Verzweiflung verloren hat, wird dieser Verlust durch den irdischen Tod nicht aufgehoben. Was allerdings aufhören wird, ist der mit Hilfe der seelisch-körperlichen Synthese aufrechterhaltene Schein, der Mensch sei nicht verzweifelt und habe höchstens ein Unglück erlitten, sowie der Schein, er könne das Unglück selbst beheben. Diese trügerische Hoffnung wird nach dem irdischen Tod sich in ihrer ganzen Grundlosigkeit zeigen. Es bleibt nur die nackte Qual übrig, nicht ›sterben‹ zu können (133 / 14,20f), sich der Verzweiflung nicht entziehen zu können.

b)

Hoffnung und Hoffnungslosigkeit des Menschen

Die verschiedenen Bestimmungen von Leben und Tod gehen mit zwei von Kierkegaard beschriebenen Einstellungen einher, die durch Hoffnung und Hoffnungslosigkeit charakterisiert sind (133f / 14,23–31). Kierkegaard charakterisiert im einen Fall den Christen im Hinblick auf seinen heilsamen Tod und in einem weiteren Fall den natürlichen Menschen im Hinblick auf seine Krankheit zum Tode.2 Der Christ hofft auf den Tod, weil er »die noch entsetzlichere Gefahr« (133 / 14,28) kennengelernt hat. Der Christ bekam Mut, »indem er das noch Entsetzlichere zu fürchten lernte« (125 / 7,3f). Er lernt die Gefahr kennen, sich diese Krankheit zum Tode zuzuziehen, und bekommt damit den Mut, dieser Krankheit abzusterben, mit der Hoffnungslosigkeit dieser Krankheit in den – nicht im leiblichen, sondern im geistig bedeutsamen Sinne verstandenen – Tod zu gehen. Der Tod im geistigen Sinne meint das Sterben der eigenen Selbstgestalt, wie sie dem Menschen in der Verzweiflung eigen ist. Die Gefahr dieser Krankheit ist ihm so groß geworden, dass er seine ganze Hoffnung auf den Tod setzt. Der Tod kann für den Christen nur bedeuten, dass am Ende der eigenen Möglichkeiten, man selbst zu sein, nur noch Gott für das eigene Selbstsein bürgen kann. In der Todeshoffnung kündigt sich schon ein neues Leben an, denn wer hofft, der lebt. In der Todeshoffnung liegt mehr Leben als im hoffnungslosen Leben. Es handelt sich hier um eine geistige Wirklichkeit und nicht um eine Einstellung zum natürlichen Tod. Doch bleibt dieser von der geistigen Wirklichkeit nicht un2 Diese Zweiteilung sollte ursprünglich auch in der Konzeption des KT enthaltenden Buches zum Ausdruck kommen. Durch den heilsamen Tod eröffnet sich eine ›Heilung von Grund auf‹, vgl. SKS 20, 324, NB4:76 / T 2, 212.

Die Verzweiflungskrankheit im Horizont von Leben und Tod

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berührt, wenn er dem Christen ein Durchgang zum Leben wird. Sterben ist in jedem Fall sein Gewinn. In dem anderen Fall des natürlichen, an der Krankheit zum Tode leidenden Menschen empfindet dieser sein Leben als so furchtbar und quälend, dass er sterben will. Aber er will sterben, weil er leben bleiben will. Sein furchtbares Leben soll sterben, so dass sein eigentliches Leben gleichsam übrigbleibt. Er will sterben, ohne tot sein zu wollen, und er will leben, ohne so weiter leben zu wollen. Damit bringt dieser Mensch sich in eine hoffnungslose Aporie, die ihm selbst durch seine ständig aktivierte Hoffnung auf Leben verdeckt bleibt. Er stirbt, ohne zu ersterben (134 / 14,34f). Auch sein Sterben und Leben ist in einem geistigen Sinne, die eigene Selbstgestalt betreffend, gemeint, aber lässt auch das Sterben im physischen Sinne nicht unberührt, wie im Fall des Suizids aus Verzweiflung noch zu erörtern ist. Während Theunissen die Interpretation der Verzweiflung als Hoffnungslosigkeit bei Kierkegaard nur in der Verzweiflung der Notwendigkeit und am Ende der Verzweiflungsreihe aufschimmern sieht (Begriff Verzweiflung, 124; Für einen rationaleren Kierkegaard, 80), stellt Grøn die These auf, Kierkegaard verstehe Verzweiflung grundsätzlich als »Aufgabe von Hoffnung« (Grøn, Begriff Verzweiflung, 55). Er verweist auf Kierkegaards Formulierung, dass »die Verzweiflung in der Hoffnungslosigkeit« besteht, »nicht einmal sterben zu können« (134 / 14,30f). Aber damit ist nicht die Einstellung des Verzweifelten beschrieben, sondern seine wahre Verfassung, der Krankheitsbefund, wie ihn der Arzt erstellt, der die Krankheit mit anderen Augen sieht (139 / 20,22f). Deshalb heißt es auch zuvor: »So bedeutet Krankheit zum Tode nicht sterben können« (133 / 14,23f, erste Hervorhebung JB, zweite im Original). Auch die mit 153 / 35,33–36 belegte These, dass Verzweifeln letztlich heiße, »daß man nicht daran glaubt, daß eine ›Möglichkeit‹ besteht« (Grøn, Begriff Verzweiflung, 56), lässt sich nicht halten, wenn man bezüglich des hier angesprochenen Verzweifelten im Sinne der Notwendigkeit bedenkt, daß er immer noch »Möglichkeit genug« besitzt, »um die Unmöglichkeit zu entdecken« (156 / 39,31f). Den Verzweifelten zeichnet gerade aus, dass er trotz der hoffnungslosen Situation immer neue Hoffnungen entwickelt. Sein ganzes Handeln gegen sein verzweifeltes Selbst ist nicht aus Absurdität geboren, sondern zumeist von der in aller Verzweiflung ständig reaktivierten Hoffnung getragen, sein Selbst der Verzweiflung zu entreißen. Die Einschränkung ergibt sich daraus, dass man auf zwei verschiedene Weisen im Sinne der Möglichkeit verzweifeln kann. Die eine Form ist eben die Hoffnung und die andere die Furcht oder Angst (153 / 35,10ff). Allerdings könnte die hier als schwermütig verstandene Angst auch so etwas wie eine ›negative‹ Hoffnung enthalten, wenn der Mensch »schwermütig liebend eine Möglichkeit der Angst verfolgt« (153 / 35,23f). Diese schwermütige Liebe nährt sich doch auch aus einer gerade in ihrer Vergeblichkeit noch geliebten Hoffnung.

88 c)

Die Gestalt der Verzweiflung

Ohnmacht und Macht in der Verzweiflung

Kierkegaard zeigt auf, wie die Verzweiflung, zu sterben und doch nicht sterben zu können, ein Gesetz der Potenzierung beinhaltet: Die Verzweiflung bedeutet jedoch gerade, daß man an sich selbst nagt, aber es ist ein ohnmächtiges Nagen an einem selbst, das nicht vermag, was es selbst will. Was sie aber selber will, ist sich selbst zu verzehren, was sie nicht vermag, und diese Ohnmacht ist eine neue Form, an sich selbst zu nagen, wobei jedoch die Verzweiflung wieder nicht vermag, was sie will, sich selbst verzehren, es handelt sich um eine Potenzierung oder um das Gesetz der Potenzierung (134 / 15,9–16).

Mit der Verzweiflung potenziert sich die Ohnmacht des Menschen. Ein sich ohnmächtig Wissender ist verzweifelter als einer, der noch an seine Macht glaubt. Er scheint mehr über seine – fehlende – Macht zu wissen als jener, der sie in selbstverständlicher Weise ausübt. In der Ohnmacht wird der Mensch auf seine Macht aufmerksam. Der Ohnmächtige spannt gleichsam die ganze Macht, die er in diesem Moment doch nicht hat, in sich an. Der Verzweifelte gibt mit der Erkenntnis seines ohnmächtigen Verhaltens nicht auf, an sich selbst zu ›nagen‹, seine ohnmächtige Verzweiflung von sich abzuwerfen zu versuchen. Er will noch weiter hinter seine Ohnmacht zurückgehen, um dort vermeinte Kräfte gegen sie zu sammeln. Aber die vermeinten Kräfte werden sich auch als ohnmächtig gegenüber der Ohnmacht erweisen, so dass der Verzweifelte noch weiter hinter die Ohnmacht der Ohnmacht zurückzugehen versucht. Insofern geht die Bewegung der Verzweiflung »ständig nach innen« (134 / 15,18). Die Bewegung nach innen bedeutet ein immer größeres Bewusstsein der Verzweiflung. Dem ›Nagen‹ an sich selbst ist ein gewisser Erfolg nicht abzusprechen, sonst käme es nicht »tiefer und tiefer« (134 / 15,18). Der Mensch sieht immer tiefere Schichten seines Daseins mit der Verzweiflung infiziert und will sie beseitigen. Was der Verzweifelte durch sein Verzehren loszuwerden hofft, erscheint ihm als ein verzweifelter Anteil seiner selbst, dem er sich gegenübergestellt sieht. Aber es ist dieser Zwiespalt seiner selbst, aus dem die Verzweiflung erwächst, und der Mensch macht gerade durch diese Bewegung des Verzehrens und Loswerdens sich immer verzweifelter. Der Mensch erhält durch sein ›Verzehrenwollen‹ seiner ohnmächtigen Verzweiflung den verzweiflungsfördernden Zwiespalt zwischen Verzehrendem und zu Verzehrendem, zwischen vermeintlicher Macht und Machtlosigkeit in der Ohnmacht. Im Verzehrenwollen will der Mensch die Einheit mit sich selbst als Nicht-Verzweifeltem gewinnen und festigt doch durch diese Vorgehensweise den Zwiespalt seiner selbst in der Verzweiflung. Und je heftiger der Mensch seinen Selbstverzehr versucht, um so tiefer wird der Spalt in ihm und wächst seine Verzweiflung. Eine solche Dynamik wird

Die Verzweiflungskrankheit im Horizont von Leben und Tod

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aber nicht bei allen Verzweiflungsformen zu beobachten sein. Erst in den höheren Formen der Verzweiflung vertieft der Mensch den Zwiespalt in sich.

d)

Die Ambivalenz des Sterbens im geistigen Sinne

Das Leben, das der Verzweifelte in seiner ständig verloren gehenden wahren Geistigkeit noch besitzt, muss mehr dem Tod gleichen als dem, was die Bezeichnung Leben verdiente. Ein solches Leben ist ein hoffnungsloses Leben, das jeden Augenblick abbricht. Die Hoffnung erstirbt jeden Augenblick neu, aber nie ›ein für allemal‹, weil der Verzweifelte noch an seinem hoffnungslosen Leben festhält und so nicht sterben kann. Er hält sich in dem qualvollen Widerspruch auf, »ewig zu sterben« (134 / 14,34). Die Ewigkeit steht eigentlich für das Leben. Das Leben ist aber in der Verzweiflung so in den Tod verschlungen, dass in Wahrheit weder die Hoffnung auf das Leben noch auf den Tod besteht. Der Verzweifelte will das Ewige loswerden, aber wird es nur ewig los. Weil das Ewige der Verzweifelte selbst von seinem verzweiflungslosen Ursprung her ist, heißt ›es loswerden wollen‹ sterben. Die am Augenblick orientierte Struktur der Verzweiflung ist schon erörtert worden,3 aber gewinnt erst im Horizont von Leben und Tod ihre besondere Ausprägung. Der eine Augenblick, in dem sich der Verzweifelte abmüht, das Ewige loszuwerden, ist eine Ewigkeit: »[U]nd läßt sich das [sc. den Tod sterben] einen einzigen Augenblick erleben, so heißt das, daß man es damit auf ewig erlebt« (134 / 14,37f, Hervorhebung im Original). Der eine Augenblick ist eine Ewigkeit, weil in ihm Zeit und Ewigkeit verbunden sind. Die Ewigkeit wird von dem Verzweifelten in die Zeit zu holen versucht, was die Zeit aber nur ewig verlängert. Der eine Augenblick der Ewigkeit zerfällt dem Verzweifelten in unendlich viele Augenblicke. Das Sterben und doch Nicht-Sterben-können des Verzweifelten ist auf das Ewige in ihm, seine Selbststruktur, zurückzuführen. Das ›Ewige im Menschen‹ (133 / 13,23) vergeht, weil es in der Verzweiflung verzeitlicht wird. Die Verzeitlichung des Ewigen scheint zu gelingen – das Ewige ist im Menschen doch mit dem Zeitlichen verbunden. Der Mensch versucht es so loszuwerden, wie Leiblich-Seelisches in der Zeit stirbt. Doch das Ewige ist nicht in sich zeitlich und vergeht nicht in der Zeit, sondern gewissermaßen ständig in die Zeit hinein. Die Zeit kann über das Ewige in ihr nicht fortschreiten, sondern wiederholt ständig das Vergehen des Ewigen in ihr. Der Verzweifelte selbst will sich nicht der Ewigkeit seines Zustandes bewusst sein, sondern ist in jedem Augenblick dabei, seine Verzweiflung im Unbe3 Siehe hier Kapitel 2.3.

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Die Gestalt der Verzweiflung

wussten zu halten oder dorthin zurückzudrängen. So wird ihm seine Qual nie zur Verzweiflung durch und durch, weil er in jedem Augenblick mit der Lust vor Augen hineingeht, nun endlich ein für allemal den verzweifelten Zustand seiner selbst los zu sein. Die Ewigkeit nach dem leiblichen Tod nimmt dem Verzweifelten zwar die Möglichkeit, seine Verzweiflung in der Zeitlichkeit zu verbergen, aber nicht die Verzweiflung selbst. Die Ewigkeit bestraft ihn nicht für seinen Abfall von Gott, indem sie ihn in seinem Zustand ›vernagelt‹ (136 / 18,13), sondern der Verzweifelte will selbst seine ewige Selbststruktur ein für allemal (133 / 13,25) verlieren, also sich auf diesen Verlust festnageln. Weil dieses ›ein für allemal‹ sich als ewig erweist, ist es aber doch die Ewigkeit, die ihn selbst ›vernagelt‹. Beim Nicht-Verzweifelten wird jeder Augenblick zu dem einen, ewigen Augenblick. Er erlebt in jedem Augenblick nicht die qualvolle Dauer der Krankheit, sondern in allem nur die eine augenblickliche Gesundung zum ewigen Leben. Denn bei ihm ist das Letzte das ewige Leben.4 Er will nicht die Verzweiflung vernichten, sondern stirbt selbst ständig ab. Solange er noch versuchte, die Verzweiflung zu vernichten, würde er ganz und gar in der Verzweiflung stecken. Wenn er aber selbst stirbt, muss auch die Verzweiflung sterben, weil sie nicht mehr die Möglichkeit hat, sich am Menschen zu entzünden.5 Selbst sein zu wollen als Gegenteil von Verzweiflung heißt also nicht, ein Nicht-Verzweifelter sein zu wollen und so immer tiefer in die Verzweiflung hinein zu rennen, sondern sich hoffend der Wirklichkeit des eigenen Todes zuzuwenden (vgl. 133 / 14,28f), worin auch die Verzweiflung erlöschen muss. Solange man die Verzweiflung vernichten will, erhält man sie, man hält dabei gerade das eigene, im Grunde verzweifelte Selbstsein von ihr fern und will nicht man selbst sein. Will der Verzweifelte er selbst sein, der er wirklich ist, muss die Verzweiflung zum ›verzweifelten Selbst‹ werden und man selbst in Verzweiflung sterben. Dieses Sterben ist das Absterben der selbstbezogenen Verzweiflung zugunsten des durch Gott gesetzten Selbst. Nur auf diese Weise kann der Verzweifelte das sein 4 Kierkegaard will die futurische Eschatologie zu einer präsentischen machen, ohne damit ihre futurische Bedeutung zu verneinen. Vgl. für den Christen SKS 10, 145 / CR, 143, Hervorhebung im Original: »[D]ie Ewigkeit scheint so ferne: die Aufgabe ist, sie so nahe zu bekommen als nur möglich […] Ist jedoch die Ewigkeit ganz nahe bei dir, so erhältst du freilich noch nicht das Verlorene wieder, denn dies geschieht erst in der Ewigkeit; wohl aber ist es dir ewig gewiß, daß du es auf ewig wiedererhältst.« 5 Dieser Sachverhalt wird auch für die Interpretation der Verzweiflung als Sünde entscheidend sein. Er findet sich in ähnlicher Weise beim frühen Luther. Joest pointiert in seiner Auslegung eines Textes aus Luthers Römerbriefvorlesung: »Nicht der Mensch bleibt und die Sünde verschwindet, sondern die Sünde bleibt und der Mensch verschwindet. Nicht der Mensch erwirbt anstatt der Sünde, die an ihm getilgt wird, Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit erwirbt den Menschen, indem sie ihn selbst aus der Sünde heraustilgt (›hominem expurgari a peccato‹)« (Ontologie der Person, 253).

Die Verzweiflungskrankheit im Horizont von Leben und Tod

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wollen, was er ursprünglich ist: ein von Gott gesetztes Selbst. Nur als solches Selbstsein ist er frei. Würde der Verzweifelte gegen den göttlichen Zwang, das Selbst zu sein, das er nicht sein will (136 / 17,18f), nicht ankämpfen, sondern sich ihm aussetzen, wäre er kein Zwang mehr, sondern der Zwang würde sich als Halt im wirklichen Tode der Verzweiflung zeigen. Aber der Verzweifelte sieht nicht den Halt in jener stärkeren Macht und will das ihm zugefügte Selbstsein nur loswerden.

e)

Der verzweifelte Umgang des Menschen mit seinem gebrochenen Selbstsein

Nicht nur das sich zu sich selbst verhaltende Selbst ist ewig, sondern auch das verzweifelte Selbst. In dem Wesen der Verzweiflung liegt für Kierkegaard der Beweis für das Ewige im Menschen, die dem Menschen eingestiftete Gottesbeziehung (136 / 17,29–35). Kierkegaard tritt hier keinen Gottesbeweis an, weil er nicht die setzende Macht des Ewigen, sondern das Ewige im verzweifelten Menschen beweisen will. Bei diesem Ewigen ist die setzende Macht verdunkelt, weil es vom Menschen in der Verzweiflung jeden Augenblick abgeworfen wird. Und doch liegt in jenem Ewigen der Hinweis auf die setzende Macht und die Selbststruktur in ihrem ursprünglichen Verhältnis.6 Das erkennt aber nur der Arzt (vgl. 139 / 20,22–26). Denn der höchst Verzweifelte selbst vermag wohl bisweilen zu erkennen, dass er gegen seine Verzweiflung nicht ankommt, aber er sieht sie nur als verunglückten Zustand seiner selbst, der zu einem möglichen Schöpfer höchstens so in Verbindung stehen kann, dass diesem ein Fehler unterlaufen ist, er also nicht in ihm durchsichtig gründet, sondern das Produkt eines unglücklichen Zufalls ist. Dem Ewigen im verzweifelten Menschen fehlt die göttliche Gründung – darin hat der Verzweifelte in gewisser Weise recht, aber nicht, weil Gott die rechte Selbstgestalt des Menschen entglitten ist, sondern weil der Verzweifelte selbst ständig versucht, sich Gott zu entziehen.7

6 Zu dieser Beweisstruktur ex negativo vgl. auch SKS 10, 122 / CR, 117: »Das Christentum beweist aus aller Verkennung und Verfolgung und Verunrechtung, welche die Wahrheit zu leiden hat, daß es eine Gerechtigkeit geben muß (o, wunderbare Art zu schließen!)«. 7 Baurs Beobachtung, dass in unserer Zeit an die Stelle eines überholten Pathos der Schuld die Pathetik des Elendes getreten ist, liegt in der Perspektive des Kierkegaard’schen Gedankenganges. Der sündige Mensch begreift sich nur als Opfer des Elends seiner Verzweiflung (Baur, Schuld und Sühne). Siehe auch Langes Überlegungen zur Ersetzung der Schuldfrage durch die Sinnfrage, wie sie in weiten Kreisen der Evangelischen Theologie zu finden sei (Sünde oder Schicksal? 87).

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Die Gestalt der Verzweiflung

Walter Dietz sieht in dem von Kierkegaard apostrophierten indirekten Verweis des Trotzphänomens auf Gott den vielleicht schwersten Mangel in KT. Diese Kritik ergibt sich aus der modernen existenzialistischen Interpretation des Trotzes: »Gott ist für den modernen existentialistischen Trotz in weite Ferne gerückt (Kafka, Camus, Sartre). Der hier virulente Trotz zeugt für nichts mehr und ist kein Argument mehr – freilich außer für den, der ihn theologisch zu interpretieren weiß. Handelt es sich aber um ein Interpretament, das nicht allgemeingültig evident zu machen ist, dann ist seine Beweiskraft eingeschränkt« (Kierkegaard, 120, Hervorhebung im Original). Es wäre zu bedenken, dass dort, wo Trotz nicht nur im allgemeinen Sinne eines Widerstandes gegen etwas vorliegt, sondern in seiner eigentlichen Form, er mit einer Uneinsichtigkeit verknüpft ist, die ihren Grund in dem Beharren auf ein vermeintliches oder wirkliches Recht des Trotzigen haben dürfte. Wenn jemand gegen etwas ihm Widerfahrendes im eigentlichen Sinne trotzt, dann beansprucht er gegenüber dem Widerfahrenden ein Selbstverständnis, das dem sich als Recht aufspielenden Unrecht des Widerfahrenden trotzt. Bestände diese juridische Dimension nicht, wäre der Widerstand nur abwehrend ohne die typische selbstbehauptende Haltung des Menschen im Trotz. Trotz ist mit einem Selbstverständnis verbunden, dessen beanspruchtes Recht durchaus auf ein Selbstsein verweist, das nicht in der Immanenz der Weltverhältnisse aufgeht.

Der Verzweifelte will das Ewige in sich loswerden, das sich ihm in einer gänzlich unangemessenen Gestalt zeigt: als verzweifelter Zustand seiner selbst, der einem Unglück entsprungen zu sein scheint, wie es in der Zeit vorkommt, aber nicht in der Ewigkeit. Wenn der Mensch auf seine Verzweiflung aufmerksam geworden ist und verzweifelt er selbst sein will (130 / 10,17–26), dann will er die in seiner Vorstellung ewige Selbstgestalt sein, äußerlich gesehen die des ewigen Ruhmes oder der ewigen Liebe. Noch der höchst Verzweifelte, der sich Gott als dessen – Gottes – Fehler vorhält, hat die Vorstellung einer ewigen Selbstgestalt, die er hätte sein sollen, wie sich in seiner Weigerung zeigt, ein bloß zeitlicher, dann korrigierter Fehler sein zu wollen. Er will unkorrigiert ein solcher ewig bleiben (187 / 76,12–22). Der Verzweifelte erfährt die bittere Enttäuschung, dass ihm die Vorstellung seiner ewigen Selbstgestalt zerbricht. Cesare Borgia wird nicht Caesar, wodurch er sich selbst verewigen wollte; dem jungen Mädchen geht der Geliebte verloren, durch den es es selbst werden wollte, und dem gegen Gott Protestierenden erweist sich seine Existenz als gänzlich verfehlt, in der er doch ebenfalls er selbst werden wollte. Ihre Selbstvorstellung hat der Ewigkeit nicht standgehalten. Aber anstatt nun ihre vermeintliche Möglichkeit, ewiges Selbst zu sein, in ihrer Unmöglichkeit zu erkennen und durch und durch zu verzweifeln, holen die Verzweifelten sich die vergebliche Möglichkeit zum ewigen Selbst in ihrer negativen Form zurück. Cesare Borgia verzweifelt nicht darüber, dass das angestrebte Caesarentum sich als vergeblich erwies, um er selbst zu werden. Dann würde er anfangen, um die zerschlagene Möglichkeit seines Caesarentums zu

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trauern und sie aus seinem verzweifelten Selbstsein zu lassen. Cesare würde sodann durch und durch selbst verzweifeln, weil es ihm nun unmöglich ist, er selbst zu werden. Aber diesen Schritt wagt er nicht. Vielmehr hält er in seiner Verzweiflung die vermeintliche Möglichkeit, durch das Caesarentum er selbst zu werden, noch fest, auch wenn sie schon verspielt ist. Durch seine Verzweiflung verhindert er, dass diese vermeintliche Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, in die Vergangenheit absinkt und – da er nicht Caesar wurde – die Unmöglichkeit seiner Möglichkeit ihm vor Augen steht. Dasselbe lässt sich im Fall des jungen Mädchens beobachten. Ihr Selbstsein ist für sie nach dem Verlust des Geliebten ›eine Plage‹ geworden, »weil es ein Selbst ohne ›ihn‹ sein soll« (135 / 16,34). Das für sie ›widerwärtig leere‹ (135 / 16,36) Selbst versucht sie zu ›verzehren‹, ihm seine Wirklichkeit zu nehmen. Damit hält sie es erst recht fest, klammert sich an ihre leere Selbstgestalt, die doch eine ewig erfüllte hätte sein sollen. Hier zeigt sich, dass die Verzweiflung eine Bestimmung des Ewigen ist. Sie verewigt die vermeintliche Möglichkeit des Menschen, man selbst werden zu können. Wo die Geschichte schon längst über die Möglichkeit eines Menschen hinweggegangen ist und man zu Cesare Borgia sagen muss: »Du bist nicht Caesar geworden«, und zu dem Mädchen: »Du musst dich mit dem Verlust Deines Geliebten abfinden«, da werden beide entgegnen: »Aber wir hätten doch die Möglichkeit zum caesarischen Selbst oder zum Selbst, vereint mit dem Geliebten, gehabt.« Dass es in Wahrheit beiden nicht möglich war, die von ihnen angestrebte Selbstgestalt zu sein, nicht weil sie entweder Fehler machten oder die Umstände gegen sie standen, sondern weil sich grundsätzlich in der Zeit keine ewige Selbstgestalt gewinnen lässt, würden sie niemals einsehen. Sie vertrauen in ihrer verzweifelten Trauer weiterhin unerschütterlich auf ihre Möglichkeit, sie selbst zu werden. Deshalb hätte sich der Befund auch nicht wesentlich verändert, wenn Cesare Borgia Caesar geworden und der Geliebte geblieben wäre. Cesare etwa hätte der Enttäuschung, dass er Caesar geworden ist und trotzdem das ersehnte Ziel, er selbst zu werden, nicht erreicht hat (vgl. 135 / 16,3–8), nie bei sich selbst Raum gegeben. Er würde als Caesar versuchen, nicht er selbst in seiner Verzweiflung sein zu müssen und weiterhin »in großen Unternehmungen Zerstreuung suchen« (180 / 67,11f). Weil die Verzweifelten an der Ewigkeit ihrer zu verwirklichenden Selbstgestalt festhalten, verschließen sie sich vor der Enttäuschung, dass die Zeitlichkeit ihr mögliches ›ewiges Selbst‹ schon längst zerschlagen hat. Sie kämpfen gegen die Realität an, haben ihr vielleicht auch Momente ganzer Lust abgetrotzt, aber verlieren sie letztlich immer mehr aus den Augen. Sie lassen sich von ihr nicht sagen, dass Caesarentum und Geschlechterliebe nur zeitliche Angelegenheiten sind. Gerade in der sie kennzeichnenden Ohnmacht (134 / 15,13) besitzt die Verzweiflung eine große Macht. Der Mensch ist in der Verzweiflung gleichsam

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›außer sich‹. Er will nicht zu seinem verzweifelten Selbstsein stehen, an dem Caesarentitel oder Geliebter nichts ändern würden. Dieses Selbst ist »in einem tieferen Sinn für ihn das Unerträgliche […] oder noch richtiger, das für ihn Unerträgliche ist, daß er sich selbst nicht loswerden kann« (135 / 16,4–8). Das in der Selbstrelation erscheinende tragische Schicksal des Verzweifelten wird sich aus göttlicher Perspektive als eine unmenschliche Tat des Menschen an sich selbst enthüllen. Er reißt sich ständig von sich selbst los, ohne das Ewige in ihm, die ihm eingestiftete Gottesbeziehung endgültig loszuwerden. Kierkegaard bezeichnet das Selbstsein als »das größte, das unendliche Zugeständnis, das dem Menschen gemacht ist«, aber auch als die Forderung der Ewigkeit an ihn (137 / 18,17–19). Das Zugeständnis ist mit der Setzung der Selbststruktur durch die andere Macht erfolgt. Dem Menschen wird zugestanden, an der Ewigkeit Gottes teilzuhaben, indem er selbst in ihr durchsichtig gründet. Das Zugeständnis ist unendlich, weil es ewig währt. Gott hat den Menschen ursprünglich in das richtige Verhältnis, das Selbstverhältnis, gesetzt, nicht auf Probe, sondern auf ewig. Dass der Mensch sich von seiner Ewigkeit in der Verzweiflung losreißt, macht ihn nicht frei von dieser Ewigkeit, sondern stellt diese als Forderung an ihn. Die Forderung ist immer noch ein Zugeständnis, wenn der Verzweifelte gezwungen ist, »das Selbst zu sein, das er nicht sein will« (136 / 17,19f). Damit ist der Verzweifelte aufgefordert, auch er selbst sein zu wollen. Beim Nicht-Verzweifelten, der ganz von dem lebt, was ihm zugestanden ist, ist die Forderung belanglos. Er ist der sich zu sich selbst Verhaltende von Ewigkeit her, er ist er selbst, so dass nichts zu fordern bleibt. Aber die Forderung gilt dem Verzweifelten, der sich ihr scheinbar auch in seiner Verzweiflung unterwirft. Er will mit aller Anstrengung er selber sein. Doch kann er so die Forderung nicht erfüllen. Der Verzweifelte will er selbst in der Zeit werden, aber so wird er nie er selbst sein. Er soll ewig ›Selbst‹ sein, was er nicht ab einem Augenblick erreichen kann. Würde er aber an dieser Forderung verzweifeln, das hieße, sich der Forderung bis in den Tod ausliefern, dann hätte er sie erfüllt. Der Nicht-Verzweifelte, der durch die Verzweiflung hindurchgegangen ist, hat sich dieser Forderung ausgeliefert. Er geht mit seiner Verzweiflung an ihr zugrunde und es bleibt das ewige Selbstverhältnis des Menschen. Durch seinen Verzweiflungstod hindurch wird der Mensch jeden Augenblick selbst, nicht von jedem Augenblick an, sondern in jedem Augenblick ewig. Der Verzweifelte hat die Forderung erfüllt, wenn er sie als reines Zugeständnis des Ewigen empfängt.8 8 Vgl. SKS 24, 163f, NB22:112 / T 4, 278, Hervorhebungen im Original: »Christlich liegt der Nachdruck nicht entfernt so stark darauf, wie weit, wie weit hinaus es gelingt, die Forderung einzulösen oder die Forderung zu erfüllen, wofern man doch nur strebt, als darauf, daß die Forderung sich einem in ihrer ganzen Unendlichkeit zeigt, damit man recht lernt, sich zu

Die Phänomenologie der Verzweiflungskrankheit

2.

Die Phänomenologie der Verzweiflungskrankheit

a)

Die Bedeutung der Selbstaussage des Verzweifelten

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Kierkegaard erteilt der Auffassung eine Absage, »wonach jeder, der von sich nicht meint oder spürt, daß er verzweifelt ist, es auch nicht ist, und wonach nur der es ist, der es von sich sagt« (142 / 24,1ff). Die Selbstaussage ist für die Feststellung der Verzweiflung nicht entscheidend, aber sie ermöglicht einen genaueren Blick auf den jeweiligen Grad der Verzweiflung. Für den sich zu seiner Verzweiflung Bekennenden heißt das: Im Gegenteil, wer ohne Affektation sagt, daß er es ist, ist wenigstens ein bißchen, ist um ein dialektisches Moment näher daran, geheilt zu werden, als alle die nicht für verzweifelt gehalten werden und sich selbst nicht dafür halten (142 / 24,3–7).

So wie derjenige, der sich nicht verzweifelt nennt, tief in der Verzweiflung steckt, so ist derjenige, der sich unaffektiert verzweifelt nennt, schon seiner Genesung näher, also ein Stück aus seiner Verzweiflung hinaus. Es handelt sich dabei um ein dialektisches Moment, weil er sich verzweifelt nennt und darin auf dem Weg der Genesung zum Nichtverzweifeltsein fortzuschreiten scheint. Aber Kierkegaard formuliert sehr vorsichtig, dass er nur näher ›dran‹ ist, geheilt zu werden, als ob die Heilung doch noch nicht begonnen habe. Die Dialektik besteht nicht darin, dass mit der Einsicht in die eigene Verzweiflung ihre Heilung fortschreitet. Der Mensch kommt wohl der Heilung näher, ohne dabei schon heil zu werden. Dieser Vorbehalt liegt darin begründet, dass es für denjenigen, der sich für verzweifelt hält, noch völlig unausgemacht ist, ob er nun auch durch und durch verzweifelt. Wenn er sagt, dass er verzweifelt ist, kann er fortfahren, die Verzweiflung verzweifelt von sich abzuwerfen. Er hält sich für verzweifelt, aber ist weit davon entfernt, durch und durch zu verzweifeln. Die Nähe zur Heilung ergibt sich aus der Vergeistigung der Verzweiflung, die mit ihrem Bewusstsein eintritt. Der Verzweifelte wird sich selbst als Verzweifelter durchsichtig, aber je mehr er sein verzweifeltes Selbstsein erkennt, desto mehr wird er sich in seiner Verzweiflung von ihm lossagen wollen und damit um so mehr von seinem Heil. Mit steigendem Bewusstsein zieht der Verzweifelte sein verzweifeltes Selbstsein stärker zu sich – es sieht so aus, als wollte er es sein, und sein Heil wäre da –, aber dass ihm sein verzweifeltes Selbstsein so dicht auf den Leib rückt, macht ihn nur demütigen und bei der Gnade Zuflucht zu suchen. Die Forderung zu ermäßigen, um sie dann um so besser erfüllen zu können (als sei dies der Ernst, auf daß es sich nun um so leichter zeigen kann, daß man Ernst damit macht, die Forderung erfüllen zu wollen): das ist dem innersten Wesen des Christentums zuwider. Nein, die unendliche Demütigung und die Gnade und dann ein Streben der Dankbarkeit, das ist Christentum.«

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Die Gestalt der Verzweiflung

verzweifelter, und um so weiter wirft er es von sich ab. Doch wie ein Bumerang kommt es ihm um so stärker im nächsten Augenblick ins Bewusstsein zurück und so fort. Die Nähe zum Heil liegt in der Verzweiflung selbst, in dem Augenblick, wo der Verzweifelte sich das Ewige in sich zuzieht, ohne dass jedoch die Verzweiflung zum Heil wird. Der von sich nüchtern sagt, dass er verzweifelt sei, ist niemand anderes als der Verzweifelte, der »auf seine Verzweiflung, wie er meint, aufmerksam ist«, der nicht »in sinnloser Weise« (130 / 10,18f) wie ein Affektierter über sie redet, sondern der an seiner Verzweiflung arbeitet – darin ist er dem Heil näher –, doch dessen Arbeiten nur ein ›vermeintliches‹ ist, das ihn immer tiefer in die Verzweiflung statt durch sie hindurch bringt (130 / 10,27f). So weckt Kierkegaard im geneigten Leser, der sich vielleicht zu denen zählen wird, die ihre Verzweiflung zugeben, eine nur vergebliche Hoffnung. Wie sollte es auch anders sein, wenn es in Ewigkeit für den Verzweifelten keinen Ausweg aus seiner Krankheit gibt? Die Nähe zum Heil dient dem Verzweifelten nur dazu, um sich besser von ihm abstoßen zu können, weil sein verzweifeltes Selbstsein ihm nie und nimmer das Heil ist, das er sucht. Was sind es für Menschen, die von sich sagen, dass sie verzweifelt seien? Diejenigen hingegen, die von sich sagen, sie seien verzweifelt, sind in der Regel entweder Naturen, die eine solche Tiefe haben, daß sie sich als Geist bewußt werden müssen, oder diejenigen, denen Schicksalsschläge und entsetzliche Entscheidungen dazu verholfen haben, sich als Geist bewußt zu werden – es sind entweder die einen oder die anderen; denn höchst selten wird der sein, der wirklich nicht verzweifelt ist (142 / 24,12–19).

Entweder liegt die Ursache für das Bewusstsein der eigenen Verzweiflung in der spezifischen Natur des Menschen oder in seinem Lebensverlauf. Der Mensch kann von seiner Natur aus für das Ewige in seiner Tiefe offen sein und sich so vergeistigen – aber kann ein solcher Mensch leichter seine Verzweiflung eingestehen oder wird er angesichts ihrer Tiefe noch mehr über sie verzweifeln und sie in sich zu begraben versuchen? Anderen haben Schicksalsschläge zum Geistbewusstsein verholfen. Aber auch an Schicksalsschlägen braucht der Mensch nicht durch und durch zu verzweifeln. Denn er glaubt sich selbst in sich nicht verzweifelt, sondern das Schicksal hat ihn bis zur Verzweiflung geschlagen. So wird er verzweifelt sein Schicksal zu tragen versuchen, aber nicht erkennen, dass er sich ständig selbst zur Verzweiflung ›schlägt‹, indem er sich selbst loszuwerden versucht. Zum anderen können ›entsetzliche Entscheidungen‹ zum Geistbewusstsein verhelfen. Es kann der Verzweifelte selbst sein, der eine Entscheidung über sein eigenes Verzweiflungsbewusstsein trifft. Aber diese Entscheidungen sind zumeist solche, weiter zu verzweifeln, verzweifelt sich selbst auszuweichen, um nicht selbst in der Verzweiflung sein zu müssen. Das ist das Entsetzliche an

Die Phänomenologie der Verzweiflungskrankheit

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ihnen: dass der Mensch von seiner Verzweiflung weiß »und dennoch in der Verzweiflung bleibt« (159 / 43,11). Der von sich sagt, er sei nicht verzweifelt, ist sich seiner Entscheidung, weiter zu verzweifeln, gar nicht bewusst; der von sich sagt, er sei verzweifelt, hat bewusst die Entscheidung zur weiteren Verzweiflung getroffen. Er nennt sich verzweifelt und ist sich in seiner Entscheidung seiner Verzweiflung bewusst geworden, ohne durch und durch zu verzweifeln. Sonst würde er zu den Seltenen gehören, die wirklich nicht verzweifeln. Der sich verzweifelt nennt, wird vielleicht vor Verzweiflung rasen, aber er wird nicht aus hilfloser Verzweiflung um Hilfe rufen. Solange er aber noch über seine Verzweiflung spricht, über sich selbst verzweifelt, hat er sich von seinem verzweifelten Selbstsein getrennt. Er bedarf des Arztes, der ihm seine Illusion nimmt, er wüsste über seinen Zustand Bescheid (vgl. 139 / 20,29ff). Erst wenn er nicht mehr über seine Verzweiflung entscheidet, sich nicht mehr so von ihr abhebt und mit dem Arzt über seine Verzweiflung spricht, sondern selbst verzweifelt den wahren Arzt um Hilfe bittet, dann zeigt sich, was ihn zur Verzweiflung bringt, zeigt sich der Mensch in seiner ganzen Verzweiflung und ist durch sie hindurchgegangen. Der verzweifelte Mensch kommt nicht weiter, als zu sagen, er sei verzweifelt. Er gelangt zu dieser Aussage entweder durch seine seelische Verfassung, seine Natur, oder durch Veränderungen, die äußere Begebenheiten oder innere Entscheidungen herbeiführen. Aber in keinem Fall ist er damit der Möglichkeit, die Verzweiflung zu beenden, näher gekommen. Denn diese Möglichkeit liegt weder in dem, was er von Natur aus ist, noch was aus ihr im Leben wird. Der Verzweifelte vermag aus seiner Natur heraus sein Geistsein sich bewusst zu machen, aber er verhält sich nur – entsprechend der Synthesis zur negativen Einheit (vgl. 129 / 9,18f) – zu seiner ihm in gewisser Weise durchsichtigen Verzweiflung, indem er von sich sagt, er selbst sei verzweifelt. Er ist unablässig mit seiner Selbstgestalt beschäftigt, die er verändern will, und ist nicht »›er‹, er selbst, sein Selbst«, das Geist und vor Gott ist (143 / 24,29). Der Verzweifelte wird den Unterschied schwerlich verstehen, meint er doch auch, auf sich selbst aufmerksam zu sein. Aber er ist weit davon entfernt, jene gleichsam inverse Drehung zu sich selbst zu vollziehen, die aus seiner Selbstentzweiung ihn selbst macht. Nur wo er mit sich selbst in positiver Einheit ist, wo er sich nicht durch sein verzweifeltes Verhalten zu sich selbst als verzweiflungsvollem Verhältnis verhält, sondern das eine Verhältnis ist, das sich zu sich selbst verhält, also als durch und durch Verzweifelter verzweifelt, kommt er von der Verzweiflung los. Wo die Differenz zwischen ihm ›selbst‹ und seinem Selbstsein verschwindet, zeigt sich zugleich die Setzungsdifferenz und -einheit. Er selbst gründet im setzenden Anderen. Mochte es zuvor noch aussehen, als schäle sich der Gegensatz zwischen demjenigen, der seine Verzweiflung verdrängt, und demjenigen, der sich unaf-

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Die Gestalt der Verzweiflung

fektiert verzweifelt nennt, als der entscheidende heraus, so wird dieser Gegensatz von Kierkegaard schließlich zugunsten des einzig entscheidenden eingeebnet: ob der Mensch verzweifelt gelebt hat, sei es unbewusst oder bewusst, oder nicht – diesmal im Sinne der überwundenen Verzweiflung (143 / 25,24ff). Mochte der geneigte Leser vielleicht noch hoffen, seine tiefe Natur oder sein an schweren Schicksalsschlägen gereiftes Leben würden ihn von all den oberflächlichen Naturen um ihn herum abheben, weil er in seinem Wissen um seine Verzweiflung auch ihrer Überwindung nahe ist, so fällt dieser Unterschied angesichts der Ewigkeit völlig zusammen. Die Ewigkeit rechnet ihm weder seine tiefe Natur zu noch berücksichtigt sie sein schweres Schicksal. Ob der Verzweifelte seine Verzweiflung vergeistigt hat oder in seiner Unmittelbarkeit fortlebte, interessiert in Ewigkeit nicht.

b)

Die ärztliche Diagnose der Verzweiflungskrankheit

Kierkegaard stellt die These auf, »es gebe keinen einzigen Menschen, der nicht doch wenigstens ein bißchen verzweifelt ist« (138 / 19,5ff, Hervorhebung im Original). Wie ist diese Aussage mit jener zu vereinbaren, dass es dem Verzweifelten glücken kann, sein ›verzweifeltes Selbst‹ so zu verlieren, »daß nicht das geringste davon zu spüren ist« (136 / 18,11)? Dass er nichts spüre, sagt der an der Verzweiflung Erkrankte von sich. Wahrscheinlich wird er wohl zugeben, dass er eine gewisse Unruhe oder Disharmonie in sich habe, die ihm aber von dem, was man Verzweiflung nennt, gänzlich entfernt scheint. Eine Unruhe kann auf alles Mögliche hindeuten, auf eine gewisse körperliche Labilität, auf leicht erregbare Nerven, auf Schlaflosigkeit. Solange man sich im Ganzen wohl fühlt, muss man nicht jeder Laune der Natur nachgehen. So oder ähnlich wird der Verzweifelte seinen Zustand beschreiben. Dass doch ›ein bisschen‹ Verzweiflung in ihm sei, wird ihm der Arzt sagen, der den Menschen und seine Verzweiflung kennt. Er sucht »Licht in etwas zu bringen, was man im allgemeinen in einer gewissen Dunkelheit dahinstehen läßt« (138 / 19,25–27). Das Licht, das er auf den Verzweifelten wirft, ist anfangs gleichsam ein schwacher Lichtstrahl, den dieser nicht sofort abwehrt, sondern sich gefallen lassen könnte. Mit dieser Andeutung ließe sich ein wenig kokettieren, aber vielleicht – aus der Sicht des Arztes – verhilft sie auch, auf die wirkliche Schwere der Krankheit aufmerksam zu werden. Für eine undialektisch-phänomenologische Betrachtungsweise kann ein solcher etwas unruhiger Mensch nur höchstens als etwas verzweifelt eingestuft werden. Wenn der Arzt, der den Menschen kennt, jedoch berücksichtigt, dass hier jemand sich selbst so verloren haben könnte, dass er davon nichts mehr zu spüren braucht, dann kann es sich nur um einen völlig Verzweifelten handeln, der seine Verzweiflung entweder noch in Unwissenheit zu halten vermag oder

Die Phänomenologie der Verzweiflungskrankheit

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der sie bewusst in sich eingeschlossen hat, so dass die Verzweiflung in der äußerlichen Form der Unruhe wohnt, »hinter der sie normalerweise niemand suchen würde« (186 / 75,18). Kierkegaard will ein einfühlsamer Arzt sein, der mitfühlt, was sein Patient fühlt – und das ist höchstens ›ein bisschen‹ Verzweiflung. Bei diesem bisschen Verzweiflung setzt der Arzt an. Jeder Mensch ist mehr oder weniger verzweifelt, was nicht weiter schlimm erscheint, so wie kein Mensch völlig gesund ist. Die geringe Verzweiflung könnte sich als eine Angst äußern, als »Angst vor einem unbekannten Etwas« (138 / 19,8f). Das mag noch nicht viel bedeuten, die Angst könnte sich bei näherem Befund als unbegründet erweisen. Oder ist es die Angst »vor einem Etwas, mit dem er [sc. der Mensch] es nicht einmal wagt, Bekanntschaft zu machen« (138 / 19,9f)? Man scheint dieses Etwas doch schon in gewisser Weise zu kennen, so dass man eine wirkliche Bekanntschaft nicht wagen will – vielleicht weil dieses Etwas einem sehr nahe geht, das eigene Dasein von ihm betroffen ist, so dass es sich um die »Angst vor einer Möglichkeit des Daseins« (138 / 19,10f) handeln könnte. Oder ist es vielleicht nicht nur eine von den vielen Möglichkeiten des eigenen Daseins, sondern vielmehr »eine Angst vor sich selbst« (138 / 19,11)? Also hat man Angst vor dem eigenen ›ein bisschen‹ verzweifelten Selbstsein. Man hat Angst davor, weil man es ja nicht sein will. Oder ist man es schon, wenn die Verzweiflung schon in der Angst selber steckt, wenn die Krankheit »in und mit einer ihm unerklärlichen Angst« (138 / 19,15) im Inneren vorhanden ist? So führt Kierkegaard den kranken – wenn er nicht krank gewesen ist (140 / 21,29f) – Leser-Patienten an den Befund seiner Krankheit heran. Der Arzt wendet »zunächst Mittel an, um die Krankheit ans Licht zu bringen« (139 / 20,28f). Solche Mittel gibt Kierkegaard auch dem Leser seines Buches zu schlucken. Er hat ihm die bittere Pille verschrieben, von einer bequemen Einstellung zu seiner Lektüre Abschied nehmen zu müssen. Konnte der Leser – und das spricht für seine Redlichkeit – noch zuvor dem Gedanken nachgehen, sich selbst auf eine mögliche Verzweiflung im Inneren hin zu überprüfen, um bei der wahrscheinlichen und erleichternden Diagnose, nur ein bisschen verzweifelt zu sein, sich schnell wieder in Erwartung von Skizzen besonderer Verzweiflung dem Genuss der Lektüre hinzugeben, so muss er nach der Widerlegung einer solchen Selbstdiagnose verunsichert sein. Zwar spricht Kierkegaard den Leser nicht direkt an, sondern hebt gerade in diesem Kapitel auf die Allgemeinheit der Krankheit ab, doch könnte beim Leser der Verdacht entstehen, er als Einzelner würde selbst zum Gegenstand dieser sonderbaren Wissenschaft gemacht, als ob dem Buch sein behandelter Gegenstand mit dem Leser erst entstünde. Zumal liegt die geweckte Verunsicherung in Nähe zu jener Unruhe, jenem Unfrieden oder Disharmonie, durch die sich der Verzweiflung anzeigt.

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Aber der Leser könnte auch die Flucht nach vorne antreten und zugeben, dass er verzweifelt sei. Er könnte in Versuchung geraten, beim Lesen der Schrift nicht ohne einen gewissen Stolz von sich bekennen, was für tiefe Abgründe der Verzweiflung in seiner ihn immer wieder überfallenden Zerrissenheit und Verstimmung schlummern. Doch der Arzt wird ihm auch diese positiv ausfallende Selbstdiagnose abstreiten. Der Patient bilde sich seine Verzweiflung nur ein, seine Verstimmung habe nicht viel zu bedeuten und sei einer Verzweiflung nicht gleichzusetzen (140 / 21,6–10). Die Verzweiflung sei nur in die Verstimmung hineininterpretiert worden. Diese Auskunft des Arztes muss den Patienten enttäuschen – hatte er doch seiner Bestimmung eine so große Bedeutung zugemessen. Damit deckt der Arzt beim Patienten auf, dass dieser seiner Verstimmung – entgegen dem eigenen Urteil – nur eine kleine Bedeutung zumaß, was er hinter seinem affektierten Gebaren versteckte. Dass ihm die Verstimmung eigentlich nur wenig bedeutet, hat dann aber wieder viel zu bedeuten (140 / 21,13–16). Es ist seine Verzweiflung. Der Arzt übernimmt nicht den Blick seines Patienten auf seine Verstimmung, sondern sieht, wie dieser mit seiner Verstimmung umgeht. Die Verstimmung ist ›transitorisch‹ (140 / 21,9) und verschwindet mit der Zeit. Indem der Verzweifelte sie mit seiner Verzweiflung auflädt, will er diese ebenfalls mit der Zeit zum Verschwinden bringen. Aber die Verzweiflung ist in Wirklichkeit ewig.

c)

Die Aufdeckung der Verzweiflungskrankheit

Was geschieht, wenn es dem Arzt gelungen ist, »die Krankheit ans Licht zu bringen« (139 / 20,28f)? Wenn die Verzweiflung sich zeigt, gehört sie sogleich der Vergangenheit des Menschen an: Sobald die Verzweiflung sich zeigt, zeigt sich, daß der Mensch verzweifelt war (140 / 21,27f).

Nun ist entschieden, dass der Mensch verzweifelt war. Die ans Licht gebrachte Verzweiflung sinkt im selben Augenblick in die Vergangenheit. Die Vergangenheit bleibt nicht als Mögliches präsent, sondern ist in ihrer Möglichkeit so vernichtet, wie es für vergangene Zeit unmöglich ist, nochmals Gegenwart zu werden. Wo die Verzweiflung sich zeigt, zieht in diesem Augenblick der Mensch sie sich nicht mehr zu und aktualisiert sie dadurch (vgl. 132 / 13,15ff), sondern er geht durch die Verzweiflung hindurch und vergeht im selben Augenblick als Verzweifelter. In einem Augenblick vergeht er mit der Verzweiflung, wie ein zeitlicher Augenblick vergeht, und ist als Nicht-Verzweifelter ewig, wie ein nicht andauernder Augenblick zeitlos ewig ist. Nur in einem solchen Fall ist auch eine Entscheidung über die Krankheit zu fällen. Der Befund dieses Augenblicks hat

Die Phänomenologie der Verzweiflungskrankheit

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ewige Gültigkeit. Der Mensch ist von der Krankheit genesen, indem er sie durchlitten hat, »verzweifelt gewesen ist« (140 / 21,30). Der Arzt kann in keinem Augenblick über den Menschen entscheiden, dass er verzweifelt ist (140 / 21,28ff). Denn wenn dieser sich die Krankheit in jedem Augenblick neu zuzieht, ist die Diagnose auch jeden Augenblick neu zu stellen. Der Befund muss stets neu entstehen und ist nicht ein für allemal festzulegen. Was sich zeigt, wenn die Verzweiflung sich nicht eindeutig als überwundene Krankheit zeigt – was freilich im selben Augenblick noch geschehen kann –, ist Unruhe, Angst, Verstimmung, ja sogar vielleicht Raserei. Aber aus keinem dieser Merkmale kann man mit Sicherheit die Verzweiflung ablesen. Die äußeren Zeichen sind nicht hinreichend für einen Befund im Sinne des Geistes. Nur wenn das, was im tiefsten Inneren (138 / 19,7) wohnt, ans Licht kommt, und zwar nicht ans äußere Licht, sondern ans Licht des Geistes, der den Menschen selbst auf seinen Grund hin durchsichtig macht (vgl. 130 / 10,38f), ist die Macht der Verzweiflung gebrochen. In den äußeren Zeichen zeigt sich auch die Verzweiflung, aber sie zeigt sich am Verzweifelten so, dass gerade verdeckt wird, »was ihn zur Verzweiflung bringt« (140 / 21,31). Erst wenn sich die Verzweiflung als das zeigt, was den Menschen zur Verzweiflung bringt, als er selbst in seiner Verzweiflung, wovon er mit aller Anstrengung verzweifelt entkommen will, dann ist die Befreiung von der Verzweiflung da. So wohnt der Verzweiflung eine eigentümliche Dialektik inne. Wenn sich diese Krankheit als solche zeigt, ist der Patient gesund – weil er krank gewesen ist. Der Patient muss nicht zuerst krank sein, um gesund zu werden, dafür ist die Krankheit viel zu schrecklich, er muss krank gewesen sein, durch die Krankheit hindurchgegangen sein, um wirklich gesund zu sein.

d)

Die Differenz der geistigen Struktur zum bloßen Leib-Seele-Verhältnis

Um die Rede von der Verzweiflung als einer Krankheit zu verstehen, ist die Struktur einer physisch-psychischen Erkrankung mit der von Kierkegaard vorgestellten ›Verzweiflungskrankheit‹ zu vergleichen. Die gemeinsame Struktur beider Erkrankungsformen ist mit dem Synthesisbegriff festgehalten. Der Synthesisbegriff wurde anfangs unter der Bestimmung Seele als ›ein Verhältnis zwischen zweien‹ (129 / 9,16f) erläutert. Welche Rolle kann er in der Deutung der Verzweiflung spielen, die doch unter der Bestimmung Geist steht? Kierkegaard gibt im folgenden Zitat Auskunft darüber : Und darin, daß das Verhältnis Geist ist, das Selbst ist, darin liegt die Verantwortung, der alle Verzweiflung unterliegt und jeden Augenblick unterliegt, während dessen sie besteht, wie sehr und wie geschickt, sich selbst und andere täuschend, der Verzweifelte

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Die Gestalt der Verzweiflung

auch von seiner Verzweiflung wie von einem Unglück spricht, infolge einer Verwechslung wie in jenem angeführten Fall des Schwindels, mit dem die Verzweiflung, wenn auch qualitativ verschieden, vieles gemeinsam hat, da er unter der Bestimmung Seele das ist, was die Verzweiflung unter der Bestimmung Geist ist, und da er mit Analogien zur Verzweiflung trächtig ist (132 / 12,21–31).

Kierkegaard beschreibt den Verzweifelten als einen Menschen, der sich seiner Verantwortung zu entziehen sucht. Das geschieht in solch geschickter Weise, dass sich der Verzweifelte in seiner Verzweiflung selbst zu täuschen vermag. Er verbirgt vor sich selber, dass er sich seiner Verantwortung für seine Verzweiflung und damit der Verzweiflung selbst zu entziehen versucht. Kierkegaard bringt in diesem Zusammenhang wieder die Bestimmung der Verzweiflung als Unglück ein (132 / 12,26). Mochte zuvor noch von einer rein dialektischen Betrachtungsweise ausgehend die Verzweiflung als Unglück bezeichnet werden (131 / 11,15f), so zeigt sich in der nun schon längst dem wirklichen Verzweifelten verpflichteten Betrachtung, dass die Rede vom Unglück der Verzweiflung eine aktiv betriebene Selbsttäuschung darstellt. Diese Selbsttäuschung geht aus einer Verwechslung hervor, die an dem von Kierkegaard im vorigen Zitat erwähnten Beispiel verdeutlicht werden kann. Dieses Beispiel beschreibt einen, der in sinnloser Weise über seine Verzweiflung redet ungefähr wie wenn jemand, der an Schwindel leidet, infolge einer nervösen Täuschung von einem Gewicht auf seinem Kopf spricht, oder davon, daß es so sei, als ob etwas auf ihn herabfalle usw., während doch Schwere und Druck nichts Äußeres sind, sondern eine umgekehrte Reflexion des Inneren (130 / 10,20–24).

Das Beispiel lässt sich unter der von Kierkegaard nachgetragenen Erklärung, dass es sich um ein Beispiel unter der Bestimmung Seele handelt (132 / 12,26–31), aufschlüsseln. Der unter Schwindel Leidende spricht von einem Gewicht auf seinem Kopf oder dem Gefühl, als falle etwas auf ihn herab, d. h. er spricht von einem körperlichen Gebrechen, das ihm widerfährt. Sein Eindruck ist aber nicht auf eine wirklich von außen eintretende Veränderung seines körperlichen Befindens zurückzuführen, sondern beruht auf einer »nervösen Täuschung«, einer psychisch-physischen Erkrankung, die also von ›innen‹ kommt und sich im Äußeren reflektiert, widerspiegelt. Der an Schwindel erkrankte Mensch ist sich seiner Täuschung bewusst, ohne dass er sie abstellen könnte. Er klagt ja, dass es so sei, als ob etwas auf ihn herabfalle. Er weiß also durchaus, woran er erkrankt ist. Die Erkrankung hat das Verhältnis zwischen Leib und Seele, ihre Synthese, durcheinandergebracht. Der Leib dient nicht der Seele, sondern täuscht das psychische Bewusstsein. Der Leib macht sich gegenüber der Seele selbständig. Mit der Erkrankung unter der Bestimmung Seele hat die Erkrankung unter

Die Phänomenologie der Verzweiflungskrankheit

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der Bestimmung Geist »vieles gemeinsam« (132 / 12,28). Wie bei der psychischen Erkrankung im Akutfall die Aktivität der Seele von innen her mit einem körperlich spürbaren Ereignis von außen her verwechselt wird, so verwechselt der Verzweifelte die Tätigkeit seiner selbst mit einem ihm von außen zustoßenden Unglück. Sowohl beim Verzweifelten als auch beim psychisch-physisch Erkrankten liegt eine Synthese, ein Verhältnis zwischen zweien vor, dessen Einheit in jeweils spezifischer Weise ›erkrankt‹ ist. Der an Schwindel Erkrankte leidet an der Bewusstseinsstörung, innerseelische Vorgänge als äußerliche zu erfahren. Aber wie schlägt sich analog dazu die Verzweiflung im Selbst-Bewusstsein nieder? Die hier aktiv betriebene Täuschung besitzt noch viel gravierendere Folgen für die Einheit der Synthese, die im Fall der Verzweiflung nicht die negative Einheit des Leib-Seele-Verhältnisses, sondern die positive Einheit des Selbstseins, des Geistseins betrifft: »Verzweiflung bedeutet jedoch gerade, daß der Mensch sich nicht bewußt ist, als Geist bestimmt zu sein« (141 / 22,36f). Die positive Einheit der im richtigen Verhältnis befindlichen Synthese weist nicht nur eine Störung in sich auf, sondern sie geht in der Verzweiflungskrankheit dem menschlichen Bewusstsein geradezu verloren. Der verzweifelte Mensch weiß nicht mehr um sich selbst. Dieser Befund stellt die Analogie zur Leib-SeeleSynthese und ihrem Bewusstsein in ein neues Licht. Der verzweifelte Mensch beschränkt sich im Verlust seiner wahren Selbsteinheit auf sein leiblich-seelisches Bewusstsein. Er entspricht fast ganz der Synthese zwischen zweien, wie sie zwischen Leib und Seele besteht (129 / 9,20f). Aber eben nur fast, weil der Mensch dieser Synthese eben in der Weise erkrankt ist, dass er die verlorene Einheit seiner selbst noch irgendwie mit sich führt. Damit erhebt sich das Problem der Diagnose. Die Verzweiflungskrankheit scheint – wenn man ihre Symptome bemerkt – einer körperlich-seelischen Krankheit zu gleichen, deren wahre Ursache für den Patienten selbst und einen unerfahrenen Arzt nicht spürbar oder erkennbar sind. Die innere Verbindung der Verzweiflungskrankheit mit dem Leib-Seele-Verhältnis, in dem sich diese Krankheit wie leiblich-seelische Krankheiten und doch diese transzendierend ausdrückt, bildet die sachliche Grundlage für die Rede von der Krankheit zum Tode. Der mannigfache Gebrauch der Rede von Krankheit, Gesundheit und Arzt, die ganze medizinische Szenerie, die Kierkegaard heraufbeschwört, ist kein der Realität entliehenes Bild, mit dem er eine rein metaphysische, geistige Wirklichkeit in ihrer adäquaten oder verfehlten Form darzustellen sucht, sondern die Verzweiflungskrankheit schlägt sich nirgendwo anders als in der leiblich-seelischen Wirklichkeit des Menschen nieder. Wie jeder ›normale‹ Arzt sucht auch der verzweiflungskundige Arzt das Leib-Seele-Verhältnis nach der entsprechenden Krankheit ab, nur dass die Verzweiflung die einzige Krankheit ist, die sich zwar leiblich-seelisch äußert, aber nicht ihren Ursprung dort hat.

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Kierkegaard hatte in einer vorausgehenden Fassung eines Teils seiner Schrift (KT, GW 24, 167–170) eine noch stärkere Parallele zwischen der leiblich-seelischen Synthese und dem »Zusammenspiel von Endlichkeit und Unendlichkeit, vom Göttlichen und Menschlichen, von Freiheit und Notwendigkeit« (168) im Menschen gezogen. In beiden Verhältnissen sei es bisweilen schwierig zu sagen, von welcher Seite die erste Wirkung ausging. Ein Schwindel könne sowohl seelisch als auch körperlich verursacht sein, bei der Verzweiflung könne die Ursache in der Notwendigkeit oder Freiheit liegen. Doch bestehe zwischen Schwindel und Verzweiflung ein wesentlicher Unterschied, weil »der Verzweifelnde, welcher im Augenblick der Verzweiflung, gleich dem dem es schwindelt im Augenblick des Schwindel, seiner selbst nicht mächtig ist, gleichwohl verantwortlich ist für diesen seinen Zustand in der Verzweiflung, was man von dem Schwindlichten im gleichen Sinne nicht sagen kann« (Ebd.). Die Verantwortung für die Verzweiflung thematisiert das ›Für-sich‹ des Menschen – so der Ausdruck der früheren Fassung, der dann durch das ›Selbst‹ ersetzt wird – und bringt zugleich das Setzungsverhältnis in den Blick. In der leiblich-seelischen Synthese sei nicht die Rede davon, »daß dies Verhältnis ein Für-sich ist, und daher auch nicht davon, daß dies Verhältnis sich verhält zu einem Dritten« (170). Kierkegaards Erklärung des Selbst- und Setzungsverhältnisses lässt aber noch die vorher genannten Glieder der Synthese missverständlich erscheinen. Ist der Mensch als solcher nur teilweise frei – und für sich verantwortlich –, weil er eine Synthese aus Freiheit und Notwendigkeit ist? Ist der Mensch im Grunde ein übermenschliches Wesen, wenn er nicht nur aus Menschlichem, sondern auch aus Göttlichem besteht? Kierkegaard löst das Problem in seiner Endfassung durch eine Umstellung des Gedankengangs und eine Revision seiner Terminologie. Der längere Abschnitt über den Schwindel in der vorausgehenden Fassung, aus der zitiert wurde, befand sich zwischen dem jetzigen Abschnitt A.B und dem jetzigen Abschnitt A.C. Für die Endfassung wurde er als solcher gestrichen und stattdessen einige seiner Gedanken neu geordnet in den jetzigen Abschnitt A.A eingefügt. Der Gedanke der »Zusammensetzung von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Freiheit und Notwendigkeit, vom Göttlichen und Menschlichen in einem Verhältnis, welches ein für sich ist« (168), wird aus dem Vergleich von Schwindel und Verzweiflung herausgenommen und in die Erklärung des Selbst- und des Setzungsverhältnisses eingefügt. Nun ist die Zusammensetzung oder Synthesis des Menschen aus Unendlichkeit und Endlichkeit usw. nicht ein ›Für-sich‹, sondern »[s]o betrachtet, ist der Mensch noch kein Selbst« (127 / 9,17). Kierkegaard hebt in der Endfassung die Synthesis mit ihren einzelnen Momenten deutlicher von dem ›Für-sich‹, dem Selbstverhältnis ab. Das Selbstverhältnis ist der Ansatzpunkt für das Verhältnis zu dem Anderen, das es gesetzt hat. Die gegenüber der früheren Fassung genauer herausgearbeitete Struktur zwischen Selbst- und Setzungsverhältnis wirkt auf die Terminologie der einzelnen Synthesenglieder zurück. Statt Menschliches und Göttliches, was begrifflich eher auf das Setzungsverhältnis, dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott, hinweist, heißt es nun Zeitliches und Ewiges (127 / 9,15). Allein die beibehaltene Formulierung von Freiheit und Notwendigkeit (Ebd.) könnte noch ein Reflex der früheren Fassung sein. In der Durchführung der Verzweiflungsformen wird dann aber Kierkegaard von Möglichkeit und Notwendigkeit sprechen und den Freiheitsbegriff dem ganzen Selbstverhältnis zuordnen.

Die Phänomenologie der Verzweiflungskrankheit

e)

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Die Verzweiflungskrankheit im Vergleich zu leiblich-seelischer Gesundheit und Krankheit

Die dialektische Struktur der Verzweiflung wird von Kierkegaard im Hinblick auf die Dialektik einer natürlichen Krankheit herausgearbeitet. Die Verzweiflung ist nicht nur in einem anderen Sinne dialektisch als eine Krankheit, sondern im Verhältnis zur Verzweiflung sind alle Kennzeichen dialektisch (140 / 21,39–22,2).

Körperliche Gesundheit ist eine unmittelbare Bestimmung, »die erst im Zustand der Krankheit dialektisch wird, wo dann von einer Krise die Rede ist« (141 / 22,25ff). Eine Krise ist aus dem Widerspruch zwischen Krankheit und Gesundheit verständlich. Bei dem Menschen, als seelisch-leibliche Synthese betrachtet, wird der Ausgangspunkt bei der Gesundheit genommen, und als unmittelbare Bestimmung kann sie im Krankheitsfall dialektisch werden. Die Gesundheit ist zu einem Zustand der Krankheit geworden; sie ist einerseits nicht mehr Gesundheit, aber andererseits ist die entstandene Krankheit nur als veränderter Zustand der Gesundheit verständlich. Bei der Verzweiflung als Bestimmung des Geistes herrscht eine andere Dialektik. Die Krankheit der Verzweiflung ist nicht wirklich zu identifizieren. Wo sie sich zeigt, ist der Mensch von ihr befreit, und sie gehört der Vergangenheit an. Die Krankheit der Verzweiflung ist insofern zugleich Gesundheit. Zuvor wiederum hat sie sich noch nicht gezeigt, so dass man davon ausgehen konnte, der Mensch sei gesund. Aber diese Gesundheit muss nun im Rückblick als Krankheit angesehen werden. Es fällt die unmittelbare Feststellung der Gesundheit weg, wie sie bei der natürlichen Anschauung von Krankheit und Gesundheit üblich ist. Während allgemein akzeptiert scheint, dass eine leibliche oder seelische Krankheit noch in Relation zur Gesundheit, als Zustand der Gesundheit zu bestimmen ist, weil man bestimmte Symptome als relativ gesund oder krank klassifizieren kann, lässt sich hingegen bei der ›Krankheit des Geistes‹ keine eindeutige phänomenale Grundlage ermitteln. Der Mensch hat aus Erfahrung oder Intuition ein Wissen von krankhaften Erscheinungen oder Empfindungen seiner leiblich-seelischen Einheit im Unterschied zu gesunden. Ein solches Wissen ist dem verzweifelten Menschen im Hinblick auf seine Krankheit nicht gegeben. Der Mensch hat wohl ein irgendwie zutreffendes Wissen von dem, was er nach Leib und Seele ist, aber was er nach dem Geist ist, muss ihm dunkel bleiben – hat er es sich doch im Zustand der Verzweiflung selbst verdunkelt. Der mit dem Wesen der Verzweiflung vertraute Arzt bringt die Vorstellungen seines Patienten von Gesundheit und Krankheit ins Wanken. Er macht ihn auf eine Krankheit aufmerksam, die sich dem seelisch-leiblichen Schema nicht fügt. Gesundheit und Krankheit sind der Krankheit zum Tode auf eine Weise einge-

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Die Gestalt der Verzweiflung

schrieben, die jene seelisch-körperliche Eindeutigkeit vermissen lassen, die noch dort herrscht, wo der normale Arzt hinter einer vermeintlichen Gesundheit die Krankheit erst ans Licht bringen muss. Die Krankheit zum Tode vereint Gesundheit und Krankheit in einer für Leib und Seele unmöglichen Weise, weil man bei ihr ewig stirbt. Man ist so krank, dass man sterben muss, und man ist so gesund, dass man nicht sterben kann. Deshalb vergleicht Kierkegaard den Verzweifelten auch mit einem Todkranken, der »sich mit dem Tode quält und nicht sterben kann« (133 / 14,22f). Walter Dietz hat scharfe Kritik an Kierkegaards Aufnahme der Krankheitsmetapher geübt (Kierkegaard, 95f). Diese Kritik ist sicher berechtigt, wenn man die Metapher direkt auf Kierkegaards Verzweiflungsbegriff anlegt. Aber Kierkegaards Absicht mit der Krankheitsmetapher dürfte weniger in der direkten Aufhellung seines Verzweiflungsbegriffs als in der Aufhellung menschlicher Täuschungen über die Verzweiflung liegen. Insofern besitzt die Metapher heuristische Funktion und kann dazu beitragen, in einem existentiellen Sinne den befreienden Zugang zur eigenen Verzweiflung zu eröffnen. Theunissen kritisiert das von Kierkegaard gezeichnete Bild des Arztes, »der eine Krankheit ohne Rücksicht auf das subjektive Befinden des Kranken glaubt diagnostizieren zu können« (Begriff Verzweiflung, 75). Dann »kann seine Diagnose nichts sein als eine äußerliche Klassifikation seines Materials nach Maßgabe eines vorgefertigten Begriffs« (Ebd.). Theunissen muss zu dieser Kritik kommen, weil er den zweiten Abschnitt der KT unberücksichtigt lässt. Die »Überlegenheit, die Kierkegaard sich anmaßt, wenn er sich als Arzt über den Kranken erhebt« (76, Anm.), verschwindet sogleich, wenn die ›Krankheit‹ der Verzweiflung als Sünde aufgedeckt wird, deren jeden Einzelnen angehende Relevanz sich nur durch die Offenbarung Christi mitteilt. Auf diese Relevanz macht Kierkegaard als möglicher Arzt indirekt aufmerksam, wenn er jeden Menschen mit der Verzweiflung behaftet. Theunissen geht in seiner Kritik noch weiter, wenn er in der scheinbaren Erhebung des Arztes über den Kranken »den Nerv der Analyse« getroffen sieht, weil sie die negativistische Methode Kierkegaards in Frage stellt. »Wäre Kierkegaard seiner negativistischen Methode treu geblieben, so hätte er auch in diesem Punkt seinem Vorbild, der Phänomenologie des Geistes, folgen müssen. So wie Hegel dem natürlichen Bewußtsein die Leiter reicht, so hätte er sich gleichsam zum Verzweifelten herabbegeben und ihn an die Hand nehmen müssen« (Ebd.). Theunissen hat recht, wenn er die dem Arzt zugeschriebene Rolle in Widerspruch zu einer an Hegel geschulten negativistischen Methode sieht. Aber die weitere Analyse wird ergeben, dass Kierkegaard in seiner scheinbar negativistischen Methode weder Hegel folgt noch folgen will, sondern ein eigenes Verständnis einer ›heilsamen Negation‹ entwickelt. Es bleibt die richtige Beobachtung Theunissens, dass der ›Arzt Kierkegaard‹ sich nicht wirklich zum Verzweifelten herabbegibt. Aber diese Feststellung erfährt unter dem Blickpunkt der Sünde eine bedeutsame Revision. Der Arzt für die Sünde hat sich zum verzweifelten Sünder herabbegeben, wenn Gott »um dieses Menschen willen« auf die Welt kommt, »sich gebären [lässt], leidet, stirbt« (199 / 86,16f). Kierkegaard will und darf sich nach seinem eigenen Verständnis gerade nicht zum Verzweifelten herabbegeben, um nicht das Missverständnis hervorzurufen, er selbst könne die Heilung herbeiführen.

4. Kapitel: Die Rettung aus der Verzweiflung

1.

Das Wesen des Glaubens angesichts der Verzweiflung

a)

Die Präfiguration des Glaubens durch den Gedanken der nichtigen Reflexion

In den vergangenen Kapiteln wurde schon mehrmals von dem Ausweg aus der Verzweiflung gesprochen. Er ist für Kierkegaard mit dem Glauben an Gott gegeben, der eine eigene Gestalt im Durchgang durch die Verzweiflung besitzt. Dieser besondere Glaubensbegriff soll im Folgenden näher betrachtet werden. Kierkegaard deutet den von Gott her möglichen Ausweg aus der Verzweiflung an, wenn er auf die Gestalt des Glücklichen zu sprechen kommt, dem in seiner Verzweiflung die Angst innewohnt (141f / 23,7–22). Der Arzt, im Sinne der von Kierkegaard eingeführten, der Verzweiflung kundigen Gestalt verstanden, würde bei einem solchen Menschen nicht in der Weise ansetzen, dass er ihm direkt sein Glück zu nehmen versucht, um ihn auf seine Verzweiflung aufmerksam zu machen, sondern er lässt den Betreffenden sich selbst sein Glück nehmen, indem er dessen Angst vergrößert. Er wirft ein »halbes Wort von etwas Unbestimmtem hin« (141 / 23,13). Er deutet an, von was sich das Glück ernährt und was es doch gerade zerstören kann, wenn es dem Glücklichen zu Bewusstsein kommt. So muss es dem unmittelbar Glücklichen am meisten Angst machen, wenn »man ihr [sc. der Unmittelbarkeit] in einer listigen Weise unterstellt, sie werde selber schon wissen, wovon man spreche« (141 / 23,15f). In der Unmittelbarkeit will der Mensch nicht wissen, wovon er spricht.1 Am wenigsten will er wissen, dass er dieses will. Er täuscht sich selber, indem er alles unmittelbar, als Glück, nimmt. Er geriete sofort in die Gefahr der Mittelbarkeit, wenn er darüber nachdenken würde, wovon er spricht. Er wird an 1 Vgl. SKS 10, 182 / CR, 181: »[E]s steht viel eher so, daß der Mensch tief in seinem Innern eine heimliche Angst und Scheu vor der Wahrheit hat, eine Furcht davor, zu viel zu wissen zu bekommen.«

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Die Rettung aus der Verzweiflung

sich selber verwiesen, wenn er es selber schon wissen werde, an seine Verantwortung für sich selbst, die er im Glück von sich abgelegt hat. Der Glückliche wird angeregt, sich selbst zu reflektieren. Wenn der Glückliche über das Unbestimmte seines Glückes zu reflektieren beginnt, legt sich eine ›Gedankenschlinge‹ (142 / 23,18) um ihn selbst, um sein verzweifeltes Selbstsein, das noch von der setzenden Macht abhängt, aber nicht in ihr gründet. Dieses Selbstsein hat seinen Grund verloren und ist nur in seiner Nichtigkeit und Unbestimmtheit zu reflektieren. Der leiblich-seelische Mensch hat keine Bestimmung für sein verzweifeltes Selbst, weil ihm der Geist fehlt. Er begibt sich mit dieser ›Reflexion des Nichts‹ (142 / 23,21) in seine eigene Geistlosigkeit. Eine solche Reflexion ist ein Fortschritt in Richtung auf die eigene Genesung von der Verzweiflung, in ihr hat sich das Wesen der Reflexion überhaupt erfüllt: […] nie ist die Reflexion so sehr selbst, wie wenn sie – nichts ist (142 / 23,19f).

Im leiblich-seelischen Bereich hat die Reflexion immer bestimmte Gegenstände in ihrer ›Schlinge‹. Sie weicht damit ihrem eigenen Wesen in gewisser Weise stets aus, weil sie keine Re-flexion in dem Sinne ist, dass sie bildlich gesprochen wieder ganz zu sich zurückkehrt, sondern eben etwas anderes reflektiert. Nur dann ist ihr ›Fang‹ völlig sicher, wenn sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt, der ihr nicht verlorengehen kann. Wo in der Verzweiflung anderes reflektiert wird, will der Mensch seine Reflexion nicht zur Selbstreflexion machen. Wenn der Mensch hingegen die Selbstreflexion wagt, wird sie ihm zum Blick in die eigene verzweifelte Nichtigkeit. Dem Menschen wird gleichsam schwarz vor Augen, weil er selbst in dieses Nichts stürzt.2 Die Reflexion hält dem eigenen ›Gegenstand‹ nicht stand und fällt in sich zusammen, indem sie selber zu nichts wird. Theunissen verbindet den Gedanken der Reflexion des Nichts mit anderen Aussagen aus KT: »Das Selbst beschreibt Kierkegaard zu Beginn – so wird sich uns zeigen – als Reflexion oder genauer als unendliche Reflexion, dementsprechend, daß er auch die negative Form als ›unendliche‹ [182 / 69,36f] charakterisiert. Diese Reflexion aber nennt er ›die Reflexion des Nichts‹ [142 / 23,21], das heißt eine solche, die selber Nichts ist. Für ihn folgt also aus der Tatsache, daß er die Verzweiflung durch Negation des Selbst definiert, keineswegs dessen Positivität (Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, 31). Es könnte in der Tat naheliegen, die unendliche Reflexion in der Reflexion des Nichts im Horizont jener Aussage »das Selbst ist Reflexion« (147 / 28,10) zu interpretieren, zumal auch die Reflexion des Selbst den Menschen ins Unendliche hinausführt. Aber es sind 2 Kierkegaard nennt ›vor Gott zu nichts zu werden‹ den höchsten religiösen Akt (SKS 21, 229, NB9:50 / T 3, 170).

Das Wesen des Glaubens angesichts der Verzweiflung

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mehrere Gründe geltend zu machen, das im Rahmen der Verzweiflung der Unendlichkeit genannte Selbst als Reflexion nicht im Sinne der Reflexion des Nichts zu verstehen. Das Selbst als Reflexion meint die phantastische »Wiedergabe des Selbst, die die Möglichkeit des Selbst ist« (147 / 28,11f). Dagegen wird in der Reflexion des Nichts kein Selbst wiedergegeben, sondern eben Nichts, welches das Ende jeglicher Möglichkeit des Selbst ist. Zur Reflexion des Nichts bedarf es keiner Phantasie wie zur Wiedergabe des Selbst. Während das Selbst als Reflexion den Menschen »so sehr ins Unendliche hinausführt, daß es ihn nur von ihm selbst wegführt« (147 / 28,15ff), führt die unendliche Reflexion im Sinne der Reflexion des Nichts den Menschen zu sich, indem er nun ›nichts‹ mehr hat, an das er seine Selbstreflexion heften kann. Hier wird der Blick frei für das positive Selbstsein, das in Gott gegründet ist. Kierkegaard hebt übrigens die Reflexion des Nichts ausdrücklich von jeglicher anderen Reflexion ab, wenn er sie als ›außerordentliche Reflexion‹, ja als ›einen großen Glauben‹ (142 / 23,20f) erläutert. Ein solcher Glaube ist dem im Sinne der Unendlichkeit Verzweifelten, der sein Selbst in die Unendlichkeit reflektierend phantasiert, fremd.

Wo der Mensch sich wirklich als Verzweifelter reflektiert, bricht die vermeintliche Selbst-Reflexion zusammen, und er verzweifelt durch und durch. Verzweiflung ist im Unterschied zu allem anderen Reflektierten eine echte Selbstbestimmung und nicht gegenständlich, sich selbst gegenübergestellt, zu erfassen. Damit ist die Reflexion erst ganz sie selbst, Selbstreflexion. In diesem Sinne ist die Reflexion des Nichts eine außerordentliche Reflexion: Es gehört eine außerordentliche Reflexion, oder richtiger es gehört ein großer Glaube dazu, die Reflexion des Nichts, das heißt, die unendliche Reflexion aushalten zu können (142 / 23,20ff).

Kierkegaard bezeichnet die außerordentliche Reflexion richtiger als Glaube, weil der Mensch nur im Glauben seiner Nichtigkeit gewahr werden kann. Er muss dabei sich selbst aushalten, was das Schwerste von allem ist. Er muss den Glauben besitzen, dass für ihn in der angstvollen Unbestimmbarkeit, die er in seiner Reflexion aushalten will, eine Hoffnung liegt. Seine Reflexion trifft auf keinen Gegenstand, weil sie eine ›unendliche Reflexion‹ ist, was zugleich seine Verzweiflung ins Unendliche wachsen lässt, und doch muss er den Glauben haben, gerade darin sein Ende als Verzweifelter zu finden. Er muss aushalten wollen, was er in seiner Verzweiflung nie und nimmer sein will: ein verzweifeltes Selbstsein.

b)

Der zum Äußersten gebrachte Mensch

Kierkegaard deutet an, dass all das in den einzelnen Verzweiflungsformen beschriebene Hoffen und Verzweifeln nicht an die wahre Hoffnung und Verzweiflung heranreicht, durch die der Mensch von der Verzweiflung erlöst wird.

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Die Rettung aus der Verzweiflung

Alles das sind jedoch nur menschliche Worte, die nicht bis zur Wahrheit vordringen; dieses ganze Hoffen und dieses ganze Verzweifeln ist noch nicht das wahre Hoffen oder das wahre Verzweifeln (153 / 36,3–6).

Wahres Hoffen und Verzweifeln gehen über den menschlichen Verstand, weil die wahre Hoffnung größer und die Verzweiflung entsetzlicher ist (vgl. 125 / 7), als der Mensch sich vorstellen kann. Am stärksten verzweifelt und hofft der in der Möglichkeit Verzweifelte. Er ist so verzweifelt, dass er auf keinen Fall so sein will, wie er ist, und er ist so hoffnungsvoll, dass er meint, in jeder neuen Möglichkeit sich selbst zu finden. Aber er ist nicht so verzweifelt, dass er in seiner Verzweiflung von der Hoffnung auf eine weitere Möglichkeit lässt, und seine Hoffnung ist nicht so groß, dass er meint, in dieser völligen Hoffnungslosigkeit gäbe es noch Hoffnung für ihn. Eine solche Möglichkeit der Hoffnung kann auch nur in den Möglichkeiten Gottes begründet sein. Das Entscheidende ist: für Gott ist alles möglich. Das ist ewig wahr und folglich in jedem Augenblick wahr. Man sagt es wohl so für den täglichen Gebrauch, und für den täglichen Gebrauch sagt man es so, aber die Entscheidung fällt erst, wenn der Mensch zum Äußersten gebracht ist, so daß es menschlich gedacht, keine Möglichkeit gibt (153 / 36,7–12).3

Dass für Gott alles möglich ist, muss das Entscheidende sein, weil es an ihm liegt, was möglich ist. Freilich impliziert die Formel diesen Schluss nicht notwendig, weil auch dem Menschen einiges möglich sein könnte. Dann wäre die Formel nicht entscheidend. In dieser nicht entscheidenden Weise wird sie auch täglich gebraucht. Dass für Gott alles möglich ist, hat keine entscheidende Bedeutung, solange der Mensch noch Möglichkeiten, er selbst zu sein, zu besitzen glaubt. Die Formel ist ihm zumeist nur eine Hilfe in seinen Alltagsgeschäften, mit dem verbleibenden Rest Unwägbarkeit, der im Wahrscheinlichen noch steckt, fertig zu werden. Eigentlich müsste man sagen, dass dort, wo der Mensch keine Möglichkeit besitzt, er auch keine Entscheidung fällen kann. Aber keine Möglichkeit mehr zu besitzen, ist insofern auch eine Entscheidung, als sich hier gegen jede Schein3 Zu dieser Entscheidung wird in ähnlicher Weise in BA geleitet. Kierkegaard weist das Möglichkeitsverständnis ab, mit dem auch die Verzweifelten in KT den Ernst ihrer Situation verdecken. »Im allgemeinen versteht man deshalb unter derjenigen Möglichkeit, von der man sagt, sie sei so leicht, die Möglichkeit von Glück, Erfolg usw. Aber hierbei handelt es sich gar nicht um die Möglichkeit; es ist eine verlogene Erfindung, aufgetakelt von der menschlichen Verderbtheit, damit sie jedenfalls einen Grund hat, über das Leben und die Vorsehung zu klagen, und Gelegenheit, sich selbst wichtig zu werden« (SKS 4, 455 / BA, 172,21–28). Wo der Mensch die ›Schule der Möglichkeit‹ verlässt, weiß er Bescheid, »daß er absolut nichts vom Leben fordern kann und daß das Entsetzliche, das Verderben, die Vernichtung mit jedem Menschen Tür an Tür wohnt« (SKS 4, 455 / BA, 172,33f).

Das Wesen des Glaubens angesichts der Verzweiflung

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möglichkeit und für das wahre Selbstsein entschieden und Gott zum Entscheidenden gemacht wird, weil jede Möglichkeit nun an ihm hängt.4 Dann geht es darum, ob er [sc. der Mensch] glauben will, daß für Gott alles möglich ist, das heißt, ob er glauben will (153 / 36,12ff; Hervorhebung im Original).

Die Entscheidung des Menschen, der keine Möglichkeit besitzt, fällt darüber, ob er glauben will. Glauben ist keine letzte Möglichkeit, die ihm noch verbliebe, wenn ihm alle sonstigen Möglichkeiten zerronnen sind. Im Äußersten gibt es für den Menschen keine Möglichkeit. So steht es mit ihm in der Entscheidung – »menschlich gedacht«, wie Kierkegaard betont (154 / 36,31). Der Glaube ist dem Menschen unmöglich. Aber von Gott her gedacht ist er möglich, weil für Gott alles möglich ist. So kann der Mensch von Gott her alles an sich selbst möglich sein lassen, weil er selbst alle seine vermeintlichen Möglichkeiten im Äußersten hinter sich gelassen hat. Genauer gesagt lässt er sich selbst von Gott her möglich sein, und die scheinbaren Möglichkeiten des Selbstseins sind erloschen. Damit ist der Mensch ganz er selbst, weil er nur von seinem göttlichen Grund her er selbst sein kann. Im Glauben verharrt der Mensch im Äußersten, dort, wo er ganz er selbst ist. Wenn er glaubt, dass für Gott alles möglich ist, dann schiebt er Gott zu, was ihn selbst ausmacht, weil seine Selbstgestalt nur frei ist, wenn ihr alles möglich ist. Diese Freiheit gewinnt der Mensch für sich selbst, wenn er sich ganz von Gott abhängig macht, ganz von ihm her er selbst ist. Man müsste ansonsten fragen, was es dem Menschen, der keine Möglichkeit hat, denn helfen soll, dass für Gott alles möglich ist. Der Mensch bliebe völlig verzweifelt, und der Glaube, dass Gott in seinen unendlichen Möglichkeiten eben nicht verzweifelt sein kann, geriete zu einem Zynismus. Aber der Glaube setzt den möglichkeitslosen Menschen mit der Möglichkeitsfülle Gottes zusammen, er bewahrheitet, dass der Mensch von Gott gesetzt und nicht ein eigenständiges Wesen neben Gott ist. Der Glaube macht diese Setzung durchsichtig. Dem möglichkeitslosen Menschen soll als gesetzter Selbstgestalt alles möglich sein. Indem der glaubende Mensch nicht über sich selbst, sondern über Gott eine Aussage macht, trifft er sich selbst.5 Die Entscheidung im Äußersten ist eine Willensentscheidung, weil es darum 4 Vgl. zu dieser Beziehung zwischen dem Glauben und der Distanz von ›weltlichen‹ Möglichkeiten SKS 10, 95 / CR, 92: »Schneide dem Glauben alle Verbindung mit der Umwelt ab, hungre ihn aus: er wird nur um so uneinnehmbarer und sein Leben nur um so reicher.« Zum Glaubensbegriff bei Kierkegaard bietet Seils, Glaube, 393–399, eine gute Einführung. 5 Vgl. dazu Luthers Unterscheidung zwischen dem Forum Gottes und dem Forum des Menschen und den mit beiden verbundenen widersprechenden Urteilen über den Menschen. Diese kommen nur in Entsprechung, wenn der Mensch sich vor dem Forum Gottes versteht. Der Mensch ist extrinsece gerecht und intrinsece Sünder. Siehe zur Mühlen, nos extra nos, 140–146.

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Die Rettung aus der Verzweiflung

geht, ob jemand glauben will.6 Wenn es an des Menschen Willen liegt, ob er glaubt, scheint es, menschlich gedacht, doch noch eine Möglichkeit für ihn gegeben zu haben. Aber hier wird von dem Menschen ein Wollen gefordert, das seinen Willen zu Ende bringt. Denn wenn er willentlich alle Möglichkeiten Gott zuschreiben soll, ohne eine Möglichkeit für sich übrig zu behalten, was soll er dann noch wollen können? Nun soll der Mensch wollen, was seinen Willen augenblicklich beendet.7

c)

Die Dialektik des Glaubens

Wenn der Glaubende Gott gewinnen will, dann muss er ›durchsichtig‹ in seinem Schöpfungsgrund, in Gott selbst gründen. Die Möglichkeit, um die der Mensch in seinem Glauben kämpft (154 / 36,32f), ist keine ›neue Möglichkeit‹ (152 / 34,8), die sich ihm zeigt, sondern eine ewige, in der er ewig er selbst ist. Deshalb greift nicht nur der Glaubende zu Gott hindurch, sondern Gott greift zu dem untergehenden Menschen durch, und er allein schafft ihm die positive Möglichkeit des Glaubens, die nur daher genommen sein kann, dass für Gott alles möglich ist. Der Glaube ist die Durchsicht auf den ermöglichenden Gott. Das Schaffen des Glauben-Wollenden ist der Kampf gegen die Verzweiflungsmöglichkeiten, in dem er sich ›frei schafft‹ von den Verdunklungen seiner selbst. Er wird durchsichtig im Glauben. Die Dialektik beim Glauben besteht darin, dass die Möglichkeit nur zu schaffen ist, wenn jemand seinem Untergang, wo es keine Möglichkeit gibt, ins Auge sehen will (154 / 37,20ff). Und dass der Untergang das Sicherste von allem ist (154 / 37,7ff), sieht nur der, dem die rettende Möglichkeit 6 Die Spannung und Einheit von Willens- und Glaubensakt, die Kierkegaard beschreibt, besitzt eine gewisse Parallele bei Bonhoeffer. In seinem Buch »Nachfolge« findet sich ein ähnlicher Sachverhalt im Verhältnis von Glauben und Gehorsam. Bonhoeffers Grundsatz lautet: »Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt« (Nachfolge, 52). Der Glaube wird als Voraussetzung des Gehorsams und der Gehorsam als Voraussetzung des Glaubens begriffen. Bonhoeffer entfaltet diese Dialektik gegen die Vorstellung einer ›billigen Gnade‹: »Ich bleibe daher in meiner bürgerlich-weltlichen Existenz wie bisher, es bleibt alles beim alten, und ich darf sicher sein, daß mich die Gnade Gottes bedeckt. Die ganze Welt ist unter dieser Gnade ›christlich‹ geworden« (37). Damit hat er die Stoßrichtung aufgenommen, der auch Kierkegaard verpflichtet ist. Der Gehorsam gegenüber Jesus Christus soll bei Bonhoeffer den Menschen »in die freie Luft der Entscheidung« (59) bringen. Zum Einfluss Kierkegaards auf die »Nachfolge« vgl. Vogel, Christus als Vorbild und Versöhner, 297–303 (Exkurs »Spuren Kierkegaards in Bonhoeffers ›Nachfolge‹«). 7 Vgl. die Aussagen über den Willen in SKS 10, 73 / CR, 67: »Der Christ hat schlechthin keinen Eigenwillen; er übergibt sich auf Gnade und Ungnade. Aber Gottes Gnade gegenüber hat er dann abermals keinen Eigenwillen, er läßt sich an Gottes Gnade genügen«. Der Christ hat einen Willen, »den er fort und fort opfert in Gehorsam unter Gott« (SKS 10, 92 / CR, 89). Zum Verhältnis von Glaube und Willen siehe Schulz, To believe is to be, 179–183.

Das Wesen des Glaubens angesichts der Verzweiflung

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geschaffen ist, sonst würde er in seinem Untergang gar nichts mehr sehen, sondern nur umkommen. Beide Glieder des dialektischen Glaubensbegriffs hängen wechselseitig voneinander ab und beschreiben das Werden im Glauben.8 Kierkegaard veranschaulicht die Dialektik des Glaubens an dem grundlegenden Bild der Krankheit: Der Glaubende besitzt das ewig sichere Gegengift gegen die Verzweiflung: die Möglichkeit; denn für Gott ist in jedem Augenblick alles möglich. Das ist die Gesundheit des Glaubens, die Widersprüche löst. Der Widerspruch ist hier, daß, menschlich gedacht, der Untergang sicher ist, und daß es dann trotzdem eine Möglichkeit gibt (155 / 37,37–38,3).

Wenn die Gesundheit des Glaubens darin liegt, Widersprüche zu lösen, so könnte man meinen, die Krankheit der Verzweiflung stelle den Selbstwiderspruch dar, der im Glauben aufgelöst werde. Aber der an der Verzweiflung Erkrankte entzieht sich dem Widerspruch, der sein Selbstsein auszeichnet. Entweder hat er in der Notwendigkeit sich über sich selbst unwissend gemacht, oder er täuscht sich ständig seine verzweiflungslose Einheit in der Möglichkeit vor. Im letzteren Fall sieht er in der Verzweiflung nur etwas, das ihm widerfährt oder widerfahren kann, aber nicht etwas, das in ihm selbst liegt, also ihm den Untergang zum Sichersten macht. In der Verzweiflung steckt sein verzweifeltes Selbstsein, sein Selbstsein, das durch die Abkehr von Gott verloren gegangen ist und doch durch sein ewiges Wesen nicht untergehen kann. Das ist die »Qual des Widerspruches bei der Verzweiflung« (136 / 17,31f). Diesen Widerspruch löst der Verzweifelte auf, wenn er ihn gerade nicht zu lösen versucht, sondern gleichsam radikalisiert, indem ihm der Untergang das Sicherste ist – weil durch die verzweifelte Abkehr von Gott man selbst als Selbst verloren gegangen ist – und er das Wesen seiner selbst Gott ganz anheimstellt – in dem sein ewiges Wesen nicht untergehen kann. In dieser Weise sind der Widerspruch der Verzweiflung und der des Glaubens voneinander zu unterscheiden. Der Glaubende versucht den Widerspruch der Verzweiflung nicht dahingehend aufzulösen, dass durch eine Möglichkeit seiner selbst der Untergang unsicher gemacht würde oder dieser irgendwie selbst die Möglichkeit wäre. Der Glaube lebt in dem Widerspruch durch das »trotzdem« (siehe obiges Zitat 155 / 38,2) der Möglichkeit. Kierkegaard enthält sich der Darstellung eines echten Übergangs vom Widerspruch zu seiner Lösung, so wie er keinen Übergang von der Krankheit zur Gesundheit beschreibt. Das entspricht dem Wesen der Verzweiflungskrankheit, die an sich unheilbar ist und deshalb eine Krankheit zum Tode ist, ein Tod, bei dem man nie einmal, sondern ständig untergeht (134 / 14,32–35). Wem der 8 Vgl. SKS 10, 186 / CR, 186: »Sieht man den Glauben von seiner einen, der himmlischen Seite, so sieht man in ihm rein den Widerschein der Seligkeit; aber sieht man ihn von seiner andern, der bloß menschlichen Seite, so sieht man eitel Furcht und Zittern.«

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Die Rettung aus der Verzweiflung

Untergang sicher ist und trotzdem auf eine Möglichkeit hofft, der vollzieht darin nicht den Übergang von der Krankheit zur Gesundheit, sondern ist schon gesund. Wenn der verzweifelte Mensch durch und durch verzweifelt, geht er unter – und das ist der Untergang der Verzweiflung. Dass es trotzdem eine Möglichkeit gibt – darin ist der Widerspruch gesetzt und zugleich aufgelöst.9 Kierkegaard verdeutlicht diesen Gedanken am Gegensatz von Kälte und Wärme bei Zugluft. Er nennt ihn undialektisch (155 / 38,6), d. h. der Zugluft Spürende leidet am Widerspruch von Wärme und Kälte. Der gesunde Körper löst den Widerspruch in dem Sinne auf, dass er wohl die Kälte spürt, ihm selber aber warm ist. Er bemerkt keine Zugluft. Entsprechend wird die »Dialektik beim Glauben« (154 / 37,9) undialektisch aufgelöst. Der Glaubende sieht seinen Untergang und glaubt trotzdem, dass er nicht untergeht. Die vermeintliche Lösung des Widerspruchs in eine höhere Einheit, dass der Untergang die Möglichkeit und die Möglichkeit der Untergang wäre, kennzeichnet gerade die Hoffnung des Verzweifelten, der – wie jener in der Möglichkeit Verzweifelte (vgl. 152 / 34,3–12) – darin, dass er alles für möglich hält, sein verzweifeltes Selbstsein zunichte zu machen glaubt. Nicht dass der Mensch durch seinen Untergang sein verzweifeltes Selbstsein loszuwerden glaubt, sondern er trotz des sicheren Untergangs an die Möglichkeiten Gottes glaubt, lässt ihn in seinem verzweifelten Selbstsein absterben. Theunissen sieht in der Lösung des Widerspruchs der Verzweiflung durch den Glauben den entscheidenden Punkt, an dem Kierkegaard über Hegel hinausgeht: Dieses Vertrauen [sc. des Glaubenden] ist im wörtlichsten Sinne paradox, wider der Meinung, zu der man nach Lage der Dinge kommen muß. An diesem Punkt verwandelt sich demnach Dialektik in Paradoxie. Im Ausgang von der reinen Dialektik Hegels geht Kierkegaard zu der paradoxalen fort, die sich nur bei ihm findet. Von ihr kann man genauso gut sagen, daß sie eine Paradoxie sei, die alle Dialektik hinter sich läßt. Dessen ungeachtet hat sie ihren Ort exakt dort, wo in der spekulativen Logik die katastrophische Entwicklung der Reflexionsbestimmungen endet. Die Lösung des Widerspruchs durch den Glauben zitiert die Auflösung des Widerspruchs, die Hegel im Schlußabschnitt des Kapitels über die Reflexionsbestimmungen beschreibt. Diese Auflösung ist in gewisser Hinsicht selbst schon paradox, sofern sie nämlich keine Aufhebung ist, ohne das positive Moment einer Aufbewahrung. Das Positive resultiert aus ihr nicht durch die Erneuerung des Alten, das sich ja vollständig zugrunde gerichtet hat, sondern durch den Einbruch eines Neuen (Begriff Verzweiflung, 149, Hervorhebung im Original). Demgegenüber dürfte in Ringlebens Interpretation die an Hegel geschulte Dialektik der KT auch noch den Glauben einschließen. Seine Vorbereitung reicht bis an den Anfang der Verzweiflungsgenese zurück. Die Krankheit zum Tode trägt in ihrer Negativität schon den 9 Vgl. SKS 21, 101, NB7:54 / T 3, 78: »Glaube heißt eigentlich: die Möglichkeit festhalten.«

Glauben und Verstehen angesichts der Verzweiflung

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Keim der Gesundung. Deshalb lässt sich vom Ansatz Ringlebens her nicht von dem »Einbruch eines Neuen« reden, wie Theunissen in seiner Interpretation meint. Wer im Glauben sich zu erkennen gibt – Gott –, ist zugleich »die geheime Antriebsfeder dieses ganzen krisenhaften Prozesses« (Kommentar, 213) der Verzweiflung. Von der anfänglichen Verzweiflung über ihre höchste Steigerung bis hin zum Glauben herrscht eine durch Gottes Wirken gewährleistete Kontinuität. Von dem hier entfalteten Ansatz her gesehen ist in diesem Punkt Theunissen Recht zu geben. Die geheime Antriebsfeder der Verzweiflung ist allein der sündige Mensch, der sich gegen Gott und seine Offenbarung in Christus wendet.

2.

Glauben und Verstehen angesichts der Verzweiflung

a)

Glauben als Aufgabe des Verstandes

Die Glaubensformel muss den Menschen um seinen Verstand bringen: Das aber ist so ganz die Formel, um den Verstand zu verlieren; glauben heißt eben den Verstand verlieren, um Gott zu gewinnen (153f / 36,14ff).10

Der Glaube setzt dort an, wo dem Menschen in seinem Selbstsein alle Möglichkeiten genommen sind. Sein Selbstentwurf entgleitet ihm. Der Mensch kann sich selbst sich nicht mehr vorstellen, er versteht sich selbst nicht mehr. Sein Selbstbild, das er sich schuf, muss ihm dort zerbrechen, wo er zum Äußersten gebracht ist, seinen Untergang sieht und glaubt, dass Gott alles möglich ist. Der Mensch ist unfähig, mit seinem Verstand sich selbst zu erfassen. Mit ihm phantasiert er sich nur eine Selbstvorstellung zusammen, die er für seine eigene Selbstgestalt hält. Dieses phantastische Selbstbild des Verstandes geht im Glauben zugrunde. Solange der Mensch nicht zum Äußersten gebracht ist (vgl. 153 / 36,10f), fällt es ihm nicht schwer, in einem allgemeinen Sinne zu verstehen, dass für Gott alles möglich ist. Das Gottsein Gottes impliziert schon, dass ihm alles möglich ist – bei einem solchen Gedankengang verliert man nicht den Verstand. Aber wenn die Verzweiflung losbricht und der Mensch anfängt, in seinem Verstand sich um sich selbst zu drehen, dann zeigt sich im allgemeinen die Bedeutungslosigkeit eines solchen Gedankengangs. Der Mensch wird – verzweifelt, wie er ist – nicht an Gottes Möglichkeiten, sondern an sich selbst und seine Möglichkeiten denken. Der Verzweifelte versucht zu verstehen, wer er ist, um Halt in sich zu finden. Er will verzweifelt er selbst sein und reflektiert sich in seinen Möglichkeiten. Das 10 Auch Climacus–Kierkegaard kann schon sagen: »In meinem Gottesverhältnis soll ich ja gerade lernen, meinen endlichen Verstand aufzugeben, und damit das Distinguieren, das mir so natürlich ist, um in göttlichem Wahnsinn immer danken zu können« (SKS 7, 165 / AUN1, 169).

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Die Rettung aus der Verzweiflung

lässt sich sein Verstand nicht nehmen, sonst wäre es ja völlig zum Verzweifeln. Vielleicht reflektiert der Verzweifelte auch, dass für Gott alles möglich sein müsste, aber dann doch so, dass ihm Gott seine, d. h. des Menschen eigene Möglichkeiten ermöglicht, und so glaubt er noch nicht wirklich, dass für Gott alles möglich ist. Je stärker nun die Verzweiflung den Menschen ergreift und je stärker er an seinem Selbstbild, wie er es versteht, festhalten muss, desto weniger wird er glauben wollen, dass für Gott alles möglich sei. Sonst würde dieser ihn ja nicht so verzweifeln lassen. In seiner Verzweiflung muss der Mensch schließlich Anstoß an Gott nehmen, der ihm keine Möglichkeit lässt, obwohl für ihn doch alles möglich sein soll. Wie kann der Glaube den Menschen aus seiner Verzweiflung befreien? Menschlich gedacht, ist sein Untergang das Sicherste von allem – und verzweifelt kämpft die Verzweiflung seiner Seele darum, verzweifeln zu dürfen; wenn man so will: um Ruhe zum Verzweifeln, um das Ja der ganzen Persönlichkeit zum und beim Verzweifeln […] Also hiernach ist eine Rettung, menschlich gedacht, das Unmöglichste von allem; aber für Gott ist alles möglich! Das ist der Kampf des Glaubens, der, wenn man so will, wahnsinnig um die Möglichkeit kämpft. Denn die Möglichkeit ist das einzig Rettende (154 / 36,21–34, Hervorhebung im Original).

Der Kampf, verzweifeln zu dürfen, ist nichts anderes als der Kampf des Glaubens. Es ist der Kampf, sich zu den Möglichkeiten Gottes durchzukämpfen. Der Glaubende steht im Kampf, weil er stets neu glauben wollen muss. Der Kampf des Glaubens ist demnach auch der Kampf um den Glauben, der zu wollen ist. Im Willen zum Glauben werden alle Versuche, das Verzweifeln zu verhindern, niedergeschlagen und vermeintliche Rettungsmöglichkeiten zunichte gemacht. Im Willen zum Glauben wächst aber zugleich der Glaube, dass die Rettung da ist. Der Terminus ›glauben wollen‹ (154 / 37,7) verbindet geradezu Menschliches und Göttliches. Im Willen verzweifelt der Mensch wahrhaft, und im Glauben hofft er wahrhaft. Er will verzweifeln, um auf die wahren Möglichkeiten hoffen zu können. Er will den Untergang seiner Möglichkeiten, um Gottes Möglichkeiten an sich groß werden zu lassen. Sein Kampf muss jedem Anderen ›wahnsinnig‹ erscheinen, weil er nicht mehr den Verstand besitzt, in seiner Verzweiflung nach einer der vielen Möglichkeiten für sich selbst zu greifen, die ihm die Welt anbietet. Ein solch Verzweifelter ist ›wahnsinnig‹, weil er seine Möglichkeiten nicht mehr reflektieren will, als ob er gar nicht nach einem Ausweg suchte.11 Und das tut er – menschlich gedacht – in der Tat nicht mehr. 11 Vgl. SKS 4, 409 / BA, 117,12–18: »Dennoch wird unzweifelhaft der Aufmerksame im äußersten Erschrecken der Not, wenn es ist, als wäre alles verloren, weil der Weg, auf dem er vorandringen will, ungangbar ist und der lächelnde Weg des Talentes ihm durch ihn selbst abgeschnitten ist, eine Stimme sagen hören: Gut, mein Sohn! Nur weiter so; denn, wer alles verliert, gewinnt alles.«

Glauben und Verstehen angesichts der Verzweiflung

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Dass er dennoch um die Möglichkeit kämpft, ist im menschlichen Sinne nicht nachvollziehbar, weil die gesuchte Möglichkeit für die eigene Selbstgestalt nicht vom menschlichen Verständnis seiner selbst her zu fassen ist. Kierkegaard bringt ein Beispiel: Wenn jemand ohnmächtig wird, so ruft man nach Wasser, Eau de Cologne, Hoffmannstropfen; wenn aber jemand verzweifeln will, so heißt es: schaff Möglichkeit, schaff Möglichkeit, Möglichkeit ist das einzig Rettende; eine Möglichkeit, so atmet der Verzweifelnde wieder, er lebt wieder auf; denn ohne Möglichkeit bekommt ein Mensch gleichsam keine Luft (154 / 36,34–37,1).

Die Ohnmacht entspricht in gewisser Weise der Verzweiflung, weil man dort das Bewusstsein verliert und keine Macht mehr über sich selbst – in seelisch-leiblicher Hinsicht – hat, so wie man hier das Selbst-Bewusstsein verliert und ebenso keine Macht mehr über das hat, was man sein ›Selbst‹ nennt. Ohnmächtig werden will man im allgemeinen so wenig wie verzweifeln, aber hier will jemand durch und durch verzweifeln. Er will ganz hinein in das »ohnmächtige […] Nagen an einem selbst, das nicht vermag, was es selbst will« (134 / 15,10f). Aber wenn es dann heißt: »[S]chaff Möglichkeit, schaff Möglichkeit«, so bedeutet das im Allgemeinen, den Menschen nicht verzweifeln zu lassen und zu versuchen, ihn an der Verzweiflung zu hindern, damit er wieder aufatmen kann. Schafft sich der Verzweifelnde eine Möglichkeit, dann lebt er wieder so auf, wie bei einem Todkranken immer wieder das Leben aufflackert. Man lässt ihn nicht sterben, obwohl doch die Heilung gerade darin liegt, dass man stirbt (118 / 4,21–25). Kierkegaards Beispiel mit dem Hilferuf nach Hoffmannstropfen usw. wirkt an dieser Stelle, wo es in shakespearschem Ernst um die höchste Verzweiflung geht, komisch und macht auf das eigentlich Komische aufmerksam: Wo jemand verzweifeln will und man ihn sofort zur Möglichkeit aufruft, behandelt man seine Verzweiflung wie eine Ohnmacht, die so schnell wie möglich beseitigt werden muss. Und doch steckt im Ruf »Schaff Möglichkeit« die Rettung für den Verzweifelten. Er soll der Möglichkeit Raum geben, die allein im Glauben liegt. Dann lebt der Verzweifelte nicht wieder auf, wie es bei dem nur ohnmächtig Verzweifelten der Fall wäre, sondern er fängt an, wirklich zu leben. Der in der Verzweiflung Bleibende fällt in seine Phantasie zurück und denkt sich eine Möglichkeit seiner selbst aus. Dann hat er seinen Verstand wiedergefunden, und er wollte doch nicht verzweifeln. Aber wenn jemand durch und durch verzweifeln will und ihm die vielen phantastischen Möglichkeiten nur Hoffmannstropfen sind, die bei Verzweiflung nichts helfen, dann macht er seine Lage so ernst, dass nur noch Gott helfen kann. Zuletzt hilft in der Verzweiflung nur der Glaube an die Möglichkeiten Gottes. Kierkegaard formuliert es so, dass jemand nicht noch nach Möglichkeiten sucht, sondern es ihm nur darum geht, zu glauben – was ihm selbst keine Möglichkeit

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Die Rettung aus der Verzweiflung

ist, weil hierzu nur dies hilft: dass für Gott alles möglich ist. Wo jemand verzweifeln will, will er glauben, und dazu bedarf es der Hilfe Gottes. Zum Glauben, dass für Gott alles möglich ist, verhilft nur Gott selbst, dem alles möglich ist. Glauben wollen ist der Kampf darum, dass nur für Gott alles möglich ist. Wird hier der Glaube, ist der Kampf siegreich und der Glaubende hält alles möglich für Gott. In diesem Sinne wird gekämpft. Ob der solchermaßen Kämpfende untergehen wird, hängt einzig und allein davon ab, ob er eine Möglichkeit schaffen will, d. h. ob er glauben will. Und doch versteht er, daß, menschlich gedacht, sein Untergang das Sicherste von allem ist. Das ist die Dialektik beim Glauben (154 / 37,5–9).12

Hier wird im besonderen Sinne gekämpft. Dem nicht glaubenden, aber intensiv Verzweifelten muss Kierkegaards Satz eine Zumutung bedeuten. Auch er kämpft in seiner Verzweiflung und will nichts anderes als eine Möglichkeit schaffen. Aber Kierkegaard meint einen Kämpfenden, der kämpfen soll, obwohl er selbst nicht die Kraft hat, eine Möglichkeit zu schaffen. Die anderen greifen auf den Einfallsreichtum ihrer Phantasie zurück, um sich Möglichkeit zu schaffen. Eine solche Möglichkeit zur Möglichkeit hat der im Sinne des Glaubens Kämpfende nicht. Denn er sieht bei sich nur den Untergang, das Ende aller Möglichkeiten.13 Der nicht glaubende Verzweifelte kann eine solche Situation nur als die totale Verzweiflung deuten. Deshalb lässt er es gar nicht so weit kommen, dass ihm der Untergang das Sicherste von allem ist, sondern hält sich an seinen phantastischen Möglichkeiten fest. Er kann nicht sehen, dass ein im Sinne des Glaubens Kämpfender wahrlich eine Tat in völliger Verzweiflung begeht, nicht nur weil er wahrhaft verzweifelt, sondern auch wahrhaft hofft. Der im Sinne des Glaubens Kämpfende ist der Verantwortung gewahr geworden, der nach Kierkegaard alle Verzweiflung jeden Augenblick unterliegt: dass sein Selbst ein aus der Hand Gottes losgelassenes, von ihr gesetztes Verhältnis ist (132 / 12,21f). Er weiß, wovon er selbst einzig und allein abhängt. Aber von einem solchen Wissen lässt sich eigentlich nicht sprechen, weil der Glaubende allein seinen Untergang versteht. Den Glauben jenseits einer vorstellbaren rettenden Möglichkeit zu ergreifen, heißt dann konsequenterweise ›den Ver12 Vgl. SKS 4, 457 / BA, 175,6–14: »Wer aber in der Möglichkeit versank, dessen Blick schwindelte, dessen Auge wurde unklar, so daß er den Maßstab nicht erfaßte, den Hinz und Kunz dem Sinkenden als rettenden Strohhalm hinhalten, sein Ohr schloß sich, so daß er nicht hörte, in welchem Marktpreis die Menschen bei seinen Zeitgenossen standen; nicht hörte, daß er ebenso gut sei wie die meisten. Er sank absolut; dann aber tauchte er aus der Tiefe des Abgrundes wieder auf, leichter als all das Belastende und Erschreckende im Leben.« 13 Theunissen sagt treffend: »Das ›Alles ist möglich‹ des Glaubens unterscheidet sich […] vom ›Alles ist möglich‹ der entschränkenden Verzweiflung dadurch, daß es durch das ›Nichts ist möglich‹ der einschränkenden Verzweiflung hindurchgegangen ist« (Begriff Verzweiflung, 117f).

Glauben und Verstehen angesichts der Verzweiflung

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stand verlieren‹ (154 / 36,15). Dass dieser Verlust nicht zum ›Wahnsinn‹ führt, liegt an dem Ziel, das mit ihm verfolgt wird. Durch diesen Verlust soll Gott gewonnen werden. Kierkegaard beschreibt den Glauben nicht als eine neue Form von Erkenntnis, sondern eher im Sinne eines Tuns.14 Glauben ist eine Tat, die aus dem Willen zum Glauben entsteht. In seinem Kampf um die Möglichkeit arbeitet der Glaubende sich durch die Verzweiflung hindurch, während das Arbeiten des nicht gänzlich verzweifelten Menschen nur ein ›vermeintliches Arbeiten‹ ist (130 / 10,27). Der Glauben-wollende schafft eine Möglichkeit, die er gar nicht versteht.15 Anders könnte ein Mensch nie seinen Verstand verlieren, den er mit dem Verstehen einer alternativen Glaubensmöglichkeit doch noch festhalten würde. Ein solcher Mensch arbeitet daran, seinen Verstand zu verlieren, indem er jede Verstandesmöglichkeit des Selbstseins ausschlägt. Er vernichtet in jedem Augenblick die Möglichkeit der Verzweiflung, die mit dem Ergreifen einer solchen scheinbaren Möglichkeit des Selbstseins entstünde. Wer glauben will, schafft sich die Un-Möglichkeit, indem er – menschlich gedacht – an seinem Untergang arbeitet, der aber im Glauben nur der Untergang des verzweifelten Selbstseins ist.

14 Vgl. SKS 4, 439 / BA, 152,17–20: »Dasjenige, wovon ich rede, ist dagegen etwas ganz Einfaches und Einfältiges, daß nämlich die Wahrheit nur für den Einzelnen existiert, indem er selbst sie im Handeln hervorbringt.« Siehe auch Lincoln, Glauben und Hoffen. Zum schöpferischen Charakter des Glaubens vgl. Jüngel, der konstatiert, dass sich die Wahrheit des Glaubens selber dadurch verifiziert, »daß sie die Wirklichkeit des Glaubens hervorbringt« (»…du redest wie ein Buch…«, 88). 15 Deshalb besteht die Antwort des gläubigen Menschen auf die unendlichen Möglichkeiten Gottes geradezu in einem bewundernden »Das ist unmöglich« (siehe SKS 10, 118 / CR, 112). Hier wird jene ›Kindertrompete des menschlichen Verstandes‹ durch des ›Glaubens himmlische Posaune‹ ersetzt (SKS 10, 93 / CR, 90). Eine solche Haltung ist schwerlich als Irrationalismus zu bezeichnen. Irrationalismus läge dann vor, wenn in einer dem Rationalen zugänglichen Situation auf eine rational nachvollziehbare Entscheidung verzichtet würde. Zum Vorwurf des Irrationalismus siehe Disse, Phänomenologie der Freiheitserfahrung, 189–196. Vgl. auch Deuser, Inkommensurabilität des Kontingenten, 189: »›Besorgnis und Vertrauen und Freimut‹ [SKS 5,267,36f] ergeben sich weder aufgrund von menschlichen Tätigkeiten noch aufgrund von deduktiven (theoretischen) Demonstrationen, sondern haben ihr Eigenrecht, das allein im Gottesverhältnis präsent werden und zur Wirkung kommen kann. Dies ›weiß‹ jedes Kind in einem Glauben, der noch vor den Sperren des Verstandes lebt, das entdecken Erwachsene in einem Glauben, der den Sperren des Verstandes ihr Recht und ihre Kompetenz in dieser Sache bestreitet« (Hervorhebung im Original).

120 b)

Die Rettung aus der Verzweiflung

Die Verstandesleidenschaft im Glauben

Die Aufgabe des Verstandes im Glauben ist in doppelter Weise zu verstehen. Zum einen soll der Mensch seinen Verstand angesichts seiner verzweifelten Selbstgestalt aufgeben – durch ihn kann er sich selbst nicht von seiner Verzweiflung befreien –, zum anderen ist ihm im Glauben aber auch das Verstehen aufgegeben – mit seinem Verstand soll er sich in seine verzweifelte Selbstgestalt gänzlich hineinbegeben. Der Mensch bedarf der ›Verstandesleidenschaft‹ (155 / 37,30), die zum gänzlichen Verzweifeln notwendig ist. Im Begriff der Verstandes-Leidenschaft ist der Verstand in die Ganzheit des Menschen hineingenommen. Es entspricht dem Wesen der Verzweiflung, dass der Verzweifelte sich selbst loswerden will und deshalb sich auf das Gefühl oder den Verstand zu reduzieren versucht. In einer solchen Reduktion man selbst zu sein, kann nur mit Hilfe der Phantasie erfolgen. Die Phantasie erhebt den Menschen im Gefühl oder Verstand zu sich selbst, was seine Selbstgestalt phantastisch macht. In der Verstandesleidenschaft hingegen bezieht der Mensch sich als ganzer in die Verzweiflung ein, indem er nicht in phantastischer Weise aus sich herausgehen, sondern ganz in sich hineingehen will. Im Phantastischen will sich der Mensch verunendlichen, um so dem Leiden an der Verzweiflung zu entkommen. Eine phantastische Selbstgestalt kann nicht leiden, und doch muss sie jeden Augenblick von dem eigentlichen verzweifelten Selbstsein abstrahiert werden, dessen Leiden für den Verzweifelten nicht auszuhalten ist. Der im Verstand Leidenschaftliche aber will an sich leiden, ist der Leidvolle selbst, er will verzweifeln. Sein leidenschaftliches Verstehen bedeutet keine reflexive Wiedergabe seiner selbst, sondern das leidende Verstehen, sich selbst nicht zu verstehen.16 An dieser ›Reflexion des Nichts‹ (142 / 23,21) leidet der wirklich Verständige, weil er über sich selbst den Verstand verliert, der ihm doch nur eine phantastische Selbstgestalt geben konnte. In seiner Leidenschaft erleidet er den Untergang im Durchgriff durch die Verzweiflung. Eine solche Verstandesleidenschaft gewinnt der Mensch nicht aus sich selbst, indem er sich etwa vornähme, leidenschaftlich zu sein. Er könnte es nicht anders 16 Insofern kann Kierkegaard auch sagen: »Aber auf der andern Seite ist doch Verstand, Reflexion wohl auch eine Gottesgabe. Was soll man mit ihr tun, wo mit ihr bleiben, falls man sie nicht gebrauchen soll? Und wenn man sie nun gebraucht in Furcht und Zittern, nicht um selber Vorteil zu haben, sondern um dem Wahren zu dienen, wenn man sie dergestalt in Furcht und Zittern gebraucht und dann überdies glaubend, daß doch Gott unendlich den Ausschlag gibt, wenn man im Vertrauen auf ihn wagt, und sich unbedingt gehorsam dem unterwirft, wozu er es nun machen will: ist das dann nicht Gottesfurcht und heißt es nicht, Gott dergestalt zu dienen, wie ein Mensch, der nun einmal die Reflexion besitzt, das kann, auf eine etwas andere Art als der Unmittelbare, aber vielleicht innerlicher?« (SKS 21, 51f, NB6:69 / T 3, 53f).

Die göttliche Hilfe in der Verzweiflung

121

machen, als seinen Selbstentwurf zu intensivieren, den er in seiner Phantasie erzeugt hat. Ein solcher Mensch würde wohl schon eine Leidenschaft entwickeln, um die Verzweiflung unter aller Anstrengung loszuwerden und damit vor sich selbst in einen phantastischen Selbstentwurf zu fliehen. Der im rechten Sinn Leidenschaftliche will hingegen nichts anderes als diese verzweifelte Zerrissenheit ›ganz‹ sein.17 Er will ganz er selbst sein, ohne es aus sich selbst zu sein, weil ihm sein Untergang das Sicherste ist (154 / 37,8f). Nur so ist er in seinem ganzen Selbstsein zugleich in der Hilfe gegründet, dass für Gott alles möglich ist, und glaubt das gegen seinen Untergang.

3.

Die göttliche Hilfe in der Verzweiflung

a)

Gott als die umfassende Möglichkeit

Im Glauben ist man selbst durchsichtig auf seinen göttlichen Grund hin, von dem her alles möglich ist.18 In dieser Durchsichtigkeit sieht der Glaubende nicht sich selbst in Gott gegründet, er sieht – wie Kierkegaard ausdrücklich schreibt (154 / 37,15f) – seinen Untergang, d. h. er durchleidet seine gänzliche Verzweiflung. Der Glaube ist nicht als eine besondere Selbst- und Gottesschau gefasst, sondern ein Durchdrungensein von Gott in der eigenen Blindheit. Im Glauben verhält der Mensch sich durchsichtig auf seinen Grund hin, aber er sieht sich nicht auf ihn hin. Glauben ist eine Tat entgegen dem eigenen Sehen und Verstehen seiner selbst (vgl. 154 / 37,21: »[…] und dann doch an eine Möglichkeit glauben«). Der auf seine Verzweiflung vermeintlich aufmerksam gewordene NichtGlaubende hingegen widersetzt sich dem Durchblick seiner selbst dadurch, dass er gleichsam die Augen schließt, um die eigene Blindheit nicht zu sehen. Er verzweifelt vor seiner Verzweiflung, ohne zu einem wirklichen Verhalten zu kommen, weil er dazu zuerst sich selbst in den Blick bekommen müsste. Wenn aber der Glaubende sich selbst sieht, ist er bei sich selbst in seiner ganzen Verzweiflung, und weil er nun er selbst ist, kann er sich selbst entgegen dem eigenen sonstigen Sehen und Verstehen verhalten. 17 Vgl. SKS 22, 99, NB11:166 / T 3, 247, Hervorhebung im Original: »Es gibt nur einen einzigen Beweis für die Wahrheit des Christentums und zwar ganz richtig den der Leidenschaft, wenn die Angst der Sünde und das beschwerte Gewissen einen Menschen foltern, so daß er die schmale Linie passiert zwischen der Verzweiflung bis zum Wahnsinn – und dem Christentum. Dort liegt das Christentum.« 18 Vgl. SKS 10, 73 / CR, 66: »Aber der Christ weiß, daß Gottes bedürfen des Menschen Vollkommenheit ist.«

122

Die Rettung aus der Verzweiflung

Der Glaube an Gott vollzieht sich für Kierkegaard vor allem im Gebet: Soll man beten, so muß ein Gott dasein, ein Selbst – und Möglichkeit, oder ein Selbst und Möglichkeit im prägnanten Sinne, denn Gott ist das, daß alles möglich ist, oder daß alles möglich ist, ist Gott; und nur derjenige, dessen Wesen so erschüttert wurde, daß er Geist wurde, indem er verstand, daß alles möglich ist, nur der hat sich auf Gott eingelassen« (156 / 38,33–38).19

Wenn der Mensch glaubt, dass für Gott alles möglich ist,20 ist das gleichbedeutend damit, dass er an Gott glaubt. Gott bietet dem gänzlich Verzweifelten in seiner Not nicht eine seiner Möglichkeiten, sondern sich selbst als Hilfe an.21 Der durch und durch Verzweifelte soll nicht glauben, dass es für Gott noch eine Möglichkeit, sondern alle Möglichkeiten gibt. Die ganze Fülle der Gottheit kommt demjenigen, dem der Untergang das Sicherste ist, zur Hilfe. Deshalb bedeutete auch das Dasein Christi am Grab des Lazarus schon die Überwindung der tödlichen Krankheit, auch wenn er noch gar nicht den Toten auferweckt hat.22 Christus ist »die Auferstehung und das Leben« (123 / 5,27 – Joh 11,25). Für ihn ist alles möglich, wie er dann durch das Wunder der Auferweckung des Lazarus bestätigt. Man könnte den Eindruck bekommen, dass durch die Gleichsetzung von dem, dass alles möglich ist, mit Gott dieser zu einem Prinzip gemacht wird, dem man dann im Glauben anhängt. Aber ein Prinzip würde noch unter jene Möglichkeiten fallen, mit denen der Mensch seinen Untergang vermeiden will. Wem der Untergang das Sicherste ist (154 / 37,8f), klammert sich an keine Prinzipien mehr. Auch der Fatalist könnte in bestimmter Weise sagen, dass alles möglich ist – weil er noch nicht weiß, was geschehen wird –, aber wenn es eintritt, geschieht es mit Notwendigkeit, da es von Gott vorherbestimmt ist.23 Wie der Fatalist würde auch ein an das vermeintlich göttliche Prinzip des ›Alles ist möglich‹ Glaubender nicht beten können. Für ihn machte Gott nur das, was er will, und er 19 Das Gebet hat den Glauben an die Möglichkeiten Gottes nicht nur als Voraussetzung, sondern im Gebet wird auch dieser Glaube. Vgl. SKS 10, 142 / CR, 140: »Es ist nun des Anbetenden einziger Wunsch, schwächer und immer noch schwächer zu werden, denn um so mehr ist da Anbetung; es ist der Anbetung einziges Bedürfnis, daß Gott stärker und immer noch stärker werde.« Vgl. dazu Hermann, Rechtfertigung und Gebet, 73, der hervorhebt, wie im Gott Rechtgeben im Gebet bereits das ›Ein-anderer-Gewordensein‹ liegt. Bei Kierkegaard erscheint das Gebet als Fundament des menschlichen Gottesverhältnisses. Zu einer solchen Auffassung kritisch Herms, Was geschieht, wenn Christen beten?, 516ff. 20 Vgl. Mk 9,23. 21 Damit ist in einem gewissen dialektischen Sinne sogar eine ›indirekte‹ Gleichheit zwischen Betendem und Gott gegeben: »Anbetung ist das Maximum des Gottverhältnisses eines Menschen, und damit der Gleichheit mit Gott, da die Qualitäten absolut verschieden sind« (SKS 7, 375 / AUN2, 119, Hervorhebung im Original). 22 Zur Person des Lazarus in Kierkegaards Schriften siehe Roberts, Lazarus. 23 Vgl. hier Kapitel 5.4.

Die göttliche Hilfe in der Verzweiflung

123

könnte sich nur stumm dieser Notwendigkeit unterwerfen. Der Glaubende hingegen lässt Gott die völlige Freiheit sein, wenn er ihm nichts anderes als ›Dass alles möglich ist‹ ist,24 und legt sich selber fest, indem ihm der Untergang das Sicherste ist. Indem er sich selbst festlegt, nimmt er Gottes Freiheit auf indirekte Weise für sich selbst in Anspruch, weil Gottes Freiheit den sicheren Untergang aufheben muss. Der Glaubende sieht nicht, dass für ihn noch etwas möglich sein soll, sondern er sieht nur seinen Untergang. Indem er selbst seinen Untergang versteht, verhindert er, dass er nur an eine selbst gesuchte Möglichkeit, die er wohl Gott zuschreiben könnte, aber nicht an Gott selbst glaubt. Im Glauben hängt er ganz allein an den uneingeschränkten Möglichkeiten Gottes und damit an Gott selbst. Ein solcher Mensch glaubt nicht, dass Gott aufgrund seiner uneingeschränkten Möglichkeiten mit ihm willkürlich macht, was er will, sondern er glaubt ihn als seine Rettung, weil er in seinem ›Trotzdem‹ Gottes Möglichkeiten mit seiner Notwendigkeit konfrontiert. Gottes Möglichkeiten machen aus seiner notwendigen, gänzlich verzweifelten und gottlosen Selbstgestalt ein durch Gott mögliches und nicht verzweifeltes Selbstsein. So durchschreitet der Mensch die Verzweiflung durch seine von Gott ermöglichte Freiheit. Der Glaubende geht im Glauben nicht einfach in Gott ein, auch wenn er gänzlich von Gottes Möglichkeiten lebt. Dieser Sachverhalt ist gut an Kierkegaards Erklärung zum Gebet zu erkennen: Beten ist auch ein Atmen, und die Möglichkeit ist für das Selbst, was der Sauerstoff für die Atmung ist. Aber so wenig ein Mensch nur Sauerstoff oder nur Stickstoff atmen kann, so wenig kann die Möglichkeit allein oder die Notwendigkeit allein den Atemzug des Gebetes bedingen (155f / 38,28–33).25

Zum Atemzug des Gebetes bedarf der Mensch des ›Sauerstoffs‹ der Möglichkeit und des ›Stickstoffs‹ der Notwendigkeit. Davon lebt er als Mensch. Gott ist nicht durch Möglichkeit und Notwendigkeit präsent, die der Mensch im Gebet ›einatmet‹, sondern nur durch die Möglichkeit. Zum Atemzug des Gebetes gehört das nur menschliche Verstehen des eigenen Untergangs, der einen selbst bei Gott 24 Kierkegaards Gedanke, dass der Glaubende es ganz Gott anheimstellt, wie ihm geholfen werden soll, findet sich schon früh bei Luther : »Nun seyn etlich, die wollen gote das tzill, weyß, tzeit und maß legen, und gleich ym selbs vorschlahen wie sie yhn holffen habenn wollen, und wanß yhn nit ßo widderferet, vortzagen sie, adder ßo sie mügen, anderweyt hulffe suchen. Disse haren nit, sie warten gottis nit. Gott soll yr warten unnd alß bald bereyt seyn, und nit anders helffen, dan wie sie es abmalet haben. die aber gottis warten, die bitten gnad, aber sie stellen es frey tzu gottis gutem willen, wenn, wie, wo und durch was er yhn helffe. An der hulffe zweyfflen sie nit. Sie geben yr aber auch kein namen nit, Sie lassen sie gott teuffen unnd nennen, unnd solt es auch lange an maß vortzogen werden« (WA 1,208,33–209,4). 25 Siehe dazu auch SKS 21, 181, NB8:87 / T 3, 119.

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Die Rettung aus der Verzweiflung

hält. Der Mensch lebt nur von Sauerstoff – Möglichkeit –, aber der lässt sich nur mit Stickstoff – Notwendigkeit – verbunden einatmen. Ringleben meint, dass die ebenfalls in ihrer Umkehrung richtige Behauptung, »daß Gott dies ist, daß alles möglich ist«, auch im Hinblick auf den Menschen zutreffe. Nicht nur wo Gott da ist, ist Möglichkeit, sondern auch in der Möglichkeit ist Gott: »[W]o Möglichkeit sich eröffnet, wo alles im Licht eines ganz-anders-sein-Könnens erscheint, wo sich noch Raum auftut zum Weitergehen, da geschieht es im Vorgriff auf die absolute Möglichkeit, die Gott selber ist« (Kommentar, 158). Doch Kierkegaard hat m. E. einen solchen Zugang zu Gott schon dadurch unterbunden, dass er die für Gott gültige Umkehrung im Rahmen des Gebetes zu Gott entfaltet und damit den ausdrücklichsten Gottesbezug für den Menschen vorausgesetzt hat. Jene Möglichkeiten, in denen Gott nicht oder vermeintlicher Weise noch nicht in seiner absoluten Möglichkeit da ist, in denen »alles im Licht eines ganz-anders-sein-Könnens erscheint«, hat der höchst Verzweifelte in seiner Phantasie, in der sich ihm schließlich alles ständig in einem neuen Licht von Möglichkeiten erscheint. In diesen Möglichkeiten greift er so auf die absolute Möglichkeit Gottes vor – wenn man davon überhaupt reden kann –, dass er sich gegen sie trotzig abschottet.

b)

Die zweifache Art der göttlichen Hilfe

Wie könnte Gott dem Menschen, der seinen Untergang als sicher ansieht, in seiner Not helfen? Kierkegaard zeigt zwei Möglichkeiten der Rettung auf, die einige Fragen aufwerfen. Gott könnte einerseits dem Betreffenden das bevorstehende schreckliche Ereignis, das ihn in Verzweiflung versetzt hat, ersparen oder andererseits im schrecklichen Ereignis selbst durch ein Wunder seine Hilfe zeigen (154f / 37,22–25).26 Wenn Gott dem Menschen so hilft, dass er ihm das schreckliche Ereignis erspart, war dann sein Untergang doch nur eine Möglichkeit und nicht das Sicherste von allem? Hierzu ist zu bemerken, dass das schreckliche Ereignis an sich nicht dem Untergang als Teil des erlösenden Verzweiflungsgeschehens entspricht. Wenn der Verzweifelte in dem, was ihm zustößt, untergeht, dann bringt ihm nicht das Ereignis selbst, sondern seine Verzweiflung den Untergang. Wenn Gott jemandem das schreckliche Ereignis erspart, ist dieser schon durch seinen Untergang in der Verzweiflung hindurchgegangen. Er hat durch und durch an sich selbst verzweifelt. Die Alternative, ob er dies macht, noch bevor ihm das schreckliche Ereignis zustößt oder erst wenn es ihm zugestoßen ist, muss angesichts des verzweifelten Selbstseins, auf das er durch das Ereignis aufmerksam geworden ist, in ihrer Bedeutung zurücktreten. Er glaubt sich in seinem verzweifelten 26 Vgl. SKS 21, 161, NB8:37 / T 3, 110: »In jedem Augenblick hat Gott 100 000 Möglichkeiten, ohne daß eine von diesen Möglichkeiten ein Wunder ist. Aber die Willkür liegt darin, daß du abschließen willst, weil du keine Möglichkeit mehr siehst.«

Die strukturelle Auflösung der Verzweiflung

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Selbstsein nicht mehr abhängig von dem schrecklichen Ereignis, weil er nun selbst die Verantwortung für sich in seiner Verzweiflung übernommen hat. Das schreckliche Ereignis kann ihn nicht mehr zu Tode schrecken, weil er als Glaubender »das noch Entsetzlichere« (125 / 7,3f) zu fürchten lernte. Der Glaubende hat sich durch Gottes Hilfe gegenüber dem noch Verzweifelten gänzlich verändert, weil er, der Mensch, nun selbst wirklich da ist und nicht nur in seinem Schein. Diese Selbstwerdung wird wiederum durch Gottes konkrete Hilfe in der Not bestätigt.27 Der Mensch ist in seinem Selbstwerden nicht jenes schrecklichen Ereignisses auf solche Weise enthoben, dass es ihn nicht berühren könnte. Als Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit verstanden ist er von einem solchen Ereignis betroffen. Aber als ewiges Selbst kann er an ihm nicht untergehen.28

4.

Die strukturelle Auflösung der Verzweiflung

Kierkegaard betrachtet im ersten Abschnitt des Kapitels »Die Verzweiflung unter dem Gesichtspunkt der Bestimmung Endlichkeit – Unendlichkeit« (146 / 26f) die anfangs entwickelte anthropologische Struktur und den Gedanken der Selbstwerdung im Horizont des Verzweiflungsphänomens. Wie sich das verzweifelte Selbst in ein freies Selbst verwandelt, lässt sich an der Struktur des Selbstseins nachvollziehen. Wird der Mensch so wahrhaft er selbst, ist er der 27 Vgl. SKS 20, 416, NB5:111 / T 3, 25: »Der archimedische Punkt außerhalb der Welt ist eine Betkammer, wo ein wahrhaft Betender in aller Aufrichtigkeit betet – und er wird die Erde bewegen.« Aber ist diese Weltbewegung nur im geistigen Sinne gemeint? »Aber ist denn Christus nicht in die Welt gekommen, um das Leiden wegzunehmen, damit wir es gut haben sollen – nicht um neues Leiden zu bringen; heißt es nicht, sein ganzes Kommen in die Welt eitel zu machen, wenn man das annimmt? Keineswegs. Er ist in die Welt gekommen, um den Menschen derart umzubilden, daß all diese menschlichen Leiden (Dürftigkeit, Armut, Krankheit, Ehrverlust usw.) ein Kinderspiel werden, für nichts zu achten. Derart will Christus den Menschen umbilden, teils indem er ihn größere Furcht lehrt, Furcht vor der Sünde, teils durch die Seligkeit, die er verheißt, also durch die Hoffnung« (SKS 20, 426, NB5:143 / T 3, 29, Hervorhebungen im Original). Doch kann Kierkegaard ein Jahr nach dieser im Sommer 1848 niedergeschriebenen Tagebuchäußerung bekennen: »Erst jetzt kann ich sagen, Christus sei mir dergestalt erschienen, daß unter einem Erlöser einer verstanden wird, der einem aus seinem Elend heraushilft, nicht bloß einer, der es einem tragen hilft« (SKS 22, 131, NB11:211 / T 3, 258). 28 Siehe dazu auch Kierkegaards Rede über den Armen, der glaubt: »Der Unterschied ist der innerliche, welcher alles unendlich anders macht: ob nämlich der Leidende kummervoll dabei verharren will, darauf zu starren, wie arm er geworden ist, wie gering, wie verkannt, oder ob er, wenn ihm alles dies Irdische geraubt ist, von ihm fortblicken und nunmehr seine Lage von ihrer schönen, ja ihrer seligen Seite her betrachten will […] In äußerlichem Sinne ist da freilich keine Veränderung; der Leidende bleibt an seinem Ort, in seiner Lage, und gleichwohl ist da eine Veränderung, die Veränderung des Wunders, das Mirakel des Glaubens« (SKS 10, 126 / CR, 121).

126

Die Rettung aus der Verzweiflung

Verzweiflung entronnen. An keiner anderen Stelle der KT wird das Verhältnis von Selbstsein und Verzweiflung so genau dargelegt.

a)

»Das Selbst ist Freiheit«

Die verschiedenen Verzweiflungsgestalten können aus dem Selbstsein in seiner synthetischen Struktur abgeleitet werden: Die Gestalten der Verzweiflung müssen sich abstrakt ausfindig machen lassen, indem man die Reflexion auf die Momente richtet, aus denen das Selbst, als Synthese, besteht. Das Selbst ist aus Unendlichkeit und Endlichkeit gebildet. Diese Synthese aber ist ein Verhältnis, und zwar ein Verhältnis, das sich, wenngleich abgeleitet, zu sich selbst verhält, was Freiheit bedeutet. Das Selbst ist Freiheit (145 / 26,2–8).

Kierkegaards Vorgehensweise beruht auf einer Abstraktion, weil er die Selbststruktur von ihren einzelnen Gliedern her betrachtet, was dem Begriff des Selbst nicht entspricht. Man abstrahiert bei dieser Betrachtung des Selbst sogleich von ihm. Beim Selbstsein in actu sind die einzelnen Momente nie für sich zu betrachten, sie kommen als solche nicht vor, weil es sich bei ihm um die Bewegung eines Verhältnisses handelt, bei dem die Momente gleichsam in der Bewegung verflüssigt sind. Das Selbst wird hingegen hier als Synthese betrachtet, durch die die Struktur des verzweifelten Selbstseins aufgezeigt werden kann. Die beiden Momente, Endlichkeit und Unendlichkeit, bilden durch ihr Verhalten zueinander ein Verhältnis, und so, wie sie sich zueinander verhalten, verhalten sie sich zu ihrer negativen Einheit – das Verhältnis ist »das Dritte als negative Einheit« (129 / 9,18f). Damit ist noch keine Freiheit gegeben. Die Synthese müsste ein zu sich selbst verhaltendes Verhältnis sein – das Verhältnis ist »das positive Dritte, und das ist das Selbst« (129 / 9,23). Der Aussage, dass das Selbst Freiheit bedeutet, würde auch der Verzweifelte zustimmen. Er will er selbst sein in Freiheit und die Unfreiheit seines in Verzweiflung gefallenen Selbstseins loswerden. Doch damit verstrickt er sich noch tiefer in die Unfreiheit, weil jene Macht, die ihn gesetzt hat, ihn zwingt, das verzweifelte Selbst zu sein (136 / 17,19f). Gerade in seinem Kampf gegen die Unfreiheit verhindert der Verzweifelte seine Freiheit. Gottes Zwang erfolgt durch den Verzweifelten selbst, durch dessen Selbstsein ›kerkert‹ er ihn in die Verzweiflung ein (143f / 25,31–36). Der Verzweifelte ist selbst sein eigener Kerkermeister, weil er sich mit verzweifelter Anstrengung von dem dunklen Abgrund seines verzweifelten Selbst fernhalten oder es gar vernichten will, obwohl dieser Abgrund gerade die Öffnung zur Freiheit wäre. So wie er sich jeden Augenblick die Verzweiflung zuzieht, so verhält er sich jeden Augenblick unfrei, zieht sich ständig die Unfreiheit zu. Das Verhalten des Ver-

Die strukturelle Auflösung der Verzweiflung

127

zweifelten ist kein wirkliches Verhalten in dem Sinne, dass es von ihm selbst ausgeht, sondern er ist ja gezwungen zu sein, was er nicht sein will. Unfreiheit beherrscht ihn. Und doch verhält er sich gezwungen, wenn er sich von seinem verzweifelten Selbstsein zu trennen versucht und so sich selbst von sich selbst zwingen und quälen lässt. Die Unfreiheit ergibt sich aus der Freiheit, wie das Missverhältnis aus dem Verhältnis (vgl. 132 / 12,34ff). Indem der Verzweifelte sich ständig von seinem in Gott gegründeten Selbstsein lossagt, löst er sein Verhältnis zu sich ständig auf und ›befreit‹ sich von der Freiheit des Selbstseins im Selbstverhältnis.29

b)

Das mögliche Selbstsein in seiner synthetischen Struktur

Ein besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, von welcher Art das Selbst ist, über das gesprochen wird: Das Selbst ist die bewußte Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, die sich zu sich selbst verhält, deren Aufgabe es ist, sie selbst zu werden, was sich nur durch das Verhältnis zu Gott verwirklichen läßt (146 / 26,31–34).

Der Satz muss zuerst unverständlich wirken. Wie soll ein Selbst, das sich schon zu sich selbst verhält und in diesem Verhältnis gemäß der anfänglichen Bestimmungen zugleich im Gottesverhältnis durchsichtig ist, noch die Aufgabe haben, es selbst zu werden und sein Gottesverhältnis zu verwirklichen? Doch ist zu beachten, dass Kierkegaard hier den verzweifelten Menschen vor Augen hat, weil er sich – gemäß der Überschrift – mit der ›Verzweiflung unter dem Gesichtspunkt der Bestimmung Endlichkeit – Unendlichkeit‹ befassen will. Kierkegaard spricht auch nicht von dem Selbst, sondern von der bewussten Synthese, die sich zu sich selbst verhält. Sie ist auch noch nicht sie selbst, wenn sie noch die Aufgabe hat, sie selbst zu werden. Die bewusste Synthese, die sich zu sich selbst verhält, entspricht dem Verhältnis zwischen zweien, deren ›Selbst‹ nur eine negative Einheit ist, zu der sich Endlichkeit und Unendlichkeit verhalten. Sie verhalten sich im Verhältnis zum Verhältnis. Die bewusste Synthese ist ein Selbst der Möglichkeit nach, das den verzweifelten Menschen ausmacht. Seine Aufgabe besteht darin, er selbst zu werden (146 / 26,31–34) – nicht weil 29 In einer früheren Fassung der KT heißt es: »Durch Verzweifeln ist daher (denn dies ist die Zurückführung der Wirklichkeit auf Möglichkeit) der Mensch frei in der Gewalt einer fremden Macht, frei oder mit Freiheit unfrei unter ihr fronend, oder er ist frei-unfrei in seiner eigenen Gewalt. Wofern man die fremde Macht den Herrscher nennen will, so ist der Verzweifelte frei, selbstverschuldet ein Fronknecht dieses Herrschers. Und falls man sagen will, er sei unfrei in seiner eigenen Gewalt, so front er also bei sich selbst, ist sein eigener Knecht. Dies ist das Mißverhältnis« (KT, GW 24, 167).

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Die Rettung aus der Verzweiflung

er das schon irgendwie verborgen wäre, sondern weil er sich in seiner Verzweiflung so verloren hat, dass er auf ewig nicht das ist, was er ist. Ebenso ist das Verhältnis zu Gott so zerbrochen, dass es erst in der Selbstwerdung wieder verwirklicht wird. Der Verzweifelte besitzt in Wirklichkeit kein Verhältnis zu Gott, auf das er sich berufen könnte, auch wenn ihn Gott zwingt, das Selbst zu sein, das er nicht sein will (136 / 17,19f). Gott zwingt ihn nicht, das Selbstverhältnis, sondern das verzweifelte Missverhältnis zu sein, dem das Gottesverhältnis verdunkelt ist. Gott lässt den Verzweifelten nicht los, ohne dass jedoch der Verzweifelte damit im Verhältnis zu ihm stände. Das Verhältnis ist unendlich missgestaltet, das heißt: nirgendwo ›im Verhältnis‹. Aber wenn das verzweifelte synthetische Selbstsein in seiner Synthesisstruktur doch die Möglichkeit ist, ein wirkliches Selbst zu werden, liegt dann nicht die Wirklichkeit des Selbst in gewisser Weise, eben potentiell, in ihm, so dass sie nur entfaltet zu werden bräuchte? Aber hier ist Kierkegaards besondere Beziehung von Möglichkeit und Wirklichkeit hinsichtlich der Verzweiflung zu beachten, bei der die Wirklichkeit nicht die wirksame, sondern die vernichtete Möglichkeit ist (131 / 11,36–12,2). Als er selbst in seiner Möglichkeit kann der Mensch sich nur verwirklichen, indem er selbst ›stirbt‹.30 Solange dieses Selbstsein in der Möglichkeit bleibt, verhindert es die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit liegt gänzlich außerhalb der Möglichkeit, die sich nicht durch sich selbst verwirklichen kann, aber sie liegt auch in gewisser Weise in der Möglichkeit, weil sie nur an deren Stelle wirklich sein kann.

c)

Die Konkretion der Synthese

Was heißt es, dass die Synthese sie selbst werden soll (146 / 26,32f)? Man selbst werden aber heißt konkret werden. Konkret werden aber heißt weder endlich werden noch unendlich werden, denn das, was konkret werden soll, ist ja eine Synthese. Die Entwicklung muß also darin bestehen, in der Unendlichmachung des Selbst unendlich von sich selbst fortzukommen, und darin, in der Endlichmachung unendlich zu sich selbst zurückzukehren (146 / 26,34–27,1–6).

Die Konkretion besteht darin, dass die beiden Glieder der Synthese zu einer Einheit ›zusammenwachsen‹, die das Gegenteil der leeren negativen Einheit im Verhältnis zwischen zweien ist. Der Prozess der Konkretion ist in sich gegenläufig und vollzieht sich in einer

30 Siehe hier Kapitel 3.1.

Die strukturelle Auflösung der Verzweiflung

129

Weise, die der synthetischen Selbststruktur in ihrer verzweiflungsfördernden Gestalt scheinbar entspricht, aber in Wirklichkeit völlig zuwiderläuft. Ringleben interpretiert die Doppelbewegung der Konkretion im Hinblick auf den Durchgang durch die von Kierkegaard dargestellten Verzweiflungsformen (Kommentar, 143ff). Zuerst abstrahiere das Selbst von aller Endlichkeit und werde »die abstrakteste Möglichkeit des Selbst« (182 / 69,25), um dann weiter unendlich zu sich in die Verendlichung zurückzukehren. Diese Doppelbewegung fasse Kierkegaard als das Konkretwerden auf. Ringlebens Verbindung der Verzweiflungsgestalten mit dem Prozess des Selbstwerdens muss fragwürdig werden, wenn Kierkegaard die Verzweiflung dem Selbst, das nicht wird, zuordnet: »Wird dagegen das Selbst nicht es selbst, so ist es verzweifelt, ob es etwas davon weiß oder nicht« (146 / 27,6f). Für die Verzweiflungsgestalten kann kein ›Werden‹ behauptet werden. Nicht man selbst zu sein, bedeutet Verzweiflung. Das trifft auf das werdende Selbst, das es selbst ist, nicht zu. Denn nur »[s]oweit also das Selbst nicht es selbst wird, ist es nicht es selbst« (146 / 27,10f; Hervorhebung von JB). Die von Kierkegaard aufgezeigten Verzweiflungsgestalten können nicht in den Werdeprozess einbezogen werden, weil Verzweiflung per se bedeutet, nicht man selbst zu sein. Und wo das Selbst nicht es selbst ist, wird es nicht. Die Annahme Ringlebens, das Selbst käme »[i]n Abstraktion von aller endlichen Unmittelbarkeit […] allererst zu sich selbst als einem Selbst« (Kommentar, 144), ist im Sinne der ›Reflexion des Nichts‹ für den Glaubenden richtig, aber für den Verzweifelten muss man mit Kierkegaard sagen: »Das Selbst führt dann in abstrakter Unendlichmachung oder in abstrakter Isolierung eine phantastische Existenz, ständig seines Selbst ermangelnd, von dem es sich lediglich mehr und mehr entfernt« (148 / 29,23ff).

In der Verunendlichung des Selbst soll man von sich selbst unendlich fortkommen. Indem der Mensch durch und durch verzweifelt, lässt er das los, was er mit aller Anstrengung sein will: er selbst, und macht sich selbst unendlich in dem Sinne, dass er sich selbst in der Unendlichkeit nicht hat, aber gerade dadurch ›unendliches Selbst‹, die im unendlichen Anderen gegründete Selbststruktur ist. Der Mensch lässt sich los, hält sich nicht mehr unendlich fortdauernd fest. In der Verendlichung kehrt der Mensch so zu seiner Endlichkeit zurück, dass er gänzlich endliches Selbst ist. Die Verendlichung kann nur so erfolgen, dass der Mensch in unendlicher Weise zu sich zurückkehrt. Von der in der Unendlichkeit Gottes gegründeten Selbststruktur herkommend stellt er sich seiner radikalen Endlichkeit. Er gibt sich ganz seiner Endlichkeit hin. Der Mensch entzieht sein Selbstsein sich selber. Er will sich nicht wie in der Verzweiflung als endliches Wesen ganz unendlich machen und so von seiner Endlichkeit abstrahieren, sondern sich selbst ganz aufgeben, durch und durch verzweifeln, zu Ende verzweifeln.31

31 Vgl. SKS 10, 183 / CR, 183: »[D]ie Wahrheit lehrt, daß ein Mensch der Endlichkeit absterben

130

Die Rettung aus der Verzweiflung

In der erstrebten Verunendlichung des Selbst hofft der Mensch darauf, dass für Gott alles möglich ist. Er hofft im Anderen unendlich zu sein und das geht nur, wenn er sich selbst verendlicht, zu Ende bringt. Die Unendlichkeit wird nur in der Endlichkeit gewonnen. Damit muss zugleich die umgekehrte Bewegung der Verendlichung des Selbst im Gange sein. Mit dem Mut des Glaubens, gegründet als unendliches Selbst, kehrt der Mensch in seine Endlichkeit zurück, versteht seinen Untergang. Die Endlichkeit wird nur in der Unendlichkeit gewonnen. Analog ließe sich die Doppelbewegung auch an dem Begriffspaar Notwendigkeit und Möglichkeit entfalten. Der Mensch geht in seinem verzweifelten Selbstsein in der möglichkeitslosen Notwendigkeit unter und ist darin durchsichtig in der setzenden Macht Gottes, »denn Gott ist das, daß alles möglich ist« (156 / 38,35). Die Doppelbewegung gehört jedem Augenblick im Leben des Nicht-Verzweifelten an, weil er in jedem Augenblick die Möglichkeit der Verzweiflung zunichte macht (131 / 11,30ff). In jedem Augenblick kommen sowohl bei dem Verzweifelten als auch Nicht-Verzweifelten in unterschiedlicher Weise Endlichkeit / Unendlichkeit, Notwendigkeit / Möglichkeit und Zeitlichkeit / Ewigkeit zusammen. Bei dem Verzweifelten bedeuten Endlichkeit und Notwendigkeit keineswegs seinen Untergang oder Tod, sondern Endlichkeit ist eine gewisse Beschränktheit oder Wiederholung (149 / 30,34) und Notwendigkeit ein fatalistisches Dahinleben, während Unendlichkeit und Möglichkeit ins Phantastische abgleiten.

d)

Das Dasein der Selbstgestalt

Allen Verzweifelten ist im Unterschied zu den Nicht-Verzweifelten gemeinsam, dass ihr Selbst nicht da ist: Wird dagegen das Selbst nicht es selbst, so ist es verzweifelt, ob es etwas davon weiß oder nicht. Ein Selbst ist jedoch in jedem Augenblick, in dem es da ist, im Werden, denn das Selbst jat± d}malim ist nicht wirklich da, ist nur das, was ins Dasein treten soll. Soweit also das Selbst nicht es selbst wird, ist es nicht es selbst; nicht man selbst zu sein, aber ist eben Verzweiflung (146 / 27,6–12).

Man könnte zuerst meinen, dass das Werden doch eher dem Selbst jat± d}malim zuzuordnen sei, so dass es solange in seiner Möglichkeit werde, bis es da und das Werden beendet sei. Aber nicht das Selbst jat± d}malim, sondern das daseiende Selbst ist im Werden. soll (der Lust der Endlichkeit, ihren Beschäftigungen, ihren Tätigkeiten, ihrem Zeitvertreib), daß er durch diesen Tod hindurch zum Leben gehen soll.«

Die strukturelle Auflösung der Verzweiflung

131

Für Kierkegaard kann nur das werden, was schon da ist. Als werdendes Selbst steht es aber auch mit dem Selbst jat± d}malim in Beziehung, von dem her es wird. Die Verwirklichung des Selbst jat± d}malim geschieht in dessen Zunichtemachen, weil es das verzweifelte Selbst ist. Die Wirklichkeit macht stets die Möglichkeit zunichte und wird so stets wirklich. Das Selbst jat± d}malim soll nicht aus sich selbst heraus zum Dasein kommen, sondern in das werdende Dasein treten. Das ist die Forderung, die an es gestellt ist und die nur durch die Hoffnung auf den Tod sich erfüllt. ›Selbst jat± d}malim sein‹ heißt ›nicht man selbst sein‹, was wiederum Verzweiflung ist. Das Selbst des Verzweifelten ist nicht ins Dasein getreten, so dass wohl von ihm alles Mögliche da und ihm bewusst ist, aber es selbst nicht da ist. Hier zeigt sich das Entsetzliche für denjenigen, der in der Verzweiflung steht. Sein Selbstsein ist ihm nicht einfach verborgen, so dass er von sich aus darauf aufmerksam werden und es sich selbst erarbeiten könnte, vielmehr ist sein Selbstsein gar nicht da. Und so wird es auch im gesamten ersten Abschnitt der KT über die Gestalten der Verzweiflung nirgendwo in Erscheinung treten, so sehr der Verzweifelte sich auch abmüht. Denn wenn er verzweifelt ist, ist sein Selbstsein nicht wirklich da.32

32 Nordentofts Auslegung des ›noch nicht es selbst werdenden Selbst‹ als ›incompleted self‹ in Kierkegaard’s Psychology, 98, dürfte eine falsche Vorstellung suggerieren und statt eines wirklichen Selbst-Verlustes eher einen Teilverlust seiner selbst nahelegen.

2. Teil

Die Formen der Verzweiflung

Kierkegaard ordnet und analysiert die verschiedenen Verzweiflungsformen unter zwei Aspekten.1 Die eine Betrachtungsweise lässt sich als strukturtheoretische bezeichnen, weil sie die Verzweiflungsformen vom Gesichtspunkt der einzelnen Synthesisglieder, also Endlichkeit – Unendlichkeit usw., aus erläutert.2 Die andere Betrachtungsweise ist eine bewusstseinstheoretische, weil sie die Verzweiflungsformen nach ihrem Bewusstseinsgrad ordnet. »Kierkegaard prozessualisiert die Verzweiflung, indem er das Bewußtsein für eine Bewußtheit nimmt, die sich in dem aufgerollten Prozeß bis zum höchsten Grad steigert.«3 Diese Betrachtungsweise ist die wohl gewichtigere, weil sie die einzelnen Formen in nuce analysiert und mehr noch als die strukturtheoretische Betrachtung die Frage nach der Beziehung der Verzweiflungsformen untereinander – nach möglichen Übergängen – beantwortet. Die Bestimmungen von Endlichkeit und Unendlichkeit sind im Horizont des Verzweiflungsphänomens so von denen der Notwendigkeit und Möglichkeit zu unterscheiden, dass Endlichkeit und Unendlichkeit den ›Raum‹ oder das Medium bezeichnen, in denen der Mensch seine Selbstgestalt im Sinne der Notwendigkeit oder der Möglichkeit bestimmt. Das Medium der Unendlichkeit ist für den Verzweifelten das »Medium der Phantasie« (151 / 33,17), in dem er seine möglichen Gestalten bestimmt. Das Medium der Endlichkeit ist für den Verzweifelten das Äußerlich-Andere, in dem der Fatalist sich seiner Selbst-Vorstellung nach in der Notwendigkeit bewegt.

1 Ein von Kierkegaard abgeleitetes Schema, das die Verzweiflungstypen noch weiter konkretisiert (›Haustyrann‹, charismatischer Schwärmer) hat Lange, Ethik in evangelischer Perspektive, 393ff, entworfen. 2 Vgl. Theunissen, Begriff Verzweiflung, 35, der eine strukturtheoretische von einer stadientheoretischen Betrachtung unterscheidet. 3 Ebd.

5. Kapitel: Die Verzweiflungsformen unter dem Gesichtspunkt ihrer synthetischen Struktur

1.

Die Verzweiflung der Unendlichkeit

a)

Die Struktur der Verzweiflung der Unendlichkeit

Welche Struktur besitzt die Verzweiflung der Unendlichkeit? Also, jede menschliche Existenz, die vermeintlich unendlich geworden ist oder es auch nur sein möchte, ja jeder Augenblick, in dem eine menschliche Existenz unendlich geworden ist oder es auch nur sein möchte, ist Verzweiflung. Denn das Selbst ist die Synthese, in der das Endliche das Begrenzende, das Unendliche das Ausweitende ist (146 / 27,25–30).

Das von Kierkegaard genannte Unendliche des Menschen kann so wenig wie sein endliches Menschsein für sich ins Dasein treten. Wo nur schlechthin Begrenztes ist, in dem sich nichts ›ausgeweitet‹ hat, ist nichts da. Ebenso wo grenzenlos Ausweitendes ist, lässt sich nichts Daseiendes erkennen. Erst wo Begrenzendes und Ausweitendes zusammenkommen, ist das Selbst ins Dasein getreten. Es zeigt sich dabei nicht als etwas – also begrenztes – Daseiendes, sonst würde dem begrenzenden Endlichen das ausweitende Unendliche verloren gehen, aber es zeigt sich auch nicht als entgrenztes Dasein, dem das Begrenzende fehlt. Es zeigt sich als Geist, der der Mensch selbst ist. In den beiden abweichenden Formen eines begrenzten und darin nur scheinbar wirklichen Daseins wie eines ebenso unbegrenzten Daseins liegen gewisse Mischformen zwischen Endlichem und Unendlichem vor, wie sie die Verzweiflungstypen grundsätzlich auszeichnen. Weil der in der Unendlichkeit Verzweifelte die Endlichkeit nicht gänzlich abschütteln kann, wird er nicht unendlich, sondern phantastisch. Es ist die Abstraktion der Endlichkeit und nicht die den Menschen gründende Unendlichkeit, die mit dem Phantastischen gewonnen wird. Das Phantastische ist das Grenzenlose, dem keine Grenze in Gott gegeben ist.

138 b)

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

Die Phantasie und das Phantastische

Die Phantasie ist eine Fähigkeit oder ein Vermögen, das Gefühl, Erkenntnis und Wille phantastisch machen kann (146f / 27,36–28,1).1 Das Besondere an der Phantasie liegt darin, dass sie in den anderen genannten Vermögen wirken, aber sich nicht ohne sie zeigen kann. Kierkegaard denkt Gefühl, Erkenntnis und Wille als reflexiv angelegte Vermögen. Im Gefühl entsteht ein Gefühl meiner selbst, so wie ich in der Erkenntnis mich mir selbst vorstelle und im Willen ich mich mir selbst vorsetze, wie ich sein will. Der Mensch entgrenzt sich in gewisser Weise, weil er aus sich herausgeht, um sich ›sich selbst‹ wiederzugeben. Ein solches Reflexionsgeschehen kann nur auf der Phantasie beruhen, weil der Mensch sich nicht wirklich in der Reflexion verdoppelt. Die Phantasie ist insofern auch kein überschießendes Gefühl, als man überhaupt nur durch die Phantasie fühlen kann. Sie ist das Medium, in dem der Mensch sich spiegelt. Wenn die Phantasie sich in den anderen Vermögen zeigt, besitzt sie dann auch ein Maß oder eine Grenze in den anderen Vermögen, an der die gefühlte oder gedachte Selbstpräsenz oder -vorstellung in eine phantastische übergeht, wie sie die Verzweiflung der Unendlichkeit auszeichnet? Wenn die Phantasie »die unendlichmachende Reflexion« (147 / 28,7f) bedeutet, ist sie von Natur aus in sich grenzenlos, und die Möglichkeit einer Verzweiflung über sich selbst beginnt nicht erst ab einer gewissen Gefühls-, Erkenntnis- oder Willensgrenze. Will Kierkegaard damit sagen, dass jedes durch die eigene Phantasie erzeugte Selbstverständnis phantastisch ist? Dazu ist die Beziehung von Selbst, Reflexion und Phantasie näher zu betrachten: Das Selbst ist Reflexion, und die Phantasie ist Reflexion, ist die Wiedergabe des Selbst, die die Möglichkeit des Selbst ist. Die Phantasie ist die Möglichkeit jeglicher Reflexion; und die Intensität dieses Mediums ist die Möglichkeit der Intensität des Selbst (147 / 28,10–14).

Im Medium der Phantasie wird das Selbst wiedergegeben. Von diesem wiedergegebenen Selbst ist zu sagen, dass es Reflexion, das reflexive Selbst ist. Man könnte vermuten, dass der Mensch als Selbst, das sich reflexiv wiedergegeben hat, sich selbst verwirklicht hat. Denn er hätte ein wirkliches Selbst im Sinne des Selbst-Bewusstseins, während ein sich nicht bewusstes Selbst ein solches nicht wirklich wäre, weil es die im Begriff des Selbst notwendig liegende Selbsterfassung nicht realisiert hätte. Aber Kierkegaard nennt die Wiedergabe des Selbst nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit des Selbst. Damit lenkt er zurück zu dem Begriff des Selbst jat± d}malim, das nicht wirklich da ist (146 / 27,7ff). Durch die unendlich machende Reflexion wird nichts verwirklicht, 1 Zur Bedeutung der Phantasie in KT vgl. Ferreira, Imagination, 17–22.

Die Verzweiflung der Unendlichkeit

139

sondern nur phantastisch gemacht. Das Selbst lässt sich nicht ins Dasein hineinreflektieren, sondern die Reflexion holt es in die Möglichkeit. Der Mensch macht sich durch eine solche Reflexion schon etwas bewusst, aber nicht sein Selbstsein, das er selber ist, sondern ein reflektiertes Selbst, das er selber nicht ist und nur durch seine Phantasie erzeugt hat. Die Phantasie führt zu einem mehr oder weniger phantastischen Selbstverständnis des Menschen, das seinem wahren Selbst nicht entspricht.

c)

Der Schein des Phantastischen

Weil die Phantasie jegliche Reflexion ermöglicht, besteht das reflexiv Erfasste nur in der Phantasie. Damit ist nicht gesagt, dass der erfasste Gegenstand in Wirklichkeit phantastisch ist. Kierkegaards erkenntnistheoretische Skizze lässt sich insofern auf unsere alltägliche Erfahrung anwenden, als wir von dem wirklichen Gegenstand den Gegenstand in Gedanken, den wir uns mit unseren Phantasiekräften bewusst machen, unterscheiden können. Handelt es sich aber bei dem reflektierten ›Gegenstand‹ um uns selbst, besteht die Gefahr, dass wir das Selbst, das wir wirklich sind, von einem Selbst, das wir uns in Gedanken vorstellen, nicht mehr unterscheiden. Wir selbst glauben uns als das Selbst, als das wir uns reflektieren. Aber der Mensch ist als sich reflektierende Selbstgestalt nur ein Selbst jat± d}malim. Der Verzweifelte wird vermeintlich auf sich aufmerksam (130 / 10,17–28). Er reflektiert sich intensiver und meint, auf solche Weise an sich selbst zu arbeiten, obwohl er in Wahrheit nur mit seiner phantastischen Reflexion beschäftigt ist. Im Medium der Phantasie lässt der Mensch sein vermeintliches Selbst in der Reflexion auferstehen. Er intensiviert sein Selbst jat± d}malim, ohne dass er dadurch auch nur ein Stück Wirklichkeit von sich erfasst. Das Phantastische ist überhaupt das, was einen Menschen so sehr ins Unendliche hinausführt, daß es ihn nur von ihm selbst wegführt und ihn dadurch davon abhält, zu sich selbst zurückzukehren (147 / 28,15–18).

Der auf der Phantasie beruhenden Reflexion wohnt der Schein inne, als kehre der Mensch in ihr zu sich selbst zurück und fände zu sich selbst in seiner ureigensten Wirklichkeit. Der Mensch konfrontiert sich in der Phantasie aber nur mit der Möglichkeit seiner selbst. Er führt sich selbst in das Unendliche hinaus und meint, dort zu sich selbst zurückzukehren. Die Doppelbewegung des Selbst im Selbstverhältnis ist damit schon in ihrem Ansatz pervertiert. In der von der Verzweiflung befreienden ›Verunendlichung des Selbst‹ (146 / 27,3f) kommt das Selbst unendlich von sich fort und will sich im Unterschied zu dem in der Unendlichkeit Verzweifelten nicht selbst im Unendlichen finden. Und es will in

140

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

der Verendlichung unendlich zu sich selbst zurückkehren, während der Verzweifelte gerade fort von seiner Endlichkeit will. Die auf der Phantasie gegründete Reflexion hält den verzweifelten Menschen davon ab, zu sich selbst zurückzukehren. Kierkegaard deutet an, wie sich in der Verzweiflung das phantastisch gewordene Gefühl immer mehr intensiviert, bis schließlich das ganze Selbstsein des Menschen phantastisch geworden ist (148 / 29,18–24). In der Unendlichkeit des Gefühls scheint sich das Selbstsein des Verzweifelten geradezu mitauszudehnen, wenn er im Gefühl an der gesamten Menschheit zu partizipieren meint. Sein Selbstsein hat sich zur Menschheit aufgebläht, und an ihr hängend meint er an sich selbst zu hängen. Der Mensch hat sein Gefühl hoffnungslos überfrachtet. Das Gefühl kann nicht der Ort seines wahrhaften Selbstseins sein, aber je mehr ihn seine Verzweiflung einholt und ihm das in seiner Verzweiflung bewusst wird, desto mehr versucht er sich selbst im Gefühl zu finden. Dort, wo der Verzweifelte sein Selbst immer mehr verliert, sucht er es auch immer mehr. Und je mehr er es dort sucht, desto mehr verliert er es.2 Michael Bösch, Kierkegaard, 89, meint zur Phantasiebestimmung in KT, dass der Mensch »in dieser Fähigkeit seine eigene Offenheit und damit die Möglichkeit der Selbstverwirklichung zu entdecken« vermag. Das ist insofern richtig, als die Phantasie dazu helfen kann, den Menschen auf seinen wahren Zustand aufmerksam zu machen. Aber wo der Mensch in seiner Verzweiflung die Wahrheit über sich selbst entdeckt, da entdeckt er seine eigene gänzliche Verschlossenheit und Unmöglichkeit der Selbstverwirklichung. Anton Bösl hat das wahre Selbstwerden ›auf der Stelle‹ im Sinne der von Kierkegaard aufgezeigten Doppelbewegung (146 / 27,3–6) so gedeutet, dass es »zunächst ein Entwerfen von Möglichkeiten des Selbstseins und erst dann ein Rückbeziehen dieser Möglichkeiten auf die faktische Wirklichkeit« meint. »Die Realisation der Möglichkeiten des Selbst vollzieht sich immer an Ort und Stelle (paa Stedet), d. h. es wird dadurch es selbst, indem es in der Phantasie Flügel bekommt und sich hinaushebt über sich selbst in seiner Faktizität und Notwendigkeit, dort aber nicht verweilt, sondern je zu sich zurückkehrt. Die entscheidende Bewegung des Selbstwerdens liegt also nicht im Weggang, sondern in der Rückkehr zu sich selbst. Der Ort, wohin dieses Selbst zurückkehren soll, ist dabei sein eigenes faktisches Selbst. Geschieht diese zweite Bewegung der Doppelbewegung nicht oder nicht in angemessener Weise, dann befindet man sich für Anti-Climacus in der als sündig verstandenen Verzweiflung der Möglichkeit« (Unfreiheit und Selbstverfehlung, 85f). Ist es die Phantasie und der anschließende Rückgang auf die Faktizität, die den Menschen als Selbst werden lässt? Bösl könnte sich auf die Aussage beziehen, dass die Phantasie Reflexion, die Wiedergabe des Selbst bzw. die Möglichkeit des Selbst ist (147 / 28,10ff). Die Intensität dieses Mediums der Phantasie ist dann wiederum die Möglichkeit der Intensität des Selbst (147 / 28,12ff). Aber die Intensität der Phantasie dürfte im 2 Die Selbstsuche in gedanklicher Reflexion, Wille oder Gefühl muss den Menschen in seinem Menschsein verzerren, weil sie die gegenseitig sich begrenzende Funktion der drei und damit ihre komplementäre Einheit destruiert. Siehe Diem, Kierkegaard, 65.

Die Verzweiflung der Unendlichkeit

141

Phantastischen am größten sein, auf das Kierkegaard anschließend zu sprechen kommt (147 / 28,15ff) und aus dem schwerlich ein Weg zur Faktizität zurückführt. Zwar reicht für Kierkegaard manchmal der »Einfallsreichtum der menschlichen Phantasie aus, um eine Möglichkeit zu schaffen, aber schließlich, d. h.: wenn es darum geht, zu glauben, hilft nur dies: daß für Gott alles möglich ist« (154 / 37,1–4). Die Möglichkeit zur Selbstwerdung schaffen heißt glauben, heißt alle Möglichkeiten für sich selbst in seiner Phantasie fahren zu lassen. Alles »hängt einzig und allein davon ab, ob er [sc. der kämpfende Mensch] eine Möglichkeit schaffen will, d. h.: ob er glauben will« (154 / 37,6f). Das mindert freilich nicht die hohe Wertschätzung, die Kierkegaard der Phantasie beimisst (siehe dazu auch zu Recht Bösl, Unfreiheit und Selbstverfehlung, 81–85). Wie die Reflexion dient sie Kierkegaard dazu, den Menschen auf seine Verzweiflung aufmerksam zu machen. Deshalb ist jeder, »der Lehrer sein will, […] in der Lage, daß er mit Hilfe der Phantasie und intellektuell über eine weit höhere Auffassung der existentiellen Wahrheit verfügt als sein wirkliches Leben ausdrückt oder auszudrücken fähig ist« (SKS 24, 150, NB22:88 / T 4, 272). Der Lehrer gebraucht die Phantasie, »um die Menschen in die Wirklichkeit, ins Dasein hinein zu fangen, um sie weit genug hinaus, oder hinein, oder hinab ins Dasein zu bekommen« (SKS 25, 470, NB30:104 / T 5, 235). Die Phantasie ist für Kierkegaard ein unverzichtbares Mittel, den Menschen auf sein wahres Dasein, auf den Verlust seines Selbst, aufmerksam zu machen. Davon legt auch KT Zeugnis ab. Aber sie ist ihm nicht der Ort und auch nicht das erste Moment, wahrhaft man selbst zu werden. Wo der Mensch die Phantasie dazu machen will, wird er phantastisch.3

Eine Rückkehr zu sich selbst geschieht nur durch die ›Reflexion des Nichts‹ (142 / 23,21), die sich prägnant von der phantastischen Reflexion unterscheidet. In der Reflexion des Nichts gibt man sich selbst nicht in einer phantastischen Verdoppelung wieder, weil in ihr nichts wiedergegeben wird. Vielmehr kommt man in dieser Reflexion zum einen unendlich von sich selbst fort, weil man als reflektiertes Nichts sein Selbstsein der Unendlichkeit anheimstellt, und zum anderen kehrt man unendlich zu sich selbst zurück, weil man in seiner ganzen Verzweiflung der eigenen Nichtigkeit ansichtig wird.

d)

Die phantastische Existenz

Der Mensch kann »in abstrakter Unendlichmachung« (148 / 29,23) oder in »abstrakter Isolierung« (148 / 29,24) zu einem phantastischen Selbst werden. Als solches besitzt er eine nur phantastische Existenz. Was nur in der Phantasie vorhanden ist, kann keine wirkliche Existenz zugesprochen werden. Aber es kann auch nicht bloß als nicht-existent bezeichnet werden, weil es ja in gewisser Weise in der Phantasie existiert. Dieser Zustand entspricht dem verzweifelten Selbstsein, das in der Verzweiflung verharrt. Der verzweifelte Mensch ist so stark 3 Zur Bedeutung der Phantasie bei Kierkegaard vgl. auch Gouwens, Dialectic of Imagination; Pieper, Einbildungskraft und Phantasie.

142

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

in seiner Verzweiflung, dass er sich ein neues Selbst, eine neue Existenz zu verschaffen vermag. Aber doch ist es nur eine phantastische Existenz, deren Mangel eben deren Nicht-Existenz ist. Kierkegaard spricht von dem Selbst, das ständig seines Selbst ermangelt (148 / 29,24f). Der Mensch ist in seiner Selbstkonstruktion so erfolgreich, dass nichts von seinem Selbstsein in der ihm anhängenden Endlichkeit zurückzubleiben scheint und er selbst in der Unendlichkeit schwebt, aber im Mangel seines Selbstseins kommt ihm die Endlichkeit doch ständig nach und erinnert ihn an seine gespaltene Existenz, die aus dem Missverhältnis in seiner synthetischen Struktur, seines endlich-unendlichen Menschseins resultiert. Diesen Spalt spürt der Mensch in seinem verzweifelten Selbstsein, und so wird er sich noch intensiver in das Phantastische stürzen, um ganz er selbst zu sein. Kierkegaard gibt ein Beispiel aus dem religiösen Gebiet, wo ein Mensch durch die Verunendlichung im Gottesverhältnis sich auf so phantastische Weise hinreißen lässt, dass es zu einem ›Rausch‹ wird (148 / 29,29–37). Wie kann ein solches Gottesverhältnis zum bloßen Rausch werden? Ein phantastischer Religiöser kommt in seiner Verunendlichung nicht unendlich von sich fort, sondern er versucht im Gegenteil, in seiner Verunendlichung unendlich zu sich selbst zu kommen. Er ist in Gott, und dort will er unendlich er selbst sein. Er berauscht sich an der Göttlichkeit, und doch muss sie für ihn nicht zum Aushalten sein, weil er selbst nicht göttlich ist. Der Religiöse versucht, in Gott zu sich selbst zurückzukehren, und sieht nicht, dass er in Gott nur unendlich von sich fort sein kann, um wirklich in ihm zu sein. Er scheint dem wahren Gottesverhältnis nahe zu sein, wenn es ihm zumute ist, als wäre es nicht zum Aushalten, vor Gott zu sein. Er muss seine Endlichkeit spüren, die es ihn nicht aushalten lässt. Aber der Rausch ist stärker, weil in ihm der Religiöse für sich kein Ende findet, er schwebt in der Unendlichkeit. Dass es ihm nicht zum Aushalten zumute ist, beschreibt seine Verzweiflung. Wer verzweifelt ist, der meint, er könne es nicht mehr mit sich selbst aushalten. Aber in der Verzweiflung ist es ihm auch seine »ganze Lust« (136 / 17,24), dieses unendliche Selbst zu sein. In dem ständig erfahrenen Rausch der Unendlichkeit muss dem Menschen seine ganze Verzweiflung ausgelöscht scheinen und doch muss er den Rausch jeden Augenblick neu entfachen, weil er es anders nicht auszuhalten meint. Was würde ein phantastisch Religiöser zu seinem Gottesverhältnis sagen? [D]aß ein Spatz leben kann, ist begreiflich, er weiß nichts davon, daß er vor Gott da ist. Aber zu wissen, daß man vor Gott da ist, und dann nicht im selben Augenblick wahnsinnig zu werden oder zu nichts zu werden! (148 / 29,34–37).4 4 Vgl. dazu SKS 21, 104, NB7:58 / T 3, 81: »Hier liegt nämlich ein gefährlicher Punkt; der höchste Gipfel der wahren Religiosität kann ja um Haaresbreite auch das Aussehen einer Vermes-

Die Verzweiflung der Unendlichkeit

143

Kierkegaard hat zuvor darauf hingewiesen, dass der dichterische Wert von Selbstaussagen eines Verzweifelten sich daran misst, ob »sie im Kolorit des Ausdrucks den Reflex des dialektischen Gegensatzes enthalten« (146 / 27,24f). Kierkegaard wäre nicht Kierkegaard, wenn er in dem Zitat seine aufgestellte Forderung an den Dichter nicht einlösen würde. Im direkten Sinn sagt der Religiöse von sich, dass das Wissen um seine Unendlichkeit ihn in seiner Endlichkeit bedrängt und fast in den Wahnsinn treibt. Die Gottespräsenz macht ihm sein normales Leben geradezu unmöglich. Am liebsten würde er sein furchtbares Wissen abstreifen, denn wie soll er mit ihm leben können? Jeder Spatz hat es da besser. Im direkten Sinn findet sich keine Spur davon, dass hier jemand sich unendlich und phantastisch gemacht hat. Dieser Verzweifelte möchte sein Wissen der Unendlichkeit gemäß seinen Worten am liebsten loswerden. Aber in seiner Rede ist der Reflex des Gegenteils zu erkennen, der seine Verzweiflung als eine der Unendlichkeit ausweist. In Wahrheit berauscht er sich an seinem Wissen, vor Gott da zu sein, um nicht zu nichts werden zu müssen. Der Religiöse gibt vor, es sei ihm nicht zum Aushalten, vor Gott da zu sein, aber in Wahrheit will er es nicht aushalten, zu nichts zu werden. Vor dieser nichtigen Endlichkeit flieht er zu seinem Wissen der Unendlichkeit Gottes. Er kann seine wahre Verzweiflung in seinen Worten nicht unterdrücken. Er verzweifelt nicht an seiner Endlichkeit, weil sie von der Unendlichkeit Gottes bedroht ist, sondern er verzweifelt an seiner Endlichkeit, weil sie ihn immer wieder vor Gott einholt. Der Religiöse sagt in seinen Worten unwillkürlich die Wahrheit, wenn er glaubt, durch sein Wissen im selben Augenblick wahnsinnig oder zu nichts werden zu müssen. Denn sein Wissen ist ein ›wahnsinniges‹ Wissen, weil der Mensch sich selbst nicht durch sein Wissen unendlich machen kann. Er hätte das rechte Wissen von sich, wenn er in ihm unendlich von sich selbst fortkäme, wie es der Fall wäre, wenn er zu Nichts vor Gott würde. So verrät der Verzweifelte selbst die entscheidende Alternative, auch wenn er sie nicht als solche versteht. Für ihn ist wahnsinnig und zu nichts werden dasselbe, was sich nach seinem Verständnis durch sein Wissen nur einstellen müsste, aber nicht muss. Er meint, dieses Wissen aushalten zu können, ohne dabei wahnsinnig werden zu müssen. Dieser Glaube ist eigentlich sein Wahnsinn, mit dem er sein phantastisches, ›wahnsinniges‹ Wissen aufrechterhält, so wie jeder Verzweifelte überhaupt seine Verzweiflung durch verzweifelte Anstrengungen aufrechterhält. senheit gewinnen. Denn selbst das demütigste Bewußtsein dessen, daß man vor Gott weniger als ein Sperling, ein Nichts ist: ja, das ist gut, aber das Vermessene könnte doch darin liegen, in diesem Bewußtsein in jedem Augenblick an Gott denken zu wollen und sich dessen bewußt zu sein, daß man vor ihm da ist«. Siehe auch SKS 20, 330, NB4:89 / T 2, 214: »Daß ein Vogel leben kann, das begreife ich zwar, er weiß ja auch nichts davon, daß er für Gott da ist – und begreifen kann ich zwar, daß man es aushalten kann, für Gott da zu sein, wenn man das selber nicht weiß. Aber zu wissen, daß man für Gott da ist – und dann leben zu können!«

144 e)

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

Das akustische Motiv der Stille

Kierkegaard bemerkt zum Ende seiner Ausführungen zur Verzweiflungsform der Unendlichkeit, dass der in ihr, aber auch in jeder anderen Form der Verzweiflung implizierte Selbstverlust im Zeitlichen fast nicht zu bemerken ist, obwohl er doch die größte Gefahr ist: Kein Verlust kann so still vonstatten gehen; jeden anderen Verlust, einen Arm, ein Bein, 5 Reichsbanktaler, eine Ehefrau usw., bemerkt man doch wenigstens (148 / 30,10–13).5

In der Welt können dem Menschen nur weltliche Dinge verlorengehen, was er meistens bemerkt. Ein verlorengehendes Selbst, das ewig ist, scheint er nicht bemerken zu können. So naht die Gefahr in jedem Augenblick heran – und wird nicht bemerkt, weil diese größte Gefahr nicht irgendwoher auf einen zukommt, sondern von sich selbst zugezogen wird. Bei jedem anderen Verlust besitzt der Betreffende doch die Chance, ihn zu bemerken – und in der Ironie, mit der Kierkegaard offensichtliche Verluste in der Welt, von Arm und Ehefrau, als doch wenigstens bemerkbar herausstellt, teilt er dem Leser mit, dass einen Verlust des Selbst jeder aufmerksamer Mensch um so mehr bemerken müsste. Was dem Menschen in der Welt als nichts erscheint und erscheinen muss, sein Selbstsein, ist doch alles, was er selbst in Wirklichkeit ist. Was den Verlust in der Welt so unmerklich macht, ist seine Stille. Damit ist ihm paradoxerweise ein unüberhörbares Merkmal eigen, das sich bei keinem anderen Verlust finden lässt: »Kein Verlust kann so still vonstatten gehen«. Kierkegaard bringt ein ›akustisches‹ Motiv ein, das einen gewissen Kontrapunkt zu dem optischen Motiv der Durchsichtigkeit darstellt. Der Verlust des Selbstseins wird akustisch und nicht optisch, wie es auf die meisten weltlichen Verluste zutrifft, bemerkt. Aber lässt sich Stille hören? Nicht zu hören ist nicht dasselbe wie nichts zu hören, so dass diese Stille wirklich gehört werden kann, wenn man sich von dem äußeren Lärm der Welt abwendet und sein Ohr gleichsam nach innen richtet. Kierkegaard benennt mit dem Motiv der Stille einen wichtigen Aspekt seines Geistbegriffs. Denn das Geist-Dasein ist »im akustischen Sinne konstruiert« (226 / 118,26f). Wie im zweiten Abschnitt der KT ausgeführt ist, hört der Mensch als Geist Gottes Stimme. Aber in seiner Verzweiflung hat der Mensch mit seinem Selbstsein seine rechte Geistigkeit verloren, und wenn er auf sich selbst hört, muss es ihm ganz 5 Vgl. dazu SKS 10, 98 / CR, 95: »Etwas Geringfügiges dergestalt verlieren, daß man noch nicht einmal Lust hat, es aufzuheben, nun, das ist vielleicht in der Ordnung; aber sein eigenes Selbst verlieren (Gott verlieren) auf solche Art, daß man noch nicht einmal Lust hat, sich zu bücken, um es aufzuheben, oder auf solche Art, daß einem der Verlust ganz und gar entgeht: o, welch eine schreckliche Verlorenheit!«

Die Verzweiflung der Endlichkeit

145

still sein.6 Er kann nicht die Stimme Gottes hören, weil sie ihm nur selbst, als Selbst, hörbar ist. In dieser Stille aber, in der kein weltliches Geräusch den Verzweifelten von seiner Verzweiflung mehr ablenken kann, liegt zugleich die Rettung. Durch die Stille hindurch kann er als durch und durch Verzweifelnder die rettende Stimme Gottes vernehmen, die ihn aus seiner Verzweiflung befreit. Diese Stimme würde seine Dunkelheit lichten und ihn durchsichtig in Gott gründen. Wer in der Zeitlichkeit verharrt, um jene Stille nicht ertragen zu müssen, wird trotzdem einmal die Stille zu hören bekommen – »wenn alles um dich still ist, wie es in der Ewigkeit ist« (143 / 25,12f). In dieser Todesstille, »wenn der Lärm der Welt verstummt ist« (143 / 25,11), wird der verzweifelt Gebliebene weiter versuchen, der eigenen Stille zu entkommen, aber er wird es nur noch verzweifelter tun, weil kein weltlicher Lärm ihn mehr abzulenken vermag.

2.

Die Verzweiflung der Endlichkeit

a)

Die Endlichkeit als Inhaltslosigkeit

Der ›Verzweiflung der Unendlichkeit‹ steht die ›Verzweiflung der Endlichkeit‹, die im Fehlen der Unendlichkeit besteht (149ff / 30ff), gegenüber. Endlichkeit und Unendlichkeit sind in unterschiedlicher Weise in beiden Verzweiflungsformen zusammengebracht, wenn der Verzweifelte in einem Fall die Endlichkeit und im anderen Fall die Unendlichkeit von sich abschütteln will. Das Fehlen der Endlichkeit geht in die Verzweiflung der Unendlichkeit ein, wenn diese nur als Abstraktum, weil von der Endlichkeit abstrahiert, erreicht wird. Aber wie geht das Fehlen der Unendlichkeit in die Verzweiflung der Endlichkeit ein? Schon dass dem Gleichgültigen ein unendlicher Wert beigemessen wird (149 / 30,24f), deutet darauf hin, dass die Endlichkeit, in welcher der Mensch hier Gestalt annimmt, eine Weise unendlicher Endlichkeit ist. Diese Endlichkeit ist eine Wiederholung, die sich in keiner Weise von dem ›ewigen Einerlei‹ (149 / 30,35) des weltlich-alltäglichen Treibens unterscheidet, weil sie es nur wiederholt. Der Mensch in dieser Form der Endlichkeit verlängert das, was die Menge der Menschen schon die ganze Zeit hindurch machen. Die Wiederholung wiederholt nur andere Wiederholungen, es findet sich kein anfängliches Original. Die Wiederholung ist in sich leer, so dass Kierkegaard sie als bloße Zahl bezeichnen kann (149 / 30,33f). Hier läuft ein Abstraktum weiter, das nicht mehr bedeutet als eine Zahl. Der in der Unendlichkeit Verzweifelte hat seine Begrenztheit so durchbro6 Zur Bedeutung des Schweigens bei Kierkegaard vgl. Hofmann, ›Abraham ist verloren‹, 277ff.

146

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

chen, dass er sich in der Weite der Unendlichkeit selbst verliert. Der in der Endlichkeit Verzweifelte hat sich seine Begrenztheit erhalten, aber seine Einheit des Selbst zu einer bloßen ›Eins‹ ausgehöhlt. Er ist für sich keine individuelle Einheit, sondern seine Einheit geht völlig im Wiederholten, in dem ewigen Einerlei auf. Im ersten Fall hat der Verzweifelte mit seiner Reflexion sich erfüllt, aber seine Einheit verloren und sich phantastisch gemacht. Im zweiten Fall hat der Verzweifelte seine Einheit durch ›die anderen‹ gefunden, aber seinen ›Inhalt‹ verloren und sich zur formalen Eins entmenschlicht. Weil er in seinen Grenzen selbst leer ist, macht er sich »zum Vielbeschäftigten« (149 / 31,14f), macht sich klug und lernt dazu. Er ist »befaßt mit allen Zwecken der Zeitlichkeit« (150 / 32,28f). So glaubt er sich auszufüllen und vergrößert doch nur seine Leere. Denn nichts von dem, was er übernimmt, wird zu seinem Selbst, vielmehr wird sein Selbstsein ständig von ›den anderen‹ übernommen, ihm ›abgeschwindelt‹ (149 / 31,12). Der in der Endlichkeit Verzweifelte meint, das andere der anderen sich anzueignen – und veräußert sich nur. Ihm fehlt die Unendlichkeit, die seine Endlichkeit verinnerlichen würde und durch die er wüsste, wie er – »im göttlichen Sinne« (149 / 31,17) – heißt. So wie einer, der seinen Namen vergessen hat, sich nicht mehr als Individuum von anderen unterscheidend bezeichnen kann, so kann auch der in der Endlichkeit Verzweifelte sich nicht mehr von der Menge der Menschen, in die er aufgegangen ist, abheben. Zum einzelnen Individuum wird er nur vor Gott, der ihn als ihn selbst gesetzt hat.

b)

Der Verlust der Ursprünglichkeit

Um sich selbst wirklich zu finden, müsste der Verzweifelte in besonderer Weise wagen, an sich selbst zu glauben (149 / 31,17). Sich selbst kann er nicht unmittelbar wahrnehmen wie die Menschen um ihn herum. Deshalb müsste er sein Selbst glauben, was nur durch die ›Reflexion des Nichts‹ (142 / 23,21) ausgehalten werden kann.7 Der Verzweifelte würde die Sicherheit verlieren, die durch die Verbreitung seines Verhaltens unter den anderen gegeben ist. Er müsste sie nicht gegen eine geringere Sicherheit eintauschen, sondern gegen eine völlige Unsicherheit, wie sie einen gänzlich Verzweifelten kennzeichnet. Er müsste wagen, der zu sein, der er mit aller verzweifelten Anstrengung nicht sein will. Aber der in der Menge Gefangene findet es zu gewagt, er selbst zu sein (149 / 31,18). Er versucht, das Wagnis einzuschätzen, aber weil es ihm keinen Anhaltspunkt bietet, der für ihn nur in der Welt liegen könnte, muss es ihm viel zu groß erscheinen. In der Tat wird bei diesem Wagnis alles aufs Spiel gesetzt, alles, 7 Er bedürfte zuerst der ›Durchsicht‹ seiner selbst, die ihn alles wagen ließe. Siehe SKS 7, 389 / AUN2, 134.

Die Verzweiflung der Endlichkeit

147

was man schon an weltlichem Selbstsein erreicht hat, und es wird alles verloren – aber ein neues Selbstsein, das ursprüngliche Selbstsein des Menschen gewonnen. Verharrt der Mensch in seiner Verzweiflung, verfehlt und verdunkelt er seine ursprüngliche Bestimmung. »Jeder Mensch ist nämlich seinem Ursprung nach als ein Selbst angelegt, dazu bestimmt, er selbst zu werden« (149 / 31,1f). Der Mensch weicht bei seiner versuchten Selbstbesinnung in der Verzweiflung nicht bloß so vom Ursprung ab, dass er sich neu auf ihn ausrichten könnte, um sich selbst ›zu sich selbst‹ zu korrigieren. Er hat in seiner Verzweiflung seine Bestimmung verloren, die ihn dazu leiten könnte, er selbst zu werden. Gottes Hand hat die Synthese des Menschen »ursprünglich« (132 / 12,15) ins rechte Verhältnis gebracht, sie so aus seiner Hand gelassen, dass sie sich als Selbstverhältnis stets zu sich selbst verhält. Weil der Mensch in seiner Verzweiflung dieses Selbstverhältnis verloren hat und stets neu verliert, ist die Ursprünglichkeit des Selbstverhältnisses ihm zur Forderung geworden.8 Nur in dieser Forderung ist es ihm gegeben, dass er zum Selbstsein angelegt ist, aber nicht in seinem verzweifelten Dasein, das jeglicher Selbst-Wirklichkeit ermangelt. Der Verzweifelte ist nicht wirklich er selbst, weil er sein Selbst verloren hat. Sein freies Wesen hat in der Wirklichkeit seiner Verzweiflung Schaden erlitten. Aber indem Gott ihn in das verzweifelte Selbstsein zwingt (136 / 17,18ff), hält er ihn in seiner Anlage zum Selbstsein, in der Bestimmung, er selbst zu werden. Im Zwang Gottes ist die Wirklichkeit des Selbstseins noch ihrer Anlage nach und Gottes Setzung des Selbstseins noch als Bestimmung präsent.

c)

Zufälligkeit und Notwendigkeit

Kierkegaard bringt im Bild des Steines, der geschliffen, aber nicht abgeschliffen werden muss, den Mangel in der Verzweiflung der Endlichkeit plastisch zum Ausdruck: […] und sicher hat jedes Selbst als solches Kanten, daraus ergibt sich nur, daß es geschliffen, nicht daß es abgeschliffen werden muß […] (149 / 31,2–5).

So wie im Schleifen nur noch die Gestalt des Steines hervorgehoben wird, die er schon hat, so wird auch, wo die Verzweiflung überwunden ist, man selbst nur noch zu sich selbst. Die Kanten sind nicht abgeschliffen wie bei dem, der verzweifelt versucht, seine verzweifelte Selbstgestalt zu einer nicht-verzweifelten 8 Vgl. SKS 25, 305, NB29:13 / T 5, 183, Hervorhebung im Original: »Was Gott haben will, ist […] Ursprünglichkeit. Doch vor dieser Anstrengung schaudern die Menschen am allermeisten zurück; während sie sich wohlfühlen in allem, was Nachäffung heißt.«

148

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

umzuarbeiten, und damit sein ganzes Selbstsein unkenntlich macht. Um sich seine Selbstgestalt nicht ›abzuschleifen‹, müsste der Mensch für sein Selbst wagen, es selbst in dieser seiner wesentlicheren Zufälligkeit zu sein (die gerade nicht abgeschliffen werden soll), in der man denn doch vor sich selbst man selbst ist (149 / 31,7ff).

Ein solcher Mensch sieht sein Selbstsein nicht von den Gesetzen der Welt gehalten und muss zur Selbstwerdung nicht erst lernen, »wie es in der Welt zugeht« (149 / 31,15f). In der wahren Selbstgestalt gibt man die Sicherheit auf, die in der Notwendigkeit liegt, »in Handel und Wandel richtig mitzumachen« (150 / 31,24), und überlässt sich selbst gleichsam dem Zufall. Kierkegaard nennt die Zufälligkeit das Wesentliche des Menschen. Darin liegt ein gewisser Widerspruch, weil das Wesentliche des Menschen notwendigerweise zu ihm gehören muss, um Mensch zu sein. Die Zufälligkeit des menschlichen Selbstseins ist paradoxerweise eine notwendige Zufälligkeit. Dieses Paradox stellt sich dort ein, wo der endliche Mensch ganz in der Unendlichkeit gründet. Als endliches Selbstsein ist er für sich je neu zufällig, so dass ihm jeder Augenblick neu ›zufallen‹ muss. Der Mensch besitzt in der Endlichkeit keine Ursprünglichkeit, in der er bestehen könnte. Aber in seiner Selbstgestalt ist er ursprünglich ewig. Als ewiges Selbstsein ist der Mensch wesentlich und nicht zufällig. Aber diese Wesenhaftigkeit hat er nur, wenn er in der Endlichkeit ganz zufällig und eben ganz endlich wird. Durch die Zufälligkeit hindurch wird seine wesenhafte Unendlichkeit sichtbar; er wird durchsichtig auf seinen Grund in Gott, der ihn nicht zufällig gesetzt hat. Zum Abschluss der Interpretation der Verzweiflungsformen unter dem Gesichtspunkt der Endlichkeit / Unendlichkeit ist noch eine grundlegende Kritik Theunissens zu erwähnen. Ein Hauptargument Theunissens gegen den Verzweiflungscharakter der Verzweiflung unter dem Gesichtspunkt der Endlichkeit / Unendlichkeit liegt in ihrer fehlenden Totalität. »Die eigentümliche Unbeschwertheit, mit der die von Kierkegaard beobachteten Menschen an ihrer Aufgabe einer Synthetisierung von Endlichkeit und Unendlichkeit vorbeileben, fordert nämlich zu der Frage heraus, ob ihnen eine gefühlsmäßig realisierte Verzweiflung womöglich deshalb erspart bleibt, weil sie weit davon entfernt sind, einen Zweifel zu totalisieren« (Begriff Verzweiflung, 124f). Damit sperrt Kierkegaard für Theunissen »genau die Verzweiflung aus, für die er das Gebäude errichtet hat, die den Zweifel totalisierende« (125). Doch die Verzweiflung in KT ist schwerlich als eine den Zweifel totalisierende zu verstehen. Die Totalisierung des Irdischen zum Irdischen in toto beim Übergang zur Verzweiflung am Ewigen geschieht nicht aus dem Zweifel, sondern aus der Verzweiflung heraus. Eine Totalisierung des Zweifels bedeutet auch noch keineswegs eine Verzweiflung (vgl. Hennigfeld, Wesensbestimmung des Menschen, 282f). Wer alles bezweifelt, muss noch keineswegs verzweifelt sein oder es werden. Inwiefern ein intellektueller Akt sich auf die ganze Existenz ausbreiten kann, muss fraglich bleiben, da Kierkegaard den bloßen Denkakt in der Form der Möglichkeit ansetzt, in der von der

Die Verzweiflung der Möglichkeit

149

existentiellen Wirklichkeit abstrahiert wird. Für diese These Theunissens hat wieder Hegel Pate gestanden, der den Weg des Zweifels als einen Weg der Verzweiflung auffasst (Begriff Verzweiflung, 68). Der Zweifel hat in KT primär bei jenen Skeptikern seinen Ort, die in Bezug auf die Menschwerdung Gottes sagen: »[S]olche Dinge wollen mir nicht in den Kopf, ich lasse es offen« (199 / 87,1). Der Zweifel ist hier die äußere Seite eines noch schwachen Ärgernisnehmens. Er beschreibt das äußerliche Verhältnis zur Christusbotschaft, das in der Verzweiflung eingenommen wird, die ihrerseits das ›innere‹ Verhältnis zum Ewigen zum Thema hat.

3.

Die Verzweiflung der Möglichkeit

a)

Die in der Möglichkeit verzweifelte Selbstgestalt als Selbst jat± d}malim

Da die Selbststruktur nicht nur aus der Vorstellung von Unendlichkeit und Endlichkeit, sondern ebenfalls aus der von Möglichkeit und Notwendigkeit gebildet werden kann, lässt sich auch an diesen Begriffen das Wesen der Verzweiflung aufzeigen (151 / 33,3–6). Beide bestimmen in ähnlicher Weise den Selbstbegriff Kierkegaards. Das Selbstwerden ist auch aus der wesenhaften Einheit von Möglichkeit und Notwendigkeit zu begreifen. Da das Selbst frei es selbst werden soll (151 / 33,3), ist die Verwendung des Möglichkeitsbegriffs einleuchtend. Das Selbst ist der Selbstwerdung nicht notwendig von außen unterworfen, sondern in ihm ›selbst‹, oder besser : es selbst ist die Möglichkeit dazu. Wenn man selbst wird, vollzieht sich das Selbst in Freiheit, so dass es durch und durch möglich ist. Aber das Selbstsein bedeutet keine leere Möglichkeit, sondern in seiner Wirklichkeit ist es in ihr notwendig da. Wenn man selbst wird, ist das eigene Selbstsein notwendig da, sonst würde gar nichts werden. In der Einheit von Möglichkeit und Notwendigkeit ist man selbst wirklich da und ständig im Werden.9 Ist das Selbst im Sinne der Möglichkeit oder Notwendigkeit verzweifelt, ist es nur jat± d}malim da. Hier sind die beiden Möglichkeitsbegriffe der KT zu unterscheiden. Der Möglichkeit nach im Sinne des jat± d}malim ist der Mensch in seinem Selbstsein nicht im Sinne seiner wesentlichen Möglichkeit frei, weil sein Selbstsein nicht notwendig in der Möglichkeit da ist, sondern nur jat± d}malim. Im Verzweiflungsverhältnis ›leistet‹ die Notwendigkeit der Möglichkeit ›Widerstand‹ (151 / 33,14). Die sich auf Kosten der Notwendigkeit entfaltende Möglichkeit muss den Widerstand der ersteren hervorrufen. Die Struktur des Selbst jat± d}malim ist synthetisch, und je mehr der verzweifelte Mensch sich 9 Diese Einheit von Zustand und Übergang kennzeichnet wahre Freiheit ›im Guten‹. Vgl. SKS 4, 413 / BA, 121,28: »Das Gute ist die Freiheit‹, und SKS 4, 415 / BA, 123,25f: »[N]ur im Guten ist Einheit von Zustand und Übergang«.

150

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

von einem Glied der Synthese losreißen will, desto stärker wird dessen Widerstand und mit ihm die Verzweiflung. Im Widerstand der Notwendigkeit liegt der Zwang jener Macht, die einen selbst in der verzweifelten Selbst-Synthese hält, die man nicht sein will (vgl. 136 / 17,18ff). Würde der Mensch wahrhaft er selbst werden, träfe er nicht auf den Widerstand von Notwendigkeiten gegen das vermeintlich mögliche Selbstsein, sondern in der Notwendigkeit würde er sein wahres Selbstsein in seiner Möglichkeit finden. Kierkegaard kommt in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Begriff des Selbst jat± d}malim zurück: Indem das Selbst, als Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit, gesetzt ist, jat± d}malim ist, um nun zu werden, reflektiert es sich im Medium der Phantasie, und dabei zeigt sich die unendliche Möglichkeit (151 / 33,14–18).

Die gesetzte Synthese ist aufgrund der verlorenen Ursprünglichkeit nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in der Möglichkeit des Selbst gegeben. Die verlorene Ursprünglichkeit ist dem Menschen als Forderung an seine Selbstgestalt da, nun zu werden (vgl. 137 / 18,16–19). Man selbst soll zum Ursprung hin werden, auf ihn hin durchsichtig sein. Als Selbst jat± d}malim ist man selbst noch nicht der Werdend-Wirkliche. Der Mensch im Sinne eines Selbst jat± d}malim meint seine Möglichkeit durch das Medium der Phantasie zu erfahren und ist weit davon entfernt, unendlich von sich selbst fortzukommen, wie es der wahren Verunendlichung entspräche. Er hält sich vielmehr im Spiegel seiner Phantasie verzweifelt fest. Theunissen sieht in der Beschreibung des Selbst jat± d}malim die Präsenz des idealistischen Erbes: »Die Möglichkeit des Selbst, gleichbedeutend mit dem oben angesprochenen Selbst jat± d}malim, ist das in dem Scheinen, als welches Kierkegaard mit Hegel Reflexion auslegt, Aufscheinende oder das in der produktiven Einbildungskraft, die sein von Kant und Fichte inspirierter Phantasiebegriff meint, Eingebildete; aber sie ist dies so, daß sie mit der Reflexion oder Phantasie selbst in ursprünglicher Einheit bleibt […] Das Selbst als Möglichkeit ist das Sich-Einbilden, und es ist nichts anderes, weil erst darin ein Bild von sich entsteht« (Grund der Verzweiflung, 60, Hervorhebung im Original). In der Tat besteht in der Verzweiflung letztlich keine Differenz zwischen dem Selbst als Möglichkeit und dem Bild des Sich-Einbildens, weil das Individuum, dessen Selbst ein Selbst jat± d}malim ist, schließlich »ganz und gar selbst zu einem Luftgebilde« (152 / 34,11) wird. Das ist freilich die schärfste Kritik an diesem möglicherweise rezipierten idealistischen Gedanken der Einheit von Anschauungsakt und Anschauungsgegenstand. Theunissen will dieses Sich-Einbilden prozessual so verstanden wissen, dass es nicht nur dem Selbst als Möglichkeit, sondern dem wirklichen Selbst eigen ist: »Ebenso prozessual will das Selbst in der Bestimmtheit der Wirklichkeit verstanden sein. Wirklichkeit bedeutet da ein Sich-Verwirklichen, welches das im Sich-Einbilden geschaffene Bild realisiert« (Grund der Verzweiflung, 60). Diese Analogie dürfte schwerlich am Text Kierkegaards Anhaltspunkte finden. Zumal hebt Theunissen selbst an früherer Stelle den »ungewöhnlichen Bezug« (54) der Wirklichkeit zur Möglichkeit bei Kierkegaard hervor.

Die Verzweiflung der Möglichkeit

151

Das wirkliche Selbstsein ist keine erfüllte Möglichkeit, sondern die bloß zunichte gemachte Möglichkeit der Verzweiflung. Es handelt sich bei dem wirklichen Selbstsein nicht um die Realisierung eines sich in der Einbildung geschaffenen Bildes. Das sich imaginierende Selbst als Möglichkeit wird nicht so zur Wirklichkeit, dass jenes Bild verwirklicht wird, sondern dass das mögliche Selbst in seiner ganzen Phantastik zunichte wird – und damit die ganze Verzweiflung.

b)

Die in der Möglichkeit verzweifelte Selbstgestalt in ihrem Verhältnis zur Notwendigkeit

Um die Einheit seiner selbst zu erzielen, will der Mensch in der Verzweiflung der Möglichkeit ganz in der Möglichkeit sein. Im Medium der Phantasie sind die Möglichkeiten von Selbstgestalten unerschöpflich. Eine Möglichkeit überholt die andere, die Phantasie kennt keine Grenzen in ihren Möglichkeiten. Aber der Mensch findet in der Reflexion nicht zu sich selbst, weil er nur bei sich als Reflektiertem ist. Um bei sich selbst zu sein, müsste er in seiner Notwendigkeit da sein. Etwas Notwendiges müsste sich durch die Möglichkeit hindurchziehen, um in ihr bei sich zu sein. In der Reflexion, im Medium der Phantasie besitzt der Mensch in seinem möglichen Selbstsein nichts Notwendiges, weil er sich selbst in ihr entwirft, wie er will. Der Mensch in seinem verzweifelten Selbstsein ist sich einer Notwendigkeit nicht bewusst, weil er erst er selbst werden will, so dass er noch gar nicht er selbst ist, ihm noch keine Notwendigkeit seiner selbst da ist. Dieses Werden des verzweifelten Selbstseins ist nur ein ›Immer größer werden‹ der Möglichkeit. Das Selbstsein in der Verzweiflung hat keinen Blick für die wahre Notwendigkeit und so muss der Mensch als solcher in der Möglichkeit verzweifeln. Der Verzweifelte merkt das Notwendige nur am Widerstand, aber als solches kann es ihm nicht bewusst werden, weil es ihm der Widerstand einer sich widersetzenden Möglichkeit ist, der überwunden sein will. Doch trotz allem ›Zappeln‹ (151 / 33,27) lässt sich der Widerstand der Notwendigkeit nicht beseitigen. In seinem Selbstsein kommt der Mensch nicht von der ›Stelle‹ der Notwendigkeit, auch wenn er sich in seinem ›Zappeln‹ zu bewegen glaubt. Sein Selbstsein bleibt – bildlich gesprochen – nicht auf der Stelle in seiner Notwendigkeit, es kommt aber auch nicht von der Stelle (vgl. 151 / 33,26–32). So hängt die Selbstgestalt des Menschen gleichsam zwischen zwei Stellen, sie ist nicht notwendig auf der einen oder anderen Stelle da – das heißt, dass das Selbst nicht wirklich da ist. Von der einen Stelle, von ihrer Notwendigkeit, kommt die mögliche Selbstgestalt nicht los, ohne wirklich auf dieser Stelle zu sein, und auf der anderen Stelle ist sie wohl als abstrakte Möglichkeit, aber dies ist keine Stelle, sondern nur eine Phantasie, und so kommt sie auch an keine andere Stelle. Der

152

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

Mensch hat von der Stelle, auf der er selbst notwendig ist, abstrahiert, aber darüber hinaus kommt es nicht. Er bleibt in der Negation seiner selbst stecken und daran verzweifelt er. Aber in seiner Verzweiflung verzweifelt der Mensch nicht an der Negation, in die er hineingeraten ist, sondern darüber, dass er die Negation noch nicht weit genug getrieben hat. Die Stelle, auf der er notwendig ist, will er ja so weit negieren, dass sie gar nicht mehr da ist. Und je mehr er durch seine Scheinbewegung sich seine Stelle der Notwendigkeit verschleiert und verdunkelt, um so näher glaubt er in seinem Selbstsein am Ziel zu sein. Aber die wahre Bewegung führt nicht von der Stelle weg, sondern vollzieht sich auf der Stelle.10 Auf der Stelle kommt die Stelle selbst in Bewegung, weil das Selbst-Werden eine »Bewegung auf der Stelle« (151 / 33,30) ist. Der Mensch geht in die Notwendigkeit seines Daseins ganz hinein, das heißt er verzweifelt in ihm durch und durch und schreibt alle seine Möglichkeiten Gott zu. So kommt der Ort, wo er steht, seine Stelle, in Bewegung, sein Selbst wird durch die Möglichkeiten Gottes in die Dynamik des Werdens gebracht. Die Stelle, als das Notwendige verstanden, löst sich ständig zur Möglichkeit auf, sie ist die Möglichkeit, die sich ständig notwendig erfüllt. Der Mensch in seiner in der Möglichkeit verzweifelten Selbstgestalt will weg von der Notwendigkeit und sein Heil ganz in der Möglichkeit suchen. Würde der Verzweifelte bei einer Möglichkeit seiner Selbstgestalt länger verweilen, würde er den Widerstand des Notwendigen um so stärker spüren. Aber auf den Widerstand lässt sich der Verzweifelte nicht ein, sondern meint ihn zu überwinden, wenn er zur nächsten Möglichkeit greift.11 Schließlich ist es so, als wäre alles möglich, gerade das aber tritt ein, wenn der Abgrund das Selbst verschlungen hat (151 / 33,35f).

In seinem verzweifelten Selbstsein versteigt sich der Mensch in die Hybris, dass er für sich selbst alles möglich glaubt. Er maßt sich eine göttliche Vollmacht an, die er selbst in seiner notwendigen Selbstgestalt nicht hat; aber in seinem verzweifelten Selbstsein bemerkt er es nicht, weil er sich selbst ganz in die Möglichkeit gesetzt hat. In dieser Hybris hat ›der Abgrund‹ den Menschen selbst verschlungen, weil er gänzlich den Grund verloren hat, den er in Gott hat. Gerade im haltlosen Abgrund scheinen die Möglichkeiten dem Menschen unendlich zu sein, weil sie nicht vom Horizont eines Grundes umspannt sind. Der Mensch 10 Vgl. SKS 10, 125f / CR, 120: »Eben wenn ein Mensch dem Verzweifeln am allernächsten ist, so ist da eine Stelle, auf die man treten kann (und der Mensch ist in der Verzweiflung dem so nahe als möglich gebracht, daß er darauf trete), und alles wird unendlich anders.« 11 Dieses ständig sich steigernde Bedürfnis nach (Schein-)Möglichkeiten ist dem Charakter einer Sucht nicht unähnlich. Dass der Charakter der Sucht auch für den ntl. Sündenbegriff zutrifft, zeigt Berger, Sünde als Sucht, 121ff.

Die Verzweiflung der Möglichkeit

153

meint, in den Möglichkeiten sich selbst zum Grund zu haben, und bringt sich um seine Ursprünglichkeit, in der er durchsichtig in Gott gründet. Im Abgrund wird die Selbstgestalt des Menschen durch nichts Notwendiges gehalten, durch das er er selbst wäre, aber doch ist es er selbst, der im Abgrund versinkt, weil er am Verlust der Notwendigkeit als Selbst kenntlich ist. Um durch seine Verzweiflung hindurchzugehen, müsste der Mensch sich unter das Notwendige im eigenen Selbst beugen (152 / 34,24f). Indem der Mensch sich so beugt, macht er sich klein, aber nicht kleiner als er ist. Er bringt den Schein zum Verschwinden, er könnte größer sein als er ist. Beugt sich der Mensch unter das Notwendige im eigenen Selbstsein, unterstellt er sich keinem Zwang. Denn das Notwendige verliert in dem Augenblick, in dem der Mensch sich ihm unterstellt, seinen Zwangscharakter, den es durch seinen Widerstand gegenüber dem in der Möglichkeit Verzweifelten ausübt. Der Mensch schränkt sich selbst nicht ein, wenn er unter dem Notwendigen ganz er selbst ist. Wenn er durch und durch verzweifelt, wird seine »Grenze« (152 / 34,25) sichtbar, die darin besteht, dass er nicht durch sich selbst er selbst sein kann. Diese Grenze erkennt und anerkennt der Mensch in seinem Durchgang durch die Verzweiflung. Solange er durch sich selbst er selbst sein will, verleugnet der Verzweifelte seine Grenze, die ihm durch die Macht, die ihn gesetzt hat, in diesem Setzungsakt mitgesetzt ist. Die Grenze bedeutet positiv gewendet, dass der Mensch nur gesetzt sein kann. Kierkegaard bringt diese religiöse Dimension darin zum Ausdruck, dass jene Kraft zum Beugen unter das Notwendige auch die zum Gehorchen ist (152 / 34,24ff). Dieser Gehorsam bezieht sich nicht auf vermeintliche Lebensnotwendigkeiten, sondern auf die Macht, von der her das Selbst nur es selbst sein kann.

c)

Der Spiegel der Selbstreflexion

Es ist der Trug der Reflexion, dass der Mensch zu sich selbst zu kommen glaubt, aber in Wahrheit von sich fortgeht. In der Reflexion wird man selbst mit anderen Selbstgestalten vergleichbar, weil das Selbst nur als Abstraktum reflektiert werden kann. Es partizipiert an dem »Schicksal des einen oder anderen Abstraktums« (147 / 28,23f) und verliert seine Wahrheit, ein Einzelner zu sein. Der Mensch reflektiert sich als ein Mensch unter anderen Menschen und meint, erst er selbst werden zu müssen. Der in der Verzweiflung der Möglichkeit Stehende hat seine Suche nach Individualität auf die Spitze getrieben, indem er sich lauter mögliche Individualitäten seiner selbst vorstellen kann, um so der allgemeinen Trivialität zu entkommen, die sich mit den Notwendigkeiten des Lebens zufriedengibt. Im Phantastischen lassen sich Möglichkeiten des eigenen Selbstseins entdecken, die der Allgemeinheit völlig

154

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

abgehen. Aber so individuell die phantastischen Möglichkeiten einem erscheinen, sie lassen sich doch nicht zur eigenen Individualität, zum eigenen Selbst, machen (vgl. 152 / 34,7–12). Kierkegaard vergleicht die Reflexion, in welcher der Mensch sich selbst verliert, mit einem Spiegel: Schon wenn man sich selbst im Spiegel sehen will, ist es notwendig, sich selbst zu kennen, denn tut man das nicht, so sieht man nicht sich selbst, sondern nur einen Menschen. Der Spiegel der Möglichkeit aber ist kein gewöhnlicher Spiegel, er ist mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. Denn von diesem Spiegel gilt in höchstem Maße, daß er unwahr ist (152 / 34,32–38, Hervorhebungen im Original).12

Im Spiegel lernt der Mensch sich nicht zuerst kennen, indem er sich sieht, sondern er muss sich schon kennen, um sich erkennen zu können. Der Spiegel spiegelt die eigene Selbstgestalt vor, und doch weiß der Mensch, dass er selber nicht das Spiegelbild ist, das ihn nur in seiner äußeren Gestalt wiedergibt. Deshalb bedarf es bei einem normalen Spiegel keiner besonderen Vorsicht, wie sie hingegen bei dem Spiegel der Möglichkeit vonnöten ist. Dieser Spiegel der Möglichkeit entsteht durch die Reflexion, und hier wird der Mensch nur schwer auf die Entäußerung seiner selbst im wiedergegebenen Selbstbild aufmerksam. Während man bei einem normalen Spiegel seinen Blick ohne weiteres auf sein wirklich Äußeres hinwenden kann, ist für den Reflektierenden sein wahres Selbstsein viel schwieriger in den Blick zu bekommen. Er kann darüber nur in der gründenden Durchsichtigkeit in Gott Gewissheit erlangen, in der das Spiegelbild gänzlich zu Nichts werden muss. Die gründende Durchsichtigkeit ist das eigentliche Gegenbild zur Spiegelmetaphorik. Denn im Spiegel der Reflexion steht der Mensch in der Gefahr, für sich in Anspruch zu nehmen, was er nur in Gott hat. Er glaubt, sich in diesem Spiegel durchschauen zu können und so seiner selbst ansichtig zu werden. Und er lernt durch diesen Spiegel Möglichkeiten seiner selbst kennen, die er von sich selbst nie geahnt hätte. So entsteht in der Reflexion ein Selbstbild, das deshalb »in höchstem Maße« (152 / 34,37f) unwahr ist, weil es der Wahrheit so nahe zu kommen scheint. Dass die gespiegelte Selbstgestalt eine Erscheinung ist, die für sich selbst nur in einem Schein gründet, ist der Einsicht des sich Spiegelnden, wenn er nicht sich selbst kennt,13 verborgen. 12 In unserer Zeit hat Richard Rorty anhand der Spiegelmetapher seine grundlegende Kritik an den neuzeitlichen Erkenntnistheorien formuliert. »Das Bild, das die traditionelle Philosophie gefangenhält, ist das Bild vom Bewußtsein als einem großen Spiegel, der verschiedene Darstellungen enthält – einige davon akkurat, andere nicht – und mittels reiner nichtempirischer Methoden erforscht werden kann« (Spiegel der Natur, 22). 13 Trotz ihrer Gefahr und Begrenzung schätzt Kierkegaard die Bedeutung der gedanklichen Reflexion für das Christentum keineswegs gering ein. Vgl. dazu SKS 21, 68, NB6:93 / T 3, 62: »Man hat stets gemeint, die Reflexion müssen das Christentum zerstören und sei dessen

Die Verzweiflung der Möglichkeit

d)

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Die beiden Grundarten der Verzweiflung der Möglichkeit

Kierkegaard benennt zwei Grundarten, sich in der Verzweiflung der Möglichkeit zu verirren: Die eine Form ist die wünschende, trachtende, die andere die schwermütig-phantastische (die Hoffnung – die Furcht oder die Angst) (153 / 35,10ff).

In der wünschenden Form läuft der Verzweifelte einer Möglichkeit nach, ohne dass sie sich ihm erfüllt. Dass er immer weiter und weiter seine Möglichkeit verfolgen muss, könnte ihn zur Einsicht bringen, dass sie ihm unerfüllbar ist – wenn er nicht in seiner Verfolgung immer weiter von seinem Selbstsein abkommen würde, durch das allein jene Selbsteinsicht erfolgen könnte. In dem von Kierkegaard beigegebenen Märchen wird von einem verirrten Ritter erzählt, der nicht mehr den Weg in der Einöde zu finden vermag, auf dem er zu den Seinen zurückgehen könnte (153 / 35,12–19). Kierkegaard nennt diese wünschende Form der Verirrung in der Möglichkeit auch Hoffnung. Es ist die Hoffnung auf etwas, das man nicht ist. Die Hoffnung zieht den Verzweifelten von sich selbst fort. Er lebt wohl in dieser Hoffnung, aber hat sich selbst in ihr verflüchtigt. Eigentlich lebt er auch nicht wirklich in dieser Hoffnung, weil er erst hofft, er selbst zu werden und sein wahres Leben zu finden. Er lebt nicht wirklich, aber ist auch nicht hoffnungslos gestorben, weil er sich an den Wunsch nach neuem Leben klammert. Sein Zustand gleicht jenem des Todkranken (133 / 14,21ff), der sich mit dem Tod quält, aber nicht sterben kann. Aber hätte der Mensch nicht auch die Möglichkeit, vor der Möglichkeit, die sich ihm bietet, zurückzuschrecken, ihr nicht nachzulaufen, sondern sich vor ihr zurückzuziehen? Diese zweite von Kierkegaard genannte Form ist wohl der vorigen entgegengesetzt, aber auch in ihr verirrt sich der Mensch in der Verzweiflung der Möglichkeit. Denn im Rückzug von jener Möglichkeit wird sie in der Angst oder Furcht, die man vor ihr hat, doch in gewisser Weise mitgenommen. Denn die Angst vor einer Möglichkeit der eigenen Selbstgestalt ist eine schwermütige Angst, die das Ängstigende auch liebt (153 / 35,23f). Ein solcher Mensch mag Angst vor einer Möglichkeit haben, weil sie ihm eine andere Möglichkeit nehmen könnte, doch will er auch jene angstvolle Möglichkeit für sich bewahren, weil sie ebenfalls zu seiner möglichen Selbstgestalt gehört. Er natürlicher Feind. Ich hoffe nun doch, es werde sich mit Gottes Hilfe zeigen, daß die gottesfürchtige Reflexion die Knoten wieder festziehen kann, an denen eine oberflächliche Reflexion so lange gezupft hat. Die göttliche Autorität der Bibel und alles, was dazugehört, hat man abgeschafft, es sieht aus, als warte man bloß auf die letzte Abteilung der Reflexion, um das Ganze zu vollenden. Aber schau, die Reflexion kommt, um den umgekehrten Dienst zu tun, um dem Christentum die Sprungfeder wieder einzusetzen, und zwar so, daß es gegenhalten kann – gegen die Reflexion.«

156

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

verfolgt sie, ohne zu merken, dass sie ihn von sich selbst wegführt, weil er sie doch in seiner Angst weit von sich weg zu weisen meint. Kierkegaard macht mit der Beschreibung beider Formen dieser Verzweiflung deutlich, dass derjenige, der seine Möglichkeiten entdeckt hat, keine Möglichkeit besitzt, sich ihnen wieder zu entziehen. Ob er sich hoffend auf sie stürzt oder sie furchtsam von sich weisen will, er wird sie in keiner Weise los, sondern gerät nur noch tiefer in sie hinein. So wie es beim irregeführten Ritter Nacht über seine Suche wird, so verdunkelt sich in der Möglichkeit auch das Selbstsein des Verzweifelten immer mehr.

4.

Die Verzweiflung der Notwendigkeit

a)

Die Metapher der Vokale und Konsonanten

Kierkegaard vergleicht die der Verzweiflung der Möglichkeit entgegengesetzte Verzweiflung der Notwendigkeit mit Konsonanten, die auf Vokale angewiesen sind: Vergleicht man das Irregehen in der Möglichkeit mit dem Vokalisieren des Kindes, so verhält es sich mit dem Fehlen der Möglichkeit so, wie wenn jemand stumm ist. Das Notwendige ist wie lauter Konsonanten, um sie jedoch auszusprechen, braucht man die Möglichkeit (153 / 35,29–33).

Die Pointe des Vergleichs wird erst verstanden, wenn man berücksichtigt, dass es sich beim Fehlen der Konsonanten – entsprechend der fehlenden Notwendigkeit – und beim Fehlen der Vokale – entsprechend der fehlenden Möglichkeit – um keine gleichwertigen Defizite handelt. Denn während das Kind wenigstens vokalische Laute von sich geben kann, bleibt der nur die Konsonanten Beherrschende weitgehend stumm (153 / 35,29ff). Das Kind vermag seine Vokale, wenn auch darin unverständlich, auszusprechen, dagegen vermag der in genanntem Sinne Stumme sich erst gar nicht äußern, als ob ihm die Sprachfähigkeit überhaupt fehle. So ist auch der dem Kind entsprechende in der Möglichkeit Verzweifelte in gewissem Sinne näher an seiner Erlösung als der stumm notwendig Verzweifelte, weil in den Möglichkeiten mehr Leben steckt als in den unerbittlich fortschreitenden Notwendigkeiten. So wie sich im unverständlichen Sprechen mehr Leben zeigt als im Stummsein, so ist ein Mensch in der Phantasie lebendiger als einer unter der vermeintlichen Herrschaft der Realität und ihrer Gesetze. In anderer Hinsicht bedeutet die Nähe zum Leben, wie sie in der Möglichkeit erfahren wird, aber auch eine größere Entfernung vom wirklichen Leben, weil aus dem scheinbaren Leben man weitaus schwieriger zur Wirklichkeit findet als

Die Verzweiflung der Notwendigkeit

157

dort, wo ein solcher Schein gar nicht entstanden ist. So wie ein Kind in seinem Lallen meinen könnte, es würde verständlich sprechen können, so hält der Verzweifelte an seinem möglichen Leben fest, in dem ihm das wahre Leben so nah zu sein erscheint. Der in seiner Notwendigkeit Stumme ist näher dran, über seinen Zustand durch und durch zu verzweifeln, wenn auch die Verzweiflung des in der Möglichkeit Verzweifelten größer ist, weil er sich nicht mit der bloßen Notwendigkeit zufrieden gibt. Hier deutet sich schon eine Folge der Verzweiflungsformen an. Poul Lübcke versteht den Begriff der Notwendigkeit in den »Philosophischen Brocken« im Sinne einer ›absoluten Notwendigkeit‹. Demgegenüber sei der Notwendigkeitsbegriff in KT anders gefasst: »In der Krankheit zum Tode spricht Anti-Climacus aber von einer verzweifelten Situation, in der der Mensch der Notwendigkeit ermangelt. Umgekehrt spricht er davon, daß ein Mensch zu viel Notwendigkeit haben kann. D.h. aber, daß die Notwendigkeit, von der Anti-Climacus spricht, nicht die absolute Wesensnotwendigkeit sein kann. Auch ein verzweifelter Mensch ist mit absoluter Notwendigkeit von der Gesamtheit der Wesensbestimmungen, A, B, C … N, bestimmt, wenn er überhaupt eine von den menschlichen Wesensbestimmungen hat. Von einem Mehr oder Weniger der Wesensbestimmung des Menschseins ist es sinnlos zu sprechen. Das Wort ›Notwendigkeit‹ in der Krankheit zum Tode muss also etwas anderes bedeuten als die absolute Notwendigkeit der Verbindung der menschlichen, wesentlichen Eigenschaften. Ich werde sie deswegen als eine relative Notwendigkeit charakterisieren […] Die relative Notwendigkeit ist das, was wir auch die Umstände nennen können. Zum Zeitpunkt Z ist jede Situation durch bestimmte Umstände charakterisiert« (Modalität und Zeit, 120, Hervorhebungen im Original). Sicher spielt das Verständnis der Notwendigkeit im Sinne der Umstände eine wichtige Rolle in KT. So gibt es ein gewisses Alter, wo man reich an Hoffnung ist und noch nicht von den Notwendigkeiten des Lebens bestimmt wird (153 / 35,37ff). Aber dieses Verständnis der Notwendigkeit hat der Verzweifelte. Das im Sinne des Glaubens entscheidend Notwendige wird angesprochen, wenn es darum geht, »sich unter das Notwendige im eigenen Selbst zu beugen, unter das, was die Grenze eines Menschen genannt werden muß« (152 / 34,24ff). Diese Grenze im eigenen Selbst ist mit dem Gesetztsein des Menschen gegeben.

b)

Die Verzweiflung der Notwendigkeit und die Zeit

Wie spricht der in der Notwendigkeit Verzweifelte über seinen Zustand? Im allgemeinen glaubt man nun, es gebe ein gewisses Alter, das besonders reich an Hoffnung ist, oder man spricht davon, daß man zu einer gewissen Zeit, in einem einzelnen Augenblick seines Lebens so reich an Hoffnung und Möglichkeit ist oder war (153 / 35,37–36,3).

Auf solche Weise würde der in der Möglichkeit Verzweifelte nie vom Leben reden. Für ihn gibt es keine bestimmte Zeit der Hoffnung. Er begrenzt sie nicht,

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Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

sondern für ihn ist jeder Augenblick seines Leben reich an Hoffnung, indem er ständig einer Möglichkeit oder vielen Möglichkeiten seines Lebens nachläuft. Der in der Notwendigkeit Verzweifelte sieht zwar auch, dass es Hoffnung gibt. Aber sie ist ihm keine Hoffnung auf Leben, sondern nur eine Hoffnung im Leben, worüber das Leben dann hinweggeht. Der an die scheinbaren Notwendigkeiten des Lebens Gebundene ist keinen Schritt weiter als der in der Möglichkeit seiner Phantasie Schwebende. Im Gegenteil: Ersterer hat vielmehr seine Möglichkeiten noch gar nicht entdeckt. Er entbehrt jeglicher Phantasie, deren unendliche Möglichkeiten sich nicht auf gewisse Zeiten einschränken lassen. Wenn jemand von gewissen Zeiten spricht, in denen das Leben reich an Hoffnung und Möglichkeit erscheint, ist ihm die Möglichkeit, er selbst zu sein, noch gar nicht zu Bewusstsein gelangt. Denn dann müsste er eine Vorstellung vom eigenen zeitübergreifenden Selbstsein besitzen, und seine Hoffnung wäre nicht mehr an bestimmte Zeiten oder Zeitpunkte gebunden. Der in der Möglichkeit Verzweifelte ahmt wenigstens in der Unendlichkeit seiner Möglichkeiten das wahre ewige Selbstsein nach, während man in den Notwendigkeiten des Lebens nur vergeht, ohne darin ganz unterzugehen. Der so Verzweifelte entwickelt keine eigenen Möglichkeiten, weil er sie für abhängig von der jeweiligen Zeit hält, und merkt nicht, dass er sich selbst von der Zeit, wie er sie versteht, abhängig macht. Die Zeit ist für ihn nicht da, um Möglichkeiten für sich selbst zu entwickeln, sondern macht ihn selbst so notwendig, wie ein Augenblick notwendig auf den nächsten folgt. Ein solcher Mensch bleibt geistig stumm und vermag sich selbst nicht auszudrücken, weil ihm die ›Buchstaben‹ seines Selbst nur ein notwendiger Zusammenhalt sind, die aber letztlich in sich nichts zusammenhalten. Durch sie wird nichts ermöglicht, so wie Konsonanten allein kein verständliches Wort zusammen bilden, sondern erst durch Vokale mitlauten.

c)

Die Verzweiflung im Sinne des Determinismus und Fatalismus

Kierkegaard benennt zwei Formen der Verzweiflung, denen die Möglichkeit fehlt: Das Fehlen der Möglichkeit bedeutet entweder, daß alles für einen notwendig geworden ist, oder daß alles zu Trivialität geworden ist (155 / 38,9ff).

Kierkegaard hatte als Überschrift (C.A.b.b) die These aufgestellt, dass die Verzweiflung der Notwendigkeit das Fehlen der Möglichkeit sei. Das Zitat macht nun deutlich, dass ein Umkehrschluss dieser These nicht statthaft ist. Das Fehlen der Möglichkeit lässt nicht unbedingt auf die Verzweiflung der Notwendigkeit

Die Verzweiflung der Notwendigkeit

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zurückschließen, sondern es kann dem Menschen auch alles trivial anstatt notwendig sein.14 Der Typus des Trivialen fällt aus der grundlegenden Unterscheidung zwischen der Verzweiflung der Notwendigkeit und derjenigen der Möglichkeit heraus, weil ihm beides, Möglichkeit und Notwendigkeit, zu fehlen scheint. Hier ist ein Mensch seiner Verzweiflung noch gar nicht bewusst geworden, ihm ist die verzweifelte Arbeit an mehr Möglichkeit oder überhaupt um Möglichkeit noch unbekannt. Wem hingegen alles notwendig geworden ist, besitzt schon mehr Bewusstsein seiner Verzweiflung. Diese Gestalt des Deterministen oder Fatalisten soll zuerst genauer betrachtet werden (155f / 38,16–33).15 Ihr Wesen lässt sich an Kierkegaards Beispiel des Atmungsvorgangs verdeutlichen. Der Mensch kann nur die Synthese von Möglichkeit, der dem Sauerstoff entspricht, und Notwendigkeit, für die der Stickstoff steht, atmen. Wenn er allein vom Notwendigen bzw. Stickstoff leben wollte, müsste er selbst ersticken. Der Fatalist erdenkt sich die Möglichkeit eines Selbstseins, dem alles vorherbestimmt ist. Aber indem er es sich auf diese Weise erschafft, verdeckt er zugleich dessen Möglichkeitscharakter. Er kann es so vermeiden, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Ein solcher Mensch muss trotz aller Verzweiflung nicht durch und durch verzweifeln, weil er sich selbst an die göttliche Vorherbestimmung oder das Schicksal losgeworden zu sein meint. Bietet sich einem Fatalisten eine Möglichkeit, wird er sie als vorherbestimmt verstehen, sonst müsste er an seiner sich selbst zugelegten fatalistischen Selbstgestalt verzweifeln und nicht mehr an einem scheinbar über ihn verhängten Schicksal. Während der in der Möglichkeit Verzweifelte versucht, von der einen Möglichkeit auf eine andere auszuweichen, erklärt der in der Notwendigkeit Verzweifelte die eine Möglichkeit des Determinismus für die Wirklichkeit und erübrigt sich das Suchen weiterer Möglichkeiten. Der Fatalist scheint einem Verzweifelten zu gleichen, der durch und durch an der Notwendigkeit verzweifelt, so dass ihm der Untergang das Sicherste ist, aber im Unterschied zu diesem hat er gelernt, mit seinem Untergang verzweifelt zu leben. In dem Augenblick, wo ein Mensch keine Möglichkeit hat, muss ihm der 14 Auch in der ›Verzweiflung der Möglichkeit‹ hatte Kierkegaard zwei Typen, den wünschenden und den schwermütigen Typ, charakterisiert (153 / 35,10ff). Hier lässt sich die These der zugehörigen Überschrift ›Die Verzweiflung der Möglichkeit ist das Fehlen der Notwendigkeit‹ (151 / 33,9f) umkehren. In beiden geschilderten Fällen fehlt die Notwendigkeit, man verzweifelt an der Möglichkeit, sei es, daß man sich durch Hoffnung oder durch Angst an sie bindet. 15 Kierkegaard setzt Deterministen und Fatalisten nicht völlig gleich. Der Fatalist scheint ein religiöses Verhältnis zur Notwendigkeit zu haben, wenn sie sein Gott ist. Aber in seinem grundlegenden Verhalten ist er dem Deterministen gleich und beide Bezeichnungen werden hier synonym gebraucht.

160

Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

Untergang das Sicherste sein (154 / 36,21f), aber der Fatalist nimmt den Untergang durch die Vorherbestimmung gleichsam vorweg. Wo alles vorherbestimmt ist, hat man noch nicht einmal die Möglichkeit unterzugehen. Die Vorherbestimmung des Fatalisten ist eine Form des Untergangs, bei der man weiter dahinleben kann. Ihm muss sein ›erstickendes‹ Selbstsein nicht bewusst werden, weil er weiter das Notwendige ›atmet‹. Deshalb wäre der Schrei des Fatalisten nach Möglichkeit – wenn er ihn denn ausstoßen würde – kein echter Hilferuf. Er hat jegliche Hilfe schon von vornherein ad absurdum geführt, weil er an die Notwendigkeit allen Geschehens glaubt. Ein ›Trotzdem‹, wie es der Glaubende angesichts seines Untergangs ruft, muss dem Fatalisten als pure Illusion erscheinen. Ihm wäre erst dann zu helfen, wenn sein verborgenes mögliches Selbstsein unter dem Schein der Notwendigkeit hervorkäme, mit dem er sich ›erstickt‹, um sich selbst loszuwerden. Denn Fatalismus und Determinismus haben »Möglichkeit genug, um die Unmöglichkeit zu entdecken« (156 / 39,31f). Die Möglichkeit, durch welche die Unmöglichkeit der Notwendigkeit hervorgebracht wird, bleibt beim Fatalisten von der Notwendigkeit unberührt. In dieser Möglichkeit steckt aber sein wahres verzweifeltes Selbstsein. Der Fatalist ist verzweifelt, »weil alles für ihn Notwendigkeit ist« (155 / 38,13f). Erst wenn dem verzweifelten Menschen in seinem Selbstsein diese Möglichkeit des Fatalismus, in der er ganz er selbst sein will, genommen würde, müsste er durch und durch verzweifeln. Der in der Möglichkeit Verzweifelte hat sich schließlich darin verstiegen, dass alles möglich sei. Er schwingt sich selbst zum Gott auf. Der in der Notwendigkeit Verzweifelte hat sich darin verstiegen, dass nichts möglich sei und Gott beseitigt.

d)

Die Verzweiflung der Trivialität

Der zweite Typus der Verzweiflung, dem die Möglichkeit fehlt, ist die Trivialität, wie sie für das Spießbürgertum charakteristisch ist. Determinismus und Fatalismus sind »Geistes-Verzweiflung« (156 / 39,6), weil in ihnen durchschaut ist, dass man selbst Notwendigkeit ist. Man selbst durchschaut sich – aber nur im Spiegel der Möglichkeit, so dass die eigene Geistigkeit eine Geistes-Verzweiflung ist. Der Mensch verzweifelt in seiner Geistigkeit an dem, als was er sich selbst erblickt. Die Geistes-Verzweiflung ist beim Fatalisten noch nicht weit fortgeschritten, weil er selbst immer wieder seinem möglichen Selbstsein, an dem er intensiver verzweifeln könnte, durch die notwendige Gestalt sein scheinbares Leben nimmt. Deshalb ist seine Anstrengung des Geistes nicht so groß wie bei der Verzweiflung der Möglichkeit, der eine dem Fatalismus unbekannte Dynamik innewohnt, welche die Möglichkeit in der Phantasie ständig vergrößert. Das Spießbürgertum besitzt hingegen in seiner Trivialität keine Geistigkeit,

Die Verzweiflung der Notwendigkeit

161

ohne damit der Verzweiflung ledig zu sein (156 / 39,5ff). Auch wer geistlos ist, hat sich selbst verloren. Aber er bemerkt es nicht und kommt erst gar nicht auf den Gedanken, er müsse sich derart um sich selbst kümmern, wie es all die anderen Verzweifelten tun, die für sich eine mögliche Selbstgestalt entwerfen. Der Spießbürger könnte dem in der Endlichkeit Verzweifelten entsprechen, der jedes Wagnis zu gefährlich findet, wenn es nicht noch schlimmer wäre: er versteht erst gar nicht, was ein Wagnis hinsichtlich seiner selbst bedeuten soll. Dazu müsste er eine gewisse Phantasie entwickeln, die er aber nicht besitzt. Vielmehr hat er sich mit dem »Wahrscheinlichen« (156 / 39,8) eine Bestimmung zugelegt, die bei ihm die des Geistes ersetzt. Die Wahrscheinlichkeitsvorstellung des Spießbürgers hat die beiden Synthesispole der Möglichkeits- und Notwendigkeitsbestimmung einander neutralisiert. Wenn etwas wahrscheinlich ist, ist es ›mehr‹ als möglich. Der Möglichkeit ist ein guter Schuss Notwendigkeit beigemischt, aber nicht zu viel, weil etwas Wahrscheinliches nicht so zwingend ist wie Notwendiges. Im Wahrscheinlichen hat der Spießbürger eine besondere Synthese zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit gefunden, in der die Synthesenglieder in ihrer Gegensätzlichkeit so abgemildert sind, dass sie zur trivialen Einheit werden. Aber lässt sich dann überhaupt noch von einer Synthese sprechen? Der Spießbürger kann Möglichkeit und Notwendigkeit nur zur Wahrscheinlichkeit vermengen, weil er ihr Verhältnis von vornherein missachtet. Nicht nur das Selbstverhältnis, sondern auch das synthetische Verhältnis bleibt hier verdeckt. Auch die anderen Verzweifelten haben ihre synthetische Selbststruktur nicht anerkennen können, aber indem sie entweder ganz notwendig oder ganz möglich sein wollen, ist ihnen das Bewusstsein der eigenen Widersprüchlichkeit gegeben, sonst müssten sie sich gar nicht erst wollen. Ihr Wollen ruft zugleich den Zwang der setzenden Macht hervor, der sie noch der Selbstgestalt verbunden sein lässt, die sie nicht sein wollen und die ihr Wollen zu einem verzweifelten macht. Der Spießbürger fängt hingegen jeden aufkeimenden Widerspruch durch die Wahrscheinlichkeit ab und verhindert, auf die setzende Macht, »auf Gott aufmerksam zu werden« (156 / 39,10f). Damit ist nicht gesagt, dass der Spießbürger zuerst einmal seine Verzweiflung entwickeln müsste, um zu jener Aufmerksamkeit zu gelangen. Jene, die ihre Verzweiflung der Notwendigkeit oder der Möglichkeit entwickeln, entfernen sich im gleichen Maße von der Aufmerksamkeit, wie sie sich ihr anzunähern scheinen. In ihrer Verzweiflung haben sie die Möglichkeit, auf Gott aufmerksam zu werden – aber nehmen sie sich zugleich wieder durch die Pervertierung Gottes. Der in der Notwendigkeit Verzweifelte ist einen Schritt weiter als der Spießbürger und auf Gott aufmerksam geworden – vermeintlich, weil sein Gott der bedrückende Götze der Notwendigkeit ist. Der in der Möglichkeit Verzweifelte ist noch weiter in seiner Verzweiflung vorge-

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Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

drungen und sogar auf das Wesen Gottes gestoßen, wenn er meint, alles wäre möglich – und hat doch Gott in sich selbst hinein projiziert. So gesehen besteht in keinem Fall die Möglichkeit, auf Gott aufmerksam zu werden, was eben das Entsetzliche der Krankheit zum Tode ist.

e)

Der Spießbürger und die Phantasie Denn damit er [sc. der Spießbürger] auf sein Selbst und auf Gott aufmerksam wird, muß die Phantasie einen Menschen höher hinauftragen als bis zum Dunstkreis des Wahrscheinlichen, sie muß einen dort herausreißen, und, indem sie möglich macht, was das quantum satis jeder Erfahrung überschreitet, ihn lehren, zu hoffen und zu fürchten oder zu fürchten und zu hoffen (156 / 39,15–22).

In der Wahrnehmung des Spießbürgers bildet nicht das Wahrscheinliche einen Dunstkreis, in dem man nicht klar sehen kann, sondern die Phantasie, in der alles Vertraute und Erfahrene verschwimmt. Kierkegaard sagt, dass die Phantasie das ›Soviel wie nötig‹ der Erfahrung überschreitet, und deutet damit an, dass die Erfahrung des Spießbürgers eigentlich nur gebremste Phantasie ist. Die Phantasie als die Grundkraft des Menschen bestimmt auch die in jeglicher Erfahrung liegende Reflexion. Die Erfahrung gehört nicht grundsätzlich einer anderen Kategorie als die Phantasie an, sondern ist nur ein quantum satis gegenüber der Phantasie. Der Phantasie kommt die wichtige Bedeutung zu, den Menschen wahrhaft auf Gott und sein Selbst aufmerksam zu machen. Aber sie ist nicht der Ort, wo der Mensch Gott und sich selbst findet. Zwar kann der Mensch auch in einem phantastischen Selbstsein zu einem jede Erfahrung überschreitenden Hoffen und Fürchten gelangen, so wie der Glaubende über die Erfahrung hinweg die Krankheit zum Tode fürchtet und auf Gott hofft. Aber mit der Hoffnung und der Furcht, die den Menschen in der entgrenzten Phantasie befallen, sind die beiden Typen der Verzweiflung der Möglichkeit markiert (153 / 35,10ff) und nicht Hoffnung und Furcht des aus der Verzweiflung Befreiten. Der aus der Verzweiflung befreite Christ hat gelernt, das Entsetzliche zu fürchten (125 / 7,3f) und doch zu hoffen. Sein Lehrmeister ist nicht die Phantasie, sondern der Glaube. Kierkegaard stellt Phantasie und Glaube deutlich gegeneinander : Manchmal reicht […] der Einfallsreichtum der menschlichen Phantasie aus, um eine Möglichkeit zu schaffen, aber schließlich, d. h. wenn es darum geht, zu glauben, hilft nur dies: daß für Gott alles möglich ist (154 / 37,1–4, Hervorhebung im Original).

Der Spießbürger wird in seinem Vertrauen auf das Wahrscheinliche keiner phantastischen Möglichkeit Raum geben. Doch ist die Wahrscheinlichkeit im

Die Verzweiflung der Notwendigkeit

163

spießbürgerlichen Denken kein ›sicheres Gefängnis‹ für die Möglichkeit. Dann und wann durchbricht sie es und bringt den phantasielosen Spießbürger zum Verzweifeln. Es passiert unwahrscheinlich Schreckliches (156 / 39,23–29). Die ›schrecklichen Ereignisse‹ (156 / 39,24) könnten dazu verhelfen, sich in seiner Geistigkeit bewusst zu werden. Durch sie könnte der Dunstkreis des Wahrscheinlichen durchstoßen und die völlige Haltlosigkeit des eigenen Daseins offenbar werden. Die schrecklichen Ereignisse würden von außen dazu verhelfen, auf das noch Schrecklichere im Inneren des Menschen, seine verlorene Selbstgestalt, aufmerksam zu werden. Aber das Spießbürgertum kann solche Geschehnisse nicht als Hilfe erkennen. Wenn das Unwahrscheinliche eintritt, ist der Spießbürger offenbar mit seiner Weisheit am Ende. Aber das gesteht er sich nicht ein, sondern hält voller Verzweiflung an ihr fest und fragt vielleicht: ›Warum konnte das nur geschehen?‹ – weil es in seiner Unwahrscheinlichkeit nicht hätte passieren dürfen. Er verzweifelt über das schreckliche Ereignis, aber nicht an seiner trivialen Weisheit. Sie lässt er nicht untergehen und hält dadurch sich selbst im sicheren Untergang der ewigen Verzweiflung. Der Möglichkeit des Glaubens steht der Spießbürger völlig fern, weil sie das Allerunwahrscheinlichste ist. Aus dem sicheren Untergang gerettet werden zu können, liegt jenseits seiner einschlägigen Erfahrungen.

f)

Fatalismus / Determinismus und Spießbürgertum im Vergleich

Die sich dem Fatalismus und Determinismus ergebenden Menschen sind durch die Phantasie aus ihrer Geistlosigkeit geweckt worden, aber in eine Art ›Wachstarre‹ gefallen, bei der die Möglichkeit sich zur Notwendigkeit ›verkrampft‹ hat. Fatalist und Determinist verzweifeln daran, dass ihnen die Möglichkeit fehlt, die Notwendigkeit zu ›mildern‹ und zu ›temperieren‹ (156 / 39,36). Eine gemilderte, wohltemperierte Notwendigkeit würde nichts anderes als jene behagliche Wahrscheinlichkeit bedeuten, wie sie der Spießbürger pflegt. Die im Sinne des Fatalismus und Determinismus Verzweifelten haben in ihrem Notwendigkeitsdenken an Möglichkeit – in gleichsam erstarrter Form – genug, um zu verzweifeln. Sie entdecken die Unmöglichkeit im Sinne der Notwendigkeit, ohne sie als ihre selbstentworfene Möglichkeit zu durchschauen, und verzweifeln an ihr. Damit sind sie ›weiter‹ gekommen als der Spießbürger, der über die Möglichkeit zu verfügen meint (156f / 39,38f). Wenn der Spießbürger meint, über die Möglichkeit verfügen zu können, dann meint er, sie zu beherrschen, ohne sie zu seiner Möglichkeit gemacht zu haben. Andere Verzweifelte, etwa diejenigen der Verzweiflung der Möglichkeit, wollen auch über die Möglichkeiten ihrer selbst verfügen, aber nur so, dass sie sich in ihnen selbst verwirklichen. Sie haben ihr Selbstsein in die Möglichkeiten ihrer

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Die Verzweiflungsformen und ihre synthetische Struktur

Phantasie gesetzt. Der Spießbürger hingegen verfällt in seiner Geistlosigkeit dem Gedanken, der Möglichkeit eine ›Falle zu stellen‹ (156f / 39,38–40,2). Er lässt sie immer nur bis zum Wahrscheinlichen kommen, bis zu dem Punkt, den er selbst schon vorhergesagt hat. So kann er sich brüsten, immer schon zu wissen, was möglich ist. Er reduziert die Möglichkeiten für sich selbst auf eine gewisse Notwendigkeit. Die Möglichkeit ist durchaus als Möglichkeit genommen, weil der Spießbürger nicht mit Sicherheit das zukünftige Geschehen kennt; aber verwirklicht sich, was möglich ist, zeigt der Spießbürger, dass die Möglichkeit doch keine war, sondern nur eine nicht ganz sichere Notwendigkeit. Er hat damit, wie Kierkegaard drastisch sagt, die Möglichkeit in »das Irrenhaus der Wahrscheinlichkeit gebracht« (157 / 40,1f). In diese Falle kann der Spießbürger die Kategorie der Möglichkeit jedoch nur durch den Trick ihrer Trivialisierung bringen. Er trivialisiert das Mögliche auf begrenzte äußere Erfahrungen und meidet geflissentlich das ihm unsichere Feld der Phantasie. In dieser Beschränkung hat er sich selbst einen engen Käfig gebaut, er hat sich durch die Wahrscheinlichkeit selbst hereingelegt und sich von seinem wirklichen und jedem anderen möglichen Selbstsein ausgeschlossen. Wenn für Kierkegaard der Spießbürger die Möglichkeit wie einen besonderen Vogel im Käfig der Wahrscheinlichkeit umher zeigt (157 / 40,2–7), aber das Wissen des Spießbürgers zuvor als Papageien-Weisheit verachtet wurde (156 / 39,25), liegt es nahe, dass der Spießer sich selbst wie einen gefangenen Papagei vorführt, der immer nur geistlos das Gleiche sagen kann, weil er eben so beschränkt ist.

5.

Drei Charaktertypen der Verzweiflung

Mehrere Charaktere sind in den verschiedenen Verzweiflungstypen mitentwickelt worden (157 / 40,7–12). Vom Siegesgewissen und Mutigen bis zum Niedergedrückten reicht die Skala. Die Verzweiflung nimmt ein so unterschiedliches Gewand an, dass sie nicht allein an einer Niedergeschlagenheit abzulesen ist. Vielmehr ist ein Kühner (vgl. 157 / 40,7) in seinen Taten noch verzweifelter, weil seine vermeintliche Hoffnung auch intensiver ist. Er muss ständig seine Hoffnung neu begraben, weil sich in der ständigen Rückkehr des von ihm verdrängten verzweifelten Selbstseins sein phantastisches Selbstbild auflöst. Ständig stürzt ihm ein phantastisches Selbstprojekt zusammen, und sein Fall wird immer tiefer, je höher seine Hoffnung steigt. Eine solch dramatische Wellenbewegung der Verzweiflung ist dem Niedergedrückten nicht bekannt. Er ist von der Notwendigkeit so sehr bedrückt, dass ihm jede weitergehende Erhebung durch die Phantasie versagt bleibt. Er hat sich, wie Kierkegaard sagt, ›am Dasein verhoben‹ (157 / 40,10), weil er es durch die Notwendigkeit des Schicksals oder der Vorherbestimmung zu sehr erschwert und ihm so jede phantastische

Drei Charaktertypen der Verzweiflung

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Möglichkeit genommen hat. Der in der Möglichkeit Verzweifelte hat dagegen sein Dasein leicht gemacht, indem er es in die Phantasie verlegte. Das eigene Dasein muss dem Menschen unendlich schwer werden, der es selber zu heben versucht. Er müsste an diesem Versuch zugrunde gehen. Aber der Verzweifelte versucht in seiner Verzweiflung sein Gewicht für sich zu erleichtern, indem er es entweder nur so schwer macht, dass er noch als Niedergedrückter und Stummer durchs Leben zu gehen vermag, oder so leicht, dass er vermeintlich eine Lebensmöglichkeit nach der anderen ›wuchten‹ kann. Letzteres muss sich freilich in immer größerem Tempo vollziehen, damit man selbst nicht verzweifelt inne wird, dass keine dieser Möglichkeiten auch nur über einen Augenblick hinaus im Leben zu halten ist. Nur das Spießbürgertum scheint mit dem Dasein fertig werden zu können. Es übernimmt erst gar nicht die Anstrengung, an einer Möglichkeit des eigenen Daseins zu arbeiten. Der Spießbürger setzt nicht an sich selbst, sondern an der Möglichkeit an und stutzt sie zum Wahrscheinlichen zurecht. Diese Ignoranz des eigenen Selbstseins bedeutet die völlige Geistlosigkeit.

6. Kapitel: Die Verzweiflungsformen unter dem Gesichtspunkt ihrer Bewusstheit

1.

Differenzierungen des Bewusstseinsbegriffs

a)

Das gespaltene Bewusstsein in der Verzweiflung

Kierkegaard hat in Kapitel C.A des ersten Abschnitts die Verzweiflung in ihren nach Synthesisgliedern geordneten Gestalten untersucht und in C.B die Verzweiflung nach ihren unterschiedlichen Graden von Bewusstheit geordnet. Die verschiedenen Verzweiflungsformen werden unter der Bestimmtheit Bewusstheit von einer geradezu nicht bewussten, ›unschuldigen‹ bis zu einer höchst bewussten, dämonischen Verzweiflung gesteigert. Diese Betrachtung befindet sich in einer gewissen Spannung zum begrifflichen Inhalt der Verzweiflung. Kierkegaard behaftet jeden Menschen mit der Verzweiflung, weil in seinem ›tiefsten Innern‹ (138 / 19,7) zumindest Unruhe, Unfriede, Disharmonie oder Angst wohne.1 Aber müsste man nicht eher sagen, dass eine solche Unruhe nur Symptom einer Verzweiflung sein kann? Die Verzweiflung könnte sich mit solchen Zuständen ankündigen, aber ist mit ihnen noch nicht gegeben. Wenn sie da ist, ist sie dann nicht auch dem Betreffenden bewusst? Kierkegaard gibt der im Verzweiflungsbegriff implizierten Bewusstseinsdimension eine Zweideutigkeit, wenn er sie auf den Verzweifelten selbst anwendet. Wenn jemand ›mit begrifflicher Richtigkeit‹ (145 / 26,16) verzweifelt genannt werden muss, hat dieser auch ein Bewusstsein seiner Verzweiflung. Trotzdem kann der Betreffende seines verzweifelten Bewusstseins nicht bewusst sein, weil er dieses Bewusstseins nicht bewusst werden will. Eine solche Verdoppelung des Bewusstseinsbegriffes entspricht der für die Beschreibung des Verzweiflungszustands charakteristischen Verdoppelung des Selbstbegriffes. Der Verzweifelte ›selbst‹ will sein ›verzweifeltes Selbst‹ nicht sein, so wie er bewusst sein Verzweiflungsbewusstsein nicht wahrhaben will. 1 Zur Bedeutung der ›unbewussten Verzweiflung‹ vgl. Grøn, Kierkegaards Phänomenologie, 96–102.

168

Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

Theunissen hat einen seiner wesentlichen Kritikpunkte an das Kierkegaard’sche Konzept der unbewussten Verzweiflung angeheftet. Die uneigentliche Verzweiflung bedeute nach Kierkegaard auch eine unbewusste. Dagegen gibt Theunissen zu bedenken: »Wir können eine unangemessene Vorstellung von Verzweiflung haben; wir können jedoch nicht verzweifelt sein, ohne es irgendwie zu wissen« (Begriff Verzweiflung, 31). Theunissen löst die Spannung in der Weise auf, dass mit einer uneigentlichen Verzweiflung nur eine Verzweiflung gemeint sein kann, »deren Subjekt sich insofern seiner selbst nicht bewußt ist, als es kein Bewußtsein vom Selbst in der genuin Kierkegaardschen Bedeutung des Wortes besitzt, mithin keine Vorstellung davon, was es heißt, immer schon in das Sich-zu-sichVerhalten eingesetzt zu sein« (32). Kierkegaard entfaltet m. E. die uneigentliche Verzweiflung in dem Sinne, dass die Verzweiflung dem Menschen nicht bloß unbewusst ist, sondern die unbewusste Verzweiflung in einer charakteristischen Beziehung zum Bewusstsein steht. In der uneigentlichen Verzweiflung steckt schon der Keim der Eigentlichkeit, wenn der betreffende Mensch seine Verzweiflung sich nicht bewusst macht, ohne dass er sie sich damit explizit nicht bewusst machen will. Theunissen schreibt zutreffend: »Als uneigentlich Verzweifelte wollen wir insofern nicht wir selbst sein, als wir uns zu unserem vorgegebenen Dasein erst gar nicht in das Verhältnis setzen, in welchem wir es wollen oder nicht wollen können« (33). So wäre es auch wieder zu wenig gesagt, dass hier kein Willensakt stattfindet. Denn die ohnmächtige willenlose Haltung des unmittelbar Verzweifelten ist gemäß Kierkegaard ein ›sich tot stellen‹ (167 / 52,21), ein ›nicht wollen wollen‹, in dem der Wille gleichsam ex negativo angezeigt ist. Hier ist der Zwiespalt des Bewusstseins schon angelegt, ohne dass der Mensch schon bewusst nicht dessen bewusst sein will, was in ihm ist. Erst der offen vollzogene Zwiespalt im Bewusstsein wird die Verzweiflung von einer uneigentlichen zu einer eigentlichen machen.

Wer sich seiner Verzweiflung nicht bewusst ist, hat sein Verzweiflungsbewusstsein auf geistvolle oder geistlose Weise verdrängt. Deshalb lässt sich hier statt von einer unbewussten Verzweiflung besser von einem verborgenen Verzweiflungsbewusstsein sprechen. Da die Verdrängung dieses Bewusstseins nicht vollständig gelingen kann – demgemäß, dass der Mensch sich sein ewiges Selbstsein ständig wieder zuzieht, wenn er es abgeworfen hat –, dürfte es eine gänzlich unbewusste Verzweiflung nicht geben. Und so ist es auch, wenn die Unbewusstheit der Verzweiflung in ihrem Maximum bedeutet, dass die Verzweiflung am geringsten ist (157 / 40,27ff). Von seinem zwiespältigen Bewusstsein hat der Verzweifelte kein – übergeordnetes – Bewusstsein, sondern nur der Arzt, der ihm zu einem Bewusstsein seines Zwiespaltes, der darin zugleich verschwinden würde, verhelfen will. Diese Lösung des verzweifelten Bewusstseins ist mit einer gesteigerten Bewusstheit der Verzweiflung nicht gleichzusetzen. Denn die gesteigerte Bewusstheit des eigenen Verzweiflungsbewusstseins führt nicht zwangsläufig zur Einheit im letzteren. Vielmehr kann der Verzweifelte trotz des Bewusstseins der eigenen Verzweiflung bewusst von diesem abrücken. Das entspräche der Natur des intensivierten Verzweiflungs-

Differenzierungen des Bewusstseinsbegriffs

169

bewusstseins, das ein Bewusstsein voller Trotz ist.2 Während der seiner Verzweiflung nicht Bewusste sich von seinem Glück treiben lässt, vermag der Mensch mit seinem der Verzweiflung offen trotzenden Bewusstsein Selbstkonzepte seinem Verzweiflungsbewusstsein entgegenzustellen und dieses bewusst in sich zu verschließen. Damit vertieft sich der Zwiespalt des eigenen verzweifelten Bewusstseins, was zur Folge hat, das der Betroffene noch intensiver verzweifelt.

b)

Das intendierte Missverständnis der bewussten Verzweiflung

In der Perspektive eines doppelten Bewusstseins sind auch die anschließenden Begriffsverknüpfungen zu lesen. Überhaupt ist Bewußtheit, d. h.: Selbstbewußtheit, Bewußtheit von einem selbst, das Entscheidende in bezug auf das Selbst. Je mehr Bewußtheit, desto mehr Selbst, je mehr Bewußtheit, desto mehr Wille, je mehr Wille, desto mehr Selbst. Ein Mensch, der überhaupt keinen Willen hat, ist kein Selbst; je mehr Willen er aber hat, desto mehr Selbstbewußtheit, Bewußtheit von sich selbst, hat er auch (145 / 26,18–24).

Man ist als Leser verführt zu meinen, hier werde der Weg aus der Verzweiflung zur Selbstfindung beschrieben. Zum nicht verzweifelten Selbst zu werden, wäre dann ein Bewusstseinsproblem, das sich mit der Aktivierung des Willens lösen ließe. Man befände sich im Grunde noch im verzweiflungslosen Selbstverhältnis vor Gott und wäre ›im Innersten‹ gerade nicht verzweifelt. Die Verzweiflung wäre nur ein Schein von Dunkelheit, der sich auf das unerschütterliche rechte Grundverhältnis gelegt hätte und durch den Willen zum Bewusstsein seiner selbst weggewischt werden könnte. Verzweiflung wäre ein Fall von Willensschwäche, deren Heilung im Menschen selbst läge. Doch eine solche Interpretation wird schon fragwürdig, wenn sich der Verzweifelte mit »aller Anstrengung« (136 / 17,18) loswerden will – von einer Willensschwäche kann also in der Verzweiflung keine Rede sein, auch wenn der Wille zu schwach erscheint, um sich durchsetzen zu können. Auch bräuchte der Mensch in seiner Verzweiflung nicht ganz verzweifeln, sondern könnte Mut in seiner Selbstbesinnung fassen. Kierkegaards Metapher des ewigen Kerkers der Verzweiflung (144 / 25,36) wäre jedem etwas einsichtigen Menschen eine Aufgeregtheit, die nur bei oberflächlichen Naturen Wirkung zu zeigen vermöchte. Aber Kierkegaard meint es ernst mit seinem Drama der Verzweiflung. Um den Leser selbst in seiner Verzweiflung zu treffen, sie ihm ernst werden zu lassen, verführt er ihn zu dem eben entfalteten Missverständnis, dem der Verzweifelte 2 Siehe hier Kapitel 9.

170

Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

nur allzu gern folgen wird. Wenn er verzweifelt er selbst sein will, muss er sich in seiner Haltung bestärkt fühlen. Auch für ihn ist Selbstbewusstsein das Entscheidende und die Lösung von aller Verzweiflung. Der Weg dorthin ist durch seinen Willen markiert. Der Verzweifelte muss noch entschiedener und stärker er selbst sein wollen, um die Verzweiflung abzustreifen. Sein eigentliches ›Selbst‹ in ihm ist ohne Verzweiflung, er muss es sich nur bewusst machen wollen. Kierkegaard ›bedient‹ den Leser mit dessen eigenem Verzweiflungsverständnis, um ihn dann in seinem Glauben, seiner Verzweiflung ledig werden zu können, um so gründlicher zu enttäuschen. Er erzielt diese Täuschung vor allem durch die Abstraktion des Selbstbegriffs, bei der der Leser zuerst im Unklaren darüber bleibt, ob hier das ›verzweifelte Selbst‹ oder das verzweiflungslose, sich zu sich selbst verhaltende ›Selbst‹ gemeint ist. Doch dem Thema des Kapitels entsprechend und auch im Hinblick auf Kierkegaards Fortgang der Untersuchung kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es um das verzweifelte Selbst geht. Kierkegaard beschreibt wohl, wie der Mensch selbst Willen und Bewusstheit in seiner Verzweiflung intensiviert, aber nicht, wie er sich dadurch in seinem verzweifelten Selbstsein zum wahren, verzweiflungslosen Selbst intensiviert. Der Mensch erhebt sich nicht von einer tierischen Unbewusstheit zur Selbstbewusstheit, um dann er selbst zu sein. Mit steigender Bewusstheit steigt vielmehr die Verzweiflung, welche die beschädigte Selbstgestalt des Menschen weiter verfestigt. Der in der Notwendigkeit Verzweifelte hat gegenüber dem geistlosen Spießbürger schon mehr Bewusstsein – und zeigt sich sprachlos wie ein Tier (vgl. 156 / 39,1f).3 Der in der Möglichkeit Verzweifelte ist im Bewusstwerdungsprozess noch weiter vorangeschritten – und zeigt sich wie ein kleines Kind, das alles sofort haben will (152 / 35,3–7). Zwar wird der Mensch nun der Verzweiflung seiner selbst gewahr, aber ihr will er selbst entkommen, nicht wahrhabend wollend, dass sein Selbstsein als solches verzweifelt ist. Er arbeitet nun ständig daran, sich seines vermeintlich verzweiflungslosen Selbstseins bewusst zu werden. Nicht das wirkliche Selbst, sondern das mögliche Selbst – das Selbst jat± d}malim – wird in der sich steigernden Verzweiflung aus seinem Dämmerzustand erweckt und bildet verkehrte Formen des Selbstseins aus. Damit fällt nicht das Licht auf die Krankheit, das der Arzt in sie zu bringen sucht (139 / 20,35–39). Das Licht in diesem Bewusstseinsprozess ist nicht dasjenige, das den Menschen von seiner Krankheit heilt, sondern ein Irrlicht, das den Menschen in die finsterste Nacht führt, so wie in einer Geschichte ein Ritter durch einen seltenen Vogel in die Irre geführt wird (153 / 35,12–19). Der Mensch entwickelt ein phantastisches Bewusstsein, das die Krankheit nur verschlim3 Vgl. SKS 20, 402, NB5:72 / T 3, 19: »Aber das ist Gottes Zorn, einen Menschen dahingehen zu lassen wie das Tier, das er nicht ruft.«

Differenzierungen des Bewusstseinsbegriffs

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mert. Es gaukelt dem verzweifelten Menschen vor, er könne selbst aus der Dunkelheit seiner Verzweiflung finden und müsse in ihr nicht sicher untergehen. Damit intensiviert der Mensch nur seine Krankheit, die das falsche Bewusstsein impliziert, er könne durch sich selbst seiner selbst bewusst werden. In der Perspektive des für die Verzweiflung konstitutiven doppelten Bewusstseinsbegriffs wird sich das mit dem Willen gesteigerte Selbst-Bewusstsein als das trotzige Bewusstsein zeigen, das nicht verzweifeltes Selbst-Bewusstsein sein will. Es geht nicht in das verzweifelte Selbstsein ein, so dass ein Bewusstsein voller Verzweiflung entstünde und der Verzweifelte durch seine Verzweiflung hindurchginge, sondern dieser bekämpft in immer größerem Selbst-Bewusstsein sein verzweifeltes Selbstsein. Aber je stärker sich sein Wille durchsetzt, je härter kommt die Verzweiflung wie ein Bumerang zurück. Je mehr der Verzweifelte dem verzweifelten Selbstsein auszuweichen versucht, desto intensiver ist sein ewiges Sterben (vgl. 134 / 14,32ff). Kierkegaard stellt die Forderung auf, dass der Mensch sich als Geist bewusst zu sein habe (159 / 43,22ff), und weist damit auf die Erlösung von der Verzweiflung hin. Er – das ist er als Verzweifelter, der vom Bewusstsein seiner wahren Verzweiflung abweicht – soll sich der Durchsichtigkeit aussetzen, die ihm in seinem ursprünglichen Selbstsein von seinem wahren Grund her eigen ist. Ihm soll das Bewusstsein, das er als Verzweifelter hat, bewusst werden. Dadurch würde seine ganze Verzweiflung aufgedeckt, die ihn durch und durch beherrscht. Sie würde nicht in der Weise offenbar, dass sie nur vor ihm steht – wie im Spiegel gesehen –,4 sondern sie ginge durch sein Bewusstsein. Jede Faser seiner selbst wäre Verzweiflungsbewusstsein; er durchlitte die Verzweiflung und ginge durch sie hindurch. Deshalb spricht Kierkegaard nicht nur von dem Mut, es zu wagen, Geist zu sein, sondern auch es auszuhalten (158 / 41,28f). Der Mensch ist selbst durch und durch verzweifelt. Außerhalb dieser Bewusstheit ist sowohl die geistlose Unwissenheit als auch das in gewissem Sinn volle Wissen von der Verzweiflung Verzweiflung, aber in keinem Fall ist der Mensch im gänzlichen Bewusstsein seiner Verzweiflung. So führt allein das wahre GeistBewusstsein zum Durchschreiten der gänzlichen Verzweiflung, das das Ende der Verzweiflung bedeutet, weil im wahren Bewusstsein der verzweiflungslose Grund, von dem der Mensch her er selbst ist, durchscheint und es erfüllt.

4 Siehe hier Kapitel 5.3.c.

172

Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

2.

Die Bestimmung der bewussten Verzweiflung durch den Negativitätsbegriff

a)

Der Negativitätsbegriff

Kierkegaard ordnet die Verzweiflungsformen mittels des Negativitätsbegriffs einander zu. Der Verzweifelte, der nicht weiß, daß er verzweifelt ist, ist, verglichen mit dem, der sich dessen bewußt ist, nur um ein Negativum weiter von Wahrheit und Rettung entfernt. Die Verzweiflung selbst ist eine Negativität, daß man von ihr nichts weiß, ist eine neue Negativität (159 / 42,39–43,4).

Die Negation der Verzweiflung wird in der Unwissenheit über sie um eine weitere vermehrt. Man könnte meinen, dass eine Negation durch die andere verändert werden müsste, da sie in ein neues Verhältnis gebracht wird. Bei Kierkegaard negiert wohl die neue Negativität die vorige, auf die sie sich bezieht, aber dadurch ist sie keine wirksame Gegensetzung, sondern nur eine Verstärkung der Vorigen. Eine Negation durch Unwissenheit »tut nichts zur Sache« (159 / 42,27), wie Kierkegaard lapidar formuliert. Die neue Negativität besteht nur aus einer Täuschung, die ebenfalls aus nichts anderem als Verzweiflung herrührt. Die Täuschung in ihrer geistlosen Glücksgestalt muss sich dem wissenden Arzt als Ausdruck der Verzweiflung zeigen, der zu dem gehört, was er negiert. Die Verzweiflung ist ausweg- und hoffnungslos (vgl. 134 / 14,3f). Ob dem Menschen seine Verzweiflung unbewusst bleibt, oder ob er, ihr gewahr geworden, mit aller Anstrengung an ihrer Beseitigung arbeitet, ob er also bewusst oder unbewusst die Verzweiflung negiert, er kann seine Verzweiflung nicht loswerden. Auch der raffinierte fiktive Versuch, in die Verzweiflung hineingehen zu wollen, um sie dadurch zu überwinden, fiele unter die Negation der Verzweiflung. Eine solche Intention könnte nie das ›Trotzdem‹ des Glaubens erreichen, der nicht durch den Untergang, sondern trotz seiner aus der Verzweiflung rettet. Wie kommt man zur Wahrheit, die zugleich die Rettung bedeutet? Um aber zur Wahrheit zu kommen, muß man durch jede Negativität hindurch; denn es gilt hier, was die Volkssage von der Aufhebung eines gewissen Zaubers erzählt: das Stück muß vollständig rückwärts gespielt werden, sonst wird der Zauber nicht aufgehoben (159 / 43, 4–8).

Im Nichtwissen seiner Verzweiflung ist der Verzweifelte nicht durch die Negation der Verzweiflung hindurch-, sondern durch eine Negation weiter von ihr weggegangen. Wenn man, um zur Wahrheit zu gelangen, durch jede Negation ›hindurch‹ muss, ist dann nicht jene Negativität notwendig auszubilden, in der

Die Bestimmung der bewussten Verzweiflung durch den Negativitätsbegriff

173

er als Unwissender sich von Wahrheit und Rettung weiter entfernt? Sie ist nicht zuerst notwendig auszubilden, um durch sie hindurchzugehen, weil sie sich gar nicht wollen lässt. Der Nichtwissende ist seinem Nichtwissen verhaftet, ohne dass er es bewusst gewollt hat, sonst würde er zu den Verzweifelten gehören, die ihre Verzweiflung im Unbewussten verschließen wollen. Wer zur Wahrheit kommen will, muss notwendig durch jede Negativität hindurchgehen, die sein Dasein ganz und gar nicht notwendig auszeichnet. Wenn der Verzweifelte nicht weiß, dass er verzweifelt ist – und das ist in jeder Verzweiflung mehr oder weniger der Fall –, muss er durch die Enttäuschung hindurch, dass er sich geirrt hat in seinem Bewusstsein (zweite Negation), und dann in die Enttäuschung hinein, dass er sich selbst gänzlich verirrt hat (erste Negation). So geht der Mensch durch die einzelnen Negativitäten hindurch, die freilich nur eine große Negativität sind, so wie die Unwissenheit nur ein »Mehr« (159 / 42,29) an Verzweiflung ist. Insofern heißt »durch jede Negativität hindurch« (159 / 43,5) nicht, »daß die Wahrheit die ›Position‹ der Negativität alles Negativen ist« (Ringleben, Kommentar, 168). Kierkegaard beschreibt nicht zufällig mit der ›Negativität der Negativität‹ jene Unwissenheit der Verzweiflung, die nicht durch eine Negation hindurch der Erlösung näher gekommen, sondern vielmehr die Sicherung vor der eigenen Wahrheit ist, wie auch Ringleben sachgemäß interpretiert (Ebd.). Der Durchgang durch jegliche Negativität ist aber nicht im Sinne Hegels zu verstehen, wie Ringleben meint (124). Die Verzweiflung muss nicht erst ihre Negativität bis zum Äußersten entwickeln (Ebd.) und so sich in ihren höchsten Formen ausbilden, um dann in den Glauben ›umzuschlagen‹. Wer durch die Negation der Verzweiflung hindurchgehen will, darf sie nicht weiter negieren, sondern muss zurück zu ihr und sie bejahen, »das Ja der ganzen Persönlichkeit zum und beim Verzweifeln« (154 / 36,24f) geben.

Dass der Mensch durch jede Negativität hindurch muss, heißt nicht, dass er durch eine Negativität hindurch in eine neue fliehen muss, auch wenn er es in seiner Verzweiflung so verstehen könnte, sondern dieses Durchgehen ist gemäß dem im Zitat erwähnten Spielstück ein Rückwärtsgehen (159 / 43,7).5 Und wie bei 5 Vgl. schon SKS 17, 52f, AA:51 / T 1, 122: »Folgendermaßen denke ich mir das Verhältnis zwischen der stellvertretenden Genugtuung (satisfactio vicaria) und des Menschen eigener Sühne für seine Sünde: Es ist wohl wahr, daß auf der einen Seite die Sünden durch Christi Tod vergeben sind; aber auf der andern Seite wird der Mensch deshalb nicht gleichsam durch einen Zauberschlag aus seinen alten Verhältnissen herausgerissen, dem ›Leib der Sünde‹, wovon Paulus spricht (Röm. 7,25). Er muß den gleichen Weg zurückgehen, den er vorangegangen ist, während das Bewußtsein dessen, daß seine Sünden ihm vergeben sind, ihn aufrecht erhält und ihm Mut gibt und die Verzweiflung verhindert – ebenso wie einer, der im vollen Gefühl seiner Sünde sich selbst angibt und nun mit Freimut selbst dem Tod eines Missetäters entgegengeht, weil er fühlt, daß es so sein muß; aber das Bewußtsein dessen, daß die Sache nun an einen anderen und milderen Richter übergeben wird, hält ihn aufrecht.« Am Rand dazu SKS 17, 53, AA:51 / T 1, 122: »Man muß rücklings den gleichen Weg durchlaufen, den man vorwärts gegangen ist, – ebenso wie die Zauberei bei dem Musikstück (Elfenkö-

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Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

einem rückwärts gespielten Stück muss eine solche Rückwendung einem den Verstand rauben; man versteht nicht mehr, was gespielt wird. Aber dadurch hebt sich der Zauber (159 / 43,6) auf, weil die Verzweiflung ja auch den Verstand des Menschen verzaubert hat, wenn er meint, sich selbst irgendwie zu verstehen, obwohl er in Wahrheit nicht um sich selbst weiß. Geht der Mensch ›rückwärts‹ durch die Negativität, versteht sein verzauberter Verstand nichts mehr – aber so kommt er der Rettung näher. Dass das Stück vollständig rückwärts gespielt werden muss, bedeutet die gänzliche Ausrottung der Verzweiflung, mit der erst die Formel zutrifft, dass man sich selbst zu sich selbst verhält. Das Rückwärtsgehen bedeutet letztlich die Umkehr zu der Macht, von der man selbst gesetzt wurde.6 Keine Negativität verdunkelt dann das eigene Selbstsein in seiner durchsichtigen Gründung in Gott. Deshalb ist die ›Aufhebung des Zaubers‹ auch nicht in dem Sinne zu verstehen, dass der ›Zauber‹ der Verzweiflung irgendwie im Selbstsein noch aufgehoben, bewahrt ist. Seine Aufhebung meint seine gänzliche Beseitigung. Indem der Mensch in die Verzweiflung hineingeht, eignet er sie sich nicht an, sondern geht durch sie hindurch und lässt sie hinter sich. Die alles entscheidende Umkehr des Menschen markiert einen zentralen Unterschied zur Hegelschen Dialektik. Ihr Pendant bei Hegel dürfte in der »Umkehrung des Bewußtseins« (Phänomenologie des Geistes, 67,19) liegen, durch die das Bewusstsein im Laufe seiner Entwicklung jeweils eines ›neuen‹ Gegenstandes gewahr wird. Der Hegelsche Begriff der Umkehrung scheint durchaus wichtige Parallelen zum Kierkegaard’schen Gedanken der Umkehr aufzuweisen. Die gemäß Hegel verstandene ›Umkehrung des Bewusstseins‹ ergibt sich aus einem ›Weg der Verzweiflung‹ (61,5), auf dem der Mensch der Unwahrheit seines bisherigen Wissens ansichtig wird. Er ›verliert‹ seinen Verstand, wenn ihm seine bisherige Wahrheit zu nichts wird. Der Verzweifelte ist selbst auch blind für die sich dabei vollziehende Umkehrung des Bewusstseins, »die gleichsam hinter seinem Rücken vorgeht« (68,2). Nur der Phänomenologe begreift jene Bewegung der Umkehrung, während für das betroffene Bewusstsein sich nur ein neuer Gegenstand darbietet. Auch für diese Instanz des wissenden Phänomenologen lässt sich bei Kierkegaard eine Parallele finden: Es ist die Gestalt des Arztes, der um jene »Art der Wendungen, die der Gedanke durchläuft« (179 / 66,29f), weiß, während der Verzweifelte sie nicht begreifen kann. Aber der entscheidende Unterschied zwischen der Kierkegaard’schen und der Hegelschen Konzeption, der jedem Anschluss oder sogar Eingliederung des Kierkegaard’schen Gedankenganges in das Hegelsche System entgegensteht, ist in der Bestimmung des Nichts oder Negativen zu sehen, zu dem die Wahrheit des Bewusstseins wird. Hegel bestimmt dieses Nichts nicht als ein reines Nichts, sondern als ein Nichts dessen, »woraus es resultiert« (Phänomenologie des Geistes, 62,18f). Dieses Nichts ist ein bestimmtes und hat einen Inhalt. Die bestimmte Nichtigkeit geht in den neuen Gegenstand ein. Bei Kierkenigstück), das man von den Elfen lernen kann, erst aufhört, wenn man es genau wieder rücklings abspielt.« 6 Vgl. Kierkegaards Gedanke, »daß das Leben, welches man lebt, Rückgang ist anstatt Fortschritt, und eben dies die Bestimmung, eben dies dasjenige, wofür man vor Gott mit all seiner Klugheit arbeiten soll« (SKS 20, 379, NB5:21 / T 3, 6).

Die Bestimmung der bewussten Verzweiflung durch den Negativitätsbegriff

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gaard ist es dagegen ein reines Nichts, das in der ›Reflexion des Nichts‹ (142 / 23,21) ausgehalten werden muss. Die einzige dem Nichts beigegebene Bestimmung, der Glaube, dessen man bedarf, um die Nichtigkeit aushalten zu können, ist keine Bestimmung dieses Nichts – seinen Untergang zu glauben, ist unmöglich (154 / 37,19f) –, sondern diesem entgegengesetzt, ohne damit der Nichtigkeit ihrer Totalität zu berauben, weil der Glaube in seiner Wendung zu Gott sich auf keine bestimmte Möglichkeit konzentriert, sondern alles Gott anheimstellt: für Gott ist in jedem Augenblick alles möglich. Bei Kierkegaard sind die verschiedenen Formen der Verzweiflung Formen der Verirrung des Menschen, deren gänzlicher Nichtigkeit sich der Mensch stellen muss, wenn er er selbst werden will. Hegel würde die Erkenntnis einer solchen Nichtigkeit höchstens als eine Form des Skeptizismus identifizieren, der nicht mehr vermag, als alles »in denselben leeren Abgrund zu werfen« (Phänomenologie des Geistes, 62,25f). Dagegen wird für ihn »in der Negation der Übergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt« (62,28ff). Der Weg der Verzweiflung in ihren verschiedensten Ausprägungen gehört für ihn zu der Bewegung und dem Werden hin zum absoluten Wissen. Dagegen setzt für Kierkegaard die Bewegung des Selbst erst mit dem Glauben ein, das verzweiflungsvolle Selbst jat± d}malim bewegt sich nicht, es zaubert höchstens Hirngespinste seiner selbst. Bei Hegel vollzieht sich die Umkehrung des Bewusstseins in der Kontinuität einer Entwicklung, bei Kierkegaard bedeutet die Umkehr des Menschen den augenblicklichen Neueinsatz: Der Mensch in seinem wahren Selbstsein tritt ins Dasein.

b)

Der rein dialektische und der ethisch-dialektische Sinn der Verzweiflung

Inwiefern der Unwissende weiter von Wahrheit und Rettung entfernt ist als die anderen Verzweifelten in ihren jeweiligen Formen, wird von Kierkegaard noch genauer gefasst. Die weitere Entfernung im rein dialektischen Sinne (159 / 43,8f) besteht darin, dass sich die Negativität der Verzweiflung um die der Unwissenheit darüber vermehrt hat. Die Dialektik dürfte darin bestehen, dass der Betreffende nicht von seiner Verzweiflung weiß und insofern nicht verzweifelt ist, aber gerade darin vom Zustand des Nicht-Verzweifelt-Seins weit entfernt ist.7 Würde er die Sinnestäuschung seiner Unwissenheit durchschauen, wäre er durch die äußerste Negativität im rein dialektischen Sinne hindurchgegangen. Aber nun käme es darauf an, ob er so um seine Verirrung weiß, dass er in ihr 7 Schulz hat in einer sehr differenzierten Analyse des Kapitels ›Die sokratische Definition der Sünde‹ (201–208 / 88–98), das hier nicht eigens thematisiert werden soll, den Begriff der Unwissenheit bei Kierkegaard als Irrtum interpretiert. Neben Positivität, Gegenstandverfehlung (objektiver Irrtum) und Selbstverfehlung (subjektiver Irrtum) benennt Schulz noch ein viertes Strukturmoment: »Der Irrtum kann nämlich nicht ohne ein Moment von Wahrheit Irrtum sein. Der Irrende kann sich m.a.W. in seinem Urteil über etwas, dem er etwas Falsches prädiziert, nur dadurch irren, daß er in der falschen Prädikation deren Worüber gleichwohl richtig erfaßt und darauf korrekt referiert. Der Irrtum hängt an der Voraussetzung der Wahrheit dessen, über das er sich – in irgendeiner Hinsicht – irren können soll« (Jener überaus zählebige Mißstand, 302, Hervorhebung im Original).

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Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

verzweifelt, oder so, dass er über sie verzweifelt – und sich so tiefer in die Verzweiflung stürzt. Im letztgenannten Fall setzte der andere ethisch-dialektische Sinn ein, der für den über sich Verzweifelten bedeutete, dass er bewusst in seiner Verzweiflung bliebe und dementsprechend weiter als der Unwissende von der Rettung entfernt wäre (159 / 43,11–14). Dieser Sinn ist im Unterschied zum rein dialektischen als ethischer anzusehen, weil das Bleiben in der Verzweiflung sich als bewusstes Wollen vollzieht, das Trotz ist. Der doppelte dialektische Sinn hinsichtlich der Verzweiflung macht deutlich, dass es sich bei den verschiedenen Verzweiflungsformen nicht um eine bloß ansteigende Negativitätsreihe handelt, in der man sich von Wahrheit und Rettung entfernt. Eher deutet sich eine Negativitätsreihe an, an deren Anfang ein rein dialektisches extensives Höchstmaß an Negativität und am Ende ein ethischdialektisches intensives Höchstmaß an Negativität steht. Die Verzweiflung ist in keiner Phase dieser Reihe wirklich näher an der Rettung, aber in jeder Phase ist die Rettung möglich. Kierkegaard wird auch im Folgenden den Leser über die Nähe zur Rettung aus der Verzweiflung täuschen und enttäuschen. Es wird nur so scheinen, als ob der Verzweifelte mit jeder neuen Phase seines Zustandes der Rettung näher kommt. Kierkegaard enttäuscht den Leser, um ihn auf seine wahre Enttäuschung aufmerksam zu machen. Im Durchgang durch die Gestalten der Verzweiflung nimmt die Negativität der Unwissenheit immer mehr ab, und der Verzweifelte spürt seine Verzweiflung immer intensiver, so dass Wahrheit und Rettung zu nahen scheinen. Doch die Zunahme der Intensität an Verzweiflung hat zur Folge, dass der Verzweifelte mit ständig wachsendem Trotz seiner Verzweiflung zu fliehen sucht und sie dadurch intensiviert. Er entfernt sich in dem Maße von Wahrheit und Rettung, wie er sich ihnen annähert. Der dialektische Sinn der Verzweiflung springt nirgendwo über zu jenem dialektischen Sinn, der dem Glauben eigen ist. Wo der Mensch im Glauben durch die Verzweiflung hindurchgeht, wird die Verzweiflung anders verstanden als dort, wo der Verzweifelte in Unwissenheit oder auf der Flucht ist. Im Glauben wird leidenschaftlich verstanden, was die im doppelt-dialektischen Sinn aufgezogene Reihe von Verzweiflungsgestalten als ganze ausdrückt: dass man in der Verzweiflung ohne Ausweg und Rettung ist. In den ansteigenden Phasen der Reihe selbst wird das nicht verstanden, weil man sich ständig der Rettung zu nähern glaubt. Die Verzweifelten an Anfangs- und Endpunkt der Verzweiflungsformen sind vom wahren Verzweiflungsverständnis auf ihre je eigene Weise weit entfernt. Zuerst weiß der Verzweifelte noch gar nicht, dass er der Rettung bedarf, und am Ende will er gar nicht gerettet werden. Freilich ist diese Distanznahme des Verzweifelten zu seiner Verzweiflung nur ein Schein, ein Zauber, weil der Mensch in Wahrheit ganz und gar verzweifelt ist, ohne dass eine Distanz zur Verzweiflung bestehen könnte. Der Mensch im Glauben durchschaut diesen Zauber und

Die Bestimmung der bewussten Verzweiflung durch den Negativitätsbegriff

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will gerade dieser Verzweifelte sein, der sich ständig von seiner Verzweiflung distanziert hat. Insofern – um im Bild Kierkegaards zu bleiben (159 / 43,5–8) – bricht er das zauberische Spielstück der Verzweiflung nicht einfach ab, sondern spielt es rückwärts. Im Glauben tritt an die Stelle der Verzweiflungsdialektik eine neue Dialektik, die nicht mehr auf einem Schein beruht. Die Dialektik des Glaubens enthält nicht eine relative Annäherung an die Rettung, in der man sich zugleich auch von ihr entfernt, sondern bei ihr stehen die dialektischen Glieder fest. So sicher dem Verzweifelten der Untergang ist, so gewiss ist ihm im Glauben die göttliche Rettung. Hier herrschen Nichts und Alles, so dass es keine der Verzweiflung analoge Reihe von Glaubensgestalten geben kann. Kierkegaard ruft mit jeder Verzweiflungsgestalt den Schein hervor, sie sei näher an der Rettung oder weiter als die anderen von ihr entfernt, und zerstört diesen Schein sodann. Die größere Nähe zur Rettung ist in einem dialektischen Sinn zugleich die größere Entfernung von ihr, so dass sich kein echter Fortschritt hin zur Rettung und Wahrheit ergibt. So muss die im ethisch-dialektischen Sinne intensivere Verzweiflung weiter als die Verzweiflung der Unwissenheit von der Rettung entfernt scheinen (159 / 43,11–14). Eigentlich dürfte man annehmen, dass derjenige, der bewusst in der Verzweiflung bleibt, eindeutig weiter von seiner Rettung entfernt ist als der Unwissende, der doch noch die Chance besitzen müsste, sich für oder gegen das Bleiben in der Verzweiflung zu entscheiden. Der bewusst Bleibende hat sich schon so in seiner Verzweiflung verhärtet, dass er wohl aus ihr nicht mehr herausfinden wird, während der Unwissende in seiner Haltung zu seiner Verzweiflung noch offen scheint. Aber diese Art von Unschuld des Unwissenden ist nicht als eine gewisse ›neutrale‹ Offenheit zu verstehen, sondern als neue Negativität erhält sie den äußerst gefährlichen Schein aufrecht, es bestünde keine Verzweiflung (159 / 43,18–21). Die Unwissenheit steht nicht beziehungslos zur Verzweiflung, weil sie über sie unwissend ist – gerade das ist der Schein, in dem sie sich befindet. Vielmehr ist sie als Negativität dialektisch an die Verzweiflung gebunden. Die Unwissenheit manifestiert sich bei dem Betreffenden als Glück, in dem der Mensch sich nicht verzweifelt glaubt. Die Unwissenheit ist keine Offenheit für das Verzweiflungsbewusstsein, sie ist eine Sicherung dagegen. Sie ist eine höchst gefährliche Form der Verzweiflung, weil sie den Menschen unbemerkt im Griff hat. Wenn auch der im ethisch-dialektischen Sinn Verzweifelte im Hinblick auf sich selbst falsch in seinem Verzweiflungsbewusstsein reagiert, so agiert er doch wenigstens, während der Unwissende sich nur von seinem Glück treiben lässt. Hier ist er »ganz sicher in der Gewalt der Verzweiflung« (159 / 43,20f), dort entfaltet der verzweifelnd Bleibende immerhin eine gewisse Eigenmacht.

178

Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

3.

Die graduelle Bestimmung der bewussten Verzweiflung

a)

Der Zusammenhang der Vorstellung von der Verzweiflung und von sich selbst

Kierkegaard stellt zwei Erfordernisse auf, die es zur Ausbildung einer bewussten Verzweiflung bedarf. Es sind die wahre Vorstellung der Verzweiflung und die Klarheit über sich selbst (162 / 46,27–30). Er suggeriert, man käme zur bewussten Verzweiflung durch die Erfüllung zweier unterschiedlicher Vorgänge, und rekapituliert damit die Vorgehensweise des Verzweifelten, der sich eine Vorstellung davon macht, was Verzweiflung ist, sie auf sich anwendet, um Klarheit über sich selbst zu bekommen, und sie gewonnen zu haben meint, wenn er sich verzweifelt nennt. Doch diese Vorgehensweise ist in sich problematisch, weil man fragen muss, inwieweit Klarheit und Verzweiflung sich ›zusammendenken‹ (162 / 46,29f) lassen. Die Verzweiflung als Verdunklung seiner selbst, als Unwissenheit über sich selbst, muss der Klarheit widersprechen. Aber der Verzweifelte, der eine Vorstellung von seiner Verzweiflung zu haben meint, glaubt darin beides übereinbringen zu können. Ihm ist seine Verzweiflung klar geworden, und er weiß über seinen verzweifelten Zustand Bescheid. Er meint, auf seine Verzweiflung aufmerksam geworden zu sein, so dass er an ihr arbeiten kann (130 / 10,17–28). Damit ist er nicht so verzweifelt, dass die Verzweiflung ihm den Verstand rauben würde, dass er sich keine Vorstellung von ihr machen könnte, noch so verzweifelt, dass er sich selbst nicht mehr durchschauen könnte. Für ihn lassen sich Klarheit über sich selbst und Verzweiflung zusammendenken, weil sein ins Auge gefasstes Selbstsein seiner Vorstellung entspringt. In der Vorstellung seiner Verzweiflung reflektiert sich der Mensch selbst und meint sich klar zu sehen. Er merkt nicht, dass es nur die Klarheit jenes Spiegels der Möglichkeit ist, von dem gilt, dass er im höchsten Maße unwahr ist (vgl. 152 / 34,37f). Der Verzweifelte stellt sich selbst in seiner Verzweiflungsvorstellung vor, ohne darin die verfälschende Wiedergabe des Selbst, welche die Möglichkeit des Selbst ist (147 / 28,10ff), zu durchschauen. So ist ihm zweifellos recht zu geben, wenn er sich nach seiner Vorstellung verzweifelt nennt (162 / 46,14ff). Kierkegaard schürt bei seinem Leser ständig die Erwartung, der Verzweifelte sei ganz nahe an seiner Befreiung, weil dieser das Spezifische an der Verzweiflung, dass er um sie nicht weiß (160 / 44,11f), mit seinem Verzweiflungsbewusstsein zu überwinden scheint. Zumindest müsste mit dem anfänglichen Bewusstsein der Verzweiflung diese gegenüber dem gänzlich Unwissenden in gewisser Weise schon gemildert sein. Zwar ist der Verzweifelte nun sich als Verzweifelter bewusst, er verzweifelt insofern mehr als der Unwissende, aber er hat diese erste Negativität der Unwissenheit überwunden.

Die graduelle Bestimmung der bewussten Verzweiflung

179

Wenn Kierkegaard ihm allerdings sagt, dass die Verzweiflung »weitaus tiefer« (162 / 46,21) steckt, als er weiß, hat sich die Negativität der Unwissenheit wieder eingestellt. Das Spezifische an der Verzweiflung, die Unwissenheit über sie, bleibt bestehen. Wäre sich der Mensch über beides, seine Verzweiflung und sich selbst, wirklich im Klaren, müsste das ihn aus seiner Verzweiflung herausreißen. Aber dieses Herausreißen kann nur so geschehen, dass der Betreffende gänzlich »entsetzt« (162 / 46,35) über sich selbst wird. In diesem gänzlichen Entsetzen steckt die gänzliche Verzweiflung, die der bewusst Verzweifelte in seiner Verzweiflungsvorstellung vermeidet. Sein Entsetzen hält sich in den Grenzen seiner Vorstellung, und er behält noch einen klaren Kopf in seiner Verzweiflung. Seine Vorstellung, so entsetzlich sie auch sein mag, nimmt ihm nicht die Möglichkeit, auf sie zu reagieren. Er kann sich von seiner Vorstellung wieder abwenden oder sie zu verändern versuchen. Hingegen sind bei demjenigen, der gänzlich entsetzt über sich ist, alle Möglichkeiten seiner selbst geschwunden, und er sieht nur seinen sicheren Untergang. Er ist so entsetzt, dass er aufhört, über seine Verzweiflung zu verzweifeln. Alle vermeintlichen Möglichkeiten, denen er nachgelaufen ist, erweisen sich als Schein und Unwissenheit. Sie tragen das Spezifikum der Verzweiflung und sind eben diese. Das gänzliche Entsetzen löst den Schein auf, mit dem der Verzweifelte sich von seiner Verzweiflung noch distanziert, und die gänzliche Verzweiflung seiner selbst ist da – in einer solchen Klarheit, dass man selbst auf seinen Grund hin durchsichtig wird, dem als göttliche Macht alles möglich ist. Von diesem Grund her hört man selbst auf, verzweifelt zu sein, und der durch die Verzweiflung hindurchgegangene Mensch, der verzweifelt gewesen ist, hat die »wahre Vorstellung« (162 / 46,13) hinsichtlich dessen, was Verzweiflung ist. »Nur der Christ weiß, was unter der Krankheit zum Tode zu verstehen ist« (125 / 7,1f). Wenn Kierkegaard aber sagt, dass er die Möglichkeit der Vereinigung von Klarheit über sich selbst und über die Verzweiflung noch nicht entscheiden will (162 / 46,30–37), lässt er den Schein einer bewussten Verzweiflung, die beides zu vereinen scheint, noch bestehen. Der Schein soll sich im Laufe der Untersuchung selber als solcher zeigen, wenn dieser erste Abschnitt der KT nicht in die Befreiung von der Verzweiflung mündet, wie der ›Fortschritt‹ zur bewussten Verzweiflung suggeriert, sondern zur höchsten Verzweiflung führt, ohne dass das Entsetzen so groß wäre, dass es den Verzweifelten aus seinem Zustand auch nur ein bisschen herausreißen könnte.

180 b)

Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

Die verschiedenen Grade des Bewusstseins

Kierkegaard macht darauf aufmerksam, daß so, wie der Grad des Bewußtseins davon, was Verzweiflung ist, höchst unterschiedlich sein kann, so auch der Grad des Bewußtseins den eigenen Zustand betreffend, daß er Verzweiflung ist (162 / 47,4–7).

Der sich seiner Verzweiflung bewusst zu sein Meinende versteht seine Verzweiflung immer besser, weil er sich ihrer Intensität mehr bewusst wird. Insofern steigt sein Grad des Bewusstseins davon, was Verzweiflung ist, weiter an. Er scheint sich dem Entsetzen der Krankheit zum Tode anzunähern, da sie ihm immer weniger als Unruhe, Disharmonie, psychische Labilität, Zerrissenheit oder Ähnliches erscheint, sondern als Verzweiflung. Der Grad der Bewusstheit wird steigen – fast bis zur absoluten Bewusstheit und Durchsichtigkeit, wie sie der Teufelsgestalt nach Kierkegaard eigen ist (157 / 40,19–22). Weil aber die Steigerung darauf beruht, dass der Verzweifelte vor seinem eigenen verzweifelten Zustand flieht, intensiviert er damit den göttlichen Zwang, durch den er bei seinem verzweifelten Selbstsein gehalten wird. Diese steigende Verzweiflungsnähe will er zugleich verdunkeln. Der Verzweifelte flieht nicht mehr ›unbewusst‹ vor seiner Verzweiflung, sondern immer bewusster hüllt er seinen Zustand in Dunkelheit, je bewusster er sich seiner wird (vgl. 163 / 47,28–34). Die Dunkelheit modifiziert sich in eine Verdunklung, einen Akt des Verschließens vor sich selbst. Der Verzweifelte wird sich in seiner bewussten Verdunklung zugleich unbewusst verdunkeln, weil ihm letztlich nicht bewusst ist, was er eigentlich macht (163 / 47,31ff). In der höchsten Verzweiflung wird der Verzweifelte noch meinen, mit seiner verzweifelten Selbstgestalt einen Beweis gegen das Dasein schlechthin in der Hand zu halten.8 Dass ein solcher Protest wiederum nur Verzweiflung ist, versteht er nicht, und da er sich selbst als Protest versteht, ist ihm also sein ganzes Dasein verdunkelt. Einen solchen Beweis dürfte jenes personifizierte Maximum der Verzweiflung, der Teufel, nicht mehr in der Hand zu haben meinen, dazu durchschaut er sich zu gut. An eine solche Möglichkeit kann er nicht glauben, wenn er absolute Bewusstheit und Durchsichtigkeit ist (157 / 40,21f). Er trotzt Gott, ohne noch mit dem Schein eines Beweises der Rechtmäßigkeit seines Trotzes zu arbeiten. Insofern kann sich der Mensch nicht zur Teufelsgestalt aufschwingen. Er bleibt bei einem bestimmten Grad von Bewusstsein, bei dem sich Erhellung und Verdunklung mischen. Der Mensch verdunkelt sich selbst und durchschaut sich dann auch nicht mehr selbst. Der gewonnene Grad an Helligkeit ist eigentlich der

8 Siehe hier Kapitel 9.3.e.

Die graduelle Bestimmung der bewussten Verzweiflung

181

Grad der bewussten Verdunklung, der mit der unbewussten Dunkelheit seiner selbst einhergeht. Kierkegaard hat mit den verschiedenen Graden an Bewusstheit das spezifische Feld eröffnet, in dem sich die Verzweifelten aufhalten. Der Verzweifelte bewegt sich in der Grauzone des ›Halb-Dunkels‹ hinsichtlich seines Zustandes (163 / 47,11ff). Kierkegaard wird wohl zeigen, wie in den weiteren Verzweiflungsformen eine Steigerung des Bewusstseins von dem, was Verzweiflung ist, stattfindet. Einer der größten Fortschritte wird in dem Verständnis der Verzweiflung als Tat und nicht als Erleiden liegen (176f / 63,13–21). Der Verzweifelte bekommt eine wahre Vorstellung von der Verzweiflung – und doch besteht diese Tat nicht in dem heilvollen Verzweifelnwollen, sondern geradezu in seinem Gegenteil: Die Tat ist Trotz, mit dem der Verzweiflung getrotzt wird. Ebenso wird Kierkegaard zeigen, wie eine ›Steigerung im Bewusstsein vom Selbst‹ stattfindet (176 / 63,1–13). Ein entscheidender Fortschritt wird in dem Bewusstsein des eigenen unendlichen Selbstseins liegen. Aber diese Erkenntnis ist bei näherem Hinsehen eine Karikatur der wahren Unendlichkeit, weil das so gewonnene unendliche Selbst nur eine abstrakte Form der Selbstgestalt ist. Es ist ein abstraktes Selbst, das man durch eine phantastische Vorstellung seiner selbst gewinnt.9 Die ›Fortschritte‹ im Verzweiflungsbewusstsein dürfen nicht in der Weise verstanden werden, als könnte der Mensch die einzelnen Verzweiflungsformen nacheinander durchlaufen. Die Reihe der Verzweiflungsgestalten ist nicht nur darin begrenzt, dass an ihrem Anfang und Ende keine Möglichkeit besteht, der Verzweiflung zu entkommen, sondern auch innerhalb der Reihe sind die meisten Verzweiflungsgestalten für sich abgeschlossen. Die Bestimmung Bewusstsein, unter der die Verzweiflung in Kapitel C.B des ersten Abschnitts betrachtet wird, darf nicht als eine der Verzweiflung inhärente dynamische Größe verstanden werden, sondern als ein Gesichtspunkt, der die einzelnen Gestalten einander zuordnet, ohne dass diese nahtlos ineinander übergehen können. Kierkegaard nimmt den Verzweifelten nicht mit auf einen Weg der Bewusstwerdung seiner Verzweiflung, der im äußersten Fall nur bei einer dämonisch zu nennenden Verzweiflung enden könnte, sondern er lässt ihn in seiner jeweiligen Verzweiflungsgestalt stecken. Der Mensch soll sich nicht einmal von einer banalen Verzweiflung zu einer höheren aufschwingen können, wie sie nur einigen wenigen vergönnt ist.

9 Siehe hier Kapitel 8.1.

182 c)

Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

Der Bewusstseinszustand des ›Halb-Dunkel‹

Kierkegaard führt unter dem Gesichtspunkt des Bewusstseins zu Beginn des Abschnitts C.B.b auf psychologisch raffinierte Weise den vermeintlichen Fortschritt im Bewusstsein vor, den der Verzweifelte in seiner Aufmerksamkeit auf sich selbst erzielt. Kierkegaard charakterisiert den häufigsten Zustand des Verzweifelten als ›Halb-Dunkel‹-Bewusstsein (163 / 47,13) über sich selbst. Wie kann die Verzweiflung ans Licht kommen? Der heilvolle Weg aus dem Halb-Dunkel zur eigenen Durchsichtigkeit besteht nicht darin, dass dieses ›Dämmerlicht‹ immer lichter gemacht würde. Kierkegaard spricht einem ›halbbewussten‹ Verzweifelten nicht zu, er habe schon die ›halbe Wegstrecke‹ aus der Verzweiflung geschafft, und wenn er noch mit ein bisschen mehr Anstrengung sich auf seinen Zustand besönne, hätte er schließlich sein Halb-Dunkel gänzlich gelichtet. Die Verzweiflung steckt weitaus tiefer (vgl. 162 / 46,20f), als dass ihr mit einer solchen Empfehlung beizukommen wäre. Der Weg aus dem Halb-Dunkel führt eher in die gänzliche Dunkelheit hinein, wo man sich selbst so verdunkelt ist, dass man durch und durch verzweifelt. Nur so gewönne man Klarheit über seinen Zustand. Doch der Verzweifelte kann eine solche Umkehr in die Dunkelheit hinein nicht verstehen, dazu hängt er zu sehr an dem Licht, das er in seinem Halb-Dunkel noch zu haben meint. Dieses Licht ist aber nur das Halb-Dunkel, das er sich auf die eine oder andere Weise erhält. Der Verzweifelte spürt bei sich, dass er verzweifelt ist – das Bewusstsein seines Zustandes scheint da zu sein, aber er spürt es eher wie eine ihm unbekannte Krankheit. Der Widerwille des Verzweifelten gegen das, was er an sich selbst erkennen könnte, ist auch da, freilich ganz schwach, fast reine Passivität, wenn er es sich nicht so ganz eingestehen will, welche Krankheit es ist (163 / 47,16f). Der Widerwille scheint am nächsten an dem Verzweiflungsbewusstsein ›dran‹ zu sein, weil seine Reaktion deutlich das Spüren dieser eigentlich offensichtlichen Krankheit an sich trägt. In diesem ›Es-sich-nicht-so-ganz-eingestehen-wollen‹ liegt das Verzweiflungsbewusstsein eingeschlossen. Hier scheint das HalbDunkel am lichtesten zu sein, so dass nur noch ein kleiner Ruck, ein bisschen Nachgeben des Verzweifelten fehlt, um sich seines Zustandes bewusst zu werden. Man möchte meinen, dass es nur noch ›eines halben Grades‹ mehr an Bewusstsein seiner selbst bedürfe, und der Verzweifelte sei sich über sich selbst im Klaren. Doch was wird passieren, wenn das Bewusstsein wächst? Im folgenden Halb-Dunkel-Zustand, den Kierkegaard beschreibt, ist der Grad des Bewusstseins schon etwas angestiegen, allerdings auf fatale Weise (163 / 47,22–27). Schien eben der Verzweifelte an dem erlösenden Verzweiflungsbewusstsein ganz nah ›dran‹ zu sein, so ist aus dem zaghaft verweigerten Eingeständnis nun ein abwehrendes Handeln hinsichtlich seines eigenen Zustandes

Die graduelle Bestimmung der bewussten Verzweiflung

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geworden. Der Widerwille, der nächste Anknüpfungspunkt für das Verzweiflungsbewusstsein, weil der Mensch es hier am intensivsten spürt, hat sich verstärkt. Es wird nun bewusster dem Verzweiflungsbewusstsein gegengearbeitet, aber noch indirekt, indem man nicht bewusst ihm etwas entgegensetzt, sondern ausweichend sich in oberflächliche Zerstreuungen ›vertieft‹. Eine charakteristische Verschiebung des Verzweiflungsbewusstseins ist ansatzweise zu beobachten. Im zuerst beschriebenen Fall des Verzweiflungsbewusstseins bemerkte Kierkegaard, dass es dem Verzweifelten fast deutlich geworden wäre, dass er verzweifelt ist, wenn sich nicht ein schwaches Widerstreben gemeldet hätte (163 / 47,17f). Nun hat sich der Widerwille verstärkt und das Verzweiflungsbewusstsein, das dem schwachen Widerstreben noch eher entgegenstand, befindet sich gleichsam im widerwilligen Tun selbst. Eigentlich müsste der Verzweifelte sich mehr von seinem Verzweiflungsbewusstsein entfernt haben, wenn er bewusst versucht, es im Dunklen zu halten. Aber weil sein Bewusstsein weiter erwacht ist und untrennbar mit seiner Verzweiflung verbunden ist, nimmt die Nähe des Verzweifelten zu seinem Verzweiflungsbewusstsein nicht ab, sondern die Verzweiflung läuft dem Verzweifelten in seinem Widerwillen gleichsam hinterher. Die Nähe zur Verzweiflung hat sich praktisch nicht verändert. So wie es dem Verzweifelten zuvor ›fast deutlich‹ war, ist es ihm nun ebenso »nicht ganz deutlich« (163 / 47,26), dass sein Zustand Verzweiflung ist. Sich die Verzweiflung bewusst zu machen und durch sie hindurch zu gehen, wäre in jedem Stadium der Verzweiflung nur ein kleiner Schritt, den der Verzweifelte gehen müsste. Insofern kann der Verzweifelte in jeder Gestalt seiner Verzweiflung zu seiner Rettung ›abbiegen‹. Aber es wäre ein Schritt der Umkehr, ein Schritt rückwärts in die Verzweiflung hinein, wo sich der eigene Zustand nicht mehr willentlich beeinflussen ließe. Doch da wird der Widerwille des Verzweifelten wach. Trotz dessen gleichbleibender Distanz zu seiner Verzweiflung hat diese nun an Intensität zugenommen, sie drückt sich in der verstärkten Bewusstseinsaktivität des Verzweifelten aus. Im bewussteren Widerwillen steckt die Negativität der Verzweiflung. Dieser Widerwille kann sich noch weiter verstärken (163 / 47,28–33). Der Verzweifelte erlangt ein hohes Reflexionsniveau seiner selbst und dringt in tiefere Bewusstseinsschichten vor. Aber hat er sich damit vergeistigt? Kierkegaard spricht davon, dass der Verzweifelte daran arbeite, seine Seele in Dunkelheit zu tauchen (163 / 47,28f) und dazu psychologische, eben auf die Seele bezogene Einsichten entwickle. Die Seele ist für Kierkegaard der Ort der Verzweiflung, was allerdings nur unter der Bestimmung Geist erkannt wird. Unter der Bestimmung Seele ist der Mensch eine seelisch-leibliche Synthese (129, 158 / 9,16–21; 42,3f), deren Anlage, Geist zu sein, auch eine geistige Bestimmung ist. Die Seele ist der Ort der Erfahrung

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der Verzweiflung, weil hier die Abwesenheit des Geistes verzweifelt erfahren werden kann. In der Seele des Menschen liegt die Negativität der Verzweiflung; in ihr weicht er seiner Anlage, Geist zu sein, aus und verliert sich entweder in der Sinnlichkeit oder greift zu psychologischen Mitteln, die er gegen seine Seele richtet, um nicht der Verzweiflung in ihr gewahr werden zu müssen. Würde der Verzweifelte seine Seele nicht mehr in Dunkelheit tauchen, müsste er sich ihrer verlorenen Geistigkeit aussetzen und stände unter der Bestimmung Geist. Stattdessen versucht er die Seele gleichsam mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen, sie psychologisch raffiniert in Dunkelheit zu hüllen (163 / 47,28f), weil er nicht verzweifeln will. Seine psychologische Einsicht ist selber Verzweiflung, mit der er seinen verzweifelten Seelenzustand zu bekämpfen versucht. Mit seiner im Grunde verzweifelten Einsicht und eben solchem Scharfsinn vergeistigt sich der Verzweifelte in gewisser Weise, weil er sich durchaus immer mehr durchsichtig wird; doch das ist nicht die Geistigkeit, zu der er bestimmt ist. Diese bleibt mit der wahren Verzweiflung im Dunklen. Der Verzweifelte wird in seinem Widerwillen mit der Verzweiflung in seiner Seele konfrontiert; er kann von sich widerwillig sagen, dass er verzweifelt ist, aber dass seine Verzweiflung noch weitaus tiefer steckt, nämlich in seinem widerwilligen Verhalten selbst, das bleibt ihm im Dunklen. Dem Verzweifelten entgeht in seinem Scharfsinn, dass sein Bemühen seiner verzweifelten Seele selbst entspringt.

d)

Das Zusammenspiel von Erkenntnis und Wille im Verzweiflungsbewusstsein

In jedem der geschilderten Fälle gehen Erkenntnis und Wille des Verzweifelten in eigentümlicher Weise zusammen. Erkenntnis und Wille intensivieren sich von Fall zu Fall. Der noch schwach Widerwillige besitzt eine nur geringe Selbsterkenntnis, wenn er die Verzweiflung einmal bei sich und dann wieder bei Äußerem vermutet. Ist der Widerwille hingegen kräftig bei seiner Arbeit, ist mit ihm auch die Selbsterkenntnis in tiefere Schichten vorgedrungen. Ohne die Erkenntnis wäre der Wille blind und könnte gar nicht seine einsichtsvolle verdunkelnde Tätigkeit verrichten, ebenso läge die Erkenntnis ohne den Willen danieder, weil ihr der Ansporn fehlte, mehr zu erkennen. Wieso irrt man sich leicht, wenn man den Akzent nur auf die Erkenntnis oder nur auf den Willen legt (163 / 47,35ff)? Um das zu verstehen, ist noch ein anderes Zusammenspiel von Erkenntnis und Wille zu analysieren, wie es ansatzweise in den geschilderten Fällen beobachtet werden kann. Gegenüber einem, der zögernd sich nicht so ganz eingestehen will, welche Krankheit ihn plagt (163 / 47,13–22), hat ein anderer einen

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stärkeren Willen, weil er seinen Zustand willentlich im Dunklen zu halten versucht (163 / 47,22–27). Äußerlich muss es jedoch genau umgekehrt scheinen. Bei ersterem ist der Wille da, sich etwas einzugestehen, aber eben doch nicht ganz aufgrund jenes ›Häkchens‹ des Widerwillens. Beim Verzweifelten stärkeren Willens dringt der Wille weitaus weniger nach außen, wenn dieser Mensch zur Verdunklung seines Zustandes die Zerstreuung wählt. Er lässt sich willentlich von allem Möglichen mitreißen, als ob er nur einen sehr schwachen Willen hätte. Der Scharfsinnige dürfte dieses Verhalten noch intensivieren (163 / 47,28–33) und der in höchstem Maße an sich Arbeitende versucht sein Äußeres so gleichgültig wie möglich zu halten (186 / 75,5–8), dass nur keiner den Widerwillen bemerkt, mit dem er gegen seine Verzweiflung ankämpft. In dieser Hinsicht ist sein Wille gänzlich der Außenwelt verborgen. So kann man sich über den Menschen irren, wenn man den Akzent nur auf den Willen legt. Wieso kann der Mensch sich über einen anderen ebenso irren, wenn er den Akzent nur auf dessen Erkenntnis legt? Betrachtet man den Verzweifelten nur unter dem Aspekt der Erkenntnis, nimmt diese von einem diffusen Spüren seiner kranken Selbstgestalt bis zu echter psychologischer Einsicht zu. Aber die Erkenntnis allein würde nicht ausreichen, weil der Verzweifelte sie zugleich willentlich für sich zurücknimmt und verdrängt, wenn er immer stärker den eigenen Zustand im Dunkeln zu halten versucht. Nur wenn der Akzent auch auf den Willen des Verzweifelten gelegt würde, könnte der Irrtum bemerkt werden, und seine psychologische Kenntnis zeigt sich aus einem Widerwillen geboren, der einer echten Selbsterkenntnis widerstrebt. Statt wirklicher, das heißt auf das Selbstsein bezogener, Seelenkenntnis sammelt der Verzweifelte nur phantastische Erkenntnisse, die gleichwohl durch ihre Scharfsinnigkeit blenden. In ihrer Phantastik können sie dem Widerwillen in seinem Werk behilflich sein, die Seele immer mehr zu verdunkeln.

e)

Die Interpretation der Verzweiflungsformen unter den Aspekten der Stärke und Schwäche

Die Steigerung von Verzweiflungsbewusstsein und Selbst-Bewusstsein geschieht in den zwei Verzweiflungsformen der Stärke und der Schwäche. Kierkegaard nimmt damit die Differenz von verzweifeltem Nichtselbstseinwollen (Schwäche) und verzweifeltem Selbstseinwollen (Stärke) auf. Aufgrund ihrer relativen Gegensätzlichkeit sind beide Formen in jeder echten Verzweiflung anzutreffen.10 Die sogenannte Verzweiflung der Schwäche, verzweifelt nicht man selbst sein wollen, ist auch in der Verzweiflung der Stärke präsent. In der Stärke, man selbst 10 Zu ihrer gegenseitigen Ableitung siehe hier Kapitel 2.5.

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Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

sein zu wollen, liegt die Schwäche, mit dieser Stärke auch nicht man selbst sein zu wollen, nicht seine verzweifelte Selbstgestalt sein zu wollen. Diese Schwäche wird bei einem derart Verzweifelten dann hervortreten, wenn er sie gänzlich durch seine Stärke auszulöschen scheint, so dass schließlich das willensstärkste Selbstsein der höchsten Verzweiflung so direkt mit seiner Schwäche konfrontiert wird, dass der Mensch sie in der ihm eigenen verzweifelten Weise übernehmen will.11 Eine Stärke ist auch dort nicht zu verneinen, wo jemand verzweifelt nicht er selbst sein will. Wenn ein Mensch nicht er selbst sein will, scheint seine Haltung reine Schwäche zu sein. Aber er kann nur gegen sich selbst nicht er selbst sein wollen – und das impliziert auch Stärke. Im Nichtselbstseinwollen will der Verzweifelte nicht sein verzweifeltes Selbst sein – in diesem Willen liegt das Selbstseinwollen verborgen, ein nicht verzweifeltes Selbst sein zu wollen. Doch die Strategie des Nichtselbstseinwollens bietet keinen Ausweg aus der Verzweiflung. Im nicht abzulegenden Willen wird die Verzweiflung wachgehalten. Seiner Verzweiflung wäre der Verzweifelte entkommen, wenn er in seinem Wesen entweder nur schwach wäre, so schwach, dass er sein Selbstseinwollen völlig aufgegeben hätte, oder nur stark, so stark, dass er in seinem Willen ganz er selbst wäre. Aber beides ist ihm als Menschen nicht möglich. Die eigentümliche Verkettung von Schwäche und Stärke in seiner Verzweiflung kann er nicht auflösen. Theunissen hat an Kierkegaards Zuordnung der Schwachheit zum Nichtselbstseinwollen kritisiert, dass die Schwachheit in der KT als ein Erleiden charakterisiert werde, das mit der Form des Nichtselbstseinwollens nicht übereinzubringen sei. Theunissen will dazu eine von Kierkegaard selbst getroffene, aber nicht wirklich bedachte Unterscheidung zweier Formen von Schwachheit aufgreifen: In der Verzweiflung der Schwachheit erleidet der Verzweifelte nach seinem Empfinden zum einen das, worüber er verzweifelt, zum andern sein Verzweifeltsein selbst. Kierkegaard bezeichnet einmal das eine und dann wieder das andere als das Erlittene, ohne die Differenz als solche herauszuarbeiten. Immerhin hält die Sprache sie fest. Sie bringt das erste Erleiden so zum Ausdruck, daß uns ein Ereignis in Verzweiflung stürzt, und markiert das zweite durch die Wendung, nach der die Verzweiflung selbst uns überkommt. Aber durch beides bezeugt sie eine bestimmte Ursprünglichkeit, die Ursprünglichkeit einer Erfahrung, die als solche eine Widerfahrnis ist. In diesen Ursprung reicht der offizielle Ansatz Kierkegaards nicht hinab (Begriff Verzweiflung, 71). Dass der ›offizielle‹ Ansatz der KT nicht in diesen Ursprung hinabreicht, liegt daran, dass Kierkegaard konsequent einen anderen, im Ärgernis an Christus zentrierten Ursprung annimmt. Für Kierkegaard bezeugt das In–Verzweiflung-gestürzt-sein durch ein Ereignis und das Überkommen der Verzweiflung keine wirkliche Ursprünglichkeit, sondern eine 11 Siehe hier Kapitel 9.3.

Die Unterscheidung zwischen Anlass und Grund der Verzweiflung

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durch das verzweifelte Selbstsein nur vorgetäuschte Ursprünglichkeit. Dadurch hält der verzweifelte Mensch für sich selbst fest, dass er selbst im Grunde nicht verzweifelt ist, sondern ihm die Verzweiflung ›nur‹ zugestoßen ist, und verhindert, durch und durch verzweifeln zu müssen. Kierkegaards christlicher Ansatz mutet dem Leser die These zu, dass es weder im Himmel noch auf Erden etwas gäbe, das zum Verzweifeln wäre. Auch sein Selbstsein ist nicht zum Verzweifeln, aber der Mensch kann selbst verzweifelt sein. Ihm kann nichts zum Verzweifeln widerfahren, er kann nur verzweifelt etwas zur Ursache für seine Verzweiflung machen. Theunissen begründet die Ursprünglichkeit der widerfahrenden Verzweiflung gegenüber dem von Kierkegaard in den Mittelpunkt gerückten Nichtselbstseinwollen damit, dass das Nichtselbstseinwollen bereits eine besondere Variante der widerfahrenden Verzweiflung voraussetzt: »die Verzweiflung darüber, daß er [sc. jemand] so ist, wie er ist« (72). Es ist richtig gesehen, dass das Nichtselbstseinwollen des Verzweifelten die Verzweiflung darüber, dass er so ist, wie er ist – nämlich ein verzweifeltes Selbst –, voraussetzt. Diese Voraussetzung für die eigene Verzweiflung wurde allerdings von dem Verzweifelten – als Sünder betrachtet – selbst gesetzt, indem er sich von Gott losgerissen hat. Diese im zweiten Abschnitt der KT entfaltete Tiefenschicht führt auf der ›Ebene‹ der Verzweiflung dazu, dass diese von der niedrigsten bis zur höchsten Form vom Verzweifelten fast immer als ihm Zustoßendes, angefangen von zu viel Glück bis zum ›Pfahl im Fleisch‹, erfahren wird. So hat verzweiflungsimmanent betrachtet Theunissen doch recht, wenn er die Widerfahrnis als ursprüngliche Verzweiflungserfahrung eruiert.

4.

Die Unterscheidung zwischen Anlass und Grund der Verzweiflung

Eine von Kierkegaard mitgegebene Anmerkung am Anfang seiner Darstellung der höheren Verzweiflungsformen gibt Auskunft über weitere Strukturmomente seiner Verzweiflungskonzeption, durch die auch die besondere Möglichkeit des Ausbruchs aus der Verzweiflung genauere Konturen gewinnt. Und deshalb ist es sprachlich richtig zu sagen: über das Irdische (den Anlaß), am Ewigen, aber über sich selbst verzweifeln, weil das wieder ein anderer Ausdruck für den Anlaß zur Verzweiflung ist, die begrifflich immer eine Verzweiflung am Ewigen ist, während dasjenige, worüber man verzweifelt, das Unterschiedlichste sein kann. Man verzweifelt über das, was einen zum Gefangenen der Verzweiflung macht: über sein Unglück, über das Irdische, über den Verlust seines Vermögens usw.; aber an demjenigen, was einen, wenn man es richtig versteht, aus der Verzweiflung befreit: am Ewigen, an seiner Rettung, an der eigenen Kraft usw. Im Verhältnis zum Selbst sagt man sowohl: über wie auch an sich selbst verzweifeln, da das Selbst doppelt dialektisch ist. Und das ist die Dunkelheit, die, besonders natürlich bei allen niederen Formen der Verzweiflung, und fast bei jedem Verzweifelnden, darin besteht, daß er mit so leidenschaftlicher Deutlichkeit sieht und weiß, worüber er verzweifelt, daß es ihm aber entgeht, woran. Die Bedingung für die Heilung ist immer diese Umkehr oder Bekehrung; und unter rein philosophischem Gesichtspunkt könnte man daher die spitzfin-

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Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

dige Frage stellen, ob es möglich ist, daß jemand verzweifelt ist mit vollem Bewußtsein davon, woran er verzweifelt (175 / 61,28–38; 62,31–38, Hervorhebungen im Original).

Mit ihrer Unterscheidung verschiedener Verzweiflungsformen schafft die Anmerkung in ihrem Kontext beim ersten Lesen mehr Verwirrung als Klarheit. Die dort genannten einzelnen Formen, etwa die Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst, implizieren mehrere genau voneinander zu unterscheidende Bedeutungen, deren Sinn in der genaueren Einzelanalyse freizulegen ist. Zuerst ist festzuhalten, dass Kierkegaard den Anlass von dem Grund der Verzweiflung unterscheidet. Der Anlass ist der Verzweiflung äußerlich. Indem der Verzweifelte das Irdische zum Anlass nimmt und ganz auf diesen Anlass der Verzweiflung fixiert ist, vermeidet er es, der Verzweiflung auf den Grund zu gehen und so durch und durch zu verzweifeln. Kierkegaard versteht die Verzweiflung als eine Verzweiflung am Ewigen. Das Ewige ist insofern als Grund der Verzweiflung zu verstehen und somit wesentlich zur Verzweiflung gehörig, als die Verzweiflung als eine Bestimmung des Geistes sich zum ›Ewigen im Menschen‹, zu der dem Menschen eingestifteten Gottesbeziehung, indirekt verhält (133 / 13,22f). Das Ewige ist das, was den Menschen zur Verzweiflung bringt. Es ist für den Menschen die Ursache der Verzweiflung. Deshalb ist das Ewige auch das, »was einen, wenn man es richtig versteht, aus der Verzweiflung befreit« (175 / 61,35f). Hingegen ist das Irdische als Anlass für die Verzweiflung nicht festgelegt, sondern beläuft sich auf die unterschiedlichsten Dinge. Das jeweilige Wesen des Irdischen bestimmt nicht die Verzweiflungsform, sondern die Verzweiflung kann sich auch am Unscheinbarsten zu ihrer höchsten Form steigern. Der Anlass scheint dort ganz zu verschwinden, wo etwas Irdisches zur Totalitätsbestimmung vergrößert wird.12 Für den Verzweifelten ist nun ›alles‹ zum Verzweifeln, so dass die Beliebigkeit des Anlasses wegfällt und die Verzweiflung auf ihren umfassenden und ewigen Grund gestoßen zu sein scheint. Aber das »Irdische in toto« (175 / 61,15) ist nicht dem wahrhaft Ewigen gleichzusetzen, das den Grund der Verzweiflung ausmacht. Das Irdische in toto, als Ewiges verstanden, beruht auf der Abstraktion des einzelnen Irdischen und entspricht nicht dem Ewigen, das für die Gottesbeziehung des Menschen steht. Als Irdisches in toto hat man das Ewige nicht richtig verstanden und es kann einen nicht aus der Verzweiflung befreien. Der Verzweifelte fixiert sich mit unendlicher Leidenschaft auf den Anlass seiner Verzweiflung, versucht ihn zu beheben und merkt nicht, dass er über etwas verzweifelt, an dem man in Wirklichkeit gar nicht verzweifeln kann. Wieso kann Kierkegaard zum Begriff des Irdischen auch den Begriff des Selbst als einen anderen Ausdruck für den Anlass der Verzweiflung hinzuneh12 Siehe hier Kapitel 8.1.

Die Unterscheidung zwischen Anlass und Grund der Verzweiflung

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men (175 / 61,28ff)? Man selbst versteht sich ganz aus dem einzelnen Irdischen, über das man verzweifelt. Man macht sich selbst zum Anlass der Verzweiflung, indem man das einzelne Irdische zu dem macht, was das ganze Dasein bestimmt und ausmacht. Der Anlass macht den Verzweifelten zum Gefangenen seiner Verzweiflung, weil er in ihm den Grund seines Leidens erblickt, während die Erkenntnis des wahren Grundes, des Ewigen, seiner wahren Gottesbeziehung, ihn befreien würde. Kierkegaards Beispiele für den Anlass weisen auf den sprachlich verankerten Unterschied zwischen der Verzweiflung über etwas und der Verzweiflung an etwas hin. Man verzweifelt über das, was einen zum Gefangenen der Verzweiflung macht: über sein Unglück, über das Irdische, über den Verlust seines Vermögens usw.; aber an demjenigen, was einen, wenn man es richtig versteht, aus der Verzweiflung befreit: am Ewigen, an seiner Rettung, an der eigenen Kraft usw. (175 / 61, 32–37, Hervorhebungen im Original).

In der Verzweiflung über sein Unglück streift der Verzweifelte alle Verantwortung für seinen Zustand von sich ab und verfängt sich in die Vorstellung des Schicksals oder Zufalls. In der gesteigerten Verzweiflung über das Irdische hat er sich in eine phantastische Vorstellung seines Selbstseins verfangen, hinter der ein ganz bestimmtes irdisches Ereignis, etwa der genannte Verlust des Vermögens, steckt. Dagegen stehen drei Beispiele für den Grund der Verzweiflung, dessen Erkenntnis den Menschen aus seiner Verzweiflung befreit (175 / 61,36f). Man muss den Grund der Verzweiflung nur richtig verstehen. Falsch verstanden, d. h. so verstanden, dass man weiter in der Verzweiflung gefangen bleibt, ist die Verzweiflung am Ewigen als Verzweiflung am Irdischen in toto; richtig verstanden wird die Verzweiflung am Ewigen als Verzweiflung daran, dass man das Ewige verloren hat, aber Gott alles möglich ist. Falsch verstanden ist die Verzweiflung an seiner Rettung als Verzweiflung daran, dass die Rettung ausbleibt; richtig verstanden wird die Verzweiflung an seiner Rettung als Verzweiflung daran, dass es – menschlich gesehen – keine Rettung gibt. Falsch verstanden ist die Verzweiflung an der eigenen Kraft als Verzweiflung daran, dass sie so klein ist; richtig verstanden wird die Verzweiflung an der eigenen Kraft als Verzweiflung daran, dass sie nicht helfen kann. Theunissen hat die sog. Verzweiflung am Ewigen als Verzweiflung am Rettenden übersetzt (Begriff Verzweiflung, 108). Weil das Ewige ihm nur als Chiffre für das Rettende dient, muss die von Kierkegaard erstellte Aufzählung dessen, wodurch der Mensch bei richtiger Erkenntnis aus der Verzweiflung befreit wird, irritieren: Einerseits wird hier das Rettende, unter dem Namen des Heils, unmittelbar thematisch. Andererseits büßt es dadurch, daß es als ein Gegenstand unter anderen aufgezählt wird,

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Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

sein Profil ein. Die Konturen verschwimmen gar nicht so sehr deshalb, weil in der Sammlung mitauftaucht, was nichts Rettendes an sich hat, sondern eher infolge des merkwürdigen Umstands, daß im Gegenteil das Rettende an den scheinbar anderen Gegenständen unbeachtet bleibt (109). Die direkte Übersetzung des Ewigen durch das Rettende, wie sie Theunissen vornimmt, kann die mitgegebene Einschränkung Kierkegaards nicht berücksichtigen, dass man es richtig verstehen muss, was einen aus der Verzweiflung befreit. Das Ewige, als die Totalität des Irdischen verstanden, rettet den Menschen nicht. Kierkegaards Aufzählung des Ewigen, der Rettung und der eigenen Kraft kommt wohl durch das angehängte ›usw.‹ scheinbar unverbindlich daher, aber die genannten drei dürften sorgfältig ausgesucht sein. Sie geben zusammen die Dialektik wieder, die in der Rettung durch den Glauben liegt. Das Ewige rekurriert recht verstanden auf das göttliche ›Alles ist möglich‹ und fordert zugleich die Aufgabe der eigenen Kraft, der eigenen Möglichkeiten zugunsten der gänzlichen Verzweiflung. Weil Gottes Möglichkeiten das Heil des Menschen sind, soll der Mensch durch und durch verzweifeln.

Solange das Woran dem Verzweifelten dunkel bleibt, findet er aus seiner Verzweiflung nicht heraus. Wenn sich diese Dunkelheit besonders bei allen niederen Formen der Verzweiflung findet (175 / 62,31f), nimmt sie dann bei den höheren Formen ab? Die Dunkelheit verschwindet insofern für die Selbstgestalt des Menschen, als er im Unterschied zum unmittelbar Verzweifelten sich selbst als den erkennt, worüber er verzweifelt. Aber damit ist ihm noch kein bisschen klarer geworden, woran er eigentlich verzweifelt. Er verzweifelt über sich selbst, weil er sich von Verzweiflung befallen meint, und will nicht wahrhaben, dass er an sich selbst aufgrund seiner von ihm selbst verdunkelten Gottesbeziehung verzweifelt. Auch der Verzweifelte, der mit ›leidenschaftlicher Deutlichkeit‹ (175 / 62,33) sieht und weiß, dass er über sich verzweifelt, bleibt für den Grund seiner Verzweiflung blind. So ist in fast jeder Verzweiflung Dunkelheit, und nur jene Verzweifelnden sind ausgenommen, die eben wissen, woran sie verzweifeln und darum in ihrer Verzweiflung zu Grunde gehen. Sie kehren zu sich selbst, zu ihrem verzweifelten Selbstsein um und werden von ihrer Verzweiflung geheilt. Wer sieht, woran er verzweifelt, sieht sich selbst in seiner ganzen Verzweiflung. Damit ist er aber nicht mehr verzweifelt, denn nur als Glaubender sieht er – menschlich gedacht – seinen Untergang (154 / 37,15f). Insofern handelt es sich um eine doppelte ›Umkehr‹ (175 / 62,35), zum einen zu seinem verzweifelten Selbstsein, als solches der Verzweifelte durch und durch verzweifelt, zum anderen zu Gott, der ihm im Glauben den Mut schenkt, dieses Entsetzliche fürchten zu lernen, und von dem er glaubt, dass für ihn alles möglich ist. Die Umkehr ist die Umkehr in den eigenen Tod (vgl. 118 / 4,22–25) und trotzdem zum ewigen Leben. Sie bedeutet eine Bekehrung, weil durch sie der Mensch sein ganz und gar sündiges Wesen ablegt. Die Umkehr ist eine Rückwärtsbewegung (159 / 43,7), die jenseits der im Folgenden zu beobachtenden Verzweiflungssteigerung liegt.

Der ›natürliche Mensch‹ und das Heidentum

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Unter rein philosophischem Gesichtspunkt (175 / 62,35f) lässt sich hier leicht ein Widerspruch aufdecken: Wer in seiner Umkehr sieht und weiß, woran er verzweifelt, kann nicht verzweifelt sein. Nach der bisherigen Verzweiflungslogik ist jemand, der gänzlich weiß, woran er verzweifelt, eine Unmöglichkeit, weil er die Verzweiflung überwunden hat. Diese Anfrage nennt Kierkegaard ›spitzfindig‹ (175 / 62,36), weil sie unter rein philosophischem Gesichtspunkt konsequent ist, aber unter theologischem Gesichtspunkt das Paradox des Glaubens verfehlt, das in dem ›Trotzdem‹ des Glaubens liegt. Der Glaubende muss angesichts des Untergangs durch und durch verzweifeln und ist trotzdem in seinem Glauben ohne Verzweiflung.

5.

Der ›natürliche Mensch‹ und das Heidentum

a)

Das Verständnis des natürlichen Menschen

Kierkegaards Auffassung des Heidentums steht der Verzweiflungsform der Unmittelbarkeit nahe,13 weil sowohl der Heide als auch der Verzweifelte der Unmittelbarkeit die Geistigkeit vermissen lassen, die in einer gewissen Weise in den höheren Verzweiflungsformen anzutreffen ist und die in ihrer erfüllten Gestalt dem Glaubenden zugehört.14 Kierkegaards Verständnis der Erlösung von der Verzweiflung ist dadurch charakterisiert, dass der Mensch zu ihr nichts beiträgt. Seine Erlösung hätte auch so aussehen können, dass der Verzweifelte sich in einem Verinnerlichungsprozess seiner ursprünglichen, aber verlorengegangenen Gründung in Gott erinnert und sie so für sich zurückgewinnt. Ein Aufruf ›nach innen‹ liegt wohl bei Kierkegaard vor, aber nur um dort sich mit seiner gänzlichen Verzweiflung und Verlorenheit konfrontieren zu lassen – und trotzdem zu glauben. Der bloße Weg nach innen zur Gründung in Gott wird von Kierkegaard durch sein Verständnis des natürlichen Menschen abgeschnitten. Der natürliche Mensch steht für das ›Heidentum in der Christenheit‹ (160 / 43,34–44,1). Man wird erst durch die Begegnung mit dem Christentum zum natürlichen Menschen. ›Natürlich‹ ist nicht eine innere Ursprünglichkeit zu nennen, die jeder Mensch noch verschüttet in sich trägt, noch eine heidnische Unschuld, die der 13 Bösch, Kierkegaard, 112–115, hat zu Recht Kierkegaards Begriff des Heidentums als geschichtstheologische Chiffre bezeichnet, deren Konkretion für BA im Griechentum zu suchen sei. Das dürfte auch für KT zutreffen. 14 Allerdings würde Kierkegaard jedem Menschen eine gewisse Gottesvorstellung zusprechen. Vgl. SKS 20, 393, NB5:52 / T 3, 12: »Noch in diesem Augenblick kann ich doch den Gedanken nicht fahren lassen, den ich von Anfang an gehabt habe, ob nicht doch jeder Mensch in seinem stillen Sinn an Gott denkt.«

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Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

Begegnung mit dem Christengott vorangeht, sondern der Abfall, den der Mensch in der Christenheit vom Christentum vollzieht. Kierkegaard bezeichnete die Aufmerksamkeit auf die Verzweiflung als den Vorzug des Christen vor dem natürlichen Menschen (131 / 11,9f). Die fehlende Aufmerksamkeit hätte den Heiden konzediert werden können, aber nicht den ›heidnischen‹ Menschen in der Christenheit, die auf die Verzweiflung hätten aufmerksam werden müssen. Der natürliche Zustand, den man menschlich versucht ist, als eine Art Unschuld anzusehen (157 / 40,25ff), enthüllt sich als die furchtbare Sünde des Abfalls von Gott (162 / 46,3ff). Die unwissende Unmittelbarkeit, in der die meisten natürlichen Menschen leben, ist christlich gesehen eine Negativität, mit der sich von Wahrheit und Rettung entfernt wird (159 / 42,39ff). Sie bedeutet für sich gesehen keine Schuld, aber zeigt die Negativität des Abfalls an, welche die Verzweiflung ist und aus der Unwissenheit Verzweiflung macht.

b)

Das Heidentum in ästhetischer Perspektive

Kierkegaard beschreibt das Heidentum unter dem Maßstab des Ästhetischen. Auch im ästhetischen Sinne lässt sich von Geist reden, vom Geist in Kunst und Wissenschaft, an dem das Heidentum – wie auch der natürliche Mensch – keinen Mangel hat. Kierkegaards Hochachtung vor ästhetischen Leistungen wäre eine bloße Selbstverständlichkeit, wenn sie nicht indirekt auf die Gefahr hinwiese, dass der ästhetische Begriff des Geistes sich an die Stelle des ethisch-religiösen setzt und ihn verdeckt. Auch der geistvollste ›heidnische‹ oder ›natürliche‹ Ästhet und Wissenschaftler ist sinnlich und nicht geistig orientiert, wenn er meint, aufgrund seiner Geistigkeit nicht verzweifelt zu sein. Seine Geistigkeit ist auf den Genuss zurückzuführen und geht ganz in den Kategorien des Sinnlichen auf (158 / 41,23ff). Er misst die Verzweiflung am ästhetischen Begriff des Geistes und ist so blind für seine Verzweiflung. Dem Ästheten fehlt das Wissen über die Wahrheit, und doch trägt für den Kundigen auch sein Genuss deren Spuren ex negativo, weil er als Ausdruck der Verzweiflung die Wahrheit negiert. Die Ästhetik fragt für sich nicht nach Wahrheit, sondern nach Genuss und Schönheit.15 Die Phantasie des unwissenden Heiden oder sinnlich orientierten natürlichen Menschen ist eine ›ästhetische Bestimmung‹ (160 / 44,31), die dem wahrhaften 15 Kierkegaard hat schon in seinem Frühwerk EO den Typus des Ästhetikers in diesem Sinne beschrieben. Besonders die Haltlosigkeit der ästhetischen Lebensweise wird betont. Damit klingen schon dort Motive der Verzweiflungsbeschreibung in KT an. »Das ästhetische Stadium hat keine Perspektive in sich, sein Programm verhilft dem Selbst nicht zum kontinuierlichen Vollzug seiner selbst, sondern führt dazu, daß es sich zuletzt selbst überdrüssig wird und sich loswerden will« (Dietz, Kierkegaard, 210, Hervorhebung im Original).

Der ›natürliche Mensch‹ und das Heidentum

193

Geist nicht zugehört noch sich von ihm geistvoll abgrenzt. Sie kann nicht als Maßstab der Selbst-Bestimmung dienen wie jene Phantasie, welche die eigene Selbstgestalt in der Reflexion wiedergibt und sie zu intensivieren vermag (147 / 28,12ff). Die ästhetische Phantasie nimmt den seelisch-sinnlichen Bereich in Anspruch und genießt ihn mit allen Sinnen. Die selbstreflexive Phantasie hingegen bleibt nicht wie jene im Raum der Endlichkeit, sondern ist die ›unendlich machende Reflexion‹ (147 / 28,7f), weil sie die ›Möglichkeit des Selbst‹ ist. Mit ihr fasst der Mensch sein Selbstsein nicht einfach als ein unerklärliches Etwas auf, wenn einmal der Blick nach innen gerichtet wird, vielmehr ist in einer solchen Phantasie der Blick dauernd nach innen gewendet, weil der Mensch an das, was er in sich als phantastische Möglichkeit entdeckt, seinen Selbstentwurf hängt. Was durch die selbstreflexive Phantasie geschaffen wurde, lässt sich nicht bloß sinnlich genießen, als ob man selbst damit nichts zu tun hätte, sondern man ist es selbst in seiner Möglichkeit und hat es dadurch vergeistigt. Dennoch muss in ethisch-religiöser Perspektive beiden Formen der Phantasie Geistlosigkeit im strengen Sinn attestiert werden (vgl. 161 / 44, 31–35). Auch die Geistigkeit der unendlich machenden Reflexion ist keine Geistigkeit vor Gott und damit Geistlosigkeit.

c)

Das Heidentum in ethischer Perspektive

Kierkegaard verbindet die Einsicht in die ästhetisch bedeutsame, aber ›geistlose‹ Existenz des Heiden oder natürlichen Menschen mit einem traditionell Augustin zugeschriebenen Gedanken: Das war es, was die alten Kirchenlehrer meinten, wenn sie davon sprachen, daß die Tugenden der Heiden glänzende Laster seien, sie meinten, daß das Innerste der Heiden Verzweiflung sei, daß der Heide sich nicht vor Gott als Geist bewußt sei (161 / 45,8–12).

Es ist nicht Kierkegaards Absicht, die Heiden als mehr oder weniger begabte Hedonisten zu diffamieren, sondern die heidnische Existenz kann neben ästhetischen auch bewundernswerte ethische Leistungen einschließen. Warum kann er beides dennoch unter die »glänzenden Laster« rechnen, als Taten ansehen, die Begeisterung wecken, aber als Flucht vor der Verzweiflung für den Mangel an ethisch-religiösem Geist stehen? Nach Kierkegaard liegt das entscheidende Merkmal der antiken bzw. heidnischen Ethik in der von ihr gemachten Voraussetzung, »daß die Tugend realisierbar sei« (SKS 4, 326 / BA, 17,8f). Damit hat sie keine Vorstellung von der Unendlichkeit des Selbstseins, die zur wahren Vergeistigung notwendig ist und die Ethik grundsätzlich in ein anderes Licht stellt. Die geistbestimmte Ethik, in der auch der christliche Begriff

194

Die Verzweiflungsformen und ihre Bewusstheit

der Sünde seinen Ort fände,16 hätte sich für den Heiden bewahrheitet, wenn er daran verzweifelt wäre, dass er sich nicht vor Gott als Geist bewusst ist. Damit wäre freilich sein Heidentum zum Ende gekommen. Kierkegaard macht die Stellung der heidnischen Ethik zur christlichen am Beispiel des Selbstmordes deutlich (161 / 45,12–35). Während sich heidnische und christliche Ethik im strengen Urteil über Diebstahl, Unzucht usw. weitgehend gleichen, gehen sie im Urteil über den Selbstmord auseinander. Der Heide hatte keine Vorstellung von einem Selbstsein und konnte deshalb nur schwerlich im Selbst-Mord eine sittliche Verfehlung sehen; der Mensch der Christenheit ist hingegen mit sich selbst konfrontiert. So gehört es zu den Formen der Verzweiflung über sich selbst, dass ein Mensch sein Selbstsein durch Selbstmord gewaltsam zu beenden versucht. Der Selbstmord ist für Kierkegaard die ›entschiedenste Sünde‹ (161 / 45,17), weil man mit ihm Gott selbst zu treffen sucht. In seiner Verzweiflung will der Selbstmörder den Zwang beenden, mit dem die gründende Macht ihn zwingt, der zu sein, der er nicht sein will. Wer sich selbst umbringen will, ist nicht so verzweifelt, dass er keinen Ausweg mehr aus seiner Verzweiflung wüsste. Der Selbstmord ist die einzige Möglichkeit, die ihm noch bleibt, um nicht zum ›Trotzdem‹ des Glaubens greifen zu müssen, dem auch noch die Möglichkeit des Untergangs genommen ist. Insofern meint der Verzweifelte sich in seiner Ohnmacht noch mächtig, so mächtig, dass er über sich selbst verfügen will. Er begibt sich nicht so in seine Endlichkeit, dass er durch und durch an ihr verzweifelt, sondern glaubt sich noch als Herr seiner Endlichkeit, wenn er sich selbst ein Ende setzt.17 Kierkegaard zeigt am Beispiel des jungen Mädchens, das seinen Geliebten verloren hat, wie einer Verzweifelten die eigene Selbstgestalt zu ›etwas widerwärtig Leerem‹ wird und man auf die Bemerkung »du verzehrst dich selbst« die Antwort zu hören bekommt: »[O]h, nein, die Qual ist gerade, daß ich das nicht kann« (135 / 16,38–17,2). Auch der Selbstmörder verzweifelt an der eigenen Leere und will sie verzehren, aber in seiner Qual verfällt er im Unterschied zu 16 Bei Kierkegaard ist formal zwischen einer ›ersten‹ und ›zweiten‹ Ethik zu unterscheiden, von denen die letztere der Wirklichkeit der Sünde gewahr ist und damit die eigentlich christliche ist. Siehe dazu Grøn, Ethik. 17 Insofern will der Mensch auch im Selbstmord noch er selbst sein. Schon in EO wird diese Intention angedeutet: »[J]a sogar ein Selbstmörder möchte doch eigentlich nicht sein Selbst loswerden, auch er wünscht noch, wünscht eine andere Gestalt für sein Selbst, und man könnte darum wohl einen Selbstmörder finden, der von der Unsterblichkeit der Seele im höchsten Maße überzeugt wäre, dessen ganzes Wesen aber so in Banden läge, daß er vermeinte, durch diesen Schritt die absolute Form für seinen Geist zu finden« (SKS 3, 206 / EO2, 228). Kierkegaard bindet – für die Christenheit – den Selbstmord an eine bestimmte hochreflektierte Haltung des Täters, die zu ihm motiviert. Es wäre also sicher falsch, hierin generelle Aussagen über den Selbstmord zu sehen. Dennoch bleiben Kierkegaards Analysen anstößig genug.

Der ›natürliche Mensch‹ und das Heidentum

195

jenem Mädchen dem Schein, er könne sich selbst in seiner Verzweiflung durch Selbstmord auslöschen. Doch der Mensch vermag sich nicht selbst zu ›verzehren‹, weil außer Gott nichts so ewig ist wie das Selbstsein (vgl. 168 / 53,19f). Der Selbstmord betrifft die leiblich-seelische Synthese, der Mensch stirbt insofern ganz; aber durch diese Tat ›nagelt‹ er sich selbst auf sein verzweifeltes Selbstsein fest, das er mit Leib und Seele nicht sein will (vgl. 136f / 18,11–16). Der Heide betrachtete den Selbstmord nicht im geistigen Bewusstsein einer solchen Verzweiflung. Er wollte im Selbstmord nicht verzweifelt vor seiner Verzweiflung fliehen, sondern konnte ihn nur auf seine leiblich-seelische Synthese beziehen, weil er sich seiner geistigen Bestimmung nicht bewusst war. Insofern maß er dem Selbstmord nicht wie der höchst Verzweifelte eine unendliche Bedeutung bei. Seine Auffassung des Selbstmordes als »etwas Indifferentes, womit jeder es halten kann, wie es ihm beliebt« (161 / 45,25f), zeigt für Kierkegaard an, dass sein Wissen über den Selbstmord nur geistlose Unwissenheit war. Sie gleicht darin der geistlosen Betrachtung der Verzweiflung, die annimmt, »jeder Mensch müsse es ja von sich selbst am besten wissen, ob er verzweifelt ist oder nicht« (139 / 19,35ff). Beides sind Formen der Negativität der Verzweiflung, die für sich selbst nicht Sünde zu nennen ist, aber als Negativität gleichwohl zu ihr gehören. Deshalb war die heidnische Auffassung des Selbstmordes auch keine Art Unschuld, sondern merkwürdiger Leichtsinn (161 / 45,12–19).

7. Kapitel: Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

1.

Die Verzweiflung der reinen Unmittelbarkeit

a)

Die Unmittelbarkeit des Glücks

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit stehen am Anfang der Reihe von Verzweiflungsgestalten, die sich in ihrer Geistigkeit steigern werden. Unter der übergreifenden Verzweiflungsform der Schwäche behandelt Kierkegaard zuerst die Verzweiflung über das Irdische oder über etwas Irdisches (165–175 / 49–61). Die beiden Bestimmungen ›reine Unmittelbarkeit‹ und ›Unmittelbarkeit mit einer quantitativen Reflexion in sich‹ (165 / 49,6f) bedeuten eine weitere Unterteilung innerhalb der Verzweiflung über das Irdische oder über etwas Irdisches. Der Verzweiflungsform der Unmittelbarkeit sind jene Menschen zuzurechnen, die unwissend über ihre Verzweiflung und damit über ihre geistige Bestimmung sind. Sie werden von den Kategorien des Sinnlichen beherrscht und haben sich der geistlosen Bestimmung des Glücks verschrieben (158 / 41,24f; 141 / 23,1f). Dem vermeintlich Glücklichen wird eine gewisse Selbstvorstellung zugesprochen, auch wenn ihm jede geistig verinnerlichte Vorstellung abgeht (158 / 41,30f). Wer sich jeglicher Geistigkeit enthält, ist nicht jegliche Selbstvorstellung losgeworden, sondern hat sie nur verringern können, genauso wie die Vorstellung seiner Verzweiflung in einem solchen Zustand sehr gering ist. Ein solcher Mensch hat die Vorstellung, ein Glücklicher zu sein (158 / 41,15f). Kierkegaard macht mittels der Unterscheidung zwischen Verirrung und Irrtum die besondere Stellung der unwissenden Verzweiflung deutlich (159 / 42,26–30). Die Verzweiflung ist eine Verirrung, weil man aus sich selbst heraus man selbst werden will. Es handelt es sich dabei auch um einen Irrtum, weil man sich über sich selbst irrt. Aber dieser Irrtum des in der Verzweiflung Verirrten ist von anderer Qualität als der unmittelbare Irrtum des Unwissenden. Der Irrtum des Verirrten ist nicht dadurch zu beheben, dass man ihn auf sich aufmerksam

198

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

zu machen sucht. Denn er meint schon seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zu richten. Dem unmittelbar Glücklichen aus Unwissenheit fehlt ein solches Selbstbewusstsein. Sobald er um seinen Irrtum der Unmittelbarkeit weiß und auf sich selbst aufmerksam wird, ist dieser soweit behoben, dass der Mensch nun nicht mehr unmittelbar er ›selbst‹ ist und in einem vertieften Sinn um sich selbst weiß. Dass er darüber zugleich verbittert ist (158 / 41,19–22), zeigt jedoch an, dass er sich damit keineswegs seiner Verzweiflung stellt, sondern nun seinen selbsthaften Willen hat, um an seiner Unmittelbarkeit festzuhalten und für sein unmittelbares Glück zu kämpfen. Was der Mensch zuvor unmittelbar-unbewusst tat, macht er nun willentlich bewusst. Die Unmittelbarkeit bildet nicht nur einen Anfangspunkt in der Reihe der Verzweiflungsgestalten, sondern auch einen Zielpunkt, der in gewisser Weise noch bei den höchsten Verzweiflungsformen vergeblich angestrebt werden wird. Dort will die Verzweiflung in einer äußerlichen Form wohnen (186 / 75,14–18), hinter der sie normalerweise niemand suchen würde – böte sich da nicht die Gestalt des Glücklichen an?

b)

Sinnliche Beschränkung und eingebildete Größe im Glück

Der von den Bestimmungen der Sinnlichkeit beherrschte Mensch nimmt in seinem vermeintlichen Glück einen Irrtum in Kauf. Dass er in Wahrheit selbst nicht glücklich ist, scheint ihm keiner weiteren Beachtung wert. Der Mensch lebt gern in seinem unmittelbaren Glück, aber nicht in Bescheidenheit, sondern die »sehr geringe Vorstellung von sich selbst« (158 / 41,30f) ist gepaart mit Eitelkeit und Eingebildetheit. Diese Menschen halten sich also für groß, ohne sich selbst in dieser Größe auszuprobieren. Dabei ist in der Tat der Mensch mit seiner Anlage, Geist zu sein, erhaben über dem Tier und unendlich aufgerichtet (vgl. 131 / 11,8ff). Aber in seinen Irrtum trennt der Mensch seine Selbstvorstellung von seiner eingebildeten Größe und bleibt seiner sinnlichen Beschränkung verhaftet. Kierkegaards Beispiel für einen im Irrtum Gefangenen ist der Philosoph Hegel, auf den sich die folgenden Bemerkungen beziehen dürften: Ein Denker errichtet ein riesiges Gebäude, ein System, ein das ganze Dasein und die Weltgeschichte usw. umfassendes System – und betrachtet man sein persönliches Leben, so stößt man zu seinem Befremden auf die schreckliche und lächerliche Tatsache, daß er selbst und persönlich nicht diesen riesigen, hochgewölbten Palast bewohnt, sondern eine Scheune, die daneben steht, oder eine Hundehütte, oder, wenn es hochkommt, die Hausmeisterwohnung (158f / 42,14–21).1 1 Vgl. SKS 18, 303, JJ:490 / T 2, 42.

Die Verzweiflung der reinen Unmittelbarkeit

199

Kierkegaard schreibt an anderer Stelle über den abstrakten Denker : Wenn man den Lebenslauf eines solchen Denkers liest (denn seine Schriften sind vielleicht ausgezeichnet), dann schaudert’s einem zuweilen bei dem Gedanken, was es heißt, Mensch zu sein […] so ist auch der Anblick eines Denkers komisch, der trotz aller Bravour persönlich wie ein Kleinigkeitskrämer existiert, der sich persönlich wohl verheiratete, aber kaum mit der Macht der Liebe bekannt oder von ihr bewegt war, dessen Ehe daher wohl ebenso unpersönlich war wie sein Denken, dessen persönliches Leben ohne Leidenschaft und ohne leidenschaftliche Kämpfe war und der philiströs nur darum besorgt war, welche Universität die beste Lebensstellung biete (SKS 7, 275f / AUN2, 3).

Ein solcher Denker hat neben seinem Daseinsgebäude noch ein viel größeres Gebäude hochgezogen. Die geistige Anlage des menschlichen Daseins ist in völlig irriger Weise entfaltet worden, weil der Mensch seine monströse geistige Vorstellung von sich selbst abtrennt und ›selbst‹ sein Leben auf die Bestimmungen der Sinnlichkeit hin ausrichtet.2 Die offensichtliche Einordnung Hegels unter jene, die in den Kategorien des Sinnlichen leben, zeigt sehr deutlich, dass Kierkegaards Begriff des Geistes sich ganz und gar auf das Selbstsein bezieht. Ein Denker wie Hegel ist streng genommen für Kierkegaard noch nicht einmal phantastisch geworden, wie es jene in der Unendlichkeit Verzweifelten werden, die sich selbst in ihrer phantastischen Erkenntnis suchen. Dazu hätte er wenigstens in seinen ›Denkpalast‹ einziehen müssen. In seiner Verzweiflung wäre ihm sein Palast wahrscheinlich eingebrochen, und er hätte verzweifelt immer neue Vorstellungswelten entworfen, wie jener stark Verzweifelte, der ständig nur Luftschlösser baut (183 / 71,18). Aber so weit hat der Denker nicht verzweifelt, dazu hätte er eine Vorstellung davon besitzen müssen, was es bedeutet, Geist zu sein. Der Geist hätte durch den Hinweis auf den Widerspruch zwischen Palast und Hundehütte erweckt werden können, weil im Widerspruch zwischen dem umfassenden Systemgedanken und der eigenen Selbstgestalt die Verzweiflung steckt. Entweder wäre der Denker vor seiner Verzweiflung verzweifelt zu einem anderen System geflüchtet oder er hätte durch und durch an sich selbst verzweifelt – in jedem Fall hätte er sich vergeistigt. Der mögliche Einwand gegen Kierkegaards Vorwurf der Geistlosigkeit, die Hegelsche Philosophie habe viele Gedanken des Dänen – auch ihre ›existentielle‹ Intention – antizipiert, bzw. Kierkegaard habe selbst Hegelsche Gedanken rezipiert, kann hier nicht treffen, weil Geistlosigkeit nicht mit einer gedanklichen Unkenntnis von Geistigkeit gleichzusetzen ist, im Gegenteil: »[D]enn das Unglück ist gerade, daß die Geistlosigkeit zum Geist ein Verhältnis hat, das keines ist. Die Geistlosigkeit kann daher bis zu einem 2 Vgl. SKS 4, 327f / BA, 17,36–18,1f über Hegel, der »trotz aller seiner ausgezeichneten Eigenschaften und seines kolossalen Wissens, doch mit seiner Leistung immer wieder daran erinnert, daß er im deutschen Sinne des Wortes und im großen Maßstab ein PhilosophieProfessor war, der — tout prix alles erklären muß«.

200

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

gewissen Grad den ganzen Gehalt des Geistes besitzen« (SKS 4, 397 / BA, 103,7–11). Eine andere Frage ist freilich, ob Kierkegaards Charakterisierung Hegels und seine Einordnung in die Verzweiflungsbestimmungen der historischen Person Hegel gerecht wird.

So aber richtet der Denker sein Leben nach den Kategorien des Angenehmen und Unangenehmen ein (vgl. 158 / 41,25f), ohne sich um den Widerspruch zu kümmern. Ein solcher Mensch wäre vielmehr beleidigt (159 / 42,21ff), würde man ihn auf den Widerspruch aufmerksam machen, weil man damit nicht sein Gedankengebäude, sondern ihn selbst getroffen hätte. Er kennt nur die Furcht vor einem Irrtum innerhalb seines Systems, dessen Fertigstellung deshalb höchste Priorität hat. Ein Irrtum in Bezug auf sich selbst anzunehmen, ist ihm gänzlich fremd, weil er noch ganz in den Bestimmungen des Sinnlichen aufgeht. Er zieht in sein Gebäude selbst nicht ein, obwohl er ständig in Gedanken darin wohnt. In seiner sinnlichen Bestimmtheit vertraut er sich selbst noch nicht einmal leidenschaftlich seinem Verstand an, sonst besäße er die Leidenschaft der Phantasie und würde in der Verzweiflung der Möglichkeit sich selbst suchen.

c)

Verzweiflung und Angst

In der niederen Form der Verzweiflung ist nicht mehr als eine ›Angst‹ (138 / 19,8), der man nicht nachgeht. Die Angst ist die Kehrseite des Mutes zum Geist. Aus ihr besteht die Unmittelbarkeit (141 / 23,7f), die deshalb nur eine verschleierte Mittelbarkeit ist. Der Glückliche hat Angst vor sich selbst. Einerseits trägt die Angst sein Selbstsein in gleichsam negativer Weise mit sich. Andererseits ist dem Menschen in seiner Angst die eigene Selbstgestalt noch unbekannt, er hat Angst vor einem »unbekannten Etwas« (138 / 19,8f) und besitzt noch keinen Geist. Sollte ein Unglück eintreten, dem Menschen sein Glück ›gemordet‹ werden (vgl. 158 / 41,21f), kann sich eine höhere Geistigkeit ausbilden, aber es muss schon nachdenklich machen, dass die Angst damit nicht verschwindet. Denn auch der höchst Verzweifelte wird von Angst geplagt, wenn er schwermütig liebend eine Möglichkeit der Angst verfolgt (153 / 35,23–26). Er ist viel weiter als der Glückliche gekommen, wenn sich ihm die Angst vor einer Möglichkeit konkretisiert hat, während jener noch überhaupt keine Vorstellung von seinen Möglichkeiten hat. Aber beide verhindern es durch ihre Angst – sei es die Angst vor der phantastischen Möglichkeit seiner selbst, oder die Angst, überhaupt einmal anzufangen, über sich nachzudenken –, sich in ihrer jeweiligen verzweiflungsvollen Selbststruktur zu durchschauen, es auszuhalten, wahrhaftig ›Geist‹ zu sein. Die eine Angst ist noch im Sinnlichen gefangen, weil sie vor dem Unangenehmen, eben jener ›Unruhe‹ oder ›Disharmonie‹ besteht, die andere Angst ist vergeistigt, weil in ihr der Mensch schon viele Möglichkeiten der

Die Verzweiflung der reinen Unmittelbarkeit

201

Gestalt seiner selbst durchschritten hat und schließlich bei einer Möglichkeit stehenbleibt, die ihm soviel Angst macht, dass er in ihr umkommt, d. h. in Verzweiflung bleibt. Mit dem Angstbegriff verhält es sich ähnlich wie mit dem Verzweiflungsbegriff. Dass Verzweiflung und ›Angst der Geistlosigkeit‹ nicht gewusst werden, gehört zu ihren Wesen: »[D]ie Angst der Geistlosigkeit wird gerade an der geistlosen Sicherheit erkannt« (159 / 42,32f). Deshalb kann der an ihnen ›Erkrankte‹ nicht selbst wissen, ob er von ihr befallen ist oder nicht; dazu bedarf es des wissenden Arztes. Kierkegaard sieht das unmittelbare Glück in Verzweiflung und Angst wurzeln (141 / 23,4f). Denn hier ist – wie auch dann bei der höheren Möglichkeit der Angst (153 / 35,8–26) – die Verzweiflung eigentlich eine Angst vor der Verzweiflung. Dass die Verzweiflung sozusagen sich selbst nicht wahrhaben will, gibt ihr den Angstcharakter. Damit verweist der von Kierkegaard entworfene Verzweiflungsbegriff schon von seiner Struktur her auf das Verständnis jener Verzweiflung, in der die Verzweiflung überwunden wird. In der Verzweiflung, in der der Untergang am sichersten ist, ist keine Angst mehr, auch wenn man den Untergang fürchtet. Ein solch verzweifelnder Mensch lässt sich auf seine Furcht ein, er bekommt den Mut, das Entsetzliche fürchten zu lernen (125 / 7,1–4). Der Gedanke einer Erkenntnis des eigentlichen Zustandes an seinem Gegensatz (»die Angst der Geistlosigkeit wird gerade an der geistlosen Sicherheit erkannt«) wird in der Philosophie Martin Heideggers zur grundlegenden phänomenologischen Erkenntnismöglichkeit des Daseins erhoben. Der Mensch weicht seinem eigentlichen Dasein in seiner Angst aus und flieht zur ›beruhigten Selbstsicherheit, zum selbstverständlichen Zu-hausesein‹ (Sein und Zeit, 188f). Diese »Abkehr führt entsprechend dem eigensten Zug des Verfallens weg vom Dasein« (184, Hervorhebung im Original). Aber im »Wovor der Flucht kommt das Dasein gerade ›hinter‹ ihm her« (Ebd.). Das Dasein des Menschen erschließt sich gerade dort, wo er ihm flieht, und kann dort erhoben werden. »Im Ausweichen selbst ist das Da erschlossenes« (135, Hervorhebung im Original). Deshalb setzt auch Heideggers Analyse in der ›Alltäglichkeit‹ ein.3

d)

Das Wesen des Unmittelbaren

Ein entscheidendes Merkmal der Verzweiflung der Unmittelbarkeit ist ihr Charakter als bloßes Erleiden seitens des Verzweifelten. Zwar wird Kierkegaard der Unmittelbarkeit mit Reflexion in sich zugestehen, dass sie kein bloßes Erleiden mehr ist (169 / 54,25ff), aber sie ist es nicht in der entscheidenden Weise, dass es nun zu einer Handlung von innen käme. Eine solche Handlung wird erst 3 Zum Verhältnis zwischen Heidegger und Kierkegaard siehe Thonhauser, Konzept der Zeitlichkeit.

202

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

bei der nachfolgenden Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst zu beobachten sein, wenn die ›quantitative Reflexion‹ durch die ›Selbstreflexion‹ abgelöst worden ist. Wie ist die Verzweiflung charakterisiert, die der Mensch bloß erleidet? Dem Verzweifelten ist der ›Druck des Äußerlichen‹ (165 / 49,10f) so groß, dass er sich handlungsunfähig und dem Druck widerstandslos ausgesetzt sieht. Er wird davon sprechen, dass er selbst nichts mehr machen kann und daran verzweifeln. Ein so Verzweifelter benutzt also durchaus die Worte ›Selbst‹ und ›Verzweiflung‹ (165 / 49,12–15), aber sagt damit etwas, was er nicht kennt. Er spricht die Sprache der Unmittelbarkeit, die derjenige spricht, der sich unmittelbar an das Äußere gebunden hat. Auch in der Sprache der Unmittelbarkeit ist Reflexion vorhanden, weil der Betreffende ansonsten den Druck des Äußerlichen für sich nicht erkennen könnte. Aber in dieser Reflexion wird nur das Äußerliche reflektiert, wie es sich auf einen selbst als ebenfalls Äußerlichen ›eindrückt‹. Die Reflexion ist gänzlich dem Äußerlichen verhaftet, und man selbst sieht sich nur als Spielball im Äußerlichen. Man handelt wohl äußerlich, aber ist darin auch dem Druck des Äußeren ausgesetzt, der einem die Handlungsmöglichkeiten bis zur Verzweiflung nehmen kann. Dass man auch von innen her handeln könnte, ist nicht bewusst. Für diese Möglichkeit ist der unmittelbar Verzweifelte blind, weil sein Möglichkeitshorizont sich auf das Äußere beschränkt. Er wird unter Umständen versuchen, sich wieder ›aufzurappeln‹ und ›weiterzumachen‹ (167f / 52,25–29). Der Unmittelbare ist als seelisch Bestimmter ganz auf das Verhältnis des Leibes zur Seele hin fixiert. Was er durch seinen Leib mit seinen Sinnesorganen aufnimmt, prägt seine seelische Verfassung. Der Mensch bestimmt sich nicht von anderem her, sondern wird von diesem anderen, es erleidend, bestimmt. Die Seele geht gänzlich in Zeit und Welt auf, ohne von sich aus ihr Verhältnis zu ihnen zu bestimmen. Wie alles Zeitliche und Weltliche ist einem solchen Menschen in seiner Unmittelbarkeit sein Selbstsein, er selbst, ein Etwas, das eben auch den Gesetzen von Zeit und Welt unterliegt. Sein ›Selbst‹ und ›er selbst‹ sind noch nicht in der für die weiteren Verzweiflungsgestalten charakteristischen Weise auseinandergegangen, sondern ruhen in unmittelbarer Einheit. Der Unmittelbare befindet sich in einem gewissen Glückszustand, in dem er die in seinem Inneren wohnende Unruhe (138 / 19,7) nicht zu bemerken scheint. In höheren Verzweiflungsgestalten wird sich das unmittelbare Selbstsein in den ›Verzweifelten selbst‹, der an ›seinem Selbst‹ arbeitet, auflösen. ›Sein Selbst‹ und ›er selbst‹ sind dann nicht mehr übereinzubringen, weil ›er selbst‹ seine Selbsteinheit nur dadurch zu erreichen meint, dass er erst ›er selbst‹ in seinem Selbstsein wird. Damit vertieft der Verzweifelte die Kluft in seinem verzweifelten Selbstsein und intensiviert seine Verzweiflung. Der Unmittelbare dagegen handelt in seiner Verzweiflung nicht von innen,

Die Verzweiflung der reinen Unmittelbarkeit

203

seine Verzweiflung kommt ihm nicht von seinem verzweifelten Selbstsein her, so dass ›er selbst‹ nicht verzweifelt scheint. Die seelischen Äußerungen des unmittelbar Glücklichen beschränken sich auf Wünsche, Begierden, Genuss und Ähnliches (166 / 50,7ff). Sie sind auf anderes angewiesen, das die Wünsche usw. erfüllen kann. Dass der Unmittelbare selbst nur das ist, was er erleidet, wird nicht dadurch verändert, dass ein solcher Mensch ›selbst‹ seine Wünsche und sein Begehren in die Tat umsetzt. Auch diese Handlungen ›erleidet‹ er selbst, weil sie eben aus den an Äußerliches gebundenen Wünschen usw. resultieren und damit auch nur äußerliche Handlungen sein können. So wie Kierkegaard schon den Heiden keine Tatenlosigkeit vorwarf (160 / 44,19–24), muss es sich auch hier um keine – in Bezug auf das Äußerliche – willensschwache Menschen handeln, die sich einfach nur mit den anderen mittreiben lassen. Dass jemand hart für sein Glück arbeitet, macht ihn nicht weniger erleidend. Solange er nicht auf seine Verzweiflung aufmerksam geworden ist und noch in sinnloser Weise über sie redet, »wie über etwas, das mit ihm geschieht« (130 / 10,19f), hat er in tieferem Sinne noch nie in seinem Leben gearbeitet. Er ist wie ein Kind (166 / 50,7–10), das noch kein ausgeprägtes IchBewusstsein hat und bei der Aufforderung ›Gib mir‹ sich nicht wirklich bewusst ist, dass es sich selbst meint und es selbst etwas begehrt. ›Es selbst‹ lebt in dem äußerlichen ›Mir‹ (166 / 50,10) als ›seinem Selbst‹, das ständig mit äußeren Dingen gefüttert werden muss, weil es von dem Menschen aus sich selbst heraus nicht erfüllt werden kann.4

e)

Der Schicksalsschlag der ›zustoßenden‹ Verzweiflung

Doch dann geschieht etwas, das dem Unmittelbaren sein Glück zerstört (166f / 51,1–18). Der ›Schicksalsschlag‹ (166 / 51,9) könnte ihn auf seine eigene verzweifelte Leere wahrhaft aufmerksam machen. Die Unmittelbarkeit des Verzweifelten würde nicht in das zwiespältige Selbstverständnis seines verzweifelten Selbstseins und seiner selbst, der über sich verzweifelt ist, münden, so dass sich die Verzweiflung in einer mittelbaren Form fortsetzte – ob diese Fortsetzung überhaupt möglich ist, wird noch zu beobachten sein –, sondern die Unmittelbarkeit der Verzweiflung würde gänzlich ausgelöscht, wenn der Mensch durch und durch in seiner Nichtigkeit verzweifelte. So bestände hier die Möglichkeit, die Verzweiflung zu beenden, aber das ist dem Unmittelbaren trotz allem Leid unmöglich. Er nennt sich unglücklich und hängt sich damit noch an sein Glück, das ihm genommen wurde. Statt sein Glück aufzugeben, das sich als ein allzu zerbrechliches Ding herausgestellt hat und 4 Siehe dazu auch Cappelørn, Verzweiflung des Spießbürgers, 144f.

204

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

insofern auch kein so großes Glück gewesen sein mochte, starrt er noch wie paralysiert darauf und verzweifelt an ihm. Der so Verzweifelte nimmt das Unglück als verflossenes Glück erleidend hin. Würde er sein Glück wirklich aufgeben, wäre sein Zustand auch nicht mehr unglücklich, und er würde sich für seine wirkliche Verzweiflung öffnen.5 Mag die Unmittelbarkeit zerbrechlich sein, so ist sie doch so ›elastisch‹, dass sie nicht einfach auseinanderbricht, sondern – wie Kierkegaard treffend formuliert – nur einen ›Knick‹ (167 / 51,11) bekommt. Die Unmittelbarkeit des Glücks besteht zwar nicht mehr, weil der Verzweifelte sie nur noch mittelbar durch sein Unglück hat. Aber diese Mittelbarkeit ist nur eine verminderte Unmittelbarkeit, weil beide, Glück und Unglück, im Äußeren bestehen. So wie die aus Glück und Unglück gemischte Einheit des Unmittelbaren zur Seite des Unglücks hin ›knicken‹ kann, so auch zur Seite des Glücks (167 / 51,12–18). Wie im Unglück kann auch im Glück das Erleiden zu stark werden, so dass hier ebenfalls dem Unmittelbaren genommen wird, wofür er eigentlich lebt. Er meint vielleicht dafür zu leben, dass er so glücklich wie möglich werde, aber in Wirklichkeit besteht sein ›Glück‹ darin, dass in seinem mäßigen Glück seine Unmittelbarkeit erhalten bleibt, deren ungebrochene Einheit ihm selbst den Schein des Ewigen gibt (166 / 50,6f). Aber nun ist ihm ein allzu großes Glück zugestoßen, es hat sich zu viel von dem erfüllt, was er begehrt und sich gewünscht hat. Er könnte bemerken, dass er selbst für das Glück gelebt hat, d. h. zwischen ihm selbst und seinem Glück entstünde ein Knick. Aber wie der Unglückliche seinem mäßigen Glück nachhing, so ist auch der Überglückliche ihm verbunden. Er hält es fest, um nicht sehen zu müssen, dass sein übergroßes Glück über ihn hinausgeht und damit eine Differenz zwischen seinem Glück und ihm entsteht. Diese Differenz verlangte seine Reflexion. Aber wie soll er sich selbst von seinem Glück unterscheiden, wenn er sich selbst nicht anders denn als Glücklicher versteht? Als Unmittelbarer bleibt er über sein Glück ›geknickt‹, und das ist seine oberflächliche Verzweiflung. Der Unmittelbare verzweifelt an dem Irdischen, das ihn eigentlich nie zur Verzweiflung bringen könnte. Der Verlust von Irdischem kann seine Seele durch deren Leibverbundenheit treffen, aber er kann sie nicht in ihrer Möglichkeit, Geist zu sein, berühren. Weil der unmittelbar Verzweifelte gegenüber der Geistigkeit die Bestimmungen der Sinnlichkeit vorzieht, hat er keinen Blick für das wahrhaft Ewige. Wenn ihm seine sinnliche Bestimmtheit brüchig wird, könnte sich sein eigentlicher geistiger Verlust zeigen – wenn er nicht den Verlust im Bereich des Sinnlichen als den zum Verzweifeln Entscheidenden ›mystifiziert‹ hätte (vgl. 167 / 51,19f). Die Mystifizierung liegt in der Konsequenz seiner 5 Zum Unmittelbaren, der das Unglück nicht erfassen kann, sondern bloß empfindet, siehe SKS 7, 403 / AUN2, 151.

Die Verzweiflung der reinen Unmittelbarkeit

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spezifischen Verzweiflung, die das Glück zur Nicht-Verzweiflung erhebt, wenn mit ihm der Anschein erweckt wird, als ob es etwas Ewiges wäre.

f)

Die Verzweiflung ›im Rücken‹ Also er [sc. der Unmittelbare] verzweifelt, das heißt, mit seltsamer Verkehrtheit und in vollkommener Mystifikation, ihn selbst betreffend, nennt er es verzweifeln. Aber verzweifeln heißt das Ewige verlieren – und von diesem Verlust spricht er ja nicht, träumt er nicht. Das Irdische zu verlieren, bedeutet als solches keine Verzweiflung, und doch, davon spricht er, und das nennt er verzweifeln. Was er sagt, ist in einem gewissen Sinne wahr, nur nicht in dem Sinne, in dem er es versteht; er ist in einer verkehrten Stellung, und was er sagt, muss andersherum verstanden werden: er zeigt auf das, was nicht Verzweiflung ist, und erklärt, er sei verzweifelt, währenddessen spielt sich die Verzweiflung allerdings hinter ihm ab, ohne daß er etwas davon weiß (167 / 51,19–52,6).

Auch vom Schicksal geschlagen hört der Unmittelbare nicht auf, mit dem anderen ›zusammenzuhängen‹, zeigt auf das zugestoßene andere und erklärt, er sei verzweifelt. Sein Selbst-Bewusstsein gleicht noch dem ›Mir‹ des Kindes (166 / 50,10), das von sich wie von jemand anderes spricht. Der Verzweifelte zeigt auf seinen Verlust des Irdischen und bemerkt nicht den des Ewigen ›hinter seinem Rücken‹. Würde er sich ›umdrehen‹, könnte er nicht mehr auf etwas zeigen, weil dort alles verloren ist und er seinen Untergang verstehen müsste. In seinem Rücken liegt er selbst in seiner ganzen Verzweiflung (vgl. 167 / 52,3–6.). Der Verzweifelte hat sich in sich selbst – oder besser aus sich heraus – verkehrt und sich aus dem Blick verloren. Nicht ›er selbst‹, als ein ›Jemand‹ in Zeit und Welt verstanden, ist in Wahrheit verzweifelt, sondern derjenige, der sich als solcher ›Jemand‹ ständig erleidet. In dieses Leid hat sich der unmittelbar Verzweifelte gestürzt und es als Glück für sich mystifiziert. Ausschließlich im Horizont von Glück und Unglück spielt sich für ihn ab, was er Verzweiflung nennt, ohne dass er sich bewusst wäre, dass diese Horizontverengung auf das Zeitlich-Weltliche schon Verzweiflung ist. Der Gedanke der verkehrten Stellung lässt sich bis in die höheren Verzweiflungsformen verfolgen. Im Unterschied zum unmittelbar Verzweifelten hat sich der intensiver Verzweifelte umgedreht, aber nicht zu sich selbst, sondern statt dem äußeren Schein eines irdisch-endlichen Selbstseins sich dem inneren geistigen Schein eines unendlichen Selbstseins in seiner Vorstellung zugewandt. Er verkehrt sein verzweifeltes Selbstverständnis nicht nach außen, sondern nach innen, wo der Verzweifelte zwar er selbst ist, aber nun wiederum in einer verkehrten Stellung zu sich selbst. Wenn Kierkegaard von dem Rat- und Gerichtshaus spricht, dem der unmittelbar Verzweifelte seinen Rücken zugewandt hat (167 / 52,6–9), liegt darin ein

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Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

theologischer Hintersinn, weil dort über den Verzweifelten Recht gesprochen wird. Er wird als derjenige gerichtet, der die Forderung der Ewigkeit nicht erfüllt und dem Untergang ewig preisgegeben ist. Dieses Gericht ist aber zugleich die Rettung für den ihm zugewandten Verzweifelten, weil es ihn aus der Unwahrheit seiner Verzweiflung in die Wahrheit seiner selbst stellt. Hingegen richtet derjenige sich selbst, der diesem Gericht den Rücken zukehrt oder vor ihm zu fliehen versucht. Das Gericht wird er durch seine Flucht nicht los, wie Kierkegaard später in dem eindrücklichen Bild eines mit der Eisenbahn fliehenden Mörders festhält. Der Mörder merkt auf seiner Flucht nicht, dass der Haftbefehl gegen ihn mit derselben Eisenbahn übermittelt wird (235 / 129,27–35).

g)

Der Verzweiflungszustand des ›Totstellens‹

Die Verzweiflung des Unmittelbaren zeigt sich in einem eigenartigen Totsein (167 / 52,11–24). Sein ›Tod‹ besteht in einer gänzlichen Handlungsunfähigkeit angesichts des Zugestoßenen. Der Unmittelbare hat auch vorher selbst nicht gehandelt, weil er sich nur ›im Zusammenhang‹ (166 / 50,5) mit den anderen bewegte. Aber diese Verbundenheit hat einen ›Knick‹ erhalten, der Zusammenhang ist aufgebrochen und ein Schicksalsschlag hat ihn ausgesondert. Der Verzweifelte ist nun in gewisser Weise anders als die anderen seiner Umgebung, was für ihn, der nur im anderen zu leben meint, den Tod seines Selbstseins – wie er es versteht – bedeutet. Aber so leicht stirbt er nicht, weil hinter seinem Rücken die Verzweiflung steckt, die ihn um die Unmittelbarkeit kämpfen lässt. Er könnte sich derart aktiv gegen das Zugestoßene wehren, dass er sich weiter von dem Zugestoßenen absondern würde, was aber der Unmittelbarkeit zuwiderliefe und Selbstbewusstsein hervorriefe. Als unmittelbar Verzweifelter führt er den Kampf nur in passiver Weise. Er lässt sich seinem unmittelbaren Wesen gemäß von dem Zustoßenden treffen, und als Unmittelbarer betrachtet er sich in seinem Selbstsein, seiner Identität, als tot (167 / 52,11f). Arne Grøn sieht in dem reinen Erleiden eine trügerische Selbstauffassung des Unmittelbaren: Daß es ein ›reines‹ Erleiden ist, muß bedeuten, daß man selbst nichts tut. Das wird im folgenden als ein Selbstbetrug aufgedeckt, denn es kann erst dann von Verzweiflung über etwas die Rede sein, wenn man selbst dem, was einem widerfährt, Bedeutung zumißt. Soweit ich sehen kann, ist die reine Unmittelbarkeit (das reine Erleiden) eine Selbstauffassung, die sich eben als unhaltbar erweist (Begriff Verzweiflung, 51). Grøn hat darin recht, dass es sich bei der reinen Unmittelbarkeit um eine unhaltbare Selbstauffassung handelt, auch wenn man im strengen Sinn hier noch von keiner Selbstauffassung sprechen kann, weil der Unmittelbare an eine völlig unsinnige Selbst-

Die Verzweiflung der reinen Unmittelbarkeit

207

vorstellung gebunden ist. Der Verzweifelte macht sich so zum Opfer seiner Verzweiflung, dass er sich tot stellt (167 / 52,11–24). Wenn man sich tot stellt oder in Ohnmacht fällt, ist zwar kein Tun zu bemerken, keine Abgrenzung seiner selbst gegenüber der Widerfahrnis, aber doch ist es paradoxerweise ein Tun, durch das man sich vor dem Widerfahrenden schützt. Insofern wird das reine Erleiden durch keine Handlung gestört, aber dem reinen Erleiden wird in der Ohnmacht des Verzweifelten seine Wirkung gleichsam vorweggenommen. Darin liegt ein dem Verzweifelten nicht bewusster Ansatz von Handlung.

Wusste der Unmittelbare im Glück sich selbst als nicht verzweifelt, so nennt er sich nun aufgrund des Geschehenen unglücklich und verzweifelt (vgl. 167 / 52,11). Aber nur als der, der er nicht mehr ist, nennt er sich derart verzweifelt, nicht als der, der er nun als er selbst ist. Er war nur ›er selbst‹ in seinem Glück und meint es durch den Schicksalsschlag verloren zu haben. In diesem Zustand der Verzweiflung wächst der Wunsch, ein anderer zu sein (168f / 53,10–54,12). Schon in der bloßen Vorstellung muss ein Mensch, der sich selbst ›umzutauschen‹ wünscht, absurd und komisch (168 / 53,18f) wirken, weil er unmöglich ein anderer als er selbst sein kann. Den Unsinn seines Wunsches durchschaut der unmittelbar Verzweifelte nicht. Kierkegaard gibt treffend die erleidende Einstellung eines solchen in seinem Selbstsein unmittelbaren Menschen wieder, wenn er nur wünscht (168 / 53,11), dass sich solches machen ließe, ohne es zugleich zu machen. Sonst würde er auf die Absurdität des eigenen Wunsches stoßen, weil er sich selbst für die Umsetzung seines Wunsches aktivieren müsste. Aber der Wunsch eines so Verzweifelten verlässt die Einbildung nicht. Diese Einbildung ist nicht zu verwechseln mit der Phantasie, wie sie in höheren Verzweiflungsformen besteht und die nach innen und nicht nach außen geht. Der Unmittelbare bildet sich nur Äußerlichkeiten ein, während etwa die Phantasmagorien des in der Möglichkeit Verzweifelten in ihrer Geistigkeit verinnerlicht sind. Dieser stellt sich nicht etwas ihm selbst Äußeres oder anderes vor, sondern in den einzelnen Phantasmagorien meint er ganz er selbst zu sein. An der Verzweiflung der Unmittelbarkeit zeigt sich eine besondere Eigenart, die sie mit den höheren Verzweiflungsformen gemeinsam hat und zur Grundstruktur von Verzweiflung überhaupt gehört. Der unmittelbar Verzweifelte bildet sich ein, dass die ihn erlösende Veränderung eine leichte Sache sei, so als wäre sie so leicht wie ein Kleiderwechsel oder das Ausbügeln eines Knicks. In ähnlicher Weise wird etwa das intensiv verzweifelte Selbst, das vor seiner Verzweiflung in phantastische Luftschlösser flieht, »am allernächsten« (183 / 71,30) daran sein, das Gebäude vollendet zu haben. Dem Verzweifelten ist es grundsätzlich eigen, dass er sich ständig einbildet, sein verzweifeltes Selbst bzw. sein mystifiziertes äußeres verzweifeltes Selbst schon fast überwunden zu haben. Er wirft in seiner Verzweiflung jeden Augenblick sein verzweifeltes Selbst oder was er für ein solches hält, von sich ab, und es muss scheinen, als habe er sein Ziel erreicht – aber doch zieht er es sich im selben Augenblick wieder zu.

208 h)

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

Die Zeit nach dem Schicksalsschlag der Verzweiflung

Der Unwissende hätte erkennen können, dass sein Selbstsein nicht im Glück aufgeht, aber statt sich diesem Wissen auszusetzen, bleibt er bei seiner SelbstErfüllung im Glück, indem er sein unglückliches Selbstsein in seiner Ohnmacht festhält. Denn wenn er selbst wieder im Glück auferstehen würde, »sich also plötzlich alles änderte, alle die äußerlichen Dinge, und sein Wunsch erfüllt würde« (167 / 52,13–15), so käme wieder Leben in ihn, so richtete er sich wieder in Unmittelbarkeit auf. Aber eine solche Änderung dürfte meistens nicht eintreten, sondern das ›Leben‹ dieser ›geknickten‹ Person nimmt eine andere Wendung, wenn die Hilfe ausbleibt. Sie macht dasselbe, was sie im Glück gemacht hat. Sie sieht sich in unmittelbarem Zusammenhang mit den anderen und lebt entsprechend. Doch ihren ›Knick‹ in der Unmittelbarkeit kann sie nicht beseitigen, so dass auch der ›Zusammenhang‹ mit den anderen darin seinen ›Knick‹ hat, dass der Anschluss an sie nur zur ›Nachäffung‹ (168 / 52,33) gerät. Die unglückliche Person fängt an, ein bisschen vom Leben zu verstehen (168 / 52,32f), weil sie nicht mehr gänzlich in dem Schein lebt, sie könnte in Anpassung an die anderen sie selbst sein. Aber dieses Verständnis dringt nicht tiefer und bringt kein Leben in die Person, weil sie ihre Aussage »er selbst wird er nie mehr« (168 / 52,31f) nicht auf ihr inneres Selbstsein beziehen kann. Dass Kierkegaard den so Verzweifelten von sich in der dritten Person sprechen lässt, macht deutlich, dass dieser sich nicht mit dem ›Selbst‹ identifiziert, das nie mehr er selbst werden kann. Zwar ist ein gewisser Fortschritt zu verzeichnen, wenn nun in der Verzweiflung die Bestimmungen ›sein Selbst‹ und ›er selbst‹, die beide im Glück noch ineinander lagen, auseinandergetreten sind und damit die Grundstruktur höherer Verzweiflungsformen präfigurieren. Aber der Verzweifelte selbst, der diese ›geknickte‹ Selbstaussage macht, steht der eigenen Selbstdifferenz wie ein unbeteiligter Dritter gegenüber. Kierkegaard schickt noch eine Bemerkung zur ›Christlichkeit‹ eines gescheiterten Glücklichen nach, die dessen Selbstsein knapp und lakonisch bloßstellt: In der Christenheit ist er ebenfalls Christ, geht jeden Sonntag in die Kirche, hört und versteht den Pfarrer, ja sie verstehen sich; er stirbt; der Pfarrer führt ihn für 10 Reichstaler in der Ewigkeit in die Gesellschaft ein – aber ein Selbst war er nicht, ein Selbst wurde er nicht (168 / 52,34–39).

Wenn der ehemals Glückliche den Pfarrer versteht, dann ist gerade hier der nicht aufhörende Zusammenhang mit den anderen zu spüren, nun mit dem illusorischen Anschein, als ob wenigstens post mortem etwas Ewiges in ihm sein werde (vgl. 166 / 50,6f). Sein Glück besteht auch in der Ewigkeit darin, sich an die

Die Verzweiflung der reinen Unmittelbarkeit

209

anderen zu hängen. Er wird vom Pfarrer in die postmortale Gesellschaft eingeführt, in welcher der Verstorbene von Schicksalsschlägen verschont endlich ganz unmittelbar mit den anderen zusammen sein kann.

i)

Die Zuordnung zur übergeordneten Verzweiflungsform der Schwäche

Die beschriebene Form der verzweifelten Unmittelbarkeit gehört zu den Verzweiflungsformen der Schwäche, bei denen der Mensch verzweifelt nicht er selbst sein will. Kierkegaard gibt einen genaueren Aufriss über die Verzweiflung des Nichtselbstseinwollens in ihren verschiedenen Ausprägungen: Diese Form der Verzweiflung ist die: verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, oder noch niedriger : verzweifelt kein Selbst sein zu wollen, oder am allerniedrigsten: verzweifelt ein anderer sein zu wollen als man selbst, sich ein neues Selbst zu wünschen (168 / 53,1–5).

Drei Formen zählt Kierkegaard auf, die zur Verzweiflung der Schwäche gehören. Die erstgenannte Form könnte zu Missverständnissen Anlass geben, weil sie eine zweifache Bedeutung hat. Die Verzweiflungsform ›verzweifelt nicht man selbst sein wollen‹ bezeichnet zum einen die übergeordnete Verzweiflungsform, der verschieden intensive Verzweiflungsformen – unter anderem die Verzweiflung der Unmittelbarkeit – angehören. Zum anderen liegt im verzweifelten Nichtselbstseinwollen eine fortgeschrittene Verzweiflungsform vor, die nicht mehr der Unmittelbarkeit verhaftet ist. Auch der unmittelbar Verzweifelte will nicht er selbst sein. Aber seine SelbstVorstellung ist in ihrer Äußerlichkeit noch gänzlich unterentwickelt. Er bräuchte zuerst die Vorstellung eines inneren Selbstseins, um an diesem zu verzweifeln. Dieser fortgeschrittenen Verzweiflungsform ordnet Kierkegaard noch zwei weitere, weniger ausgeprägte Formen zu. Es sind also folgende drei Stufen des verzweifelten Nichtselbstseinwollens zu unterscheiden: 1. Die voll ausgebildete Struktur des verzweifelten Nichtselbstseinwollens behandelt Kierkegaard im Kapitel über die Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst (C.B.b.a .2). Hier hat der Verzweifelte eine Vorstellung von einer Selbstgestalt, die er nicht sein will. Er weiß, dass er selbst schwach und verzweifelt ist, aber – schwach, wie er ist – will er so nicht sein. 2. Niedriger als diese intensivste Verzweiflung der Schwäche ist diejenige, verzweifelt kein Selbst sein zu wollen. Kierkegaard bezeichnet diese Verzweiflungsform im Anschluss an die Verzweiflung der Unmittelbarkeit als eine Verzweiflung der Unmittelbarkeit, die Reflexion in sich hat. Wenn dieser Verzweifelte nicht er selbst sein will, dann besitzt er schon eine gewisse

210

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

Vorstellung eines inneren Selbstseins, aber er lässt sich nicht auf sie ein – nicht weil seine Schwäche darin liegt, dass er sich dieser Selbstgestalt verweigert, sondern weil er noch zu schwach ist, mit seiner unmittelbaren Selbstvorstellung gänzlich zu brechen. Er kann das innere Selbstsein nicht sein Selbst nennen, weil er sich noch in der Unmittelbarkeit heimisch fühlt. Deshalb formuliert Kierkegaard diese Verzweiflungsform der Schwäche ›unpersönlicher‹ als die vorangegangene: verzweifelt kein Selbst sein wollen. 3. Die allerniedrigste Form der Verzweiflung der Schwäche ist die reflexionslose Unmittelbarkeit, wie sie zuletzt beschrieben wurde. Der Verzweifelte, der nach seinem Verständnis von einem Schicksalsschlag getroffen wurde, wünscht anschließend ein anderer zu sein als er selbst und versucht sich wieder in unmittelbaren Zusammenhang mit den anderen zu stellen. ›Er selbst‹, als der er ein anderer sein will, ist dabei ganz äußerlich genommen und nicht seine geistige Selbstgestalt, die er nicht ist noch werden wird. Sich eine neue Selbstgestalt wünschen bedeutet also sich von einer Äußerlichkeit zur anderen zu sehnen. Für Theunissen gehört der analysierte Satz »zu den unsinnigsten Sätzen in der Krankheit zum Tode« (Begriff Verzweiflung, 25, Anm. 24): Abgesehen von der Uneinsichtigkeit der Prämisse, nach der das verzweifelte Nichtselbstseinwollen niedrig steht, erscheint unverständlich, wieso dies, kein Selbst sein zu wollen, noch niedriger steht, da ja doch nach Kierkegaards eigener Meinung jeder Verzweifelte sein Selbst loswerden will, und am wenigsten kann befriedigen, daß Kierkegaard, wenn er den Wunsch, ein anderer zu sein, zur niedrigsten Gestalt des verzweifelten Nichtselbstseinwollens deklassiert, den Unterschied zwischen diesem und dem verzweifelten Selbstseinwollen einebnet (Ebd.). Mir scheint sich an dem Satz Kierkegaards eher die Unverträglichkeit der Interpretationsprämissen Theunissens mit dem Ansatz des Dänen zu zeigen. Gegenüber dem ausgeprägten Nichtselbstseinwollen steht Kein-Selbst-sein-wollen niedriger, weil es noch mehr oder weniger einer Selbstvorstellung ausweicht. Wer kein Selbst sein will, will sich in seinem schwach entwickelten Selbstbewusstsein loswerden, während jemand im Nichtselbstseinwollen intensiv »mit dem Verhältnis seines Selbst zu sich selbst« (179 / 66,6) zu tun hat. Schließlich ebnet die Zuordnung von ›Ein-anderer-sein-wollen‹ zu den Formen des Nichtselbstseinwollens keineswegs den Unterschied zwischen verzweifelten Selbstseinwollen und Nichtselbstseinwollen ein. Wer ein anderer sein will, der will nicht er selbst sein, so wie er es selbst will, sondern richtet sich, jeglicher tieferen Selbstvorstellung bar, gänzlich nach den anderen. Er will keine eigene Selbstgestalt gewinnen, sondern einfach der andere als ›Selbst‹ sein. Gegenüber dieser Geistlosigkeit durchdringt derjenige, der in ausgeprägter Weise er selbst sein will, alles andere mit sich selbst, so dass in jedem Augenblick für ihn selbst durchsichtig ist, dass er selbst und kein anderer in dieser Selbstvorstellung am Werke ist.

Die Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion

211

2.

Die Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion

a)

Der Zwiespalt zwischen dunkler Selbstvorstellung und unmittelbarem Selbstsein

In der Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion ist der Verzweifelte auf sich selbst aufmerksam. Er hat sich selbst in sich reflektiert (169 / 54,28ff). Was bedeutet das für sein Selbstverständnis? Der Mensch hat sich ein Stück von seiner Umwelt abgesondert, hat seine Selbständigkeit gegenüber den anderen reflektiert. In seiner Reflexion handelt er selbst. Aber was passiert, wenn er diese Selbst-Vorstellung sein will – die für sich genommen ihm nicht mehr als eine ›dunkle‹ Möglichkeit ist (170 / 55,20)? Das Selbstsein des so Verzweifelten setzt sich aus der Unmittelbarkeit, die es noch mit sich trägt, und der schon aus der Unmittelbarkeit gelösten reflexiven Selbst-Vorstellung zusammen. Die Schwierigkeit in dieser ›Zusammensetzung des Selbst‹ (169 / 54,38), die eine Synthese aus durch Selbsttätigkeit entstandener Möglichkeit und aus unmittelbarer Notwendigkeit ist, liegt in der Notwendigkeit dieser Selbstgestalt, die bedeutet, dass das Selbstsein »ein ganz bestimmtes Etwas und in diesem Sinne das Notwendige ist« (152 / 34,29f). Die Selbstgestalt ist noch nicht vom Äußeren abgesondert, so dass sie eine abstrakte Selbst-Vorstellung wäre, sondern sie ist eine durch den unmittelbaren Zusammenhang mit dem anderen in Zeit und Welt bestimmt. Nun treten Schwierigkeiten in der notwendig bestimmten Selbstgestalt auf, die sie in ihrem Selbstsein erschüttern (169 / 54,35–39). Der Unmittelbare mit Reflexion entdeckt vielleicht in der einen oder anderen Form die Veränderlichkeit des unmittelbaren Selbstseins, so dass es in seiner bestimmten Notwendigkeit nicht mehr zu halten ist. Es stellte sich als gar nicht so notwendig heraus, wie er es bisher auffasste. So müsste er mit seinem derart entzauberten unmittelbaren Selbstsein brechen. Gemäß dem Geschehenen müsste der Mensch sich noch mehr der dunklen Selbstvorstellung aussetzen, die er anfänglich zu reflektieren begonnen hat. Aber da versagen ihm seine Kräfte, denn der reflexiv-Unmittelbare ist in seinem unmittelbaren Selbstanteil nicht ein Handelnder, sondern ein Erleidender. Seine Selbstbesinnung hängt noch am Äußeren, das ihn gerade dann zur Verzweiflung bringt, wenn es brüchig wird, und ihn damit weit mehr auf die dunkle Selbstvorstellung stößt, als ihm als Unmittelbarem mit Reflexion lieb ist. Bevor der Unmittelbare mit Reflexion über seine vom Äußeren entleerte Selbstgestalt schaudern und verzweifeln müsste, verzweifelt er an seiner gebrochenen Unmittelbarkeit, hält sie fest, macht Konzessionen und vermeidet mit ihr gänzlich zu brechen. Das Erleiden ist in dieser Verzweiflung noch ›stärker‹ als die Selbsttätigkeit. Der Verzweifelte bricht nicht aktiv mit der Unmittelbarkeit,

212

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

sondern gesteht in Passivität verharrend den ansatzweise eingetretenen Bruch der Unmittelbarkeit zu. Er lässt diesen Bruch zu und versteht ihn als ›Transaktion‹ (170 / 55,13) des unmittelbaren Selbstseins in eine von der Umwelt verschiedene Selbstgestalt. In diesem Zugeständnis liegt sein Versuch, sein Selbstsein noch zu wahren. Der unmittelbar Verzweifelte mit Reflexion ist einerseits in seinem Selbstverständnis weiter fortgeschritten als der nur Unmittelbare, der unter dem Stoß in seine Unmittelbarkeit ohnmächtig wird (170 / 55,14f) und in seiner Ohnmacht sich nicht loslässt, sondern ganz still verhält, um auf diese Weise ›sich selbst‹ nicht völlig aufzugeben. Doch ist der reflexiv-unmittelbar Verzweifelte andererseits noch weit entfernt von dem selbstreflexiv Verzweifelten, der sich selbst nicht durch die Unmittelbarkeit hindurch zu wahren versucht, sondern aus sich selbst heraus konstruieren will (182 / 70,5f). Der reflexiv-unmittelbar Verzweifelte ist wohl der selbstreflexiven Verzweiflung auf der Spur, wenn er eine dunkle Vorstellung davon hat, dass sogar etwas Ewiges in ihm selbst sein muss (170 / 55,19ff), und Phantasie genug für eine Möglichkeit besitzt, die den Bruch mit der Unmittelbarkeit bedeuten würde (170 / 55,6f). Aber er lässt diese Vorstellung im Dunklen, wenn er das Unmittelbare und dessen Anschein, dass auch in ihm etwas Ewiges sei, noch festhält. Er durchschaut zwar ansatzweise den illusorischen Anschein des unmittelbaren ›Ewigen‹ (vgl. 166 / 50,6f), doch nur zu einem gewissen Grad, so dass er auch nur zu einem gewissen Grad vom Ewigen seiner Selbstgestalt weiß. Hätte er eine klare Vorstellung von ihr, könnte ihm das Äußere völlig gleichgültig sein, weil es in seiner Zeitlichkeit zum Ewigen selbst nichts beiträgt. In der höheren Verzweiflung wird das Äußere nur noch als ›Schale‹ für eine Innenwelt des Selbst dienen, in der sich die Verzweiflung abspielt (186 / 75,19–22). Charakteristisch für diese reflexiv-unmittelbare Form des Selbstseins ist der in sich gehemmte Wille. Mit dem Ansteigen der Reflexion in den folgenden Verzweiflungsformen wird die Hemmung des Willens verschwinden und das Selbstseinwollen des Verzweifelten sich so verstärken, dass es von keinem solchen Widerwillen gegen sich selbst getrübt ist. Dass dieses eindeutigere Selbstseinwollen dennoch das Nichtselbstseinwollen einschließt, ohne von ihm gehemmt zu sein, wird aus seinem Wesen als Trotz ersichtlich werden. Der reflexiv-unmittelbar Verzweifelte hängt in seiner Verzweiflungsform fest und kann nicht seine nach innen gerichtete geringgradige Selbst-Reflexion gegen die Unmittelbarkeit zur reinen Selbst-Reflexion intensivieren, weil er dann gegen seine reflexiv-unmittelbare Selbstgestalt handeln müsste. Aber gegen seine vermeintliche Selbstgestalt handeln kann kein Verzweifelter, er müsste denn den Verstand verloren haben und verzweifeln wollen.

Die Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion

213

Theunissen hat die Zuordnung von Reflexion und Handlung bei Kierkegaard kritisiert: Der in der Krankheit zum Tode protokollierte Verzweiflungsprozeß ist faktisch allein ein Fortschritt in der Reflexion. Kierkegaard muss ihn aber für eine zunehmende Umsetzung von Erleiden in Handeln ausgeben, weil er sein Ziel, den schon in der Schwachheit verborgenen Trotz zutage zu fördern, auf dem Umweg über das Handeln zu erreichen glaubt. Die Sache rechtfertigt sein Vorgehen nicht. Reflexion ist im allgemeinen keine Handlung und als Reflexion von Verzweiflung am wenigsten. Ja, im Verzweiflungsprozeß führt sie eher zum Gegenteil von Handeln, zur Vertiefung des Erleidens in sich selbst. Ihre Umdeutung in Handeln stellt also die Sache der Verzweiflung auf den Kopf (Begriff Verzweiflung, 92). Theunissen ist Recht zu geben, dass Reflexion per se noch nicht als Handlung anzusehen ist, ebensowenig eine Reflexion von Verzweiflung. Auch der gänzlich Unmittelbare reflektiert über seine Verzweiflung, ohne dass jedoch – ganz im Sinne Kierkegaards – von Handlung zu sprechen wäre. Was die Reflexion aber in der nun vertieften Unmittelbarkeit zur Handlung macht, ist ihre ›Selbstischkeit‹. Die Reflexion erhält gleichsam erst ihr Subjekt, durch das sie zur Handlung, zur Selbsttätigkeit qualifiziert ist. Der Reflektierende erkennt sich im Spiegel seiner Reflexion. Dies wäre für sich gesehen auch noch keine Handlung, aber mit dieser Selbstreflexion beginnt der ›Aussonderungs-Akt‹ von der Umwelt, dessen Impuls nicht mehr auf die Umwelt allein zurückgeführt werden kann. Er kommt vom Verzweifelten selbst, er macht sich selbstständig gegenüber seiner Umwelt. In diesem Sinne handelt der Verzweifelte in seiner Reflexion. Allerdings ist zu beachten, dass diese Handlung wiederum nicht die Qualität des Verhaltens zu sich selbst besitzt, auch wenn es so scheint. Insofern hat Theunissen in seiner Kritik an dem Handlungscharakter der Reflexion einen wichtigen Sachverhalt angesprochen. Der Verzweifelte verhält sich nicht zu sich selbst, sondern nur zu einer Vorstellung seiner selbst. Noch das höchst verzweifelte Selbstsein, das in intensivster Weise handelt, bleibt mit seiner gesamten Handlung »innerhalb einer Hypothese« (183 / 71,5f). Das kann in der Reflexion auch gar nicht anders sein, die nach Kierkegaard nur unter der Kategorie der Möglichkeit zu verstehen ist.6

b)

Die Zeit ›nach‹ dem drohenden Bruch mit der Unmittelbarkeit

Kierkegaard erläutert die ambivalente Situation des Unmittelbaren mit Reflexion, der nicht er selbst sein will, ohne jedoch von seiner Selbst-Vorstellung lassen zu wollen, mit einem Bild. Dieser Verzweifelte ist mit einem Menschen zu vergleichen, der seine Wohnung widerwillig verlässt, ohne eine neue zu beziehen, vielmehr draußen vor dem Haus auf deren Veränderung wartet, weil er sie weiter als Wohnsitz haben will (170 / 55,36–56,6). Dass der Mensch seine Wohnung verlässt, kennzeichnet ihn als Leidenden. Er gibt der Schwierigkeit nach und weicht nach außen aus. Besäße er kein erleidendes Selbstsein, sondern 6 Zum Handlungsbegriff bei Kierkegaard siehe Lincoln, Glauben und Hoffen.

214

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

ein sich selbst behauptendes, würde er versuchen – um im Bild zu bleiben –, sein ›Lebenshaus‹ umzubauen. Er würde eine ›Umbildung‹ (182 / 69,37) vornehmen, um sein Haus, um sich selbst, so zu haben, wie er es will. Doch dazu ist der Wille des Menschen außer Haus zu schwach, er bleibt nur ›in Verbindung‹, ohne etwas ändern zu wollen. Er nimmt die Haltung ein, die schon dem rein Unmittelbaren eigen war, wenn er damit rechnet, dass die Schwierigkeit vorübergeht. Dabei flieht er aber nicht wie jener in eine ohnmächtige Haltung, in der die Selbstvorstellung für tot erklärt wird, sondern er hat schon so viel Reflexion in seine Wohnung gesteckt, dass er sie weiterhin als seine eigene verstehen muss (170 / 56,4f). Aber solange die Schwierigkeit andauert, traut er sich nicht, zu sich selbst zu kommen, wie »mit spezieller Prägnanz« (171 / 56,7f) über einen solchen Menschen gesagt wird, der nicht er selbst sein will. Der Verzweifelte will schon, aber traut sich eben nicht. Das selbsttätige Wollen ist durch das zugehörige Erleiden in sich geschwächt. Statt durch sein Wollen sich zu verändern, hofft der Verzweifelte darauf, dass er die dunkle Möglichkeit vergessen werde. Schon vor dem Auftreten der Schwierigkeit besaß er in seiner Reflexion eine ›dunkle Vorstellung‹ (170 / 55,20) von sich. Wenn er nun zaghaft sich selbst zu übernehmen versucht, wird er mit der Dunkelheit seiner Vorstellung konfrontiert. Die dunkle Selbstvorstellung bezieht sich auf den reflektierenden Unmittelbaren selbst. Er wird also mit sich selbst, wie er in seiner zaghaften Vorstellung ist, konfrontiert. Wollte er sich nun wirklich selbst übernehmen, müsste er in der Dunkelheit seines Selbstseins durch und durch verzweifeln. Aber er verzweifelt daran, dass er eine solche Dunkelheit erleiden muss, und versucht, die Dunkelheit seiner selbst wiederum durch Vergessen zu verdunkeln. Der Unmittelbare mit Reflexion verhält sich angesichts seiner selbst seinem Wesen entsprechend. Als passiv Unmittelbarer hofft er, die dunkle Möglichkeit zu vergessen. Aber so einfach kann er sie nicht vergessen, sondern düpiert sich in seinem Vergessenwollen selbst, wenn er als Reflektierender immer wieder bei sich selbst nachsieht, ob sich die Schwierigkeit aufgrund einer Veränderung auch wirklich vergessen lässt. Die Reflexion hat ihn an seine Selbst-Vorstellung gebunden, die er nicht vergessen kann. Aber nun tritt doch eine Veränderung ein (170f / 56, 12–16). Seine Umwelt verändert sich, so dass sich ein tieferes Zugeständnis, vor dem es den Verzweifelten schauderte, erübrigt, weil ihm ein bestimmtes Äußeres, in dem er er selbst zu sein meint, doch nicht verloren gegangen ist. Nun kann der Verzweifelte wieder in seine Wohnung oder sein Haus einziehen, als ob nichts gewesen wäre. Er wohnt wieder mit den anderen wie zuvor zusammen und »ist wieder er selbst« (171 / 56,13f), der sich etwas vom Äußeren abgesondert hatte, aber nun wieder im Äußeren aufgeht. Eine weitergehende Selbstreflexion fand nicht statt, weil der Mensch seine teilweise abgesonderte Selbst-Vorstellung nicht für sich verstand – sonst hätte er sich dieser dunklen Vorstellung zuwenden müssen, vor der es ihn

Die Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion

215

aber schaudert –, sondern »in der Zusammensetzung« (169 / 54,37f) mit der Unmittelbarkeit.

c)

Die »blinde Tür«

Doch wie in der reinen Unmittelbarkeit kann auch hier eine Veränderung ausbleiben, und der Verzweifelte hilft sich auf andere Weise (171 / 56,17–29). Er will gemäß der eingeschlagenen Richtung nach außen sein Selbstsein übernehmen, mit dem er noch der Unmittelbarkeit verhaftet ist (171 / 56,24f). Er redet wieder in unsinniger Weise über sein Selbst, das nur ein Selbst ist, wie man es üblicherweise nennt, d. h. ein Spiel mit Worten (165 / 49,13).7 Doch so wie jener rein Unmittelbare, der in seinem ohnmächtigen Zustand angesichts der Verzweiflung vergebens auf Veränderung wartete, in seinem weiteren unmittelbaren Leben einen ›Knick‹ (167 / 51,11) mit sich führt, gelingt auch die Hinwendung des Unmittelbaren mit Reflexion zum ›wirklichen‹, tätigen Leben nicht gänzlich. Von der schon bestehenden Reflexion kommt er nicht los, aber betreibt sie sehr vorsichtig, um nicht mit dem tieferen Bruch der Unmittelbarkeit, jener dunklen Möglichkeit, konfrontiert zu werden. Diese »Sache im Hintergrund« (171 / 56,28f) haftet ihm jetzt an, wie sich an seiner Furcht ablesen lässt. Den tieferen Bruch kann er verdrängen, aber nicht auslöschen. Seine geistlos äußere Selbstgestalt ist ein vordergründiges Selbstsein, in dessen Hintergrund eine »Art blinder Tür« (171 / 56,21), hinter der nichts ist, zu finden ist. Der Unmittelbare mit Reflexion hat die Richtung nach innen nicht fortgesetzt, ist zurückgegangen, hat die Tür hinter sich geschlossen und sich ganz nach außen gewandt, so dass eine nunmehr blinde Tür zurückblieb. Die Tür scheint völlig nutzlos und überflüssig zu sein, aber in Wahrheit führte durch sie der Weg zur Rettung aus der Verzweiflung. Denn versuchte der Unmittelbare mit Reflexion die blinde Tür zu öffnen, würde er mit sich konfrontiert, wie er selbst ist. Denn als nach außen gewandtes Selbst ist er das, was hinter der Tür zu finden ist: Nichts. Aber für das nach außen gewandte Selbst macht es keinen Sinn, blinde Türen zu öffnen. Kierkegaard wird die Türmetapher fortsetzen und Verzweifelte vorstellen, die in umgekehrter Weise die Tür nicht nach außen öffnen.8 Die Metapher der Tür deutet an, dass im Folgenden der verzweifelte Mensch in seinem Selbstsein sich aufspaltet und sich selbst von sich selbst durch eine verschlossene Tür abtrennt. 7 Vgl. SKS 21, 133, NB7:104 / T 3, 94: »Denn das Leben der meisten Menschen ist und bleibt doch ein bloß vorgetäuschter Ausfall aus dem nur sinnlichen Dasein. Einige wenige bringen es bis zum richtigen Verständnis dessen, was sie tun sollten – und dann schwenken sie ab.« 8 Siehe hier Kapitel 8.3.b.

216

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

Hier ist er noch nach außen gewandt, in sich einheitlich, wenn nicht diese blinde Tür wäre, die zwar nichts von ihm abtrennt, ihn aber zu sich selbst führen könnte.

d)

Die Frage nach der Unsterblichkeit

Wohl könnte dem reflexiv Unmittelbaren gelingen die ›Sache im Hintergrund‹ (171 / 56,28f) nach und nach zu vergessen. Die blinde Tür scheint endgültig verschwunden, er hat sich ja auch nie um sie gekümmert. Doch kann sich die dunkle Möglichkeit für einen solchen Menschen nicht aufgelöst, sondern nur christlich transformiert haben. Er bewegt sich vollkommen in der geistlosen Äußerlichkeit – wäre da nicht noch eine Frage, die an ihm nagt (171 / 57,3–8). Es ist die Frage nach der Unsterblichkeit. Als einer von den gebildeten Christen lässt ein solcher Mensch sich seine innere Verbindung mit dieser Frage nicht anmerken, sondern stellt sie aus reinem Bildungsinteresse. Die Frage nach der Unsterblichkeit enthält freilich nichts anderes als die ganze Frage nach dem Selbstsein in einem tieferen Sinne (171 / 56,20f). Denn die dunkle Vorstellung der Verzweiflung implizierte, »daß sogar etwas Ewiges im Selbst sein muß« (170 / 55,20f). Dieses Ewige verbirgt sich in der Unsterblichkeit, mit der sich der nach außen gewandte Mensch beschäftigt. Er hat jene Frage nach sich selbst nicht ganz vergessen können. Der Schauder, der ihm damals im Hinblick auf die ›in tieferer Weise‹ (169 / 55,3f) gebrochene Unmittelbarkeit widerfuhr, war der Schauder vor sich selbst und seiner Verzweiflung. Ihm ist etwas von seiner Verlorenheit durch seine gebrochene Unmittelbarkeit hindurch bewusst geworden, was sich in der ihn nicht loslassenden Frage nach dem Ewigen fortsetzt. Das Selbstinteresse des Fragenden spiegelt sich in der genaueren Frage wider, ob man wirklich sich selbst in der Ewigkeit wiedererkennen werde (171 / 57,4ff). Wie der rein Unmittelbare in der Ewigkeit auf die Gesellschaft hoffte (vgl. 168 / 52,37ff), so hofft der Unmittelbare mit Reflexion auf ein Selbstsein in der Ewigkeit. Er hegt immer noch einen gewissen Grad an Reflexion in sich, ohne nach jenem Schauder sich selbst übernehmen zu wollen. Er ist an seinem Selbstsein interessiert, ohne die Frage nach sich selbst in tieferem Sinne stellen zu wollen. Die Geistlosigkeit seines endlichen Selbstseins ist nicht zu verkennen,9 aber auch nicht seine Bindung an eine tiefere Möglichkeit seiner selbst.

9 Vgl. dazu Kierkegaards Charakteristik der Geistlosigkeit in SKS 4, 398 / BA, 104,12–15: »Darin liegt eben ihr [sc. der Geistlosigkeit] Verderben, aber auch ihre Sicherheit, daß sie nichts geistig versteht, nichts als Aufgabe erfaßt, wenn sie auch imstande ist, alles mit ihrer flauen, kalten Feuchtigkeit zu betasten.«

Die Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion

e)

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Die reflexiv-unmittelbare Verzweiflung im lebensgeschichtlichen Horizont

Im zweiten Teil seines Kapitels »Die Verzweiflung über das Irdische oder über etwas Irdisches« (172ff / 57,22–60,39) wiederholt Kierkegaard den Ablauf der reflexiv unmittelbaren Verzweiflung in einem lebensgeschichtlichen Horizont.10 Hier ist der Bogen von dem Jugendlichen, dem der Blick nach innen eigen ist, bis zu dem gesetzten Mann geschlagen, der dieses gleich einer Kinderei vergessen hat. Der Ältere meint, die jugendliche außerordentliche Selbst-Vorstellung als Illusion durchschaut zu haben (173 / 59,1–5), aber merkt nicht, wie er selbst in der Illusion des Äußeren lebt. Er wäre jedoch kein Unmittelbarer mit Reflexion mehr, wenn er nicht die Illusion der Erinnerung hegen würde (173 / 58,37f). So wie der Jugendliche sich ein verzweiflungsloses außerordentliches – nicht der künftigen Realität entsprechendes – Selbstsein in seiner Vorstellung erhoffte, pflegt der Ältere eine verzweiflungslose außerordentliche – nicht der vergangenen Realität entsprechende – Selbst-Vorstellung in seiner Erinnerung. Neben dieser Selbstvorstellung im Alter beschreibt Kierkegaard noch andere Wege, die der Unmittelbare mit Reflexion einschlagen kann. Zuerst scheint Kierkegaard die Möglichkeit anzudeuten, dass sich die reflexiv-unmittelbare Verzweiflung zu einer höheren Form der Verzweiflung potenziert: Entwickelt ein Mensch sich wirklich mit den Jahren, reift er in wesentlichem Bewußtsein vom Selbst, so verzweifelt er vielleicht in einer höheren Form (174 / 60,6ff).

Aber wie soll dies möglich sein, wenn dem Unmittelbaren mit Reflexion die Selbst-Reflexion aufgrund seiner Unmittelbarkeit fehlt, diese Unmittelbarkeit er aber nur durch Selbst-Reflexion überwinden kann? Gibt es noch einen dritten Weg zwischen der jugendlichen Verzweiflung und der trivialen Verzweiflung des Alters? Dann wäre der Unmittelbare mit Reflexion doch nicht völlig in seiner Verzweiflungsform gefangen, wie es bisher der Fall war. Aber diese Möglichkeit muss schon zweifelhaft werden, wenn Kierkegaard hier nur allgemein von einem Menschen redet. Dieser Zweifel wird sich bestätigen, wenn im Folgenden dem Unmittelbaren mit Reflexion eine Metamorphose weitgehend abgestritten werden wird (174 / 60,36–39). Kierkegaard hat nicht diesen, sondern einen anderen Verzweiflungstypus im Blick, der schon die Anlage zu einem höheren Bewusstsein besitzen muss, um es im Laufe der Jahre entwickeln zu können. Er besitzt schon von Anfang seiner Verzweiflung an eine innere Vorstellung von sich selbst, durch die er nicht über dieses oder jenes verzweifelt, als ob sein Selbstsein geistlos am Äußeren hinge, sondern durch die er zugleich ›am Ewigen 10 Zur Bedeutung von Kindheit und Jugend für die Innerlichkeit eines Menschen vgl. SKS 10, 119f / CR, 113f.

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Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

verzweifelt‹. Innerhalb einer solchen ›Verzweiflung am Ewigen‹ ist eine gewisse Potenzierung möglich. Der Unmittelbare mit Reflexion dagegen kann sich nur zur Trivialität zurückentwickeln oder seine jugendliche Verzweiflung durch die Jahre bewahren. Dann bleibt er wenigstens ein ewiger Jüngling, dem Kierkegaard etwas Anerkennung zollt. Kierkegaard vergleicht eine solche jung gebliebene Verzweiflung mit einer wirklich jugendlichen Verzweiflung. Der Jüngling verzweifelt über das Zukünftige, wie über ein Präsens in futuro; es gibt etwas Zukünftiges, das er nicht übernehmen will, mit ihm will er nicht er selbst sein. Der Ältere verzweifelt über das Vergangene wie über ein Präsens in praeterito, das nicht zu etwas mehr und mehr Vergangenem werden will – denn so verzweifelt ist er ja nicht, daß es ihm gelungen wäre, es ganz zu vergessen (174 / 60,18–24).

Die ›jung gebliebene‹ Verzweiflung eines älteren Menschen ist nicht mit der Vorstellung dessen gleichzusetzen, der noch die Illusion der Erinnerung pflegt. Ein solch älterer Mensch erinnert sich an eine scheinbar glückliche Jugend (173 / 59,8–16), hingegen quält den jung gebliebenen Älteren das Vergangene weiter, weil er es nicht als Illusion abtun kann. Bliebe man in dem Bild des Wohnsitzes (170f / 55,36–56,16), müsste man sagen, dass der Mensch zwar wieder in seine Wohnung eingezogen ist, aber nicht mehr ganz heimisch in ihr wird. Er kann nicht vergessen, dass er sie einmal verließ.

f)

Der reflexiv-unmittelbar Verzweifelte und die Möglichkeit des Glaubens

Kierkegaard stellt den beiden Möglichkeiten des Unmittelbaren mit Reflexion, der Trivialisierung oder Bewahrung seiner Verzweiflung, die unvergleichliche Möglichkeit des Glaubens gegenüber – unvergleichlich, weil sie eben nicht in der Möglichkeit des Unmittelbaren mit Reflexion liegt. Das Vergangene, über das der Ältere verzweifelt, »ist vielleicht sogar etwas, womit sich eigentlich die Reue befassen sollte« (174 / 60,25f). In der Reue arbeitet sich der Verzweifelnde genau in die entgegengesetzte Richtung vor, als sie in der Verzweiflung über das Vergangene eingeschlagen wurde.11 Der Reuige will nicht, dass das Vergangene zu einem mehr und mehr Vergangenen wird, sondern er will es in diesem Augenblick selbst sein. Aus dem Präsens in praeterito, das der ältere Verzweifelnde zum gänzlichen Präteritum machen will (174 / 60,21ff), soll ein gänzliches Präsens werden. Der vermeintlich damals in seiner Jugend Verzweifelnde erkennt sich als

11 Siehe zum Reuebegriff in den »Erbaulichen Reden« Kierkegaards die differenzierten Ausführungen bei Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, 133–157.

Die Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion

219

der immer noch Verzweifelnde. Er stößt zur Wahrheit seiner Verzweiflung vor, die nicht zeitlich, sondern ewig ist. Diese Möglichkeit des Durchgangs durch die Verzweiflung ist dem Unmittelbaren mit Reflexion von seinem Wesen her versperrt. Er leidet zu sehr an seiner Verzweiflung, als dass er sich in sie stürzen könnte. Um sich für die Verzweiflung zu entscheiden, in dem Sinne verstanden, nun verzweifeln zu wollen, ist die Selbsttätigkeit des Verzweifelten zu schwach und zu sehr an das Äußere gebunden. Er lässt es erst gar nicht zur Entscheidung kommen, weil er sich eben nicht traut, »zu sich selbst zu kommen« (170 / 56,8), so dass er selbst entscheiden müsste. Man könnte annehmen, dass in den höheren Verzweiflungsformen, wo die Selbsttätigkeit intensiviert wird und es an Mut nicht zu fehlen scheint, die Kraft zu einer solchen Entscheidung vorhanden sei. Das wird in der Tat der Fall sein, aber nicht so, als ob eine solche Entscheidung verwirklicht werden könnte, sondern es wird sich zeigen, dass der Verzweifelte seine ganze Kraft immer schon zur eigenen Selbstbehauptung (170 / 55,10) eingesetzt hat, die der Entscheidung zur gänzlichen Schwäche im Durchgang durch die Verzweiflung entgegengesetzt ist. Zu einem solchen verzweifelten ›Fortschritt‹, weg von der eigenen Verzweiflung, fehlt dem Unmittelbaren mit Reflexion die Kraft. So bleibt er einfach stehen und lässt die Zeit für sich laufen (vgl. 170 / 56,9f; 174 / 60,31). Aber die Zeit heilt die einmal erlittene Wunde der Verzweiflung nicht, weil Ewiges nicht zeitlich überwunden werden kann. Kierkegaard bestätigt, was er schon angedeutet hatte. Der Unmittelbare mit Reflexion ist unfähig, sich selbst in seiner Verzweiflung zu verändern: [E]s kommt zu keiner Metamorphose, in der das Bewußtsein vom Ewigen im Selbst zum Durchbruch käme, so daß der Kampf beginnen könnte, der entweder die Verzweiflung zu einer noch höheren Form potenziert, oder zum Glauben führt (174 / 60,36–39).

Der Mensch würde bei einem solchen Durchbruch nicht mehr nur dunkel etwas vom Ewigen seines Selbstseins ahnen, wie es dem Unmittelbaren mit Reflexion eigen ist (170 / 55,19ff), ihm käme sein ewiges Selbstsein klar zu Bewusstsein. Er gewönne eine deutlichere Vorstellung von seiner ewig verzweifelten Selbstgestalt, von der aus ihm die beiden Wege der höheren Verzweiflung und des Glaubens offenständen. Um diese Alternative richtig zu deuten, ist an Kierkegaards einleitende Frage zu erinnern, die er am Anfang des Teiles B stellte. Kierkegaard fragte angesichts einer über sich selbst gewonnenen Klarheit, »ob diese Klarheit der Erkenntnis und Selbsterkenntnis einen Menschen nicht gerade aus der Verzweiflung herausreißen müßte, ihn so entsetzt über sich selbst machen müßte, daß er auf-

220

Die Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit

hörte, verzweifelt zu sein« (162 / 46,33–36). Eigentlich müsste das Bewusstsein abgrundtiefer Verzweiflung den Menschen so erschrecken, dass es ihn von Grund auf gereut und er zum Glauben vordringt. Doch dazu wird sich der Verzweifelte im weiteren Verlauf seiner Krankheit nicht durchringen. Je intensiver der Verzweifelte verzweifelt, desto mehr verzweifelt er darüber, dass er verzweifelt ist, und setzt die Intensivierung seiner Verzweiflung fort. In der Verzweiflung seiner Seele kämpft er nicht darum, verzweifeln zu dürfen (154 / 36,23), sondern darum, sich als vermeintlich nicht verzweifelte Selbstgestalt zu behaupten. Der Mensch des reflexiv-unmittelbaren Selbst ist zu schwach zum Kampf für das eine oder andere. Er bleibt stehen, lässt die Zeit verstreichen und kämpft nicht. Erst die folgende Verzweiflung wird nicht mehr ein Erleiden, sondern eine Handlung sein (176 / 63,13f), und der Verzweifelte beginnt seine Offensive – gegen die Verzweiflung. Entgegen der Aussage Kierkegaards, dass es zu keiner Metamorphose kommt, sieht Ringleben hier »eine unausweichliche dialektische Notwendigkeit« einer weiteren Entwicklung (Kommentar, 189). Er legt in die Verzweiflung die »treibende Tendenz« hinein, »ihr innerstes Wesen an den Tag zu bringen« (Ebd.). Dafür bietet aber die Verzweiflung des unmittelbar Reflexiven keinen Hinweis. Vielmehr zeigt Kierkegaard, dass dieser Verzweifelte sich mehr oder weniger in seiner reflexiven Unmittelbarkeit einpendelt. Die Möglichkeit einer Entwicklung wird ausdrücklich verneint. Ringleben deutet den von Kierkegaard erwähnten Kampf als eine ultimative Krise, die sich dann einstellt, wenn die höher potenzierten Verzweiflungsformen hervorgebracht sind. In dieser Krise wird entweder die Verzweiflung definitiv oder im Glauben aufgehoben. Die Fixierung einer ultimativen Krise ist schwerlich aus dem Text zu erheben, auch wenn die Rede vom Durchbruch eine solche anzudeuten scheint. Nach Kierkegaard ist »der Zustand des Menschen jederzeit kritisch« (141 / 22,22). Er ist jederzeit kritisch, weil jede Form der Verzweiflung in ihrer völligen Hoffnungslosigkeit schon definitiv ist – sonst wäre sie keine Verzweiflung. Dass sie trotzdem in jedem Augenblick im Glauben überwunden werden kann, liegt an Gott, der Möglichkeiten hat, wo keine mehr bestehen.

Nur in der Ewigkeit Gottes wird die Verzweiflung auch von Gott definitiv gemacht, wenn er den Verzweifelten in seiner Verzweiflung ›festnagelt‹. In seinem eschatologischen Aufriss (142f / 24f) zeigt Kierkegaard, dass eine Festsetzung auf die eigene Verzweiflung nicht erst in der höchsten Verzweiflung erfolgt. Es ist ganz gleichgültig, ob »du von deiner Verzweiflung nichts wußtest« oder »in Verzweiflung rastest« (143 / 25,27.31). In jedem Stadium der Verzweiflung kommt es nur darauf an, ob der Mensch aus seiner Verzweiflung umkehrt oder nicht.

8. Kapitel: Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

1.

Die Struktur der Verzweiflung am Ewigen1

a)

Die noch fehlende Totalitätsbestimmung

Kierkegaard kommt zum Schluss seiner Darlegung der unmittelbar-reflexiven Verzweiflung schon auf die folgende Verzweiflungsform, die Verzweiflung über das Irdische, zu sprechen (174f / 61,1–21). In den vorangegangenen Verzweiflungsformen konnte die Verzweiflung über das Irdische mit einer über etwas Irdisches gleichgesetzt werden, weil ein Unterschied im Bewusstsein des Verzweifelten noch nicht bestand. In beiden Formen der unmittelbaren Verzweiflung wird über etwas Irdisches verzweifelt. Beim rein Unmittelbaren ist es das Etwas eines quid nimis (167 / 51,17), das ihm als Glück oder Unglück zustieß und über das er verzweifelte. Der Unmittelbare mit Reflexion besitzt nicht mehr diese Zerbrechlichkeit seines Zustandes, weil es für ihn vieles gibt, was er, ohne zu verzweifeln, verlieren kann. Aber bestimmte irdische Sachen bleiben davon ausgespart, und an dem damit gegebenen Zwiespalt seiner Unmittelbarkeit verzweifelt er dann. Der Unmittelbare nimmt das Etwas entweder als etwas, das ihm alles im Leben zerstört oder zerstören würde, oder als etwas, mit dem er sein Ein und Alles verloren hat oder verlieren würde, wenn er es aufgäbe, sonst wäre er nicht darüber verzweifelt. Insofern wird das Einzelne in einer alles andere umfassenden Weise bestimmt. Aber nimmt der Unmittelbare in seinem Bewusstsein das Irdische wirklich in dieser Totalität? Im Augenblick der Verzweiflung, wo ihm die Totalität bewusst werden müsste, zieht sich das Bewusstsein gleichsam vor sich selbst zurück. Der rein Unmittelbare fällt in Ohnmacht, nennt sich wohl verzweifelt, aber betrachtet die eigene Selbstvorstellung als nicht mehr vorhanden, um nicht seiner verzweiflungsvollen Selbstgestalt gewahr zu werden; der Unmittelbare mit Refle1 Die von Kierkegaard gewählte Bezeichnung ›Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst‹ wird im Folgenden zu ›Verzweiflung am Ewigen‹ abgekürzt.

222

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

xion distanziert sich von seinem Verzweiflungsbewusstsein und schaut in seiner ›Wohnung‹ nur ab und zu vorbei. Erst recht pflegt der nach außen Gewandte »einen sehr vorsichtigen Umgang mit dem bißchen Reflexion in sich« (171 / 56,26f). Die Totalitätsbestimmung durch das Bewusstsein bleibt aus, weil der Mensch die dazu notwendige Selbsttätigkeit nicht entwickelt.

b)

Der Fortschritt in der Verzweiflung

Kierkegaard nimmt noch einmal das Bild der im Rücken liegenden Verzweiflung auf (siehe auch 167 / 52,4ff),2 um an ihm den Fortschritt von der Verzweiflung über etwas Irdisches zur Verzweiflung über das Irdische zu verdeutlichen (175f / 61,26–62,9). Der unmittelbar Verzweifelte unterliegt einer Täuschung, wenn er meint, über etwas Irdisches zu verzweifeln. Er hängt viel stärker an dem jeweiligen Irdischen, als es ihm bewusst ist. Wenn ihn die Wirklichkeit darauf stößt, indem sie ihn des Jeweiligen beraubt, weicht der Verzweifelte in die Ohnmacht oder die distanzierte Verzweiflung aus. Es kommt zu keinem Selbstbewusstsein. Erst wo der Verzweifelte sich sein eigenes Handeln, nämlich dem Irdischen so großen Wert beizumessen (176 / 62,4f), bewusst macht, es zu seinem eigenen Handeln macht, wird er sich seiner selbst bewusst werden. Dieses Selbst-Bewusstsein wird durch die Totalitätsbestimmung des Irdischen gewonnen. Der Mensch überträgt sein ganzes Dasein auf das einzelne Irdische und legt ihm damit ewigen Wert bei. Der Mensch macht verzweifelt etwas Irdisches zu etwas Ewigem (176 / 62,7ff), wenn er an ihm verzweifelt. Dessen wird sich der Verzweifelte in der Verzweiflung am Ewigen, welche eine Verzweiflung über das Irdische ist, »deutlicher bewußt« (176 / 62,26). Der Verzweifelte ist sich bewusst, dass es nicht das einzelne neben vielem anderen ist, das ihn verzweifeln lässt, sondern dies einzelne ihm alles ist, was er ist. Er verzweifelt mit unendlicher Leidenschaft (175 / 61,6f), die nicht durch etwas anderes – sei es der Gewinn von anderen irdischen Sachen oder sei es ein anderes Selbst – zu beenden ist. Ein Irdisches hat für den Verzweifelten eine solche Bedeutung gewonnen, dass er für keine Veränderung mehr zugänglich ist. Er geht nicht mehr mit der Zeit, sondern der totalisierte Verlust des einzelnen Irdischen bleibt ihm in seiner Phantasie präsent. Doch lässt sich nicht sagen, die Zeit spiele von nun an keine Rolle mehr für ihn. Der Verzweifelte ist ja nicht der Zeit enthoben, sondern hat in seiner Phantasie nur von ihr abstrahiert. Wenn in der höchsten Verzweiflung der Verzweifelte sich von seiner Abstraktion abwendet (184 / 72,20–24), wird er sich im Gegenzug mit seinem ganzen Bewusstsein auf den inzwischen vergangenen Zeitpunkt des Anlasses seiner Ver2 Siehe hier Kapitel 7.1.f.

Die Struktur der Verzweiflung am Ewigen

223

zweiflung stürzen und einem zur Rettung aus seiner Verzweiflung eilenden Gott zurufen wollen: »[J]etzt ist es zu spät« (185 / 74,7). Aus dem Fortschritt von einer Verzweiflung über etwas Irdisches zu einer über das Irdische ergibt sich eine neue Verzweiflungsgestalt. Die durch die Vertiefung in die Verzweiflung bewirkte Umkehrung des gesamten Gesichtspunktes (176 / 62,14–30) liegt darin, dass sich die Verzweiflung durch die Bewusstwerdung des zur ewiger Bedeutung erhobenen Verlustes von etwas Irdischem zur Verzweiflung über sich selbst wandelt. Indem der Verzweifelte das Irdische mit unendlicher Leidenschaft erfüllt, verewigt er es. Er nimmt sich das Irdische zu Herzen (176 / 62,20) – und damit zu seinem Selbstsein – und versieht es so mit der Ewigkeit eines Selbstseins.3 Der Mensch reflektiert sich selbst in seiner Schwäche, während man in den noch der Unmittelbarkeit verbundenen Verzweiflungsformen der eigenen Schwäche durch Distanznahme und Ohnmacht auswich und nicht auf die eigene Selbstgestalt stieß. Die nun hervorgebrachte Selbstgestalt beruht freilich auf einer bloßen Abstraktion. Der widerfahrene Verlust von etwas Irdischem wird durch Abstraktion seiner Konkretheit zum alles betreffenden Verlust übersteigert. Das einzelne Irdische gewinnt Ewigkeitsbedeutung für den Menschen. Durch seine alles entscheidende, durch Abstraktion gewonnene Bedeutung erwächst aus einem Irdischen dem Menschen sein Selbstsein. Der Verzweifelte hat das ›Auseinanderfallende‹, das ihm bisher bewusst war, in seiner Phantasie zur Einheit gebracht: Das Irdische und Zeitliche als solches ist gerade das, was auseinanderfällt, in etwas, in das einzelne. Es ist unmöglich, wirklich alles Irdische zu verlieren oder seiner beraubt zu werden, denn die Totalitätsbestimmung ist eine Gedankenbestimmung (175 / 61,9–13).

Die Totalitätsbestimmung ist die »unendliche Abstraktion von allem Äußerlichen« (170 / 55,25f), durch die das ›Bewusstsein von einem Selbst‹ gewonnen wird. Weil das Irdische in einzelne Dinge und das Zeitliche in seine Folge auseinanderfallen, blieb der an beidem orientierte Unmittelbare ohne echte SelbstVorstellung, weil man selbst nicht etwas neben anderem ist. Das ›Selbst‹ ist eine Totalitätsbestimmung, die den Verzweifelten ganz in Anspruch nimmt. Während der noch Unmittelbare von seiner dunklen Vorstellung zu anderen, äußeren 3 Der Ewigkeitsbegriff steht in diesem Zusammenhang für die unangemessen hohe Wertschätzung des Irdischen und zeigt zugleich die damit verbundene Abwertung des göttlich Ewigen an. Aber noch eine andere Wurzel ist hier für die Verwendung des Ewigkeitsbegriffs zu erwähnen. Weil es sich hier um eine Vorstellung handelt, die im Denken ihren Sitz hat, stellt sich das Irdische in der Ewigkeit dar, »welche wesentlich das Medium des Gedankens ist«, um mit der »Unwissenschaftlichen Nachschrift« (SKS 7, 275 / AUN2, 2) zu sprechen. In KT nimmt Kierkegaard für die das Denken prägende Grundkraft der Phantasie nicht den Begriff des Ewigen, sondern den des Unendlichen.

224

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

Vorstellungen fliehen kann, in denen er ›er selbst‹ zu sein meint, hat der nun Verzweifelte nichts Irdisches mehr, zu dem er ›selbst‹ ausweichen könnte, weil das eine Irdische sein ganzes irdisches Leben an sich gezogen hat. Das vielfältige einzelne Irdische ist für ihn nicht verschwunden, aber wird für ihn selbst mehr und mehr gleichgültig, weil es nichts mehr dazu beitragen kann, dass er er selbst ist. Erhebt der Verzweifelnde das eine verlorene Etwas in Gedanken zur Totalität, erleidet er mit dieser Phantasie einen Realitätsverlust.4 Damit ist nicht gesagt, dass der Verzweifelte in den vorläufigen Verzweiflungsformen eine wirkliche Realitätserkenntnis besaß. Dieser war zwar im Unterschied zum sich nun phantastisch machenden Verzweifelten in gewissem Sinne weitaus mehr der Realität verhaftet, aber geradezu wie ein Tier, das als solches kein Selbst-Bewusstsein besitzt (vgl. 156 / 39,1f). Der unmittelbar Verzweifelte versinkt in der Realität, und der phantastisch Verzweifelte ist ihr entrückt. Hingegen um er selbst zu werden, müsste der Verzweifelte in der endlichen Realität unendlich er selbst sein, statt in ihr sich zu verlieren; und in der Unendlichkeit müsste er unendlich von sich selbst fortkommen, statt dort er selbst sein zu wollen – was nur in Phantasterei enden kann. Der sich seiner Phantasie verschreibende Mensch verzweifelt durch die beschriebene Umkehrung der Verzweiflungsgestalt über sich selbst, weil er darauf aufmerksam geworden ist, was dem Unmittelbaren noch ›im Rücken‹ lag (167 / 52,4ff). Im Rücken des Unmittelbaren lag das verzweifelte Selbstsein, das dem Verzweifelten nun bewusst wird – doch in einer Weise, dass er es gleichsam aus sich heraus, durch einen äußeren Verlust veranlasst, in seine Vorstellung setzt, um dort über es verzweifeln zu können. Der Verzweifelte kehrt zu sich selbst um, indem er sich in sich selbst verdreht. Er schafft sich selber seine Ewigkeit, wenn er dem Irdischen einen so großen Wert beimisst. Kierkegaard zerlegt die Handlungsweise des Verzweifelten in zwei Schritte: zuerst die Vergrößerung des einzelnen Irdischen zu allem Irdischen, dann dessen unendliche Wertqualifizierung (176 / 62,7f). Daran wird deutlich, dass alles Irdische zusammen genommen für sich noch nicht den Wert des Ewigen hat, sondern ihn erst durch die Zumessung der Selbstqualität erhält. Der Verzweifelte hat sich gleichsam nicht mehr hinter, sondern vor sich. Er hat eine – wenn auch in sich verkehrte – Vorstellung von seiner verzweifelten Selbstgestalt bekommen, und darin liegt der Fortschritt in der Verzweiflung.

4 Zur Unfähigkeit der Phantasie, die wirkliche Verzweiflung des Menschen zu erfassen, vgl. SKS 21, 148, NB8:7 / T 3, 103: »Aber die Phantasie und das Mittel der Phantasie ist ein ideales Mittel und kann deshalb wohl das Große, das Herrliche ausdrücken und bezeichnen, aber das Elend der Wirklichkeit kann es nicht ausdrücken, es sei denn in einem sehr verkürzten Maßstab.«

Die Struktur der Verzweiflung am Ewigen

c)

225

Die Bedeutung der Abstraktion seiner selbst für die höheren Verzweiflungsformen

Der Verzweifelte, der seine Selbst-Vorstellung durch die unendliche Abstraktion von allem Äußerlichen gewinnt, handelt. Er stellt sich weder tot wie der gänzlich Unmittelbare noch schaudert es ihn vor der Schwierigkeit des notwendigen Selbstseins wie den Unmittelbaren mit etwas Selbst-Reflexion. Seine Handlung besteht darin, sich von allem Äußerlichen zu abstrahieren und somit den vermeintlichen äußeren Sachzwängen nicht unterworfen zu sein, denen der Unmittelbare sich blindlings ausgeliefert hat und mit denen der reflexiv Unmittelbare nicht gänzlich zu brechen vermag. Damit gelingt es dem tätig Verzweifelten, sich in gewisser Weise von der ihm scheinbar äußerlich zustoßenden Verzweiflung innerlich zu distanzieren. Er fasst nicht etwas Äußerliches als Grund seiner Verzweiflung, dem durch anderes Äußerliches auszuweichen wäre, sondern er sieht in seiner Selbst-Schwäche die Wurzel der Verzweiflung seiner selbst (176 / 62,19–24). Doch kann der Verzweifelte so das Endliche nicht loswerden, weil seine durch Abstraktion gewonnene Selbst-Vorstellung keine andere als eine vom Endlichen abstrahierte ist. Diese nicht zu brechende Verbindung mit dem Endlichen lässt den Verzweifelten in seinem Inneren weiter verzweifeln. Entweder verzweifelt er leidend am Irdischen, dass er dem Irdischen eine so große Bedeutung beimisst (176 / 62,27f), oder er verzweifelt handelnd-trotzig, indem er seine endliche Konkretheit durch eine phantastisch erdachte auszulöschen versucht. In seinem von allem Äußerlichen abstrahierten Selbst-Entwurf versucht der Mensch, sich in der Unendlichkeit zu gründen. Er bildet die Form einer nicht-verzweifelten Selbstgestalt nach, die in der Unendlichkeit gegründet sein soll. Aber während für den Verzweifelten die Unendlichkeit des Selbst-Entwurfs nur in der Vorstellung besteht, ist die Unendlichkeit für das Selbstsein des Nichtverzweifelten diejenige Gottes, der es setzenden Macht.5 Der Mensch der verzweifelt selbstreflexiv-tätigen Gestalt zeigt in seiner Verzweiflung zwar nicht mehr unsinnigerweise auf das Äußere, währenddessen sich die Verzweiflung hinter ihm abspielt. Er hat sich nach innen gewandt und so die richtige Richtung hin zu sich selbst eingeschlagen. So meint er (130 / 10,18), auf sich aufmerksam zu sein, und merkt nicht, dass er sein Äußeres im Ganzen nur verinnerlicht hat. Der Verzweifelte hat nun in sich eine Welt gebildet, in der er seine ›Luftschlösser‹ baut und so in seinem verzweifelten Selbstsein rastlos er selbst sein will (186f / 75,19–24). 5 Insofern entfernt sich derjenige von Gott, der sich der Vorstellung des Unendlichen hingibt, vgl. SKS 21, 229f, NB9:48 / T 3, 169: »In bezug auf jeden Gegenstand der Endlichkeit gilt, daß, wenn man ihn umsegelt, der Augenblick kommen muß, da man ihn umsegelt hat; und von nun an zeigt er sich als geringer. Anders mit der Unendlichkeit. Daher kommt es, daß Gott den meisten entwächst, nach dem Maß, wie ihre Vorstellung vom Unendlichen sich entwickelt.«

226

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

Dagegen gilt von dem unmittelbar Verzweifelten mit Reflexion: […] er hat kein Bewußtsein von einem Selbst, das durch die unendliche Abstraktion von allem Äußerlichen gewonnen wird, von diesem – im Gegensatz zum bekleideten Selbst der Unmittelbarkeit – nackten, abstrakten Selbst, das die erste Form des unendlichen Selbst ist, und das Vorantreibende in dem gesamten Prozeß, durch den ein Selbst sein wirkliches Selbst mit seinen Schwierigkeiten und Vorzügen unendlich übernimmt (170 / 55, 24–31).

Kierkegaard deutet einen Prozess an, der nach Ablegen des ›bekleideten Selbst der Unmittelbarkeit‹ mit der Gestalt eines ›nackten‹, abstrakten Selbst beginnt und zur Übernahme des wirklichen Selbstseins führt. Mit diesem Prozess könnte jener Prozess der Selbstwerdung gemeint sein, der mit der unendlichen Abstraktion von allem Äußerlichen im Sinne der ›Reflexion des Nichts‹ (142 / 23,21) beginnt und mit Verunendlichung des Selbst zugleich dessen Verendlichung vollzieht (vgl. 146 / 27,3–6). Der Mensch würde er selbst in seiner Konkretheit. Aber diesen Prozess gibt es auch in einer pervertierten Form, wie ihn der Mensch in der Verzweiflung durchlaufen kann. Kierkegaard spricht diese Entwicklung wieder an, wenn er zur Gestalt der höchsten Verzweiflung kommt (186 / 74,18–22). So stellt sich die Form eines abstrakten Selbst mit der Verzweiflung am Ewigen ein. Es ist die erste Form des ›unendlichen Selbst‹: das ›nackte‹ Selbst, das so schwach war, sich mit dem Äußeren zu bekleiden (176 / 62,27f). Eine solche Verzweiflung kann zu einer höheren Form der Verzweiflung fortschreiten, in der die abstrakte Selbstgestalt den Verzweifelten antreibt, sich selbst aus der Schwachheit herauszureißen. Dem ›nackten‹ Selbst wird in der Phantasie wieder etwas ›angezogen‹, es werden sich unzählbare phantastische Möglichkeiten zu eigen gemacht.6 Damit entfernt sich der Prozess des vermeintlichen Selbstwerdens von dem Ziel der wirklichen Selbstübernahme und doch läuft er in verdrehter Weise geradewegs darauf zu. Der Verzweifelte versucht in diesem Prozess sich des Irdischen in seiner Notwendigkeit gänzlich zu entledigen. Am Ende des Prozesses muss er sich eingestehen, dass er von seinem irdischen Leiden, das ihm in seiner Sicht widerfuhr, nicht abstrahieren kann, seine Haltung kehrt sich scheinbar um, und nun will er seine irdische Bedrängnis »ewig gleichsam übernehmen« (184 / 72,23f). So übernimmt hier ein Mensch seine

6 Im entscheidenden innerlichen Sinn will der Mensch nicht ›nackt‹ sein: »Um zu schwimmen zieht man sich nackt aus – um nach der Wahrheit zu streben, muß man sich in weit innerlicherem Sinne ausziehen, muß sich einer weit innerlicheren Kleidung an Gedanken, Vorstellungen, Selbstsucht und dergleichen entledigen, ehe man nackt genug wird« (SKS 26, 395, NB35:38 / T 5, 351).

Die Struktur der Verzweiflung am Ewigen

227

wirkliche, von wirklichem Leid geprägte Selbstgestalt – aber wieso auch mit ihren Vorzügen, wie es bei Kierkegaard heißt? Kierkegaard wird hieran die ganze Verkehrtheit eines solchen Verzweifelten aufdecken. Denn seine Qual wird ein solcher Mensch zugleich als seinen »dämonisch verstandenen, unendlichen Vorzug vor anderen Menschen« (186 / 74,16f) für sich verstehen, den er sich nicht nehmen lassen will. So hat der Verzweifelte am Ende des Prozesses sein wirkliches Selbstsein in der Weise übernommen, dass er sich unwiderruflich mit seinem Leiden identifizieren will. Wie unendlich und rettungslos weit er sich in dieser Selbstübernahme von seinem wahren Selbstsein entfernt hat, muss an entsprechender Stelle erörtert werden.7 Doch ist der weitere Weg der Verzweiflung schon vorgezeichnet. Theunissen bemerkt zum Begriff des abstrakten Selbst: »Das Selbst, das wir unmittelbar nicht sein wollen, ist das abstrakte oder negative Selbst, dessen Negativität auf seiner Unbestimmtheit beruht« (Begriff Verzweiflung, 20). Aber es ist nicht das abstrakte Selbst im Sinne bloßer Unbestimmtheit, was der Verzweifelte ›genuin‹ (21) nicht sein will, sondern das nichtige, verzweifelte Selbst, dem durch die verzweifelte Abstraktion eines Selbst gerade ausgewichen wird. Das abstrakte Selbst des Verzweifelten ist nicht das ›Nichts‹, vor dem der Verzweifelte – wie Theunissen treffend bemerkt – in seinem Nichtselbstseinwollen Angst hat. Wäre es das ›Nichts‹, dann könnte der Verzweifelte sich nicht noch ›selbst‹ mit ihm beschäftigen. Insofern begeht Kierkegaard auch nicht »den Fehler, daß er diesen Selbstbegriff in Richtung auf ein konkretes Selbst erweitert, das in Wahrheit bloß das im Systemaufriß ortlose Dasein meint« (Ebd.). Wenn »mit Hilfe der unendlichen Form, des negativen Selbst« (182 / 69,36f) die Umbildung des konkreten Selbst vorgenommen werden soll, dann wird die unendlich abstrakte Form nicht in das konkrete Dasein gezogen, sondern mit dem Inhalt phantastischer Vorstellungen gefüllt, durch die man das wirkliche Dasein umbilden zu können meint.

d)

Das Wesen der Verzweiflung in der Verzweiflung am Ewigen

Wenn der Mensch darüber verzweifelt, dass er so schwach sein konnte, dem Irdischen eine so große Bedeutung beizumessen (176 / 62,27f), könnte man meinen, er habe die Übersteigerung des Irdischen in toto zum Ewigen durchschaut, so dass ihm bewusst würde, nicht am Ewigen zu verzweifeln. Aber aus der Einsicht in die eigene Schwachheit folgt nicht, dass der Verzweifelte dem Irdischen seine große Bedeutung wieder nehmen könnte. Dazu ist er eben zu schwach. Vielmehr verzweifelt er über seine Schwäche, die zu beheben für ihn doch unendlich-ewig wichtig ist. Seine Verzweiflung besteht darin, dass seine Ewigkeit an dem Irdischen hängt. Er hat es sich zu Herzen genommen. Mit dem Irdischen in toto steht und fällt für ihn sein Selbstsein in Ewigkeit. 7 Siehe hier Kapitel 9.3.

228

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

Der Verzweifelte hat damit eine tiefere Vorstellung von seiner Verzweiflung bekommen (176 / 63,7ff). Er meint nicht, dass er an Zeitlichem verzweifle im Sinne des Präsens in futuro oder des Präsens in praeterito (174 / 60,18–24) – und selbst nicht ganz betroffen sei. Der Grund seiner Verzweiflung lässt sich nicht mehr eingrenzen, sondern hat sein ganzes Selbstsein erfasst. Aber diese Bewusstseinssteigerung geht mit einer Verdrehung in der Selbstvorstellung einher. Der Verzweifelte gewinnt Einsicht in sich selbst, aber er verzweifelt nicht durch und durch an seiner Vorstellung, weil er in ihr sich selbst erhält. Wohl verzweifelt der Mensch darüber, dass er sich selbst verloren hat (176 / 62,29f). Das kann er aber nur, weil er sich noch in gewisser Weise hat, sich seiner selbst bewusst ist. Der Verzweifelte gibt nicht ewig sich selbst verloren, auch wenn er verzweifelt meint, sich selbst verloren zu haben, sondern er hält sein unwahres Selbstsein in seinem Bewusstsein noch fest. Er verliert in seiner Verzweiflung nicht in heilsamer Weise seinen Verstand, sondern bewahrt sich mit seinem Selbstverlust eine durch einen irdischen Verlust veranlasste Vorstellung von sich selbst. Kierkegaard bindet folgerichtig die Verzweiflung über sich selbst an die Bedingung, dass man sich auch bewusst ist, ein ›Selbst‹ zu haben (176 / 63,4ff). Wer hingegen in rechter Weise an sich selbst verzweifelt, hat jede Selbstvorstellung aufgegeben, durch die er noch trotz aller Verzweiflung er selbst sein könnte. Er sieht nur noch die Dunkelheit seines Untergangs, aber macht damit im Glauben den Weg frei für Gottes Möglichkeiten. Nur so gewinnt der Mensch Durchsichtigkeit für sich selbst. Auch der über seine Schwäche Verzweifelte gewinnt in gewisser Weise Klarheit über sich selbst, aber diese Klarheit beruht auf einer zunehmenden Verdunklung des verkehrten Grundes seiner Verzweiflung, der in etwas Irdisches gelegt wurde. Statt sich von diesem verkehrten Grund seiner sich steigernden Verzweiflung in Reue loszusagen (vgl.174 / 60,25f), verkehrt er ihn weiter zu seiner Selbstgestalt. Der Verzweifelnde meint über sich selbst zu verzweifeln und verdeckt für sich immer mehr, dass er sich auf etwas gegründet, was er selbst in seinem Grund nicht ist: etwas Irdisches.

2.

Die Bedeutung von Schwachheit und Erleiden in der Verzweiflung am Ewigen

a)

Die Verzweiflung der Schwäche und die Verzweiflung über seine Schwäche

Die vorhergehende Verzweiflung des Unmittelbaren mit Reflexion ist eine der Schwäche, ein Erleiden vonseiten seiner selbst (170 / 55,8ff). Der Mensch ist in seinem Selbstsein zu schwach, um tiefer mit der Unmittelbarkeit zu brechen.

Die Bedeutung von Schwachheit und Erleiden in der Verzweiflung am Ewigen

229

Seine Schwachheit besteht darin, dass er sich selbst als eine ›dunkle Vorstellung‹ (170 / 55,20) hat, vor der er zurückschreckt, anstatt sie aufklären zu wollen und sich an ihr festzuhalten, wie es der Mensch in der trotzigen Verzweiflung der Selbstbehauptung tut, der diese Selbst-Vorstellung zu phantastischen Selbstgestalten erhebt. Wenn Kierkegaard die Verzweiflung am Ewigen als eine Verzweiflung über seine Schwäche entfaltet (176 / 62,10–14), zeigt er sie als eine Form zwischen der weitgehend reflexionslosen Verzweiflung der Schwäche und der selbstreflexiven Verzweiflung der Stärke auf. Der über seine Schwäche Verzweifelnde reflektiert sich selbst, ohne darin in seiner Verzweiflung zu erstarken. Weil er sich als schwache Selbstgestalt reflektiert, kann er aus seiner Vorstellung nicht die Stärke des trotzigen Widerwillens beziehen. Seine verzweifelte Schwäche schwächt seinen Willen, der vor ihr nur zurückweicht, anstatt sich ihr entgegenzustellen. Deshalb will hier der Verzweifelte wesentlich noch ›nicht er selbst sein‹ und nicht wie der Trotzige verzweifelt ›er selbst sein‹. Trotzdem ist eine neue Bewusstseinsstufe erreicht, auf welcher der Verzweifelte sich ausgehend von einer einzelnen irdischen Sache in seiner – auf sein ganzes Dasein ausstrahlenden – Schwachheit reflektiert. Kierkegaard setzt der Verzweiflung »über seine Schwäche« (176 / 62,24) die mögliche Erlösung aus der Verzweiflung, das Sich-Demütigen »unter seiner Schwäche« (176 / 62,23) entgegen und bezeichnet damit treffend die unterschiedlichen Positionen des ›weg‹ vom Glauben Verzweifelten und des ›hin‹ zum Glauben Verzweifelten. Wo der Verzweifelte sich unter seine Verzweiflung beugt, macht er sich den Blick frei für den, der wirklich über aller Verzweiflung steht und aus ihr erlöst. Diese rettende Demut ist dem vom Glauben entfernten Verzweifelten fremd. Sie würde bedeuten, in der eigenen Verzweiflung schwach sein zu wollen. Aber er selbst in seiner Schwachheit sein zu wollen, will der Verzweifelte gerade nicht. Er verzweifelt über seine Schwäche, weil er nicht stärker ist. Er sieht in der Schwachheit nur seine verhinderte Stärke, die aber in Wirklichkeit ihm selbst nicht zusteht. Der Mensch verzweifelt über seine Schwäche, die der Verzweiflung vermeintlich die Tür öffnet, und sieht nicht, dass er in sich selbst immer schon verzweifelt ist. Würde er erkennen, dass er schon durch und durch verzweifelt ist, wäre er an sich selbst verzweifelnd aus der Verzweiflung befreit. Indem der Verzweifelte aber über seine Schwäche verzweifelt, potenziert er nur sein Verzweiflungsbewusstsein, ohne darin durch und durch zu verzweifeln. Paul Tillichs Verzweiflungsbegriff expliziert eine solche Verzweiflung über seine Schwäche. »Die Qual der Verzweiflung ist das Gefühl, daß man für den Verlust des Sinnes der eigenen Existenz selbst verantwortlich ist und doch unfähig, ihn wiederzugewinnen« (Systematische Theologie, II, 84). Konsequenterweise schließt Tillich an diese Verzweiflungsbeschreibung die Problematik des Selbstmordes an, wie auch bei Kierkegaard diese Verzweiflung am Ewigen in der Möglichkeit des Selbstmordes ihre Spitze erreicht. Al-

230

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

lerdings ist Kierkegaards Verzweiflungsbegriff nicht nur weiter als bei Tillich gefasst, sondern auch vielschichtiger. Die den Schein von Verantwortung erzeugende Verzweiflung über die eigene Schwäche ist für Kierkegaard in Wahrheit nur die Flucht vor der wahren Verantwortung für die eigene Verzweiflung und damit sich selbst. Wahre Selbst-Verantwortung läge in der radikalen Annahme des eigenen Selbstverlustes und der damit verbundenen gänzlichen Verzweiflung. Eine solche Verantwortung würde den Menschen durch seine Verzweiflung hindurch zum Glauben und nicht zum Selbstmordgedanken führen.

b)

Das Verhältnis von Erleiden und Handeln

Die reflexive Unmittelbarkeit besitzt bis zu einem gewissen Grad Handlung (169 / 54,22–28). Sie ist eingeschränkt, weil der Mensch sich durch seine sowohl reflexiv-handelnde als auch unmittelbar-leidende Selbst-Gestalt in sich blockiert. In der Verzweiflung am Ewigen ist die Selbstblockade aufgehoben, weil der Mensch in seinem Selbstsein nur noch über seine reflexive Selbstvorstellung verzweifelt. Wenn die Verzweiflung am Ewigen nicht mehr vom Äußeren herkommend erfahren wird, weil der Verzweifelte sich ›umgedreht‹ hat, müsste damit nicht das verzweifelte Erleiden verschwunden sein? Doch Kierkegaard schließt für diese neue Verzweiflungsform das Erleiden nicht aus, sondern fügt ihr vielmehr das Handeln hinzu (176 / 63,13f). Die Verzweiflung kommt nun »indirekt-direkt vom Selbst«, d. h. »als Gegendruck (Reaktion)« (176 / 63,19f) her. Um die ›Druckverhältnisse‹ innerhalb dieser Verzweiflungsform zu bestimmen, ist die Stellung des Willens zu beachten. Der Verzweifelnde hat sich das Irdische zu sehr zu Herzen genommen (176 / 62,19f), d. h. er selbst ist über das Irdische in Verzweiflung geraten. Dieses Selbstsein ist als verzweifeltes schwach, und darüber verzweifelt der Mensch. Der über seine Verzweiflung Verzweifelnde ist sich seiner Verzweiflung bewusst, die ihn ›drückt‹, aber die er nicht übernehmen will, sondern über die er verzweifelt. Somit übt er mit seiner Verzweiflung Gegendruck gegen den Druck der Verzweiflung aus. Dieser Gegendruck ist das verzweifelte Nichtselbstseinwollen. Aber der Verzweifelte ist sich nicht wirklich bewusst, was er tut, weil sein Bewusstsein ganz auf die Schwäche seiner Verzweiflung fixiert ist und seine verzweifelte Reaktion ausblendet. Gleichwohl wird in der Steigerung des Gegendrucks schon latent die Umkehrung des Bewusstseinsverhältnisses zum Trotz vorbereitet.8 Der Gegendruck ist zwar dem Verzweifelnden noch ein Erleiden des Verzweiflungsdruckes, aber in ihm steckt schon die Kraft des Trotzes. Wenn dem Verzweifelten sein Gegendruck in seiner Bedeutung bewusst werden würde, 8 Siehe hier Kapitel 9.1.a.

Die Bedeutung von Schwachheit und Erleiden in der Verzweiflung am Ewigen

231

schlüge die Verzweiflung der Schwäche in die der Stärke um. An die Stelle der bewussten Selbstgestalt, die der Verzweifelte nicht wollend zu erleiden meint, träte ein Selbstsein, das der Verzweifelte bewusst sein will. Die Übersetzung Hirschs von indirecte-directe als ›mittelbar-unmittelbar‹ (176 / KT, GW 24, 62) suggeriert den falschen Eindruck, es handle sich hierbei noch um das reflexiv unmittelbare Selbst. Dies hat die Meinung gefördert, das Problem des verzweifelten Selbst liege in seiner Unmittelbarkeit, die nicht nur in den beiden ausdrücklichen Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit, der rein unmittelbaren und der reflexiv unmittelbaren, präsent sei, sondern auch in den tieferen Formen der Verzweiflung. Angelehnt an die falsche Übersetzung Hirschs kommt Ringleben zu dem Schluss: »Höchste Reflektiertheit enthüllt sich in ihrer Abwehrhaltung als krampfhaft bejahte Restunmittelbarkeit« (Kommentar, 199). Die Selbstbehauptung des verzweifelten Selbst wird als ›heimliche Unmittelbarkeit‹ (195) begriffen. Dennoch ist es richtig gesehen, dass das verzweifelte Selbst auch noch in den höheren Verzweiflungsformen die Unmittelbarkeit anstrebt, aber dieser Versuch ist ein Unterfangen angesichts der aufgewühlten inneren Verzweiflung.

c)

Das Beispiel des Erbschaftsfalls

Die beschriebenen wechselseitigen ›Druckverhältnisse‹ der Verzweiflung werden von Kierkegaard in einem Beispiel erläutert. Es zeigt, wie zerrissen der Mensch in sich selbst in der Verzweiflung am Ewigen vorzustellen ist. Die Struktur dieser Verzweiflungsform ähnelt einem Erbschaftsfall, bei dem ein Vater seinem Sohn aufgrund einer Verfehlung sein Erbe entzieht (177 / 63,29–64,8). Der Verzweifelnde gleicht dem Vater, die vorgestellte schwache Selbstgestalt, über die verzweifelt wird, dem Sohn. Indem er seinen Sohn enterbt, meint der Vater, ihm das zu entziehen, was nur ihm – dem Vater – gehört. Aber so leicht lässt sich nicht die Beziehung zum eigenen Sohn durchschneiden. Mit dem äußeren Band ist nicht zugleich das innere gelöst. Der Vater ist nicht anders als der Sohn und reagiert im Hinblick auf die Schwäche des Sohnes seinerseits mit der Schwäche der Enterbung. Durch seine Enterbung will sich der Vater im tieferen Sinne nicht zu seiner durch den Sohn offenbar gewordenen Schwäche bekennen. Er ist nicht stark genug, in seinem Sohn zu sich selber zu stehen und flieht in die schwache Handlung der äußerlichen Enterbung. Die Verzweiflung über seine Schwäche ist nichts anderes als selber Schwäche. Der Verzweifelte meint, seine eigene Schwäche auf ›seinen Sohn‹, die schwache verzweifelte Selbstgestalt, abschieben zu können und durch die Lossagung von ihr, die Enterbung des Sohnes, seine eigene Schwäche loszuwerden. Die Verzweiflung über die eigene Schwäche ist eine Form des Selbsthasses (177 / 63,32f), in dem die Abneigung gegen sich selbst durch die Liebe zu sich selbst maßlos intensiviert wird. Der Vater liebt sich selbst in seinem Sohn, und das macht die

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Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

Schwäche des Sohnes so unverzeihlich. Der Vater bringt nicht die Demut auf, sich hinter seinen Sohn zu stellen und so mit ihm sich selbst wiederzugewinnen. Er verschließt vor sich selbst die Ohren und will sich seiner selbst nicht bewusst sein. Doch ist sein Selbst-Bewusstsein schon zu weit fortgeschritten, und »Hilfe im Vergessen« (177 / 63,36) zu finden kommt nicht in Betracht. Die Möglichkeit des Vergessens war dem Verzweifelten in der reflexiven Unmittelbarkeit vorbehalten, der die Verzweiflung als vergangene zu verdrängen vermochte. Dazu bedurfte es des unmittelbaren Selbst-Anteils in der Zeit, in dem der Verzweifelte geistlos mit der Zeit geht. Der selbstbewusste Verzweifelte hingegen kann die Zeit nicht mehr als Hilfe gegen die Verzweiflung in Anspruch nehmen, weil er mit dem Irdischen auch von ihr abstrahiert hat. Die Verzweiflung des Menschen über sein verzweifeltes Selbstsein ist eine Form von gestörter Selbstliebe, bei der die Liebe den Hass nährt, wie Kierkegaard andeutet (177 / 64,4–8). Dem Geliebten wird die Liebe von dem Liebenden so entzogen, dass der Geliebte diesen Liebesentzug spüren soll – oder besser : dass man selbst die Qual des Geliebten in sich spürt. Im Hass will man selbst noch die Qual des anderen und damit ihn selbst bei sich behalten – weil man den anderen doch auch liebt. Nun ist der andere in der Verzweiflung des Menschen dieser selbst, so dass zwischen Liebendem und dem ›geliebten Gehassten‹ kein Unterschied besteht. Einen Unterschied versucht der Verzweifelte jeden Augenblick herzustellen, wenn er sich in seiner Verzweiflung von dem, über den er verzweifelt, unterscheidet. Um so größer muss der Hass sein, mit dem der Verzweifelte seiner Schwäche flucht, die er nicht loszuwerden vermag. So wie die Liebe den Hass nährt, hält der Hass die Liebe wach, und der Mensch, der sich selbst los sein will, verstrickt sich in die Dialektik von Selbstannahme und Selbstabsage. Seine Selbstannahme ist der Versuch, sich selbst gleichsam ohne sein Selbst anzunehmen. Seine Selbstabsage ist ebenso aussichtslos (vgl. 151 / 32,36), weil er sich von sich selbst lossagen will, ohne sich selbst zu verlieren. Der Mensch hat sich hoffnungslos in sich selbst verstrickt.

3.

Die Verschlossenheit und Einsamkeit in der Verzweiflung am Ewigen

a)

Die Bedeutung der Verzweiflungsintensität für die Verschlossenheit

Auch wenn der Verzweifelte nicht die richtige ›Abbiegung‹ (vgl. 179 / 66,38) zum Glauben hin nimmt, scheint er doch in seiner Verzweiflung näher zur Rettung vorgedrungen zu sein (177 / 63,22f). Seine Verzweiflung ist intensiver geworden,

Die Verschlossenheit und Einsamkeit in der Verzweiflung am Ewigen

233

weil sie ihm – nun nicht mehr durch die Unmittelbarkeit verstellt – in der Gestalt seines verzweifelten Selbstseins bewusst wird. Die eigene Verzweiflung, über die der Mensch verzweifelt, ist im Bewusstsein freigelegt, so dass sie für ihn mit großer Intensität spürbar ist. In diesem Sinn ist der Verzweifelte der Rettung näher, die darin liegt, ganz zu Ende zu verzweifeln (174 / 60,26ff). Er wird nun ständig von seiner Verzweiflung geplagt und weiß, dass es seine Verzweiflung ist. Er kann sie nicht mehr nach außen verdrängen, sowenig er sein Bewusstsein auszulöschen vermag. Hier schöpft auch der Leser Hoffnung und in ihm steigt die Erwartung, dass ein solch verzweifeltes Bewusstsein im Folgenden nur noch zur erlösenden Totalverzweiflung führen kann. Doch Kierkegaard hält einmal mehr eine Enttäuschung bereit. Diese ist schon aus der Struktur der erreichten Verzweiflungsgestalt abzulesen. Die Verzweiflung, die intensiver gespürt und durch das Bewusstsein offengehalten wird, ist die Verzweiflung, auf die der Mensch seinerseits mit Verzweiflung reagiert. Die verzweifelte Reaktion besteht darin, dass er die in ihm aufgebrochene Verzweiflung in sich verschließt. In der Unmittelbarkeit lag die Verzweiflung dem Verzweifelten nicht offen, aber er selbst war nicht verschlossen; nun ist die Verzweiflung offenbar, aber der Verzweifelte verschließt sich vor sich selbst.9 Kierkegaard räumt die Möglichkeit der Rettung nur dann ein, wenn die Verzweiflung offengehalten (177 / 63,26) wird.10 Das tut der über seine Schwäche Verzweifelte keinen Augenblick, auch wenn er intensiver verzweifelt, sondern er gibt ständig darauf acht, dass er nicht er selbst wird, weil er nicht er selbst sein will. Dieses entscheidende Faktum fügt Kierkegaard sofort an: »Doch ist diese Verzweiflung gleichwohl unter die Formel zu bringen: verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen« (177 / 63,28f).

b)

Die verschlossene Tür

Aus der blinden Tür (171 / 56,20ff) für den nach außen gewandten unmittelbar Verzweifelten mit Reflexion ist eine wirkliche Tür für den am Ewigen Verzweifelten geworden, und der Ort der Selbst-Vorstellung des Menschen hat gewechselt (177 / 64,11–17). Verlor der Mensch sich selbst zuvor in der Unmit9 Damit ist der Weg der ›Dämonie‹ eingeschlagen. Vgl. SKS 4, 424 / BA, 135,1ff: »Das Dämonische ist die Unfreiheit, die sich verschließen möchte. Das ist und bleibt indessen eine Unmöglichkeit, sie behält immer ein Verhältnis; und selbst wenn dieses Verhältnis scheinbar ganz aufgehört hat, so ist es dennoch vorhanden.« 10 Vgl. SKS 10, 191 / CR, 193: »Es ist da doch, und dies allezeit, Rettung und Hoffnung für einen jeden, dessen Sünde so recht offenkundig geworden, und die Erlösung ist um so näher, je schrecklicher die Gestalt ist, in der seine Sünde sich ihm zeigen muß.«

234

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

telbarkeit, so dass ihm jene blinde Tür nach innen aus dem Sinn geriet, so hat er sich nun in sich gesammelt, befindet sich hinter der Tür und hat sie fest im Blick. Die blinde Tür hätte der Unmittelbare mit Reflexion wohl mit Leichtigkeit öffnen können, aber er war zu zerstreut; nun hat der höher Verzweifelte gleichsam die Hand an den Türgriff gelegt – um die Tür fester ins Schloss zu ziehen. Der Mensch versucht hinter der Tür aus sich selbst heraus er selbst zu sein, ohne sich selbst in seiner Schwäche zu übernehmen. In seiner Schwäche meint er nicht er selbst zu sein. Damit hat er in gewisser Weise recht, weil die Schwäche seinen Untergang bedeuten würde. Aber darin liegt die Wahrheit seines verzweifelten Selbstseins. Solange der Verzweifelte in seiner Selbstvorstellung bleibt, vermag er sich von sich selbst zu distanzieren, ohne sich aufgeben zu müssen. Er verharrt in der Ambivalenz zwischen Nichtselbstseinwollen und Selbstliebe (177 / 64,13–16). Der in sich verschlossene Verzweifelte gibt auf sich acht, dass er noch ›Selbst‹ genug ist und nicht seiner Selbstvorstellung beraubt wird. Doch eine ›positive‹ Selbstvorstellung entwickelt er nicht, wie es im Trotz der Fall sein wird; seine geliebte Selbstgestalt ist noch rein negativ mit dem Nichtselbstseinwollen gegeben, wie im Selbsthass des Verzweifelten deutlich wird (vgl. 177 / 64,4–8). Dieser Zustand würde zerbrechen, wenn der Verzweifelte die Tür nach außen nicht sorgfältig verschlossen hielte. Was würde passieren, wenn er die Tür öffnete? Der Verzweifelte würde auf sein irdisch-endliches Selbstsein in seiner hoffnungslosen Verzweiflung treffen, er würde ›er selbst‹ sein und im richtigen Sinne am Ewigen, das er verloren hat, und an der eigenen Kraft, die nicht helfen kann, verzweifeln (vgl. 175 / 61,35ff). Er könnte sich nicht mehr selbst phantasieren, weil sich mit der geöffneten Tür seine vermeintliche Selbstgestalt als bloße Illusion zeigte. Sie wäre nichts, und der Verzweifelte müsste diese ›Reflexion des Nichts‹ vollziehen.

c)

Das Selbstverständnis des Verschlossenen

Der am Ewigen Verzweifelte hat das einzelne Irdische hinter sich gelassen und sich in sich selbst zurückgezogen. Er ist in sich ständig damit beschäftigt, nicht er selbst sein zu wollen und doch aus Liebe an sich festzuhalten. Seine Verschlossenheit ist eine Stärke, weil sie von ihm als einem selbst handelnden Verzweifelten ›hinter der Tür‹ herkommt, durch die er sich von der schwächlichen Geistlosigkeit der Unmittelbarkeit getrennt hat. Aber die Verschlossenheit ist auch eine Schwäche, weil sie ebenso von ihm als einem schwachen Selbst herkommt, das sich von seinem irdischen Dasein trennt, von dem her es seines Selbstverlustes ansichtig würde und durch und durch verzweifeln müsste. Kierkegaard lässt den selbstbewusst Verzweifelten mit seiner Stärke selbst zu Wort kommen:

Die Verschlossenheit und Einsamkeit in der Verzweiflung am Ewigen

235

Das sind ja auch nur die ganz unmittelbaren Menschen – die unter der Bestimmung Geist ungefähr an demselben Punkt sind, wie ein Kind im ersten Abschnitt der frühesten Kindheit, wo es mit ganz und gar liebenswerter Ungeniertheit alles unter sich gehen läßt – es sind nur die ganz unmittelbaren Menschen, die überhaupt nichts bei und für sich behalten können. […] Jedes auch nur ein kleines bißchen reflektierte Selbst hat doch wenigstens eine Vorstellung davon, was es heißt, dem Selbst Zwang anzutun (177f / 64,28–34; 64,38–65,1).

Die Metapher des unreifen Kindes hat Kierkegaard schon für den ganz unmittelbaren Menschen gebraucht. Dieser ist wie ein Kind, dessen Selbst-Vorstellung im anderen aufgeht. Hinsichtlich seiner selbst kann ein solcher Mensch nichts bei noch für sich behalten. Der selbstbewusste, sich reflektierende Verzweifelte fühlt sich dem Unmittelbaren gegenüber stark und überlegen, weil er gelernt hat, sein Verlangen nach dem anderen zu ›bezähmen‹ (177 / 64,27). So stark er nach außen hin erscheint, nach innen hin entpuppt sich die Stärke als bodenlose Schwäche. Wenn der Verzweifelte meint, eine Vorstellung davon zu haben, was es heißt, sich selbst Zwang anzutun, dann hat er unfreiwilligerweise damit recht, dass ein solches nur in der – phantastischen – Vorstellung möglich ist. Als ob ein Mensch sein wirkliches Selbstsein irgendwie ›zwingen‹ könnte! Es ist sich Kierkegaards Hinweis in Erinnerung zu rufen, dass die Worte eines Verzweifelten, wenn sie dichterischen Wert haben sollen, im Kolorit des Ausdrucks den Reflex des dialektischen Gegensatzes enthalten müssen (146 / 27,23ff). Der Verzweifelte will in seinen Worten eine Verzweiflung der Stärke vermitteln, aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich eine Verzweiflung der Schwäche. Wenn er sich selbst Zwang antun muss, kann dies nur bedeuten, dass er selbst sehr schwach ist, sonst müsste er sich selbst nicht zwingen. Was der so Verzweifelte bei dem Unmittelbaren verachtet, trifft in gewisser Weise auch auf ihn selbst zu. Der selbstbewusst Verzweifelte ist zu schwach, um seine Schwäche bei sich zu behalten, zu ihr zu stehen. Vielmehr gibt er ihr nach und potenziert seine Schwäche, indem er über sie verzweifelt.

d)

Das Bedürfnis nach Einsamkeit

Der Verzweifelte spürt »nicht selten ein Bedürfnis nach Einsamkeit, sie ist ihm eine Lebensnotwendigkeit, bisweilen so wie das Atmen, zu anderen Zeiten so wie der Schlaf« (178 / 65,18ff). Das Bedürfnis nach Einsamkeit ist der äußere Ausdruck für die Verschlossenheit des Verzweifelten. Der Verzweifelte sondert sich ab, um für sich selbst zu sein. Deshalb geht er auch selten in die Kirche und zieht sich öfters von Frau und Kinder zurück, wie Kierkegaard andeutet (179 / 66,3–10). Warum ist für den Verzweifelten die Einsamkeit eine Lebensnotwendigkeit? Er bedarf der Einsamkeit wie des Atmens, weil ihm in der geistlosen

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Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

Gesellschaft geradezu die Luft wegbleibt und er nur bei sich er selbst sein kann. Nur wo er mit sich allein ist, hat er die Ruhe, sich seiner selbst zu vergewissern. Nur in der Einsamkeit hat der Verzweifelte von sich selbst genug. Die Zwiespältigkeit im Selbstverständnis des Verzweifelten wird durch den mitgegebenen Vergleich verdeutlicht. Das Bedürfnis nach Einsamkeit ist dem Verzweifelten so wichtig wie bisweilen das Atmen und dann der Schlaf. Die Metapher des Atmens hatte Kierkegaard schon mehrmals gebraucht (siehe besonders 154 / 36,38f). Der Verzweifelte ›schöpft‹ den ›Atem‹ der Möglichkeit für sich selbst, damit er leben kann. Der selbstbewusst Verzweifelte hat seine Möglichkeit außerhalb der selbstvergessenen Gesellschaft gefunden. Doch besteht sie in dem trügerischen Spiegel der in sich gekehrten Selbst-Vorstellung, die im Gegensatz zu den lebensschenkenden Möglichkeiten Gottes in höchstem Maße unwahr ist. Mit der ›Haltung‹ des Schlafs legt Kierkegaard nahe, dass der Verzweifelte in seiner Verzweiflung »nichts von sich selbst hören, nichts von sich selbst wissen« (177 / 63,35f) will. Der Verzweifelte will einerseits sein Selbstsein in der Einsamkeit ›beatmen‹ und andererseits auch wie im Schlaf vergessen. Aber so wenig er in der Einsamkeit sich selbst finden kann, so wenig ist dort »Hilfe im Vergessen« (177 / 63,36) vorhanden. Nicht man selbst sein wollen und sich doch selbst lieben ist der Zwiespalt, den die tiefere Natur des Verzweifelten in sich trägt. Der Zwiespalt in der Motivation zur Einsamkeit setzt sich fort, wenn Kierkegaard in dem Bedürfnis nach Einsamkeit nicht nur ein Zeichen für den Geist überhaupt, sondern zugleich darin den Maßstab entdeckt, »welcher Geist es ist« (178 / 65,25; Hervorhebung von JB). Auch der durch und durch Verzweifelnde sucht die Einsamkeit, aber in einem radikaleren Sinne, wenn er »Ruhe zum Verzweifeln« (154 / 36,23f) sucht und jeden, der ihn daran hindern wollte, verwünschen würde. In diesem geistigen Wollen wird der Mensch nicht von einem ›selbstischen‹ Geist geleitet, in dem er sich selbst durch sich selbst haben will, sondern von einem Geist, durch den der selbstverlorene Mensch zum Selbst wird.

e)

Mögliche Mitwisser der Verschlossenheit?

Doch was macht der Verzweifelte, wenn er in seiner Einsamkeit mit sich nicht weiterkommt? Auch wenn er mit sich im Zwiespalt bleibt, hat sich sein Bedürfnis in gewisser Weise gestillt (179 / 66,7f). Er war sich in seiner Einsamkeit selbst genug, so dass er seine Selbstbeschäftigung abbrechen kann. Der Verzweifelte hat sich von dem Spiegel seiner Reflexion täuschen lassen und meint, sich selbst in seinem Nichtselbstseinwollen behauptet zu haben. Er lässt es nicht so weit kommen, dass er an seiner vergeblichen inneren Tätigkeit völlig verzweifelt. Der

Die Verschlossenheit und Einsamkeit in der Verzweiflung am Ewigen

237

am Ewigen Verzweifelte zieht aus seinem verzweifelten Bemühen immer noch eine gewisse Selbstbestätigung, durch die er seine Schwäche auszuhalten vermag. Er findet genug Kraft, um sich bald wieder nach außen zu wenden. Es scheint so, als würde er wie der unmittelbar Verzweifelte mit Reflexion, der vergeblich auf eine innere Veränderung wartete (171 / 56,17f), nun ganz nach außen abbiegen. Aber der in sich Verschlossene findet selbst nicht mehr zur Unmittelbarkeit zurück. Das ist äußerlich nicht erkennbar, man führt seine Freundlichkeit und Fürsorglichkeit auf sein natürliches Wesen und seine moralische Integrität zurück (vgl. 179 / 66,10f). Nur der um die Verzweiflung Wissende kann im äußeren Verhalten des Verzweifelten das Eingeständnis innerer Schwäche bemerken. Weil der Verzweifelte gegenüber sich selbst in seinem Inneren die eigene Schwäche bis zu einem gewissen Grad zugesteht (179 / 66,13f), zeigt er sich nach außen eher nachsichtig und anderen gegenüber sanft, während er hinsichtlich seiner eigenen äußeren Person keine Schwäche duldet, sondern sich pflichtbewusst gibt und ein ›ungewöhnlich tüchtiger Beamter« (178 / 65,6) ist. Das Eingeständnis seiner Schwäche macht der Verzweifelte sich nur in seinem Inneren, aber es bestimmt seine äußere Art, durch die er das Eingeständnis für sich behalten will. Seine äußere Art ist gerade in ihrer Unauffälligkeit und Ausgeglichenheit – er ist sanft (179 / 66,11), aber nicht schwächlich, weil er tüchtig und pflichtbewusst ist, dabei wiederum aber nicht hart – ein ständiger Reflex seines inneren Zustandes. Je schwerlicher die Verzweiflung im Inneren vergessen werden kann (177 / 63,24f), desto verzweifelter arbeitet der Mensch innen wie außen daran, sie zu beenden – um sie vergessen zu können. In seinem Inneren will der Verzweifelte seine verzweifelte und schwache Selbstgestalt nicht sein, wo er sie jedoch sich eingestehen muss – dann soll sie wenigstens ihn in seiner Äußerlichkeit nicht betreffen, wo er sie sich nicht einzugestehen braucht. Selbst derjenige, der zum Mitwisser geworden ist, vermag nicht die Verschlossenheit aufzubrechen (179 / 66,15–18). Würde man dem Verzweifelten sagen, er wäre in Wahrheit stolz auf seine schwache Selbstgestalt, sonst würde er die vielen unmittelbaren Menschen nicht verachten (177 / 64,17–20), so hätte man ihn in der Tat in seinem Stolz getroffen. Aber weit entfernt, seinen Stolz zuzugeben, würde der Getroffene – stolz, wie er ist – eine solche Unterstellung zurückweisen. Sein Selbstsein hängt an seinem Stolz, und das lässt er sich von einem anderen schon gar nicht nehmen. Er würde sich ja ansonsten wie die Unmittelbaren von den anderen bestimmen lassen. Der Verzweifelte sieht sich selbst wohl angesichts seiner Schwäche als verzweifelt an, aber er braucht nicht so verzweifelt zu sein wie jene Unmittelbaren, die nur sinnlos über sich selbst reden. Sich selbst gegenüber ist der Verzweifelte indessen nicht so verschlossen, wie er es einem vermeintlichen Mitwisser gegenüber wäre (179 / 66,18–27). Sich

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Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

allein würde der Verzweifelte seinen Stolz eingestehen, eingestehen, dass er zu stolz ist, er selbst in seiner Schwäche sein zu wollen. Doch mit seinem selbstbewussten Handeln, sich selbst nicht sein zu wollen, hat er Leidenschaft gewonnen, die ganz ihm selbst in seiner Schwäche gilt. Er ist nicht so stolz, sich von seiner ›Selbst‹-Schwäche abzuwenden, vielmehr beschäftigt er sich mit ihr leidenschaftlich. Deshalb kann ihm sein Stolz im Grunde doch kein Stolz sein (179 / 66,20ff). Wenn der Verzweifelte aber sich immerhin eingesteht, dass etwas an dem Vorwurf des Stolzes ›dran‹ sei (179 / 66,16f), dann vollzieht er ansatzweise jene Wendung des Trotzigen, der selbstbewusst gegen seine Verzweiflung angeht. Denn der Verzweifelte ist dann nicht mehr seiner schwachen verzweifelten Selbstgestalt zugewandt, die er nicht sein will, sondern will stolz er selbst sein. Im Stolz des Schwachen steckt der Trotz. Aber der so Verzweifelte ist noch nicht trotzig genug, als dass er zu seinem Stolz stehen könnte; er sieht sich noch viel zu sehr an seine verzweifelte Schwäche gebunden, deren er sich leidenschaftlich annimmt. In der Schwäche glaubt er nicht Selbst genug zu sein, woran sich seine stolze Selbstliebe heften könnte. Wenn der Verzweifelte sich deutlicher und beständiger eingestehen würde, dass an der Sache mit dem Stolz etwas dran sei, könnte er der Wahrheit seiner Verzweiflung auf die Spur kommen. Aber wie beim am Ewigen Verzweifelten findet eine wahrhafte Einsicht in das eigene Bewusstsein der Schwäche auch in den weiteren Verzweiflungsformen nicht statt. In dem Moment, wo sich die Schwäche zum Trotz verkehrt, wird aus dem leidenschaftslosen Eingeständnis seines Stolzes ein leidenschaftliches Beharren auf seinem Stolz – was Trotz ist. Aus dem leidenschaftslosen Eingeständnis wird kein leidenschaftliches Eingeständnis des eigenen Stolzes, was der echten Reue (vgl. 174 / 60,26–29) entspräche und den Weg in die Wahrheit der Verzweiflung eröffnen würde. Theunissen kritisiert den von Kierkegaard konstruierten Bezug zwischen Trotz und verzweifeltem Nichtselbstseinwollen: Offenkundig gibt es ein Nichtwollen, das kein Verweigern ist. Gerade als verzweifeltem wird hinter ihm in den wenigsten Fällen eine Attitüde der Verweigerung stehen. Und selbst dann, wenn es verweigerte, wäre noch keine hinreichende Bedingung für Trotz erfüllt. Denn nicht jede Verweigerung ist trotzig. Trotz setzt eine gewisse Uneinsichtigkeit voraus. Wer etwas aus Einsicht verweigert, und sei es auch sein eigenes Sein, der handelt demnach nicht im Trotz (Begriff Verzweiflung, 80). Theunissen markiert zu Recht mit der Uneinsichtigkeit ein entscheidendes Moment im Wesen des Trotzes. Wenn er der trotzigen Verweigerung aufgrund von Uneinsichtigkeit eine nicht trotzige Verweigerung aus Einsicht gegenüberstellt, so lässt sich letztere noch weiter differenzieren. Eine Verweigerung aus Einsicht liegt nämlich in gewisser Weise auch in der Uneinsichtigkeit vor. Wenn man jemanden als uneinsichtig bezeichnet, dann sieht dieser Mensch den betreffenden Sachverhalt durchaus ein, aber er verweigert sich dieser Einsicht – gerade aus der Einsicht, dass diese Einsicht ihm nicht passt. Der im Sinne der

Die drei Möglichkeiten des am Ewigen Verzweifelnden

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Schwäche oder der Stärke Verzweifelte ist in jedem Fall derjenige, der die Verzweiflung »weiß und dennoch in der Verzweiflung bleibt« (159 / 43,11). Er ist uneinsichtig.

4.

Die drei Möglichkeiten des am Ewigen Verzweifelnden

In der reflexiven Unmittelbarkeit blieb der Verzweifelte entweder stehen und ließ die Zeit vergehen (174 / 60,31) oder er ging zurück in die Äußerlichkeit. In der Verzweiflung am Ewigen besitzt der Mensch nun drei Möglichkeiten. Er bleibt stehen oder er potenziert seine Verzweiflung zum Trotz oder er geht zurück in die Äußerlichkeit (179f / 67,2–10). Die erste und dritte Möglichkeit scheinen denen der Unmittelbarkeit zu entsprechen, doch heben sich die Möglichkeiten des selbstbewusst Verzweifelten in charakteristischer Weise vom unmittelbar Verzweifelten mit Reflexion ab.

a)

Das ›Stehenbleiben‹

Wie man in der selbstbewussten Verzweiflung auf der Stelle tritt, hat Kierkegaard mit dem stundenweise zurückgezogenen ehrbaren Bürger vorgeführt (179 / 66,3–10). Es ist die erste Möglichkeit für den am Ewigen Verzweifelten. Aber kann der selbstbewusst Verzweifelte überhaupt an einem Punkt seiner Verzweiflung stehenbleiben, wenn das ›Gegengewicht‹ der Unmittelbarkeit weggefallen ist? Der reflexiv-unmittelbar Verzweifelte verharrt in seiner Verzweiflungsform, weil er selbst noch der Unmittelbarkeit verhaftet ist, die ihn in seiner selbstbewussten Reaktion hemmt. In der Verzweiflung am Ewigen liegt nun eine ausgeprägte Handlung vor, die zwar durch ein Erleiden erzeugt ist, aber als Gegendruck keine Grenze mehr kennt. Der Mensch verzweifelt »mit unendlicher Leidenschaft« (175 / 61,5) und wird durch nichts mehr aufgehalten, sich so fest wie möglich darin zu verschließen, nicht er selbst sein zu wollen. Je leidenschaftlicher er mit sich selbst in seinem Inneren beschäftigt ist, desto mehr verschließt er sich. Schließlich gibt es keinen Menschen, dem er sich selbst öffnen könnte, weil er in der Verzweiflung über das Irdische in toto dieses in sein Selbstsein, über das er verzweifelt, gezogen hat. Neben dem einen Irdischen, über das er verzweifelt, gibt es für ihn kein relevantes anderes Irdisches mehr, keinen Menschen mehr, der ihn in seiner Verzweiflung entscheidend beeinflussen könnte, weil das eine Irdische zum Ganzen und damit zur Ursache seiner schwachen Selbstgestalt geworden ist. Der Verzweifelte besitzt in seinem Selbstsein kein echtes Außen mehr, sondern das in seiner Bedeutung für den Verzweifelten entleerte ›Äußere‹ dient nur zur Verbergung des inneren Zustandes seiner selbst. Auch jene Ausnahme des »ganz vereinzelten Pfarrer[s],

240

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

dem er zugesteht, daß er weiß, wovon er spricht« (178 / 65,15f), ist nur eine Ausnahme in seiner Verachtung der anderen, aber nicht hinsichtlich seiner Verschlossenheit. An sich selbst will der Verzweifelte die Worte des Pfarrers nicht lassen und verschließt sich vor ihnen (178 / 65,16ff). Diese Verschlossenheitsstruktur wird es Kierkegaard im Folgenden erlauben, von einer ›absoluten Verschlossenheit‹ (180 / 67,28) zu sprechen. Wenn der Verschlossene in seiner Verschlossenheit ›auf der Stelle tritt‹, so drückt sich darin keine Hemmung seiner Verzweiflung aus, sondern durch das Auf-derStelle-Treten vertieft er unendlich seine Verzweiflung der Schwäche.

b)

Die Potenzierung

Aber wird nicht in der Potenzierung der Verzweiflung »zu einer höheren Form« (180 / 67,6), der von Kierkegaard beschriebenen zweiten Möglichkeit des Verzweifelten, noch eine tiefere Verschlossenheit erreicht? Die Verzweiflung in der höheren Form des Trotzes bedeutet eine hinzukommende ›Verdrehung‹ des Verzweifelten in der Verschlossenheit.11 Die absolute Verschlossenheit selbst, zu der sich die Verzweiflung der Schwäche zu erheben vermag, ist freilich nicht mehr zu steigern, so dass im Trotz die Verschlossenheit weiter bleibt, allerdings in noch größerer Konsequenz. Kierkegaard wird diese Steigerung an dem Bild der Tür demonstrieren, wenn an der sorgfältig verschlossenen Tür des verzweifelt Schwachen gleichsam nochmals der Schlüssel herumgedreht wird, was zu einem ›verklemmten oder überdrehten Türschloss‹ (186 / 74,38) führt. Die verschließende Drehung hin zur eigenen Schwäche wird nochmals in sich gedreht, was das Verhältnis nach innen weiter verkehrt.

c)

Der Ausbruch in die Äußerlichkeit

In einer dritten Möglichkeit wird das Verhältnis nach Außen neu bestimmt. In der Verzweiflung wird die äußere Verkleidung der unauffälligen Bürgerlichkeit vernichtet (180 / 67,7ff) und die Verschlossenheit durchbrochen. Obwohl nun der Weg nach außen offen scheint, findet der Verzweifelte nicht selbst nach außen. Hinter der äußeren Verkleidung, die der Verzweifelte vernichtet, ist nichts mehr, an das er seine Selbstgestalt ›selbstvergessen‹ heften könnte. Um so heftiger wird er sich an das Außen krallen. Er wird ein unruhiger Geist werden, »dessen Dasein reichlich Spuren hinterläßt« (180 / 67,13). Wenn der Unmittelbare mit Reflexion sich wieder der äußerlichen Welt verschrieb, wandte er sich 11 Siehe hier Kapitel 9.3.f.

Die drei Möglichkeiten des am Ewigen Verzweifelnden

241

dorthin, wo er sich noch teilweise als er selbst ansah. Der selbstbewusste Verzweifelte hängt aber nicht mehr unmittelbar mit dem anderen zusammen (vgl. 166 / 50,7f). Er kann sich selbst im anderen nicht vergessen, so sehr er auch darin eintaucht. Die geistlose Passivität, die er sich in seiner Zerstreuung wünscht, versucht er durch sein selbstbewusstes Handeln herbeizuführen – was eine Unmöglichkeit ist. Während der Unmittelbare sich von den anderen in seinem Dasein prägen lässt, hinterlässt der Selbstbewusste durch sein Dasein reichlich Spuren. Er vermag sich selbst nicht von sich abzulenken. Der Verzweifelte hat die äußere Umkleidung der respektablen Bürgerlichkeit abgelegt, um selbst anders zu werden, aber kann auf diese Weise seinen inneren Konflikt nicht lösen. Die äußere Hülle wird nicht durchbrochen, weil der Verzweifelte sein Inneres nach außen wenden will, sondern weil der innere Kampf mit sich selbst in der äußeren Beschäftigung beendet werden soll. Aber der Verzweifelte tauscht die alte äußere Umkleidung nur gegen eine neue aus. Statt von Bürgerlichkeit wird die Verzweiflung nun von großen Unternehmungen und Ausschweifungen (180 / 67,18) umkleidet. Die neu zugelegten Verhaltensweisen bleiben äußerlich und berühren nicht die verzweifelte Selbstgestalt des Menschen. Kierkegaard führt mit dem Hinweis auf Richard III. und seine Mutter (180 / 67,15ff) in Shakespeares Drama über den englischen König das zuvor gebrauchte Bild vom Vater und seinem enterbten Sohn weiter (177 / 63,29ff). Aber nun hat sich das Bild umgekehrt, wenn nicht mehr der Vater gegen seinen Sohn vorgeht, sondern der Sohn sich gegen seine Mutter wehrt. Der Verzweifelte will nicht mehr das loswerden, was er einmal hervorgebracht hat, sondern das, was ihn hervorgebracht hat. Diese Verschiebung entspricht dem neuen Sachverhalt. Der Verzweifelte vermag seine Verschlossenheit nicht mehr zu ertragen, bleibt nicht an diesem Punkt stehen und flieht nach außen. Er will nicht mehr über seine Schwäche verzweifeln müssen. So stark ein solcher Mensch nach außen wirkt, so ist er doch schwächer als jener, der in seiner Verschlossenheit bleibt. Er hat nicht mehr die Kraft, in der Einsamkeit sich mit seiner Schwäche zu beschäftigen, so wie der Vater in seinen Gedanken regelmäßig um den in seinen Augen missratenen Sohn kreist (177 / 64,3f). Nun will sich der Verzweifelte nicht von dem, was er einmal in seiner Schwäche hervorgebracht hat, lossagen, sondern von dem ganzen Verhältnis, in dem er sich mit seiner Schwäche beschäftigt. Hier ist er selbst wie ein schwacher Sohn, der von seiner Herkunft, seinem verzweifelten Selbstverhältnis loskommen will. Aber er vermag den »Verwünschungen der Mutter« (180 / 67,16) schwerlich zu entgehen; dazu sind seine Mittel zu schwach, weil sie ganz dem Äußerlichen verhaftet bleiben. Der Vater ging wenigstens noch in Gedanken gegen seinen Sohn vor, auch wenn er ihn dort

242

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

nicht loswurde; Richard III. weiß sich nur noch mit den Trommeln zu helfen,12 um die Verwünschungen der Mutter nicht zu hören.

5.

Der Selbstmord als letzte Konsequenz der Verzweiflung am Ewigen

a)

Die Konsequenz des Selbstmords beim absolut Verschlossenen

Bevor der verkehrte Weg in den Trotz – seine Potenzierung – näher betrachtet werden soll, ist mit Kierkegaard nochmals der Schwache, der ›auf der Stelle tritt‹ und sich so weiter in sich verschließt, genauer zu analysieren (180 / 67,26–31). In der absoluten Verschlossenheit ist dem Verzweifelten das Äußere in die völlige Gleichgültigkeit zurückgesunken und scheint in keiner Relation mehr zu seinem Inneren zu stehen. Sich selbst hat der Verzweifelte ganz in seiner Vorstellungswelt eingeschlossen, so dass es nichts und niemanden mehr für ihn in der Welt gibt, das oder der für ihn selbst von Bedeutung wäre – für ihn selbst, wie er sich in seiner Vorstellung versteht! So gleichgültig dem Verzweifelten das ÄußereEndliche ist, so ist ihm doch nicht bewusst, dass er mit äußerster Intensität diese Gleichgültigkeit aufrechterhält, um seine vorgestellte Selbstgestalt dem Äußeren-Endlichen nicht preiszugeben. So kommt auch die absolute Bewahrung der Verschlossenheit nicht ohne das Äußere aus. In ihr ist das Innere nicht ›absolut‹ gegen das Äußere gesetzt, sondern beides bildet noch die Synthese des Selbstseins, auch wenn sich der Mensch völlig einseitig aus seiner inneren Vorstellung versteht. Wenn der Verzweifelte weder in seine geistreiche Vorstellungswelt noch in die geistlose Außenwelt ausweichen würde, käme er wahrhaftig zu sich selbst, der er weder im Inneren noch im Äußeren, sondern nur in der ihn setzenden Macht er selbst ist. Die Gefahr des absolut Verschlossenen liegt im Selbstmord (180 / 67,30f), der für Kierkegaard die entschiedenste Sünde des Geistes ist (161 / 45,15ff). Der Selbstmord des absolut Verschlossenen könnte interpretiert werden als Flucht vor der Verschlossenheit in sich selbst, die der Verzweifelte nicht mehr zu ertragen vermag. Aber eher ist das Gegenteil anzunehmen. Der Selbstmord ist der ultimative Schritt auf der Stelle, mit dem der Verzweifelte seine Verschlossenheit vertiefen will. Er legt sich in seiner Verschlossenheit endgültig fest, so dass kein anderer mehr erfahren kann, was ihn im Innersten bewegte. Die Möglichkeit des Selbstmords bedeutet strukturell eine Verbindung der zwei anderen genannten Verzweiflungsmöglichkeiten, der Potenzierung zum

12 Zur Shakespearschen Gestalt Richard III. Vgl. Heller, Two Episodes, 368f.

Der Selbstmord als letzte Konsequenz der Verzweiflung am Ewigen

243

Trotz und des Ausbruchs in die Äußerlichkeit. Wie im Trotz will der Verzweifelte sich selbst in der Verschlossenheit halten, aber wie jener nach außen Durchbrechende vernichtet er – freilich in äußerster Radikalität – seine äußere Umkleidung. Der Selbstmord stellt die Vollendung und zugleich die Aufhebung der Verschlossenheit dar. Der Mensch kann den Widerspruch im Selbst nicht mehr in seine innere Vorstellung eingrenzen und setzt sein ganzes Dasein unwiderruflich in der Verzweiflung fest. Eine Veränderung soll weder von innen noch von außen her möglich sein. Diese ultimative Selbstfestlegung macht für Kierkegaard den Selbstmord zur ›entschiedensten Sünde des Geistes‹.

b)

Die Konsequenz des Selbstmords beim nicht konsequent Verschlossenen

Aber ist dem Verzweifelten auch möglich, nicht bis zur absoluten Verschlossenheit fortzuschreiten? Kierkegaard gibt zu bedenken, dass ein Mensch, der sich gegenüber einem anderen innerlich öffnet, nicht gänzlich in sich angespannt sein kann (180 / 67,35–39). Dass ein absolut Verschlossener voller Verzweiflung sich einem anderen Menschen öffnet, bleibend öffnet, und seine Absolutheit durchbricht, erscheint unmöglich – es geschehe denn jener ›Umbruch‹ (179 / 67,4) beim Verzweifelten, der die Verzweiflung zu Ende bringt. Aber ist es für den noch nicht absolut Verschlossenen vielleicht möglich, der Verzweiflung zu entkommen, wenn er einem anderen seine innere Befindlichkeit gesteht? Ein Mitwisser könnte doch der vereinzelte Pfarrer sein (178 / 65,14ff), dem der Verzweifelte zugesteht, dass er weiß, wovon er spricht. Der Pfarrer würde dem Verzweifelten die sonderbare Verwicklung erklären, in der er sich verfangen hat – und der Verzweifelte würde den Pfarrer in einem leidenschaftslosen Augenblick verstehen (vgl. 179 / 66,35ff). Dann hätte er sich nach außen zum anderen gewandt, sich abgekehrt von seiner leidenschaftlichen Einsamkeit, in der er sich unendlich verzweifelt mit sich selbst beschäftigt. Wenn der Verzweifelte sich einen Mitwisser verschafft, muss er sein Verhältnis zwischen innen und außen so weit entspannt halten können, dass er nicht wie der Selbstmörder seine innere Verschlossenheit durch Vernichtung des Äußeren vollendet. Was geschieht aber, wenn die innere Leidenschaft wieder einsetzt und den Verzweifelten auf sein eigentliches, anderen gegenüber verschlossenes Verhältnis zu sich selbst zurückwirft? In seiner Leidenschaft müsste die Spannung zwischen innen und außen wieder zunehmen. Nun aber ragt aufgrund des Mitwissers das innere Verzweiflungsverhältnis nach außen, die Verschlossenheit ist »um einen ganzen Ton sanfter und freundlicher« (180 / 68,1), sie ist ein Stück weit aufgebrochen, ohne dass der Verzweifelte die Ver-

244

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

schlossenheit grundsätzlich aufgeben wollte. Er hat und sucht sich selbst weiterhin in seiner Verschlossenheit, deren nun gemilderte Gestalt ihm, erneut von der Leidenschaft gepackt, als Schwäche erscheinen muss. Seine Leidenschaft entfacht sich um so mehr, als er sich seine Schwäche zu Herzen nimmt, über sie verzweifelt. Die Öffnung nach außen hat in seinen Augen die eigene Schwäche dramatisch verschärft. Er ist in sich selbst nicht genug gewesen (vgl. dagegen 177 / 64,16), so dass er es mit sich nicht mehr aushielt und sich nach außen öffnete. Der Verschlossene musste sich öffnen, weil ihm die innere Spannung zu groß erschien, aber mit der Öffnung löste er zugleich die höchste Spannung, in der er allein an sich selbst genug hat. Die Milderung seiner Qual bedeutet auch eine Erhöhung der Qual, weil er mit ihr seine ihn zwar quälende, aber doch auch geliebte Selbstgestalt dem anderen preisgibt. Diese Selbstgefährdung kann den Verzweifelten zu dem radikalsten Mittel, dem Selbstmord, greifen lassen (180 / 68,6–9), durch das er seine Innerlichkeit und damit sich selbst wiederzugewinnen sucht. Seine Leidenschaft treibt ihn an, seine Verschlossenheit durch einen Gewaltakt wiederherzustellen. Hinter dem Handeln des Verzweifelten steckt sein verletzter Stolz, der die eigene Schwäche nicht ertragen kann. So können sowohl der in seiner Verzweiflung absolut Verschlossene wie auch der relativ Verschlossene Selbstmord begehen – der eine, weil er sich absolut verschlossen hat, der andere, weil er sich gerade nicht absolut verschlossen hat. Der Selbstmord bildet in jedem Fall den Horizont der Verzweiflung der Schwäche, weil bei ihm sich der Zwiespalt des Verzweifelten, der nicht er selbst sein will und sich doch selbst genug ist, um sich zu lieben, unendlich vertieft. Kierkegaard setzt den Selbstmord in äußersten Gegensatz zum rettenden Glauben. Der Selbstmörder will sich selbst für sich selbst retten und muss sich dazu in seiner leiblich-seelischen Verfasstheit antasten.13 Seine Tat ist die pervertierte Anwendung der rettenden Formel, die er in seiner Leidenschaft nicht versteht: »[D]as Selbst muß gebrochen werden, um es selbst zu werden« (179 / 66,34f). Diese Nähe und doch größte Ferne zur Rettung auf dem Höhepunkt der Verzweiflung der Schwäche wird ebenfalls auf dem Höhepunkt der Verzweiflung der Stärke begegnen. Dort steht der Verzweifelte aber nicht in der Gefahr des Selbstmords, weil er über seine Schwäche verzweifelt, sondern er will im Gegenteil sein Dasein verewigen – weil auch er über seine Schwäche verzweifelt. Wie dies möglich ist, muss noch an Ort und Stelle erörtert werden, aber in 13 Vgl. dazu Kierkegaards Aussagen zum stoischen ›Selbst‹, SKS 21, 137, NB7:112 / T 3, 96: »Was er [sc. der Stoiker Antonin] fordert, ist die durchgeführte Selbstsucht, die den Tod nicht wählt, um einer Sache zu dienen usw., sondern weil es nun einmal dem Selbst am meisten zusagt. Das stoische Selbst ist das am meisten vereinzelte Selbst; es wäre deshalb vermutlich ein Fehler, daß sein Tod einer Sache dienen sollte. Nein, sein Tod soll nur es selbst zufriedenstellen.«

Der Ausweg aus der Verzweiflung am Ewigen

245

beiden Fällen handelt es sich um eine dämonische Ausformung der Verzweiflung. Die Dämonie ergibt sich aus der jeweiligen Pervertierung des rettenden Verhaltens. Kierkegaard verweist die Darstellung eines solch dämonisch Verzweifelten an die Dichtkunst, die allein den qualvollen Widerspruch in einem dämonischen Menschen, »einen Vertrauten nicht entbehren zu können und einen Vertrauten nicht haben zu können« (181 / 68,20f), adäquat darzustellen vermöchte. Die dichterische Lösung des Problems könnte in der Erfindung eines Kaisers oder Königs bestehen, der die Macht besitzt, statt sich selbst ermorden zu müssen, sukzessive einen Vertrauten nach dem anderen umbringen zu lassen. So wird der nicht endende innere Widerspruch des Herrschers in einer äußeren Gestalt sichtbar (180f / 68,9–18). Wenn Kierkegaard schreibt, dass die Vertrauten des Herrschers über das Erfahrene staunen würden, scheint hier noch der tiefere Beweggrund eines solchen sich öffnenden Verschlossenen durch. Der Verschlossene wird von den staunenden Vertrauten in seinem Selbst-Stolz bestärkt, an dem seine Selbstliebe hängt, und doch muss ihm zugleich bewusst werden, dass sein Sich-öffnen seinen Stolz mindern muss, weil er eben nicht die Verschlossenheit gänzlich ertragen konnte. Deshalb ist es letztlich nicht die Qual, sondern der Stolz, der den Eingeweihten zum Verhängnis wird.

6.

Der Ausweg aus der Verzweiflung am Ewigen

Der Verschlossene hat ganze Stunden mit dem Ewigen zu tun, ohne sie für die Ewigkeit zu leben (179 / 66,3–7). Kierkegaard unterscheidet die Zeit, die für die Ewigkeit gelebt wird, von der Zeit, in der man es ›nur‹ mit dem Ewigen zu tun hat. Wie kann Zeit für die Ewigkeit gelebt werden? Um für die Ewigkeit zu leben, muss der Verzweifelte unendlich von seinem zeitlichen Selbstsein fortkommen (vgl. 146 / 27,3ff). Im Glauben lebt der Mensch von Gott her, in dessen unendlichen Möglichkeiten, und ist von dessen Ewigkeit durchdrungen. Hier ist er in wahrer Selbstgestalt in Ewigkeit. Aber sein zeitliches Dasein verschwindet nicht einfach in der Ewigkeit, sondern wird für die Ewigkeit gelebt. Deshalb macht der Glaubende sich zugleich ganz und gar zeitlich. Er hat nichts Ewiges für sich selbst, sondern ist vergänglich; er selbst vergeht in jedem Augenblick und ist doch in Gott ewig. In dieser Doppelbewegung wird die Zeit für die Ewigkeit gelebt. Dagegen finden dort, wo der Verzweifelte es nur mit seiner Selbstvorstellung zu tun hat, Zeit und Ewigkeit nicht zusammen. So wie er mit dem Verhältnis zu sich selbst beschäftigt ist, ohne eigentlich weiterzukommen, so kreist er in seiner Zeit um die Ewigkeit, ohne in sie einzugehen. Diese unauflösliche Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit gehört zur Grundstruktur der Verzweiflung. In

246

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

zahllosen Stunden versucht der Mensch seiner verzweifelten Selbstgestalt ein Ende zu setzen, weil er sie nicht sein will. Das ist ein im Grunde hoffnungsloses Unterfangen, weil man in der Verzweiflung ewig ist. Die Zeit kann die Ewigkeit nicht beenden. Nun reiht sich Stunde an Stunde, aber der Verzweifelte kommt in seinem Bemühen nicht weiter. Wie könnte man auch an sich als ewiger Selbstgestalt arbeiten? Das Bemühen des Verzweifelten ist hoffnungslos. Der Mensch müsste selbst am Verlust des Ewigen vergehen, weil wahre Zeit nur für die Ewigkeit gelebt wird. Damit hätte die Zeit des Menschen wieder zu ihrem Wesen gefunden und würde von der Ewigkeit durchdrungen. Dass für Gott alles möglich ist (vgl. 156 / 38,35f), ist die Kraft des Ewigen, die dem Menschen hilft, alle seine scheinbaren Möglichkeiten fahren zu lassen und sich selbst zu verlieren. Dem Verzweifelnden ist außerhalb seiner selbst, nämlich in der Hilfe des Ewigen, die Hoffnung gegeben, durch den Untergang hindurch, also trotz des Untergangs, sich selbst zu gewinnen. So bleibt er im Durchgang durch seine Verzweiflung nicht außerhalb der helfenden Möglichkeiten des Ewigen, sondern wird als Nicht-Verzweifelter in ihnen gegründet. Nur mit Hilfe des Ewigen kann der Mensch durch seinen Untergang hindurchgehen. Das verzweifelte Selbst würde ansonsten in gewisser Weise den Selbstverlust zum Selbstgewinn erheben, seinen Untergang glauben, ihn als seine letzte Möglichkeit ansehen, was aber unmöglich ist (154 / 37,19f). Sich selbst zu verlieren, ist für den Verzweifelten eine Unmöglichkeit, weil er nicht über sich selbst verfügt, auch wenn er dies gerade verzweifelt will. Erst wo das Ewige ihm zur Hilfe kommt, vermag der Mensch als Nicht-Verzweifelnder den Prozess seines Durchgangs durch die Verzweiflung gleichsam vorwegzunehmen und doch zuerst sich selbst – nun wieder als Verzweifelnder verstanden – zu verlieren.14 Es ist ersichtlich, dass sich der Durchgang zum Glauben nicht in eine klare Folge von Zuständen auflösen lässt, auch wenn es ein prozesshaftes Selbstwerden ist. In diesem Prozess sind die Zustände ineinander verschränkt, weil die in ihm aufeinandertreffenden ›Medien‹ von Ewigkeit und Zeitlichkeit in keine Abfolge zu bringen sind. Das Werden geschieht im Augenblick. Kann man dem am Ewigen Verzweifelten, der von sich doch eine Vorstellung hat, auf seine wahre Verzweiflung und den Ausweg aus ihr aufmerksam machen? Müsste er es nicht verstehen, er, der in seiner Reflexion schon fortgeschritten ist? Würde man zu ihm sagen »das ist eine sonderbare Verwicklung, ein Knoten besonderer Art; denn das ganze Unglück liegt eigentlich in der Art der Wendungen, die der Gedanken durchläuft; im übrigen ist es ja sogar normal, das ist ja gerade der Weg, den du gehen sollst, du mußt durch diese Verzweiflung am Selbst zum Selbst kommen. Die Sache mit der Schwäche ist durchaus richtig, aber darüber sollst du nicht verzweifeln; 14 Hier trifft die von Kierkegaard aufgenommene Sentenz Hegels zu, dass der Glaube »die innere Gewißheit [sei], die die Unendlichkeit vorwegnimmt« (SKS 4, 456 / BA, 173,19ff).

Der Ausweg aus der Verzweiflung am Ewigen

247

das Selbst muß gebrochen werden, um es selbst zu werden, verzweifle nur nicht darüber« – redete man so mit ihm, so würde er es in einem leidenschaftslosen Augenblick verstehen, aber bald würde die Leidenschaft es wieder anders sehen, als es ist, und dann nimmt er die Kurve wieder falsch, hinein in die Verzweiflung (179 / 66,27–39).

Kierkegaard zeigt an dem am Ewigen Verzweifelten, wie sonst nur noch an der Verzweiflung der Notwendigkeit, wie der »Knoten« der Verzweiflung aufzulösen wäre. Es ist ein Knoten der besonderen Art, weil er sich nur dann löst, wenn man ihn fester ziehen will, und er sich fester zuzieht, wenn man ihn lösen will. Zuerst scheint Kierkegaard dem Verzweifelten Trost und Mut zuzusprechen, wenn er ihn auf seinem Weg, durch die Verzweiflung hindurch zu sich selbst zu kommen, bestätigt: »[D]as ist ja gerade der Weg, den du gehen sollst«. Aber soll hier wirklich dem Verzweifelten ein tröstender Ausblick auf sein noch verborgenes Ziel gegeben werden? Damit wäre nicht die sonderbare Verwicklung in der Verzweiflung beachtet, durch die das Gesagte in falscher Weise verstanden wird. Der Verzweifelte meint den Ratschlag seines Mitwissers zu verstehen. Er strebt genau das Ziel an, durch diese Verzweiflung an sich selbst zum wahrhaft ursprünglichen Selbstsein zu kommen. Er verzweifelt über seine Selbstgestalt, die er nicht sein will, um sein eigentliches Selbstsein nicht aufzugeben. Doch muss es schon irritieren, dass er als Hinweis mitbekommt, was er sowieso schon will. Er ist schon auf dem Weg, den er gehen soll. Man könnte unter Aufnahme eine Anekdote von Kierkegaard sagen, dass er als Verzweifelter sich wohl auf dem richtigen Weg befindet, ihn aber in die falsche Richtung läuft (SKS 4, 266 / PB, 63,34–39, Anm.). Ja, der Verzweifelte soll den Weg der Verzweiflung gehen, aber sich nicht in die Verzweiflung über sich flüchten – »darüber sollst du nicht verzweifeln« –, sondern mutig durch die Verzweiflung hindurchgehen. Woran der Verzweifelte verzweifelt, ist sein Selbstsein. Darüber soll er aber nicht verzweifeln. Der Verzweifelte hat durchaus die richtige Vorstellung, wenn er sich selbst in seiner Schwäche erkennt. Er sieht die Sache mit der Schwachheit richtig, aber anstatt darauf verzweifelt zu reagieren, soll er sich selbst verzweifelt aufgeben, weil das Selbst »gebrochen« werden muss.15 Der Verzweifelte bezöge dieses zu brechende Selbstsein auf die Selbstgestalt, die er nicht sein will. Ein anderes Selbstsein kann er sich nicht vorstellen. Aber damit hätte er es falsch verstanden, weil das zu brechende Selbstsein in dem ganzen »Verhältnis seines Selbst zu sich selbst« (179 / 66,6) besteht, in dem der Verzweifelte vergeblich versucht, er selbst zu sein. In diesem in Wahrheit gebrochenen Verhältnis ist der Verzweifelte ganz er selbst – in seinem Zwiespalt und seiner Selbstverlorenheit. Wenn er darin verzweifelte, bräche der Schein seiner Selbstgestalt zusammen, und er könnte er selbst werden. Kierkegaard stellt nochmals deutlich heraus, dass die bisherige Intensivie15 Vgl. dazu auch Grøn, Angst, 132–135.

248

Die Form der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

rung der Verzweiflung mit der Entstehung des Selbst-Bewusstseins keineswegs als Selbstwerdung aufzufassen ist. Vielmehr ist das entstandene Selbstsein in seinem Schein zu destruieren, damit die Selbstwerdung beginnen kann. Aber ließe sich der aufgezeigte Ausweg aus der Verzweiflung dem Verzweifelten nicht vernünftig erklären, so dass es gar nicht nötig wäre, dabei den Verstand zu verlieren? In der Tat würde der Verzweifelte in einem »leidenschaftslosen Augenblick« ›theoretisch‹ verstehen, wie der Ausweg aus der Verzweiflung zu finden ist. Aber damit ist sein ›Selbst‹ noch nicht gebrochen, weil es dazu der Leidenschaft bedarf, die einen den Verstand verlieren lässt. Das Problem des Verzweifelten besteht nicht darin, dass die Leidenschaft seinen Verstand verdunkelt, so dass er ›die Kurve falsch nimmt‹. Vielmehr hat er nur in der Leidenschaft seiner Verzweiflung das Verständnis seiner selbst. Der Verzweifelte vermag das zu ihm Gesagte in einem leidenschaftslosen Augenblick verstehen, weil da seine Selbstliebe wegfällt (vgl. 177 / 64,16), mit der er sich selbst hat. Doch sobald ihn die Leidenschaft wieder packt, wird er sich wieder seiner selbst in verzweifelter Weise bewusst und muss das Gesagte verkehrt verstehen. Der Ausweg liegt weder in einer apathischen Verstandeserkenntnis noch in einem leidenschaftlichen Selbst-Bewusstsein, sondern in einer Leidenschaft, in welcher der Verzweifelte sich selber loslässt und mutig in die Verzweiflung stürzt. Es ist die Leidenschaft des Glaubens, die diese Kraft aufbringt.

9. Kapitel: Die Verzweiflungsformen des Trotzes

1.

Die Struktur der Verzweiflung des Trotzes

a)

Die Verzweiflung über die Schwäche im Vergleich zur Verzweiflung des Trotzes

Kierkegaard bezeichnet die Verzweiflung, in der man verzweifelt man selbst sein will, als Trotz (181 / 68,23f). Im Unterschied zu der vorhergehenden, von Kierkegaard auch als ›weiblich‹ bezeichneten Verzweiflung der Schwäche, in der man verzweifelt nicht man selbst sein will, ist die trotzige Verzweiflung eine Verzweiflung, die unter der Bestimmung Geist zu betrachten ist (181 / 68,27ff). Diese Unterscheidung muss den Leser verwundern. Die Verzweiflung der Schwäche findet sich in der Einsamkeit, die als Zeichen des Geistes zu werten ist (178 / 65,23ff). Einem so Verzweifelten ist es nicht mehr möglich, »durch Vergessen bei der Bestimmung Geistlosigkeit Unterschlupf zu finden« (177 / 63,37ff). Die ›Verzweiflung des Weiblichen‹, das verzweifelte Nichtselbstseinwollen, ist also ebenfalls eine Verzweiflung unter der Bestimmung Geist. Kierkegaard versucht seine Behauptung über die trotzige Verzweiflung zu präzisieren, wenn er ihren männlichen Charakter »wesentlich« (181 / 68,30) unter die Bestimmung Geist rechnet. Die Geistigkeit wird in der Verzweiflung der Schwäche dadurch erzeugt, dass der Verzweifelte sich gegenüber dem Äußeren verschließt. Er grenzt einen Innenraum für seine Selbstgestalt aus. Dieser geistige Innenraum des Selbst-Bewusstseins bleibt in der Verzweiflung der Schwäche in gewissem Sinne leer. Der so Verzweifelte besitzt wohl phantastische Leidenschaft, durch die er sich eine geistige Selbstgestalt schafft, zu der er im Verhältnis steht. Doch handelt es sich hier um keine ›positive‹ Selbstverdoppelung, weil die geschaffene Selbstgestalt nichts enthält, an das der Verzweifelte seinen Stolz heften könnte. Das Positive liegt noch im Stolz selber, den der Verzweifelte in seiner leidenschaftlichen Bearbeitung der schwachen Selbstgestalt gegenüber anderen hat. Die leere Selbstgestalt ist noch die reine Distanznahme zu sich selbst; sie ist nur durch die

250

Die Verzweiflungsformen des Trotzes

Reaktion (vgl. 176 / 63,20) des Menschen greifbar. Der Verzweifelte im Sinne der Schwäche bezieht sein Selbst-Bewusstsein weniger aus seiner innerlichen Selbstgestalt als aus der Abgrenzung gegenüber den anderen, die er verachtet. Kierkegaard hat den stolz Verschlossenen in seiner Verachtung der kindisch Unmittelbaren selbst zu Wort kommen lassen (vgl. 177f / 64,28–34). Dabei konnte der innerlich Verzweifelte den Unmittelbaren nicht mehr als eine ›gezwungene‹ Selbstgestalt gegenüberstellen, die einer weitergehenden inhaltlichen Bestimmung entbehrte. Hingegen entwickelt der trotzig Verzweifelte für sich selbst eine fabelhafte Phantasie, welche die eigenen Selbst-Vorstellungen in den schillerndsten Farben leuchten lässt. Während der schwach Verzweifelte keinen bestimmten Selbstentwurf aufweist, zaubert der Trotzige dauernd neue Selbstbilder hervor. Aus diesem Befund erschließt sich der Sinn von Kierkegaards Aussage, dass die trotzige Verzweiflung »wesentlich« unter die Bestimmung Geist zu rechnen ist. Während ›das Weibliche‹ die negative Geistigkeit ist, die alle Unmittelbarkeit abgelegt hat, stellt ›das Männliche‹ die wesentliche Geistigkeit dar, weil in ihr das imaginierte Selbst erst die gewollte Gestalt annimmt. Kierkegaard rekapituliert noch einmal die zuletzt abgehandelten Verzweiflungsformen und fügt ihnen den Trotz an: Zuerst kommt die Verzweiflung über das Irdische oder etwas Irdisches, dann die Verzweiflung am Ewigen über sich selbst. Dann kommt der Trotz, der eigentlich Verzweiflung mit Hilfe des Ewigen ist, der verzweifelte Mißbrauch des Ewigen, das im Selbst ist, verzweifelt man selbst sein zu wollen (181 / 69,1–5).

Die Verzweiflung über das Irdische oder etwas Irdisches ist als unmittelbare Verzweiflung zu verstehen. Ihr folgt die Verzweiflung am Ewigen, die sich vom Trotz darin unterscheidet, dass bei ihr kein Missbrauch des Ewigen im strengen Sinn vorliegt. Der verschlossene Verzweifelte im Sinne der Schwachheit hat es wohl in seiner Einsamkeit stundenlang mit dem Ewigen zu tun (179 / 66,3ff), aber er missbraucht es eigentlich nicht. Vielmehr verzweifelt er am unendlich gemachten Irdischen, das er in seinem schwachen Selbstsein bearbeitet, und das heißt: am Ewigen zu verzweifeln (176 / 62,6–9). Das Ewige ist dem so Verzweifelten keine Hilfe im direkten Sinne, wie es für den Trotz zutrifft. Allerdings ist ihm die Beschäftigung in der Einsamkeit nicht nur eine Qual, sondern durch diese Beschäftigung kann er auch für eine Zeit sein Bedürfnis nach sich selbst stillen. So findet hier doch ein gewisser Missbrauch des Ewigen statt, ohne dass der Verzweifelte im Ewigen eine Hilfe für seine Selbstgestalt erblickt, weil er über sie verzweifelt. Die ›weibliche‹ Verzweiflung als die niedrigere Synthese (181 / 68,31) bedarf noch eines dialektischen Schrittes, um zum Trotz umzuschlagen. Der dialektische Übergang von der Schwäche zum Trotz besteht darin, dass der Verzweifelte

Die Struktur der Verzweiflung des Trotzes

251

den unendlichen Verlust, über den er verzweifelt, zur Möglichkeit seiner selbst transformiert. Denn die Vergrößerung des Verlustes ins Unendliche stellt dem trotzigen Verzweifelten den Grund bereit, darauf seine Möglichkeiten zu entwerfen. Ohne die erzielte Unendlichkeit in sich besäße der Verzweifelte keine Möglichkeiten in sich. Aus dem Nichtselbstseinwollen aufgrund des unendlichen Verlustes wird ein Selbstseinwollen aufgrund der unendlichen Möglichkeiten.

b)

Die Nachahmung der Glaubenswahrheit

Die Voraussetzung des Trotzes liegt in dem Bewusstsein von einem unendlichen abstrakten Selbst (182 / 69,24f). Der ›schwach‹ Verzweifelte wollte diese abstrakte Form des Selbst nicht sein. Denn die Schwäche, über die er verzweifelte, bestand darin, dass er sich das Irdische so zu Herzen nahm (176 / 62,19f). Meinte dieser Verzweifelte, dem Irdischen eine zu große Bedeutung beigemessen zu haben, so hat der Trotzige sein Herz ›leicht‹ gemacht und sein Selbstsein als tabula rasa vor sich. Unbelastet von irdischen Einschränkungen lebt er in der reinen Unendlichkeit seiner Phantasie, aus der er ständig neue Selbstgestalten hervorzaubern kann. So verifiziert er für sich das, was er immer schon getan hat: Er reißt sich von der ihn setzenden Macht los (182 / 69,26f). Indem er »mit Hilfe des Ewigen« (181 / 69,10) er selbst sein will, ahmt er die Wahrheit nach und lässt für den wissenden Arzt die Unwahrheit seines Zustandes in letzter Konsequenz zu Tage treten. Dass er sich von der ihn setzenden Macht lossagt, auf der allein die Wahrheit seines Selbstseins beruht, liegt für den Verzweifelten außerhalb seines von Verzweiflung geprägten Bewusstseinshorizontes. Vielmehr meint er die Wahrheit seiner selbst endgültig in sich selbst entdeckt zu haben. Ein solcher Bruch mit der setzenden Macht war dem schwach Verzweifelten noch nicht möglich, so dass er noch »so halbwegs« Christ blieb (178 / 65,8f). Die trotzige Verzweiflung mit Hilfe des Ewigen scheint ihrer Form nach weniger der ›schwachen‹ Verzweiflung als vielmehr der zum Glauben führenden Verzweiflung nahezustehen. Kierkegaard bemerkt, dass der Trotz in einem gewissen Sinn der Wahrheit sehr nahe ist (181 / 69,6f). Der Trotz nähert sich der Wahrheit der ›rettenden Verzweiflung‹ an, weil er sie nachahmt. Er nimmt sich das vermeintlich Ewige zur Hilfe, aber nimmt damit um so mehr dem wahrhaft Ewigen die Möglichkeit, ihm wirklich zur Hilfe zu kommen. Er entfernt sich unendlich weit von der Wahrheit, weil er für sich selbst die Wahrheit sein will. Deshalb ist das Ewige, das der Verzweifelte für sich in Anspruch nimmt, auch nur eine Intensivierung seiner Phantasie als des verunendlichenden Mediums (vgl. 182 / 69,29–33), während die wahre Hilfe des Ewigen dort einsetzt, wo der Mensch in seiner Verzweiflung ›den Verstand verliert‹ (154 / 36,15). Zwar gilt für

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Die Verzweiflungsformen des Trotzes

beide Begriffe von Ewigkeit, dass sich in ihnen die Möglichkeiten entschränken, doch einerseits so, dass für die Phantasie alles möglich ist, und andererseits so, dass für Gott alles möglich ist.

c)

Die versuchte Selbstkonstruktion ›im Anfang‹

Der trotzig Verzweifelte scheint nicht mehr von den Notwendigkeiten beherrscht zu werden, sondern meint über sie zu herrschen. Sein Herrschaftsinstrument ist sein Selbstentwurf, der in seiner Vielfalt unbegrenzt ist. Der Verzweifelte scheint wie kein anderer Verzweifelter am Ziel seiner Träume – andere Verzweifelte können erst gar nicht träumen. Er kann nun ein Selbstsein erhalten, »wie er es will« (182 / 69,38), und »[e]in Selbst zu sein, wie er es will, das wäre für ihn […] seine ganze Lust« (136 / 17,22ff). Allein der Wille des Verzweifelten regiert, durch den er eine ihm so durchsichtige Selbstgestalt erschaffen will, dass er sich in jedem Moment ihrer gänzlich bewusst ist. Ansonsten würde er ja auf die Stufe jenes komischen Verzweifelten zurückfallen, der sich wünschte, ein anderer zu sein (168 / 53,33ff). Dem trotzig Verzweifelten ist das andere als Äußerlichkeit gleichgültig geworden – aber wie soll er sich in seiner Phantasie selbst verwirklichen und nicht nur wirklichkeitsferne Möglichkeiten projektieren? Sein Vorhaben erscheint illusionär. Doch zu dieser Enttäuschung ist der trotzig Verzweifelte noch nicht durchgedrungen. Er will ja zunächst erst die Umbildung vornehmen und dann erst er selbst sein (182 / 69,37f). Aber wo beginnt dieses ›zunächst‹? Das heißt, er möchte ein wenig früher anfangen als andere Menschen, nicht durch den und mit dem Anfang, sondern ›im Anfang‹; er will sich sein Selbst nicht anziehen, nicht in dem ihm gegebenen Selbst seine Aufgabe sehen, er will es vermöge dessen, daß er die unendliche Form ist, selbst konstruieren (182 / 70,1–6).

Wer im recht verstandene Sinne »durch den oder mit dem Anfang« anfängt, sieht sich in Ewigkeit vor sein Selbstsein gestellt, das er sich anziehen soll. Mit Hilfe des Ewigen soll der Verzweifelte alle scheinbare Selbstgestalt ablegen, um in ihm, dem Ewigen, seine wahre Selbstgestalt anzuziehen. Das gegebene Selbst ist keine ›Anfangshilfe‹, mit der sich der Verzweifelte dann weiterkonstruieren soll, sondern es ist die Erfüllung seiner selbst, so wie Gott das Selbst im richtigen Verhältnis aus seiner Hand gelassen hat (132 / 12,17–21). Das gegebene Selbst – es ist das Selbst jat± d}malim , das nicht wirklich da ist, sondern das ist, was ins Dasein treten soll (146 / 27,7–10) – ist dem verzweifelten Menschen darin als Aufgabe gestellt, dass er mutig durch den Selbstverlust hindurch die Selbstgestalt werden soll, die in sich notwendig und möglich im Sinne einer Einheit ist. Dazu muss er verzweifeln wollen.

Die Struktur der Verzweiflung des Trotzes

253

Der trotzig Verzweifelte will hingegen den Anfang selbst setzen, als Hilfe für sich selbst. Dieses Tun muss ein völliges Unterfangen bleiben, weil ein solcher Anfang sich in viele Anfänge auflöst. Der Verzweifelte besitzt schlechthin kein Kriterium, keine Notwendigkeit für sich, wo er anfangen soll und »was er in sein konkretes Selbst mit aufnehmen will und was nicht« (182 / 69,32f). Zuerst meint der Verzweifelte eine mögliche Sache, einen möglichen Anfang seiner selbst gefunden zu haben und dann – wird er darin nicht er selbst, sondern »dann zeigt sich eine neue Möglichkeit« (152 / 34,8) und damit ein neuer Anfang.

d)

Die beiden Verzweiflungsformen innerhalb der Verzweiflung des Trotzes

Der Verzweifelte des Trotzes ist sich seiner Tat bewusst; die Verzweiflung »kommt nicht vom Äußeren her als Erleiden unter dem Druck des Äußerlichen, sie kommt direkt vom Selbst her« (181 / 69,18f). Kierkegaard verschleiert die neue Qualifizierung des Trotzes, wenn er im Vergleich mit der Verzweiflung über die eigene Schwäche dieser zu unterstellen scheint, sie wäre noch ein Erleiden unter dem Druck des Äußerlichen. Zuvor hatte er die Verzweiflung über die eigene Schwäche von einer noch unmittelbaren Verzweiflung mit demselben Argument unterschieden (176 / 63,14–17). Allerdings wurde die ›schwache‹ Verzweiflung als ›indirekt-direkt‹ (176 / 63,19) vom Selbst herkommend bezeichnet, während die Verzweiflung im Trotz direkt vom Selbst ausgeht. Die ›indirekte Direktheit‹ in der Verzweiflung über seine Schwäche ergibt sich zum einen aus der Verinnerlichung der Verzweiflung, die diese direkt von dem Verzweifelten selbst und seiner Handlung herkommen lässt, und zum anderen daraus, dass der Verzweifelte in sich selbst zwiegespalten ist und sich selbst in seiner Schwäche gegenübersteht, woraus die Indirektheit der Verzweiflung und das Erleiden des Selbst resultiert. Dieser Verzweiflungsform ist noch anzumerken, dass die schwache Selbstgestalt, über die in sich verzweifelt wird und welcher der Verzweifelte in sich gegenübersteht, durch ein äußerliches ›Etwas‹ verursacht ist, das in der Verzweiflung übersteigert wird. So hat Kierkegaard doch recht, wenn er die Verzweiflung über die eigene Schwäche noch als ein Erleiden vom Äußeren her auffasst. Wenn der Mensch der trotzigen Selbstgestalt er selbst sein will, hat er den Zwiespalt im Selbstsein des über seine Schwäche Verzweifelten erst gar nicht entstehen lassen. Während der ›schwach‹ Verzweifelte sich immer wieder mit sich selbst beschäftigte und so auch handelte, aber eigentlich nicht weiter kam, kennt der trotzig Verzweifelte einen solchen lähmenden Stillstand nicht. Es wird von keiner Schwäche gebremst, sondern die Verzweiflung ist der Antrieb seines Tuns. Der trotzig Verzweifelte ist sich seiner Verzweiflung als Tat bewusst und

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Die Verzweiflungsformen des Trotzes

handelt bewusst aus seiner Verzweiflung heraus, die in ihrer Unendlichkeit ihm zum Kraftfeld seiner selbst wird. Kierkegaard führt zwei Formen der Trotzgestalt ein.1 Er unterscheidet zwischen einem handelnden und einem leidenden, erleidenden Selbst (182 / 70,9–16). Wieso kann hier eine erleidende Selbstgestalt wiederkehren, wenn sich doch durch die Einführung des Trotzes die noch Erleiden und Handeln vereinigende Struktur der Verzweiflung über sich selbst (176 / 63,13f) zum alleinigen Handeln des Selbstseinwollens verschoben hat? Dazu sind die bisherigen Verzweiflungsgestalten nochmals in ihrer Struktur zu betrachten. Dass die Verzweiflung im wesentlichen Sinne Schwäche und ein Erleiden ist (169 / 54,19f), zeigt sich in der reflexiv-unmittelbaren Form. Die Schwäche wird offenbar, wenn der Mensch, der daran gehen will, sein Selbstsein zu übernehmen, »auf die eine oder andere Schwierigkeit« (169 / 54,37) stößt, vor der er zurückschaudert und die sein erleidendes Wesen aktualisiert. Diese Schwierigkeit besteht in etwas irdisch Äußerem, von dem sich der Verzweifelte nur bis zu einem gewissen Grade abgesondert hat (170 / 55,17ff). Auch die ›schwache‹ Verzweiflung, bei der man am Ewigen oder sich selbst verzweifelt, nimmt ihren Ausgang bei der Verzweiflung über etwas Irdisches, das dann zum Irdischen in toto vergrößert wird. Den selbsthaft leidenden Menschen zeichnet aus, dass er sich das Irdische ›zu Herzen nimmt‹ (176 / 62,20). Diese Eigenschaft trifft auch auf die leidende Selbstgestalt innerhalb der beiden Trotzformen zu. Der leidende Trotzige setzt die Verzweiflung der Schwäche fort. Es handelt sich um die schon genannte Möglichkeit des Menschen in der Verzweiflung am Ewigen, in der er das Herzeleid überwindet und sich zu einer höheren Form der Verzweiflung aufschwingt (180 / 67,20–25).2 Aber der Mensch, der einmal am Irdischen verzweifelt, wird selbst dort, wo seine Verzweiflung sich zur höchsten Form potenziert hat, noch von dem Leid eingeholt, dem er in seinem Trotz zu entkommen meint. Es wird auch zum Vorschein kommen, dass des Menschen Leid nicht wesentlich darin bestand, dass er nicht er selbst sein wollte, sondern dass er er selbst sein wollte.

1 Die Verzweiflung der Resignation (184 / 72, Anm. 1) könnte noch als eine dritte Form der Verzweiflung des Trotzes hinzugezählt werden, ist aber eher als eine Variante der leidenden Trotzgestalt aufzufassen. 2 Es wäre auch die These vertretbar, dass sich die bisherige Gestalt des leidenden Selbstseins in einem rein handelnden Selbstsein, der ersten Form des Trotzes, fortsetzt und dem Verzweifelten zwar zuvor etwas Irdisches Anlass zur Verzweiflung war, aber es ihm nun gelingt, solche Schwierigkeiten durch seine Phantasie auszublenden. Kierkegaards Darstellung einer eher gleichbleibend handelnden Selbstgestalt (182 / 70,17f: »[S]o verhält es [sc. das Selbst] sich eigentlich immer und in allem nur experimentierend zu sich selbst«) scheint mir eher dagegen zu sprechen. Das Gleiche wäre auch zu der Möglichkeit zu sagen, dass ein verzweifelnd handelnder Trotziger irgendwann eine leidend-trotzige Selbstgestalt annehmen könnte.

Die Gestalt des trotzig Handelnden

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Die Handlungsqualität des leidenden Selbstseins tritt hervor. Es wird offenbar, »wieviel Unwahrheit in der Sache mit der Schwäche gelegen hat« (180 / 67,22f). Aber wie ist die Trotzgestalt des handelnden – und nicht leidenden – verzweifelten Selbst einzuordnen? Offensichtlich kam sie bisher in der Vorstellung der Verzweiflungsgestalten, die vom leidenden Selbstsein beherrscht waren, noch gar nicht vor, auch wenn sich deren Handlungsqualität immer mehr zeigte. Der Mensch mit handelnder Selbstgestalt macht eigentlich keine Entwicklung durch. Er hat nicht das Leid erfahren, dass etwas Irdisches ihn zur Verzweiflung brachte. Er besitzt von je her genug Möglichkeiten, um das Irdische nicht zu ernst nehmen zu müssen. Sein unendlich negatives Selbstsein hat er sich nicht aufgrund einer leidvollen Erfahrung zugelegt, sondern das Bewusstsein von einem unendlichen Selbst war bei ihm je schon vorhanden (182 / 69,22f). Man könnte sagen, dass nur die ›weibliche‹ Verzweiflung zur ›männlichen‹ – nicht aber umgekehrt – werden kann. Doch wenn sie zur ›männlichen‹ wird, überragt sie die nur männliche an Intensität. Kierkegaard hatte schon an früherer Stelle (142 / 24,12–17) beide Verzweifelten, die wesenhaft unter die Bestimmung Geist gehören, in ihrem Unterschied benannt. Die handelnden Verzweifelten des Trotzes sind Naturen, »die eine solche Tiefe haben, daß sie sich als Geist bewußt werden müssen«, während die leidenden Verzweifelten des Trotzes diejenigen sind, »denen Schicksalsschläge und entsetzliche Entscheidungen dazu verholfen haben, sich als Geist bewußt zu werden«.

2.

Die Gestalt des trotzig Handelnden

a)

Der Selbstentwurf

Welche Gestalt gibt sich der trotzig Handelnde? In seinem Experiment will der Mensch zuerst einen ihm möglichen Selbstentwurf entwickeln und dann sehen, ob er ihm selbst entspricht, um ihn zu übernehmen oder nicht. Aber was für Erstaunliches der Mensch auch für sich entspinnt, er wird es doch nie übernehmen. Denn welche entwickelte Selbstgestalt sollte ihm entsprechen können, der sich im Besitz unendlicher Möglichkeiten weiß? Solange er das Experiment noch nicht abgeschlossen hat, ist noch alles möglich. Darauf kommt es dem Verzweifelten an, und deshalb verhält er sich eigentlich immer nur experimentierend (182 / 70,17f). Wenn sich der Mensch in seinem verzweifelt-trotzigen Selbstsein zu sich selbst verhält, dann geschieht das in einer intensiveren Weise als in der einsamen Selbstbeschäftigung desjenigen mit schwacher Selbstgestalt. Denn nun hat der Mensch eine positive Selbst-Vorstellung von sich, auch wenn sie inhaltlich einem ständigen Wechsel unterliegt. Der Ver-

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Die Verzweiflungsformen des Trotzes

zweifelte ist der Wahrheit sehr nahe gekommen, weil im Selbstverhältnis seine Wahrheit und Erlösung liegt, und doch ist er unendlich weit von ihnen entfernt, weil es nur der Spiegel der Vorstellung ist, zu dem er sich als seiner Selbstgestalt verhält. Würde der Verzweifelte wirklich versuchen, den entwickelten Selbstentwurf zu übernehmen, müsste der Spiegel zerbrechen. Aber einen solchen Ernst besitzt der experimentierende Verzweifelte nicht (182 / 70,20–24).3 Der Verzweifelte reißt gleichsam ein Stück Göttlichkeit hinunter.4 Er verdrängt Gott, indem er als Schöpfer seiner selbst auftritt. Im Trotz kommt die Selbstverdoppelung (183 / 70,35) ans Licht, die in allen vorangegangenen Verzweiflungsformen mehr oder weniger angelegt war. Schon der Unmittelbare, der nicht genug an geistigem Selbstsein besaß, um seinem verflossenen unmittelbaren Glück hinterher zu trauern (168 / 53,8ff), erzeugte einen Zwiespalt, wenn er sich schließlich wünschte, ein anderer zu sein. Der Zwiespalt vergrößerte sich in der Selbstdistanzierung des Unmittelbaren mit Reflexion und noch weiter im Verhältnis des Verschlossenen zum eigenen verzweifelten Selbstsein. Hier nun, im Trotz, ist die Aufspaltung im Selbstsein bis zur äußersten Konsequenz betrieben. Der Mensch hat sich mit sich selbst auseinandergesetzt und dabei mehr Selbstbewusstheit als alle seine verzweifelten Vorgänger erlangt, aber zugleich hat ihn der Abgrund der Möglichkeit verschlungen (151 / 33,35f). Er ist dem ›Spiegel‹ der Möglichkeit verfallen, der doch nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen ist (152 / 34,35ff). Nun sieht er sich wie in einem Spiegelkabinett. Wo er auch hinsieht, überall tauchen neue Möglichkeiten seines Selbstseins auf. Während bei dem über seine Schwäche Verzweifelten die Grenze zwischen dem Menschen selbst, der er selbst in seiner Verzweiflung nicht sein wollte, und eben diesem Selbstsein noch klar gezogen schien, ist es nun schwerlich zu sagen, welches ›Selbst‹ das Vorstellende und welches das Vorgestellte ist. Denn der Vorstellende, der sich eine neue Vorstellung von sich selbst macht, nahm schon einen Augenblick zuvor für sich selbst eine Vorstellung in Anspruch. In diesen schwindelnden Abgrund und Rausch gerät der Mensch mit trotzig handelnder Selbstgestalt, und nur der Kundige erkennt, dass diese sich ständig zu verdoppeln scheinende Selbstgestalt ein sich gleichbleibendes verzweifeltes Selbstsein ist. Ringleben meint, dass die Konkurrenz des trotzig Handelnden zum Schöpfer eben diesen Trotz ohnmächtig macht. »Denn zugrunde liegt ihm die klare Einsicht in das Sichgegebensein des Selbst, d. h. sein Gesetztsein und sich übernehmen Sollen« (Kommentar, 200). Von einer solchen Einsicht kann schwerlich die Rede sein, sonst käme der Verzweifelte nicht auf den Gedanken, er könne sich von der Vorstellung losreißen, dass es eine solche Macht gibt (182 / 69,27f). Er hat sich die Vorstellung einer ihn setzenden Macht so 3 Zur Bedeutung des Begriffs Ernst bei Kierkegaard siehe Theunissen, Begriff Ernst. 4 Zu diesem prometheischen Verhalten vgl. Pannenberg, Maßlosigkeit des Menschen.

Die Gestalt des trotzig Handelnden

257

verdunkelt und für sich eine solch klare Einsicht in die eigenen Möglichkeiten gewonnen, dass er nun ohne weiteres die Vorstellung einer ihn setzenden Macht fallen lassen kann. Was ihn aber in seinem Trotz so verzweifelt macht, ist nicht eine bemerkte Konkurrenz zum Schöpfer. Es ist nicht so, dass das verzweifelte Selbst den Ort am Anfang »bereits besetzt« findet, »so daß es meint, für sich selber immer schon zu spät zu kommen« (Kommentar, 199). Der Verzweifelte hat eine solche Konkurrenz in seinem Handeln schon gänzlich aus dem Feld geschlagen, wenn Kierkegaard von ihm sagen kann: »Das Selbst ist sein eigener Herr, absolut, wie es heißt, sein eigener Herr« (183 / 71,9f). Nicht eine noch bestehende Konkurrenz zum Schöpfergott macht den Trotzenden so verzweifelt, sondern dass er ein »König ohne Land« (183 / 71,13f) ist. Was dieser Verzweifelte auch in die unendliche negative Form des Selbst hineinphantasiert, er wird es nicht. Der von Ringleben gesehene Fortschritt der Selbst- und Gotteserkenntnis in der gesteigerten Verzweiflung ist nur der ›Fortschritt‹ in ein wohl aufmerksameres, aber um so verzerrteres Selbst- und Gottesverständnis. Gegen Ringlebens These, dass in der Verzweiflung des Trotzes die Krankheit zum Tode zur endgültigen Entscheidung ›erwacht‹ ist und die Augen aufgeschlagen hat (Kommentar, 206), ist zu sagen, dass die Verzweiflung – um im Bilde zu bleiben – in der Tat von ihrem geistlosen Schlaf erwacht ist, aber hatte sie vorher die Augen geschlossen, so hält sie nun diese verschlossen, um in sich gekehrt nicht ihre Wahrheit sehen zu müssen.

b)

Das pervertierte Selbstsein jat± d}malim

Kierkegaard attestiert dem trotzig Handelnden, dass er kein Selbst wird (183 / 70,36ff). Der Verzweifelte ist nicht er selbst und wird es erst recht nicht durch seine versuchte Selbstverdoppelung. Kierkegaard stellt nochmals klar, dass es sich bei der Verzweiflung schaffenden Selbststruktur nur um ein Selbstsein jat± d}malim handelt, das eigentlich nicht da ist, sonst wäre es im Werden (146 / 27,7f). Indem der trotzige Mensch sich selbst als er selbst jat± d}malim – der eigenen Möglichkeit nach – versteht, pervertiert er die Wahrheit in sich selbst, die darin besteht, dass er selbst jat± d}malim nur der Möglichkeit Gottes nach er selbst ist. Mit dem sich »in das genaue Gegenteil« (183 / 70,37f) hineinarbeitenden Verzweifelten schlägt Kierkegaard den Bogen zurück zu dem am Anfang der Schrift genannten Verzweifelten, der sich mit all seinem vermeintlichen Arbeiten nur tiefer in die Verzweiflung hineinarbeitet (130 / 10,26ff). Indem der Mensch sich nun wie nirgends zuvor in den Blick nimmt, wendet er sich auch wie nirgends zuvor von seinem Selbstsein ab, das doch nur im Blick auf Gott zu finden wäre, und strampelt sich genau in die entgegengesetzte Richtung ab, von dem nur in Gott möglichen Selbstsein weg. Gerade angesichts dieses Befundes intensivster Reflexion in der Verzweiflung erweist sich Theunissens grundlegende Annahme als nicht haltbar: »Nach der Beschreibung, die Kierkegaard vom Selbst gibt, scheint dessen spezifische Differenz gegenüber dem ›selbstlosen‹ Menschsein in der Reflexivität zu liegen« (Grund der Verzweiflung, 52).

258

Die Verzweiflungsformen des Trotzes

Versteht man unter dem Selbst das wirklich daseiende Selbst, verhält es sich genau umgekehrt. Der ›selbstlose‹ Mensch unternimmt in seiner Verzweiflung die intensivsten Reflexionsanstrengungen hinsichtlich seiner selbst, während das daseiende, wahre Selbst kein reflektiertes oder reflektierendes, sondern in sich durchsichtig ist. Ein solch selbstseiender Mensch muss sich nicht wiedergeben, reflektieren, weil er in Gott gründet. Theunissen problematisiert dann auch seine eigene These, weil sie sich mit dem von Kierkegaard ständig apostrophierten ›Existenzcharakter des Selbstseins‹ stößt, »das sich als solches nicht in ein Bewußtseinsphänomen auflösen läßt« (53). Theunissen will des Weiteren das Gewicht auf das für ihn zweite Prädikat des Selbst, die Prozessualität, verschieben: »Ja, im Grunde setzt Kierkegaard die Bestimmung reiner Prozessualität so fundamental an, daß ihr gegenüber die Reflexivität zu einem sekundären Merkmal herabsinkt« (Ebd.). Das ›Werden‹ der Prozessualität ist dem Selbst eigen, das die Verzweiflung überwunden hat. Auch das reflexive Selbst ist kein statisches, »nichts Festes« (183 / 70,38–71,2); es steht in keinem Augenblick fest, was es ist. Dagegen steht in jedem Augenblick des von der Verzweiflung erlösten Selbst fest, ›ewig‹ fest, was es ist: ein in Gott gegründetes Selbst. Es wird, was es ist; das verzweifelte reflexive Selbst wird nicht, weil es nur Schein ist.

Der trotzig Handelnde mag sich eine Zeitlang an eine mögliche Selbstvorstellung halten, sie zu sein scheinen, und an ihr arbeiten, aber mit der Zeit wird sie auch vergehen, so wie ein Gedanke irgendwann von einem anderen abgelöst wird. Sub specie aeternitatis währt eine solche vorgestellte Selbststruktur keinen Augenblick lang, weil in jedem von der Ewigkeit durchleuchteten Augenblick auch der Schein dieses Selbstentwurfs wiederkehren muss, der den Menschen zur Verzweiflung bringt. Aber der Verzweifelte verschließt vor der wahren Ewigkeit die Augen und weicht in den haltlosen Schein seiner selbst aus. Allein in der werdenden Selbststruktur stände der Mensch ewig fest, in der Ewigkeit fest, die ihn jeden Augenblick in sich gründet. Soviel der trotzig handelnde Mensch auch vor sich erstehen lässt, es bleibt nur der Zauber seiner Gedanken (vgl. 183 / 71,20f). Ein Gedanke gewinnt auch durch die Beharrlichkeit, mit der er verfolgt wird, keine Wirklichkeit. Die Möglichkeit wird wohl intensiver, »aber im Sinne der Möglichkeit, nicht im Sinne der Wirklichkeit« (152 / 34,4f). Wenn die gesamte Handlung innerhalb einer Hypothese bleibt (183 / 71,4ff), ist das Zu-sich-selbst-Verhalten des verzweifelten Menschen als unwirklich zu bezeichnen. So darf auch im Trotz, in dem die Selbstgestalt wie in keiner anderen Verzweiflungsform als handelnde qualifiziert ist, streng genommen von keiner im Selbstverhältnis befindlichen Selbststruktur gesprochen werden, weil der Mensch in allen seinen Verzweiflungsformen unfähig ist, sich selbst zu verhalten, er weicht ja sich selbst ständig aus. Im Trotz kann sich nur ein Schein von selbsthaftem Handeln einstellen, da die trotzige Handlung der Schaffung eines neuen Selbst gilt und nicht von einem wirklichen Selbstsein ausgeht.

Die Gestalt des trotzig Handelnden

c)

259

Macht und Ohnmacht in der trotzigen Handlung

Schaut man genauer hin, zeigt sich der trotzig Handelnde als ein geistiges Spiegelbild jenes Menschen geistlos unmittelbaren Selbstseins, wie schon die von Kierkegaard hier gebrauchten Ausdrücke Lust und Genuss (183 / 71,11f) verraten, die den Kategorien des Sinnlichen, dem Angenehmen und dem Unangenehmen nahestehen. Der trotzige Verzweifelte hat hinsichtlich seiner selbst von aller Sinnlichkeit abstrahiert, aber es geht ihm wie dem sinnlich Orientierten noch um den Genuss, allerdings um den geistigen Genuss, der sich von dem sinnlichen darin unterscheidet, dass der Verzweifelte von ihm nicht genug haben kann, während für den sinnlichen Genuss die Maxime des ›quantum satis‹ (156 / 39,19f) galt. Der Unmittelbare ist sich in seiner Annehmlichkeit keiner Verzweiflung bewusst und der Trotzige hat in seinem Genuss sein Wissen um die Verzweiflung scheinbar erfolgreich aus seinem Bewusstsein verdrängt. Der Mensch mit handelnder Selbstgestalt hat wie kein anderer mit Scharfsinn seine Seele in Dunkelheit getaucht und deshalb »kein klares Bewußtsein von dem, was er tut, wie verzweifelt sein Verhalten ist« (163 / 47,32f). Das verdunkelte Bewusstsein des Trotzigen geht zwar mit dem unterbewussten Wissen einher, dass der eigene Zustand Verzweiflung ist, aber das lässt den so Verzweifelten – der ja seinem Zustand trotzt – eben nicht bewusster verzweifeln als den unmittelbar Verzweifelten. Beide leben vielmehr im Bewusstsein ihres jeweiligen Genusses. Einem Kundigen kann die eigentümlich verzweifelte Herrschaft, die der trotzig Verzweifelten mit seinem hypothetischen Selbstentwurf errungen hat, nicht entgehen. Einerseits hat er jede Ohnmacht von sich abgeschüttelt, andererseits muss er ihr doch Raum geben – gerade um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten. Die Herrschaft des Verzweifelten darf sich nicht konsolidieren, sonst müsste er wahrnehmen, dass er »ein König ohne Land« (183 / 71,13f) ist. Die Herrschaft ist ja eine Herrschaft der Möglichkeit und besteht dementsprechend nur dann, wenn ständig eine neue Möglichkeit verfolgt wird. Eine Möglichkeit nach der anderen wird gestürzt, weil der verzweifelte Mensch immer noch erstaunlichere Möglichkeiten entdeckt, um sie an die Herrschaft zu bringen und dann wieder zu stürzen. Nur durch diesen Wechsel ist die absolute Herrschaft, der sich keine Möglichkeit entzieht, aufrechtzuerhalten. Wenn diese Phantasmagorien schnell aufeinanderfolgen, ist es, »als wäre alles möglich« (152 / 34,9f). Der Verzweifelte muss dem noch unfreiwillig Ausdruck geben, was er in Wahrheit will: Er will sich selbst in jedem Augenblick loswerden (vgl. 135 / 17,3f).

260 d)

Die Verzweiflungsformen des Trotzes

Die eigene Verzauberung durch die Phantasie

Hat sich der Verzweifelte mit unmittelbarem Selbstverständnis durch die Verlockungen des Angenehmen verzaubern lassen (vgl. 159 / 42,35f), so verzaubert sich der Verzweifelte mit handelndem Selbstbewusstsein durch seine Phantasie. Dazu bedarf es einer Selbstbeherrschung (183 / 71,22), die größer ist als der Selbstzwang des ›schwach‹ Verzweifelten. Dessen Selbstbeschäftigung in der Einsamkeit ist ein Bedürfnis, das immer wieder gestillt zu werden vermag (179 / 66,7f), so dass sich der derart Verzweifelte dann wieder nach außen wenden kann. Werden die Kräfte innerhalb seiner selbst zu stark, lässt sich der Selbstzwang nicht mehr aufrechterhalten und der Verzweifelte endet im Ausbruch nach außen, im Selbstmord oder im Trotz. Die Selbstbeherrschung des Trotzigen ist weder so schwach, dass er sich bestimmte Stunden der Einsamkeit herausnehmen müsste, noch sind die Spannungen so stark, dass sie ihn in den Selbstmord treiben. Die Stärke des Trotzigen überbietet noch die absolute Verschlossenheit des Selbstmordgefährdeten. Der Trotzige hat sich in den unerträglichen Spannungen seiner Verzweiflung überdreht und noch einen Schein über sie gelegt, durch den er sich Lust und Genuss zu verschaffen meint. Während der im Sinne der Schwäche absolut Verschlossene so furchtbare Spannungen erträgt, dass ein Eingeweihter darüber staunen müsste, gibt sich der Mensch mit handelndem Selbst-Bewusstsein in seiner Selbstbeherrschung brillant und gleichsam schwerelos, wenn er scheinbar eine Selbstgestalt nach der anderen aus seinem Geist zaubern kann. Der Kundige aber lässt sich nicht täuschen und sieht in diesen fabelhaften Gesten das Indiz für ein in die reine Phantastik abgeglittenes Selbstsein. Der Verzweifelte hat sich so verzaubert – die Selbstverdoppelung ist sein größtes Zauberstück –, dass er seine unendliche Verzweiflung nicht erkennen muss. Er reflektiert alles in das Nichts (vgl. 183 / 71,14) hinein und hat damit die Verzweiflung verursachende Leere seiner selbst nahezu vollkommen verdeckt. Solange der jeweilige Plan nicht abgeschlossen ist, bleibt der Planer noch präsent und alles hängt an seiner Hand. In der Entstehungsphase seines Werkes ist der Mensch sich in seinem schöpferischen Selbstsein noch durchsichtig und darin liegt sein Genuss. Wenn er sein ›Luftschloss‹ (183 / 71,18) vollenden und der Mensch ›selbst‹ seine Hand von seinem Selbstentwurf lassen würde, bräche dessen Schein sogleich zusammen. Deshalb lässt der verzweifelte Mensch sein Produkt nicht los, sondern legt wiederum selber Hand an, es zu zerstören. Er hüllt sein Selbstsein ständig in ein Rätsel (183 / 71,29), hinter dem sich in Wahrheit nichts verbirgt.

Die Gestalt des trotzig Leidenden

3.

Die Gestalt des trotzig Leidenden

a)

Die Bedeutung des konkreten Nachteils

261

Welchen Verlauf nimmt die Verzweiflung bei dem Menschen mit leidend trotzigem Selbst-Bewusstsein? Der Verzweifelte sieht sein konkretes Dasein zuerst nur im Horizont seiner Phantasie, durch die er es als Material für seine Experimente nutzen will. Sein Dasein besitzt eigentlich keine Notwendigkeit mehr, weil es ihn selbst nicht betrifft, der er sich ganz aus seiner abstrakten Selbstvorstellung begreifen will. Dabei kann aber jenes ›Irdische‹ (175 / 61,5f), das der Anlass für die verzweifelte Bildung der abstrakten Selbstgestalt war, wieder in den Blick kommen oder ein anderer ›grundlegender Nachteil‹ (184 / 71,39). Eine solche Schwierigkeit kann so gravierend sein, dass sich ihre Notwendigkeit nicht durch die abstrakte Selbstvorstellung wegwischen lässt. Deshalb versucht nun der Verzweifelte, diese Schwierigkeit auf eine von Kierkegaard als dämonisch bezeichnete Weise zu übernehmen. Die treibende Kraft für diese Verhaltensweise liegt in der abstrakten Selbstvorstellung. Das ›nackte‹ (170 / 55,27), abstrakte ›Selbst der Unendlichkeit‹ beförderte schon die Potenzierung der Verzweiflung über seine Schwäche zum Trotz, wenn der Verzweifelte sein schwaches Selbst nicht sein wollte, aber seiner doch bedurfte, bis er schließlich im Anstieg der Verzweiflung seine Schwäche in ihrer Unendlichkeit als Hilfe begriff, durch die sich ihm unendliche Möglichkeiten seiner selbst erschließen. Aber weil die unleugbare konkrete Benachteiligung seiner Selbst-Vorstellung widerstreitet, kann der Verzweifelte nicht er selbst in seiner Vorstellung sein. Doch sich in seiner Vorstellung aufgeben will er auch nicht. Aus dieser Spannung resultiert seine Trotzhandlung, gerade in seiner Benachteiligung er selbst sein zu wollen. Er ›wirft‹ seine Selbstvorstellung auf seinen konkreten Nachteil und leidet trotzig in seiner Verzweiflung. Die abstrakte Selbstvorstellung erweist sich als das Vorantreibende in dem gesamten Prozess, durch den der Verzweifelte nun »sein wirkliches Selbst mit seinen Schwierigkeiten und Vorzügen unendlich übernimmt« (170 / 55,30f). Der Verzweifelte kann nicht mehr den Weg der Verzweiflung über seine Schwäche nehmen. Dazu ist er schon zu stolz auf die »Luftschlösser« (183 / 71,18) seiner selbst geworden. Er kann auch nicht mehr zurück zu jenem still verschämten Stolz (vgl. 179 / 66,18–27), der sich an die Bearbeitung der eigenen schwachen Selbstgestalt geheftet hatte. Es bleibt ihm nunmehr der ungleich quälendere Ausweg des leidenden Trotzes.

262 b)

Die Verzweiflungsformen des Trotzes

Die ›Übernahme‹ des konkreten Nachteils

Kierkegaard konturiert die dämonisch-verzweifelte Handlung des leidend Trotzigen im Vergleich zur vorhergehenden, noch nicht mit Trotz erfüllten Verzweiflungsform. In der Verzweiflung am Ewigen verzweifelt der Mensch am Ewigen in dem Sinne, dass über das Irdische oder etwas Irdisches zu verzweifeln »im Grunde Verzweiflung am Ewigen bedeutet« (184 / 72,12f). Er verzweifelt nicht am wahrhaft Ewigen, weil es ihn nicht tröstet oder heilt, sondern in seiner Verzweiflung will er sich von ihm nicht trösten oder heilen lassen (184 / 72,13ff). Der Mensch verzweifelt am Irdischen, das er so hoch bewertet, dass es ihm zum Ewigen wird und sich so an die Stelle des tröstenden und heilenden Ewigen setzt. Er will sich also selbst trösten und heilen, indem er sich des Ewigen versichert, das er in seiner irdischen Verzweiflung noch zu besitzen meint. Dieser Trost besteht aber nur in einem die anderen verachtenden Stolz und in selbstbezogener Liebe, welche die Verletzung der Verzweiflung nicht heilen können. Dass er nur in Demut, in der er sich ganz in seine Endlichkeit und Zeitlichkeit erniedrigt, hoffen kann, ewigen Trost und ewiges Heil zu empfangen, versteht der am Ewigen Verzweifelte in seiner Geistigkeit nicht. Er hegt noch die Hoffnung, dass er die Möglichkeit besäße, seine irdische Bedrängnis zu beheben. Diese Möglichkeit gibt der leidend handelnde Verzweifelte in seinem Trotz auf oder genauer gesagt: er will sie aufgeben. Das könnte seine Erlösung sein, weil die Verzweiflung wesentlich durch seine Flucht in die Möglichkeit intensiviert und aufrechterhalten wurde. Nicht auf die Möglichkeit hoffen zu wollen könnte dann nur ›verzweifeln wollen‹ (154 / 36,36) heißen, was den Menschen durch die Verzweiflung hindurchgehen ließe. Aber hier muss sich zeigen, dass der Verzweifelte in seiner Nähe zur Wahrheit zugleich unendlich weit von ihr entfernt ist. Anstatt seinen Untergang zu verstehen, findet der Verzweifelte noch eine Möglichkeit, die entgegen aller bisherigen Möglichkeiten steht. Zuerst versucht der Verzweifelte mit der Macht seines Verstandes und dessen Phantasie, den ›Pfahl im Fleische‹ (184 / 72,21) aus seiner Vorstellungswelt auszuklammern. Dies gelingt ihm nicht; verliert er deshalb darüber den Verstand? Nein, er wirft im Gegenteil nun seine ganze unendliche Leidenschaft und Verstandesreflexion auf sein ›Kreuz‹, wenn er es »ewig« (184 / 72,23) oder »unendlich« (170 / 55,31) übernehmen will. Der Verzweifelte schießt über sein Ziel hinaus. Er macht sein Unglück in höchst verdrehter Weise größer, als es eigentlich ist – größer, weil er es ja nicht ewig übernehmen bräuchte. An seinem Kreuz kann er ›nur‹ in irdischer Weise untergehen, er kann in recht verstandener Weise in dieser Verzweiflung über das Irdische gar nicht untergehen, sondern nur in der befreienden Verzweiflung am Ewigen (175 / 61,36). Um von seiner Verzweiflung freizukommen, müsste der

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Betreffende nicht ein ›irdisches Kreuz‹, sondern seine Verzweiflung, die er ewig in der Zeit erleidet, auf sich nehmen. An der enttäuschten Hoffnung des leidend Trotzigen (184 / 72,16–19: »Aber es ist auch eine Form der Verzweiflung, nicht auf die Möglichkeit hoffen zu wollen, daß eine irdische Bedrängnis, ein zeitliches Kreuz behoben werden können.«) macht Theunissen seine These fest, dass das seiner Meinung nach grundlegende Paradigma der Verzweiflung als Hoffnungslosigkeit gegen Kierkegaards Intention sich am Ende des Verzweiflungsprozesses durchsetzt. Schon die Verzweiflung der Notwendigkeit im synthesentheoretischen Abschnitt nimmt für Theunissen die Interpretation der Verzweiflung als Hoffnungslosigkeit vorweg (Begriff Verzweiflung, 124). Daraus ergibt sich über Kierkegaard hinausgehend folgender Prozess: »Der Prozeß nimmt seinen Anfang mit der Verzweiflung der Möglichkeit, treibt diese sodann in die Verzweiflung der Notwendigkeit hinein und bricht schließlich ab mit dem Sprung in den Glauben« (120). Dagegen wurde hier die Verzweiflung der Notwendigkeit als eine gleichsam noch nicht dynamisierte Verzweiflung der Möglichkeit interpretiert, die ihre Möglichkeit in der Unmöglichkeit – im Sinne von Notwendigkeit verstanden – hat. Der im Sinne der Notwendigkeit Verzweifelte macht sich keine Hoffnung, ist aber auch nicht in dem Sinne hoffnungslos, dass er Hoffnung preisgegeben hätte. Die Phantasie eines solchen Verzweifelten ist noch zu schwach, um sich Hoffnung für sich selbst zu machen. Aber liegt in der höchsten Verzweiflung des leidend Trotzigen eine Preisgabe von Hoffnung, verstanden als Hoffnungslosigkeit, vor? In der Tat gibt der Verzweifelte seine Hoffnung preis, aber in solcher Weise, dass er sie für sich dennoch in Anspruch nimmt. Denn die Hoffnung ist ihm sein Recht, das er schließlich Gott zum Vorwurf und sich selbst zur Genugtuung in Form des ewigen Pfahles im Fleisch, der für das ihm zugefügte Unrecht steht, vorhalten will. Die Hoffnung besteht in der pervertierten Form weiter, dass der Verzweifelte hofft, dass Gott sie ihm nicht noch nachträglich erfüllen werde.

Kierkegaard unternimmt einen weiteren Anlauf, die Verzweiflung aus Trotz verständlich zu machen, wenn er die selbstverständliche Hilfesuche eines Leidenden erwähnt (185 / 73,13–31). Nicht immer ist ein Leidender für jede Hilfe offen. Es sind Fälle denkbar, in denen man unter der Hilfe leiden würde. So erscheint eine Hilfe, bei der man seine Abhängigkeit von ihr und darin auch sein Leid intensiver spürt, oft nicht wünschenswert. Dann hält man sein Leid lieber weiter aus. Für den Menschen besteht das schlimmste Leiden darin, dass er in seinem Selbstsein getroffen wird. So schlimm auch andere Leiden sind – über dieses Leid allein bricht er in Verzweiflung aus. Wenn ein Mensch sein Leid als ›Pfahl im Fleisch‹ oder als ›Kreuz‹ versteht, könnte die Situation noch nicht wirklich ernst sein, weil man einen ›Pfahl im Fleisch‹ oder ein Kreuz auch ertragen kann. Der wirkliche Ernst bricht erst an, wenn diesem Menschen geholfen werden soll. Versucht man dem Menschen diesen ›Pfahl im Fleisch‹ zu ziehen, zeigt sich bei einem darin Verzweifelten, dass der Pfahl tief im Selbst-Bewusstsein ›steckt‹. Die Hilfe müsste bis auf den Grund des Menschen selbst hindurchgreifen. Die De-

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mütigung des Verzweifelten (vgl. 185 / 73,23) bestände darin, dass der ›Pfahl im Fleisch‹ nur zugleich mit der verzweifelten Selbstgestalt des Menschen, in der er am ›Pfahl im Fleisch‹ hängt und an der also die Verzweiflung hängt, gezogen werden könnte. Eine solche Offenlegung seiner Verzweiflung und Selbstverlorenheit bedeutete dem Verzweifelten eine viel größere Qual, weil im Gegensatz zum Leiden am ›Pfahl im Fleisch‹ er selbst dabei nicht nur in größte Bedrängnis, sondern zum Untergang gebracht würde.5 Der Verzicht auf sich selbst wäre dem Verzweifelten schlimmer als der ›Pfahl im Fleisch‹. Er ist in seinem Leid zu stolz auf sich selbst, um eine derartige Demütigung seines verzweifelten Daseins zu ertragen.

c)

Der Anstoß am ›Pfahl im Fleisch‹

Kierkegaard erwähnt zwei Möglichkeiten, wie ein ›Pfahl im Fleisch‹ entstehen kann (184 / 72,21f). Einerseits mag es wirklich so sein, dass dieser ›Pfahl im Fleisch‹ dem Betreffenden so tief geht, dass er von ihm nicht abstrahieren kann, andererseits könnte dies nur seiner Leidenschaft geschuldet sein. Da die Bewertung eines Leidens als ›Pfahl im Fleisch‹ eigentlich immer subjektiver Natur ist, müsste die erste Möglichkeit streng genommen wegfallen. Doch macht es durchaus Sinn, zwischen einem ›wirklich‹ schweren Leiden und einem schwer genommenen Leiden zu unterscheiden, auch wenn beides bei den meisten Leiden schier untrennbar und in höchst verschiedener Weise zusammenkommt. Die leidenschaftliche Variante des ›Pfahls im Fleisch‹ erscheint als die entscheidende: Denn die Bewertung über die Tiefe des Stachels kann schwerlich ohne Leidenschaft vorgenommen werden. Ja, der Verzweifelte treibt sich mit Leidenschaft den ›Pfahl‹ ins Fleisch. An dem ›Pfahl im Fleisch‹, an dem er sich stößt, nimmt er bewusst Anstoß. Der Anstoß am ›Pfahl im Fleisch‹ hätte bewirken können, dass sich der Mensch in seinem irdischen Dasein verloren gibt und er haltlos – ohne falschen, irdischen Halt – durch und durch verzweifelt. Aber der Verzweifelte nimmt sein 5 Kierkegaard hat in seiner »Erbaulichen Rede« (1844) zum Pfahl im Fleisch, von dem Paulus in 2.Kor 12,7 schreibt, den trostlosen Umgang mit einem solchen Leiden schon skizziert, wenn auch noch nicht in der übersteigerten Weise, wie sie in seiner Verzweiflungsschrift vorliegt: »Darum, so ein Mensch darüber klagt, für ihn gebe es keinen Trost, denn sein Leiden sei über alle Maßen, da hat dies darin seinen Grund, daß er das Entsetzen, die Not nicht tief genug erfaßt, daß er doch lieber alles sich verwirren lassen möchte und Zerstreuung suchen in der eitlen Linderung, einen Trost gebe es nicht, als sich selber richten und sich demütigen unter die Gewißheit, eine übermenschliche Versuchung gebe es nicht« (SKS 5, 321 / 4R44, 40). Vgl. auch SKS 10, 184 / CR, 184: »Denn statt daß man Teilnahme hat mit deinem irdischen Jammer und eifrig ist, ihm abzuhelfen, wird ein noch stärker drückendes Gewicht dir aufgelegt, wirst du zum Sünder gemacht.«

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Leiden wieder als Anlass und verzweifelt über das Irdische (vgl. 175 / 61,27–32). Der ›Pfahl im Fleisch‹ geht ihm nicht in der Weise durch und durch, dass er ihn in seiner Verzweiflung schaffenden Selbststruktur in entscheidender Weise träfe. Das Leiden bleibt nur Veranlassung für den Verzweifelten, auf das er mit Gegendruck reagiert. Es zeigt sich wieder die Selbststruktur eines über seine Schwäche und sein Leid Verzweifelten. Aber die Verzweiflung kommt nun nicht mehr indirekt-direkt vom Verzweifelten her (176 / 63,18ff), sie kommt im leidenden Trotz direkt von ihm her, wie an seinem Verhalten abzulesen ist. Der Verzweifelte nimmt wohl am ganzen Dasein Anstoß, aber er nimmt in seinem Trotz zugleich das ganze Dasein in diesem Anstoß trotzig auf sich. Er verzweifelt nicht schwach vor dem Pfahl, sondern schließt ihn ›stark‹ mit seinem ganzen Dasein in seinem Trotz zusammen. Das Verhalten dieses leidend trotzigen Menschen ist nicht weniger verzweifelt-verrückt als das des trotzig Handelnden. Denn wie soll man am ganzen Dasein Anstoß nehmen können? Man müsste gleichsam sein Dasein verdoppeln, um sich an ihm ›stoßen‹ zu können. Der Mensch will sein ganzes Dasein in das ihm anstößige Selbstsein hineinnehmen. Der Mensch mit leidend trotzigem Selbst-Bewusstsein vollzieht die für das Selbstseinwollen charakteristische Selbstverdoppelung in umgekehrter Weise als der Mensch mit handelnd trotzigem Selbst-Bewusstsein. Dieser will sich gegen seine konkrete Selbstgestalt trotzend in einen phantastischen Selbstentwurf heraussetzen, jener mit seiner konkreten Selbstgestalt trotzend diese in sein phantastisches Selbstsein hineinnehmen. Der trotzig handelnde Verzweifelte will trotz seines Daseins ohne es er selbst werden, der trotzig leidende Verzweifelte will dem Dasein zum Trotz er selbst sein (vgl. 187 / 75,33–37). Wenn ersterer trotz seines Daseins handelt, ignoriert er dieses; wenn der trotzig leidende Mensch zum Trotz handelt, erkennt er sein Dasein an und ignoriert es zugleich. Er will sein Dasein nicht verändern, aber es doch mit seiner Qual durchdringen. So wie der trotzig handelnde Mensch sich durch einen Neuentwurf seiner selbst durchsichtig zu werden versucht, so meint der trotzig Leidende in der Übernahme seiner Qual sich in seinem Dasein durchschauen zu können. Er will sein ganzes Dasein als eine einzige Qual transparent machen. So hat der Verzweifelte in seinem Leid die scheinbare Genugtuung, willentlich er selbst zu sein. Diesen furchtbaren Triumph über sein Dasein lässt sich der Mensch nicht mehr nehmen. Auf eine Möglichkeit der Hilfe zu hoffen (185 / 73,7f) hieße noch nicht am ganzen Dasein Anstoß genommen zu haben. Der Verzweifelte würde noch sein Dasein in Hoffnung aushalten. Während der trotzig handelnde Mensch vor lauter phantastischen Möglichkeiten gar nicht versteht, dass sein Dasein Hilfe nötig hat, ist dem trotzig Leidenden sein Dasein jeder Möglichkeit entleert, so dass auch er keine Hilfe als nötig ansieht – weil ihre Möglichkeit schon längst vertan ist.

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Man könnte meinen, der Verzweifelte müsse in dieser Situation doch gerade für das Absurde offen sein, wonach für Gott alles möglich ist. Es hat für sich selbst jede Möglichkeit aufgegeben, so dass er nur noch »kraft des Absurden« (185 / 73,8) hoffen könnte. Doch wenn der Verzweifelte auch jede Möglichkeit der Hilfe aufgegeben hat, seinen Verstand hat er nicht aufgegeben. Vielmehr meint er nun, sein Dasein in aller Deutlichkeit zu erkennen. Jener Arbeit an sich selbst, bei der man doch eigentlich nicht weiter kommt (179 / 66,6f), bedarf es nicht mehr. Der Verzweifelte würde sich in seinem Verständnis selbst verdunkeln, wenn er sein Dasein der Absurdität einer göttlichen Hilfe anvertrauen würde. Er ist sich seiner so sicher wie in keiner vorangegangenen Verzweiflungsform. Kein irdisches Unglück kann ihn mehr erschüttern, so dass er in Ohnmacht fiele oder auf Distanz von sich ginge, sondern muss ihn in seinem Selbstverständnis weiter bestätigen: dass das ganze Dasein eine Qual ist.

d)

Die Konkretion in der Verzweiflung

Der Mensch mit leidend-trotzigem Selbst-Bewusstsein hat eine Wandlung von der Abstraktion zur Konkretion vollzogen (186 / 74,18–22). Er hat sich selbst mit seinen Schwierigkeiten, die im ›Pfahl im Fleisch‹ ihren Ausdruck finden, als auch Vorzügen, die in der Berechtigung der eigenen Qual gipfeln, unendlich übernommen (170 / 55,29ff). Der Mensch mit ›bloß‹ leidendem Selbst-Bewusstsein hatte sich in die Verzweiflung über seine Schwäche hineinbegeben, wenn er das einzelne Irdische, über das er verzweifelte, totalisierte und daran sein SelbstBewusstsein knüpfte. Das Selbstsein des Menschen hing nicht mehr an einem einzelnen Äußerlichen, sondern mit dessen Abstraktion nahm es selbst eine grenzenlos abstrakte Gestalt an. Nun hat sich die leidende, in Schwachheit bestehende Selbstgestalt zur leidend-trotzigen gewandelt und der Mensch sein abstraktes Selbstsein mit seinem konkreten Leid gefüllt. In dieser Entwicklung hat der Verzweifelte scheinbar die Schritte vollzogen, die zur Selbstwerdung führen (vgl. 146 / 27,3–6). In der unendlichen Abstraktion seiner selbst ist der Mensch von sich selbst fortgekommen und in der unendlichen Übernahme seines konkreten Daseins zu sich zurückgekehrt. Aber in dieser Entwicklung hat sich kein Selbstwerden eingestellt, sondern der Verzweifelte ist nur von einem ›schwachen‹ Nichtselbstseinwollen zu einem ›starken‹ Selbstseinwollen gelangt. Trotz aller Qual und Mühe muss wie beim Menschen des ›rein‹ starken SelbstBewusstseins, dem trotzig Handelnden, konstatiert werden: »[E]s wird eigentlich kein Selbst« (183 / 70,38). Das kann auch nicht anders sein, weil der Verzweifelte in der Verunendlichung seiner selbst nicht unendlich von sich selbst fortkam, sondern noch in der Unendlichkeit seiner abstrahierenden Phantasie an der Schwäche seiner endlichen Existenz festhing und in dieser Schwäche

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darüber verzweifelte, dass er sich das Irdische so zu Herzen genommen hat (176 / 62,19ff). Ebenso vermochte er nicht, in der Verendlichung unendlich zu sich zurückzukehren, weil er am Ende so konkret geworden ist, »daß es eine Unmöglichkeit wäre, in diesem Sinne ewig zu werden« (186 / 74,20f). Der Verzweifelte trotzt mit unendlicher Leidenschaft in seiner Verendlichung eben dieser Endlichkeit, an der er höchsten Anstoß genommen hat. In Wahrheit will er in seiner Verendlichung, in der Übernahme seines konkreten Daseins, sich unendlich von sich abkehren. Warum kann Kierkegaard sagen, dass der Verzweifelte nun doch konkret geworden ist, wenn Konkretwerden die Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit impliziert, durch die man selbst wird (146 / 27,1–6)? Die Konkretheit seines Daseins liegt dort, wo er sich mit seiner unendlichen Leidenschaft seiner Endlichkeit zuwendet und darin Unendlichkeit und Endlichkeit zur Konkretheit verbindet. Kierkegaard spricht zwar auch im Fall des rein handelnden SelbstBewusstseins von dessen Konkretheit, die aber in ihrer »Notwendigkeit und Grenze« (182 / 69,34) diesem verborgen bleibt, weil sie von Anfang an unkonkret als pure Möglichkeit genommen wird. Der Mensch mit leidend trotzigem SelbstBewusstsein findet hingegen zu einer eigenen Konkretheit, wie sie kein anderer Verzweifelter erreichte. Doch ist diese Konkretion in sich völlig verzerrt. Schon wenn er in seiner Leidenschaft aus einer bestimmten Schwäche einen ›Pfahl im Fleisch‹ macht, deutet sich an, dass er seine konkrete Wirklichkeit verkennt. Erst recht verfälscht er sein konkretes Dasein, wenn er die Notwendigkeit seines Leidens ewig festschreiben will und darin seine einzige Möglichkeit sieht. Die leidend trotzige Haltung des Verzweifelten ist nicht die konkrete Selbstgestalt, zu der er werden sollte. Die wahre konkrete Selbststruktur besteht weder aus einer ewigen Notwendigkeit noch in dieser einzigen Möglichkeit, sondern aus einer zeitlichen Notwendigkeit, die von den unendlichen Möglichkeiten der Ewigkeit durchdrungen ist.

e)

Die dämonische Qualität der Verzweiflung

Die Verzweiflungsform des trotzig Leidenden ist von dämonischer Qualität (185 / 73,32ff).6 Nach Kierkegaard ist die Gestalt des Teufels als des höchsten Dämons am intensivsten verzweifelt, weil sie die absolute Bewusstheit und Durchsichtigkeit ihrer selbst besitzt (157 / 40,19–22). Der leidend Trotzige kommt diesem Zustand sehr nahe, wenn er das ganze Dasein als eine einzige Qual durchschaut und an ihm Anstoß nimmt. Die ›niederen‹ Formen der schwachen Verzweiflung 6 Zum Begriff des Dämonischen in dieser Verzweiflungsform vgl. Dietz, Kierkegaard, 334, Anm. 185.

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weisen noch nicht eine derartige Durchsichtigkeit auf, weil es sich bei ihnen statt um einen ›Pfahl im Fleisch‹ um eine zu bearbeitende Schwäche handelt. Wenn der Betreffende sein ganzes Dasein als Qual auffasst, scheint er der Wahrheit auf der Spur zu sein, die sein Dasein als durch und durch verzweifelt offenbaren müsste. Er versteht, dass es nichts in seinem konkreten Dasein noch in seiner Phantasie gibt, auf das er sich vor seiner Verzweiflung zurückziehen könnte. Deshalb gibt der Verzweifelte nun auf, vor sich selbst zu fliehen, und beugt sich unter sein ihn quälendes Dasein in dem Sinne, dass er sich in es zurückzieht. So hat es auch der absolut Verschlossene in seiner Verzweiflung gemacht. Er konnte seine verzweifelten Spannungen im Inneren nicht länger ertragen und verifizierte im Selbstmord seine innere Gebrochenheit.7 In beiden Formen der Selbststruktur wird eine Kehrtwendung zum konkreten Dasein vollzogen, welche die rettende Umkehr pervertiert und sich dadurch als dämonisch ausweist. In seinem hochgradigen Selbstbewusstsein meint der trotzig leidende Verzweifelte sich gegen Gott stellen zu können, dessen Angebot einer möglichen Hilfe er aufgrund ihrer Verspätung ablehnen würde (185 / 74,5–13). In seiner Qual bleibt der Verzweifelte noch Herr über sie, wenn er bestimmt, bis wann man ihn hätte warten lassen können. Der Verzweifelte setzt sich das Zeitmaß seiner Qual selbst und will sie schließlich in Ewigkeit übernehmen (186 / 74,22–25). Er will auch über die Ewigkeit bestimmen und zieht voller Verzweiflung Gott selbst in die Zeit, wenn dieser mit einem »zu spät« (185 / 74,7) beschieden wird.8 Der Verzweifelte macht die Qual in Ewigkeit zu seinem Eigentum, weil er sich selbst in ihr zu besitzen meint. Und wie der Mensch mit handelnd trotzigem Selbst-Bewusstsein in seiner experimentellen Selbstverdoppelung auf sich selbst sehen will, um seinen Selbstentwurf als sein Selbstsein zu legitimieren, so will der Mensch mit leidend trotzigem Selbst-Bewusstsein seine Qual zur Hand haben, um sich ständig davon überzeugen zu können, dass er in der Auffassung seines Selbstseins als reiner Qual recht hat (187 / 76,2ff). Kierkegaard macht zu dem himmlischen Hilfsangebot die Einschränkung: »Wenn es jetzt auch so wäre« (185 / 74,5), und es fragt sich, ob der Verzweifelte überhaupt ein solches Angebot erhalten könnte. Denn Gott im Himmel bietet dem Verzweifelten nicht die eine Möglichkeit an, ihn von dem speziellen Leiden zu befreien, sondern er bietet an – oder wie Kierkegaard dann sagt: fordert – zu glauben, dass für ihn – Gott – alles möglich ist. In diesem Glauben geht es dem Menschen nicht mehr um sich selbst in seinem Leid, sondern um Gott, der ihm 7 Siehe hier Kapitel 8.5. 8 Vgl. SKS 4, 438 / BA, 150,36–151,4: »Man hört deshalb von einem solchen Dämonischen ziemlich regelmäßig eine Replik, die das ganze Entsetzen des Zustandes enthält: Laß mich das Stück Elend sein, das ich bin; oder man hört ihn sagen, indem er von einem bestimmten Zeitpunkt seines vergangenen Lebens spricht: Damals hätte ich vielleicht gerettet werden können; die entsetzlichste Replik, die sich denken läßt.«

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die Möglichkeit des Glaubens eröffnet hat. So zu glauben, heißt dann aber auch, an eine Möglichkeit der Hilfe im speziellen Leid zu glauben (154f / 37,22–25). Der dämonisch Verzweifelte hat sich in seinem Trotz gegen jede Veränderung von außen, sei es durch die Hilfe Gottes oder eines anderen Menschen, gesichert. Er hält sich in seiner Qual fest, die ihm weder Gott noch Mensch nehmen können. Nichts kann ihn mehr erschüttern, aber erschüttert werden müsste er (vgl. 162 / 46,35f), um zu verstehen, dass alles möglich ist, und damit Gott zu verstehen (156 / 38,35–38). Aber kann den dämonisch Verzweifelten wirklich nichts erschüttern? Der Verzweifelte hat Angst davor, dass Gott ihm eine noch größere Bosheit antut, wenn er ihn nicht nur warten lässt, bis es zu spät ist, sondern ihm zuletzt auch noch den Beweis seiner Qual raubt (185f / 74,13–18). Die Ewigkeit würde sein qualvolles Selbst-Bewusstsein zu einem Nichts machen, als ob es ihn selbst in seinem konkreten Leid nie gegeben hätte. Er besäße nicht mehr das Recht, »der zu sein, der er ist« (186 / 74,18). Der Mensch hat in seiner Dämonie gleichsam die Qual mit Gott vertauscht. Nicht Gott ist es, der ihn berechtigt, der zu sein, der er ist, sondern seine Qual. Ja, Gott ist für ihn nicht derjenige, der ihn aus seiner Qual befreit, sondern derjenige, der ihm eine noch größere Qual zufügen könnte. Gott ist ihm selber eine Qual und seine irdische Qual sein einziger Halt und ›Vorzug‹ (186 / 74,16f). Der Verzweifelte kann Gott im Himmel anhand seiner Qual beweisen, dass er ihn im Stich gelassen hat. Darin liegt der eigentliche Vorzug, den der Verzweifelte gegenüber anderen Menschen zu haben meint. Dass er sich furchtbar quält, bedeutet allein keine Besonderheit, aber dass er selbst – nicht nur etwas ihm von Gott Zugefügtes – der Beweis gegen Gottes Güte ist, hebt ihn von anderen Menschen ab. Hätte Gott ihm ›nur‹ etwas Schlimmes zugefügt, bliebe noch sein Dasein als Hinweis auf Gottes Güte. Nun aber ist er selbst in seinem Wesen, in seinem ganzen Dasein, ein unverbesserlicher Fehler, den Gott mit ihm selbst gemacht hat (187 / 76,12–22). Ein solches verzweifeltes Selbst-Bewusstsein ist synthesentheoretisch betrachtet die höchste Ausprägung des in der Verzweiflung der Möglichkeit steckenden Individuums, das schwermütig liebend eine Möglichkeit der Angst verfolgt, die es schließlich von ihm selbst wegführt (vgl. 153 / 35,23–26). Die Entstehung einer solchen Schwermut hat Kierkegaard mit dem Zwiespalt eines Menschen skizziert, der sich einerseits gerne helfen lassen möchte, aber andererseits die damit verbundene Demütigung fürchtet. Der so Verzweifelte möchte sein Leid gerne loswerden, aber liebt sich auch im Leid, wo er er selbst zu sein meint. Er hat Angst vor der Möglichkeit der Hilfe und sucht sie doch. Die dämonische Variante dieser Schwermut hat diesen Zwiespalt dahingehend verkehrt und potenziert, dass der Verzweifelte sich in seiner Liebe zu seiner leidenden Selbstgestalt nicht von der möglichen Hilfe distanziert, sondern sich ihr

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aufdrängt, sie zu widerlegen versucht. Der Schwermütige hat eine trotzige Haltung eingenommen.

f)

Die Verschlossenheit des trotzig Leidenden

Für die trotzig leidende Verzweiflung gibt es keine entsprechende äußerliche Gestalt, weil ihre Verschlossenheit als solche keine äußerliche Entsprechung haben kann, ohne sich zu offenbaren (186 / 74,30–35). Kierkegaards Argumentation ist nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass eine Verschlossenheit sich sehr wohl als eine solche zeigen kann, ohne das, was sie verschließt, preisgeben zu müssen. Dieser Fall könnte etwa in der Flucht des Verschlossenen in die Wüste oder in ein abgelegenes Kloster vorliegen, wodurch ein Mensch sich sichtbar vor der Gesellschaft verschließt (vgl. 177 / 64,21ff). Man hat also im Fall der vorliegenden Verzweiflung eher eine ›Verschlossenheit der Verschlossenheit‹ anzunehmen. Der trotzige Verzweifelte hat sich jeden Weg nach außen, zu einem anderen Menschen oder zu Gott endgültig verbaut, indem er sich alles ›Außen‹ zu völlig gleichgültigem Äußerlichen gemacht hat. Das hier gebrauchte Bild des überdrehten Türschlosses (186 / 74,38) charakterisiert im Vergleich zum vorausgehenden Bild der sorgfältig verschlossenen Tür (177 / 64,13) die neue Qualität der Verschlossenheit. Die sorgfältig verschlossene Tür konnte vorher noch einem einzelnen anderen gegenüber geöffnet werden, ebenso ließ sie sich noch irgendwie aufbrechen, wenn ein so Verzweifelter ins Leben hinausstürzte (180 / 67,10ff). Diese Möglichkeiten fallen beim überdrehten Türschloss aus. Aber warum liegt hier eine Verschlossenheit vor? Man könnte meinen, dass die Charakterisierung des leidend handelnden Selbst-Bewusstseins als überdrehter Verschlossenheit seinem Wesen nicht angemessen ist. Denn wendet es sich nicht im Gegensatz zu allen anderen geistigen Formen der Verzweiflung weg von der Abstraktion und hin zu seinem äußeren konkreten Dasein? In der Tat grenzt sich der Verzweifelte in dieser Verschlossenheit nicht mehr gegen das äußere Dasein ab, in dem er es von sich ausschließt, sondern lebt die Verschlossenheit im äußeren Dasein selbst. Sie besteht in dem Trotz, mit dem der Verzweifelte »gegen das ganze Dasein mit ihm [sc. dem Dasein] er selbst sein« (185 / 73,6) will. Deshalb bedarf dieser Mensch mit einem so verzweifelten Selbst-Bewusstsein auch nicht mehr der einsamen Stunden (vgl. 179 / 66,3–10), mit denen sich der am Ewigen Verzweifelte von seinem äußeren Dasein abzusetzen versuchte. Der verzweifelt leidende Mensch geht in seinem Trotz nun ganz in seinem konkreten Dasein auf, weil er mit ihm er selbst sein will. Doch in seinem Trotz verschließt er sich gerade vor diesem Dasein, das

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ihm eine einzige Qual bedeutet. Er hat sich im äußeren konkreten Dasein verborgen, sich nicht mehr vor ihm, sondern in ihm verborgen. So verschwindet der trotzig Leidende in seiner verzweifelten Selbstgestalt für andere unsichtbar in seinem äußeren Dasein. Wie der Troll nach dem, was der Aberglaube zu erzählen weiß, in einem Spalt verschwindet, den niemand sehen kann, so ist der Verzweiflung, gerade je geistiger sie ist, um so mehr daran gelegen, in einer äußerlichen Form zu wohnen, hinter der sie normalerweise niemand suchen würde (186 / 75,14–18).9

Der trotzig Leidende hinterlässt keine Spur in seinem Dasein, auf der man seiner Verzweiflung nachgehen könnte. Man trifft äußerlich auf einen Menschen, der sein Dasein in bewusster Durchdringung lebt. Er hat sein Dasein für sich so übernommen, dass kein Zwiespalt zwischen ihm selbst und seinem Dasein wahrzunehmen ist. Ein Spalt, an dem kenntlich würde, dass der Verzweifelte sich von seinem Dasein distanziert hat, um gegen dieses zu trotzen, ist nicht zu entdecken, weil er in seinem Trotz das ganze Dasein an sich zieht. Nichts wird im Trotz von dem konkreten Dasein abgespalten, aber jede Faser des Daseins ist von dem unendlichen Spalt durchzogen, den der Verzweifelte in seinem leidenschaftlichen Anstoß am Dasein hervorruft. Die Verzweiflung hat sich im ganzen Dasein verborgen und der Mensch sich mit ihm das zur Sicherheit genommen, von dem er in seiner Verzweiflung hätte gestört werden können. Damit ist ein Wandel im Verhältnis von Innen und Außen des Verzweifelten eingetreten. In der rein unmittelbaren und der reflexiv unmittelbaren Verzweiflung bliebe die Verzweiflung unerkannt, wenn nicht im ersten Fall dem Betreffenden von Außen etwas zustieße und er dann über sich sagen würde: »[E]r selbst wird er nie mehr« (168 / 52,31f). Im zweiten Fall ist die Verzweiflung äußerlich erkennbar an den Illusionen, die sich Ältere über ihre Jugend machen (173 / 59,10–13). Bei der Verzweiflung über sich selbst ist deren äußere Spur nur in dem regelmäßigen Bedürfnis nach Einsamkeit zu vermuten. Der trotzige, nur handelnde Verzweifelte könnte noch als Verzweifelter zu erkennen sein, wenn er ständig neue Selbstentwürfe produziert. Jedoch erscheint er darin gerade nicht verzweifelt, sondern immer voll Glück über einen neuen Plan. Er ist in gewisser Weise das Spiegelbild des unmittelbar Glücklichen, nur dass sein Glück im Inneren vor äußeren ›Schicksalsschlägen‹ geschützt ist, was ihm seine grandiose 9 Es ist bemerkenswert, dass sich in der höchsten Form der Verzweiflung ein Inkognito einstellt, wie es in anderer Weise auch für den ›religiös Existierenden‹ zutrifft, der in der Endlichkeit lebt, aber nicht sein Leben in ihr hat: »Er ist ein Fremder in der Welt der Endlichkeit, aber er bestimmt nicht durch eine ausländische Kleidung seine Unterschiedlichkeit von der Weltlichkeit (das wäre ein Widerspruch, da er sich ja dadurch gerade weltlich bestimmen würde); er ist inkognito, aber sein Inkognito besteht gerade darin, daß er ganz so wie alle anderen aussieht« (SKS 7, 373 / AUN2, 117, Hervorhebung im Original).

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Unerschütterlichkeit (183 / 71,22) verleiht. So wird auch hier normalerweise niemand Verzweiflung vermuten. Für beide Formen des Trotzes ist das Äußere völlig gleichgültig geworden, der eine Trotzige wird im Unglück in seinem Selbstsein noch bestätigt, an dem anderen prallt alles wirkungslos ab. Der Grund dafür ist in der Geistigkeit der jeweils Verzweifelten zu suchen. Der rein handelnde Verzweifelte hat im Unterschied zu allen anderen Verzweifelten sich selbst in unendlicher Möglichkeit, die von außen nicht beschränkt werden kann. Der leidend handelnde Verzweifelte hat in umgekehrter Richtung sich nicht gegen das äußere Dasein, sondern in ihm vergeistigt, wenn er mit ihm er selbst sein will. Kierkegaard bringt diese verdrehte Geistigkeit im Bild des überdrehten Türschlosses zum Ausdruck, wenn die Verzweiflung in der Verschlossenheit nochmals verschlossen gehalten werden soll (186 / 75,10f). Diese Verdoppelung ist die Fortführung der Grundstruktur der Verzweiflung, in der jemand über seine Verzweiflung verzweifelt. Niemand soll etwas über die Verschlossenheit wissen, so dass sie nochmals verschlossen wird.

g)

Die Verzweiflung der Resignation

Kierkegaard zeigt noch eine Variante der leidenden Selbstgestalt auf, die sich aus einer Abstraktion des ›Pfahls im Fleisch‹ ergibt und zur Resignation führt (184 / 72,25–73,36ff).10 Während der sich quälende Verzweifelte Ewiges und Zeitliches in seinem Kreuz vereint, wenn er es ewig übernehmen will (184 / 72,23f), setzt der resignierende Verzweifelte beides gegeneinander und das Ewige soll dazu dienen, das irdische Leiden zu verdecken. Weil dem Menschen sein Leid in der Ewigkeit wegfällt, braucht er es in der Zeit nicht übernehmen. In seiner Resignation abstrahiert er von seinem Leid und bleibt in dieser Negation stecken, ohne wie andere Verzweifelte sein Leid experimentierend durch positive Möglichkeiten in seiner Phantasie auszulöschen. Der resignierend Verzweifelte will nicht mit seiner Qual eben dieser Qual, sondern mit seiner qualfreien Ewigkeitsvorstellung ihr trotzen. Er kommt damit der Wahrheit sehr nahe, weil ein zeitliches Kreuz tatsächlich in der Ewigkeit wegfallen muss. Aber daraus zieht er einen falschen Trost, wenn er sich auch in der Zeit von ihm suspendieren will. Der Resignierende missbraucht die Ewigkeit für seine Zeitlichkeit, indem sie das zeitliche Dasein erträglich machen, aber nicht überwinden soll. Der Trost der Ewigkeit ist angesichts zeitlicher Leiden nur dann berechtigt, wenn das irdische Dasein in seinem verzweifelten Grund von 10 Zum einem davon unterschiedenen ›positiven‹ Verständnis der Resignation bei Kierkegaard siehe z. B. SKS 7, 359f.372 / AUN2, 100f.116f.

Die Gestalt des trotzig Leidenden

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der Ewigkeit her durchlitten wurde. Die Hilfe der Ewigkeit ist nicht zuerst dazu da, die irdischen Übel zu lindern oder zu beseitigen, sondern das Grundübel aller Übel, die Verzweiflung, auszurotten. Der Resignierende sieht hingegen in seinem irdischen Kreuz sein Grundübel, über das er verzweifelt, und will dementsprechend sich selbst nicht in seiner Verzweiflung, sondern nur in seinem Leiden helfen lassen.11 Doch ist es er selbst, der sich durch eine abstrakte Ewigkeitsvorstellung zu helfen versucht. Für Kierkegaard hängt die Hilfe in dieser oder jener Bedrängnis untrennbar mit der nur in Demut zu glaubenden Hilfe Gottes zusammen, die darin besteht, dass für diesen alles möglich ist. Dazu bedürfte es des Zugeständnisses seitens des resignierend Verzweifelten, dass die Bedrängnis zu ihm selbst gehört. Sie gehört in der Weise zu ihm selbst, dass er durch sie seiner wahrhaften Verzweiflung am Ewigen auszuweichen versucht, indem er sie zum Anlass nimmt, sich in eine abstrakte Ewigkeitsvorstellung zurückzuziehen. In einer demütigen Reue zu dem zu stehen, was man selbst ist, liegt dem Resignierenden fern, weil er im vermeintlichen Trost der Ewigkeit noch den eigenen Sieg über die Bedrängnis forttragen will. Der Unterschied zwischen der Resignation und dem Glauben, die beide den Trost der Ewigkeit festhalten, ist noch genauer zu verdeutlichen. Wollte der Verzweifelte er selbst sein, ohne irgendetwas aus seinem Dasein auszuklammern, besäße er den Mut der Ewigkeit zum verzweifelten Selbstsein. Hingegen ist er in seiner Resignation von diesem Mut weit entfernt. Der so Verzweifelte wird zwar von sich sagen, er habe an einem Punkt seines Daseins resignieren müssen, weil er ihn nicht hat beheben können. In Wahrheit hat der Verzweifelte aber resignieren wollen, indem er sein ganzes Dasein an diesem einzelnen Punkt festmachte. Denn er resigniert nicht an diesem einzelnen Punkt seines Daseins, sondern in seinem ganzen Dasein resigniert er an diesem einzelnen Punkt. Damit führt der Resignierende auf seine Weise die Totalisierung der Verzweiflung über etwas Irdisches fort.

11 Vgl. dazu SKS 10, 148 / CR, 147: »Vielleicht bist Du (o, hüte dich!) nicht weit davon, die Ewigkeit zu Hilfe nehmen zu wollen, um in der Ewigkeit das Zeitliche wiederzubekommen, ganz ebenso wie es in der Zeitlichkeit deiner Augen Lust und deines Herzens Begehren gewesen – auch dies ist doch Verlorenheit. Was du alsdann nämlich willst, ist nicht, daß du ewig das Ewige gewinnest, sondern du willst das Ewige gewinnen, damit es dir in der Ewigkeit das verlorene Zeitliche schenke, d. h. du willst das Ewige verlieren, um ewig das Zeitliche zu gewinnen, und dies heißt in der Zeitlichkeit das Ewige verlieren, und das ist Verlorenheit.«

274

4.

Die Verzweiflungsformen des Trotzes

Die Verfehlung der Daseinswirklichkeit

Der trotzig leidende Mensch hat eine Welt ausschließlich für sich gewonnen, in der er meint, er selbst sein zu können. Der Grund seines Selbstseins besteht nicht in einer anderen Vorstellung seines Daseins, mit der er gegen sein wirkliches Dasein trotzt, sondern der Anlass seines Pfahls im Fleisch gibt ihm den Grund in die Hand, sich nicht in eine von der Realität abstrahierte Vorstellung, sondern in der Realität selbst zu gründen. Doch genauer besehen wird die Realität gerade darin verlassen, dass man aus ihr eine Welt ausschließlich für sich selbst machen will, in der man sich selbst hat. Die irdische Daseinswirklichkeit ist nicht ewig und kann deshalb nur zum Schein und zur Verzweiflung als ›Selbst‹ – denn »nächst Gott gibt es nichts, was so ewig ist wie ein Selbst« (168 / 53,19f) – gewollt werden. Der in dieser Weise Verzweifelte meint sich weder in der Realität – wie die Unmittelbaren meinen – noch ›hinter‹ der Realität – wo die Vergeistigten sich suchen –, sondern in beidem in seltsamer Einheit, hinter und doch in der Realität, gefunden zu haben, wie man annähernd jene abstraktionslose Vergeistigung des leidend trotzigen Selbst-Bewusstseins charakterisieren müsste. Auch diese Selbstfindung ist nur eine scheinbare, weil Gott, in dem allein man selbst gegründet sein kann, weder ›in‹ noch ›hinter‹ der Realität anzutreffen ist. Weder die Endlichkeit des Daseins noch seine Unendlichkeit im Spiegel der Reflexion können einen Zugang zur Ewigkeit eröffnen. Der Verzweifelte befindet sich also in einer verzweifelten und damit hoffnungslosen Situation, deren Vielfalt Kierkegaard in dem ersten Abschnitt der KT auszumessen versucht. Ringlebens Fazit der ganzen Verzweiflungsreihe, ausgehend von der nun erreichten trotzigen Verzweiflung, lautet: Als höchste Form der Verzweiflung überhaupt hat sie alle anderen (voraufgehenden) Gestalten von Verzweiflung in sich aufgehoben. Indem diese auseinander dialektisch hervorgehen und als immer höherstufige einander ablösen – wie die Analyse dargestellt hat –, streben sie ihrem Kulminationspunkt zu, und d. h. der Reintegration in ihr eigentliches Wesen, das hier (ß) erreicht ist und das verborgene Bewegungsmotiv der ganzen Erscheinungsreihe aufdeckt und ausspricht (Kommentar, 205f). Eine solche hegelianisierende Interpretation scheint mir nicht haltbar. Die höchste Verzweiflungsform hat nicht die anderen vorangehenden Gestalten in sich aufgehoben bzw. integriert, weil der Verzweifelte in ihr zwar einerseits seine Verzweiflung in der phantastischen Unendlichkeit zu vergeistigen vermag, aber andererseits die Verzweiflungsgestalt in der Endlichkeit, wie sie in den niederen Verzweiflungsformen sich ausbildet, verliert. Die Vergeistigung der Verzweiflung geht mit der Verschlossenheit einher, durch die die Verzweiflung vom irdisch-wirklichen Dasein des Verzweifelten abgeschlossen wird, wo sie zuvor – freilich völlig geistlos und unsinnig – Raum nahm. Zuerst steht der Verzweifelte im irdisch wirklichen Dasein, aber hat sich darin gänzlich veräußert. Schließlich hat er sich gänzlich verinnerlicht, aber schwebt nur noch in der Phantasie. Und

Die Verfehlung der Daseinswirklichkeit

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im leidend trotzigen Fall hat er seinen ›Wahnsinn‹ ins Äußere hineinverkehrt. Eine Integration der niederen Verzweiflungsformen in die höchste findet nicht statt, sondern höchstens eine Metamorphose (vgl. aber 174 / 60,34–39). Auch ein ›Streben‹ der niederen Formen zu den höheren kann nicht festgestellt werden. Die unmittelbare und die reflexiv unmittelbare Verzweiflung hängen in sich selbst fest, die handelnd trotzige scheint ständiger Natur zu sein und die Dynamik der leidenden Verzweiflungsformen kann allzu leicht im Suizid abbrechen. Die höchste leidende Verzweiflung wird nur von den allerwenigsten erlitten. Theunissens weist in seinem Fazit der ganzen Verzweiflungsreihe auf die beiden Grundmöglichkeiten des Bewusstseins hin, entweder sich zu einer höheren Form der Verzweiflung fortzubewegen oder in einer Rückwendung den Schein zu reproduzieren, von dem die Bewusstseinsbewegung herkommt, den Schein der Unmittelbarkeit. Aber wie ordnet sich nach Theunissen diesen beiden Möglichkeiten die ›Möglichkeit‹ des Glaubens zu? Diese ›Möglichkeit‹ bezeichnet er [sc. Kierkegaard] nicht ausdrücklich als Möglichkeit, und zwar offenkundig darum nicht, weil sie in seiner Sicht keine Möglichkeit für das verzweifelte Individuum selbst sein kann, solange es noch unterwegs ist […] Der Seitensprung ist für den Verzweifelten selbst keine Möglichkeit, weil als ausgemacht gilt, was Kierkegaard ja auch klar genug ausspricht: Um zur Wahrheit zu gelangen, muß man durch alle Negativität hindurch (Begriff Verzweiflung, 153f, Hervorhebung im Original). Mit diesem gleichsam seitwärts sich ereignenden Ausbruch ist die Möglichkeit des Glaubens durchaus beschrieben. Kierkegaard bezeichnet sie nicht als Möglichkeit, weil der Glaube keine eigene Möglichkeit des verzweifelten Individuums ist, sondern allein eine Möglichkeit dessen, dem alles möglich ist. Der Weg, »den du gehen sollst«, ist wohl der Weg, auf dem man »durch diese Verzweiflung am Selbst zum Selbst kommen« muss – »aber darüber sollst du nicht verzweifeln« (179 / 66,31–34). Damit ist die Umkehr auf dem Weg markiert, auf dem der Verzweifelte ansonsten zu größerer Verzweiflung fortschreiten würde. Nur in einem solchen umkehrenden Zurückgehen gelangt man durch alle Negativität seiner Verzweiflung zur Wahrheit hindurch und nicht tiefer in die Negativität der Unwahrheit hinein. Die hegelianisierende Voraussetzung einer bis auf ihre dämonische Spitze getriebenen Verzweiflung, die dann in ihren Gegensatz, den Glauben ›umschlägt‹, ist Kierkegaard fremd. Hier besteht kein »Rest von Automatismus« (Theunissen, Begriff Verzweiflung, 154), sondern wer in seiner mehr oder weniger intensiven Verzweiflung durch und durch verzweifelt, ergreift den Glauben an Gottes Möglichkeiten.

10. Kapitel: Die Verzweiflungsformen in ihrem Zusammenhang

1.

Das Verhältnis der strukturtheoretischen zur bewusstseinstheoretischen Darstellung der Verzweiflung

Die Einheit des Kierkegaard’schen Gedankengangs wird durch den Zusammenhang zwischen den synthetischen, d. h. Endlichkeit / Unendlichkeit usw. verbindenden, und den bewusstseinsorientierten, zu größerer Bewusstheit aufsteigenden Formen der Verzweiflung unterstrichen. Er ist am deutlichsten bei den Anfangs- und Endformen verzweifelten Bewusstseins zu fassen. Kierkegaard kennzeichnet in seiner bewusstseinsorientierten Betrachtung die verzweifelte Unwissenheit als einen Zustand, der in sich selber unkenntlich ist. Er kann sich genauso gut als ›vollkommene Erstorbenheit‹ (160 / 43,26) wie als ›potenziertes Leben‹ (160 / 43,27f) zeigen. Letzterem ist von den synthetischen Formen der in seiner Wahrscheinlichkeit triumphierende, Möglichkeit und Notwendigkeit mischenden Spießbürger, der noch von keinem schrecklichen Ereignis heimgesucht wurde, zuzuordnen. Er badet sich im Wohlgefühl seiner eingetroffenen Wahrscheinlichkeiten und erfreut sich blühendster Gesundheit. Auf dem Höhepunkt der bewusstseinsorientierten Betrachtung der Verzweiflung dominieren die strukturellen Bestimmungen der Möglichkeit und Unendlichkeit. In dem höchst selbst-bewussten Trotz – und zwar in der handelnden Form (182 / 70,17ff) – lebt der Verzweifelte selbst nur noch in der Unendlichkeit seiner Phantasie und schöpft dort eine Möglichkeit nach der anderen. In dem Trotz leidender Form (183 / 71,33ff) hingegen geht die Bestimmung der Möglichkeit nicht mehr mit der bloßen Bestimmung der Unendlichkeit einher, sondern mit einer eigentümlichen Verbindung von Unendlichkeit und Endlichkeit. Die Unendlichkeit der Phantasie macht sich an einem endlichen Etwas fest, was den Verzweifelten am Ende des Bewusstseinsprozesses in einer dämonischen Weise ›konkret‹ sein lässt. Kierkegaard hat beide Verzweiflungstypen des Trotzes schon in seinem Ka-

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Die Verzweiflungsformen in ihrem Zusammenhang

pitel über die Verzweiflung der Möglichkeit vorgezeichnet, wenn er diese in zwei Formen aufteilt. Die wünschende, trachtende Form der Verzweiflung (153 / 35,10ff) ist dem Menschen der handelnden Selbstgestalt eigen, der diese nur in Gedanken projektiert. Kierkegaard nennt sein Trachten ein verzweifeltes Streben (183 / 70,36ff). In seiner scheinbar grenzenlosen Freiheit kann der Verzweifelte für sich selbst nun wünschen, was er will. Er stürzt von einer Hoffnung (153 / 35,12) in die nächste, wenn er immer wieder neu einen »meisterhaften Plan« (183 / 71,27f) seines eigenen Selbstverständnisses entwickelt. Die leidende, erleidende Selbstgestalt entspricht hingegen – wie schon erwähnt – dem Individuum, das schwermütig liebend eine Möglichkeit der Angst verfolgt.1 Der Mensch der leidenden Selbstgestalt hat Angst vor der Ewigkeit, die ihm sein Leid nehmen könnte, und doch liebt er es, vor der Ewigkeit zu sein, will »sich ihr aufnötigen« (187 / 75,36).

2.

Die Genese der Verzweiflungsformen, dargestellt am Verhältnis von Nichtselbstseinwollen und Selbstseinwollen

Kierkegaard hat die grundlegenden Formen des verzweifelten Selbstseinwollens und des verzweifelten Nichtselbstseinwollens wechselseitig aufeinander zurückgeführt.2 Jede Verzweiflung lässt sich aus dem Verhältnis von Selbstseinwollen und Nichtselbstseinwollen in ihrer Eigenart erschließen. Die einzelnen Verzweiflungsformen, die Kierkegaard im ersten Teil der KT darlegt, sollen deshalb im Folgenden aus der unterschiedlichen Zuordnung der beiden Grundformen, dem verzweifelten Selbstseinwollen und dem verzweifelten Nichtselbstseinwollen, in ihrer jeweiligen Charakteristik deutlich gemacht werden. Die unmittelbare Verzweiflung bedarf keiner Einordnung, weil es ihr noch an Willen fehlt. Aber schon die Übergangsform der Unmittelbarkeit mit Reflexion lässt sich in der Spannung von Selbstseinwollen und Nichtselbstseinwollen betrachten. Von ihr gilt: Man will nicht sein, was man selbst ist. Hier hat ein gewisser Grad an Besinnung auf sich selbst stattgefunden (169 / 54,28ff), aber es bleibt bei einem Erleiden seitens seiner selbst (170 / 55,8ff), auch wenn es kein bloßes Erleiden gegenüber dem Äußerlichen mehr ist und insofern doch eine gewisse Selbsttätigkeit dem Verzweifelten zuzusprechen ist (169 / 54,27f). Aber sie beschränkt sich darauf, das Selbstsein zu wahren (170 / 55,11ff), der Verzweifelte macht an sich selbst Zugeständnisse, aber will er selbst in seiner Verzweiflung nicht sein (170 / 55,32f). Seine Selbsttätigkeit verhindert, dass er in 1 Siehe hier S. 80f. 2 Siehe hier Kapitel 2.5.

Die Genese der Verzweiflungsformen

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einer solchen Verzweiflung über Vergangenes oder Zukünftiges wieder gänzlich in Unmittelbarkeit versinkt. Dennoch kann es dazu kommen, weil sich das Nichtselbstseinwollen noch nicht zum Selbst-Bewusstsein verstetigt hat. Eine Steigerung zum Selbstbewusstsein liegt in der Verzweiflung am Ewigen vor. Hier gilt: Man will nicht selbst sein, was man selbst ist. Der Verzweifelte ist »mit dem Verhältnis seines Selbst zu sich selbst« (179 / 66,6) beschäftigt und seine Verzweiflung nicht nur ein Erleiden, sondern auch eine Handlung (176 / 63,13f), in welcher der Verzweifelte als er selbst auftritt. Im Unterschied zur vorigen Form kann nun gesagt werden, dass »das Selbst über diese seine Verzweiflung verzweifelt« (176 / 63,17f). In diesem Nichtselbstseinwollen steckt auch der Stolz auf sich selbst, wenn man nicht selbst sein will, was man selbst ist. Sein Selbstsein liebt der Verzweifelte, auch wenn er es nicht selbst sein will. Potenziert sich die Verzweiflung nochmals, siegt die Selbstliebe über das Nichtselbstseinwollen. Der über sich selbst Verzweifelte wird in seinem Bewusstsein noch von der Leidenschaft des Nichtselbstseinwollens beherrscht, die das Zugeständnis des Stolzes, der Selbstliebe, immer wieder aus dem Bewusstsein drängt. Die Potenzierung der Verzweiflung führt zu einer Steigerung der Selbstliebe, die dem Verzweifelten schließlich als die eigentliche Begründung seines Nichtselbstseinwollens bewusst wird. Ihm kommt zu Bewusstsein, »weshalb er nicht er selbst sein will« (181 / 68,36). Seine selbstische Liebe zeigt sich als sein Verzweiflungsgrund und nimmt im Selbstseinwollen Gestalt an. Der Verzweifelte will sich nun selbst neu entwerfen und selbst sein, was er noch nicht ist. Auf diese Weise versucht er von seiner Schwäche abstrahieren, die aus seiner Verzweiflung über etwas Irdisches erwachsen ist und ihn zu einem Leidenden machte. Doch an was sich das verzweifelte Selbstsein eines Menschen einmal gehängt hat, davon kommt es nicht los. Über das Irdische zu verzweifeln hieß auf der vorigen Verzweiflungsstufe über sich selbst verzweifeln. Der Verzweifelte kann einen irdischen Verlust nicht ertragen, weil er darin einen Selbstverlust, ein ›Nichtselbstsein‹ zu erfahren meint. Auf dieses ›Nichtselbstsein‹ wird der Verzweifelte stoßen, wenn er nun sich selbst neu entwerfen will. Es steht seinem unbeschränkten Selbstseinwollen im Weg. Die Vereitelung seines Selbstseinwollens wird mit höchstem Trotz beantwortet, indem der Verzweifelte gleichsam gegen sich selbst handelnd dieses ›Nichtselbstsein‹ selber sein will: Man will selbst sein, was man selbst nicht sein will. Darin liegt das tiefste Leid, das sich der Verzweifelte zufügen kann. Der trotzig Leidende will das zu seiner Selbstgestalt machen, an dem er selbst gescheitert und worüber er nie hinweggekommen ist – nicht um es nochmals zu lösen zu versuchen, noch um gänzlich zu scheitern, sondern um sein Scheitern für sich zu bewahren, indem er durch sein Selbstseinwollen die gescheiterte Möglichkeit jeden Augenblick wiederholt – im tieferen Sinne. Der Mensch mit handelnd-trotzigem Selbst-Bewusstsein dagegen schließt das

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Die Verzweiflungsformen in ihrem Zusammenhang

Leid von sich nahezu aus. Er hat sich nie an einem irdischen Verlust festgemacht und kennt deshalb nichts, was er selbst nicht sein kann. Dieser Mensch begegnet sich in keiner Möglichkeit als gescheiterte Selbstgestalt. Deshalb muss hier der Grundsatz lauten: Man will selbst sein, was man selbst sein will. Aber man selbst wird nicht, was man selbst sein will. Die intendierte Selbstverdoppelung geschieht nicht wirklich, sondern wo der Mensch er selbst im Experiment erst werden will, bleibt er beim möglichen Selbstentwurf stehen oder, genauer gesagt, ›überholt‹ die Möglichkeit kurz vor ihrer anstehenden Verwirklichung durch eine neue Möglichkeit.

11. Kapitel: Rückblick

1.

Der Mensch in der Verzweiflung

Kierkegaard entwirft in KT eine von metaphysischen und metaphorischen Begriffen getragene Verzweiflungsstruktur, die mit Beobachtungen zum Phänomen der Verzweiflung verwoben ist. Die leitende Metapher für die Verzweiflung ist dem Titel des Buches entsprechend die Krankheit. Diese Metapher besitzt darin eine heuristische Funktion, dass sie beim Leser Vorstellungen weckt, in denen das allgemein bestehende Mißverständnis über das Wesen der Verzweiflung zu Tage befördert wird. Erst durch die Aufdeckung der Missverständnisse wird der Mensch empfänglich für eine Mitteilung über den wahren Charakter der Verzweiflung. Diese indirekte Hermeneutik des Wesens von Verzweiflung hat ihren Grund darin, dass Kierkegaard dem Menschen unterstellt, dass er nicht aufgrund ›unschuldiger‹ Unwissenheit über die Verzweiflung unkundig ist, sondern es zu seinem eigenen Verzweifeltsein gehört, dass er ›im Grunde‹ über seine Verzweiflung nichts wissen will. Wenn er sich doch mit seiner Verzweiflung beschäftigt, dann will er sich über sie beruhigen lassen. Kierkegaard will genau das Gegenteil erreichen. Er geht so vor, dass er den sich selbst täuschenden Leser seinerseits täuscht und enttäuscht. Er scheint zunächst des Lesers Vormeinung zu bestätigen, um sie dann um so gründlicher zu destruieren. Wenn Kierkegaard die Verzweiflung nach Joh. 11,4 als Krankheit zum Tode bezeichnet, dann weckt er die Vorstellung, es handle sich bei Verzweiflung um etwas, was den Menschen befallen kann und gegen das mit Hilfe geeigneter Heilmittel anzukämpfen wäre. Aber Kierkegaard enttäuscht in seinen Ausführungen diese dem Leser durchaus genehme Erwartung, indem die Verzweiflung als eine jegliches natürliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit übersteigende Krankheit erklärt wird. Die Krankheit der Verzweiflung ist nicht von einer herkömmlichen Vorstellung von Gesundheit abzugrenzen, sondern auch dort, wo der Mensch sich gesund wähnt, kann die Krankheit bestehen, und wo er sich an Verzweiflung krank fühlt, wird er sich über die Schwere seiner Krankheit täuschen. Die Ver-

282

Rückblick

zweiflungskrankheit lässt sich von dem Verzweifelten nicht in den Griff bekommen, weil diese Absicht ebenfalls nur aus Verzweiflung geschieht. Ein ähnliches Vexierspiel ist mit der Metapher des Todes zu beobachten. Die Krankheit zu Tode besteht in einer Bestimmtheit durch den Tod, deren Wesen nicht allein durch das Verständnis des leiblichen Todes zu erfassen ist, sondern den Einschluss des Lebens in den Tod bedeutet. Sie ist eine Form des Sterbens, bei der man nie endgültig stirbt. Auch mit diesen Metaphern von Leben, Tod und Sterben wird an der Täuschung des Verzweifelten über die Schwere seiner Krankheit gerührt. Der verzweifelte Mensch hat letztlich keine klare Vorstellung über Leben und Tod im geistigen Sinn, wie sie auf das Verständnis der Verzweiflung zutreffen. Kierkegaard hat die Verzweiflungsformen unter dem Gesichtspunkt ihrer synthetischen Struktur und unter dem ihrer Bewusstheit abgehandelt. Die synthetischen Gestalten der Verzweiflung, die der Endlichkeit, der Unendlichkeit, der Möglichkeit und der Notwendigkeit zeichnen sich durch ein eigentümliches Ineinandergehen der jeweiligen Synthesispole aus, die nicht zu wahrhafter Einheit gelangen, sondern in abgemilderter Form zusammengebracht sind. Daraus ergeben sich entsprechende Fehlformen der synthetischen Einheit. Der in der Unendlichkeit Verzweifelte verbindet Endlichkeit und Unendlichkeit zur Phantasie, die einerseits ihr Wesen von der Abstraktion der Endlichkeit bezieht, aber darin andererseits auch eine gewisse Form von Unendlichkeit erreicht. Der in der Endlichkeit Verzweifelte widmet sich ganz den irdisch-weltlichen Geschäften und bezieht aus ihnen sein Selbstverständnis. Aber auch in seinem Versinken in der Endlichkeit schleicht sich die Unendlichkeit ein, wenn er dem Gleichgültigen unendlichen Wert beimisst. Eine ähnliche Vermischung ist bei den synthetischen Verzweiflungsgestalten der Möglichkeit und Notwendigkeit zu beobachten. Der sich der Möglichkeit verschreibende Mensch hat von den Notwendigkeiten seines Selbstseins abstrahiert, was aber ihm es ›notwendig‹ macht, ständig von einer Möglichkeit zur nächsten zu hasten, um der wahren Notwendigkeiten nicht gewärtig zu werden. Der in der Notwendigkeit Verzweifelte ist wiederum der Möglichkeit nicht ledig, sondern seine Notwendigkeit im Sinne des Fatalismus oder Determinismus ist im Sinne einer ›erstarrten‹ Möglichkeit zu interpretieren, auf die sich der Mensch festgelegt hat. Sein Fatalismus ist eine Möglichkeit, die er gegen seine Verzweiflung ergreift. Die kümmerlichste synthetische Gestalt ist schließlich bei dem Spießbürger zu finden, der Möglichkeit und Notwendigkeit zur Wahrscheinlichkeit vermengt. Was wahrscheinlich ist, ist nicht gänzlich notwendig, aber auch nicht nur möglich. Seine Verzweiflung und seine Selbstgestalt bleiben ihm völlig verborgen. Kierkegaard zeigt auf, wie in keiner Form von Verzweiflung in wahrer Endlichkeit und Unendlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit gelebt wird, son-

Der Mensch in der Verzweiflung

283

dern sich diese Bestimmungen des Menschseins zu Karikaturen verzerren. Allein im Glauben schließen sie sich zum wahren Menschsein zusammen. Der Mensch ist darin unendlich, dass er außerhalb seiner selbst als er selbst in Gott gründet. Er ist darin endlich, dass er zugleich in der Zufälligkeit seiner Endlichkeit ganz bei sich selbst ist, dort, wo er nicht er selbst ist. In dieser Dialektik vollzieht sich das wahre Menschsein. Der Mensch sieht alle Möglichkeit für sich selbst bei Gott und bei sich selbst die Notwendigkeit des Untergangs. Auch unter dem Gesichtspunkt der Bewusstseinsintensität lassen sich die Verzweiflungsgestalten ordnen. Die im Bewusstseinsgrad ansteigende Reihe von Verzweiflungsformen beschreibt allerdings keinen kontinuierlichen Prozess eines sich entwickelnden Verzweiflungsbewusstseins, sondern die jeweils Verzweifelten hängen zumeist in ihrer Verzweiflungsform fest. Zwar durchlaufen sie innerhalb ihres Bewusstseinsgrades von Verzweiflung eine gewisse Entwicklung, ›pendeln‹ sich aber schließlich auf eben diesem Bewusstseinsgrad wieder ein. Man könnte wohl meinen, dass ein zum Verzweifeln bringendes Ereignis von außen die schon latente Verzweiflung eines Menschen offenbar machen müsste, aber der Bedrängte vermag diese Krise meistens mit einer gewissen ›Geknicktheit‹, Ohnmacht, Illusion, Verschlossenheit aber auch Ausschweifungen und anderem mehr abzumildern. Nur in wenigen Fällen kommt es zum Übergang in eine Form höheren Bewusstseins. Dieser Befund erklärt sich daraus, dass der Mensch ein stärkeres Bewusstsein seiner Verzweiflung gerade vermeiden will, und er vermag es auch, weil die ihn zu einer gewissen Verzweiflung bringenden äußerlichen Ereignisse im Grunde nicht zum Verzweifeln sind. Auch dort, wo es zum Übergang in eine Form höheren Bewusstseins kommt, bedeutet dies nicht viel mehr als einen Strategiewechsel im Umgang mit seiner Verzweiflung. Ein echter Fortschritt in Richtung einer Heilung ist keinesfalls gegeben. Auch wenn Kierkegaard immer wieder raffiniert suggeriert, es handle sich bei der Bewusstseinsreihe um einen Weg aus der Verzweiflung und sei es auch in dem Sinne, dass die Verzweiflung in ihrer tiefsten Ausprägung zuerst einmal wie ein Gegenstand zu Bewusstsein kommen müsse, um von ihr erlöst zu werden, so gehört dies nur zu den Täuschungen, denen ein Verzweifelter allzu gern aufsitzt. Der vermeintliche Prozess mündet in Wahrheit in den Selbstmord, vollendete Selbstphantasterei oder völlige Versteifung auf die eigene Qual. Der Eindruck, in diesem vermeintlichen Bewusstseinsprozess würde sich ein Selbstsein irgendwie entwickeln, beruht auf einer Täuschung. Auch bei der in höchstem Bewusstsein versuchten Selbstverdoppelung wird kein Selbst. Es bleibt bei bloßen Selbstvorstellungen, die halt- und grundlos sind. Der Ausweg aus der Verzweiflung liegt nicht in der Fluchtlinie jener Formen ansteigenden Verzweiflungsbewusstseins, sondern ist der eigentümliche Rückgang in das Verzweiflungsbewusstsein selbst. Der Mensch ist sich dann nicht mehr nur über sein verzweifeltes Selbstsein mehr oder weniger bewusst. Er stellt

284

Rückblick

sich seiner Verzweiflung, indem er selbst als und nicht über sein verzweifeltes Selbstsein durch und durch verzweifelt. Dieser Ausweg ist dem Menschen innerhalb der Konsequenz seiner Verzweiflung nicht möglich, aber er ist ihm in jeder Form und jedem Stadium der Verzweiflung möglich, wenn er zur wahren Reue und Buße über sich selbst kommt. Die Reue ist das vorbehaltlose Eingeständnis der eigenen Verzweiflung und des Selbstverlustes vor Gott.

2.

Die Frage nach sich selbst in der Verzweiflung

Zu den auffälligsten Charakteristika von Kierkegaards Verzweiflungskonzeption gehört ihre Verbindung mit dem Selbstbegriff. Wenn man in Verzweiflung fällt, wird die Frage nach sich selbst virulent. Damit gewinnt die Untersuchung über die Verzweiflung grundlegende anthropologische Bedeutung. In einer äußerst gedrängten Skizze am Anfang des ersten Abschnitts seines Buches hat Kierkegaard die notwendigen anthropologischen Bestimmungen bereitgestellt, durch die die existentielle Relevanz der Verzweiflung plausibel gemacht werden kann. Man könnte versucht sein, jene anfängliche Skizze anthropologischer Grundbestimmungen als eine Art Urstandslehre des Menschen zu bezeichnen. Doch der Beschreibung jenes »ursprünglich von Gottes Hand im richtigen Verhältnis« (132 / 12,15f) entlassenen Menschen haften keine paradiesischen Züge an, sondern sie ist allein auf strukturelle Merkmale reduziert. Die Ursprünglichkeit des Menschen ist nicht im zeitlichen, sondern im ewigen Sinne zu verstehen. Sie geht dem verzweifelten Menschen ständig aktuell verloren, weil er sich jeden Augenblick die Verzweiflung zuzieht. Der Glaubende wiederum gewinnt nicht einmal jene Ursprünglichkeit zurück, sondern gewinnt sie jeden Augenblick neu, indem er die Möglichkeit zur Verzweiflung zunichte macht. Es gehört zu den großen Verdiensten der Kierkegaard’schen Konzeption, dass in ihr die Geschöpflichkeit des Menschen in ständiger Aktualität gedacht wird.1 Kierkegaards Verbindung von Verzweiflungs- und Selbstbegriff ist darin überzeugend, dass sie eine interesselose, scheinbar objektive Innenschau des Menschen vermeidet, durch die man das Wesen des Menschen festzustellen hofft. Nicht die Evidenz eines in sich gefühlten Selbstbewusstseins leitet die Frage des Menschen nach sich selbst an, sondern ein in der Regel äußerliches Ereignis erschüttert das eigene mehr oder weniger gedankenlose Selbstverständnis und in dieser Hinsicht vollzieht sich dann der Versuch der Selbstklärung. Warum man selbst dem Widerfahrenen so großen Wert beimisst, ist für das eigene Selbstverständnis von entscheidender Bedeutung. Nicht der Zweifel 1 Allerdings bleibt festzuhalten, dass in KT die Soteriologie die vorherrschende theologische Kategorie ist (Deuser, Grundsätzliches, 123).

Die Frage nach sich selbst in der Verzweiflung

285

über die Außenwelt, sondern die Verzweiflung über sie wirft den Menschen auf sich selbst zurück. Man muss sich seiner selbst vergewissern, um nicht gänzlich verzweifeln zu müssen. Aber worin oder als wer oder was findet man sich? Kierkegaard entlarvt alle mehr oder weniger sinnvollen Selbstentdeckungen als bloße Abstrakta oder bodenlose Phantastereien. Eine ernstzunehmende Gestalt eines Selbst ist nirgendwo da. In diesem Befund liegt vielleicht die schärfste Metaphysikkritik Kierkegaards. Eine tiefer gehende Selbstvergewisserung des Menschen ist nicht möglich. Hatte sich die neuzeitliche Philosophie von der Frage nach Gott zu der nach dem Menschen zugewandt, so muss auch diese Frage unbeantwortet bleiben. Der Mensch weiß nicht, wer er selbst ist, aber kann von der Frage nach sich selbst auch nicht loskommen, weil er in seiner Verzweiflung an sie gekettet ist. Wo mit der Frage nach sich selbst die philosophische Besinnung einsetzen müsste, macht sich stattdessen eine raffinierte Psychologie breit. Der Mensch findet keinen Grund in sich, er arbeitet vielmehr in seiner Verzweiflung daran, mit psychologischer Einsicht seine Seele in Dunkelheit zu tauchen. Zu Recht ist in diesem Zusammenhang vom Nihilismus Kierkegaards gesprochen worden.2 Durch diesen Befund hat sich die metaphysische Philosophie nicht erübrigt, stellt sie doch die Struktur und Begrifflichkeit bereit, durch die jene nicht eindeutig greifbaren psychologischen Vorgänge in ihrem Sinn gedeutet werden. Die philosophische Frage nach sich selbst, dem eigenen Wesensgrund bleibt bestehen, aber der auf sie eingehende verzweifelte Mensch kann sich nur in sie verwirren. Der Mensch verstrickt sich mit der Frage nach sich selbst rettungslos in sich selbst, und dort, wo er sich von jener Frage abwendet oder sie erst gar nicht stellt, sinkt er zum oberflächlichen Lebemann und Spießbürger ab. Kierkegaards Verbindung von Verzweiflungs- und Selbstbegriff macht seine eigene Konzeption auf eigenartige Weise immun gegen den Vorwurf haltloser Metaphysik. Dabei sind die Annahme eines Selbst, der den ganzen Entwurf tragende Gedanke der Dialektik von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit und nicht zuletzt die Vorstellung des ›setzenden Anderen‹ in apodiktischer Weise von Kierkegaard in den fortlaufenden Text eingefügt, ohne sie irgendwie plausibel zu machen, ja machen zu wollen. Im dem Text stoßen bisweilen auf fast unüberbietbare Weise metaphysische Spekulation und einfühlsamste phänomenologische Deutung zusammen. Man geht sicher nicht fehl, in der Apodiktik philosophischer Aussagen die dogmatische Reflexion des zweiten Abschnitts antizipiert zu sehen. Nicht in dem Sinne, dass Kierkegaards philosophische Setzungen dogmatischen Rang beanspruchen wollten, aber indem sie auf das Dogma von Sünde und Vergebung indirekt hinweisen, teilen 2 Vgl. Theunissen, Begriff Verzweiflung, 65ff.

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Rückblick

sie auch dessen grundlegende Unabhängigkeit von menschlichen, auf Erfahrungen beruhenden Plausibilitätserwägungen.3 Wer aber nun versucht, die Aussagen zum Dasein des Selbst und dessen weitere Bestimmungen aufgrund mangelhafter empirischer Hinweise als Spekulation im schlechten Sinne, als bloße Vorstellungen zu erklären, verfängt sich nur allzu leicht in dem psychologischen Netz, mit dem Kierkegaard seine metaphysisch-apodiktischen Aussagen umgibt. Wenn man die Behauptung eines Selbstseins als völlig haltlos und als trügerischen Schein kritisiert, weist das im Sinne Kierkegaards nur darauf hin, wie sehr man sich seinen Selbst-Verlust vor sich selbst schon verdeckt hat. Wer die anthropologische Grunddialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit grundsätzlich bestreitet, zeigt im Sinne Kierkegaards, wie sehr er sich in seiner Verzweiflung schon auf die Endlichkeit oder Unendlichkeit versteift hat. Eine empiristische Kritik der Metaphysik Kierkegaards lässt sich genauso zum Hinweis für die Richtigkeit seiner Konzeption umdrehen. Kierkegaards Metaphysik ist deshalb so gut gegen das moderne Verdikt metaphysischen Denkens gewappnet, weil die ihr anhängende Psychologie primär negativen Charakter besitzt. Mittels der Psychologie soll nicht in erster Linie auf die Existenz des eigenen Selbstseins hingewiesen werden, sondern auf seine Nicht-Existenz, seinen Verlust, dem freilich das Selbstsein wie ein negativer Abdruck eingeprägt ist. Kierkegaard will das Ewige in einem Menschen nicht dadurch beweisen, dass man in seinem Bewusstsein etwas ZeitlosEwiges gewärtig werden könnte, sondern dass der Mensch verzweifelt ist. Verzweiflung bedeutet, dass der Mensch das ›Ewige‹ in sich ständig von sich abwirft, ja abgeworfen hat – ohne es loswerden zu können. In diesem Sinne ließe sich von einem Negativismus Kierkegaards sprechen.4 Der Verbindung von Psychologie und Metaphysik wird dadurch gefördert, dass die zentralen Begriffe, Selbst und Verzweiflung, einerseits in einem geistigen Sinne zu verstehen sind, andererseits auch für psychische Phänomene stehen. Der eine Mensch rafft sich aus Äußerlichem eine Selbstvorstellung zusammen und gibt damit einen Hinweis auf seinen wahren Selbst-Verlust. Ein anderer nennt sich in seiner Affektiertheit verzweifelt und gibt in seinem Missverständnis über seine Verzweiflung auch einen Hinweis auf seine wahre Verzweiflung. Seine höchste Ausprägung findet der auf die Wahrheit hinweisende Charakter der Verzweiflungsnaturen in den sog. dämonischen Formen der 3 Die Unabhängigkeit bedeutet keine Beziehungslosigkeit zwischen Dogmatik und Erfahrungen. Theunissen hat darauf hingewiesen, wie die logische petitio principii des theologisch spezifizierten Gesetztseins wohl nur im Glauben ihren letzten Erkenntnisgrund hat, aber doch in der Verzweiflung ihre Erfahrungsbasis (Anthropologie und Theologie, 189f). 4 Zur Diskussion um den Negativitätsbegriff Kierkegaards siehe Deuser, Phänomenologie der humanen Existenzverhältnisse, 273ff; zur Kritik an Theunissens Negativitätsbegriff vgl. Dietz, Neuerscheinungen, 85–88.

Die Verzweiflung als Heilmittel

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Verzweiflung. Gerade dort, wo der Mensch am weitesten von Gott abrücken will, kommt er ihm in seiner Gestalt in gewissem Sinn am nächsten. Dieser Eindruck wird in der Analyse der komplementären Sündenformen im zweiten Abschnitt noch vertieft werden.

3.

Die Verzweiflung als Heilmittel

Nicht nur Struktur, Gestalt und Formen der Verzweiflung wurden in der Interpretation zum ersten Abschnitt der KT behandelt, sondern auch Kierkegaards Ausführungen zur Rettung aus der Verzweiflung. Zwar will Kierkegaard in seiner Schrift die Verzweiflung laut Vorwort nur im Sinn einer Krankheit und nicht als Heilmittel verstehen, aber mit dem angefügten Hinweis auf die Dialektik jenes Begriffes hat er zugleich die Bedeutung der Verzweiflung als Heilmittel bestätigt. Aus den immer wieder eingestreuten Hinweisen, besonders aus den längeren Ausführungen im Rahmen der Verzweiflung der Notwendigkeit, kann das eigentümliche Verständnis der Verzweiflung als Heilmittel genauer erfasst werden. Entscheidend für die Verwandlung der Verzweiflung von einer Krankheit zu deren Heilmittel ist die Aufgabe der reflexiven Verzweiflungsstruktur durch den Verzweifelten selbst. Die Verzweiflung wird dadurch in ihrer krankmachenden Wirkung aufrechterhalten, dass der Verzweifelte – vom rein Unmittelbaren abgesehen, der noch in seinem vermeintlichen Glück lebt – sich von seiner ihm bewusstwerdenden Verzweiflung ständig distanzierte. Indem er auf unterschiedlichste Weise über seine Verzweiflung – und damit über sich selbst – verzweifelt, hält er sich die Verzweiflung in ihrer – im geistigen Sinn verstandenen – tödlichen Wirkung vom Leib. Dass er damit die heilsam-tödliche Wirkung abwehrt und stattdessen jene quälend-tödliche für sich aufrechterhält, ist ihm nicht bewusst. Das Schweben zwischen Leben und Tod, die immer wieder im Bewusstsein abgemilderte Verzweiflung weckt im Menschen ständig falsche Hoffnungen auf Besserung seines Zustandes. Der Mensch will im Grunde nicht wissen, wie verzweifelt er eigentlich ist, und glaubt sich dann auch nicht völlig verzweifelt. Die Krankheitsstruktur ist in sich so angelegt, dass man unmöglich durch sich selbst ihr entkommen kann. Aber es ist ebenso dem Verzweiflungsgeschehen unaufhebbar eingestiftet, dass der in ihm steckende Mensch der Verzweiflung entkommen will. Kierkegaard macht an einer Stelle die interessante Bemerkung, dass der Mensch die verzweiflungsbeendende Bewegung in die Verzweiflung hinein durchaus »in einem leidenschaftslosen Augenblick« (179 / 66,36) verstehen würde. Aber dieses abstrakte intellektuelle Verständnis hilft ihm nicht weiter, weil sein leidenschaftlicher Wille, der Verzweiflung zu entkommen, so viel stärker ist. Der leidenschaftliche Wille regiert auch den Verstand und der

288

Rückblick

Verzweifelte könnte jene Erklärung des rettenden Auswegs höchstens als ein besonders raffiniertes Mittel gegen die Verzweiflung missverstehen. In der Verzweiflung hat der Mensch, dem umfassenden Charakter der Verzweiflung entsprechend, alle seine Kräfte gegen sie gesammelt – und blockiert sich selbst. Er fürchtet die Verzweiflung und hat nicht den Mut, sich ihr zu stellen. Dieser Mut wächst dem Menschen erst zu, wenn er nicht sich selbst, sondern Gott vertraut, d. h. ganz von Gott her sein will und von ihm her sich verhält. In der von Gott geschenkten Kraft des Glaubens liegt der Mut zur durchgehenden Verzweiflung. Nur in diesem Geschehen wird die Verzweiflung heilsam gegen sich selbst gekehrt. Kierkegaard hat seinen Glaubensbegriff in hervorgehobener Weise gegen den Anspruch des Verstandes definiert: Glauben heißt den Verstand zu verlieren. Diese Formel wird erst richtig verstanden, wenn man klärt, in Hinblick auf was der Mensch seinen Verstand verlieren soll. Der Verstand ist zu verlieren im Hinblick auf das eigene Selbstverständnis. Jene durch die Reflexion erzeugten mehr oder weniger phantastischen Selbstvorstellungen sind abzulegen. Man gibt die Vorstellung oder Vorstellungen auf, in der oder in denen man sich ständig zu gründen suchte. Deshalb kann die Aufgabe dieser Vorstellung oder Vorstellungen nur bedeuten, dass man ›den Verstand verliert‹, weil man sich selbst nicht mehr versteht. ›Den Verstand verlieren‹ drückt in seiner umgangssprachlichen Fassung eine umfassende Orientierungs- und Haltlosigkeit des Menschen aus. Nur so gerät der Mensch auf heilsame Weise in die Verzweiflung. Der Verstand geht auf in einem leidenschaftlichen Bewusstsein seiner selbst und das heißt seiner eigenen Verzweiflung. Es wird nicht über die Verzweiflung reflektiert, sondern die Verzweiflung wird gleichsam ›unmittelbar‹ verstanden und ›gefühlt‹. Nur in dieser Situation kommt es zu der richtigen Glaubenshaltung, in der alles von Gott erhofft wird. Der Mensch nimmt Gottes Hilfe nicht als eine Möglichkeit für sich in Anspruch, sondern versteht sie als die einzige. Die heilsame Wirkung der Verzweiflung ist von besonderer Art. Heilmittel ist die Verzweiflung darin, dass derjenige, der wahrhaft verzweifelt, verzweifelt gewesen ist. »Sobald die Verzweiflung sich zeigt, zeigt sich, daß der Mensch verzweifelt war« (140 / 21,27f). Den Zustand einer heilvollen Verzweiflung gibt es also nicht. Der Gedanke einer felix culpa wird von Kierkegaard vermieden. Heilvoll ist die Verzweiflung nur dann, wenn sie überwunden ist. Diese Eigenart liegt in der tödlichen Wirkung der Verzweiflung begründet. Ist sie wahrhaft tödlich, hört sie selbst auf. Ihr Aufhören ist heilsam. Solange sie aber wirkt, ist sie ein Zustand zwischen Leben und Tod, eine Krankheit zum Tode. Es ist nicht die Wirkung der Verzweiflung, die heilt, sondern es ist die Wirkung des Glaubens, die die Verzweiflung zum Heilmittel erhebt. Der Glaube gibt den Mut, die Verzweiflung durch sie selbst hindurch zu Ende zu bringen.

Die Verzweiflung als Heilmittel

289

Die Ausformung des Glaubens als existentielle Grundhaltung, deren Erfordernis für alle Menschen gilt, weil jeder verzweifelt ist, mag für sich gesehen überspannt wirken. In der Tat gewinnt die Beschreibung der Verzweiflung und des Auswegs aus ihr ihre eigentliche Berechtigung erst durch die Ausführungen des zweiten Abschnitts der KT, in denen die tieferliegende Sündhaftigkeit der Verzweiflung gehoben wird. Ging es in dem ersten Abschnitt um das immanente Selbstverhältnis des Menschen, wird im zweiten Abschnitt der KT das Gottesverhältnis behandelt, das im gewissen Sinne ›externe‹ Selbstverhältnis des Menschen. Der Verzweiflung liegt die Sünde zugrunde.

3. Teil

Die Verzweiflung als Sünde

Kierkegaard hat im ersten Abschnitt der KT sowohl für den Verzweiflungszustand als auch für dessen Lösung durch den Glauben eine eindeutige christliche Kennzeichnung vermissen lassen. Der Satz des Glaubens, dass für Gott alles möglich sei, entspricht einer allgemeinen religiösen Wahrheit. Diese Abwesenheit spezifisch christlicher Dogmatik ist sachgemäß, nicht nur weil formal erst im zweiten Abschnitt der Schrift die Verzweiflung als Sünde behandelt wird, sondern weil zum einen der Mensch in der Verzweiflung durchaus eine Gottesvorstellung haben kann, aber für den christlichen Gott blind ist, und zum anderen die Erlösung aus der Verzweiflung nicht in der Annahme bestimmter christlicher Lehrsätze besteht. Gerade die Ineinssetzung von Gott selbst mit dem Glaubenssatz, dass alles möglich sei (156 / 38,35f), verhindert, dass der Glauben an Gott nicht auf das Fürwahrhalten einer dogmatischen Glaubenswahrheit absinkt, sondern von Gott wahrhaft nur in einer, die eigene Verzweiflung betreffenden, daseinsentscheidenden Weise gesprochen werden kann. Diese praktische Gottesbeziehung wird von Kierkegaard durch den »Atemzug des Gebetes« (156 / 38,32) unterstrichen. Schon in seiner Auslegung der Lazarusgeschichte zu Anfang der Schrift besteht die Errettung nicht nur von dem leiblichen Tod in ein endliches Leben, sondern auch von der Krankheit zum Tode zum ewigen Leben darin, dass ›Er‹, Christus, anwesend ist. Kierkegaard zieht die Geschichte zugleich in die Gegenwart des Lesers, wenn er hinzufügt, dass ›Er‹ »die Auferstehung und das Leben für jeden ist, der an ihn glaubt« (123f / 5,27 – nach Joh 11,25). Der Glaube ist christozentrisch ausgerichtet. Dass im ersten Abschnitt der Gottesbegriff im Vordergrund steht und die Gestalt Christi keine Rolle spielt, hält fest, dass in der Verzweiflung die Göttlichkeit Gottes helfen kann, das göttliche ›Alles ist möglich‹. Weil die Verzweiflung aber Sünde ist, kann die Hilfe des göttlichen ›Alles ist möglich‹ nur durch die Menschlichkeit Gottes erfolgen. Es ist der leidende Gott, Jesus Christus, der den Menschen nahezu anfleht, die Hilfe anzunehmen (199 / 86,18f). Die Verzweiflung basiert in ihrer Sündhaftigkeit auf einer Art unglücklicher Be-

294

Die Verzweiflung als Sünde

wunderung, die durch den Gottmenschen ausgelöst ist – und auch nur durch ihn überwunden werden kann. Diesen Zusammenhang genauer zu analysieren, wird zu den wichtigsten Aufgaben der weiteren Interpretation gehören. Im zweiten Abschnitt der KT setzt mit der Bestimmung der Verzweiflung als Sünde eine ausdrücklich theologische Betrachtung des Phänomens ein. In welchem genaueren Verhältnis stehen Verzweiflung und Sünde? Sünde ist: vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder verzweifelt man selbst sein zu wollen. Die Sünde ist demnach potenzierte Schwäche oder potenzierter Trotz: die Sünde ist die Potenzierung der Verzweiflung (191 / 77,4–8, Hervorhebung im Original).1

Diese grundlegende Eingangsbestimmung des zweiten Abschnitts nimmt die wichtige Frage nach seiner Zuordnung zum ersten Abschnitt auf. Der Sündenbegriff bietet mit dem Kriterium ›vor Gott‹ eine neue Qualifizierung der Verzweiflung, die schon bei den meisten Verzweiflungsformen irgendwie angeklungen ist. Die Sünde wird als potenzierte Schwäche oder potenzierter Trotz und damit als potenzierte Verzweiflung bezeichnet. Aber lassen sich die bisher vorgestellten Verzweiflungsformen überhaupt noch intensivieren? Es ist schwer vorstellbar, dass sich jener leidende Trotz auf dem Höhepunkt der Verzweiflung noch irgendwie steigern ließe. Die Potenzierung kann nur die bisherigen, sich potenzierenden Verzweiflungsformen wiederholen und zwar unter Auslotung des göttlichen Horizonts, in dem jede Verzweiflung sich ihrem Wesen nach befindet. Durch die Gottesvorstellung oder das Vor-Gott-sein wird die Sünde dialektisch, ethisch und religiös zur »qualifizierten« Verzweiflung, wie Kierkegaard betont (191 / 77,9–12). Die Gottesvorstellung ist von der Verzweiflungsvorstellung nicht ablösbar. Der erste Abschnitt der KT hat das Vor-Gottsein, das im Setzungsverhältnis seinen Grund hat und in Christus offenbar wird, nur ausgeblendet und sich auf das Selbstverhältnis konzentriert, indem vom Ewigen und Unendlichen gesprochen wurde, das der vom Anderen gesetzten ›Synthese des Selbst‹ eigen war. Wenn Kierkegaard im zweiten Abschnitt von einer »qualifizierten« Verzweiflung spricht, dann geschieht das im Hinblick auf die Abstraktion des ersten Abschnitts. Im Grunde qualifiziert die Gottesvorstellung die Verzweiflung erst zur Verzweiflung. Die Gottesvorstellung gibt der Verzweiflung nicht etwas hinzu, sondern legt den Grund der Verzweiflung frei, von dem her sie Verzweiflung ist. So wird im Folgenden gezeigt werden, dass die Vor-Gott-Bestimmung in ihrer jeweiligen Ausformung die Verzweiflungsformen des ersten Abschnitts vertieft. 1 Zur Bedeutung des Sündenbegriffs für das Christentum vgl. SKS 21, 101, NB7:53 / T 3, 78: »Dergestalt bleibt es doch das Sündenbewußtsein, was den Menschen ans Christentum bindet.«

Die Verzweiflung als Sünde

295

Zwar geht auch Ringleben von einer strukturellen Entsprechung zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt der KT aus, wenn der zweite dasselbe »noch einmal ganz anders« (Kommentar, 211) behandle. Aber seine Zuordnung des ersten Abschnitts zum zweiten ist eine lineare. Es handle sich um eine »Abfolge« (Aufbaulogik, 110) zweier Phasen. Erst am Abschluss der Erscheinungsgeschichte der Verzweiflung eröffne sich dialektisch »das Reich der Sünde« (Kommentar, 205). Der Verzweifelte sei nun als Sünder aufgeklärt, weil im Verzweiflungsprozess Gott aus seiner Verborgenheit herausgetreten sei (213). So wie sich im ersten Abschnitt die Verzweiflung in ihrem Wesen vertiefte, so die Sünde im zweiten Abschnitt – bis am Ende das »vollständige christliche Ärgernis« in seiner Spannung zwischen Sünde und Vergebung erreicht sei (271, siehe zu Ringlebens Interpretation auch Tietz, Freiheit zu sich selbst, 96f, Anm. 32). Eine solche lineare Folge von Verzweiflung zur offenbaren Sünde würde implizieren, dass der Mensch zuerst bis zur dämonischen Verzweiflung gelangen und dann nach immer schwerwiegenderen Sünden schließlich die Sünde wider den Heiligen Geist begehen müsste, wenn er der christlichen Wahrheit in Gänze ansichtig werden wollte. Konsequenterweise heißt es dann bei Ringleben zur Sünde wider den Heiligen Geist: »[I]n gewissem Sinne ist erst in dieser Form des Ärgernisses das Christliche am tiefsten und nach seiner Mitte verstanden« (Kommentar, 307). Eine so konstruierte Folge dürfte nicht haltbar sein. Für Kierkegaard gilt: »Die Sünde ist […] kein Durchgang, durch den man einmal hindurchmuß, denn man soll von ihr zurück« (SKS 10, 114 / CR, 107). In der vorliegenden Interpretation wird eine verschränkte Zuordnung des ersten zum zweiten Abschnitt der KT vertreten. Der erste Abschnitt thematisiert das Selbstverhältnis der Verzweiflung, während der zweite das mit dieser Verzweiflungsstruktur verschränkte Gottesverhältnis darlegt. Die im zweiten Abschnitt dargelegten Formen des Gottesverhältnisses sind also den Verzweiflungsformen in ihrer Erscheinungsfolge nicht nachgeordnet, sondern erörtern diese in ihrem zugleich mitgegebenen Gottesverhältnis. Einen weiteren Interpretationsvorschlag zur Zuordnung des ersten zum zweiten Abschnitt der KT hat Arne Grøn unterbreitet: Part Two does not give an independent analysis of despair but rather bases itself upon the analysis found in Part One. Given this, Part Two can be viewed as an interpretation of, or a commentary on, C.B in Part One. This explains the odd impression, which the reading of Part Two leaves behind. Even if Part Two were to say something new in relation to Part One, it does not function as an independent part. It does not stand up well when compared with Part One, wherein the crucial thing was already said (Relation, 45). Auch wenn durch die Beilagen der zweite Abschnitt lockerer als der Erste zusammengefügt ist, stellt er doch nicht einen bloßen Kommentar zum Kapitel C.B des ersten Abschnitt (»Die Verzweiflung unter dem Gesichtspunkt: Bewusstheit«) dar. Mit dem ersten Abschnitt ist das Entscheidende, zu dem die Sündengestalt der Verzweiflung zählen dürfte, noch nicht ausgesprochen und er vermag genauso wenig für sich bestehen wie der zweite – wenn man ihn im Sinne Kierkegaards interpretieren will. Es dürfte für Kierkegaard auch ganz und gar nicht untypisch sein, wesentliche Gesichtspunkte der inneren Logik seines Werkes gerade in einer »Beilage« (196–202 / 83–88) unterzubringen, wie sich im Folgenden noch zeigen wird.

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Die Verzweiflung als Sünde

Anton Bösl will mit Robert C. Roberts, Grammar of Sin, festhalten, daß die Rede von Gott bei Anti-Climacus inkonsistent ist. Während er [sc. Anti-Climacus] in Teil A »freely uses the word ›God‹« und sich der Verzweifelte bewußt sei, von Gott erschaffen zu sein, hebt er in Teil B neu an und bestimmt Verzweiflung als Sünde, indem er sie unter den Kriterien ›vor Gott‹ und ›Offenbarung‹ betrachtet (Unfreiheit und Selbstverfehlung, 212, Anm. 84). Bösl meint aber, diese ›scheinbare Inkonsistenz‹ ließe sich durch Kierkegaards dialektische Methode ausräumen, »wonach er (theologische) Prämissen macht, die er im Verlauf der Untersuchung einholt« (Ebd.). Mir scheint bei Kierkegaard an diesem Punkt keine Inkonsistenz zu bestehen, weil in Teil A, d. h. dem ersten Abschnitt, der Verzweifelte keineswegs seines Geschaffenseins von Gott in adäquater Weise bewusst ist. Ein solches Bewusstsein dürfte für Kierkegaard nur dann gegeben sein, wenn der Mensch auch wirklich durchsichtig in Gott gründet. Aber da er sich von Gott losgerissen hat, besitzt er nur eine verzerrte Gottesvorstellung, die auch dem Schöpfergott nicht gerecht wird.

Die Sünder, wie sie im zweiten Abschnitt der KTvorgestellt werden, wenden sich in ihrer Sünde fast ausnahmslos von dem Maßstab Gottes, ihrem ›Vor Gott sein‹, ab. In ihrem ›gottlosen‹ Selbstverhältnis wurden sie im ersten Abschnitt der KT beschrieben. Dass Kierkegaard sie dennoch im zweiten Abschnitt ›vor Gott‹ betrachten kann, liegt daran, »daß das Ziel und Maßstab dennoch – richtend dieselben bleiben, es offenbar machen, was er [sc. ein Mensch] nicht ist, dasjenige nämlich, was sein Ziel und Maßstab ist« (193f / 80,14ff, Hervorhebung im Original). Eine Ausnahme ist die Dichter-Existenz mit Richtung auf das Religiöse als Confinium – Grenzgebiet – zwischen Verzweiflung und Sünde. Kierkegaard wollte diesen Verzweiflungstypus ursprünglich zwischen den der Schwachheit und den des Trotzes stellen (KT, GW 24, 175, Anm. 65), aber der endgültige Ort zu Beginn des zweiten Abschnitts, wo die Gottesvorstellung eingeführt wird, passt besser. Die Dichter-Existenz ist einerseits verzweifelt und andererseits im Besitz der Gottesvorstellung, deren Maßstab sie sich in einem gewissen Maße aussetzt. Deshalb ist sie sich dunkel bewusst, »Sünde zu sein« (191 / 77,31). Die Verzweiflung ist also schon in gewisser Weise eine überwundene Verzweiflung, und dieser Mensch hat das Erste des Glaubens, er versteht eigentlich seinen Untergang, wenn er seiner Existenz in ihrer Sündhaftigkeit – dunkel – gewahr ist, und doch ist er nicht »im strengen Sinne ein Mensch des Glaubens« (192 / 78,35f), weil er Gott nicht uneingeschränkt die Möglichkeit für sein Leben sein lässt, sondern ihn ein bisschen nach seinem eigenen Bedürfnis umdichtet. Hier liegt das eigentliche Confinium: Der Dichter ist doch noch irgendwie von Gott abgekehrt und hängt zwischen Verzweiflung und Glauben.2

2 Zur Problematik der Dichter-Existenz vgl. Nordentoft, Kierkegaard’s Psychology, 307–322.

12. Kapitel: Die Gottesbeziehung in der Sünde

1.

Sünde als verfehltes Maß

Die Sünde als verfehltes Maß verstanden nimmt den Gedanken Kierkegaards auf, dass die bisherigen, im ersten Abschnitt getroffenen Bewusstseinsbestimmungen vom Selbst den Menschen als Maßstab haben. Das dort in der Verzweiflung entstandene Selbst-Bewusstsein hat der Mensch sich selbst zugemessen. Sein Maßstab ist er selbst als Mensch. Nun im zweiten Abschnitt wird das Selbst ›vor Gott‹ betrachtet und damit ist Gott sein Maßstab. Dieser Gedanke ist der Vorstellung des Gottesgerichtes verpflichtet, weil Gott mit seinem Maßstab die Sünde des Menschen misst und damit richtet.

a)

Der Mensch als sein eigener Maßstab

Kierkegaard will der Betrachtung des ersten Abschnitts im Übergang zum zweiten eine dialektische Wendung geben (193 / 79,20f). Worin könnte die dialektische Beziehung zwischen dem ersten und dem zweiten Abschnitt bestehen? So wie ein verzweifeltes ›Selbst‹, das im ersten Abschnitt behandelt wurde und »dessen Maßstab der Mensch ist« (193 / 79,24f), nur durch und vor Gott ein solches ›Selbst‹ sein kann – wie im zweiten Abschnitt dargestellt wird –, so kann ein solches ›Selbst‹ nur deshalb vor Gott in Verzweiflung sein – deren Formen der erste Abschnitt behandelte –, weil sein Maßstab der Mensch ist. Wenn das ›Selbst‹ den Menschen zum Maßstab hat, misst sich der Mensch selber (193 / 79,22–25).1 Er macht sich eine Vorstellung von sich selbst, die in den unteren Graden noch aus Anderem–Äußerlichem besteht, während in den hö1 Von einem allgemeinen Maß des Menschen, das der Verzweifelte für sich in Anspruch nimmt, ist allerdings der sokratische Gedanke zu unterscheiden, »wonach der Einzelne für sich das Maß ist« (SKS 4, 244 / PB, 37,22f).

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Die Gottesbeziehung in der Sünde

heren Graden sich die Selbstvorstellung des unmittelbar Äußerlichen entleert und man sich seines Selbstwollens bewusst wird. Im einen Fall ist es dann die Macht der menschlichen Phantasie, die den Maßstab zur Selbstwerdung bildet, im anderen Fall ist es die Tiefe des ›Pfahls im Fleisch‹, an der man sich orientiert. Charakteristischerweise ist dieser Maßstab in jedem Fall maßlos. So wenig sich der tätige Verzweifelte mit einem einmal entworfenen Maßstab – sei es dieser oder jener Plan – zufrieden gibt, sondern sogleich sich selbst in noch kühneren Experimenten erproben will, so maßlos betreibt der leidende Verzweifelnde seine Qual, wenn er sie verewigt. Diese Maßlosigkeit findet ihre Erklärung in der Unmöglichkeit, aus sich selbst heraus für sich selbst einen Maßstab entwickeln zu können. Wie soll das zu Messende zugleich über seinen Maßstab verfügen? Der Mensch kann sich selbst nicht genug sein, und daran zerbricht jedes endliche Maß.

b)

Die neue Qualität des ›Selbst‹ vor Gott

Was bedeutet es, wenn ein solches ›Selbst‹ direkt vor Gott ist?2 Als ›rein menschliches Selbst‹ (193 / 79,27f) ist der Verzweifelte noch nicht in seiner wirklichen Selbstgestalt gesehen, weil diese sich nicht vom Menschen her bestimmt. Seine Gestalt ist erst in ihrem Selbstsein erfasst, wenn sie direkt gegenüber Gott betrachtet wird. Kierkegaard wählt dafür den missverständlichen Ausdruck des ›theologischen Selbst‹ (193 / 79,29). Dieser Ausdruck wäre missverstanden, wenn die Selbstgestalt eines Menschen durch theologisches Wissen eine neue Qualifizierung erhalten solle. Der Ausdruck des ›theologischen Selbst‹ legt vielmehr nahe, dass der durch den Selbstbegriff bezeichnete Mensch nun in theologischer Perspektive, von Gott her, betrachtet wird.3 Die Qualität des VorGott-Seins wird dem ›menschlichen Selbst‹ nicht als neue Eigenschaft zugeeignet, die es dann für sich besitzt, sondern dieser Qualität kann der Mensch nur sich selbst gegenüber, an Gott, gewahr werden. Gegenüber Gott ist er menschliches Selbst. Aber indem der Mensch sein Selbstsein in der Verzweiflung als Maßstab für sich selbst nehmen will, entmenschlicht er sich. Er will nun erst zum ›menschlichen Selbst‹ werden. An diesem selbstgesetzten Ziel kann er nur verzweifeln, weil er nicht merkt, dass es ein Produkt seiner Verzweiflung ist. Wo der Mensch sich selbst als Maßstab setzt, muss er selber unmenschlich werden – vor allem zu sich selbst. Wo Gott der Maßstab des ›Selbst‹ ist, muss der Mensch sich 2 Im Sinne eines Gedankenexperiments hat Pattison versucht, den Kierkegaard’schen Ausdruck ›vor Gott‹ »in the spirit of Kant’s notion of regulative concepts« (Before God, 70) zu lesen. Zur theologischen Bedeutung der coram-deo-Relation als ontologischer Schlüssel für die Anthropologie siehe Ebeling, Dogmatik, 346–356. 3 Vgl. dazu die Interpretation bei Evans, Who Is the Other, 9.

Sünde als verfehltes Maß

299

nicht erst zum Menschen machen, sondern sein ›menschliches Selbst‹ ist im Gegenüber Gottes gegründet. Allein im Bewusstsein vor Gott bekommt der Mensch »unendliche Realität« (193 / 79,30f).4 Die »unendliche Realität« ist die neue Qualität, die dem ›Selbst‹ vor Gott betrachtet zugeordnet wird. Der Begriff der unendlichen Realität erinnert an die beiden Schritte in der Bewegung des Selbstwerdens. Der eine besteht darin, »in der Endlichmachung unendlich zu sich selbst zurückzukehren« (146 / 27,5f). Der dazu komplementäre Entwicklungsschritt liegt in dem Bewusstsein, »vor Gott dazusein« (193 / 79,32). In dieser Verunendlichung kommt der Mensch selbst unendlich von sich fort. Das Bewusstsein, vor Gott da zu sein, bedeutet nicht, dass man sich bloß eines Gottes bewusst ist. Ein gewisses ›Gottesbewusstsein‹ besaßen auch viele der Verzweifelten, die sich irgendwie als Christ verstanden. Eine explizite Leugnung Gottes fand in keinem Fall statt, auch wenn der trotzig Handelnde keine höhere Macht über sich anerkannte. Aber das Selbstbewusstsein vor Gott macht nicht Gott, sondern das eigene Dasein – vor Gott – bewusst (vgl. 193 / 79,30–33). Wahrhaft vor Gott zu sein lässt den Menschen unendlich von sich selbst fortkommen, ganz von Gott her sein, und ist so auch der Maßstab, an dem der Verzweifelte sich selbst in seiner Nichtigkeit reflektieren muss und in seiner Verendlichung unendlich zu sich selbst zurückkehrt. An Gott gemessen ist er nichts, und es bedarf eines großen Glaubens, diese Reflexion des Nichts aushalten zu können (142 / 23,21f). In dieser Reflexion kehrt man unendlich zu sich selbst zurück, weil man sich in der eigenen Nichtigkeit sehen lernt. So gründet das eigene Selbst in Gott, während man selbst ›nur‹ vor Gott ist. Man wird zu einem menschlichen Selbst, das ganz von Gott her bestimmt ist. Der Maßstab für das Selbst ist stets: dasjenige, demgegenüber es ein Selbst ist, das aber ist ja wieder die Definition dessen, was ein ›Maßstab‹ ist (193 / 80,4–7).

Kierkegaard hatte anfangs den Selbstbegriff als Verhältnis definiert (129 / 9,10). Selbstsein wurde als ein von einem Verhältnis abgeleitetes Verhältnis (130 / 9,32) beschrieben. Das erste Verhältnis wird nun als Verhältnis am Maßstab ausgelegt, durch den das ›Selbst‹ abgeleitet werden kann. Das ›Selbst‹ wird nicht an seinen Maßstab angelegt, sondern das ›Selbst‹ ist erst da, wenn es das rechte Maß eingenommen hat. Deshalb verbleibt auch das verzweifelte Selbst im Status eines bloßen Selbst jat± d}malim, das als solch bloße Möglichkeit gar nicht zu messen ist, weil es in keinem bestimmbaren Verhältnis zu seinem Maßstab steht, sondern als Missverhältnis von ihm völlig abweicht. 4 Vgl. SKS 20, 379f, NB5:23 / T 3, 7: »Die Sache ist die, in allem, was ich tun soll, sei es gegenüber dem geringsten oder dem vornehmsten Menschen, beschäftigt mich stets: daß ich vor Gott bin.«

300

Die Gottesbeziehung in der Sünde

Kierkegaard entfaltet dazu fast en passant einen eigenen ontologischen Ansatz (193f / 80,7–16).5 Ein jedes nicht-menschliche Ding, das über sein bloßes Dasein hinaus bestimmt werden soll, bedarf eines Maßstabs, an dem es als ein bestimmtes Etwas »gemessen« oder besser : bestimmt werden kann. Kierkegaard bindet sowohl das Verständnis jedes Dinges an das, woran es gemessen wird, als auch den Maßstab an das Ding, wenn der Maßstab wiederum qualitativ das ist, was das betreffende Ding ist. Das Ding ist per se schon immer mehr oder weniger sein Maßstab und sein Ziel.6 Es kann ihn nie gänzlich verfehlen. Wenn das unfreie Ding seinen Maßstab und sein Ziel völlig verfehlen würde, wäre das die Schuld seines Schöpfers, der das Ding nicht entsprechend seiner Qualität ausgestattet hätte. Jedoch sind einem ›Ding‹ aus der Welt der Freiheit Maßstab und Ziel nicht eingestiftet, sondern es ist auf seinen Maßstab und sein Ziel gründend bezogen.7 Nur in diesem Sinne hat der freie Mensch Maß und Ziel. Er ist in Gott gegründet und darin vor Gott in seiner – des Menschen – Qualität gestellt. In der Welt der Freiheit ist zwar auch jedes ›Ding‹ das, woran es gemessen wird, aber Ziel und Maßstab sind nicht qualitativ das betreffende ›Ding‹. Weil sein Maßstab und Ziel in einer über es hinausgehenden Relation bestehen, erlaubt die Struktur den Fall der Disqualifikation, ohne dass damit zugleich der Maßstab und das Ziel disqualifiziert wären. Einerseits sind Maßstab und Ziel von dem ›freiheitlichen Ding‹ nicht abzulösen, weil sie seine Qualität bestimmen, andererseits hat sich das ›freiheitliche Ding‹ für sich von seinem Maßstab und Ziel abgelöst, wenn es 5 Vgl. dazu auch Figal, Die Freiheit der Verzweiflung, 19ff. Die Rekonstruktion einer Ontologie bei Kierkegaard ist nur unter Vorbehalt möglich. »Ontologie ist in Kierkegaards Existenzkategorien gefragt, aber ihr Anspruch ist von der Sache her begrenzt, genauer : bezeichnet eine Grenzstelle. Die Offenheit für Weltverhalten und zugleich für die Realisierung von Kierkegaards Theologie hängen daran, Anspruch und Reichweite der Ontologie in diesem Sinne nicht zu einem universalen Konstitutionsprinzip zu überziehen« (Deuser, Philosophie, 131, Anm.28). Deuser sagt dies gerade im Hinblick auf den Versuch von Klaus Schäfer, dessen luzider Aufweis einer Ontologie in den Climacus-Schriften Kierkegaards gleichwohl Achtung verdient (Schäfer, Hermeneutische Ontologie in den Climacus-Schriften). Schäfer bemerkt auch zu der ›Ontologie‹ Kierkegaards: »Kierkegaards ontologische Überlegungen sind hermeneutisch: sie leben von dem Willen des jeweiligen Denkers, sich in seiner menschlichen Existenz zu verstehen. Sie sind sinnvoll nur als eine Form jener Reflexion, in der der Denker von seiner Existenz her sich in ihr denkend zu verstehen sucht« (Schäfer, Hermeneutische Ontologie bei Kierkegaard?, 444, Anm. 28). 6 Kierkegaards Ausführungen erinnern an den aristotelischen Entelechiegedanken. Aristoteles gebraucht den Begriff 1mtek]weia (wörtlich: sein Ziel in sich haben) für Aktivitäten, »die als Zielzustand des gesamten Dinges zu verstehen sind, das dabei tätig oder vollendet wirklich ist« (Buchheim, Aristoteles, 130, Hervorhebung im Original). 7 Insofern wird im Anschluss an Rm 8,19 auch von den ›Dingen‹ aus der Welt der Freiheit her auf das ›Harren‹ und ›Sehnen‹ der übrigen Schöpfung geschlossen, als »die Freiheit, indem sie dadurch gesetzt wurde, daß ihr Mißbrauch gesetzt wurde, einen Reflex der Möglichkeit und ein Zittern der Mitinteressiertheit über die Schöpfung geworfen hat« (SKS 4, 362 / BA, 60,38–61,2).

Sünde als verfehltes Maß

301

sich einen anderen Maßstab und ein anderes Ziel vorstellt, anstatt seinem Wesen gemäß vor Gott gestellt zu sein. Der falsche Maßstab besteht beim Verzweifelten im Irdischen, an dem er sich orientiert. Das Irdische vermag nicht sein Maß zu erfüllen, so dass in einem Fall der Mensch des Selbst jat± d}malim an irgendeiner irdischen Unvollkommenheit, an etwas Irdischem Anstoß nimmt, es in seiner Phantasie unendlich schwerer nimmt, als es ist, und darüber verzweifelt. Im anderen Fall fehlt ein konkreter Anlass und das ungenügende irdische Maß wird in experimentierender Weise durch die Phantasie für sich selbst verunendlicht, ohne dass der handelnde Verzweifelte dadurch sein endgültiges Maß finden könnte. Hat sich der Verzweifelte von seinem göttlichen Maßstab gelöst, so löst sich doch der Maßstab nicht von ihm, sondern bleibt richtend derselbe (193f / 80,14f). Wenn der Verzweifelte von dem Maßstab abweicht, wird zugleich auf seinem ursprünglichen Maßstab die Abweichung angezeigt und offenbar gemacht, was er nicht ist. Die in sich widersprüchliche Spannung zwischen dem Abweichenden und seinem Maßstab lässt sich nicht auflösen. Wenn der Abweichende sich als solcher disqualifiziert hat, dürfte konsequenterweise nicht mit dem Maßstab gemessen werden, weil er außerhalb seiner steht. Mit dem Maßstab lässt sich ja nur ihm Entsprechendes messen – wie man nur gleichartige Größen addieren kann (193 / 80,7f) –, und doch wird auch der sich Disqualifizierende noch mit eben diesem Maßstab gemessen – und gerichtet.

c)

Die Potenzierung des ›Selbst‹ im Verhältnis zum Maßstab

Dass der ansteigende Grad der Bewusstheit mit der steigenden Potenzierung der Verzweiflung einhergeht, gehört zu den Erkenntnissen des ersten Abschnitts der KT (157 / 40,15ff). Das Selbst-Bewusstsein beruht darauf, dass der Mensch eine Vorstellung davon bekommt, dass etwas Ewiges in ihm sei (vgl. 176 / 63,1–4), und steigert sich schließlich zu einer ewigen Selbstübernahme – was die Verzweiflung zur unendlichen Qual macht. Wenn Kierkegaard im zweiten Abschnitt der KT behauptet, dass sich das ›Selbst‹ gemessen am Maßstab für das ›Selbst‹ steigert (194 / 81,6f), kann damit keine weitere sich anschließende Potenzierung des Selbst-Bewusstseins gemeint sein. Aber mit der Selbstpotenzierung gemessen am Maßstab könnte dargelegt werden, was das ›verzweifelte Selbst‹ durch seine Schuld verloren hat. Das im ersten Abschnitt der KT dargestellte ›verzweifelte Selbst‹ hat sich in seiner Steigerung in einer bisher mehr oder weniger verborgenen Weise disqualifiziert. Die Disqualifikation, die Abkehr von dem ihn gründenden Maßstab, blieb dem Menschen verdeckt, weil er vermeintlich sich selbst, den anderen Menschen oder die eigene phantastische Vorstellung von sich selbst zum Maßstab ge-

302

Die Gottesbeziehung in der Sünde

nommen hat, was die Verzweiflung förderte. Indem der Verzweifelte das Irdische zum Maßstab nimmt, verliert er, wie sich nun zeigt, sich selbst in seiner von Gott gesetzten Selbstgestalt und damit Gott als Maßstab. Jedoch hält sich der Maßstab seinerseits, nun das ›verzweifelte Selbst‹ richtend, durch. Er macht offenbar, dass der Verzweifelte sich selbst in seiner Unendlichkeit verloren hat, weil ein ›Selbst‹ am Maßstab Gottes gemessen unendlich potenziert ist. Die Ausprägung des eigenen verzweifelten Selbstbewusstseins geht mit einer Intensivierung der Gottesvorstellung einher : »Je mehr Gottes-Vorstellung, desto mehr Selbst; je mehr Selbst, desto mehr GottesVorstellung« (194 / 81,8f).

Auch wenn diese gegenseitige Steigerung erst im zweiten Abschnitt der KT in ihren Stufungen dargestellt wird, lässt sie sich schon aus einzelnen Bemerkungen zu den Verzweiflungstypen des ersten Abschnitts ablesen. Der rein Unmittelbare und der nach ›außen‹ abgebogene Unmittelbare mit Reflexion sind Christen, wie man in Holland Holländer ist (171 / 57,1ff). Es handelt sich hier um eine völlig gleichgültige Gottesvorstellung, die dem Stand jenes Selbstseins entspricht. Der über sich selbst Verzweifelte ist in seinem Christsein reflektierter, wenn er sich »so halbwegs« (178 / 65,9) als Christ sieht und im übrigen die Geistlosigkeit der Kirche verachtet. Sein ›halbes‹ Christsein lässt auf einen leichten Anstoß schließen, den er am Gott der Christenheit genommen hat. Dazu bedarf es positiv gewendet einer ausgeprägteren Gottesvorstellung. Die Tendenz zur Ablehnung, die eine intensivere Gottesvorstellung impliziert, bestätigt sich bei dem trotzig Handelnden, der ›bewusst‹ keine Macht über sich anerkennt (182 / 70,20f), und erst recht bei dem trotzig Leidenden, der den Beweis gegen Gottes Güte führen will (187 / 76,2ff). Alle Menschen, auf die diese Verzweiflungsformen zutreffen, erfüllen die Grundbedingung, um sündigen zu können: »Erst wenn ein Selbst, als dieses bestimmte einzelne, sich bewußt ist, vor Gott dazusein, erst dann ist es das unendliche Selbst; und dieses Selbst sündigt nun vor Gott« (194 / 81,10ff). Der Begriff des unendlichen Selbst dient als qualitativer Maßstab für jedes Selbstsein. Das unendliche Selbstsein ist ein solches, weil es sich bewusst ist, vor Gott da zu sein. Was passiert, wenn der Mensch mit dieser Selbstgestalt sündigt? Er disqualifiziert sich, indem er sein Vor-Gott-sein zu verdunkeln und loszuwerden versucht. Er distanziert sich anfangs in seinem Bewusstsein von Gott, so wie er sich entsprechend von sich selbst distanziert. Gott ist ihm nicht mehr völlig, nur noch halbwegs bewusst. Schließlich ist er sich bewusst, dass es Gott in seiner Güte überhaupt nicht gibt. Ein solches Bewusstsein kann nur jemand haben, der ein sehr intensives Gottesbewusstsein besitzt – und in jedem Augenblick der Verzweiflung verliert. Ist dieses ›sündige Selbst‹ noch vor Gott da? Das ›sündige Selbst‹ ist nicht

Die Sünde als Ungehorsam

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wirklich da, weil es nur im durchsichtigen Bewusstsein vor Gott da ist. Doch zum Gericht hängt es noch am Maßstab, und es ist noch da als das, was es nicht ist. Das ›unendliche Selbst‹ bringt sich um sich selbst, wenn es sündigt.

2.

Die Sünde als Ungehorsam

a)

Der Ungehorsam

Ein wesentlicher Fortschritt über den ersten Abschnitt der KT hinaus liegt in der Deutung des verzweifelten Selbstseinwollens und Nichtselbstseinwollens als Ungehorsam (195 / 81,38–82,4). Sie werden als Ungehorsam interpretiert, weil sie ›vor Gott‹ geschehen. Der Mensch kreist in beiden Verzweiflungsformen um sich selbst und will sich selbst von der Verzweiflung befreien oder sich selbst vor ihr bewahren. Der darin liegende Ungehorsam wird erst dort offenbar, wo Gott als Maßstab und Ziel des ›Selbst‹ sich zeigt. In dieser neuen Perspektive muss gesagt werden, dass der Verzweifelte in einem tieferen Sinne sich selbst, wie er in Gott gegründet ist, loswerden will. Das ist sein Ungehorsam, der sein Verhalten zur Sünde macht. Die Beziehung des ersten Abschnitts der KT zum Zweiten kann nun ihm Hinblick auf die einleitenden Bestimmungen der Selbststruktur deutlicher gefasst werden. Im ersten Abschnitt wurde die Verzweiflung als das Missverhältnis in dem Verhältnis einer Synthese, das sich zu sich selbst verhält, behandelt (130 / 10,28–31). Nun wird das Missverhältnis nicht primär unter dem Aspekt gesehen, dass es das einer Synthese ist, die sich zu sich selbst verhält, sondern dass dieses Verhältnis ursprünglich von Gott gesetzt ist. Für die sich zu sich selbst verhaltenden Synthese bleibt im ersten Abschnitt der Maßstab der Mensch, weil dieser in seiner Selbstgestalt eben ein Selbstverhältnis ist. Dieselbe Synthese aber ist unter dem Maßstab Gottes zu betrachten, wenn man sie wahrhaft grundlegend, also wovon her sie gesetzt ist, beschreiben will. Wie das Missverhältnis das Verhältnis ›disqualifiziert‹, so reflektiert es sich unendlich im Maßstab Gottes.

b)

Verzweifelte Geistigkeit und göttliche Geistigkeit

Die Bestimmung der Sünde als Ungehorsam beinhaltet ihre Geistigkeit (195 / 81,38–82,8). Dieses Verständnis der Geistigkeit unterscheidet sich wesentlich von dem im ersten Abschnitt der KT gebrauchten Geistbegriff. Geist ist grundsätzlich im Sinne von Durchsichtigkeit zu interpretieren. Der Verzweifelte bekommt eine immer deutlichere Einsicht (163 / 47,28–31) in sein Tun und seinen Verzweiflungszustand. Dieser Erkenntnis verweigert er sich aber zugleich

304

Die Gottesbeziehung in der Sünde

so, dass er seine Situation in bewusster Konzentration auf seine inneren Möglichkeiten verdunkelt, um kein klares Bewusstsein von seinem verzweifelten Verhalten zu bekommen (163 / 47,31ff). Die Verdunklung, in die sich der verzweifelte Geist hüllt, wird nun von der Offenbarung als Sünde aufgedeckt und als Ungehorsam »durchgeistigt«. Die göttliche Geistigkeit liegt den höchsten Geistformen der Verzweiflung am weitesten entfernt. Wohl scheint der Verzweifelte nach dem zu streben, was von ihm gefordert ist. Er will er selbst sein und sich zu sich verhalten (130 / 10,37), indem er sich ständig neu in allerhöchster Aufmerksamkeit (182 / 70,23) entwirft und bereit ist, neu er selbst zu sein, oder indem er sich in höchster Leidenschaft in seinem ganzen Leid übernehmen will. In der höchsten Geistform hat man fast den Eindruck, dass nicht der Mensch ungehorsam gegenüber Gott ist, sondern Gott den Menschen nicht mehr hört. Dass der Verzweifelte sich selbst »[s]o weit wie möglich« (226 / 118,28) von Gott entfernt hat, ist für ihn am wenigsten einsichtig – mit solch kluger Bewusstheit hat er sich verdunkelt. Doch die Geistigkeit des göttlichen Maßstabs durchdringt das Dunkel und macht die Sünde offenbar. Die Sünde ist eine Bestimmung am Maßstab Gottes, der als einziger die Endlichkeit und Unendlichkeit des Menschen durchmessen kann. Gott gebührt das Höchstmaß an Geist.8 Der verzweifelt Vergeistigte ist darauf bedacht, das Äußere so indifferent wie möglich erscheinen zu lassen. Im Äußeren, aber auch gegen das Äußere hält er sich verschlossen. Der Maßstab des göttlichen Geistes durchdringt diese Verschlossenheit des Menschen nach außen und macht die Sünde eines ›geistlosen‹ Mordes oder Diebstahls, den ein im Unmittelbaren verharrender Mensch begangen hat, genauso offenbar wie die still verborgene Sünde eines vergeistigten Menschen. Angesichts der Sünde gibt es kein Innen und Außen, sondern nur die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch. Bei dem Mensch ist es auf jeden Fall der Eigenwille, »der entweder in geistloser oder in frecher Weise unwissend« (195 / 82,17f) über seine Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber Gott bleiben will. Man darf sich nicht dadurch irritieren lassen, dass Kierkegaard auch von einem geistlosen Eigenwillen spricht, während doch im ersten Abschnitt der KT die Geistigkeit mit der Erweckung des Willens einherging. In der Tat kann der Geistlose noch keinen echten Willen zur Selbst-Vorstellung besitzen, aber er kann einen anderen als seine Selbstgestalt wollen und darin eigenwillig handeln, ohne auch nur eine annähernde Vorstellung von sich selbst zu haben. Der Ei8 Die göttliche Geistigkeit, an welcher der Mensch im Glauben partizipiert, ist streng genommen die einzig wahre Geistigkeit: »Die Vergebung seiner Sünden zu glauben, ist die entscheidende Wende, wodurch ein Mensch Geist wird; wer sie nicht glaubt, ist nicht Geist« (SKS 27, 487f, Papir 409:1 / T 2, 242).

Die Sünde als Ungehorsam

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genwille ist nicht dem ›Selbstwillen‹ gleichzusetzen, den derjenige besitzt, der verzweifelt er selbst sein will oder nicht. Wer diesen Selbstwillen hat, der will »in frecher Weise« unwissend über seine Verpflichtung gegenüber Gott bleiben. Er ist nicht ›hellhörig‹ – und hier zeigt sich Kierkegaards tiefere Bedeutung von Gehorsam – auf Gottes Weisung (vgl. 195 / 82,23), sondern hört bewusst weg. Das Geist-Dasein ist in akustischem Sinne konstruiert (226 / 118,26f),9 und diesen Charakter hat es auch in der Verzweiflung nicht abgelegt. Der geistlos Unmittelbare hingegen kann Gott gar nicht vernehmen, weil seine Ohren vom Lärm der Welt voll sind (vgl. 143 / 25,9ff).

c)

Die Definition der Sünde

Was sind die entscheidenden Gesichtspunkte von Kierkegaards Sündendefinition?10 Es sind die Bestimmungen ›vor Gott‹ und ›Zustimmung des Geistes‹ zur Sünde (196 / 82,36–83,2). An dieser Stelle ist die genaue Unterscheidung des Geistbegriffs zu berücksichtigen. Der zur Sünde zustimmende Geist ist nicht der göttliche Geist, in dem der Mensch selbst gründet, sondern der verzweifelte Geist des Menschen, der aus dem Widerspruch zum göttlichen Geist entstanden ist. Der göttliche Geist könnte in seiner alles durchschauenden Klarheit nie der Sünde zustimmen. Der verzweifelte Geist hingegen will nicht die Durchsichtigkeit, sondern die Verdunklung. Er will sich nicht mehr durchschauen, sondern undurchsichtiger werden, um nicht seinem verzweifelten Wesen vor Gott ausgesetzt zu sein. Um dies zu erreichen, bedarf es allerdings eines großen Geistes. Der verzweifelte Geist eines Menschen ist im Widerspruch zur christlichen Offenbarung entstanden und steht von Anfang an als Schein von Durchsichtigkeit der offenbaren Durchsichtigkeit vor Gott entgegen. Das verzweifelte Geistsein ist in seiner Struktur schon in der geistlosen Ohnmacht angelegt, bei der man am wenigsten weiß, was Verzweiflung ist, aber schon verzweifelt (167 / 52,16–19), und am höchsten ausgeprägt im direkten Angriff gegen Gott, der in der Bewusstheit des ganzen verzweifelten Daseins vollzogen wird. Hier will der Verzweifelte seine vermeintliche Selbstdurchsichtigkeit – er hat sein Dasein als verzweifelte Qual durchschaut – offen gegen die von Gott kommende offenbare Durchsichtigkeit stellen. Er will zeigen, dass Gott nicht vollkommen Geist ist, 9 Dieses Verständnis des Geist-Daseins und damit des Selbstseins im Sinne eines akustischen Phänomens steht in enger Verwandtschaft zu der philosophischen Auffassung des Ich als eines akroamatischen Phänomens, für die der Bezug zum Anderen ebenfalls fundamental ist. Vgl. Riedel, Grund und Abgrund, 29. 10 Dass eine solche Definition letztlich etwas Unmögliches darstellt, ist bei Kierkegaard stets mitzubedenken. Vgl. SKS 4, 447 / BA, 161,30ff: »[…] es im Verhältnis zu Existenz-Begriffen stets einen sicheren Takt verrät, wenn man sich der Definitionen enthält«.

306

Die Gottesbeziehung in der Sünde

indem er ihm einen Fehler vorhält. Den Verzweifelten hat seine von Gott gegebene Durchsichtigkeit so verdunkelt, dass er in Gott selbst eine Verdunklung nachweisen zu können meint. Auf jeden ›natürlichen Menschen‹ in der Christenheit treffen die Merkmale der Zustimmung des Geistes zur Sünde und des ›vor Gott‹ zu, weil jeder ›natürliche Mensch‹ verzweifelt ist. Dass kein Mensch in seiner sündhaften Verzweiflung aus den Definitionskriterien herausfällt, will Kierkegaard am Glaubensbegriff prüfen (196 / 83,5–12). Als Gericht macht der offenbare Maßstab Gottes dem Menschen offenbar, was er nicht ist (193f / 80,14ff). Aber der Maßstab zeigt dem Menschen zugleich sein Ziel als Rettung, die im Glauben besteht. Denn der Maßstab Gottes sind seine unendlichen Möglichkeiten, durch die der Mensch gerettet wird. Glaubt er, dass für Gott alles möglich ist, hat er sich den Maßstab Gottes zu eigen gemacht, der ihm selbst in seiner Unendlichkeit entspricht. Indem aber der Mensch sich in seiner Sünde von diesem rettenden Ziel abwendet, macht er es zum Maßstab des Gerichtes über ihn. Der Maßstab Gottes entspricht also dem ›Maß‹ des Glaubens, das im Vertrauen auf die unendlichen Möglichkeiten Gottes besteht und das damit zugleich festlegt, was als Sünde zu messen ist. Der Glaubensbegriff hält in seinen entscheidenden Kriterien fest, dass der Mensch dadurch in Gott gründet, dass er in seinem Selbstsein zum einen er selbst ist (1) und zum anderen er selbst sein will (2) (196 / 83,10ff; vgl. 130 / 10,36–39). Aus diesen Kriterien lassen sich die Kriterien für die Sünde ableiten: (1) Im Gegensatz zum Glauben ist in der Verzweiflung der Mensch in seiner Selbst-Vorstellung nicht er selbst. Er gründet nicht selbst in Gott, aber ist schon mit Gott bekannt geworden, sonst hätte er keine Selbstvorstellung, durch die ›er selbst‹ nicht er selbst ist. Seine Gotteserkenntnis hat er in seinem ›Vor-Gott-sein‹, welches das eine Kriterium der Sünde ist. (2) Dass der Mensch in der Sünde aber gerade nicht vor Gott sein will, wird durch das zweite Kriterium der Sünde festgehalten. Der Mensch entscheidet sich in seiner Geistigkeit, die durch sein ›Vor-Gott-sein‹ gegeben ist, zum Nichtselbstsein in der Sünde. In ihr will der Mensch nicht das unendliche Selbst vor Gott, sondern für sich selbst sein. Kierkegaard weist darauf hin, dass der Gegensatz zur Sünde keineswegs in der Tugend zu suchen ist (196 / 83,13–17). Dass oft genug die Tugend als Gegensatz zur Sünde bestimmt wurde, liegt für ihn an dem geistlosen Missverständnis des Sündenbegriffs. Wo man die Sünde in Handlungen wie Mord, Diebstahl usw. auflöst, veräußert man sie und wird ihr den äußeren Gegensatz der Tugend hinzugesellen. Diese Anschauung ist im »Heidentum in der Christenheit« (160 / 43,39) verbreitet, das einen solchen Gegensatz auch nur aufzustellen vermag, weil es eigentlich ›vor Gott‹ steht. Sein Nichtwissen der Sünde in ihrer wahren

Sünde als Ärgernisnahme

307

Bedeutung ist für Kierkegaard im Unterschied zum reinen Heidentum ein mehr oder weniger bewusst verdunkeltes Wissen, das selbst zur Sünde gehört. Es ist ein Nichtwissenwollen. Auf den ›heidnischen Christen‹ trifft jene von Kierkegaard erwähnte, Augustin zugeschriebene Sentenz zu, dass die Tugenden der Heiden glänzende Laster seien (161 / 45,8–13). Nicht zufällig scheint dort die Tugend am größten zu sein, wo die Sünde am intensivsten ist. Der Leidende vermag noch aus der Tugend auszubrechen, aber der trotzig Handelnde verzaubert seine Umwelt mit seinen »experimentellen Tugenden« (183 / 71,20). Seine Selbstbeherrschung und Unerschütterlichkeit entheben ihn jeglicher Gefahr einer ›Sünde des Fleisches‹ (195 / 82,24), weil sein höheres, vergeistigtes Selbst-Bewusstsein das niedere Selbstsein vollständig im Griff hat. Der Tugendbegriff ermöglicht es dem Verzweifelten, die christliche Anschauung der Sünde so umzuformen, dass er sie scheinbar bejahen kann, ohne sich ihr in seiner Verzweiflung stellen zu müssen.11

3.

Sünde als Ärgernisnahme

a)

Die Möglichkeit des Ärgernisses

Kierkegaard versteht Sünde und Glaube als Gegensatz.12 Beiden Bestimmungen ist auf unterschiedliche Weise das Attribut des ›vor Gott‹ mitgegeben (196 / 83,27ff). Diese gemeinsame Bestimmung wird wiederum als das Absurde und das Paradox, die Möglichkeit des Ärgernisses bezeichnet (196 / 83,30f).13 Warum das Verständnis des ›vor Gott‹ absurd und paradox sein soll, so dass man Ärgernis daran nehmen könnte, ist zuerst nicht einzusehen. Es scheint im Gegenteil ein ganz natürlicher Gedanke für den Menschen zu sein, dass alles vor Gott dem Schöpfer geschieht und insofern alle Menschen vor Gott sind. In dieser

11 Zum Tugendbegriff bei Kierkegaard vgl. Roberts, Existence, Emotion and Virtue; Burgess, Patience and Expectancy, 217f. 12 Zum Verhältnis von Glaube und Sünde vgl. SKS 22, 51, NB11:86 / T 3, 234: »Sünde ist, daß man nicht glaubt. So ist es auch dargestellt in der ›Krankheit zum Tode‹.« 13 Dietz, Kierkegaard, 380ff, hat wesentliche Aspekte des Paradoxbegriffes für Climacus – und diese Bestimmungen haben auch ihre Gültigkeit für Anti-Climacus – zusammengefasst. Der paradoxe Charakter des Christentums wurzelt für Kierkegaard in der Gestalt Christi: »Der Satz, daß Gott in menschlicher Gestalt dagewesen ist, geboren worden ist, gewachsen ist usw., ist wohl das Paradox sensu strictissimo, das absolute Paradox« (SKS 7, 198 / AUN1, 208f). Henning Schröer, Denkform der Paradoxalität, 94, hat gezeigt, dass bei Kierkegaard alle wesentlichen Aussagen des Christentums in der Denkform der Paradoxalität ausgedrückt werden müssen und nur der Bereich der Anbetung grundsätzlich von dieser Denkform auszuschließen ist.

308

Die Gottesbeziehung in der Sünde

Selbstverständlichkeit dürfte auch für die meisten Verzweiflungstypen der Gedanke des ›vor Gott‹ zu bejahen sein. An der Vorstellung ›vor Gott‹ ist nichts Unvernünftiges oder Absurdes, solange man sich nicht in phantastischer Weise davon mitreißen lässt. Einen solch phantastischen Religiösen, dem das Vor-Gott-sein zu einem bloßen Rausch wird, hatte Kierkegaard schon vorgestellt (148 / 29,26–29). Kierkegaard bezeichnet das mit dem Vor-Gott-sein verbundene Ärgernis als »die Schutzwehr des Christentums gegen alle Spekulation« (197 / 83,33f). Sollen damit alle diejenigen getroffen werden, die den Gedanken ›vor Gott‹ spekulativ weiterdenken und zu einem ›System‹ machen wollen? Aber so böte die Unbegreiflichkeit des ›vor Gott‹ nur für Theologen und Philosophen ein Ärgernis, nicht aber für die übrigen Menschen in der Christenheit, die sich über diesen Gedanken des ›vor Gott‹ keine weiteren Gedanken machen. Aber wenn die Bestimmung des ›vor Gott‹ mit der Möglichkeit des Ärgernisses »das entscheidende Kriterium des Christentums« beinhaltet (196 / 83,29f), muss jeder Mensch in der Christenheit von der Möglichkeit des Ärgernisses bedroht sein.14 Die Möglichkeit des Ärgernisses besteht in der Forderung nach der Realität des Menschen vor Gott (197 / 83,35f). Wenn gefordert würde, dass der Mensch den Gedanken haben sollte, als Mensch Gott gegenüber da zu sein, wäre das Ärgernis schnell beseitigt. Aber von einem Menschen seine Realität einzufordern, impliziert, dass er nicht in irgendeiner geistlosen Vorstellung oder geistvollen Phantasie von sich leben soll. Damit der Mensch seine Realität doch nicht wieder als Gedanken missversteht, beschreibt Kierkegaard die Realität näher als die des einzelnen Menschen vor Gott (197 / 83,35ff).15 Als Gedanke genommen bedeutet die Bestimmung ›vor Gott‹ dem Menschen, dass er als Mensch – wie alle anderen Menschen – direkt Gott gegenüber ist. Sein Dasein vor Gott wäre so dem der anderen Menschen entsprechend. Damit könnte nicht der »unendliche Akzent« (193 / 80,3) auf das ›Selbst‹ fallen, wenn es vor Gott ist, sondern der Mensch wäre Gott gleichsam zuvorgekommen, indem er sich in seiner Phantasie verallgemeinert hätte. Jeder Mensch wäre da als Mensch vor Gott. Damit hätte er Ärgernis an der Bestimmung ›vor Gott‹ genommen, die keine Gedanken-, sondern eine Realitätsbestimmung ist. Die Spekulation will das Vor-Gott-sein ›in den Kopf bekommen‹ (vgl. 197 / 84,2f) und so das Ärgernis beseitigen, das in der Unbegreiflichkeit der Realitätsbestimmung liegt. Mit der gedanklichen Fixierung des Vor-Gott-Seins würde auch der Sündenbegriff sein Proprium verlieren. So wie der einzelne Mensch nur noch als der Mensch in allgemeiner Form vor Gott stände, würde die Sünde des Einzelnen auf 14 Vgl. zum Begriff des Ärgernisses Schüepp, Paradox des Glaubens, 107–116. 15 Zu den verschiedenen Facetten von Kierkegaards Begriff des Einzelnen vgl. Tschuggnall, Spießbürgerlichkeit, 159–180; und Fischer, Subjektivität und Sünde, 107ff.

Sünde als Ärgernisnahme

309

die Sünde überhaupt zurückgeführt. Eine Tat würde daran gemessen, ob sie dem Idealbild eines Menschen entspräche. Die Abweichung davon qualifizierte die Tat als Sünde. Die Sünde des Einzelnen würde an einem allgemeinen Abstraktum Mensch abgelesen und dementsprechend auf eine allgemeine Vorstellung von Sünde reduziert. Der Maßstab bestände in der Vorstellung eines allgemeinen Menschen, der an Stelle des in Gott gegründeten konkreten Menschen träte. Die beschriebene Verflüchtigungstendenz zeigt sich besonders beim trotzig Handelnden, der alle Möglichkeiten für sich in Anspruch nehmen will – entsprechend einem menschlichen Idealbild, bei dem keine sich bietende Möglichkeit unerfüllt bleiben darf. Die auf den Sündenbegriff schon indirekt verweisende höchste Forderung, die im ersten Abschnitt lautete, dass der Mensch Geist sein soll (vgl. 141 / 22,36f), wird im zweiten Abschnitt aufgeklärt als die Forderung, vor Gott zu sein. Der einzelne Mensch soll die ihn erhebende Realität haben, mit seiner Sünde vor Gott zu sein (vgl. 197 / 83,35–84,2). Damit ist der Kern des Ärgernisses freigelegt. Der Mensch scheut gleichsam nicht die Dunkelheit, sondern das Licht, in das ihn Gott vor sich stellt. Das aufgedeckte unendliche Selbstsein vor Gott ist ihm zu viel. Das eigentliche Ärgernis wird in der Verzweiflung durch ein fälschliches Ärgernis verdeckt, durch einen Anstoß, der aus der mehr oder weniger bewusst betriebenen Verdunklung seiner selbst und Gottes resultiert. Das fälschliche Ärgernis ist kein bloßes Missverständnis, vielmehr gehört es zum eigentlichen Ärgernis, dass wer an etwas Anstoß nimmt, zugleich diesen Anstoß verdeckt. In der Sünde verdunkelt man die Bestimmung ›vor Gott‹ und nimmt dann an der Dunkelheit seiner selbst und schließlich Gottes Anstoß. Diese Tendenz ließ sich deutlich bei den höheren Verzweiflungsformen beobachten. Der Mensch mit leidend trotzigem Selbst-Bewusstsein hat schließlich die Bestimmung ›vor Gott‹ in das genaue Gegenteil verdunkelt und nimmt an diesem Gegenteil Anstoß. Gott will ihn nicht erheben, sondern in die Qual niederdrücken. Man bleibt allein und Gott fern. Deshalb will dieser Verzweifelte in seinem Trotz das erreichen, was er recht verstanden jeden Augenblick durch Gott sein könnte. Er will vor Gott sein, aber um sich ihm als göttlichen Fehler aufzunötigen, Gott des Versagens zu überführen.

b)

Die christologische Bedeutung des Ärgernisses

Die unbedingte Forderung der Ewigkeit (137 / 18,19), die gemäß den Ausführungen des ersten Abschnitts der KT wie ein unerbittlicher Zwang auf dem Verzweifelten lastete, nimmt dort, wo der Mensch direkt gegenüber Gott betrachtet wird, eine völlig andere Gestalt an:

310

Die Gottesbeziehung in der Sünde

[…] um dieses Menschen willen kommt Gott auf die Welt, läßt sich gebären, leidet, stirbt; und dieser leidende Gott, er bittet und fleht diesen Menschen nahezu an, doch die Hilfe anzunehmen, die ihm angeboten wird! (199 / 86,16–19).

Die unbedingte Forderung ist nun ein Bitten und Flehen des leidenden Gottes, der nicht in Ewigkeit über dem Menschen thront, sondern in Jesus Christus als Mensch dem Menschen gegenübersteht.16 Die Strenge der Forderung, die eine Strenge für den sein muss, der Ärgernis nimmt, verwandelt sich in ein freundliches Angebot der Hilfe. Die wahre Gestalt der göttlichen Zuwendung zum Menschen wird nur dem Menschen klar, der sich dem eigentlichen Grund des Ärgernisses stellt. Dagegen wird derjenige, der sich mit der Strenge der Forderung konfrontiert sieht, daran Ärgernis nehmen, dass sie so streng ist. Dass die unbedingte Forderung im Grunde eine Bitte des leidenden Gottes ist, versteht der Mensch nur dort, wo er sich als Einzelner auf die vertrauliche Zuwendung Gottes einlässt. Die Verwandlung der unbedingten Forderung in eine nahezu flehende Bitte beruht auf der christologischen Wende, die mit der Bestimmung ›vor Gott‹ gegeben ist. Der höchst Verzweifelte hat nur die Karikatur eines unendlich weit entfernten Schöpfergottes vor sich, eines »Gott[es] im Himmel« (185 / 74,5) mit seinen Engeln, dessen Güte offensichtlich in seinem, des Verzweifelten Dasein versagt hat. Dass noch in seiner Qual Gottes Güte ihn nicht verlassen haben soll, also er noch in seiner Qual, die ihm sein ›Pfahl im Fleisch‹ bereitet, auf eine Möglichkeit der Hilfe hoffen kann, muss für ihn das Absurdeste und Anstößigste sein, gegen das sich sein ganzer Wille stemmt. »Denn auf eine Möglichkeit der Hilfe hoffen, erst recht kraft des Absurden, wonach für Gott alles möglich ist, nein, das will er nicht« (185 / 73,7ff). Er hat den leidenden Gott, vor dem er ist, zu einem Gott verdunkelt, der ihm unheilbares Leid zugefügt hat. ›Kraft des Absurden‹ zu hoffen hieße, sich auf die Hilfe des leidenden Gottes einzulassen und angesichts dieses leidenden Gottes zu glauben, dass für Gott alles möglich ist.17 Aber in seinem Ärger erkennt der trotzig Leidende den seiner Macht entkleideten Gott nicht, der ihm seine Hilfe anbietet, sondern er sieht nur einen ›hohen‹ Gott, der sich sehr nachlässig um seine Schöpfung kümmert. Er, der sich von seiner rettungslosen Not überzeugt hat, müsste ja ›seinen Verstand aufgeben‹, um einem solchen Gott zu trauen. Und genau das müsste er, um dem leidenden Gott 16 Kodalle, Eroberung des Nutzlosen, 101, bemerkt treffend mit Verweis auf SKS 24, 301, NB23:202 / T 4, 305: »Mut zur Schwäche ist die eigentliche Stärke und Kraft des Geistes«. Zur Bedeutung des erniedrigten Christus in EC siehe Fischer, Christologie des Paradoxes, 78–86. Zu Kierkegaards Verständnis des Heilshandelns Jesu Christi vgl. auch Gerdes, Christusbild, 83–88. 17 Vgl. SKS 12, 50 / EC, 43: »[U]m an ihn zu glauben, muß man bei der Erniedrigung anfangen«; vgl. auch SKS 20, 394, NB5:54 / T 3, 13: »Hier auf Erden darf er niemals anders dargestellt werden als in seiner Niedrigkeit, auf daß jeder sich ärgern oder glauben kann.«

Sünde als Ärgernisnahme

311

zu glauben und zu vertrauen. »Wahrhaftig, wenn es etwas gibt, worüber man den Verstand verlieren kann, dann doch wohl hierüber!« (199 / 86,20f).18 Kierkegaard nimmt an dieser Stelle wieder die entscheidende Formel auf, mit der er im ersten Abschnitt den Glauben umschrieben hatte: »[G]lauben heißt eben den Verstand zu verlieren, um Gott zu gewinnen« (154 / 36,15f), und gibt ihr genauere Konturen. Man soll den Verstand nicht über irgendeine weltliche Angelegenheit verlieren, sondern über Gott und sein Handeln. Es ist das Einzige, über das man wahrhaft seinen Verstand verlieren kann. Diese Verstandesaufgabe (sacrificium intellectus) geschieht bei jedem Menschen, der freimütig und unbefangen sein Nicht-Verstehen im Glauben aushält. Seinen Verstand angesichts des göttlichen Paradoxes in Jesus Christus behalten zu wollen und damit das Außerordentliche in seinen Kopf zu ›zwängen‹, hieße, den Weg der Spekulation zu beschreiten, in der nicht der Einzelne ›vor Gott‹ ist, sondern höchstens alle Einzelnen in der Gestalt des Geschlechtes (197 / 84,5) vor Gott stehen.19 Dem Sich-Ärgernden ist das christologische Paradox zu hoch und will nicht ›in seinen Kopf‹ (199 / 86,23f), aber er besitzt nicht den demütigen Mut, dies einzugestehen. Je mehr der Mensch Ärgernis an dem Außerordentlichen nimmt, desto mehr erscheint es ihm, als wollte es ihn ›ersticken‹ (199 / 86,27). Diese Metapher schließt sich an das im ersten Abschnitt gebrauchte Bild der Atmung an. Dem Menschen erscheint es in seinem Ärger immer deutlicher, dass das Absurde ihm jede Möglichkeit nehmen müsste, »und die Möglichkeit ist für das Selbst, was der Sauerstoff für die Atmung ist« (155 / 38,29f). Sein Ärger hat das Angebot der göttlichen Möglichkeit in sein Gegenteil gekehrt, weil es ihn eigentlich nicht ersticken, sondern atmen lassen will. Ersticken würde nur seine verzweifelte Selbstgestalt – diese muss er notwendig verlieren, um sein in der Möglichkeit Gottes gegründetes Selbstsein zu finden. Aber die außerordentliche Sache des leidenden Gottes loswerden wollen heißt weiter zu verzweifeln. Die ›Formel für alle Verzweiflung‹ (135 / 17,4): verzweifelt sich selbst loswerden wollen, heißt nun, wo das ›Selbst‹ eines Menschen direkt gegenüber Gott betrachtet wird, die Sache Christi loswerden wollen.

c)

Das Ärgernis als unglückliche Bewunderung

Der Begriff des Ärgernisses wird von Kierkegaard noch genauer gefasst. Der sich Ärgernde bewundert Gottes Tun an ihm, wenn er um seinetwillen auf die Erde 18 Vgl. dazu SKS 20, 332, NB4:95 / T 2, 214, Hervorhebung im Original: »Christi Leiden läßt sich natürlich nicht begreifen, da das Göttliche und Menschliche zusammen geglaubt werden müssen, und das vermag nur der Glaube.« 19 Freilich ist auch zu sagen, »daß nicht jeder, der nicht seinen Verstand über dem Christentum verlor, dadurch beweist, daß er ihn hat« (SKS 7, 507 / AUN2, 268).

312

Die Gottesbeziehung in der Sünde

kommt, sich gebären lässt, leidet und stirbt. Aber in seiner Bewunderung ist der Mensch neidisch auf das, was er dadurch selbst sein soll. Sein Neid richtet sich letztlich gegen sich selbst (199 / 86,29f). Eine solche Beschreibung von Neid ist ungewöhnlich. Normalerweise beneiden wir andere Menschen. Wie kann sich der eigene Neid gegen einen selbst richten? Es ist nur möglich, weil der Mensch zu sich selbst im Verhältnis steht und selbst in Gott gründet. Im Ärgernis distanziert sich der Mensch von seinem in Gott gegründeten Selbst, für das Gott selbst in die Niedrigkeit geht. Auf dieses ihm ureigenste Selbstsein richtet sich der Neid des Menschen. Er möchte sich selbst so helfen können, wie ihm selbst von Gott geholfen wird. Er ist als natürlicher Mensch ›engherzig‹ (199 / 86,31), weil er sich nicht gefallen lassen kann, dass Gott ihn wegen seiner sündhaften Schwäche nicht bestraft, sondern ihm Hilfe anbietet. So wie der Grad der Verzweiflung mit der Intensität der Leidenschaft zunimmt, steigert sich auch der Grad des Ärgernisses. Durch den Begriff des Ärgernisses wird die Verzweiflung in anderer Perspektive, im Hinblick auf das direkte Gegenüber Gottes, formuliert. Bedeutet die Verzweiflung dann im Grunde Ärgernis nehmen? Das Ärgernis liegt nicht in der Verzweiflung, sondern die Verzweiflung ist in gewisser Weise ein Teil des Ärgernisses. Im Unterschied zur Verzweiflung ist der Bezugspunkt des Ärgernisses nicht man selbst; er ist Gott in seiner Außerordentlichkeit. Um Gott nicht dankbar anbeten zu müssen, wendet sich der Mensch in seinem Neid gegen sein eigenes Selbst, dem Gott zur Hilfe kommt. Er wendet sich auf sich selbst zurück und distanziert sich von sich selbst. Der Mensch will sich das Außerordentliche nicht gönnen, das Gott ihm zugedacht hat (199 / 86,32f). Aber ohne dieses Außerordentliche bleibt nur der Weg in die Verzweiflung. Doch zuzugeben, dass er diesen für ihn leidenden Gott bewundert, ist für den Verzweifelten schlimmer als die größte Verzweiflung. Die Wendung gegen sich selbst löst die Verzweiflung aus, in welcher der Mensch sich selbst in der Verzweiflung nicht sein will und doch eigentlich er selbst sein will.20 Die christliche Definition der Sünde impliziert das Ärgernis, weil sie sowohl die Wendung hin zu sich selbst – die Sünde ist Verzweiflung – als auch gegen Gott – die Sünde ist vor Gott – festhält. Die Relation der Verzweiflung, des Selbstverhältnisses und die Relation zu Gott in der Sünde, die Relation

20 Um Christ zu werden, darf der Mensch nicht über sein verzweifeltes Selbstsein verzweifeln noch an Gott Ärgernis nehmen; »es gilt, durch Verzweiflung und Ärgernis hindurch (die zwei Zerberusse, die den Zugang zum Christwerden bewachen) den Glauben zu gewinnen« (SKS 7, 339 / AUN2, 77).

Sünde als Ärgernisnahme

313

des Gottesverhältnisses oder Grundverhältnisses sind untrennbar miteinander verbunden.21

d)

Der Neid im Ärgernis

Kierkegaard versucht die Beziehung zwischen Ärgernis, Bewunderung und Neid weiter zu verdeutlichen (199 / 87,10–16).22 Neid geht ein bestimmtes Gespür voraus. Der Bewundernde spürt, dass er in seiner Hingabe an etwas Hingebungswürdiges nicht glücklich werden kann. Das ehrliche und unbefangene Geständnis, dass die Hingabe ihn nicht glücklich (199 / 87,14f), sondern durch und durch verzweifelt macht, wäre noch die Entscheidung gegen den Neid und für die Bewunderung. Aber je bewusster dem Menschen wird, dass für ihn die Hingabe ein Unglück wäre, desto intensiver wird sein Neid. Dem Neidischen verändert sich dabei die Sprache: So spricht er denn eine andere Sprache; in seiner Sprache heißt es nun, das, was er eigentlich bewundert, sei nichts, sei etwas Dummes und Peinliches und Seltsames und Überspanntes (199f / 87,16–19).

Er meint eigentlich Bewunderung, aber sagt Verachtung – aber nicht in der Weise, dass dieser Mensch sich falsch ausdrücken würde. Vielmehr spricht er nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst eine fremde Sprache. Er versteht sich gleichsam selbst nicht mehr und findet keinen Zugang mehr zu der ›Sprache‹, die dem Gegenstand angemessen wäre. Er ist nicht ehrlich in seiner unglücklichen Bewunderung und verstellt sich durch die Sprache des Neides, die aus dem zu Bewundernden etwas macht, das nicht bewundert werden braucht. Es wird etwas Dummes, Peinliches usw. genannt. Dem braucht man sich nicht hinzugeben, und so gelingt es dem Neidischen, sich selbst zu behaupten. Der Preis, den er dafür zahlen muss, liegt in dem Unglück, sich selbst verloren zu haben. Insofern beinhaltet sowohl die echte Hingabe als auch die unglückliche Selbstbehauptung eine Selbstpreisgabe. Gibt der Mensch einerseits im Glauben

21 Siehe auch die Skizze S. 377. Auf Parallelen zwischen den Verzweiflungsformen des ersten Abschnitts und den Sündenformen des zweiten Abschnitts ist immer wieder aufmerksam gemacht worden. So hat Nordentoft, Kierkegaard’s Psychology, 205, aufgrund psychologischer Parallelen eine tabellarische Zuordnung versucht. Allerdings scheint mir die Zuordnung nicht ganz zuzutreffen. Bei den Sündenformen besteht die Einteilung nicht nur in ›sin‹, ›the sin of despairing over one’s sin‹ and ›offense‹, sondern es wäre gerade im Hinblick auf die Verzweiflungsformen noch die Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln, zu berücksichtigen. 22 Zum Neid als dem Prinzip eines leidenschaftslosen und stark reflektierten Zeitalters siehe ›Eine literarische Anzeige‹ (SKS 8, 7–106 / LA, 86–89).

314

Die Gottesbeziehung in der Sünde

seine Selbstvorstellung preis und geht durch seine Verzweiflung hindurch, so spaltet er andererseits im Ärgernis sich selbst auf und muss darüber verzweifeln. [W]as im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch: Bewunderung – Neid ist, das ist im Verhältnis zwischen Gott und Mensch: Anbetung – Ärgernis (200 / 87,21ff).23

Kierkegaard hat in dieser analogia relationis die beiden Glieder der jeweiligen Analogie als Gegensätze formuliert. Entweder bewundert ein Mensch einen anderen, im positiven Sinne außerordentlichen Menschen oder ist auf ihn neidisch. Der aufgestellte Gegensatz ist aber kein ›direkter‹ Gegensatz. Denn der Neid ist ja keine Verachtung, die eher als Gegensatz zur Bewunderung anzusehen wäre. Der Neid enthält vielmehr versteckt, was er nicht ist. Er ist nach Kierkegaard versteckte Bewunderung. Diese Eigenart des ›Gegensatzes‹ von Bewunderung – Neid macht es schier unmöglich, von einem Neidischen zu einem wahrhaft Bewundernden zu werden. Wer etwas verachtet, was eigentlich zu bewundern wäre, könnte unter Umständen noch davon überzeugt werden, dass sein Urteil einer Täuschung unterliegt. Er hat die wahren Qualitäten des zu Bewundernden noch nicht erkannt. Der Neidische hingegen unterliegt dieser Täuschung nicht und ist niemals durch Aufklärung über die wahren Qualitäten des zu Bewundernden von seiner Haltung abzubringen. Er kennt sie ja nur zu gut. Dem Neidischen ist erst recht nicht beizukommen, wenn man ihn darüber aufzuklären versucht, dass sein Neid doch versteckte Bewunderung sei. Er spricht ja eine andere Sprache und würde in einem solchen Fall seine Bewunderung noch besser verstecken wollen. Der Neidische hat ein Wissen, das er nicht wissen will. Aufgrund dieses ›dialektischen Zusammenspiels von Erkenntnis und Willen‹ (163 / 47,34f) ist es so hoffnungslos schwierig, einen neidischen Menschen ändern zu wollen und ihn zur Bewunderung zu bringen. Noch hoffnungsloser ist es allerdings, das Ärgernis auflösen und den Betreffenden zur Anbetung bringen zu wollen. Die beiden Begriffspaare Bewunderung / Neid und Anbetung / Ärgernis unterscheiden sich darin, dass das zweite Paar die unendlich potenzierte Form des ersten ist. Die unendlich potenzierte Bewunderung ist Anbetung und der unendlich potenzierte Neid ist Ärgernis. Gegenüber der Außerordentlichkeit Gottes hat der Mensch nur die beiden Möglichkeiten der Anbetung oder des Ärgernisses. So wie der Neid die Bewunderung eines anderen versteckt, verdrängt das Ärgernis die Anbetung Gottes. Der Sich-Ärgernde unterdrückt den »Atemzug des Gebetes« (156 / 38,32). Das Ärgernis besteht in einem Anbetungsverhältnis, das jeden Augenblick unterdrückt wird.24 23 Vgl. SKS 10, 141f / CR, 138f. 24 Vgl. SKS 10, 313 / CR, 313, mit Bezug auf das Sakrament: »Gottes Größe in der Natur ist offenkundig, jedoch Gottes Größe im Erbarmen ist ein Geheimnis, das da geglaubt werden

Sünde als Ärgernisnahme

315

Der Preis dafür liegt im Neid, in dem der Mensch sich gegen sich selbst richtet. Eigentlich müsste er sich selbst bewundern, so wie Gott sich seines Selbst annimmt, aber das unterdrückte Anbetungsverhältnis führt zum Selbstneid. Das gestörte Gottesverhältnis schlägt sich in einem ebenso beschädigten Selbstverhältnis nieder.

muß […] Gottes Größe in der Natur weckt alsogleich Staunen und darum Anbetung; Gottes Größe im Erbarmen ist zuerst zum Ärgernis und alsdann für den Glauben« (Hervorhebungen im Original). Zum Glaubensbegriff in CR vgl. Schulz, Er ist geglaubet.

13. Kapitel: Sünde als dogmatischer Begriff

1.

Begreifen und Glauben angesichts der Sünde

Ein wichtiger Aspekt im zweiten Abschnitt der KT ist die Bestimmung der Sünde im Spannungsfeld von Glauben und Denken. Die Spannung zwischen Glauben und Denken wurde schon erzeugt, wenn Glauben heißt, den Verstand zu verlieren. Dennoch soll im Glauben ein leidenschaftliches Erkennen sein – der Mensch sieht seinen Untergang und hat zugleich einen Willen zum Glauben, der keine Möglichkeit für sich erkennt, aber zu einer Durchsichtigkeit auf seinen Grund hin vordringt, von dem her ihm die Möglichkeiten Gottes offenstehen. Wenn sich die Verzweiflung als Abweichung vom göttlichen Grund und damit als Sünde zeigt, kann auch von ihr als Sünde nur in einer Weise gesprochen werden, die sich dem Verstand entzieht und doch ›verständlich‹ gemacht werden will. Kierkegaards Aussagen zum Begriff der Sünde, wie er ihn in KT entwickelt, greifen oft auf Gedanken zurück, die er in früheren Schriften niedergelegt hat. Deshalb werden im Folgenden in verstärktem Maße auch »Der Begriff Angst« (1844), die »Philosophischen Brocken« (1844) und die »Unwissenschaftliche Nachschrift« (1846) herangezogen. Auch die spätere Schrift »Einübung ins Christentum« (1850) wird zum Verständnis hilfreich sein.

a)

Das Verhältnis zwischen Paradox, Glaube und Dogma

Kierkegaard vergleicht sein Sündenverständnis sowohl mit der christlichen Tradition als auch der zeitgenössischen Spekulation.

318

Sünde als dogmatischer Begriff

Die theologische Orthodoxie hat nach Kierkegaard1 jede Definition der Sünde als pantheistisch abgelehnt […], die die letztere zu einem bloßen Negativum, zu Schwäche, Sinnlichkeit, Endlichkeit, Unwissenheit und dergleichen machte (209 / 98,11–14).2

Eine solche Definition der Sünde enthüllt ihren pantheistischen Charakter, wenn die ›negative‹ Sünde überwunden wird. Ist Sünde Schwäche, muss deren Beseitigung letztlich unübertreffliche Stärke bedeuten, die doch nur Gott gebührt. Ebenso verhält es sich mit der negativ aufgefassten Endlichkeit, deren Beseitigung konsequenterweise auf die reine Unendlichkeit Gottes hinausläuft. Ist die Sünde Unwissenheit, ist der sündlose Zustand die Allwissenheit Gottes. Wird die Sünde vom Menschen als Negativum genommen, verwischt er für sich den fundamentalen Unterschied zu Gott. Kierkegaard hat es in seiner eigenen Konzeption vermieden, Schwäche, Sinnlichkeit, Endlichkeit und Unwissenheit als Sünde zu behaupten. In der entscheidenden Doppelbewegung vollzieht der Mensch nicht nur die Verunendlichung, sondern auch die Verendlichung (146 / 27,5f). Diese Verendlichung bedeutet die Umkehr zur eigenen Schwäche vor Gott, weg von der Täuschung der eigenen Stärke. Sie ist auch eine Umkehr zur Sinnlichkeit, wo die Phantastik abstrakter Empfindsamkeit (147 / 28,21) abgelegt wird. Und sie ist das Eingeständnis radikaler Unwissenheit vor Gott, indem man vor ihm ›den Verstand verliert‹. Die Endlichkeit des Menschen ist nicht der Sünde gleichzusetzen. Im Gegenteil: Nur in seiner Endlichkeit kann der Mensch vor Gott in dessen Unendlichkeit gründen. 1 Hirsch vermutet hier nicht die alte lutherische Orthodoxie, von der Kierkegaard zuvor geredet hat, sondern die zeitgenössische pietistische Orthodoxie als Referenz (KT, GW 24, 178, Anm. 87). Kierkegaard hat vor 1849 Julius Müllers »Die christliche Lehre von der Sünde, Erster Band: Vom Wesen und Grund der Sünde«, Breslau 1839, also die erste Auflage seiner Sündenlehre, gelesen (Willi, Unbegreifliche Sünde, 420). Müller bespricht in diesem Buch auch die Auffassung D. Baurs über die Sünde, bei der er den privativen Begriff vom Bösen in den der einfachen Negation übergehen sieht (Müller, 129). Im Folgenden zitiert er Baur aus dessen »Erwiederung auf D. Möhlers neueste Polemik« (Tübinger Zeitschrift für Theologie 1834): »Ebendeswegen (weil in jeder Sünde immer nur das für das eigentlich Böse in ihr zu halten sei, was an ihr als Negation erscheine,) ist das Böse auch das Endliche, weil das Endliche selbst das Negative ist, die Negation des Unendlichen, und alle Erscheinungen des Endlichen nichts Anders sind, als ein relatives Nichts, eine Negativität, die nach dem stets wechselnden Unterschied des plus und minus der Realität in den verschiedensten Formen erscheint« (Baur 233, Müller, 130f). Gegen eine solche Auffassung wendet sich Kierkegaards Parteinahme für die theologische Orthodoxie. In SKS 23, 70, NB15:101 (Übersetzung in: Willi, Unbegreifliche Sünde, 425) notiert Kierkegaard, dass C. Daub in seiner Schrift »Hypothesen über die menschliche Freiheit« das Böse als das Negative zu begreifen meint. 2 Damit ist auch das bewusst provozierte Missverständnis der Verzweiflung als Krankheit abgewiesen. Vgl. schon SKS 4, 323 / BA, 12,23: »Sobald z. B. von der Sünde als von einer Krankheit, einer Abnormität, einem Gift, einer Disharmonie gesprochen wird, hat man auch ihren Begriff verfälscht.«

Begreifen und Glauben angesichts der Sünde

319

Was Sünde ist, kann für Kierkegaard letztlich nicht begriffen werden.3 In seiner eigenen Definition der Sünde wird deren Bestimmung an das Offenbarungsgeschehen zwischen Gott und dem Einzelnen gebunden (208 / 98,3f). Die durch die Offenbarung geschehende Mitteilung ist nicht mit dem Verstand zu reflektieren, sondern als ›Mitteilung‹ zu verstehen. Der adäquate Empfang der Mitteilung geschieht im Glauben. Die Mitteilung muss geglaubt werden, wenn sie in der Existenz verstanden werden soll.4 Doch neben der geforderten existentiellen Antwort auf die Mitteilung gibt es für Kierkegaard auch eine Verstehensmöglichkeit des Verstandes. Die Mitteilung wird in rechter Weise gedacht, wenn man sie als Dogma auffasst. Die Offenbarungsmitteilung dessen, was Sünde ist, wird in der Wissenschaft der Dogmatik behandelt. Im Unterschied zur Ethik bringt die Dogmatik die Idealität nicht in die Wirklichkeit hinein, sondern beginnt umgekehrt, die Wirklichkeit in die Idealität emporzuheben (SKS 4, 326 / BA, 17,15f). Was bedeutet das? Die Dogmatik fordert nicht die Idealität (SKS 4, 328 / BA, 18,8f) von der Wirklichkeit, »sondern ihre Idealität besteht in dem durchdringenden Bewußtsein von der Wirklichkeit, von der Wirklichkeit der Sünde« (SKS 4, 328 / BA, 18,9ff). Die Dogmatik nimmt sich der Wirklichkeit der Sünde an, in der nichts zu reflektieren ist (vgl. 142 / 23,21f). Das durchdringende Bewusstsein von der Wirklichkeit der Sünde bedeutet nichts anderes, als dass der Mensch – »menschlich gedacht« (154 / 37,15) – seinen Untergang sieht und versteht. Im Bewusstsein von der Wirklichkeit seiner Sünde findet der Mensch weder Halt noch Hilfe für sich – und müsste untergehen, wenn er nicht an Gott in Jesus Christus glauben würde, der seine sündige Wirklichkeit überwunden hat. Damit eröffnet sich der tiefere Sinn, warum Kierkegaard in seiner Sündendefinition mehr darauf hinweist als festlegt, was die Sünde sei. Eine hinreichend begreifbare Aussage, was die Sünde sei, würde dem Menschen noch einen letzten vermeintlichen Halt in seiner sündigen Wirklichkeit verschaffen. Er hätte mit seinem Verstand die Möglichkeit, sich in seiner wesentlichen Wirklichkeit zu durchschauen. Aber eine solche Möglichkeit muss eine im Sinne Kierkegaards recht verstandene Dogmatik verneinen und auf die Offenbarung weisen,5 von

3 Vgl. SKS 4, 323 / BA, 12,26ff: »Eigentlich gehört die Sünde überhaupt nicht in irgendeine Wissenschaft. Sie ist ein Gegenstand der Predigt, wo der Einzelne als der Einzelne zum Einzelnen spricht.« 4 Der Ausdruck ›Existenzmitteilung‹ tritt bei Kierkegaard an die Stelle des Begriffs der ›Lehre‹, weil »zu befürchten [ist], daß das Wort Lehre sofort als eine philosophische Lehre verstanden wird, die begriffen werden soll und will« (SKS 7, 345 / AUN2, 84, Anm.). 5 Vgl. zum philosophischen Missverständnis der Dogmen SKS 18, 54, EE:153 / T 1, 212: »Die Philosophen behandeln die Dogmen, die heiligen Aussagen der Schrift, kurz das ganze heilige Bewußtsein wie Appius Pulcher die heiligen Hühner ; man befragte sie, und weissagen sie übel, so sagt man wie jener Feldherr : Wollen die heiligen Hühner nicht fressen, so mögen sie

320

Sünde als dogmatischer Begriff

der her allein die Wirklichkeit zu durchschauen ist. Wenn die Idealität für die Dogmatik in dem durchdringenden Bewusstsein von der Wirklichkeit besteht, hat sie sich zum Thema gesetzt, was für sie als Wissenschaft gar nicht zu erfassen ist. Deshalb sagt Kierkegaard, dass die Dogmatik die Erbsünde voraussetzen und »gleich jenem Wirbel« erklären soll, »von dem die griechische Naturspekulation so manches zu sagen wußte, ein bewegendes Etwas, das für keine Wissenschaft erfaßbar ist« (SKS 4, 327 / BA, 17,27ff). In der Dogmatik bringt sich der Verstand gleichsam um seinen Verstand. Er bemüht sich etwas zu verstehen, von dem er weiß, dass er es gar nicht verstehen kann, weil es geglaubt werden muss.6 In diesem Bewusstsein lässt der Dogmatiker nicht von seiner Bemühung ab – ganz im Gegenteil: »[M]it all seinem Verstande […] und bis in die letzte Wendung der Gedanken« muss er die Wirklichkeit der Sünde verstehen wollen »und dann am Verstehen verzweifeln« (SKS 7, 205 / AUN1, 216).7 In dieser Verzweiflung des Verstandes kann der Glaube wachsen. »Während der Verstand verzweifelt, dringt der Glaube in der Leidenschaft der Innerlichkeit siegreich vor« (SKS 7, 205 / AUN1, 216, Anm.). Die Dogmatik hat mit ihren Dogmen das Paradox zur Voraussetzung, aber auch zum Ziel, um an ihm auf den Glauben aufmerksam zu machen. In den wechselseitigen Beziehungen zwischen Paradox, Glaube und Dogma sieht Kierkegaard die Sündenlehre in ihrem christlichen Sinn gesichert (209 / 98,23–26). Einerseits bilden die drei ein ›Bollwerk‹ oder eine ›Allianz‹ – in Anspielung auf die damalige ›Heilige Allianz‹ zwischen Preußen, Österreich und Russland – gegen einen Allmachtsanspruch des Verstandes. Dieser muss am Paradox scheitern, das den Glauben vor seinem Abgleiten in Spekulation schützen soll. Andererseits bilden die drei auch ein ›Bollwerk‹ gegen einen faulen Verstand (ratio ignava), der sich nicht zu verstehen bemüht und ›undogmatisch‹ glauben zu können meint. Das Dogma fordert den Verstand in seiner ganzen Leidenschaft, weil der Mensch mit seinem ganzen Verstand am Paradox zugunsten des Glaubens scheitern soll.8 trinken, und damit wirft man sie über Bord.« Vgl. dazu Sedmak, Idee einer relevanten Philosophie, 136f. 6 Diem, Hinterlassenschaft, 277, charakterisiert treffend das Dogma im Sinne einer Mitteilung: »Man kommt hier mit dem üblichen Schema der subjektiven Aneignung einer objektiv feststehenden Lehre nicht durch, denn einmal ist schon die ›objektive‹ Lehre eine die Existenz qualifizierende Mitteilung, und weiterhin besteht die ›subjektive‹ Aneignung eben ausschließlich in der richtigen Entgegennahme dieser Mitteilung.« 7 Was hier von der Sündenvergebung gesagt ist, gilt auch für die Wirklichkeit der Sünde. 8 Vgl. SKS 7, 516 / AUN2, 279f: »Also der gläubige Christ hat sowohl als auch gebraucht er seinen Verstand, respektiert das Allgemein-Menschliche, erklärt es nicht mit Mangel an Verstand, wenn jemand nicht Christ wird, aber im Verhältnis zum Christentum glaubt er gegen den Verstand und gebraucht auch hier den Verstand – um darauf aufzupassen, daß er gegen den Verstand glaubt.«

Begreifen und Glauben angesichts der Sünde

b)

321

Das Wesen des Begriffs

Für Kierkegaard hat die neuere Dogmatik das ›Bollwerk‹ aufgegeben, das die für ihn rechtgläubige ältere Dogmatik noch behauptete (209 / 98,27–31). Mit dem Begriff der ›neueren‹ oder ›spekulativen Dogmatik‹ behaftet Kierkegaard einen bestimmten Typus der Dogmatik, der auf gravierende Weise von der älteren abweicht.9 Die sogenannte ›spekulative Dogmatik‹ hält wohl noch an der Bestimmung des Dogmas fest, aber im Hinblick auf das Paradox und den Glauben verlässt sie den sicheren Halt. Die dogmatische Lehre von der Sünde soll nicht mehr in ihrem paradoxen Charakter geglaubt werden, sondern man versucht sie mit Hilfe der Spekulation begreifen zu können. Kierkegaard führt diese Bemühung auf ein ›seltsames Missverständnis‹ (209 / 98,27f) zurück. Die spekulative Dogmatik will den Glauben nicht durch das Begreifen ersetzen, aber sie meint, den Glauben durch das Dogma noch sicherer machen zu können, indem sie die dogmatische Feststellung zu begreifen versucht. In diesem Missverständnis wird verkannt, dass der »sicherste Halt« (209 / 98,25) nur dort zu finden ist, wo der Glauben selbst durch das Paradox vom Begreifen freigehalten wird. Nicht das Begreifen, sondern das Aushalten des Nicht-Begreifens macht den Glauben stark. In der Absicht, die Sünde begreifen zu wollen, lässt sich die dogmatische Theologie »in bedenklicher Weise« (209 / 98,29) mit der Philosophie ein, die ganz dem Begreifen verpflichtet ist. Allerdings ist die recht verstandene Dogmatik auch der philosophischen Denkbemühung verpflichtet. Denn der Theologe bemüht sich auf seine Weise, mit ganzer Leidenschaft, zu begreifen – um mit existentieller Wucht am Nicht-Begreifen, dem Paradox anzustoßen. Die ›spekulative Dogmatik‹ gelangt nicht mehr dahin und bleibt bei einem Begreifen stehen, das sie irgendwie vom Begreifen der Philosophie abheben muss, wenn sie Dogmatik bleiben will. Wie hilflos ein solcher Versuch ist, wird an Kierkegaards Überlegungen zum Wesen des Begriffs und des Begreifens deutlich. Die spekulative Dogmatik konnte sich nur auf das Begreifen einlassen, weil sie das Wesen des Begriffs vergessen hatte. Das Geheimnis bei allem Begreifen ist, daß schon dieses Begreifen selbst höher ist als alle Position, die vom ihm gesetzt wird (209 / 98,32–34).

Um diese Aussage Kierkegaards zu verstehen, ist es notwendig, auf seine Bestimmung des Denkens zurückzukommen. »Begreifen ist die Reichweite des 9 Ringleben vermutet hier die theologischen Hegelianer Ph. Marheineke und H.L. Martensen. Auch C. Daub käme in Betracht (Kommentar, 254). Zu der gerade auf die Dogmen zutreffenden autoritativen Gestalt von religiösen Behauptungen vgl. Whittaker, Concept of Authority.

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Sünde als dogmatischer Begriff

Menschen im Verhältnis zum Menschlichen« (208 / 97,11f). Das bedeutet, dass die Wirklichkeit eines anderen Menschen nur im Begreifen zu ›erreichen‹ ist. Grundsätzlich kann Kierkegaard sogar sagen, dass »[i]n bezug auf jede Wirklichkeit außer mir gilt, daß ich sie nur denkend fassen kann« (SKS 7, 292 / AUN2, 22). Dieses denkende Erfassen, also ›Begreifen‹, bedeutet kein wirkliches Erfassen des anderen Menschen. Ein solches wirkliches Erfassen fände nur statt, wenn ich die Wirklichkeit des anderen, die mir fremde Wirklichkeit, zu meiner eigenen machen könnte und selber gleichsam ›der Andere‹ würde. Das ist aber eine Unmöglichkeit und wird auch nur in einer bestimmten Verzweiflungsform versucht. Die fremde Wirklichkeit erfährt eine Veränderung, wenn sie gedacht wird. Sie wird im Begreifen ihrer Wirklichkeitsform entkleidet und im Sinne der Möglichkeit begriffen. Diese Möglichkeit, die im Denken der Wirklichkeit eines anderen Menschen besteht, lässt sich zur eigenen Wirklichkeit machen, wenn ich das Handeln des anderen Menschen nicht nur denke, sondern es selbst tue. Doch dies ist dann eine »neue Wirklichkeit« (SKS 7, 292 / AUN2, 22) und nicht die Wirklichkeit des anderen. Das Möglichkeitsdenken muss seinem Wesen gemäß die Wirklichkeit auflösen, für sich ›abstrakt‹ machen, sonst wäre die Wirklichkeit nicht denkbar. Dieser Vorgang entspricht in seiner Struktur der Positionsnegierung durch den Begriff. So wie die Position in ihrem Gedachtsein negiert wird, so wird auch die Wirklichkeit im Denken aufgelöst. Dass Kierkegaard keine zeitlose Verstandeslehre entfaltet, sondern die veränderten Denkbedingungen der Neuzeit mitreflektiert, zeigt seine kurze historische Reminiszenz in BA: Daß das Denken überhaupt Realität habe, war die Voraussetzung der gesamten antiken und mittelalterlichen Philosophie. Durch Kant wurde diese Voraussetzung zweifelhaft gemacht. Gesetzt nun, die Hegelsche Philosophie habe Kants Skepsis wirklich durchdacht […] und habe so in einer höheren Form das Frühere rekonstruiert, so daß das Denken also nicht kraft einer Voraussetzung Realität hätte, ist dann diese bewußt zustande gebrachte Realität des Denkens eine Versöhnung? Die Philosophie ist dann ja nur dahin gebracht, wo man in alten Tagen begann, in alten Tagen, als gerade die Versöhnung ihre ungeheure Bedeutung hatte (319 / 7,17–33, Hervorhebung im Original). Die Disjunktion von ›Denken‹ und ›Realität‹ ist also ein wesentliches Ergebnis der Kantischen Skepsis, hinter die für Kierkegaard kein Weg zurückführt, während der Idealismus Hegels eine Rekonstruktion des Früheren »in einer höheren Form« bedeute.10 Doch geht Kierkegaard über Kant hinaus, wenn er die Realität, im Sinne der Wirklichkeit verstanden, nicht in ihrer – gebrochenen – Beziehung zum Denken betrachten, sondern ganz dem 10 Zum Verhältnis Kierkegaards zu Kants Philosophie siehe Lisi, Epistemology of Faith; Knappe, Theory and Practice in Kant and Kierkegaard.

Begreifen und Glauben angesichts der Sünde

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Ethischen zuweisen will (vgl. SKS 7, 299 / AUN2, 30). In der intellektuellen Betrachtungsweise wird das Wirklichsein der Wirklichkeit in sein Seinkönnen aufgelöst. Es wird nach seiner Möglichkeit gefragt. Dagegen enthält sich die ethische Betrachtungsweise einer solchen Weltbetrachtung und die Wirklichkeit besteht allein in der Innerlichkeit des Individuums, dem Interesse am Existieren, in der Existenz.

Die Position ist die im Denken gesetzte Wirklichkeit, die negiert wäre, wenn man sie denken würde (209 / 98,34f). Das Setzen einer Position durch das Begreifen, ohne dass diese Position zugleich begriffen und damit negiert wird, ist die Eigenart des Dogmas. Das Setzen der Position der Sünde geschieht durch das Denken, weil die Lehre von der Sünde ein ›christlicher Gedanke‹ (208 / 97,9) ist. Das Christliche an diesem Gedanken besteht unter anderem darin, dass er nicht begriffen werden kann noch begriffen werden soll. Aber lässt sich das ›Setzen‹ eines Gedankens von seinem ›Begreifen‹ unterscheiden? Muss ein gesetzter Gedanke nicht schon irgendwie begriffen sein, das heißt, dass eine Position notwendigerweise immer auch schon begriffene Position ist? Dies ist in der Tat der Fall. Deshalb setzt das Dogma die Feststellung der Unmöglichkeit der Erklärung neben die Erklärung, weil die Erklärung sich nicht an das Denken richtet, wie Kierkegaard in Bewunderung für die Schmalkaldischen Artikel ausführt (SKS 4, 333 / BA, 24,14–35). Die gesetzte Wirklichkeit des Dogmas bleibt ein Hinweis auf die ›wirkliche‹ Wirklichkeit, in die sich im Glauben des Dogmas gegründet wird. Für die Wirklichkeit, die das Dogma zum Thema hat, gilt: Wenn der Denkende nämlich mit dem auflösenden Seinkönnen (posse) (eine gedachte Wirklichkeit ist eine Möglichkeit) auf ein Wirklichsein (esse) stößt, das er nicht auflösen kann, dann muß er sagen: Dies kann ich nicht denken (SKS 7, 293 / AUN2, 23).

Die Wirklichkeit des Dogmas bezieht sich auf die göttliche Offenbarung, die im Begreifen verfehlt und verdunkelt wird. Nur durch die Offenbarung Gottes weiß der Mensch um seine Sünde. Um die geoffenbarte Wirklichkeit zu erfassen, müsste der Verstand die absolute Verschiedenheit denken. Für Kierkegaard ist ihm dies nicht möglich, denn absolut kann er sich selbst nicht negieren, sondern bedient sich dazu seiner selbst, und denkt also die Verschiedenheit in sich selbst, die er durch sich selbst denkt (SKS 4, 249 / PB, 44,19–22).

Wenn der Verstand die Verschiedenheit ›in sich selbst‹ denkt, hat er die Position der absoluten Verschiedenheit negiert. Die Position ist zu einer gesetzten Position seines eigenen Verstandes geworden. Statt dessen müsste der Verstand sich selbst negieren, sich selbst verlieren, aber »absolut kann er nicht über sich selbst hinausgehen, und denkt deshalb nur diejenige Erhabenheit über sich selbst, die er durch sich selbst denkt« (SKS 4, 249f / PB, 44,22ff). Der Verstand

324

Sünde als dogmatischer Begriff

kann sich nicht selbst verleugnen, sondern darin ist er es ja immer noch, der sich verleugnet. Die absolute Verschiedenheit kann der Verstand nicht kennen, weil er sich stets mit sich in Beziehung setzt. Der Verstand macht das andere mit dem gleich, wovon es unterschieden ist, und negiert es dadurch in seiner Verschiedenheit.11 Die Position der Sünde bleibt eine unbegriffene Sache. Zwar hat Kierkegaard eine Definition der Sünde gegeben. Jedoch ist sie eine bloße »Buchstabenrechnung« (196 / 83,2), weil mit ihr die Sünde entgegen ihrer wahren Bestimmung zwangsläufig objektiviert wird. Das ›Wie‹ kann der Verstand nicht erfassen, ohne es in abstrakter Weise zu objektivieren und damit zu verfehlen. Der Verstand verdunkelt nach Kierkegaard die Position, die er zu begreifen meint, und eine vermeintlich folgende existentielle Aneignung kann nicht stattfinden. Ansonsten würde der Glaube vom Verstand abhängig sein. Vielmehr muss die Position der Sünde von vornherein dem Glauben überlassen werden, mit dem sich auch die ganze Leidenschaft des Verstandes entfaltet – und an der Position der Sünde scheitert. Weil die Position der Sünde keine gedankliche Position ist, entzieht sie sich dem Verstand. Sie bietet keinen Anhaltspunkt für den Verstand, weil dieser zwar Positionen setzen, aber nicht von sich aus eine Position einnehmen kann. Mit Hilfe seines Verstandes kann der Mensch sich wohl unendlich viele Positionsmöglichkeiten vorspiegeln, aber die Wirklichkeit seiner eigenen Position erkennt er dadurch nicht, noch kann er sich dadurch ändern. Man muss sogar sagen, dass der natürliche Mensch von sich aus gar keine wirkliche Position einnimmt, weil sein Selbst jat± d}malim gar nicht wirklich da ist. Er ›schwebt‹ in der Möglichkeit, ohne im Dasein eine Position zu haben. Nur durch die Offenbarungswirklichkeit eröffnet sich dem Menschen die Position, Sünder zu sein. Ringleben weist darauf hin, dass aufgrund der vorausgehenden Gedankenganges Sünde unter den Bedingungen verzweifelten Selbstseins nicht etwas bloß Negatives sein kann, sondern als selbsthafter Vollzug ›etwas Positives‹ sein muss (Kommentar, 252). Das ›Selbst‹ werde mit wachsender ›Verinnerlichung‹ seiner Selbsttätigkeit inne und müsse sich diese Eigenaktivität als positives Setzen zuschreiben. Aus der immanenten Perspektive der Selbstzuschreibung des ›verzweifelten Selbst‹ liegt in der Tat ein »Ponieren« vor. Aber in Wahrheit – vor Gott – setzt das ›Selbst‹ noch in der höchsten Verzweiflung nur Luftschlösser. Es bildet sich keine wirkliche Position aus, die Selbsttätigkeit des Verzweifelten ist nur ein phantastisches Bemühen: »[E]s wird eigentlich kein Selbst« (183 / 70,38). Solange das ›verzweifelte Selbst‹ nicht ›gebrochen‹ ist, kann es arbeiten und zaubern, wie es will – es wird nichts. Und wo nichts wird, ist auch von keinem Positiven zu sprechen. Der Verzweifelte erlangt in seiner Sünde nichts, worauf er sich gründen könnte. Dass aber die 11 Vgl. SKS 7, 94 / AUN1, 88: »Das Paradox des Christentums besteht darin, daß es beständig die Zeit und das Historische in Beziehung auf das Ewige gebraucht; alles Denken aber liegt in der Immanenz.«

Begreifen und Glauben angesichts der Sünde

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Sünde doch eine Position ist, liegt allein an Gott, der die Sünde als solche aufdeckt: »[D]aß sie vor Gott ist, ist eben das Positive an ihr« (212 / 102,5f). Das Positive der Sünde besteht in dem göttlichen Außenbezug. Deshalb kann man die Sünde als Position nur glauben, weil allein im Glauben der selbstbezogene Horizont der Verzweiflung auf Gott hin überschritten wird.

c)

Die christliche Spekulation

Es ist zu beachten, dass gegen den bisherigen Anschein Kierkegaard die Spekulation nicht grundsätzlich ablehnt, sondern er eine Spekulation innerhalb des Christentums kennt, die diesem adäquat ist (SKS 7, 343 / AUN2, 82). Diese Spekulation ist gerechtfertigt durch die besondere Zuordnung von Philosophie und Theologie, die sie ständig begleitet. Kierkegaard kann sich zustimmend zu der im Mittelalter diskutierten Lehre von der doppelten Wahrheit äußern, die annahm, dass eines in der Philosophie wahr sein könne, was in der Theologie nicht wahr sei (Ebd.). Somit gibt die philosophische Wissenschaft nicht die Wahrheit vor, der die Theologie sich beugen müsste. Die christliche Spekulation basiert auf einer Voraussetzung, die der Philosophie gänzlich entzogen ist und bei der man nur ›seinen Verstand verlieren‹ kann. Allerdings ist diese Voraussetzung auch keine Wahrheit, die sich allein die christliche Spekulation durch ihr Spekulieren erschließen könnte. Es ist eine Wahrheit der einzelnen Existenz, die nicht in der Abstraktion einer Lehre einzufangen ist, auch wenn diese ihr nachdenkt. In der theologischen Abstraktion ist die Wahrheit nur verständlich, wenn sie philosophisch begreifbar gemacht wird. Deshalb ist es für Kierkegaard eine falsche Behauptung, dass es in der Theologie etwas Wahres gibt, was es in der Philosophie nicht ist (SKS 7, 278 / AUN2, 6). Die Wahrheit liegt weder in der Philosophie noch in der Theologie, sondern in dem nur theologisch festzuhaltenden und nur philosophisch nachzudenkenden unbegreiflichen Paradox, das dem Menschen allein im Glauben zur Wahrheit wird. Die echte christliche Spekulation ist der Wahrheit negativ verbunden, indem sie die Unmöglichkeit, die Wahrheit spekulativ zu verstehen, weiter vertieft (SKS 7, 344 / AUN2, 83). Nicht zuletzt ist auch der Autor vom BA ein echter christlicher ›Spekulant‹, wenn er als Laie betrachtet werden möchte, »der zwar spekuliert, aber doch weit außerhalb der Spekulation steht« (SKS 4, 314 / BA, 4,13f). Dem Verstand muss das alles ›sehr dürftig‹ (210 / 100,18) erscheinen. Warum das Christentum und mit ihm die Lehre von der Sünde geglaubt und nicht begriffen werden sollen, kann konsequenterweise nicht begründet werden. Man müsste ansonsten der Disjunktion von Glauben und Begreifen noch ein tieferes Begreifen vorordnen. Kierkegaard lehnt eine solche Spekulation ab und bleibt bei einer unver-

326

Sünde als dogmatischer Begriff

mittelten Gegenüberstellung von Glauben und Begreifen. Für ihn hat Hegel völlig recht, wenn er jeden unvermittelt bleibenden Gegensatz für das »Gebiet des reinen Denkens« vermittelnd auflöst (SKS 7, 278, AUN2, 5). Es wäre ein Fehler, in der Abstraktion einen unauflöslichen Gegensatz aufbauen zu wollen. In der Sprache der Abstraktion, im reinen Denken und dem reinen Sein, wo alles ist, gibt es kein Entweder – Oder (Ebd.). Eine Position bleibt mit ihrer Negation im Denken vermittelt, während in der Existenz ein anderes Existieren ausgeschlossen ist.

d)

Das Nichtbegreifen als Wahrung des göttlichen Inkognito

Wenn Kierkegaard behauptet, dass das ganze Christentum daran hänge, dass es geglaubt und nicht begriffen werden soll, muss sich die Frage stellen, warum diese Differenz in das Zentrum der christlichen Lehre gehört. Kierkegaard erläutert ihre Bedeutung an der Gestalt eines Königs, der inkognito bleiben will: Wenn ein König auf die Idee kommt, ganz inkognito sein zu wollen, sich ganz so wie ein einfacher Mann behandeln zu lassen, ist es dann, weil es den Menschen im allgemeinen mehr Auszeichnung zu sein scheint, ihm als König zu huldigen, ist es dann auch das Richtige, das zu tun? Oder heißt das nicht gerade, daß man sich selbst und seinen Gedankengang direkt dem Willen des Königs gegenüber behauptet, daß man so handelt, wie man selbst will, statt sich zu beugen? Oder würde es dem König vielleicht gefallen, je erfinderischer ein solcher Mensch etwa darin wäre, ihm untertänige Ehrerbietung zu erweisen, wenn der König nicht so behandelt werden will, daß heißt, je erfinderischer ein solcher Mensch vielleicht darin wäre, gegen den Willen des Königs zu handeln? (211 / 100,24–35).

Der König, der ganz inkognito sein will, ist Gott selbst. Kierkegaard behandelt ihn entsprechend seinem Wesen ebenso inkognito und spricht von einem König. Mit diesem königlichen Inkognito versucht Kierkegaard dem Leser verständlich zu machen, was dieser im Grunde gar nicht verstehen kann – und soll. Dass ein König sich wie ein einfacher Mensch behandeln lassen will, ist eine durchaus verständliche Idee, weil der König in seiner Menschlichkeit auch ein ›einfacher‹ Mann ist. Aber wie verhält es sich bei Gott? Jesus Christus ist Gott und wählt es jedoch, ein einzelner Mensch zu sein. Kierkegaard nennt dies »das tiefste Inkognito oder die undurchdringlichste Unkenntlichkeit, die möglich ist« (SKS 12, 135 / EC, 134). Das Inkognito beruht auf dem unendlich qualitativen Widerspruch zwischen Gott-Sein und Ein-einzelner-Mensch-sein. Es wird von Gott nicht gezwungenermaßen angelegt, sondern diese Unkenntlichkeit als einzelner Mensch ist »sein Wille, sein freier Entschluss, und daher ein mit Allmacht festgehaltnes Inkognito« (SKS 12, 135f / EC, 134). Gegen diesen Willen des Königs verstößt der Mensch, der ihm als König huldigen will. In der Christenheit

Begreifen und Glauben angesichts der Sünde

327

meint der ›natürliche Mensch‹ Christus zu kennen. Er glaubt, Christus sei so Gott gewesen, dass man es unmittelbar hätte sehen können (SKS 12, 133 / EC, 130), wenn man mit ihm zur gleichen Zeit gelebt hätte. Wie jene Menschen annehmen, dass sie durch ihre Huldigung dem König Gutes tun, meint er durch seine Kenntnis Christus zu ehren. Doch Kierkegaard entlarvt die vermeintliche Huldigung des Königs als Selbstbehauptung gegen den Willen des Königs. Man handelt, wie man selbst will, statt sich zu beugen und ignoriert den unendlich qualitativen Widerspruch zwischen Mensch und Gott. Man nimmt Christus seine Gottheit, die nur im Inkognito bewahrt bleibt. Christus »war wahrer Gott und daher in dem Maße Gott, daß er in der Unkenntlichkeit war« (SKS 12, 133 / EC, 131; Hervorhebung im Original). Christus hält seine Unkenntlichkeit mit solcher Allmacht fest, »daß er auf gewisse Weise selbst in der Macht seines Inkognitos ist« (SKS 12, 136 / EC, 134). Kierkegaard sagt geradezu, dass der Gott-Mensch sich selber nicht mehr als Gott kannte. Das Inkognito wurde in Jesus Christus so mächtig, dass er selbst gott-los wurde. Folgerichtig sieht Kierkegaard in Jesu Leiden »die buchstäbliche Wirklichkeit seines rein menschlichen Leidens« (Ebd.; Hervorhebung im Original). Christus ist wahrer Mensch, der aufgrund seines Inkognito »das Äußerste an Leiden durchleidet, das Fühlen der Gottverlassenheit« (Ebd.). Verbindet man diesen Gedanken mit der Beschreibung des Menschen in KT, dann wird deutlicher, warum auch dort der leidende Gott (199 / 86,18) es ist, der dem Menschen seine Hilfe anbietet. Der Gott-Mensch vollzieht durch sein Inkognito, was der sündige Mensch seinerseits durch seine Selbstbehauptung bewirkt. Gott gibt sich durch sein Inkognito in die Gottverlassenheit, der Mensch durch seine schuldhafte Selbstbezogenheit. Gott wird dem Menschen gleich, der nun vor Gott da sein kann.12 Kierkegaard hat diesen Sachverhalt schon in der Geschichte vom König ausgesprochen: [D]ieser einzelne Mensch, der vielleicht stolz wäre, einmal in seinem Leben mit dem König gesprochen zu haben, dieser Mensch, der sich nicht wenig darauf einbildet, mit dem und dem auf vertrautem Fuß zu leben, dieser Mensch ist vor Gott da, kann mit Gott reden, jeden Augenblick, in dem er es will, sicher von ihm gehört zu werden, kurz, diesem Menschen wird angeboten, auf vertrautestem Fuß mit Gott zu leben! (198f / 86,9–15; Hervorhebung im Original).

12 Vgl. dazu Iwands Urteil: »Gott muß, wenn wir Kierkegaard einmal so interpretieren dürfen, stellvertretend die Existenz des wahren Menschen, der Wahrheit des Menschen vor Gott (veritas hominis coram Deo), die wir nicht übernehmen wollen, in sich selbst vollziehen. Kierkegaard dürfte damit von allen modernen Theologen dem eigentlichen reformatorischen Ansatz in der Lehre von der Menschwerdung Gottes am nächsten gekommen sein« (Christologie, 449, Hervorhebungen im Original).

328

Sünde als dogmatischer Begriff

Kierkegaard hat das Beispiel des Königs angeführt, um zu erläutern, warum das Christentum geglaubt und nicht begriffen werden soll. Der Differenz zwischen Glauben und Begreifen entspricht in gewisser Weise der Gegensatz zwischen Gott und Mensch. Wenn der ›natürliche Mensch‹ im Christentum vermeint, Gott begreifen zu können, macht er aus ihm nicht mehr als einen außerordentlichen Menschen. Die Alternative dazu liegt nicht in einer bloßen Unkenntlichkeit Gottes, sondern so wie der König unter das Volk kommt, wird Gott Mensch und gibt sich als Gott zu erkennen – in seiner Unkenntlichkeit. Diese besondere ›kenntliche Unkenntlichkeit‹ – »die Offenbarung ist am Geheimnis kenntlich, die Seligkeit am Leiden« (SKS 7, 393 / AUN2, 140, Anm.)! – ist nur für den Glauben zu erkennen. Wer die Differenz zwischen Glauben und Begreifen auflöst, der löst den Gegensatz zwischen Gott und Mensch in Christus auf. Mögen also andere denjenigen bewundern und rühmen, der von sich behauptet, das Christentum begreifen zu können: ich betrachte es geradezu als ethische Aufgabe, die vielleicht nicht so wenig Selbstverleugnung erfordert, in derart spekulativen Zeiten, in denen alle ›die anderen‹ eifrig damit beschäftigt sind, zu begreifen, da zu gestehen, daß man es weder begreifen kann noch soll (211 / 100,37–101,4).

Zu gestehen, dass man das Christentum weder begreifen kann noch soll, bleibt kein bloßes sacrificium intellectus, sondern greift auf den ganzen Menschen aus und erfordert Selbstverleugnung. Es kommt zur schon beschriebenen Leidenschaft des Verstandes, der sich ständig an dem Inkognito stößt, »das zwar da ist, aber auch unbekannt, und insofern nicht da ist« (SKS 4, 249 / PB, 43,32f). Der Verstand muss sich gemäß seiner Natur immer wieder mit dem nicht zu begreifenden Gegenstand beschäftigen. Die Leidenschaft wird nicht dadurch zufriedengestellt, dass sie das Unbekannte als Grenze bloß richtig versteht. Vielmehr ist die Grenze »gerade die Qual der Leidenschaft, wenn auch zugleich ihr Ansporn« (SKS 4, 249 / PB, 44,7f).

2.

Begreifen und Glauben der weggenommenen Sünde

a)

Der relationale Positionsbegriff

Dass die Sünde eine Position, ›etwas Eigenständiges‹, sei, bleibt unbegreiflich, aber Kierkegaard will doch etwas Licht »von einer Seite« (211 / 101,30; Hervorhebung im Original) in diese Behauptung bringen. Diese Seite ist die göttliche Seite, von der aus die Sünde als Position zu erhellen ist. Kierkegaard beschreibt sowohl die menschliche als auch die göttliche Seite, wie sie in setzender Weise aktiv sind. Die Seite des Menschen wird durch den Verzweifelten vertreten, dem die

Begreifen und Glauben der weggenommenen Sünde

329

setzende Tätigkeit des Göttlichen verdunkelt ist. Kierkegaard rekapituliert die Entwicklung des menschliche ›Setzens‹, der Bemühungen, sich selbst zu gründen: Im vorhergehenden Abschnitt ist bei der Darstellung eine ständige Steigerung nachgewiesen. Der Ausdruck für diese Steigerung war teils eine Potenzierung des Bewußtseins vom Selbst, teils eine Potenzierung vom Erleiden zu bewußter Handlung. Beide Ausdrücke sind in Verbindung miteinander wiederum der Ausdruck dafür, daß die Verzweiflung nicht von außen, sondern von innen kommt. Und im gleichen Grad ist sie zunehmend ja auch etwas Setzendes, Ponierendes (212 / 101,32–39).

Was wird in der von innen kommenden Verzweiflung gesetzt? Der verzweifelte Mensch setzt sich in zunehmender Verzweiflung immer intensiver als ›Selbst‹. Er lässt sich selbst nicht mehr von außen bestimmen, so dass sein Selbstsein die anderen wären, sondern entwickelt eine eigene Selbsthaftigkeit. Es findet eine Potenzierung vom Erleiden zur bewussten Handlung statt, die mit einem intensiveren Selbstbewusstsein einhergeht. Ein Höhepunkt dieser Steigerung ist die verzweifelt versuchte, nur durch eine Selbstverdoppelung zu erreichende Neuschaffung seiner selbst, bei der das Höchstmöglichste angestrebt wird. Allerdings wird die Selbstgestalt bei dieser Verdoppelung »weder mehr noch weniger als das Selbst« (183 / 70,35f) – das heißt, dass der Verzweifelte zwar ein sich selbst setzender, ponierender ist, aber seine Setzungen nur in einem immer intensiveren Schein seines eigenen Selbstseins bestehen. Von dieser Seite kann kein Licht auf den aufgestellten Leitsatz über die Bestimmung der Sünde als Position fallen, vielmehr verdunkelt sich der Mensch in seiner Verzweiflung die eigene Sünde, indem er ständig eine nicht verzweifelte Selbstgestalt für sich gewinnen will. Nur von der Seite Gottes her ist die Sünde als wahre Position zu bezeichnen: Nach der aufgestellten Definition der Sünde jedoch gehört zur Sünde ein durch die Vorstellung von Gott unendlich potenziertes Selbst, und so wiederum die größtmögliche Bewußtheit von der Sünde als Handlung. – Das ist der Ausdruck dafür, daß die Sünde eine Position ist; daß sie vor Gott ist, ist gerade das Positive an ihr (212 / 102,1–6, Hervorhebung im Original).

Vor Gott sind Ziel und Maßstab offenbar, und die Verzweiflung ist auf eine Position bezogen, an der sie gemessen und auf die sie hin betrachtet werden kann. Sie wird als Sünde offenbar, weil sie sich an der Position ›vor Gott‹ als Zielund Maßverfehlung zeigen muss. Kierkegaards Positionsbegriff ist relational zu verstehen, weil über die Sünde nur in Bezug auf Gott gesprochen werden kann. Der Sünde haftet für sich gesehen nichts Positives an, sie ist nur Verzweiflung.

330 b)

Sünde als dogmatischer Begriff

Das doppelte Paradox

Die Feststellung, dass die Sünde eine Position sei, schließt die Möglichkeit des Ärgernisses in sich, weil diese Position nicht zu begreifen ist, sondern nur geglaubt werden kann. Die Position der Sünde ist nur von Gott her zu glauben. Damit hat nicht nur das eigene Sündenbekenntnis vor Gott seinen Ort gefunden, sondern auch die Beseitigung der Sünde durch Gott, die von dieser Position aus erst in den Blick genommen werden kann. Die Lehre von der Sünde als Position führt zu einem weiteren Paradox »in einem ganz anderen Sinne« (212 / 102,8). Das Paradoxe besteht darin, dass in der christlichen Lehre gerade das wieder beseitigt wird, was zuvor so leidenschaftlich verteidigt wurde. Hätte sie die Sünde zuvor als Negativum, als Endlichkeit, Unwissenheit usw. festgelegt, hätte sich deren Aufhebung gleichsam natürlich ergeben. Hat sich das Christentum zuerst seinen ›Halt‹ (vgl. 209 / 98,19) in der Position der Sünde verschafft, so ›räumt‹ es nun selber seine Position – aber nicht gegenüber dem menschlichen Verstand, sondern gegenüber dem Ereignis der Versöhnung (212 / 102,9–15). Dieses weitere Paradox hat seinen Grund in der christlichen Lehre selbst, die zwischen der Position der Sünde und ihrer Negation durch die Versöhnung eine unbegreifliche Kluft läßt. Im christlichen Glauben kann der Mensch nicht auf der Position der Sünde verharren, weil diese Position selbst nicht ewig ist. Sie bezeichnet die ›Unwahrheit des Individuums‹ (SKS 7, 191 / AUN1, 199). Sie ist das Nicht-Seiende, »die Sinnlichkeit, die dem Geist fern ist«, und »die Zeitlichkeit, die von der Ewigkeit vergessen ist« (SKS 4, 385 / BA, 89,25ff, Anm.). Kierkegaard scheint damit die Sünde nun doch als etwas Negatives zu verstehen. Diese Merkwürdigkeit ist nur zu verstehen, wenn man die Position oder Negation in ihrer jeweiligen Relation berücksichtigt. Hinsichtlich des Verstandes ist die Sünde eine – unbegreifliche – Position, aber hinsichtlich der Versöhnung eine Negation. Die Position ist für den Verstand als Position anzusehen, weil sie ›vor Gott‹ im Licht der Ewigkeit offenbar ist. Aber die Position der Sünde ist nicht ewig, auch wenn sie ›vor Gott‹ ist, sie wird im Gegenteil durch die Ewigkeit Gottes beseitigt, weil das Ewige selbst in die Zeit kommt (vgl. SKS 7, 520 / AUN2, 284), die von der Ewigkeit ›vergessen‹ ist. Die Sünde in ihrer Sinnlichkeit und Zeitlichkeit wird von Kierkegaard mit dem Begriff des Nicht-Seienden oder Nichts ausgedrückt (SKS 4, 385 / BA, 89,24–27), weil sie negativ durch die Abwesenheit des Geistes und der Ewigkeit zu bestimmen ist. Für sich gesehen ist die Sünde nicht fassbar, sondern allein in ihrer Relation zur Ewigkeit. Da aus dieser ewigen Perspektive der Verstand die Sünde nicht betrachten kann, ist die Bestimmung der Sünde als Negation ihm nicht adäquat. Er muss vielmehr festhalten, dass das Nicht-Seiende im Licht der Ewigkeit überall als

Begreifen und Glauben der weggenommenen Sünde

331

Schein und Eitelkeit da ist und nicht negiert werden kann (SKS 4, 385 / BA, 89,24ff). Der Mensch soll also die Sünde als Position leidenschaftlich mit seinem Verstand festhalten, auch wenn er sie zum einen nicht begreifen kann, und sie zum anderen von der Versöhnung her gesehen nur eine scheinbare, nicht daseiende Position ist, die zugunsten der Position des von Gott versöhnten Menschen zu beseitigen ist. Als Schein wird sie nicht durch den Verstand, sondern von Gott her entlarvt. Der Schein der Sünde bleibt für den Verstand eine unbegreifliche Position, die nicht beseitigt werden kann. Doch für den in Gott gegründeten durchsichtigen Glaubenden fällt der Schein in sich zusammen. Für die christliche Betrachtungsweise der Versöhnung »kommt alles darauf an, es [sc. das Nichtseiende] zu beseitigen, um das Seiende zur Geltung zu bringen. Nur so ist der Begriff Versöhnung in dem Sinne, in dem das Christentum ihn in die Welt brachte, historisch richtig erfaßt« (SKS 4, 385 / BA, 89,27–30). Geht man indessen in seinem Denken von der Tat der Versöhnung aus und lässt das Nicht-Seiende nicht da sein, versucht man also doch, die göttliche Versöhnungsperspektive einzunehmen, in der die Sünde als Negation betrachtet wird, »so hat man die Versöhnung verflüchtigt und ihre linke Seite nach außen gekehrt« (SKS 4, 385 / BA, 89,32f). Letztere Wendung hält fest, dass der Ausgangspunkt beim Nicht-Seienden der Negation von der Sache her gesehen nicht falsch ist,13 aber indem man ihn, der vom menschlichen Verstand abgekehrt ist, ›nach außen‹ ziehen, ihn für alle einsichtig machen will, verliert man die Wahrheit der Versöhnung. Nur als Geheimnis bleibt die Wahrheit gegenüber dem Verstand gewahrt. Es gilt auch hier : Die Erklärung der Versöhnung, für die das Nicht-Seiende nicht ist, ist nicht zum Nachdenken (vgl. SKS 4, 333 / BA, 24,13f) – sondern eine Existenzmitteilung zum Glauben. Es liegt eben ganz und gar nicht »im Interesse der Dogmatik, alle zu interessierten und teilnehmenden Zuschauern bei der Versöhnung zu machen, nicht aber zu Versöhnten« (SKS 4, 342 / BA, 36,2–5). Wenn Kierkegaard betont, dass die Festlegung und Beseitigung der Sünde von ein und derselben christlichen Lehre erfolgt (212 / 102,12–15), weist er auf den inneren Zusammenhang beider Sachverhalte hin. Mit der Sünde als Position ist auch die Versöhnung als Beseitigung dieser Position gesetzt (vgl. SKS 4, 406 / BA, 114,5ff). Die der Sünde entsprechende und dadurch sie beseitigende Größe ist das Opfer Christi. »[D]ie Vollkommenheit des Opfers entspricht dem, daß das wirkliche Verhältnis der Sünde gesetzt ist« (SKS 4, 406 / BA, 114,9f). Das voll-

13 Für Kierkegaard ist es ja die Versöhnung, »in Gestalt von deren Erklärung diese Wissenschaft [sc. die Dogmatik] die Voraussetzung der Sündhaftigkeit erklärt« (SKS 4, 363 / BA, 61,8ff).

332

Sünde als dogmatischer Begriff

kommene Opfer ist Gott selbst, der in seinem Sohn Jesus Christus sich als Opfer für die Sünde der Menschen gab.14 Das Christentum reißt mit seinen paradoxen Bestimmungen Sünde und Versöhnung ›rettungslos‹ auseinander. Es legt den Menschen auf die Position der Sünde fest, dass er keine Aussicht auf Rettung sieht und in seiner Sünde nur durch und durch verzweifeln kann. Und dann kommt das Christentum sogleich mit der Mitteilung, dass die Sünde gänzlich beseitigt sei (212 / 102,19–26). Eine solche Botschaft lässt sich nur trotz der Position der eigenen Sünde glauben, weil deren Beseitigung für den Menschen unmöglich ist. Trotz der eigenen Sünde daran zu glauben, heißt, in der Ausweglosigkeit der eigenen Sünde zu glauben, dass für Gott alles möglich ist. Die Annahme der Möglichkeitsfülle Gottes im Glauben bedeutet die gänzliche Beseitigung der Sünde, deren Möglichkeit ständig zu nichts wird. Insofern wiederholt sich in dem für den Verstand paradoxen Verhältnis von Sünde und Versöhnung die Dialektik des Glaubens. Der Mensch versteht seinen Untergang als das Sicherste und glaubt trotzdem. Untergang und Glauben sind ohne Übergang wie Sünde und Versöhnung. Sie sind für den Verstand nicht aufeinander zu beziehen und bilden doch eine unauflösliche Einheit, weil man nur durch und durch verzweifeln kann, wenn man glaubt, dass für Gott alles möglich ist, und umgekehrt nur glauben kann, wenn man durch und durch verzweifelt hat. Diese Einheit und doch Nichteinheit bestätigt Kierkegaards Bestimmung des Christentums als Paradox.

14 Zu Kierkegaards Interpretation des Versöhnungsgeschehens als paradoxe Vorsehung siehe Schulz, Eschatologische Identität, 477–492.

14. Kapitel: Die Formen der Sünde

1.

Kontinuität und Konsequenz als Strukturmerkmale der höheren Sündenformen

a)

Die Kontinuität der Sünde

Kierkegaard versteht Sünde nicht in der Weise, dass der in ihr gefangene Mensch wahllos zwischen der einen oder anderen Form von Sünde hin und her wechselt, sondern die Sünde bringt in ihren höheren Formen eine eigene Konstanz hervor, die den Menschen in der einen oder anderen Form der Sünde festsetzt, ohne dass ein Wechsel in eine höhere Form der Sünde gänzlich ausgeschlossen wäre. Bevor die einzelnen Formen der Sünde genauer analysiert werden sollen, ist auf die grundsätzliche Kontinuität der Sünde näher einzugehen. »Jeder Zustand in der Sünde ist neue Sünde« (217 / 108,2).Wieso ist jeder Zustand in der Sünde als neue Sünde anzusehen? Plausibler würde es erscheinen, den Zustand in der Sünde als Verbleiben in der jeweiligen Sünde zu verstehen, die dadurch vielleicht quantitativ vermehrt wird, aber nicht die Qualität einer neuen Sünde hinzugefügt bekommt. Wird hier das Sündersein nicht übertrieben? Ist Sünde nicht sachgemäßer nur an der jeweilig aktuellen Tat festzumachen, und nicht an dem einer neuen Tat baren Zustand, der auf jene folgt? Um Kierkegaards Behauptung zu verstehen, ist sein Begriff des Zustandes näher zu erläutern. Der Zustand in der Sünde ist eigentlich ein Gegenstand der Psychologie (SKS 4, 415 / BA, 123,22). Deshalb finden sich in der ›psychologischhinweisenden‹ Untersuchung BA wichtige Einsichten in das Wesen des sündhaften Zustandes. Für Kierkegaard wird in der Psychologie die Geschichte des individuellen Lebens als eine Bewegung von Zustand zu Zustand gedeutet (SKS 4, 415 / BA, 123,14ff). Für die Sünde bedeutete das eine Aneinanderreihung eines sündigen Zustandes an den nächsten. Von daher muss die These, der Zustand der Sünde entspräche schon einer neuen Sünde, als Übertreibung erscheinen. Doch Kierkegaard mahnt zur Vorsicht bei der psychologischen Betrach-

334

Die Formen der Sünde

tungsweise (SKS 4, 415 / BA, 123,13f). Das Phänomen der Sünde lässt sich psychologisch als auch ethisch-dogmatisch betrachten. Die christliche Ethik, welche die Dogmatik voraussetzt (SKS 4, 328 / BA, 18,22), also den Sündenbegriff kennt und nicht wie die ›erste Ethik‹ an diesem Begriff scheitert (SKS 4, 324 / BA, 14,13f), kommt zu einer anderen Sicht der Dinge. In der im explizit christlichen Sinn verstandenen ›zweiten Ethik‹ wird die Wirklichkeit der Sünde mitreflektiert (SKS 4, 330 / BA, 21,23f), dieser Ethik liegt die in der Dogmatik begründete Einteilung auf die zwei »Rubriken« (217 / 108,8) Glauben und Sünde zugrunde. Jeder Augenblick, in dem eine Sünde unbereut bleibt, bedeutet eine neue Sünde. Die christliche Ethik spricht nicht von Zuständen, sondern vom jeweiligen Augenblick, was dem Begriff der Sünde angemessener ist. Die Psychologie muss die Sünde notwendigerweise als einen Zustand umschreiben und verleiht ihr damit eine gewisse Statik. Der Gegenstand der Psychologie muss für Kierkegaard »etwas Ruhendes sein, das in bewegter Ruhe bleibt« (SKS 4, 329 / BA, 19,11). Aber als Zustand ist die Sünde ethisch-dogmatisch nicht sachgemäß beschrieben, vielmehr ist sie ›de actu‹ oder ›in actu‹ jeden Augenblick (SKS 4, 323 / BA, 12,4f). Der Zustand ist in die Augenblickfolge der stetig neuen Sünde zurückzuführen. Deshalb ist jeder Zustand in der Sünde neue Sünde. Im Unterschied zur Psychologie, die ihrem Gegenstand in seiner ›bewegten‹ Ruhe nachgeht, missversteht der Mensch gemeinhin seine Sünde im Sinne eines ruhenden Zustandes. Nur bei größeren Entscheidungen scheint für ihn eine echte Steigerung der Sünde möglich. Der Mensch will sich nicht bewusst werden, dass er sich in jedem Augenblick für oder gegen die Sünde entscheidet. Kierkegaard gesteht den meisten Menschen nicht mehr als Unmittelbarkeit »mit dem Zusatz einer kleinen Dosis Reflexion in sich« (173 / 58,28) zu. Dieses ›halbwegs Geist-sein‹, das dem verbreiteten »Halb-Dunkel über seinen eigenen Zustand« (163 / 47,13) der Verzweiflung entspricht, verhindert ein kontinuierliches Sündenbewusstsein. Doch die Ewigkeit ist die wesentliche Kontinuität, fordert vom Menschen diese Kontinuität, oder, daß er sich als Geist bewußt ist und den Glauben hat (217 / 108,18ff).1

Das Geistsein des Menschen besteht in Kontinuität. Mit der Stetigkeit des Geistes wäre aber noch nicht die wesentliche Kontinuität erreicht, die von der Ewigkeit gefordert ist. In ihr soll der Mensch sich nicht nur ›als Geist‹ bewusst sein, sondern auch den Glauben haben. Beides hängt zusammen, weil nur der Glaubende sich wahrhaft als Geist bewusst ist. Als Glaubender ist sich der Mensch vor Gott bewusst, und nur so ist er das unendliche Selbst des Geistes (194 / 81,10f). Auch von einer »Kontinuität der Sünde« (218 / 108,36) lässt sich sprechen. Das erscheint auf den ersten Blick nicht einsichtig. Wenn der in der Möglichkeit 1 Statt ›Kontinuierlichkeit‹ in der Übersetzung Rochols wurde ›Kontinuität‹ gewählt.

Kontinuität und Konsequenz als Strukturmerkmale der höheren Sündenformen

335

verzweifelte und darin sündige Mensch nicht ›von der Stelle kommt‹ und in sich selbst nur eine abstrakte Möglichkeit bleibt (151 / 33,26ff), ist zu fragen, ob die Sünde nicht besser als das Nicht-Kontinuierliche zu bezeichnen wäre. Gerade in dem genannten Fall besteht das Unglück des Verzweifelten darin, dass keine von ihm anvisierte Möglichkeit wirklich Bestand hat und zugleich von der nächsten überholt werden muss. Um Kierkegaards Rede von der ›Kontinuität der Sünde‹ zu verstehen, ist sie einerseits gegen die »wesentliche« (217 / 108,18) Kontinuität der Ewigkeit und andererseits gegen eine rein negativ gemeinte Nicht-Kontinuität abzugrenzen. Kierkegaard hat die Kontinuität einer inneren Verschlossenheit, wie sie dem höher verzweifelten Sünder eigen ist, in BA näher erläutert. Die Kontinuität eines solchen in sich verschlossenen Sünders ist eine Schein-Kontinuität, die mit dem kontinuierlichen Schwindel eines Kreisels vergleichbar ist, der sich ständig auf seiner Spitze dreht (SKS 4, 431 / BA, 142, 23–27). Die Sünde besteht in der furchtbaren Leere und Inhaltslosigkeit des Bösen (SKS 4, 434 / BA, 146,11ff). Diese Erstorbenheit des Menschen in der Sünde ist eine »Kontinuität im Nichts« (SKS 4, 434 / BA, 146,7f).2 Dagegen steht die Vorstellung der wesentlichen Kontinuität der Ewigkeit, in der nicht die Leere in sich verschlossen wird, sondern man in Gott ›verschlossen‹ ist, was gerade die höchste Ausweitung bedeutet (SKS 4, 434 / BA, 147,10f). Der Gläubige lebt in der Kontinuität der Wirklichkeit unendlicher Möglichkeiten. Angesichts der Kontinuität der Ewigkeit scheint die sündige Kontinuität des Nichts zum Nicht-Kontinuierlichen zusammenfallen. Kierkegaard überlegt, ob er für diese verschlossene ›Dämonie des Nichts‹ in »Anklang an neuere philosophische Terminologien« (SKS 4, 435 / BA, 147,15f) nicht auch die Bezeichnung des Negativen verwenden könnte, und er wäre dem nicht abgeneigt, wenn man die schillernde Bedeutungsvielfalt des Negativen auf die Bedeutung der »Form des Nichts« (SKS 4, 435 / BA, 147,22) festlegen würde. Aber der Begriff des Negativen besitzt für ihn die Eigenart, dass er »das Verhältnis zu anderem bestimmt, das negiert wird« (SKS 4, 435 / BA, 147,24f), während die ›Kontinuität des Nichts‹ nur als eine Zustandsbestimmung verstanden werden darf, die gleichsam nach innen und nicht nach außen zu anderem hin bestimmt ist. Die Sünde ist eine Position, die »aus sich heraus« (218 / 109,7) Kontinuität entwickelt. Sie bleibt ein ohnmächtiger Versuch, sich zu konstituieren, was selbst im verzweifelten Trotz nicht gelingen mag. Aber die Selbstkonstitution gelingt immerhin als Schein. Diese positive Macht in der Ohnmacht der Selbstkonstitution würde bei der Verwendung des Negationsbegriffs unterdrückt.

2 Zur werkgeschichtlichen Genese jenes Gedankens einer Kontinuität der Sünde siehe Nordentoft, Kierkegaard’s Psychology, 230–233.

336 b)

Die Formen der Sünde

Die Konsequenz der Sünde

Wenn der Zustand in der Sünde die Fortsetzung der Sünde ist, dann liegt darin eine immanente Konsequenz der Sünde (218f / 109,39–110,10). Wie stellt sich die Konsequenz auf den verschiedenen Stufen der Verzweiflung dar? Die meisten Menschen haben für Kierkegaard aufgrund ihrer Geistlosigkeit keine Vorstellung davon, was Konsequenz ist. Das Leben wechselt bei ihnen gleichgültig zwischen Verzweiflung und Lustigkeit hin und her (219 / 110,14–27). Zu dieser Inkonsequenz kommt es, weil die Menschen sich von außen bestimmen lassen. Sie reagieren so wechselhaft, wie die sie betreffenden Ereignisse sind. Von daher wäre es für sie unsinnig, alles für eine Sache einzusetzen – es könnte ja im nächsten Moment von außen noch eine bessere Sache eintreten. Jedes Wagnis ist zu vermeiden, weil man dabei verlieren kann (150 / 32,10ff). Der unmittelbar er selbst zu sein meinende Mensch hat kein kontinuierliches Selbstsein und geht in eine Abfolge von wechselnden Stimmungen auf. Anders verhält es sich bei einer Existenz unter der Bestimmung Geist. Ein solcher Mensch fürchtet unendlich jede Inkonsequenz (219 / 110,28–111,4). Einer der eindrücklichsten Belege für eine solche Haltung ist bei jenem absolut Verschlossenen zu finden, der dann doch die Inkonsequenz begeht, sich einem Menschen zu öffnen. Konsequenterweise muss der Verschlossene hierüber am meisten verzweifeln, und ihm ist, »als hätte er doch tausendmal lieber im Schweigen durchhalten sollen, als einen Mitwisser zu haben« (180 / 68,5f). Auch die Sorge des Menschen mit leidendem Selbstsein, das jede Qual vorzieht, »wenn dabei nur gewahrt ist, daß es es selbst sein kann« (185 / 73,30f), ist die Sorge um die eigene Konsequenz. Dass diese Menschen unter der Bestimmung Geist schon die geringste Inkonsequenz als ungeheuren Verlust fürchten, liegt in ihrer selbstbewirkten Verzweiflungssteigerung begründet. Kierkegaard spricht diesen Geistexistenzen Konsequenz in etwas Höherem zu, zumindest in einer Idee (219 / 110,30f). Es handelt sich bei der Totalität, auf der ihr Leben »ganz und gar beruht« (219 / 110,35), die ihr Selbstsein ausmacht, um eine Gedankenbestimmung. Sie hat bei den leidenden Verzweifelten ihren Ursprung in der Totalisierung von etwas Irdischem zum Ganzen (175 / 61,5–9). Alles wird auf dieses eine, das einen ›selbst‹ ausmacht, ausgerichtet, während sich der Geistlose unmittelbar an Irdischem und Zeitlichem orientiert, das als solches in Einzelnes auseinanderfällt (175 / 61,9ff). An der selbsterdachten Totalität hingegen, an der selbsterdachten Selbstgestalt verzweifelt und arbeitet voller Verzweiflung die geistige Existenz. Sie ist ihr Leiden, aber auch ihr Stolz. Dieser Stolz ist die geheime ›Sprungfeder‹ (219 / 110,39), durch die der verzweifelte Sünder immer wieder ›Schwung‹ und ›Tempo‹ (219 / 111,3) bekommt, stets neu an seiner alles einschließenden Verzweiflung zu arbeiten. Geschähe die geringste Inkonsequenz, könnte zum Vorschein kommen, dass sein irdischer, von ihm totalisierter

Kontinuität und Konsequenz als Strukturmerkmale der höheren Sündenformen

337

Verlust in Wahrheit nur ein relativer ist, und das durch die Totalisierung gewonnene Selbstsein in die Endlichkeit zurückfallen. Der Mensch stände damit in der Gefahr, durch und durch zu verzweifeln. Die Inkonsequenz könnte der entscheidende Schritt aus der Verzweiflung sein: »[I]m selben Augenblick ist vielleicht der Zauber gebrochen« (219 / 110,36f).

c)

Die Konsequenz der Sünde in ihrer dämonischen Qualität

In den höheren, geistig geprägten Sündenformen nimmt für Kierkegaard die Sünde dämonische Züge an. Das Gegenbild zum Glaubenden wird durch den dämonischen Menschen repräsentiert, dessen Dämonie darin besteht, dass sein Verhalten dem Glaubenden so ähnlich ist.3 Kierkegaard vergleicht ihn mit einem Trinker, der seinen Rausch ständig aufrechtzuerhalten sucht (220 / 111,16–22). Beim dämonischen Menschen liegt eine Art geistiger Rausch vor. Er ist berauscht von seiner Selbstvorstellung, die er sich geschaffen hat. Der geistig Berauschte hat den Bezug zur Realität seiner Endlichkeit verloren und meint seinen Rausch auf immer aufrechterhalten zu können. Er ist einerseits von der Fortführung seines Rausches abhängig, wie er andererseits diese Fortführung willentlich betreibt. Er kann nicht anders und will auch nicht anders. Aus seiner Furcht vor einer Inkonsequenz, die seinen Rausch unterbräche, spricht die Ohnmacht seiner Abhängigkeit, die jener völligen Ohnmacht ähnelt, die den Glaubenden auszeichnet, wenn er seinen Untergang versteht. Aber hier zeigt sich auch der Unterschied. Der Glaubende fürchtet in seiner Ohnmacht nicht den Untergang, sondern gerade nicht untergehen zu können, wie es der Krankheit zum Tode entspricht. Im Untergang seines verzweifelten Selbstseins besteht die Rettung für den Glaubenden. Dagegen erhält sich der Dämonische in seiner ohnmächtigen Furcht. Die Versuchung für den dämonischen Menschen ist die, sich selbst zu verlieren; die Versuchung für den Glaubenden ist die, sich selbst festzuhalten. In einer Gegenüberstellung eines dämonischen mit einem am Guten orientierten Menschen zeigt Kierkegaard, dass die Furcht des Dämonischen darin besteht, schwach zu werden (220 / 111,27–39). Dann müsste der dämonische Mensch gewahr werden, wie es um ihn steht. Das Dämonische gründet in der Ohnmacht, und seine Stärke ist allein die eines konsequent aufrechterhaltenen Scheins. So zeigt der dämonische Mensch nicht den Stolz des Trotzes gegenüber

3 Die dämonischen Menschen lassen sich nicht konsequent von den geistlos-unmittelbaren abheben, weil von dem ›Dämonischen‹ zu sagen ist, »daß sich Spuren davon bei jedem Menschen finden, so gewiß jeder Mensch ein Sünder ist« (SKS 4, 424 / BA, 134,3f).

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Die Formen der Sünde

dem Guten, sondern gleichsam die Demut des Trotzes, wenn er »unter Tränen« (220 / 111,30) für sich bittet, ihn mit dem Guten zu verschonen. Zu diesem direkten Gegenüber von Dämonie und Gutem wird es normalerweise nicht kommen, weil der Dämonische sich in seiner Totalität verschließt. Er ist nur indirekt erkennbar, weil er sein Äußeres zu etwas Indifferentem gemacht hat (186 / 75,11ff). Kierkegaard hat bei der Gegenüberstellung jene Geschichten aus dem Neuen Testament als Vorlage genommen, in denen dämonische Geister Jesu bitten, er möge sie verschonen (Mk 1,24; 5,7). In der Begegnung mit dem Sohn Gottes wird die dämonische Verschlossenheit durchbrochen, und der Ohnmächtige, der der ganzen Welt zu trotzen vermag, erfährt einen Stärkeren. Kierkegaard hat diesen Sachverhalt in BA näher erläutert: Das Dämonische wird daher erst richtig deutlich, wenn es vom Guten berührt wird; das also von außen an seine Grenze herankommt. Es ist aus diesem Grunde bemerkenswert, daß sich das Dämonische im Neuen Testament immer erst zeigt, wenn Christus an es herantritt; und gleichgültig, ob der Dämon Legion ist (vgl. Matth.VIII, 28–34. Marcus V, 1–20. Luc. VIII, 26–39) oder ob er stumm ist (vgl. Luc. XI,14), das Phänomen ist das gleiche, ist Angst vor dem Guten […] (SKS 4, 421 / BA, 130,23–30).

In dieser christologischen Perspektive ist auch die direkte Gegenüberstellung des Dämonischen mit dem Guten in KT zu lesen. Christus braucht nur ein Wort zu sagen (vgl. Mt 8,8), und die Totalität der Verzweiflung würde in einem Augenblick zusammenfallen. Der Mensch hat am Guten verzweifelt, »es kann ihm ohnehin nicht helfen« (220 / 111,39–112,1) – weil es nicht zu seinen Möglichkeiten gehört. Der Sünder lebt ganz in der Fortsetzung seiner Sünde, was analog zu der Aufeinanderfolge der Möglichkeiten in der Verzweiflung der Möglichkeit zu verstehen ist. In dieser Verzweiflungsform kommt das eigentümliche Sich-Fortsetzen ans Licht, bei dem keine wirkliche Kontinuität erzielt wird. War die Bewegung des Fatalisten in seiner Möglichkeit der Notwendigkeit nur ein ständiges zustimmendes Nicken zum Geschehenden, so ist der in der Möglichkeit Verzweifelte richtig am ›Zappeln‹ (vgl. 151 / 33,27f). Er setzt etwas fort, was gar nicht wirklich angefangen hat und nie wirklich werden kann. Die haltlose Fortsetzung der eigenen Möglichkeiten ist vor Gott die Fortsetzung der Sünde. In der Verzweiflungsdarstellung des ersten Abschnitts der KT, welche die Bestimmung ›vor Gott‹ ausgeblendet hatte, war es ein ›Abgrund‹ (151 / 33,36), der den Verzweifelten mehr und mehr verschlang. Dieser Abgrund wird im zweiten Abschnitt ›vor Gott‹ als Zustand in der Sünde – als ständig neue Sünde – offenbar, der den verzweifelten Menschen, »tief drunten, wohin er gesunken ist, zusammenhält« (220 / 112,6f). Was den Menschen im Innersten zusammenhält, ist nicht in der Immanenz der Verzweiflung, sondern mit deren Aufdeckung als Sünde zu erhellen.

Kontinuität und Konsequenz als Strukturmerkmale der höheren Sündenformen

d)

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Die Umkehrung der Verzweiflungsbestimmung in der Sündenbetrachtung

In der tieferen Betrachtung ›vor Gott‹ erscheinen die Bestimmungen, die der Verzweiflung anhängen, in einem neuen Licht. ›Vor Gott‹ ist das Verhalten des Verzweifelten neu zu bewerten. Die Selbstwahrnehmung seiner verzweifelten Situation enthüllt sich vor Gott als bewusst betriebene Selbsttäuschung. Der Verzweifelte verzweifelt über seine Schwäche, »daß er schwach genug sein konnte, dem Irdischen eine so große Bedeutung beizumessen« (176 / 62,27f). Er verzweifelt über sein schlechtes Verhalten und scheint nach dem Guten zu trachten. Tiefer gesehen will er aber nichts mit dem Guten zu schaffen haben, weil er mit der Verzweiflung über seine Schwäche sich in sich selbst verschließt und gegen Gottes Stimme abschirmt. Die Sünde »will nur auf sich selbst hören« (221 / 112,33). Im Verhältnis zu sich selbst sieht es so aus, als kämpfe der Verzweifelte gegen seine eigene Verfehlung an; im Hinblick auf das Gottesverhältnis zeigt sich hingegen, dass hier ein Sünder für seine Sünde kämpft.4 In diesem akustisch konstruierten Grundverhältnis (226 / 118,26f) will er nichts hören, sondern seine tiefe Stille, durch die hindurch er Gott vernehmen könnte, vom Lärm des eigenen Inneren übertönen. Er will auf die eigene Verzweiflung, also seine Sünde, hören und nicht auf die Stimme Gottes.5 Um sich vor dieser Stimme zu schützen, verdoppelt der Sünder seine Verschlossenheit, indem er über seine Sünde verzweifelt. Zuerst reißt er sich von Gott los. Er verliert sein wahres Selbstsein und hat nur mit sich selbst in seiner Geistlosigkeit zu tun. Doch könnte ihm das Gute noch folgen und ihn in seiner ›Selbstlosigkeit‹ ansprechen. Um sich vor einem solchen ›Überfall‹ (221 / 112,36f) zu schützen, nimmt der Sünder selbst die Gott zustehende Außenposition ein und wacht über sich selbst. Er bleibt nicht in seiner sündigen Geistlosigkeit, sondern stellt sich geistvoll seine sündige Selbstgestalt vor, über die er verzweifelt. So will er sich vor jeder »Nachstellung von seiten des Guten« (221 / 113,1) schützen. Spricht ihn ›das Gute‹ auf seine Sünde an, wird er ihm zustimmen und die eigene sündige Selbstgestalt verzweifelt beklagen. Der Sünder lässt ›das Gute‹ ins Leere laufen, aber um den Preis, dass er die Brücke hinter sich abgebrochen hat, auf der er noch zu seinem Vor-Gott-sein hätte zurücklaufen 4 Diese tiefere Bedeutung der Verzweiflung ist die entscheidende für den Menschen. Vgl. SKS 10, 151 / CR, 151, Hervorhebungen im Original: »[D]er Streit, in dem er [sc. ein Mensch] steht, geht allemal darum, ob er seine Seele rette, ob er das Ewige in der Zeitlichkeit verlieren, d. h. verlorengehen wolle, oder in der Zeitlichkeit das Ewige gewinnen wolle, indem er das Zeitliche verliert. Daß man allein darauf blicken soll, entgeht dem Weltmenschen ganz und gar. Wenn er darum in der Zeitlichkeit das Zeitliche entscheidend verliert, so verzweifelt er, d. h. so wird es offenbar, daß er verzweifelt schon gewesen ist.« 5 Zur akustischen Konstitution des Geistverhältnisses bei Kierkegaard siehe hier Kapitel 5.1.e.

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Die Formen der Sünde

können. Die Metapher der hinter einem liegenden zerstörten Brücke (221 / 113,2) schließt sich an das Bild jenes Ritters an, der den Weg nicht mehr zurückfindet (153 / 35,12–21). So wie die Verzweiflung sich in ihrer Intensivierung zur Verzweiflung über die Verzweiflung entwickelte, so ist nun auch von einer Sünde gegenüber der eigenen Sünde zu sprechen, die Kierkegaard mit einem doppelten Abfall vom Guten behaftet (221 / 113,5–14). Nicht nur mit dem Guten wird gebrochen, sondern auch mit der Reue und Gnade, für die die Brücke steht, auf der man zurückgehen könnte. Der Sünder reißt sich beim zweiten Mal von seinem Sündersein vor Gott los und betrachtet die Gnade als seinen Feind. Die Feindschaft gegen die Gnade hat im Gottesverhältnis des Menschen ihren Ort, während im Verhältnis zu sich selbst die Verzweiflung herrscht, in der diese Feindschaft verborgen bleibt. Doch bedarf die Unterscheidung zwischen der Relation der Sünde, die im Gottesverhältnis zu verorten ist, und der Relation der Verzweiflung, die im Selbstverhältnis Raum greift,6 noch einer wichtigen Präzisierung. Der Mensch verdeckt in seinem verzweifelten Selbstverhältnis die Wahrheit seiner Sünde. Zu dieser Verzweiflung gehört auch seine Verzweiflung über die Sünde. Er besitzt also auf der Ebene seines Selbstverhältnisses ein von seinem Gottesverhältnis zu unterscheidendes Verhältnis zu seiner Sünde. Die Verzweiflung über die Sünde gehört als Ausdruck dafür, dass der Mensch nichts mit dem Guten zu schaffen haben will (221 / 112,31), zur Relation der Sünde, aber »dank der Verschmitztheit und Sophisterei, die alle Verzweiflung mit sich selber treibt, ist die Verzweiflung über die Sünde nicht abgeneigt, sich den Anschein von etwas Gutem zu geben« (222 / 114,25–28) – und gehört in dieser Weise zur Relation der Verzweiflung.

e)

Der Wille zur Sünde und die Verzweiflung

Wie jemand, der in einer Ballongondel sitzt und steigen will, indem er Gewichte abwirft, so versucht der über die Sünde Verzweifelte das Gute von sich abzuwerfen, um in der Konsequenz des Dämonischen zu steigen (221f / 113,23–29). Der verzweifelte Mensch meint zur göttlichen Freiheit aufzusteigen, aber er wirft gerade das ab, was ihn zu Gott aufsteigen ließe. Er entledigt sich als Sünder weiter des Guten. Er selbst in seiner Verzweiflung glaubt zu steigen und macht sich nicht sein sündiges Verhalten bewusst. In Wirklichkeit sinkt er, weil die Gewichte des Guten und der Gnade, die ihn in seine irdische Endlichkeit herunterziehen, gerade zu Gott erheben würden. Nur mit der Gnade beschwert kann er 6 Es sei hier nochmals daran erinnert, dass das Selbstverhältnis hier seiner Struktur nach als solches verstanden wird. Der Verzweifelte selbst ist in seinem Verhältnis zu sich selbst zerrüttet und hat nur ein Selbst jat± d}malim.

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die göttliche Stimme vernehmen, also zu Gott erhoben sein. Indem der Verzweifelte das Gute und die Gnade abwirft, macht er sich leichter, aber in dem Sinne, dass er sich gleichsam selbst entleert und nichts bleibt, was ihm selbst Gewicht geben könnte. Die Verstocktheit gegen das Gute und die Gnade ist der Versuch, »der Sünde Halt und Interesse als Macht zu verschaffen« (222 / 113,34f). Dieser dem Gottesverhältnis zugehörige Versuch nimmt in der Relation des Selbstverhältnisses die Form an, dass man seine Selbstgestalt zu konstituieren versucht. Der Mensch des handelnd verzweifelten Selbst-Bewusstseins verschafft sich Halt durch seine ›Luftschlösser‹ (183 / 71,18f), der des leidend verzweifelten durch sein Elend, das er immer bei sich tragen will. Der Verzweifelte ›füllt‹ die mögliche eigene Selbstgestalt mit Abstrakta oder Übersteigerungen des Irdischen auf und hängt seine verzweifelte Hoffnung daran. Von dieser stets aufrechterhaltenen und erneuerten Illusion kann in der Relation der Sünde ›vor Gott‹ nicht die Rede sein. Hier ist es nicht der Versuch, dem eigenen Selbstentwurf Halt zu verschaffen, sondern der Sünde. Im Gottesverhältnis will der Mensch bewusst gegen die Gnade die Sünde wählen, was er sich in seinem Selbstverhältnis unbewusst-bewusst verdeckt. Wenn der Verzweifelte durch die Ausweitung des Irdischen zum Irdischen in toto zu Selbst-Bewusstsein kommt, hat die höchst geistvolle Berechnung eingesetzt, mit der die eigene Seele in Dunkelheit getaucht wird. Mit ihr verfolgt der Verzweifelte das Ziel, nicht er selbst in seiner Verzweiflung zu sein. Nur so kann der Verzweifelte für sich verdecken, was er in Wahrheit tut und was ihm in Wahrheit bewusst ist. Die Verzweiflung über die Sünde ist sich »ihrer eigenen Leere bewußt, daß sie nicht das mindeste hat, wovon sie leben könnte« (222 / 113,38f). Eigentlich wäre dies der im ersten Abschnitt nie erreichte Punkt, wo die Reue des Verzweifelten einsetzen müsste und er sich für die Gnade Gottes öffnen würde. Diese Verzweiflung an der Sünde würde die durchdringende Verzweiflung bedeuten, aus der die Umkehr erwächst. Aber die Umkehr geschieht nicht, vielmehr entfernt sich der Verzweifelte von ihr, wenn er sich seine Leere in seiner Verzweiflung verdeckt. Aufgrund dieser Verschleierung seines wahren Gottesverhältnisses, die der Mensch in der Relation des Selbstverhältnisses betreibt, muss er nicht an der eigenen Leere durch und durch verzweifeln, sondern kann im Gegenteil in dieser Leere dem Bösen – oder wie er für sich meint: dem Guten – Raum verschaffen. Nur in diesem differenzierten Verhältnis zwischen Verzweiflung und Sünde sind die Aussagen Kierkegaards zu verstehen. Es wird sich kein Mensch finden, der im Bewusstsein der eigenen ›Selbstlosigkeit‹ dem Bösen Macht und Raum geben will. Auch der anscheinend bösartigste Mensch wird noch an der Illusion seiner Selbstgestalt hängen und Gutes für sich wollen. Aber indem er das tut, ist dem durch die Selbstillusion verschleierten, in der Selbsterkenntnis unbewussten und doch im Willen präsenten Griff nach der Sünde Raum gegeben. Hier findet das

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dialektische Zusammenspiel von Erkenntnis und Willen statt (163 / 47,33ff), das die Verzweiflung als Sünde kennzeichnet. Der Wille ist die entscheidende Kraft im Grundverhältnis: Der Mensch will die Sünde und nichts von Gnade und Reue hören. Aber das will er zugleich für sich nicht erkennen. Er will vielmehr sich selbst erkennen und dazu aktiviert er die ganze Grundkraft seiner Phantasie. In der Verzweiflungsrelation will er er selbst sein, was für die Sündenrelation bedeutet, dass er die Sünde will.7 Die Verschränkung beider Relationen lässt sich an dem von Kierkegaard zitierten Ausspruch Macbeths aus dem Shakespearschen Schauspiel, 2. Akt, 3. Szene, verdeutlichen. Nachdem Macbeth den König ermordet hat und über seine Sünde verzweifelt, ist für ihn nicht nur der Ruhm, sondern auch die Gnade gestorben: [V]on jetzt […] giebt es nichts Ernstes mehr im Leben; Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Gnade (222 / 114,2–5).8

Durch diesen ›Doppelschlag‹ (222 / 114,6) wird die Tiefenschicht des Gottesverhältnisses sichtbar gemacht. In seinem Selbstverhältnis hat Macbeth den Gipfel seiner selbstischen Gestalt erklommen. Sein Ehrgeiz hat sein Ziel erreicht. Dem Ruhm der eigenen Königswürde steht nichts mehr im Weg. Sein ernsthaftester Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Aber in seinen Worten hat er die Wahrheit über sich berührt. Es gibt nichts Ernstes mehr im Leben, weil der wahre Ernst nur im Gottesverhältnis, im rechten Verhältnis zur Gnade Gottes liegt, von dem er sich in seiner Verzweiflung über seine Sünde gänzlich abgewandt hat. Macbeth fehlt »im tiefsten Grunde« (182 / 70,21) der Ernst. Sein so erfolgreich scheinender Selbstentwurf enthüllt sich als ein Nichts. Er kann ihn, wie Kierkegaard sagt, nicht einmal vor sich selbst aufrechterhalten (222 / 114,12f). Macbeth vermag sich nicht im Ehrgeiz selbst genießen zu können. Doch die Wahrheit seiner Worte macht er sich nicht für sich selbst bewusst, sonst käme die Reue. Er wird wohl in leidenschaftslosen Momenten sich dessen klar, aber nicht leidenschaftlich dazu stehen, dass er mit dem Guten nichts zu schaffen haben will und von seiner vorgestellten ruhmvollen Selbstgestalt nicht leben kann. Im Gegenteil: Macbeth klammert sich verzweifelt an seinen illu7 Vgl. folgenden Satz aus CR, der schlaglichtartig beide Relationen aufreißt: »Wie sehr der Mensch sich auch verstocke, tief im Innern trägt er doch die Brandmarke, daß Gott der Stärkste ist, die Brandmarke, daß er Gott wider sich haben will« (SKS 10, 76 / CR, 70, Hervorhebung im Original). 8 Siehe auch SKS 4, 446 / BA, 161,8f. Hirsch (KT, GW 24, 180) hat darauf aufmerksam gemacht, dass die von Kierkegaard zitierte Übersetzung von Ludwig und Dorothea Tieck das Original irreführend wiedergibt. Das englische grace meint dort nicht die Gnade Gottes, sondern Gnade im Sinne von Huld, die ein Herrscher gegenüber seinen Untertanen gewährt. Kierkegaards Lob an Shakespeare für den ›Doppelschlag‹ von Ruhm und Gnade beruht also auf einem tiefsinnigen Missverständnis.

Die Sündenform, über die Sünde zu verzweifeln

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sionären Selbstentwurf. So bleibt er trotz aller Mühen weit davon entfernt, im Ruhm sich selbst finden zu können – was in der Relation des Selbstverhältnisses angestrebt wird –, und weit davon entfernt, die Gnade zu ergreifen – was in der Relation des Gottesverhältnisses geschähe.

2.

Die Sündenform, über die Sünde zu verzweifeln

a)

Die ›Doppelzüngigkeit‹ des über seine Sünde verzweifelten Sünders

Kierkegaard hat es nicht bei allgemeinen Hinweisen zur Beziehung von Verzweiflung und Sünde belassen, sondern die Sündenformen des zweiten Abschnitts in Entsprechung zu den vorangegangenen Verzweiflungsformen entworfen. Jedem Typus der Verzweiflung liegt eine bestimmte Ausprägung der Sünde zugrunde. So führt Kierkegaard in seiner Darstellung der Verzweiflung über die Sünde die im ersten Abschnitt der KT vorgestellte Situation des Verzweifelten über seine Schwäche fort. Der über seine Schwäche Verzweifelte ist ganze Stunden mit dem Verhältnis zu sich selbst beschäftigt, ohne eigentlich weiterzukommen (179 / 66, 3–7). Er kämpft mit seiner inneren Schwäche, ohne von ihr lassen zu können, weil er seine schwache Selbstgestalt liebt. Diese im ersten Abschnitt dargelegte Verzweiflung über sich selbst in seiner Schwäche setzt sich fort im Verhalten des über seine Sünde Verzweifelten. Es wird von Kierkegaard als Abwehr des Guten entlarvt und in die Relation des grundlegenden Gottesverhältnisses gestellt. So ergibt sich folgende Zuordnung: Der über seine Schwäche Verzweifelte:9 Gottesverhältnis: Sünde, über die Sünde zu verzweifeln Selbstverhältnis: Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

Der Sünder bekommt wohl ein Bewusstsein seiner Sünde, aber darüber verzweifelt er, ohne selbst durch und durch zu verzweifeln. Er stellt sich selbst als Sünder vor, ohne selbst als Sünder vor Gott zu stehen. Die Sünde besteht darin, dass in ihr die Bestimmung des ›vor Gott‹ verdunkelt wird, und sie intensiviert sich durch die Gott und sein Handeln verdeckende Verzweiflung. In ihr will der Sünder nicht das sein, was er vor Gott ist: Sünder. In der Betrachtung ›vor Gott‹ bedeutet die potenzierte Sündenform der ›Verzweiflung über die Sünde‹ die sich 9 Zu Struktur und Aufbau der gesamten Verzweiflungs- und Sündenformen siehe die Skizze S. 377. Im Folgenden wird für die Verzweiflung am Ewigen (8. Kapitel) ihre alternative Bezeichnung als ›Verzweiflung über sich selbst‹ vorgezogen, weil sie die Beziehung zu der ihr entsprechenden Sündenform deutlicher macht.

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Die Formen der Sünde

fortsetzende und intensivierende Sünde (vgl. 221 / 112,21ff). Dass der Sünder sich in seiner Verzweiflung von seiner Sünde trennen will, intensiviert seine Sünde. In der Relation der Verzweiflung bleibt die Verzweiflung über die Sünde in ihrer Wahrheit verborgen. In der Christenheit ist die Verzweiflung über die Sünde nur etwas, »was die Menschen so nennen« (222 / 114,17f). Die wahre Bedeutung der Verzweiflung über die Sünde bleibt im Leben verdeckt, weil der Betroffene ihr eine andere Gestalt gibt. Sie erscheint nicht als eine ›Vertiefung in der Sünde‹ (222 / 113,33f), sondern als Vertiefung in das Gute. Die ›Vertiefung in der Sünde‹ wird auf die eingebildete Selbstgestalt im Selbstverhältnis hin verkehrt. Der Verzweifelte gibt sich den Anschein, als würde er mit der Tiefe seines Selbstseins in Verbindung stehen. Aber diese offenkundig gemachte Tiefe beruht nur auf Verwirrung und Unklarheit mit sich selbst, sie ist »Verschmitztheit und Sophisterei, die alle Verzweiflung mit sich selber treibt« (222 / 114,25f). Was im Horizont der Verzweiflungsrelation als Zeichen dafür gilt, dass Geist in einem Menschen ist (178 / 65,23ff): die Besinnung des Menschen auf sich selbst, sein Bedürfnis nach Einsamkeit und sein gesteigertes Selbstbewusstsein, fällt im Hinblick auf das Gottesverhältnis zu einer Unklarheit oder Verwirrung über sich selbst zusammen. Die Rede von der Tiefe, bei der man allgemein »richtig feierlich wird und ehrerbietig den Hut abnimmt« (222 / 114,22f), ist nur ein Ausweichmanöver vor der eigentlichen Tiefe der Sünde. Kierkegaard macht diese Irreführung der Verzweiflung an dem Beispiel eines Menschen fest, der über seinen Rückfall in die Sünde verstimmt ist: Wenn ein Mensch, der sich der einen oder anderen Sünde hingegeben hatte, dann aber längere Zeit hindurch der Versuchung widerstanden und gesiegt hat – wenn er einen Rückfall erleidet und der Versuchung wieder erliegt: so ist die Verstimmung, die eintritt, keineswegs immer Trauer über die Sünde. Sie kann vieles andere sein; es kann an und für sich auch Verbitterung über die Vorsehung sein, als wäre sie es, die ihn in der Versuchung hätte zu Fall kommen lassen, als hätte sie nicht so hart gegen ihn sein dürfen, da er der Versuchung jetzt längere Zeit hindurch siegreich widerstanden habe (222f / 114,30–115,2).10

Die Verzweiflung über die Sünde scheint sich gegen die Sünde selbst zu richten, ist aber in Wahrheit nur ihre Vertiefung. Der rückfällige Mensch gleicht dem im ersten Abschnitt der KT dargestellten Menschen, der gegen seine Verzweiflung ankämpft. Dass dieser dabei nicht wirklich weiterkommt, sondern sich im Ge10 Die Trauer im Sinne einer echten Reue über die Sünde hat ihren Urgrund in Christus selbst: »Der einzige, der unschuldig über die Sündhaftigkeit trauerte, war Christus; aber er trauerte nicht über sie als Schicksal, in das er sich finden mußte, sondern er trauerte als der, der auf Grund freier Wahl die Sünde der ganzen Welt trug und ihre Strafe litt« (SKS 4, 344f / BA, 38,23–27).

Die Sündenform, über die Sünde zu verzweifeln

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genteil nur tiefer in die Verzweiflung hineinarbeitet, wurde auf eine fehlende Selbsterkenntnis zurückgeführt. Man kann ihm im Horizont seiner Verzweiflung nur sagen: »[D]u bist im Grunde noch weitaus verzweifelter, als du weißt« (162 / 46,20f). Der Verzweifelte sitzt ständig den eigenen Illusionen auf, und noch im höchsten Verzweiflungsgrad hat er kein klares Bewusstsein davon, wie verzweifelt sein Verhalten ist. Unter dem im zweiten Abschnitt der KT gesetzten Vorzeichen der Sünde wird die Falschheit eines solchen verzweifelten Bemühens schonungslos aufgedeckt. Wurde im ersten Abschnitt die Leidenschaft in der Verzweiflung höher als die leidenschaftslose Oberflächlichkeit des unmittelbar Glücklichen geschätzt, so wird sie nun ›vor Gott‹ in ihrem wahren Wesen entlarvt. Es ist in jedem Falle »völlig frauenzimmerhaft, […] gar nichts von der ›Doppelzüngigkeit‹ zu bemerken, die in jeder Leidenschaft wohnt« (223 / 115,2–5). Im Horizont des Selbstverhältnisses sieht es so aus, als wolle der Verzweifelte mit aller Leidenschaft das Gute, wenn er über den Rückfall trauert oder gegen seine Verzweiflung ankämpft. Im Hinblick auf das grundlegende Gottesverhältnis wird jedoch deutlich, dass er das Gute, das in der Gottesbeziehung liegt, loswerden will. Der Mensch ist vielleicht verbittert über die göttliche Vorsehung, als ob sie es wäre, die ihn zu Fall gebracht hätte. Er verschließt sich gegenüber Gott und hält so an seinem verzweifelten, sündigen Selbstsein fest, weil er sich mit aller Leidenschaft von Gott losreißen will. Hier hat die Leidenschaft ihren eigentlichen Ort. Der Mensch will sich von dem ihn gründenden Gott lossagen; Gott, der ihn als Selbst aus seiner Schöpferhand gelassen hat und dessen Vorsehung ihn trägt, soll in keiner Beziehung zu ihm stehen. Der über sich selbst Verzweifelte, der im Grunde über den guten Schöpfer verzweifelt, hat seinen wirklichen Verlust bis ins Unendliche vergrößert und verzweifelt über das Irdische in toto (175 / 61,14f). Das Irdische in toto wird ihm so zum Ausdruck dafür, dass er sich selbst verloren hat (176 / 62,29f). Der Verzweifelte zieht also gleichsam die Bedeutsamkeit alles Irdischen in sein vorgestelltes Selbstsein zusammen, so dass alles Irdische von seiner Verlusterfahrung her seine Deutung empfängt und für eine gute Schöpfung kein Raum mehr bleibt. Dem Schöpfer wird vom Menschen das genommen, was ihn zum guten Schöpfer für ihn, den Verzweifelten, qualifizieren würde. Alles Irdische hat sich in der verzweifelt stolzen Selbstgestalt des Menschen konzentriert. Dass der Verzweifelte den gnädigen Schöpfer als Feind betrachtet, ist ihm in seiner Verzweiflung nicht bewusst; er meint, allein an sich selbst zu leiden. Die Tiefe der Sünde, die im Missverhältnis zum setzenden Anderen ihren Grund hat, erscheint als die Tiefe des Guten, die im Verhältnis zu sich selbst ihren Grund haben soll. Aber die Selbstgestalt, um deren Sündlosigkeit die tiefe Natur scheinbar ringt, ist nur eine Projektion, um sich und andere von dem wahrhaften durch und durch sündigen Selbstsein abzulenken. Nicht die Vorstellung eines über längere Zeit sündlos gebliebenen ›Selbst‹, das dann einen

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Die Formen der Sünde

Rückfall erleidet, entspricht der Wahrheit, sondern das wahrhaft sündige ›Selbst‹ ist jenes, das ein solches ›Selbst‹ leidenschaftlich behauptet. Nicht die Erkenntnis ist in erster Linie doppelbödig, weil der Betreffende wirklich nur jenes rückfällige ›Selbst‹ als sich selbst erkennt, sondern seine Leidenschaft ist doppelzüngig, die in Wahrheit jenes ›halbsündige Selbst‹ leidenschaftlich liebt, das sie vorgibt, zu hassen. Aus der zwiespältigen Leidenschaft fließt die Doppelzüngigkeit der Rede. Der Verzweifelte kann nicht gänzlich verbergen, was ihn leidenschaftlich erfüllt. Kierkegaard zeigt auf, was passiert, wenn dieser Mensch es nachträglich begreifen sollte, dass er das Gegenteil von dem gesagt hat, was er zu sagen glaubte. Es ist ihm dann »fast bis zum Wahnsinnigwerden« (223 / 115,7), weil er nicht mehr weiß, wer er selbst eigentlich ist. Seine Selbsterkenntnis ist ihm verwirrt. Dass er selbst ganz und gar das ist, was er in Wahrheit sagt, nämlich das rückfällige ›Selbst‹, müsste ihn ›um seinen Verstand bringen‹. Es bräche jede Differenz zwischen ihm, den der Rückfall quält, und dem ›Selbst‹ des Rückfalls zusammen. Seine Worte über den ›Rückfall‹ in die Sünde sind in Wahrheit Worte des Rückfalls. Wenn er sagt, wie sehr ihn der Rückfall quäle und martere, spricht in Wahrheit sein zurückgefallenes Selbstsein, das die Sünde nicht ›vor Gott‹ stellen will. In seiner Verzweiflung über die Sünde macht der Mensch den Versuch, »der Sünde Halt und Interesse als Macht zu verschaffen« (222 / 113,34f). Die Vertiefung in der Sünde intensiviert sich in den folgenden Formen der Sünde. Der Wille zur Sünde ist die Grundhaltung des Sünders, der allerdings als Verzweifelter gerade nicht die Verzweiflung und das, was er für Sünde hält, will. Das Interesse an der Sünde ist wiederum nur aus jener unglücklichen Bewunderung für den menschgewordenen Gott verständlich. Indem der Mensch an seiner Sünde festhält, muss er Gott, der sich seiner Sünde angenommen hat, nicht so bewundern.

b)

»Das verzeihe ich mir nie«

Die im ersten Abschnitt gemachte kurze Bemerkung zum Menschen in der Verzweiflung über sich selbst: »Und Christ? – nun ja, das ist er auch so halbwegs« (178 / 65,8f), enthüllt sich in ihrer tieferen Bedeutung, wenn man sie mit den Worten des über seine Sünde Verzweifelten »das verzeihe ich mir nie« (223 / 115,15) verbindet. In den Worten der verweigerten Selbstentschuldigung scheint sich eine tiefe Bußfertigkeit auszudrücken, aber in Wahrheit ist es der Stolz, der aus den Worten spricht. Der scheinbar Büßende ist stolz auf sein doch lange sündloses Selbstsein – bis der Rückfall kam. Dieser hat ihn aber nicht in seinem Stolz gebrochen, sondern noch verzweifelter an sich selbst in seinem Stolz festhalten

Die Sündenform, über die Sünde zu verzweifeln

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lassen. Er ist zu stolz, um sich den Rückfall zu verzeihen. Aus seiner Einstellung zu seinem Rückfall wird klar, warum er sich nur ›halbwegs‹ als Christ bezeichnen möchte. Hätte er den Rückfall nicht erlitten, würde er sich wohl als ›ganzen‹ Christen ansehen. Doch nun ist es eben geschehen, so dass er – hart, wie er gegen sich selbst ist – sich nur noch ›halbwegs‹ als Christ betrachtet. Als solch tiefe Natur hegt er eine tiefe Verachtung gegen die normalen Geistlichen, die eigentlich nicht wissen, wovon sie reden (178 / 65,12ff). Diese Betrachtung der Verzweiflung ›vor Gott‹ hat ihre Pointe darin, dass der so tief geistlich scheinende Mensch sich gerade nicht ›vor Gott‹ betrachtet. Das Forum seiner Sünde ist er sich nur selbst. Er verzeiht es sich nie – ob ihm Gott hingegen seine Sünde verzeiht, ist zweitrangig. Vor Gott betrachtet hat dieser Mensch sich mit seiner Verstimmung über seinen Rückfall nur noch weiter von seinem Vor-Gott-sein entfernt. Er benennt als seine Sünde seinen Rückfall, aber seine eigentliche Sünde geschah, wo er »siegreich der Versuchung widerstand« (223 / 115,29f) und darüber stolz auf sich geworden ist. Der Verzweifelte tappt hinsichtlich der eigenen Sünde im Dunklen. Der vermeintliche Rückfall in die Sünde könnte ihn an die Wahrheit heranführen, wer er in Wirklichkeit ist: ein Sünder, der zu keiner Zeit »ein besserer Mensch« (223 / 115,30) geworden ist. Dagegen liegt es im Interesse des Stolzes, dass die in den eigenen Augen schlechtere Vergangenheit, die mit dem Rückfall wieder auftaucht, »etwas ganz und gar Überwundenes sein möge« (223 / 115,32f). Der Stolze will damit die Position der Sünde beseitigen, die vom Christentum so festgelegt ist, dass es dem Menschen durch sich selbst unmöglich ist, sie zu beseitigen (212 / 102,23ff). Was hingegen ein Rückfall im Glauben bedeutet, der Rückfall eines Menschen, der die Verzweiflung überwindet, beschreibt Kierkegaard mit dem Hinweis auf die alten Erbauungsschriften (224 / 116,4–11). Der Rückfall lässt den glaubenden Menschen streng genommen nicht auf sein Sünderdasein zurückfallen, als ob er das nicht mehr gewesen wäre, sondern vor Gott gesehen auf sein ständiges Dasein als Büßer. Der Rückfall bedeutet eine Intensivierung der Demut und der Buße seitens des Glaubenden. Er dient dazu, ihn »umsomehr im Guten zu festigen« (224 / 116,8f). Die Festigung des Guten geschieht so paradoxerweise im Bösen, das aber zugleich darin abstirbt, dass es in der Buße und Demut unverdeckt vor Gott gestellt wird. Das je neu Überwundene gereicht dem Sünder zum Guten, während der Stolze das Gute nur darin sieht, dass ihm die Sünde das ›ganz und gar Überwundene‹ ist. Die Identität des glaubenden Menschen mit sich selbst kann nur eine ›schmerzliche‹ (224 / 116,11) sein, weil sie sich nur im Gegensatz zwischen dem eigenen Sündersein, wie es im Rückfall offenbar wird, und dem eigenen Gegründetsein in Gott haben lässt. Durch diesen Gegensatz hindurch wird der Mensch im Guten gefestigt, wenn er in seinem Sündersein das ›Außen‹ des Gegründetseins in Gott für sich bewahr-

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heitet. Indem der Mensch sich zu der abgrundtiefen Verzweiflung bekennt und als Sünder vor Gott ist, festigt er seine Gründung in Gott.11 Dieser Gegensatz entspricht der Dialektik des Glaubens, bei der man seinen Untergang sieht und trotzdem glaubt. Die Gefahr, sich diesem Gegensatz zu entziehen, erhöht sich mit der fortschreitenden Gründung im Guten. »Je besser ein Mensch ist, desto tiefer schmerzt natürlich die einzelne Sünde« (224 / 116,11f). Die Sünde durchdringt noch die tiefste Gründung in Gott, weil sie kein ›ein Mal‹, sondern ein ewiger Abfall vom Ewigen ist (SKS 10, 114 / CR, 107). Das Paradox des Glaubens wird bis zum Äußersten gespannt, weil dem Menschen trotz seines Fortschritts im Guten nichts bleibt, das er von sich aus seiner Sünde entgegensetzen könnte. Er muss die Wendung durch die tiefste Buße hindurch zum Glauben an den ihn gründenden Gott nehmen, um im Guten gefestigt zu bleiben. »Wenn er die Kurve nicht richtig nimmt« (224 / 116,13f), sondern sie durch den direkten Zugriff auf das vermeintliche Gute verkürzt, dann nimmt er sie falsch – »hinein in die Verzweiflung« (179 / 66,39). Hier ist »das kleinste bißchen Ungeduld« (224 / 116,14) gefährlich, weil es den Weg verkürzen würde, »den du gehen sollst, du mußt durch diese Verzweiflung am Selbst zum Selbst kommen« (179 / 66,31f). Die Beschreibung der Verzweiflung über sich selbst im ersten Abschnitt lässt sich fast nahtlos mit der ihr entsprechenden Sündenform im zweiten Abschnitt, der Sünde, über die Sünde zu verzweifeln, zusammenfügen. Ja, Kierkegaard könnte diese Einheit in raffinierter Weise noch weitergetrieben haben, wenn er im zweiten Abschnitt ausführt, dass sich die Frau jenes ›so ernsten und heiligen Mannes‹ (224 / 116,19f), der über seine Sünde verzweifelt, im Vergleich mit ihm tief gedemütigt fühlt, während es im ersten Abschnitt von dem Mann hieß, mit welch wehmütiger Freude er das erbauliche Leben seiner Frau sieht (178 / 65,10ff). Beide Aussagen passen vortrefflich zueinander.12 Jeder der beiden Partner sehnt sich in gewisser Weise nach der religiösen Haltung des anderen, und beide bestätigen sich so in ihrer Verblendung gegenüber dem Wesen der Sünde. Der Mann erfreut sich wehmütig der oberflächlichen Religiosität seiner Frau, die ihr zu der von Kierkegaard gewiss ganz undialektisch gemeinten eigenen Erbauung dient. Wehmut befällt ihn dabei, weil er selbst in seiner Ver11 Vgl. zu den beiden hier beschriebenen Formen des Rückfalls SKS 21, 119, NB7:82 / T 3, 90: »Es gibt, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe [SKS 20, 294f, NB4:16], zwei Formen von Sünde: die Sünde der Schwachheit und die Sünde der Verzweiflung; man sündigt aus Verzweiflung darüber, daß man schwach gewesen ist, oder darüber, daß man schwach genug ist, zu sündigen. Diese letzte Form ist die eigentliche Sünde.« 12 Vgl. dazu auch die Beschreibung eines ähnlichen ehelichen Missverhältnisses SKS 20, 416, NB5:109 / T 3, 24: »Es ist das größtmöglichste Mißverständnis in Bezug auf das Religiöse zwischen Mensch und Mensch, wenn man Mann und Frau nimmt, und der Mann, der ihr das Religiöse beibringen will, die ganze Seligkeit, die darin liegt, vor Gott dazusein, nun der Gegenstand ihrer Minne wird.«

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zweiflung gerne zu dieser Naivität zurückkehren würde, aber seine vermeintlich tiefe Einsicht in die Sünde ihm das verwehrt. Die Frau wiederum bestätigt ganz »frauenzimmerhaft« (223 / 115,2f) den Mann in seiner Ansicht, seine Trauer sei etwas Gutes. Doch die Frömmigkeit dieses Paares ist nur aufgesetzt und gibt der Sünde Raum. Der dem Mann von seiner Frau oder einem Seelsorger entgegengebrachte Trost bedeutet eine grundsätzliche Verkehrung der christlichen Lehre. »Wider die Sünde muß zuerst und zunächst zur Bekehrung gesprochen werden, bevor da gesprochen wird zum Trost« (SKS 10, 146 / CR, 144). Es muss unterschieden werden zwischen der Sünde, bei der im Inneren des Menschen das Verhältnis zum Ewigen in Gefahr gerät, weil Sünde der Abfall von Gott ist, und dem Leiden, bei dem der Mensch sein Verhältnis zum Ewigen bewahrt. Wenn aber der Sündenbegriff der Christenheit abhanden kommt, lässt sich zwischen dem Schmerz der Sünde und dem Schmerz des Leidens nicht mehr unterscheiden, und alles wird mit Trost bedacht. Kierkegaard kann sogar sagen, dass der im Sinne der Sünde Leidende »im Grunde selbst fühlt, daß streng gesprochen werden sollte« (SKS 10, 146 / CR, 145).13 Der Leidende weiß es in einem leidenschaftslosen Augenblick (vgl. 179 / 66,35ff) und nur in diesem Wissen kann er jene Ausnahme mit dem ganz vereinzelten Pfarrer machen, »dem er zugesteht, daß er weiß, wovon er spricht« (178 / 65,15f). Doch will er ihn nicht hören, sondern nur jene Tröster, die er – stolz auf sich selbst – verachtet, weil sie ihre Selbstgestalt so wenig gezwungen haben und deshalb seine Seelentiefe bewundern müssen (224 / 116,15ff).

3.

Die Sündenform, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln

a)

Die Potenzierung zur Verzweiflung an der Vergebung der Sünden

Der Mensch, der über seine Sünde verzweifelt, erhält und verstärkt seine Sünde, indem er über sie so verzweifelt, dass er sie nicht vor Gott betrachtet. In seinem Widerstand gegenüber Gottes Gnade verschließt er sich gegenüber dem, dessen Hand ihn ursprünglich in das richtige Verhältnis gesetzt hat (132 / 12,14ff). Dass Gott ihm schon darin gnädig gewesen ist, will der Mensch nicht hören. Vielmehr will der über seine Sünde Verzweifelte seinerseits zeigen, »wieviel Gutes in ihm ist, eine wie tiefe Natur er ist« (223 / 115,13). Er will aus sich selbst heraus in seiner Tiefe gut sein und damit Gott, der ihn im gesetzten Selbstverhältnis als 13 Dass diese von Kierkegaard empfohlene Strenge dem Verhältnis zwischen Gesetz und Evangelium sich zu fügen hat, zeigt Harbsmeier, Kunst des Gesprächs, 310–313.

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Die Formen der Sünde

›gut‹ erschaffen hat, ausblenden. Der Verzweifelte will sich selbst ohne seinen guten Schöpfer lieben. Deshalb dreht er sich um die Frage, ob er sich – und nicht Gott ihm – jenen Rückfall verzeihen könnte. Wenn sich die Sünde intensiviert, verzweifelt der Mensch nicht mehr über seine Sünde, sondern an der Vergebung der Sünden.14 Der über seine Sünde Verzweifelte ging darüber hinweg, dass er vor Gott ist. Deshalb konnte bei ihm noch nicht gesagt werden, dass er an der Gnade Gottes hinsichtlich seiner Sünde verzweifelt. Gott kommt ihm zwar in den Blick, sonst würde er erst gar nicht über seine Sünde verzweifeln, aber er lässt Gott dahingestellt sein. Er will keine Meinung zu Gottes Gnade haben (241 / 135,33–136,4). Er hat sich entschieden, nichts von ihr hören zu wollen, ja nichts von Gott hören zu wollen. Streng genommen blendet er nicht die göttliche Gnade im Besonderen aus, sondern Gott selbst, von dem er nicht einmal hören will, ob er gnädig ist oder nicht. Er dreht sich um die Möglichkeit der ›Selbstvergebung‹. Nur wenn er Gott nach dessen Urteil über seine Sünde fragen würde, hätte er die Möglichkeit wahrhaft an seiner Sünde zu verzweifeln. Eine auf Gott bezogene Verzweiflung über die eigene Sünde könnte in der folgenden Potenzierung der Sünde vorliegen (225–236 / 117–130). Der Sünder scheint in einem näheren Verhältnis zu Gott zu stehen, wenn nun von einem ›Selbst‹ direkt gegenüber Christus gesprochen wird (225 / 117,3f). Dieses potenzierte Selbstsein beruht auf dem ›ungeheuren Zugeständnis Gottes‹ (225 / 117,33), »daß Gott sich auch um dieses Selbst willen gebären ließ« (225 / 117,35). Darin besitzt das am Anfang der KT genannte unendliche Zugeständnis an den Menschen, ein Selbst zu sein (137 / 18,17), seinen christologischen Grund. Der sündhafte Selbstbezug scheint durchbrochen und ein direkter Gottesbezug, das Angebot der Sündenvergebung, ist dem Verzweifelten gegeben. Er drückt sich in dem Wechsel von ›verzweifeln über‹ zu ›verzweifeln an‹ aus. Die Ignoranz gegenüber dem guten Schöpfer in der Verzweiflung über die Sünde, die in der Ausweitung der Verzweiflung auf das Irdische in seiner Ganzheit ihren Niederschlag fand, ist aufgehoben. Nun könnte der Weg des Sünders die richtige Kurve nehmen, und er würde an seiner Sünde verzweifeln. Aber was macht er? Er verzweifelt an der Vergebung der Sünden (225 / 117,1). Sein Wissen von Gott hat sich entscheidend intensiviert. Aber je mehr er von Gott weiß, desto weniger will er von ihm wissen. Er zieht das Wissen in die Unwissenheit, in den Zweifel, ja noch tiefer : in die Verzweiflung, weil er es nicht wissen will. In der Verzweiflung an der Vergebung der Sünden liegt eine Potenzierung im SelbstBewusstsein vor, weil der Mensch nun selbst direkt gegenüber Christus ist. 14 Vgl. dazu Ebelings Interpretation der Sündenerkenntnis bei Luther : »Erst dann ist Sünde als solche erkannt, wenn sie als nur vergebbar erkannt ist und wenn das Ausschlagen der Vergebung die einzige unvergebbare Sünde darstellt« (Lutherstudien, 119).

Die Sündenform, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln

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Damit hat der Mensch eine intensive Vorstellung davon, dass etwas Ewiges in ihm ist (vgl. 225 / 117,6f). Diese Vorstellung hatte auch schon der über die Sünde Verzweifelte, sonst hätte er nicht zu sich sagen können, dass er es sich nie verzeiht (224 / 116,22). Aber nun beschäftigt sich der Mensch nicht mehr mit der eigenen Ewigkeit, sondern mit der Ewigkeit Gottes, die zu ihm gekommen ist. Sein Bewusstsein potenziert sich mittels der offenbaren Ewigkeit Gottes in Christus. Entsprechend dieser Hinkehr zu Gott vertieft sich aber zugleich die Abkehr von ihm. Die Bewusstseinspotenzierung mittels der Ewigkeit Gottes bedeutet einen »Mißbrauch des Ewigen« (181 / 69,4) durch den Verzweifelten, wie er in den mit minderem Selbstbewusstsein verbundenen Verzweiflungsformen noch nicht vorlag. Der an der Vergebung der Sünden Verzweifelte wendet sich nicht von seiner Selbstvorstellung ab, auch wenn er sich nun an Gott wendet. Vielmehr schließt er Gottes Gnade noch in sein verzweifeltes Bewusstsein ein, um der Sünde noch mehr Halt zu verschaffen. Wenn es keine Vergebung der Sünden gibt, dann muss die Sünde noch mehr an Macht gewinnen als in der Verzweiflung über die Sünde, wo die Vergebung noch in der Schwebe blieb. Diese Aussagen gelten für die grundlegende Relation des Menschen coram deo. Im Hinblick auf das verzweifelte Selbstverhältnis, dessen Maß der Mensch ist, muss hingegen gesagt werden, dass dem Verzweifelten die ihn kennzeichnende Verbohrtheit in die Sünde verborgen bleibt. Ihm gelingt es, in noch raffinierterer Weise sein wahres Wollen vor seiner bewussten Erkenntnis zu verdecken. Doch findet sein Wollen auf charakteristische Weise in seinen Verzweiflungstaten ihren Ausdruck. Coram deo will der Sünder es unmöglich machen, ihm seine Sünde zu nehmen, indem er ›vor Christus‹ an seinem rein menschlichen Maßstab festhält. Er will Sünder – also vor Gott – sein, »in dem Sinne, daß es keine Vergebung gibt« (225 / 117,31). Mit dieser Einstellung in der grundlegenden Relation des Gottesverhältnisses geht ein entsprechendes Verhalten im verzweifelten Selbstverhältnis einher. Das unvergebbar sündige ›Selbst‹, das er vor Gott sein will, ist ihm in seiner Erkenntnis seine verzweifelte Selbstgestalt, die er gerade nicht sein will. Die verzweifelte Selbstgestalt meint er nicht zu sein, er hat sie sich verdunkelt, sonst würde er sie als sein sündiges Selbstsein erkennen. Aber ›er selbst‹ will er unter allen Umständen werden. Dieser Mensch leidet weder passiv an seiner verzweifelten Selbstgestalt noch versinkt er vor Trauer in düsterster Schwermut (vgl. 224 / 116,14f), sondern er handelt. Während er als Sünder, also im Gottesverhältnis betrachtet, Gottes angebotene Vergebung ›nur‹ verneint und bestreitet, aber nicht selbst gegen Gott aktiv vorgeht und ihn etwa der Unwahrheit bezichtigt, ist er als Verzweifelter in höchstem Maße aktiv. Er ist jener trotzig handelnde Verzweifelte im ersten Ab-

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Die Formen der Sünde

schnitt der KT, der ständig experimentierend sich selbst entwirft.15 Daraus ergibt sich folgende Zuordnung: Der Trotzige (handelnde Form): Gottesverhältnis: Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln Selbstverhältnis: Trotz / Verzweiflung mit Hilfe des Ewigen (»handelndes Selbst«)

Die innere Verbindung zwischen dem trotzig Verzweifelten und dem an der Vergebung verzweifelnden Sünder wird an ihrem Gottesbezug deutlich. Der an der Vergebung Verzweifelnde bezieht Gott in seine Sünde mit ein, indem er sagt, »daß Gott es ihm nie vergeben könne« (224 / 116,24). Der Sünder intensiviert seine Sünde mittels des Bezugs auf den offenbaren Gott. Er sieht gleichsam von Gott her auf seine Sünde und findet sie unvergebbar. Diese Perspektive setzt sich in seiner Verzweiflung fort, wenn eben dieser Mensch Gott den Gedanken ›gestohlen‹ hat, »der der Ernst ist, daß Gott auf einen sieht« (182 / 70,26f). Der an der Vergebung der Sünden Verzweifelnde unterscheidet sich deutlich von dem über seine Sünde Verzweifelnden. Zwar will der an der Vergebung der Sünden Verzweifelnde auch wie jener im Gottesverhältnis das festhalten – die Sünde –, was er auf der Ebene des Selbstverhältnisses loswerden will – die Verzweiflung. Um seine Sünde noch intensiver festzuhalten, bedarf der an der Vergebung der Sünden Verzweifelnde in seinem grundlegenden Gottesverhältnis der Gestalt Gottes, dessen Vergebung er bestreitet. In der selbstbezogenen Verzweiflungsrelation versucht er indessen die Verzweiflung samt der Gottesvorstellung loszuwerden, indem er selbst sein eigener Schöpfer werden will. Weil er im Gottesverhältnis nicht die von Gott abhängige Selbstgestalt sein will, konstruiert er sich im Selbstverhältnis ständig selber. Der über seine Sünde Verzweifelte, der – im Horizont der Verzweiflung betrachtet – in der seine Verzweiflung hervorrufenden Selbstgestalt seine – unlösbare – Aufgabe sieht (vgl. 182 / 70,4ff), bedarf noch nicht der Selbstkonstruktion, und sie ist ihm auch nicht möglich, weil er noch seine ihm gegebene Selbstgestalt zu etwas Gutem umstilisieren, aber keineswegs ersetzen will. Dieses halbherzige Vorgehen verleiht ihm den quälend-leidenden Zug, wie er von Kierkegaard sowohl in der Beschreibung der Verzweiflungsform als auch der entsprechenden Sündenform zum Ausdruck gebracht wird. Der selbstmordgefährdete Verschlossene (180 / 67,28–31) passt zu dem Sünder, der vor falscher Trauer in düsterste Schwermut versinkt (224 / 116,14ff). Ganz anders der Mensch des unendlichen Selbst-Bewusstseins, der an der Vergebung der Sünden verzweifelt. Ihm hat sich im grundlegenden Gottesverhältnis der direkte Gottesbezug eröffnet, und gerade deshalb kann er sich von jeglichem Verhältnis zu der ihn setzenden Macht losreißen (182 / 69,26ff). Diese 15 Siehe hier Kapitel 9.2.

Die Sündenform, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln

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Stärke besitzt er allerdings nur auf der Ebene des verzweifelten Selbstverhältnisses, weil er sich wohl in seiner Verzweiflung von Gott losreißen kann, aber nicht Gott von sich. Er bleibt im Gottesverhältnis er selbst direkt gegenüber Christus und will doch nicht vor ihm, dem Vergebung Anbietenden, Sünder sein. So unterschiedlich sich die verzweifelten Sünder geben, sie zielen doch alle darauf, »man selbst zu sein« (225 / 117,21). Diese ›unschuldige‹ Intention ist bei allen Verzweiflungsformen zu beobachten, angefangen von der Suche nach dem vollkommenen Glück bis zu jenem am ›Pfahl im Fleisch‹ Leidenden, der darin nicht sich, sondern Gott als unvollkommen ansieht. Jeder will ›nur‹ er selbst sein, was ihm aber durch Unglück oder Schicksal verwehrt wird. Auf der Grundebene aber zeigt sich, was der Mensch in Wahrheit nicht sein will. Er will nicht er selbst »mit der Feststellung seiner Unvollkommenheit« (225 / 117,23f) sein, d. h. Sünder.

b)

Die Potenzierung der Sünde durch die intensivere Vorstellung Christi

Für den an der Vergebung der Sünden Verzweifelnden gilt: »[J]e mehr Vorstellung von Christus, desto mehr Selbst« (225 / 118,2f). Kierkegaard setzt mit dieser Aussage ausdrücklich die vorangehende Feststellung »[j]e mehr GottesVorstellung, desto mehr Selbst« (194 / 81,8f) fort. So wie die unendliche Potenzierung des ›Selbst‹ vor Gott nur die Sünde vor Gott, aber nicht für den Sünder, aufdeckt, so bedeutet auch die Potenzierung vor Christus das Anlegen des göttlichen Maßstabs an den Menschen, der sich an seinen eigenen Maßstab klammert. Das ›Selbst‹ wird unendlich groß – als ›sündiges Selbst‹. Dass der Mensch eine intensivere Vorstellung von Christus hat, bedeutet nicht, dass er im eindeutigen Sinne Christus näher gekommen wäre, noch gar, dass er Christ wäre. In seiner Vorstellung von Christus will der Sünder das Entscheidende nicht wahrhaben, dass nämlich in Christus die Vergebung für seine Sünden ist. Weil er diesen entscheidenden Punkt ignoriert, hat er eine gänzlich falsche Vorstellung von Christus. Das ändert nichts daran, dass er direkt gegenüber Christus ist, der ihn mit göttlichem Maßstab richtet. An seinem unendlichen Maßstab gemessen ist das ›menschliche Selbst‹ darin unendlich, dass es sein Ziel unendlich verfehlt hat. Es gilt hier : »Je mehr Selbst aber, desto intensiver die Sünde« (226 / 118,8f). Aber nicht nur von Christus, sondern auch »von einer anderen Seite« (226 / 118,10) her will Kierkegaard die Potenzierung in der Sünde aufzeigen. Diese andere Seite ist die Verzweiflung, in welcher der Mensch sich in einem gewissen Sinn zu Gott verhält, aber darin noch tiefer in die Sünde sinkt. Der Verzweifelte bedarf der nächsten Nähe zu Gott, um sich gleichsam besser von ihm ›abstoßen‹ zu können. Er versucht – in der Perspektive des Gottes-

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Die Formen der Sünde

verhältnisses gesehen – bei Gott das zu verneinen, was ihn in der Verzweiflung über seine Sünde noch bei Gott halten könnte: die Vergebung seiner Sünden. Je mehr sich der Mensch in seine Sünde vertieft, desto göttlicher wird er sich selbst. Er kommt Gott in seiner Gestalt näher, aber im Grunde entfernt er sich immer weiter von Gott, neben dem es keinen anderen Gott gibt. Der Mensch maßt sich göttliche Vollmacht an, wenn er sagt: »[N]ein, es gibt keine Vergebung der Sünden« (226 / 118,20), oder davon spricht, »daß Gott es ihm nie vergeben könne« (224 / 116,24). Er tritt in scheinbare Konkurrenz mit Gott und will ihn in seine Schranken weisen. Der Verzweifelte richtet sich in seinem Sündenverständnis nicht auf Gott hin aus, vielmehr meint er – in der Perspektive des Selbstverhältnisses betrachtet – seine Gottähnlichkeit zu entdecken, indem er die unendliche Form seines ›abstrakten Selbst‹ als Schlüssel seines Selbstentwurfs versteht. Diese Hybris nahm schon in der Verzweiflung über die Sünde ihren Anfang, wenn der Mensch sagte: »[I]ch kann es mir nie verzeihen« – und Kierkegaard kommentierte: »[A]ls hätte er sich vielleicht vorher selbst Sünden vergeben; eine Gotteslästerung« (224 / 116,22f). Hier sparte der Mensch noch Gottes Vergebung aus, nun aber in der Verzweiflung an der Vergebung der Sünden stellt er seine Ansicht Gott direkt gegenüber, und in einer weiteren Steigerung wird er dann nicht mehr mit Gott konkurrieren, sondern ihn selbst abschaffen wollen. Vom verzweifelten Menschen her sieht das Konkurrieren »wie ein Handgemenge« (226 / 118,21) aus. Der Mensch hat sich Gott direkt gegenüber gestellt und sagt ihm seine Meinung. »[E]s klingt ja wie ein Wechselgespräch« (226 / 118,19). Aber es klingt eben nur so. Der Sünder führt kein Wechselgespräch, sondern ein Selbstgespräch, das im verzweifelten Selbstverhältnis Gestalt gewinnt. Gott ist ihm in Wahrheit so weit weg gerückt, dass er nur noch seinen wechselnden Selbstentwürfen unendliches Interesse und Bedeutung verleihen kann (vgl. 182 / 70,28f). Sein Interesse gilt nicht Gott, auch wenn er mit ihm konkurrieren will. Besäße er wirkliches Interesse an Gott und der Frage nach der Vergebung der Sünden, könnte er gar nicht mit Gott konkurrieren wollen. Der Sünder sagt es nur im Interesse seines sündigen Selbstseins, an das er sich klammert, dass es keine Vergebung der Sünden gibt. Gäbe es Vergebung der Sünden, müsste er sich allein Gott und seinen Möglichkeiten anvertrauen, in dem bzw. in denen sein wahres Selbstsein gegründet ist. Aber das will er nicht und versucht deshalb Gott von sich fernzuhalten, indem er ihm die Vergebung der Sünden bestreitet. Dazu vermag er sich aus sich selbst heraus unendlich weit von Gott zu entfernen, um sein eigenes ›Nein‹ hörbar zu machen (226 / 118,28f). Er rückt sich aus der Nähe Gottes, um nicht dessen ›Ja‹ zur Vergebung der Sünden in den Ohren zu haben. Nur in der Gottesferne kann der Mensch selbst das Wort über sich sprechen, das für ihn zutrifft: »[E]s gibt keine Vergebung der Sünden« (226 / 118,20). In der Ewigkeit wird sich dieses Wort bewahrheiten,

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wenn Gott den Menschen den sein lässt, der er sein will: ein Sünder ohne Vergebung. Die Ewigkeit »erkennt dich, wie du erkannt bist« (144 / 25,35). Gott ist dem Mensch in Christus ganz nahe gekommen und bietet ihm an, auf »vertrautestem Fuß« (199 / 86,15) mit ihm zu leben. Aber in seinem sündhaften Trotz will und kann der Mensch gar nicht anders, als sich tiefer in seine Sünde zu verbohren. Dass der Mensch Gott ganz nahe zu rücken scheint, gehört dem internen Verzweiflungsgeschehen an; dass er in Wahrheit sich von Gott weit entfernt hat, ist nur im Horizont des grundlegenden Gottesverhältnisses ersichtlich. Von Gott her gesehen kann der Mensch sich seinem Schöpfer und Erlöser nicht entziehen. Denn er ist ein Selbst direkt gegenüber Christus – dem Richter.

c)

Das Ärgernis an Jesus Christus in der Verzweiflung an der Vergebung der Sünden

Kierkegaard qualifiziert schon in der Überschrift des Kapitels B.B des zweiten Abschnitts der KT (225 / 117) die Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln, als Ärgernis. Das Ärgernis ist als solches beim Menschen nicht direkt aufzuweisen, weil er in seiner Verzweiflung die unglückliche Bewunderung, die er für Gott hegt, sich verdeckt. Er wendet sich gegen sich selbst, gegen sein verzweifeltes Selbstsein und versucht sich den tieferen Grund seiner Verzweiflung, seine unglückliche Bewunderung Gottes, erträglich zu machen. Er verbirgt seine Ärgernisnahme an Gott im Ärger über sich selbst. Diese Wendung gegen sich selbst ist schon bei der sich mit der Sünde beschäftigenden Verzweiflung über die Sünde zu greifen, wie sie im Horizont des Selbstverhältnisses in Erscheinung tritt. Die so fromm erscheinende Verzweiflung über die Sünde ist »versteckte Selbstliebe« (223 / 115,37) und so muss den Verzweifelten der vermeintliche Rückfall ärgern. In seiner Verzweiflung will der Mensch – im Selbstverhältnis – zum Ausdruck bringen, »wieviel Gutes in ihm ist, eine wie tiefe Natur er ist« (223 / 115,13). Doch hat er sich im Horizont des Gottesverhältnisses von dem abgewandt, der das Gute in ihn gesetzt hat und ihm im konkreten Fall »immerhin so lange geholfen hat, der Versuchung zu widerstehen« (223f / 115,39–116,1). Hier bleibt das Ärgernis verdeckt, weil die Gott-Mensch-Relation auf der grundlegenden Ebene des Gottesverhältnisses noch nicht richtig entfaltet ist. Der in Christus offenbarte Gott wird schon angegangen, aber indirekt-direkt in seiner Präsenz als gütiger Schöpfer der eigenen menschlichen Natur. Der Mensch steht im Verhältnis zu Gott, ohne sich seiner direkten Beziehung zu ihm in Christus bewusst zu sein. Das geschieht erst dann, wenn der Mensch davon spricht, dass Gott ihm seine

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Die Formen der Sünde

Sünde nicht vergeben könne. Nun ist das Ärgernis offensichtlich. Der Mensch ärgert sich über Gott, der nun noch mit der Vergebung der Sünden die Versöhnung anbietet. Dass Gott sich zu ihm erniedrigt und ihn nicht nur als der Schöpfer aus seiner Hand gelassen hat, verdient größte Bewunderung. Aber damit steigt in gleichem Maße der Neid auf diesen Gott, der einen so beschämt. Anstatt sich zu schämen, will der Sünder Gott gleichsam in den Himmel zurückdrängen, wenn er sagt, dass es keine Vergebung der Sünden gibt. So erhält Kierkegaards Gedanke, dass man weit von Gott weggehen muss, um Gott zu nahe treten zu können, seinen tieferen Sinn (226 / 118,30–35). Der Mensch entzieht sich Gott, indem er Gottes unendlichen Abstand von dem Sünder wieder einfordert. Wenn es unmöglich eine Vergebung der Sünden geben kann, bleibt der Mensch in der Ferne Gottes. Es wird sich zeigen, wie der Mensch im höchsten Ärgernis die Ferne nochmals steigert, indem er dann auch die Gottheit Christi und nicht nur sein Erlösungswerk bestreitet. Damit soll es für ihn nie eine Verbindung zwischen Mensch und Gott gegeben haben. Der Mensch reißt dann sich selbst von der Vorstellung los, dass es eine ihn setzende Macht gibt. Die Verzweiflung an der Vergebung der Sünden gehört zur Verzweiflungsform des trotzig Handelnden, der er selbst sein will, »indem er das Selbst von jeglichem Verhältnis zu einer Macht, von der es gesetzt worden ist, losreißt« (182 / 69,26f). In diesem Fall ist die Vorstellung einer solchen Macht, von der man sich losreißt, noch nicht aufgegeben, sondern nur ihr Verhältnis zum eigenen Selbstsein. Schaltete der über sich selbst Verzweifelte durch seine Vereinnahmung des Irdischen in toto die Güte des Schöpfers aus, so kommt der trotzig Handelnde in seiner Verzweiflung dem Handeln Christi zuvor. Er will selbst die Umbildung seiner konkreten Selbstgestalt in die Hand nehmen (182 / 69,37f), so dass die den Menschen neu schaffende Vergebung Christi obsolet wird. Diese Absicht bleibt dem Betreffenden verborgen und ist nur vom Gottesverhältnis her zu eruieren.

d)

Die verschiedenen Formen des Ärgernisses

Kierkegaard behaftet die ganze Christenheit mit der Verzweiflung an der Vergebung der Sünden, also dem Ärgernis (228 / 121,7ff). Weil sie ein Wissen von Christus hat, ist das ihr verbundene einzelne Selbst direkt gegenüber Christus gesetzt. Jeder nicht gläubige Mensch in der Christenheit nimmt Ärgernis an Christus (238–242 / 133–137). Aber damit ist noch nicht die Form benannt, in der der einzelne Mensch in der Christenheit Anstoß an diesem Wissen nimmt. Es sind nur wenige Naturen, die bis zu jenem scheinbaren ›Handgemenge‹ (226 / 118,21) mit Gott gelangen und ihm gegenüber die Vergebung der Sünden ver-

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neinen, also im qualifizierten Sinn Ärgernis nehmen. Man muss also den Begriff des Ärgernisses in zweifacher Weise unterscheiden. Die Möglichkeit des Ärgernisses ist durch die Offenbarung Gottes gesetzt. Dieses Ärgernis bedeutet für jeden, der Ärgernis nimmt, dass er Ärgernis an der Vergebung der Sünden nimmt, weil diese der Inhalt der Offenbarung ist. Aber wie er Ärgernis nimmt, differenziert sich in mehreren Formen, von denen eine die Verzweiflung an der Sündenvergebung ist. In der Form des Ärgernisses drückt sich das Verhalten des Menschen zu Christus aus. Als niederste Form des Ärgernisses sieht Kierkegaard die Weigerung an, zu Christus eine Meinung zu haben (240 / 135,22ff). Der ÄrgernisCharakter einer solchen Weigerung wird deutlich, wenn man den Anspruch berücksichtigt, der von Christus an den Menschen ausgeht. Der Mensch »leugnet nämlich die Gottheit Christi, daß sie ein Recht hat das von einem Menschen zu fordern, daß er eine Meinung hat« (241 / 135,31ff). Einer solchen Ärgernisform findet sich beim Verzweifelten der reinen Unmittelbarkeit oder der Unmittelbarkeit mit Reflexion. Auf ihn trifft folgende Struktur zu: Der unmittelbar Verzweifelte: Gottesverhältnis: Sünde der Indifferenz zu Christus Selbstverhältnis: Verzweiflung der Unmittelbarkeit

Der Mensch der Unmittelbarkeit ist in der Christenheit Christ, wie man eben in Holland Holländer ist (171 / 57,1ff). So wie die Nationalitätszugehörigkeit zumeist keine Sache der Entscheidung ist, so bedarf auch die Christusgestalt keiner Entscheidung: »[I]ch will keine Meinung darüber haben« (240 / 135,23f). Wenn es sich um einen unmittelbaren Menschen mit Reflexion handelt, »einer von den gebildeten Christen« (171 / 57,3), dann wird er diese Indifferenz zu Christus nicht als bloße Unwissenheit darstellen. Vielmehr »redet man vornehm über das, was man im Grunde übersieht: also übersieht man vornehm Gott« (241 / 136,27f). Die nächste Form des Ärgernisses wird von Kierkegaard als negative und leidende bezeichnet (241 / 136,29f). Hier besteht nicht mehr die indifferente Haltung des Unmittelbaren, sondern einerseits kommt man von dem Ernst der Christusbotschaft nicht los, aber bringt es andererseits auch nicht bis zum Glauben an Christus. »So lebt denn ein Mensch mit einem solchen Ärgernis dahin wie ein Schatten; sein Leben verzehrt sich, weil er in seinem Innersten ständig mit dieser Entscheidung beschäftigt ist« (241f / 136,37ff). Diese Form des Ärgernisses kommt jenem zu, der über die Sünde verzweifelt. Er nimmt sich seine Sünde zu Herzen, sein Rückfall in die Sünde ist ihm eine Qual (223 / 115,9ff) und doch ist es seine versteckte Selbstliebe und sein versteckter Stolz

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Die Formen der Sünde

(223 / 115,36ff), die ihn quälen. Die leidende Form der Ärgernisnahme an Christus ist offensichtlich. Auch derjenige, der an der Vergebung der Sünden verzweifelt, ist dieser Ärgernisnahme noch zuzuordnen. Zwar ist der Sünder hier nicht in dem Sinne leidend wie der über seine Sünde Verzweifelte, aber sein Handeln hat noch abwehrenden, keinen angreifenden Charakter. Er verneint und bestreitet Gottes angebotene Vergebung. Kierkegaard hat selbst die Haltung des über seine Sünde Verzweifelten und die des an der Vergebung der Sünden Verzweifelten in diesem Sinne unterschieden. In der Verzweiflung über die eigene Sünde wird »ausweichend gekämpft oder […] sich innerhalb seiner zurückgezogenen Stellung verschanzt« (236 / 130,20ff). Für die Verzweiflung an der Vergebung der Sünden gilt hingegen: »Die Verzweiflung an der Vergebung der Sünden ist eine bestimmte Position direkt gegenüber einem Angebot von Gottes Barmherzigkeit; die Sünde ist nicht ganz auf der Flucht, nicht rein defensiv« (236 / 130,26–29). In der höchsten Form des Ärgernisses, die noch zu erläutern ist, wird das Christentum für Unwahrheit und Lüge erklärt. Hier wird ein »Offensivkrieg« (236 / 130,30) geführt.

4.

Zwischenbetrachtung: Die Form der Sünde im Heidentum

a)

Die Unschuld der Heiden

Dass die im ersten Abschnitt vorgestellten Typen der Verzweiflung nochmals, gleichsam von einer höheren Warte aus, in ihrem Gottesverhältnis, thematisiert werden, zeigt sich auch an Kierkegaards Wiederaufnahme der Heidenproblematik im zweiten Abschnitt der KT, die im ersten Abschnitt der Darstellung der Verzweiflung unter der Bestimmung Bewusstsein vorausging (160–162 / 43,34–46,6). Dort zeichnete das Heidentum aus, dass ihm das geistige SelbstBewusstsein fehlte (161 / 45,19f). Das seiner fehlenden Selbst-Bestimmung korrespondierende Gottesverhältnis wird nun im zweiten Abschnitt aufgedeckt. Das »Selbstische im Heidentum« (194 / 81,12f) hat nicht dieselbe Bedeutung wie das ›Selbstische‹ in der Christenheit. Kierkegaard verwendet den Ausdruck des Selbstischen, um die Potenzierung des Selbst im Heidentum mit der des ›natürlichen Menschen‹, des Nichtchristen in der Christenheit, zu vergleichen.16 Ihre Gemeinsamkeit, das ›Selbstische‹, besteht darin, dass sie das rein menschliche Selbst als Maßstab haben. Es handelt sich in beiden Fällen um ein sündhaftes Selbst, weil es sich nicht an dem Maßstab misst, der es unendlich potenziert: an Gott. Nur mit Gott als Maßstab würde der Mensch als Synthese 16 Zum Begriff des Selbstischen (auch schon 222 / 114,9) vgl. SKS 4, 380–382 / BA 82,36–85,6.

Zwischenbetrachtung: Die Form der Sünde im Heidentum

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von Unendlichkeit und Endlichkeit im ›Gleichgewicht‹ sein. Doch wenn allein der natürliche Mensch sein Selbst direkt vor Gott hat, weil sich Gott in der Christenheit offenbart hat, muss sein Verlust des Selbstseins im ›Selbstischen‹ eine andere Qualität besitzen. Dem natürlichen Menschen ist sein Selbst ein Missverhältnis, das sich zugleich unendlich in seinem Gottesverhältnis reflektiert (130 / 10,28–34). Kierkegaard hat diese Abstufung zwischen Heiden und natürlichem Menschen schon im ersten Abschnitt angesprochen, wenn das Heidentum in der Christenheit im Sinne eines Abfalls interpretiert wurde, dem Geistlosigkeit im strengsten Sinne eigen ist (161f / 45,36–46,6). In dieser Perspektive ist der selbstisch durchgeistigte dämonisch Trotzige noch geistloser als der genusssüchtigste Heide. Wenn auch die Verzweiflung sich erst vor Gott zur Sünde potenziert, ist es dennoch nicht falsch, das Heidentum ebenfalls unter der Sünde zu betrachten. Worin liegt genau die Sünde des Heidentums? Kierkegaard nennt als Sünde »ohne Gott in der Welt zu sein« (195 / 81,22f). Diese Sünde ist eine Unwissenheit, bei der man »menschlich versucht sein [könnte] zu sagen«, dass der Heide »in einer Art Unschuld« (157 / 40,26) nicht um die Verzweiflung wusste, während der natürliche Mensch in der Christenheit bewusst nichts von Gott wissen will und verzweifelt. Aber diese ›unschuldige‹ Unwissenheit kann nicht nur von einer menschlichen Warte, sondern auch »aus höherer Sicht« (194 / 81,19) betrachtet werden, aus der der Heide als Sünder erscheint. Diese Sicht dürfte darin bestehen, dass jeder Mensch ursprünglich von Gottes Hand in das richtige Verhältnis vor Gott losgelassen wird, so dass auch der Heide den Verlust des direkten Vor-Gott-Seins nur aus eigener Schuld erlitten haben kann. Aber diese höhere Warte ist dem Menschen verschlossen, und es bleibt unergründlich, warum der Heide schuldiger Sünder war.17 Der Mensch kann nicht die göttliche Sicht einnehmen, aber ihm hat sich auf eine andere Weise Gott als Maßstab eröffnet: »Von einer anderen Seite her gesehen, ist es deshalb wahr, daß der Heide nicht im strengsten Sinne sündigte, denn er sündigte nicht vor Gott; und alle Sünde ist vor Gott« (195 / 81,23–25). Diese andere Seite ist die Offenbarung in Christus, welche die Christenheit als solche konstituiert. In ihr wird der Mensch darüber aufgeklärt, dass alle Sünde vor Gott ist, und diese Definition bezeichnet die Sünde im strengsten Sinn. Der Heide sündigte also nicht, weil er nur vor Gott in Christus hätte sündigen können, der sich ihm aber noch nicht 17 Vgl. Kierkegaards Erörterung über Schuld und Sünde im Heidentum anhand des Schicksalsbegriffs: »Der Begriff Schuld und Sünde tritt im Heidentum nicht im tiefsten Sinne zutage. Insoweit er zutage treten sollte, würde das Heidentum an dem Widerspruch zugrunde gehen, daß jemand durch das Schicksal schuldig würde. Das ist nämlich der höchste Widerspruch; und aus diesem Widerspruch bricht das Christentum hervor« (SKS 4, 400f / BA, 106,36–107,2).

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Die Formen der Sünde

offenbart hatte. Nur von der höheren Warte des Schöpfergottes aus lag das Heidentum in Sünde, aber es ist nicht die willentlich bewusste Sünde, die aus dem Ärgernis an dem offenbarten Gott erwächst.

b)

Die Sünde der Heiden

Die Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln, musste dem Heiden verschlossen bleiben, weil er die Vergebung Christi nicht kannte. Aber er hätte die vorangehende Verzweiflung über die Sünde erreichen können, weil diese Verzweiflung sich in ihren Grund allein am guten Schöpfer entzündet. Sein Gottes- und Selbstverhältnis sind also folgendermaßen bestimmt: Der Heide: Gottesverhältnis: keine Sünde im strengsten Sinne Selbstverhältnis: Möglichkeit der Verzweiflung über seine Sünde

Der Verzweiflung über die Sünde ist für einen Heiden eine ganz andere Bedeutung zuzumessen als für einen Menschen der Christenheit, der ›vor Gott‹ steht. Der Unterschied zwischen der ›rein heidnischen‹ Verzweiflung über die Sünde und derjenigen im Heidentum der Christenheit wird schon daran ersichtlich, dass Kierkegaard zuvor von der Sünde, über seine Sünde zu verzweifeln, sprach, während nun im Hinblick auf das reine Heidentum von einer Verzweiflung über seine Sünde gesprochen wird (229 / 121,26). Kierkegaard erläutert in einer Anmerkung (229 / 121), dass die heidnische Verzweiflung über die Sünde als »dialektisch in der Richtung zum Glauben hin« (229 / 121,27) zu interpretieren ist. Warum war es für den Heiden keine Sünde, über seine Sünde zu verzweifeln? Der Heide konnte nicht die wahre Vorstellung von der Sünde haben, weil ihm die Gottesvorstellung im christlichen Sinne fehlte. Das ist nicht so zu verstehen, dass die Lehre von der Versöhnung die qualitative Differenz zwischen Heidentum und Christentum ausmacht (vgl. 202f / 90,36–39). Der Versöhnung geht die Aufdeckung des Wesens der Sünde voraus. Es ist eine Offenbarung von Gott notwendig, »um offenbar zu machen, was Sünde ist« (202 / 90,35f). Diese Offenbarung ist dem Heiden nicht zuteil geworden. Deshalb blieb mit seiner Gottesvorstellung sein Sündenbewusstsein notwendigerweise dunkel. Aber diese Unwissenheit musste seine Verzweiflung über die Sünde, die für ihn da war, ohne dass er ihr Wesen erfasste, zu einer Verzweiflung in der Richtung zum Glauben hin machen. Wenn der Heide über seine Sünde verzweifelte, dann machte er sie zum wichtigsten Inhalt seines Daseins. Von ihrer Bedeutung hing sein Dasein ab. Es waren nicht die Welt noch er selbst im Allgemeinen, die ihn

Zwischenbetrachtung: Die Form der Sünde im Heidentum

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verzweifeln ließen, weil beides für ihn keine entscheidende Wichtigkeit besaß. Wenn der Heide über seine Sünde verzweifelte, hatte er vom christlichen Standpunkt aus sich auf das für ihn Entscheidende konzentriert. Für Gott war die Sünde des Menschen so entscheidend wichtig, dass er sich für sie in Christus hat töten lassen. Solange dies nicht offenbar war, handelte der Heide vor Gott ganz der Wahrheit gemäß, wenn er über seine Sünde verzweifelte. Wo keine Vergebung der Sünden ist, bleibt der Ernst der Sünde nur gewahrt, wenn man über sie verzweifelt. Torsten Bohlin sieht bei Kierkegaard die Bedeutung der Verzweiflung für das Heidentum und für das Christentum in einer gewissen Spannung: In der Analyse der Verzweiflung vom Standpunkt des Bewußtseins aus wird auch ausdrücklich geltend gemacht, daß es eine Form der Verzweiflung gibt, die ›verzweifelte Unwissenheit darüber, daß man ein Selbst und ein ewiges Selbst hat‹ [157 / 41,1ff], und diese Form der Verzweiflung soll das Heidentum und den ›natürlichen Menschen‹ in der Sphäre des Christentums kennzeichnen, d. h. den Menschen, der, obwohl er im Gebiet der besonderen Offenbarung lebt, doch noch keine lebendige Gottesvorstellung gewonnen hat und sich seiner persönlichen Verantwortung vor Gott noch nicht bewußt geworden ist. Wird aber so angenommen, daß die Verzweiflung auch unabhängig von der besonderen oder christlichen Offenbarung vorhanden ist, so entsteht die Frage, ob die ›Potenzierung‹ der Verzweiflung in Wirklichkeit nur einen besonderen Grad der Verzweiflung oder vielmehr etwas qualitativ Neues bedeutet, so daß ein grundsätzlicher Unterschied bestände zwischen der Verzweiflung, die Sünde ist, und der nicht ›potenzierten‹ Verzweiflung. Wird aber ein derartig grundsätzlicher Unterschied zwischen zwei Arten von Verzweiflung anerkannt, dann muß folgerichtig auch die Voraussetzung aufgegeben werden, von der Kierkegaard ausgeht, nämlich daß die Verzweiflung eine Äußerung oder ein Reflex der Sünde im innersten Wesen des Menschen ist (Kierkegaards dogmatische Anschauung, 216f). Bohlin hat das hier aufkommende Problem beschrieben, wenn man die Verzweiflung des Heidentums als ›auf den Glauben hin‹ nicht von der Verzweiflung in der Christenheit als vom Glauben wegführend unterscheidet. Die Verzweiflung der Heiden ist auch ein Reflex der Sünde, durch den der Mensch sich aber nicht weiter verschließt, sondern den ersten Schritt auf den Glauben hin geht.

»Mit dem Christentum jedoch ist alles verändert« (228 / 121,4f). Nun muss – nun darf – der Mensch nicht mehr über seine Sünde verzweifeln, weil sie durch Christus weggeschafft ist. Wenn er noch über seine Sünde verzweifelt, dann vertieft er sich in die Sünde. Die vertiefte Sünde des natürlichen Menschen in der ›Verzweiflung über die Sünde‹ besitzt eine besondere Struktur, weil in ihr im Unterschied zur rein heidnischen Sünde ein doppeltes Verhältnis aufbricht, das Verhältnis zu sich selbst und das Verhältnis zu Gott, deren Missverhältnis zueinander die Sünde und ihre Folgen bedeutet. Der Heide konnte noch nicht über sein unendliches Selbstsein verzweifeln, sondern war sich höchstens ›selbst‹ im

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Die Formen der Sünde

allgemeinen Sinne. Eine phantastische Steigerung seines Selbst ins Unendliche war ihm fremd (vgl. 161 / 45,19f). In seiner Verzweiflung über seine Sünde lag sein Selbstsein noch verborgen, ohne dass sich eine vorgestellte phantastische Selbstgestalt abgespalten hätte. Die für die Struktur der Sünde konstitutive Entzweiung des Gottes- und Selbstverhältnisses war dem Heiden noch nicht möglich, und deshalb sündigte er streng genommen noch nicht. Wo er nicht über die Welt oder sein allgemeines Selbstsein verzweifelte und sich in der Geistlosigkeit verfing, sondern in seiner Verzweiflung über die Sünde – vom Christentum her gesehen und nur für es kenntlich –, über sein verlorenes ›Selbst‹, seine verlorene Gottesbeziehung verzweifelte, da war er zu ›rühmen‹ (228 / 120,38), weil er trotz der verlorenen Beziehung zu Gott doch in Richtung zu Gott hin blieb. Damit hat Kierkegaard die schon im ersten Abschnitt der KT aufgestellte Behauptung eingelöst, dass das Heidentum »in der Richtung auf den Geist hin« (162 / 46,2) zu verstehen sei.18 Warum ein Heide, der über seine Sünde verzweifelte, sich auf den Glauben hin bewegte, wird noch verständlicher, wenn man die dialektische Struktur des Glaubens berücksichtigt. Die Nähe liegt darin, dass die Verzweiflung auch das erste Moment beim Glauben ist (vgl. 229 / 121,27–30). Der Glaubende verzweifelt darin, dass er, menschlich gedacht, seinen Untergang sieht und versteht (154 / 37,15f). Das zweite Moment beim Glauben ist der Glaube an Gottes Möglichkeiten, der dem Heiden nicht möglich war. Er konnte nur bis dahin kommen, an seinen eigenen Möglichkeiten zu verzweifeln und bei der von allem konkret Weltlichen oder Selbstischen entleerten Verzweiflung zu verharren. Diese dem Heiden äußerste Möglichkeit, über seine Sünde zu verzweifeln, wäre erst ›untergegangen‹, wenn er nicht nur in der Richtung zum Glauben hin verzweifelt, sondern im Glauben die Verzweiflung überwunden hätte. Grundsätzlich ist die zum Glauben hinführende Verzweiflung – d. h. verstanden als Moment des ›vollen‹ Glaubens und nicht als beim Heiden vorkommendes einzelnes Moment – von der vom Glauben wegführenden zu unterscheiden. Beide sind darin diametral entgegengesetzt, dass in ihnen der Mensch jeweils dorthin strebt, wo sein Abgrund oder Grund ist. Der Verzweifelte vom Glauben weg strebt in den Abgrund der Sünde, der Verzweifelte in Richtung des Glaubens strebt hin zu seinem eigenen Grund in Gott. Beide sind bis auf ihren Grund hin unterschieden, so weit voneinander entfernt wie Sünde von vergebener Sünde. Und doch befinden sich beide gleichsam auf demselben Weg, indem sie jeweils an ihrer Verzweiflung arbeiten. Der eine kämpft gegen seine 18 Vgl. SKS 4, 398 / BA, 104,1–4, Hervorhebungen im Original: »[D]as Heidentum unterscheidet sich von der Geistlosigkeit dadurch, daß es in Richtung auf den Geist hin bestimmt ist, während sie in Richtung vom Geist weg bestimmt ist.«

Die Sündenform, das Christentum für Unwahrheit zu erklären

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Verzweiflung und verzweifelt immer mehr, der andere will verzweifeln, bis schließlich die Verzweiflung ganz ausgerottet ist. Beide befinden sich unausweichlich auf dem Weg aus der Verzweiflung heraus, auf den sie seit der Offenbarung Gottes in Christus als Glieder der Christenheit gesetzt sind. Doch: »Hierauf achte man genau, damit es einem in der Welt des Geistes nicht wie jenem Wanderer geht, dem ein Engländer auf die Frage, ob der Weg nach London führe, zur Antwort gab: ja, richtig, der aber dennoch nicht nach London kam, weil der Engländer verschwiegen hatte, dass er in die entgegengesetzte Richtung gehen mußte, da er dabei war, sich von London gerade zu entfernen« (SKS 4, 266 / PB, 63,34–39, Anm.).

5.

Die Sündenform, das Christentum für Unwahrheit zu erklären

a)

Die Potenzierung zur Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären

In der radikalsten Form der Sünde wird das Christentum selbst als Unwahrheit gesetzt (236 / 130,7ff). Der Unterschied zwischen der vorhergehenden Form der Sünde, bei der man auf die Vergebung der Sünden verzichten will, und der nun folgenden Form, die das Christentum zur Unwahrheit erklärt, scheint auf den ersten Blick gering zu sein. In beiden Formen der Sünde wirft der Mensch das ganze Christentum von sich ab. Auch derjenige, der an der Vergebung der Sünden verzweifelt, macht das Herzstück des christlichen Glaubens zur Unwahrheit, indem er die Vergebung der Sünden für eine Unmöglichkeit erklärt (226 / 118,20f). Aber er macht es in dem Sinne, dass er es auf sich und seine Sünde bezieht. Er spricht davon, »daß Gott es ihm nie vergeben könne« (224 / 116,24). Für ihn ist die christliche Vergebung Unwahrheit, weil er in seiner Selbstwahrnehmung seine Sünde als so schwerwiegend ansieht. Aber ob die christliche Vergebung für sich gesehen Unwahrheit ist, lässt er offen. Er ›besetzt‹ nicht die Position von Gottes Barmherzigkeit, sondern nimmt ihr gegenüber eine eigenständige Position ein. In dieser Grenzziehung gegenüber dem Angebot Gottes ist die Wahrheit des Christentums ihm gleichsam noch von außen eingedrückt, wenn er sich selbst als Sünder begreift, ohne freilich zu einer wirklichen Sündenerkenntnis zu kommen. Das vorgestellte Gegenüber Gottes prägt noch seine eigene Position. Wenn der Sünder nun in seiner Sünde noch entschiedener sein will, sich gar nicht mehr von dem Gegenüber Gottes bestimmen lassen will, muss er dieses Gegenüber angreifen. Kierkegaard vergleicht diese Richtungsänderung mit dem Wechsel von einer eher defensiven Kampfweise zu einer offensiveren (236 / 130,23–33). Auf der Grundebene der Sünde, im Gottesverhältnis, wird in jedem Fall gekämpft, ob mehr leidend-defensiv oder handelnd-offensiv. Die Sünde steigert

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Die Formen der Sünde

sich vom gänzlich ausweichenden Kampf im Fall der Geistlosigkeit bis zum direkten Kampf, wie er für die Sünde wider den Heiligen Geist charakteristisch ist. Der untergründige Kampf kann in keinem Fall der Verzweiflung vermieden werden, weil durch Gottes Offenbarung jeder Mensch in der Christenheit vor Gott ist. Indem der Mensch in der potenziertesten Sündenform aber direkt gegen Gott vorgeht, versucht er, das eigene Sündersein in seinem Vor-Gott-sein zu beseitigen. Das ganze christliche Dogma vom sündigen Menschen und dem barmherzigen Gott soll aus den Angeln gehoben werden. Dass die Sünde sich hier gänzlich in sich selbst vertieft (236 / 130,23f), bedeutet deshalb, dass die Sünde zu ihrem Gegenteil erhoben wird. Mit ihr macht der Mensch das Christentum zur Lüge und Unwahrheit, er verleugnet die Bestimmung der Sünde als Sünde ›vor Gott‹ und will sie zur Wahrheit erheben. Das ist für Kierkegaard die höchste Steigerung der Bosheit in der Sünde. Der Sündenbegriff wird in gewisser Weise ad absurdum geführt, weil man sich gegen die göttliche Qualifizierung der Sünde als Sünde wendet. Fast könnte es scheinen, als wolle der Sünder sein Sündersein loswerden. Aber dies ist im Horizont des Gottesverhältnisses durchgehend nicht der Fall. Hier will der Mensch sich in seiner Sünde vertiefen. In dieser letzten Steigerung will er Sünder sein in dem Sinne, dass es grundsätzlich keine Vergebung gibt (225 / 117,30f). Der Mensch will darin sündigen, dass er die Sünde gänzlich leugnet. Die Steigerung der Sünde endet in einer böswilligen Absurdität. Zur Wahrheit erhoben kommt die Sünde jedoch nicht ohne die von ihr erklärte Unwahrheit aus. Ihre Wahrheit hängt ganz von dem zur Unwahrheit erhobenen Christentum ab (vgl. 236 / 130,29f). Insofern zerbricht auch in der äußersten Potenzierung der Sünde nicht das für den Sündenbegriff notwendige Gegenüber von Mensch und Gott. Die Positionen haben nur ihre Stellung gewechselt. In dieser Sündenform wird Gott an die Stelle des Sünders und die Sünde an die der göttlichen Wahrheit gesetzt. Als Sünde gegen den Heiligen Geist, wie Kierkegaard sie nennt (236 / 130,10), ist sie die äußerste Verzerrung, die im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch möglich ist.19 Genau genommen ist mit ihr aber das Christentum als Unwahrheit nur gesetzt, ohne dass wirklich die göttliche Position besetzt werden könnte. Ein in dieser Weise sündigender Mensch ist ja am weitesten von der göttlichen Position entfernt. Er hat die größtmöglichste Entfernung erreicht, indem er zwischen sich und der göttlichen Wahrheit die Unwahrheit Gottes gesetzt hat, die das stärkste ›Nein‹ gegenüber Gott ist.

19 Zum Problem der Sünde wider den Heiligen Geist siehe Gestrich, Wiederkehr des Glanzes, 248–256.

Die Sündenform, das Christentum für Unwahrheit zu erklären

b)

365

Wahrer Gott und fehlerhafter Gott

Die Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären, ist als die vergeistigste Sünde zu bezeichnen. Ihre Geistigkeit bezieht sie aus der Vereinnahmung der göttlichen Wahrheit. Der Heilige Geist wird zum Lügengeist erklärt. Der Mensch macht sich wie bei den vorangehenden Sündenformen die Unwahrheit seiner Haltung nicht bewusst, sondern die Vereinnahmung der göttlichen Wahrheit erfährt in seiner selbstbewussten Verzweiflung eine eigentümliche Verwandlung. Dieser potenzierten Sündenform ist die Verzweiflungsform des leidendtrotzigen Selbstbewusstseins zuzuordnen.20 Der Trotzige (leidende Form): Gottesverhältnis: Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären Selbstverhältnis: Trotz / Verzweiflung mit Hilfe des Ewigen (»leidendes Selbst«)

Der verzweifelte Trotz, dessen Wesen im ersten Abschnitt der KTentfaltet wurde, ist im Hinblick auf die Sünde Verstocktheit (221 / 113,8ff). In der Relation der Verzweiflung, des Selbstverhältnisses, sieht es so aus, als warte der Mensch schon lange auf die Gnade. Das hat er auch in dem Sinne, dass Gott ihm in seinen – des Menschen – Möglichkeiten helfen soll, nicht aber dass er sich Gottes Möglichkeiten anvertraut. Weil kein Gott den eigenen Möglichkeiten zur Hilfe kommt, trotzt er schließlich jeder noch möglichen Gnade. Hinsichtlich der Relation der Sünde, des Gottesverhältnisses, enthüllt sich, dass der Mensch schon in seinem Vertrauen auf die Möglichkeit eines Selbstseins, wie er es will, das Gute und die Gnade abgewiesen hat. Der Trotz gegen die Gnade auf der Ebene der Verzweiflungsrelation ist nur eine verzerrte Karikatur jener grundlegenden Verstocktheit gegen die Gnade, die nicht erst mit der höchsten Form der Verzweiflung einsetzt, sondern schon da ihren Anfang nimmt, wo der Mensch überhaupt verzweifelt. Dass er direkt gegen Gott vorgeht, will der leidend-trotzig Verzweifelte nicht wissen. Damit ist aber nicht gesagt, dass er keine Gottesvorstellung hätte. Vielmehr hat er sich in seiner Sünde ein eigenes Gottesbild entworfen, an das sich die Verzweiflung heftet. Im Horizont des Gottesverhältnisses betrachtet, stellt er den Lügengott gegen den wahren Gott. Im Horizont seines verzweifelten Selbstverhältnisses betrachtet, ist ihm der wahre Gott verdunkelt, und es bleibt ihm nur noch ein fehlerhafter Gott. Gegen diesen im Grunde selbstentworfenen Gott geht der Verzweifelte in seiner ganzen Ohnmacht an. Gegen und doch durch die Vorstellung eines fehlerhaften Gottes vermag der Verzweifelte noch er selbst sein zu wollen. Gottes Fehler entlarvt der Mensch des leidend-trotzigen SelbstBewusstseins mittels seines eigenen Daseins, das als Beweis gegen Gottes Güte 20 Siehe hier Kapitel 9.3.

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Die Formen der Sünde

fungiert (187 / 76,2ff). Gottes Güte ist eine Unwahrheit, die an dem eigenen ›Pfahl im Fleisch‹ sichtbar wird. Im Grunde leugnet dieser Mensch Christus (240 / 135,1–4), in dem Gottes Güte leibhaftig geworden ist. Das Ärgernis an dieser unüberbietbaren Niedrigkeit Gottes ist der Grund, dass der Mensch so furchtbar verzweifelt an sich leidet. Aus der Perspektive der Verzweiflung sieht die Folge genau umgekehrt aus. Die irdische Bedrängnis des Menschen ist so groß, dass er auch Christus leugnet. Was in dieser Verzweiflung verborgen bleibt, ist ihr Grund als Sünde vor Gott. Der ›Pfahl im Fleisch‹ ist der Pfahl, an dem der Verzweifelte noch er selbst zu sein glaubt. Dass diese Bedeutung für das verzweifelte Selbstsein noch wichtiger und tiefgründiger ist als alles mit diesem Pfahl mitgegebene ›reale‹ Leid, hat Kierkegaard dadurch angedeutet, dass die Leidenschaft des Menschen das spezielle Leiden erst zu einem solchen ›Pfahl im Fleisch‹ machen könnte (184 / 72,21f). Der Verzweifelte kann sich nur in seiner größten Qual übernehmen wollen, weil er in seinem Grundverhältnis das Schlimmste für sich selbst angerichtet hat, indem er Gott selbst zur Unwahrheit erklärte. Die Auswirkung der Unwahrheit, zu der man den christlichen Gott macht, der in seiner Güte das Selbstsein des Menschen gesetzt hat und es wiederum durch seine Güte in Christus erlösen will, zeigt sich in der festgehaltenen Selbstbeschädigung, die man erfahren zu haben meint. Es entsteht der Eindruck, als müsse sich der Mensch in seinem Selbstverhältnis so unsagbar quälen, weil er auf der tieferen Ebene seines Gottesverhältnisses den göttlichen Grund seiner Selbstgestalt zur Unwahrheit erklärt hat. Seine eigene hoffnungslose Selbstgestalt muss der Verzweifelte festhalten – dass nur ja keiner ihm seine Qual nimmt, weil sie ihm der einzig adäquate Ausdruck seiner grundlegenden Absage an das Christentum ist. Dieser Zusammenhang ist allerdings dem Verzweifelten verborgen.

c)

Schwäche und Trotz in der Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären

Die Zuordnung der trotzig leidenden Verzweiflungsgestalt zur Sünde wider den Heiligen Geist bedeutet die Umkehrung des verzweifelt ›starken‹ Trotzes zur Schwäche im grundlegenden Gottesverhältnis (225 / 117,20–31). Der direkte Angriff gegen das Christentum enthält nicht die Stärke des Trotzes, in dem man verzweifelt man selbst sein will, sondern es ist Schwäche, durch diesen Angriff man selbst sein zu wollen (225 / 117,29ff). Dieses Selbstseinwollen bedeutet hier Sünderseinwollen, wie Kierkegaard zugleich präzisiert. Im Horizont der Verzweiflung betrachtet, wo der Mensch verzweifelt er selbst sein will (186 / 74,21f),

Die Sündenform, das Christentum für Unwahrheit zu erklären

367

ist er trotzig stark, weil er dem vermeintlichen Gott die Stirn bietet und seine mögliche Hilfe ausschlägt. Er missbraucht das Ewige, indem er bis in Ewigkeit der an seiner Qual Leidende sein will. Eine solche der Ewigkeit und in alle Ewigkeit trotzende Stärke findet sich aber nicht im Gottesverhältnis dieses Menschen. Dort geht er als Sünder gegen die nun wahrhafte Ewigkeit Gottes vor, weil er so schwach ist, dass er sie nicht einfach stehen lassen kann. Er hält es nicht trotzig aus, als Sünder Gottes Vergebung auszuschlagen, sondern er will sie zunichte machen. Es ist leichter, Sünder zu sein, wenn es keine Vergebung gibt, als Sünder zu sein und auf die Vergebung der Sünden zu verzichten. Besondere Beachtung verdient die vorgestellte oder wirkliche Präsenz Gottes in den Verzweiflungsformen und ihrem jeweiligen Grundverhältnis, dem Gottesverhältnis. Der ›aktive‹ Versuch im Gottesverhältnis, sich zu Gott zu erheben, sich an die Stelle seiner Wahrheit zu setzen, ist in anderer Hinsicht die Qual eben dieses Menschen, der in seiner Verzweiflung auf eine Erlösung von seinem ›Pfahl im Fleisch‹ verzichtet und Gott in seiner Fehlerhaftigkeit stehen lassen will. Diese in sich konsequente Inkongruenz hat ihre Ursache darin, dass der Mensch sich von Gott losreißen will, ohne ihn jedoch im Hinblick auf das eigene Selbstsein entbehren zu können. Dem ›Selbst‹ ist das göttliche Gegenüber, sein ›Vor Gott-sein‹, so eingestiftet, dass dort, wo der Mensch in der Relation des Selbstverhältnisses Gott hinter sich gelassen hat, er diesem in der Relation des Gottesverhältnisses noch gegenübersteht, wenn er in seiner Verzweiflung auf die Vergebung verzichtet, und dort, wo er die göttliche Wahrheit in seiner Sünde entthront, das göttliche Gegenüber um so mehr für das eigene Selbstverhältnis konstitutiv ist, wenn er ihm seinen Fehler aufweisen will. Dem Menschen ist in seinem gespaltenen Selbstund Gottesverhältnis Gott entweder in seinem sündigen oder in seinem verzweifelten Selbstsein notwendig. Man könnte auch sagen, dass der Mensch sich um so mehr in seinem Selbstverhältnis gegen den vermeintlichen Gott stellen muss, je mehr er als Sünder den wahren Gott in seiner Offenbarung auszulöschen versucht. Wo die Sünde des Menschen sich noch nicht intensiviert hat, hadert der Mensch in seinem Selbstverhältnis nicht mit Gott, sondern höchstens mit seinem Unglück oder Schicksal – während er ansonsten treu in die Kirche geht (vgl. 168 / 52,34–39). Gott ist für diesen Menschen da, aber er hat nicht viel mit ihm selbst zu tun. Wo hingegen Gott für den Menschen in seiner Sünde nicht mehr dasein soll, hat der Mensch selbst am meisten mit ihm zu tun. Die Relationen des Selbstverhältnisses und des Gottesverhältnisses verhalten sich gegenläufig zueinander. Beide Relationen kämen nur dann in das rechte Verhältnis, wenn das vom Gottesverhältnis abgespaltene Selbstverhältnis aufhören würde. Die projektierte Selbstgestalt müsste sterben, um in Gott ewig gegründet neu aufzuerstehen. Aber der Mensch will durch sich selbst er selbst

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Die Formen der Sünde

sein und kann nicht anders, weil er in seinem sündigen Selbstsein den gnädigen Gott nicht will. Wo hingegen der Mensch nicht durch sich selbst er selbst sein will, will er in seinem sündigen Selbstsein den gnädigen Gott. Dieses sündige Selbstsein ist eines der Reue und Buße, das jeden Augenblick die Möglichkeit der Sünde vernichtet.

d)

Die Sünde wider den Heiligen Geist

Warum verdient die höchste Form der Sünde die Bestimmung ›wider den Heiligen Geist‹? Die Leugnung des Geschaffenseins in der Verzweiflung über die Sünde bedeutet die Sünde wider den Schöpfergott. Die Zurückweisung der Vergebung der Sünden ist die Sünde wider Christus. Die Leugnung des gesamten Christentums ist schließlich die Sünde wider den Geist.21 In dieser Sünde will der Mensch nicht einen bestimmten Punkt der Wahrheit für sich zurückweisen, sondern die Beziehung der Wahrheit auf sich selbst. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch wird in den vorangehenden Sünden immer noch von Gott bestimmt. Deshalb war der Mensch hierin in seinem Verhalten mehr oder weniger defensiv. Man bezog höchstens »eine bestimmte Position direkt gegenüber einem Angebot von Gottes Barmherzigkeit« (236 / 130,27f). Das Angebot drückt die von Gott ausgehende unüberbietbare Nähe zwischen ihm und dem Menschen aus, wie sie in Jesus Christus leibhaftig wurde (vgl. 229 / 122,3f). Der Mensch versucht zwar in seiner Sünde Gott auszuweichen, aber dieser läuft ihm in seiner Barmherzigkeit nach. So wird der Sünder Gottes Angebot nicht los. Er muss ihm den Geist der Wahrheit nehmen, durch den er sich mit dem Menschen verbindet. Der Kern dieser Beziehungswahrheit ist die Einheit von Gott und Mensch in Christus. Diese Einheit wird angegriffen, indem Christus entweder doketistisch oder rationalistisch geleugnet wird (242 / 137,5–13). Damit soll die durch Christus verbürgte und durch den göttlichen Geist den heutigen Menschen noch betreffende Beziehung zwischen Mensch und Gott gebrochen werden. In der Leugnung Christi als des Paradoxes »liegt natürlich wiederum die Leugnung des gesamten Christentums« (242 / 137,14f). Das Christentum hängt an der Offenbarung Gottes für den Menschen. Alle Inhalte des christlichen Glaubens versänken im Dunklen und wären für den Menschen nicht da, wenn 21 Kierkegaard hat also die Formen der Sünde aus einem trinitarischen Offenbarungsverständnis abgeleitet. Vgl. Fonk, Zwischen Sünde und Erlösung, 246. Zur Bedeutung der Offenbarung Gottes für das Werk Kierkegaards im Ganzen siehe Wolff, Offenbarungstheologie. Die Leugnung des Heiligen Geistes ist auch deshalb die gravierendste, weil Gott nur von ihm her den Zugang zu seinem Heil eröffnet, wie Kierkegaard in einer späteren, im Jahr 1852 verfassten Reflexion über die Trinität deutlich macht (SKS 25,140ff, NB27:23).

Die Sündenform, das Christentum für Unwahrheit zu erklären

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Gott sie nicht in Jesus Christus offenbart hätte. In der vorangehenden Form der Verzweiflung an der Vergebung der Sünden bestand noch eine Beziehung zwischen dem Sünder und Gott, auch wenn sie durch die Leugnung der Vergebung ihres wesentlichen Inhalts beraubt worden war. Wenn aber nun Christus in seinem Gottsein, in seiner Wahrheit im Geist, geleugnet wird, zerbricht die Beziehung selbst. Der Mensch braucht nicht mehr im Hinblick auf seine Sünde davon zu sprechen, dass Gott ihm nie vergeben könne; es hat vielmehr nie ein Angebot Gottes zur Vergebung gegeben (225 / 117,29ff), nie eine Beziehung zwischen Gott und dem Sünder bestanden. Der Sünder ist nicht ›vor Gott‹. Erweist sich diese Sünde wider den Heiligen Geist als ungleich schwerer als etwa die Sünde des Geistlosen, so ist doch daran zu erinnern, dass für Kierkegaard ein Sünder in gewisser Hinsicht tiefer in der Sünde steckt als ein anderer, aber in anderer Hinsicht wiederum weniger tief. Der ambivalente Unterschied zwischen dem ›geistlosen‹ und dem ›geistreichen‹ Sünder wird drastisch in den Christlichen Reden am Begriff der Vermessenheit verdeutlicht. Zur Sünde der vergeistigten Verzweiflung ist die Vermessenheit zu zählen, »auf eine verbotene, eine aufrührerische, eine unfromme Weise Gottes entbehren zu wollen. Dies ist der Unglaube. Unglaube ist nicht geistlose Unwissenheit, der Unglaube will Gott leugnen, so daß er also in gewissem Sinne mit Gott zu tun hat« (SKS 10, 76 / CR, 70; Hervorhebung im Original). Hingegen wird im Anschluss an Mk 12,1–9 von dem in Geistlosigkeit Unwissenden gesagt, dass er den Gedanken an Gott ›totgeschlagen‹ habe. »Hat man so den Gedanken an Gott glücklich erwürgt, jeder Stimmung und Empfindung, die als sein Bote an ihn mahnen will, sich entledigt, so lebt man hin, als wäre man sein eigner Herr, selber seines Glückes Schmied, selber der, welcher für alles Sorge tragen muß, aber auch der, welcher Recht auf alles hat, d. h. man betrügt Gott um sein Recht. Heißt nicht auch dies […], daß man den Eigentümer oder den Gedanken an ihn totschlägt, selber der Eigentümer werden, der Herr werden – statt Leibeigener? […] Gott töten ist der grausigste Selbstmord« (SKS 10, 75 / CR, 69f). Der bewußt Ungläubige leugnet ›nur‹ Gott, der Unwissende bringt ihn geradezu um. »Noch nicht einmal trauern in Untröstlichkeit, sondern ganz und gar aufgehört haben zu trauern, Gott auf eine Art verlieren können, daß es einem ganz und gar gleichgültig ist, und man das Leben noch nicht einmal unerträglich findet, das ist Untröstlichkeit, und zugleich ist es die schrecklichste Art von Ungehorsam, schrecklicher denn aller Trotz; nicht daß man Gott haßt, nicht daß man ihm flucht, ist so schrecklich, als ihn auf solche Art verlieren, oder, was das Gleiche ist, sich selbst auf solche Art verlieren« (SKS 10, 97f / CR, 95).

Die Beziehung zwischen Gott und dem Sünder ist geistiger Art. Der Heilige Geist ist die Beziehung zu Gott und die wahre Geistigkeit des Glaubenden, der das Angebot Gottes annimmt. Dagegen ist der selbstzentrierte Geist in der Verzweiflung die bloße Beziehung auf die gespiegelte Selbstgestalt. Der so über sich selbst verzweifelnde Sünder ist jedoch nicht aus der Beziehung zu Gott entlassen. Er muss sich in dieser oder jener Weise verhalten. Seit der Offenbarung Gottes in Christus, dessen Tod und Auferstehung, liegt die Beziehung zu Gott im Heiligen Geist, der in dieser Beziehung durch den Menschen angenommen, abgelehnt

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Die Formen der Sünde

oder angegriffen wird.22 In ihm ist Gottes Wahrheit und die Unwahrheit des Sünders offenbar. Nur hier ist es dem Sünder möglich, Gott anzugreifen. Gott als Schöpfer und seine Vergebung der Sünden durch Jesus Christus sind dem Menschen indirekt – über den göttlichen Geist – zugänglich. Gegen sie kann sich ein Mensch abgrenzen. Damit geht er sie nicht direkt an, sondern erkennt sie als Positionen an, bezieht sich auf sie und gibt damit dem Heiligen Geist Raum. Mit ihm wird noch in aller Ablehnung das Christentum geehrt, wenn die Frage, was man zu Christus meine, als die Wahrheitsfrage angesehen wird (241 / 136,34–37). Dass es in der ›Meinung‹ (241 / 136,3) und damit Beziehung zu Christus nicht um die Wahrheit gehe, ist hingegen die direkte Wendung des Sünders gegen den Heiligen Geist. Er wendet sich nicht im Licht des christlichen Wahrheitsanspruchs gegen dessen Inhalte, sondern lehnt grundsätzlich ab, dass sie überhaupt einen Wahrheitsanspruch mit sich bringen. Der Sünder lehnt ihre Geistigkeit ab und begeht somit die Sünde wieder den Heiligen Geist. In seiner Verzweiflung hat dieser Mensch allerdings die höchste Geistigkeit erreicht. Er versteht sein Selbst allein von Gott her, nämlich als göttlichen Fehler. Seine Selbstgestalt ist keinem dunklen Schicksal unterworfen, sondern durchsichtig bis auf ihren göttlichen Grund. Der Mensch meint sich selbst in göttlicher Klarheit zu sehen – als einen Irrtum Gottes. Dieses widergöttliche Licht hat der Mensch in seinem Selbstverhältnis erlangt, indem er in seinem Gottesverhältnis das göttliche Licht für sein Sünderdasein gelöscht hat. Die Bestreitung des göttlichen Geistes geht mit der höchsten eigenen Geistigkeit einher. Im Glauben ist es genau umgekehrt. Das Licht des sich spiegelnden Geistes erlöscht, und der Mensch schaut sich in größter Klarheit im göttlichen Licht.

22 Vgl. SKS 23, 80, NB15:114 / T 4, 109: »Aber nun stirbt Christus – und sein Tod ist die Versöhnung: hier ist die Gnade. Der Heilige Geist, den Christus senden will, ist nun eigentlich der Schenker der Gnade, der Gnade, die Christus erworben hat.«

15. Kapitel: Rückblick

1.

Der sündige Mensch vor Gott

Den zweiten Abschnitt der KT hat Kierkegaard dem Begriff der Sünde gewidmet. Ähnlich wie die Verzweiflung wird auch die Sünde als Beschreibung einer Relation begriffen. Hat Kierkegaard die Verzweiflung als eine Relation seiner selbst zu sich selbst gedeutet, so den Menschen als Sünder in der Relation coram deo. Diese coram-deo-Relation wird aus den Grundbestimmungen der Sünde deutlich: Sünde als verfehltes Maß, als Ungehorsam und als Ärgernisnahme. Man könnte die drei Bestimmungen in einem weiter theologisch präzisierten Sinn auch als die Begegnung des Menschen mit Gott als Richter, als Herr und mit dem Mensch gewordenen Gott fassen. Die Bestimmung der Sünde als verfehltes Maß verweist auf die konstitutive Funktion des von Gott gesetztes Maßes für den Menschen. Der Mensch ist erst selbsthafter Mensch am Maßstab Gottes. Auch derjenige, der sich vom Maßstab Gottes abgewendet hat, ist durch ihn noch als Mensch festgehalten. Aber er wird auf seine Abweichung vom Maßstab Gottes, auf seine Sünde hin bestimmt. Er wird nicht er selbst am Maßstab, sondern der Maßstab zeigt nur seinen Selbstverlust an. Der Maßstab richtet den Menschen nicht auf Gott hin aus, sondern richtet ihn, indem er ihn in seiner ihn selbst verkehrenden Gottlosigkeit belässt. Das Verständnis der Sünde als Ungehorsam vertieft die im zweiten Abschnitt entworfene neue Perspektive auf das Verhalten des Verzweifelten. Dass der Verzweifelte sich nicht wahrhaft zu sich selbst verhält noch verhalten kann, liegt in seinem Verhalten zu Gott begründet. Dieses Verhalten ist in einem geistigen Sinne zu verstehen, weil es ursprünglich in einem Hören auf Gott besteht. In dieser Beziehung – das Geist–Dasein ist im ›akustischen‹ Sinne konstruiert – ist der Mensch ganz er selbst. Wo der Mensch nicht mehr auf Gott hört, ungehorsam ist, verliert er sein gottbezogenes Geistsein und ersetzt es in den höheren Formen der Verzweiflung durch eine psychisch begründete Geistigkeit, in der er sich selbst gewinnen will. In seinen geistvollen Selbstprojektionen scheint der

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Rückblick

Mensch Klarheit über sich selbst erlangen zu können, aber der tiefere Blick auf sein verlorenes Geistsein vor Gott zeigt ihn in seiner Verdunklung begriffen. Erst wo der Mensch im Gebet, dem vornehmlichen Ort wahrer Geistigkeit, sich allein Gottes Möglichkeiten anvertraut, tritt er wieder in die ihn in rechter Weise gründende akustische Beziehung zu Gott ein. Besonderen Raum nimmt bei Kierkegaard die Bestimmung der Sünde als Ärgernisnahme ein. Mit dieser Bestimmung stößt Kierkegaard zum Kern seines Verzweiflungs- und Sündenbegriffs vor. Dem Verständnis der Sünde als Ärgernisnahme liegt die wohl auf Mt 11,6 zurückgehende Einsicht zugrunde, dass dem Menschen in der Begegnung mit Christus dieser zum Ärgernis oder zum Heil wird. Das Ärgernis wird an der Niedrigkeit Gottes genommen. Der Mensch kann nicht anders als Gott in seiner ihm zugute kommenden Erniedrigung zu bewundern. Aber diese Bewunderung wird im Ärgernis von einem Neid korrumpiert, der sich nicht offen gegen Gott richtet – sonst würde ja doch die Bewunderung im Neid durchscheinen –, sondern den man gegen sich selbst richtet. Der Mensch arbeitet gegen sein verzweifeltes Selbst und will sich die Zuwendung Gottes nicht gönnen. Die Bemühung, das einem Zugewandte loszuwerden, muss einen selbst treffen und ist nur mit Verzweiflung zu erkaufen, in der man selbst und nicht man selbst sein will. Indem Kierkegaard das Ärgernis als potenzierten Neid herausarbeitet, macht er die Schwierigkeit deutlich, den Menschen auf sein Ärgernis und damit auf seine Verzweiflung aufmerksam zu machen. Im Neid verändert sich die Sprache eines Menschen, weil er seine insgeheime Bewunderung für das Beneidete auslöschen will. Der Mensch verstellt sich vor anderen und vor sich selbst.

2.

Das Begreifen der Sünde und das existentielle Sündenbewusstsein

Die Bestimmung der Verzweiflung als Sünde macht sie nicht begreifbarer, aber weist ihr als ursprünglichen Ort das Gottesverhältnis eines Menschen zu. Der um die Beseitigung seiner Verzweiflung bemühte Mensch versucht vergeblich eine wahre Vorstellung von seiner Verzweiflung zu bekommen, die zugleich die Klarheit über sich selbst bedeuten würde. Diese Klarheit eröffnet sich dem Menschen nur vor Gott, wenn er vor ihn in seiner ganzen Verzweiflung als Sünder tritt. Dass er Sünder ist, erkennt der Mensch nur vor Gott. So wenig der Mensch durch eine gedankliche Durchdringung des Verzweiflungsphänomens sich über seine Verzweiflung klar wird, so wenig wird er sich durch eine dogmatisch fundierte Analyse des Sündenbegriffs als Sünder durchschauen können. Damit ist aber entsprechend dem Verzweiflungsbegriff das Bemühen um ein

Das Begreifen der Sünde und das existentielle Sündenbewusstsein

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begrifflich-dogmatisches Verständnis von Sünde nicht überflüssig. Ein solches Verständnis hat sein Recht, wenn es den Menschen über ihn hinausgehend auf sein Vor-Gott-sein hinweist. Es gehört zu den Stärken des Kierkegaard’schen Denkens, dass es den Übergang von der begrifflichen Einsicht zum existentiellen Vollzug nicht einfach appellativ einfordert, sondern der Leser in seinen Verständnisbemühungen durch paradoxe Denkfiguren dazu angehalten wird. Diese Eigenart prägt auch Kierkegaards Verständnis der Dogmatik, wenn er an der Konkordienformel rühmt, sie habe es verstanden, das Denken gegen das Undenkbare anstoßen zu lassen. Nur in diesem Horizont des Undenkbaren kann sich für Kierkegaard wahre Verstandesleidenschaft entwickeln, bei der Gedachtes nicht erst in einem vermeintlich weiteren Schritt praktisch werden soll, sondern das Denken selbst Ausdruck einer Lebenspraxis ist. Kierkegaards Sündenbegriff richtet sich an seiner grundlegenden Erkenntnistheorie aus, nach der die Wirklichkeit im Denken eine Transformation zur Möglichkeit erfährt. Was wirklich ist, kann nur in der Kategorie der Möglichkeit verstanden werden. Die Wirklichkeit des anderen Menschen bleibt demjenigen, der sie denken will, entzogen – man müsste schon der andere selbst sein, um seine Wirklichkeit adäquat zu erfassen. Diese Beschränkung menschlicher Erkenntnis verschärft sich noch, wenn nicht die endliche Wirklichkeit gedacht werden soll, sondern die göttliche. Da für die göttliche Wirklichkeit nicht die das Denken in Möglichkeit eröffnende Gleichheit von Erkennendem und Erkanntem (Gleiches wird durch Gleiches erkannt) zutrifft, sondern hier eine ›absolute‹ Verschiedenheit vorliegt, muss der Verstand einen anderen Weg finden, um etwas denken zu können, zu dem er keinen adäquaten Zugang besitzt, aber das dem Menschen in Jesus Christus offenbart worden ist. Kierkegaard löst das Problem für das offenbarte Sündersein des Menschen in der Weise, dass der Verstand eine Position setzt, deren Gedachtwerden er sich aber verweigert, weil ansonsten das ›Positionelle‹ an der Position, ihr eigenständiges Sein, damit aufgehoben, beseitigt würde. Das ›Positive‹ der Sünde wird nicht durch den Verstand bestimmt, sondern durch Gott, in dessen Wirklichkeit allein die Sünde als Position bestimmt ist. Wäre nicht diese göttliche Wirklichkeit das ›Medium‹, in das die Position der Sünde gesetzt würde, sondern der Verstand selbst, wäre das Positive der Sünde eine bloße Behauptung ohne Bestand. Kierkegaard setzt mit der Denkfigur eines Nicht-Denkens des Gedachten ein Paradox. Der Verstand setzt eine Position, der er nicht begreifen kann. Durch das ihn begrenzende Paradox ist er offen dafür, nicht bei sich zu bleiben, sondern von der göttlichen Wirklichkeit her bestimmt zu sein. Kierkegaard ist dabei so ehrlich, sich selbst als ›Spekulanten‹ zu verstehen, der die Unmöglichkeit, die göttliche Wahrheit nur mit dem Verstand zu erfassen, in spekulativem Sinn vertieft. Er will sowohl eine Spekulation ›mit dogmatischen Versicherungen‹, bei

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Rückblick

der man die Lücken eines Systems mit dogmatischen Behauptungen zu füllen versucht, als auch einen gedankenlosen Glauben, der ein bloßes Nichtbegreifen apostrophiert, vermeiden. Diese Überlegungen zu einem sich selbst aufhebenden Begreifen – nicht um zu einem ›höheren‹ Begreifen zu gelangen, sondern vom bloßen Begreifen weg zum Glauben zu kommen – haben für Kierkegaard ihren Grund in dem Wesen der Offenbarung Gottes. Die Verborgenheit Gottes im Menschen Jesus Christus wird durch das Denken im Paradox geehrt. Der Unkenntlichkeit Gottes in seiner Offenbarung entspricht das im Unbegreiflichen gehaltene Denken des Offenbarten. Das Inkognito Gottes in Jesus Christus steht für Kierkegaard im Zentrum seiner Darlegung der Gottesoffenbarung und radikalisiert sich nochmals am Kreuz in der Gottverlassenheit des Gottessohnes. Im göttlichen Inkognito ereignet sich die Zuwendung Gottes zum Menschen. Die Befreiung von der Sünde reflektiert Kierkegaard in einem weiteren Paradox, das in der Negation der Sünde durch Gott besteht. Wollte der Verstand diese Negation der Sünde als solche denken, würde er die Position der Sünde nur im Medium seines Verstandes negieren und hätte die wahre Negation der Sünde in der göttlichen Wirklichkeit verfehlt. Aber der Verstand soll an der paradoxen Position der Sünde zugunsten des Glaubens scheitern, da nur im Glauben, nicht im Denken, die Negation der Sündenposition stattfindet. Kierkegaard will mit seiner von Paradoxien durchzogenen Denkweise jeden Versuch einer rein gedanklichen Durchdringung der christlichen Lehre und Dogmatik verhindern und darauf aufmerksam machen, dass das wahre Verständnis von Sünde und Erlösung nur in der existentiellen Annahme der göttlichen Mitteilung zu haben ist.

3.

Die Orientierung der Sündenformen am Trinitätsgedanken

Die den höheren Verzweiflungsformen komplementären Sündenformen erschließen die wahre Intention des verzweifelten Menschen. Im Gottesverhältnis fällt die Selbst-Täuschung weg, und es wird sichtbar, dass dem falschen Selbstverständnis die unglückliche Bewunderung Gottes zugrunde liegt. Sie kann der Mensch für sich nur verleugnen, wenn er seine eigene Sünde festhält. Er macht es auf eine Weise, die nach außen und für ihn selbst seiner eigentlichen Intention entgegensetzt erscheint. Der Verzweifelte kann sich zum Beispiel als skrupulöser Christ geben, der seine Sünde sehr schwer nimmt. So bildet der Mensch in seiner jeweiligen Sünde ein Sündenbewusstsein aus, das seine wahre Sünde verdunkelt. Dieses Sündenbewusstsein setzt das im ersten Abschnitt thematisierte Verzweiflungsbewusstsein fort. Dass der Mensch über seine Sünde verzweifelt, gehört zu seinem falschen Selbstverständnis.

Die Orientierung der Sündenformen am Trinitätsgedanken

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Das Festhalten an der eigenen Sünde drückt sich in der Verzweiflungsform der Unmittelbarkeit in geistloser Indifferenz gegenüber der göttlichen Zuwendung aus. Man meint zu glauben, ohne irgendeine Möglichkeit des Ärgernisses zu bemerken. Bei den höheren Verzweiflungsformen, die mit einer konsequent verfolgten Selbstvorstellung einhergehen, lassen sich den jeweiligen Verzweiflungsformen entsprechend ausdifferenzierte Sündenformen zuordnen. Der Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst liegt die Verzweiflung über die Sünde zugrunde. Der Verzweiflung des trotzig Handelnden entspricht die Verzweiflung an der Vergebung der Sünden und der Verzweiflung des trotzig Leidenden die Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären. Bedeutsam an dieser Zuordnung ist die Orientierung am Gedanken der Trinität Gottes.1 Der über seine Sünde Verzweifelte will zeigen, wie viel Gutes in ihm ist, seine tiefe Natur herausstellen, und erhebt in seiner leidenschaftlichen Verzweiflung den einzelnen irdischen Anlass seiner Verzweiflung zum Irdischen in toto. Damit sündigt er gegen Gott, den Schöpfer. Der an der Vergebung der Sünden Verzweifelte wendet sich gegen Christus selbst und seine Erlösungstat. Blieb für den über seine Sünde Verzweifelten entsprechend seiner Verweigerung, eine Meinung zu Christus zu haben, die Möglichkeit der Sündenvergebung noch in der Schwebe – nur er selbst wollte es sich nie verzeihen –, so will der an der Vergebung der Sünden Verzweifelte coram deo demonstrieren, dass es keine Vergebung der Sünden gibt. In der Relation seines internen Selbstverhältnisses führt sein Verhalten dazu, dass er sich ständig selbst in Vollkommenheit entwerfen will und muss, um nicht – tiefer gesehen – jene von der Vergebung der Sünden abhängige Selbstgestalt zu sein. Wo das ganze Christentum zur Unwahrheit erklärt wird, liegt die Sünde wider den Heiligen Geist vor. Während in den vorangehenden Formen noch eine gewisse Anerkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit vorlag, wird hier die Sünde überhaupt bestritten. Die Sünde wider den Heiligen Geist zielt auf die Leugnung der Offenbarung Gottes. Weil die Beziehung des Menschen zur Offenbarung durch den Heiligen Geist gewährt ist, wird hier gegen den Heiligen Geist gesündigt. Diese Sünde spiegelt sich in der Verzweiflung des Menschen wider, wenn er die Leugnung des wahren Gottes durch die Vorstellung eines fehlerhaften Gottes kompensieren muss, dem er sich in seiner Verzweiflung aufdrängt. Die Orientierung der Sündenformen am Trinitätsgedanken vermag nicht nur ein weites Spektrum menschlicher Haltungen zur Offenbarung Gottes einzufangen, sondern zeigt auch indirekt die Konstituierung wahren Mensch- und Selbstseins durch die Trinität. Der Mensch, der das Angebot des leidenden Jesus

1 Kierkegaard wollte ursprünglich dem Vorwort der KT ein trinitarisch angelegtes Gebet folgen lassen, das ihm dann aber zu erbaulich für die Schrift erschien (SKS 20, 286 / KT, GW 24, 166).

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Rückblick

Christus annimmt, gründet in Gott dem Schöpfer, in einer geistigen Durchsichtigkeit, die nur durch den Heiligen Geist geschenkt wird. Kierkegaard hat in KT die Sünde als Destruktion eigentlichen Menschseins entfaltet. Der Mensch selbst ist von seiner Sünde betroffen. Dabei hat Kierkegaard weniger den Menschen überhaupt im Blick, als vor allem den Menschen in der Christenheit, der mit der Offenbarungsbotschaft schon bekannt geworden ist. Die Einbeziehung der Heidenproblematik soll gerade die Schwere des Abfalls in der Christenheit vor Augen führen. Die Offenbarung Gottes eröffnet nicht nur das rechte Verständnis von Sünde, sondern ist zugleich Anstoß zur Sünde, zum Unglauben in der Christenheit. Kierkegaard entwickelt eine Sündenlehre für eine in christlicher Tradition stehende Gesellschaft. Die Folgen einer nicht zum Glauben führenden Begegnung mit der göttlichen Offenbarung in Christus gehören nicht nur in den Bereich einer Psychologie der Sünde, sondern sind auch in der dogmatischen Bestimmung von Sünde zu reflektieren. Während der Heide höchstens aus der dem Menschen unzugänglichen Sicht des Schöpfergottes als Sünder bezeichnet werden kann, ist die Sünde ›vor Gott‹, in Kenntnis der Offenbarung, Sünde im strengsten Sinn. Veranlasst durch die Rede Jesu vom Ärgernis hat Kierkegaard eine höchst differenzierte Theorie der Sünde entwickelt, mit der ein besonderes Verständnis von Offenbarung einhergeht. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist nicht nur eine Offenbarung für den, der glaubt, sondern in negativem Sinne auch für den, der nicht an sie glaubt. Er kann sie für sich selbst nicht ›dahingestellt‹ sein lassen, sondern sie zwingt ihn, sich unter Einsatz seines ganzen Selbstverständnisses gegen sie abzugrenzen. Dass Kierkegaard in dieser Radikalität die Offenbarung Gottes in Jesus Christus gedacht hat, dürfte auch heute noch wegweisend sein.

Skizze zu Struktur und Aufbau der Verzweiflungs- und Sündenformen





Die Kapitelangaben in Klammern beziehen sich auf das vorliegende Buch.

Literatur

Werkausgaben Cappelørn, Niels Jørgen / Garff, Joakim / Knudsen, Jette / Kondrup, Jonny / McKinnon, Alastair / Mortensen, Finn Hauberg (Hg), Søren Kierkegaards Skrifter, Kopenhagen 1997ff [SKS]. Nachweise beziehen sich grundsätzlich zuerst auf Søren Kierkegaards Skrifter und dann auf eine deutschen Übersetzung. »Die Krankheit zum Tode« findet sich im elften Band der Søren Kierkegaards Skrifter. Zuerst wird die Seitenzahl in SKS 11 angegeben und dann die Seiten- und Zeilenzahl der Übersetzung Hans Rochols in der »Philosophischen Bibliothek«. Während bei Nachweisen anderer Werke Kierkegaards zuerst der jeweilige Band der SKS angegeben wird, fällt die Angabe »SKS 11« bei »Sygdommen til Døden« weg. Leider liegt bis heute keine deutsche Übersetzung von »Sygdommen til Døden« vor, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Die zu erwartende Neuübersetzung im Rahmen der Deutschen Søren-Kierkegaard-Edition wird hier Abhilfe schaffen. Der noch immer gebräuchlichen Ausgabe von Emanuel Hirsch ist wegen ihrer teilweise problematischen Übersetzung und ihres Stils die neuere Ausgabe von Rochol vorgezogen worden. Zwar weist auch sie Mängel auf. Der Kommentar ist sehr eigenwillig und für das Verständnis des Textes wenig hilfreich. Zudem wurde auf eine Paginierung der dänischen Ausgabe am Seitenrand verzichtet. Allerdings ist eine Nummerierung der Zeilen vorgenommen worden, die wiederum in der Ausgabe Hirschs fehlt, aber bei einem so dichten Text wie »Die Krankheit zum Tode« sehr nützlich ist. Der große Vorteil der Rochol’schen Übersetzung liegt in ihrer Genauigkeit. So haben Hermann Deuser und Walter Dietz für die Übersetzung von »Der Begriff Angst« durch Rochol votiert (Deuser, Philosophie, 125, Anm.20; Dietz, Kierkegaard, 261, Anm.16). Deshalb liegen hier nicht nur für »Die Krankheit zum Tode«, sondern auch für »Philosophische Bissen« und »Der Begriff Angst« die Übersetzungen Rochols zugrunde. Bei den anderen Werken folgt die Übersetzung den Ausgaben der »Gesammelten Werke«. Im Fall der »Krankheit zum Tode« wurde für den Benutzer der Ausgabe Hirschs mit den entsprechenden Verweisen auf die dänische Ausgabe eine Synopse erstellt, die sich im Anschluss an das Literaturverzeichnis findet. Die Ausgabe Hirschs ist besonders wegen ihrer sorgfältigen und instruktiven Anmerkungen zum Text zu empfehlen.

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Literatur

Rochol, Hans (Übers. u. Hg.): – Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, PhB 340, Hamburg 1984 [BA] – Sören Kierkegaard, Philosophische Bissen, PhB 417, Hamburg 1989 [PB] – Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, PhB 470, Hamburg 1995

Hirsch, Emanuel / Gerdes, Hayo / Junghans, Hans Martin (Übers. u. Hg.), Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke, Düsseldorf / Köln 1951–69 (Gütersloher Taschenbücher 1979ff). Eine Übersicht findet sich in W. Dietz, Kierkegaard 424f. Hier werden nur die Bände aufgeführt, die in abgekürzter Form im Text genannt werden. – Entweder – Oder. Zweiter Teil (1957, 21987, Abt. 2/3) [EO2] – Vier erbauliche Reden 1844 (1964, 1981; Abt. 13/14) [4R44] – Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Erster Teil (1959, 21988; Abt. 16/I) [AUN1] – Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Zweiter Teil (1959, 21989; Abt. 16/II) [AUN2] – Eine literarische Anzeige (1954, 1983, Abt. 17) [LA] – Der Liebe Tun (1966, 1983; Abt. 19) [LT] – Christliche Reden 1848 (1959, 1981; Abt. 20) [CR] – Die Krankheit zum Tode (1954, 31985; Abt. 24) [KT, GW 24] – Einübung im Christentum (1951, 21986; Abt. 26) [EC] – Die Schriften über sich selbst (1960, 1985; Abt. 33) [SS]

Gerdes, Hayo (Übers. u. Hg.), Sören Kierkegaard. Die Tagebücher, Düsseldorf / Köln 1962–74: – Erster Band: 1834–44 (1962) [T 1] – Zweiter Band: 1844–48 (1963) [T 2] – Dritter Band: 1848–49 (1968) [T 3] – Vierter Band: 1849–51 (1970) [T 4] – Fünfter Band: 1850–55 (1974) [T 5]

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Stellensynopse für ›Die Krankheit zum Tode‹

Zuerst wird die Seite und Zeile der Ausgabe Rochols angegeben, die den Beginn der jeweiligen Seite der Ausgabe Hirschs (Gesammelte Werke, Abt. 24) markiert. In der letzten Spalte sind die Seiten der Samlede Vaerker (1. Aufl.) angegeben, die auf der entsprechenden Seite der Ausgabe Hirschs beginnen. Rochol 3,2 3,32 5,2 5,29 6,36 9,1 9,24 10,30 11,26 12,26 13,25 14,27 15,28 16,28 17,28 19,1 20,1 21,2 22,3 23,5 24,6 25,6 26,1 26,33 27,35 28,36

Hirsch 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

SV 117 118 121,122 123 125,127 128 129 130 131 132 133 134 135 136,137 137 138 139 140 141 142,143 144 145

388

Stellensynopse für ›Die Krankheit zum Tode‹

(Fortsetzung) Rochol 29,34 30,32 31,33 32,34 33,33 34,36 35,34 36,36 37,37 38,38 39,39 41,4 42,6 43,6 44,6 45,6 46,7 47,6 48,6 49,4 49,18 50,1 51,2 52,15 53,16 54,18 55,19 56,18 57,17 58,16 59,18 60,16 61,3 62,10 63,19 64,17 65,16 66,16 67,17 68,18 69,18

Hirsch 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 48 (Anm.) 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

SV 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162,163 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Stellensynopse für ›Die Krankheit zum Tode‹

(Fortsetzung) Rochol 70,19 71,18 72,20 73,19 74,21 75,22 77,1 77,28 78,32 79,29 80,32 81,32 82,32 83,29 84,31 85,32 86,31 87,32 88,28 89,27 90,28 91,27 92,27 93,28 94,32 95,33 96,32 97,33 98,30 99,35 100,35 101,35 103,6 104,9 105,10 106,10 108,1 108,36 109,38 111,1 112,3

Hirsch 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

SV 181 182 183 184 185 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215,216 217 218 219

389

390

Stellensynopse für ›Die Krankheit zum Tode‹

(Fortsetzung) Rochol 113,5 114,6 115,7 116,5 117,7 118,10 119,10 120,9 121,2 122,9 123,10 124,10 125,8 126,16 127,16 128,16 129,19 130,17 131,20 132,19 133,21 134,10 135,20 136,25 137,24

Hirsch 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134

SV 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241

Namensregister

Auch in KT vorkommende Personen: Cesare Borgia (= der Herrschsüchtige, 134 / 15,33) 77ff, 83f, 92f Fichte, J.G. 49, 150 Hegel, G.W.F. (= der Denker, 158f / 42,14) 20f, 54f, 106, 114, 149f, 173ff, 198ff, 246, 322, 326 Jesus Christus 33, 40, 59, 68, 85, 112, 115,

Anz, W. 44 Augustin 193, 307 Axt-Piscalar, C. 49, 19, 49 Baur, J. 91 Berger, K. 152 Bjergsø, M.O. 218 Bohlin, T. 361 Bonhoeffer, D. 112 Bösch, M. 25, 31, 140, 191 Bösl, A. 19, 50, 140f, 295f Buben, A. 70 Buchheim, T. 300 Burgess, A.J. 307 Cappelørn, N.J. Christensen, A.

203, 379 67

122, 125, 149, 186, 293f, 310, 319, 326ff, 332, 338, 344, 350f, 353, 355–359, 361, 363, 366, 368ff, 372–376 Lazarus 37, 122, 293 Macbeth 342f Richard III. 241f Shakespeare 241, 342 Sokrates 23, 25

Daub, C. 318 Deuser, H. 19, 58, 119, 284, 286, 300, 379 Diem, H. 140, 320 Dietz, W. 19, 23ff, 30f, 53, 56, 66, 72, 92, 106, 192, 267, 286, 307, 379f Disse, J. 19, 50, 56, 119 Dunning, S.N. 28, 30 Ebeling, G. 298, 350 Eriksen, N.N. 47 Evans, C.S. 298 Fahrenbach, H. 49, 56 Ferreira, M.J. 138 Figal, G. 300 Fischer, H. 308, 310 Fonk, P. 368

392

Namensregister

Gerdes, H. 310 Gestrich, C. 364 Glöckner, D. 30 Gouwens, D.J. 141 Greve, W. 28 Grøn, A. 19, 82, 87, 167, 194, 206, 247 Guardini, R. 17 Hannay, A. 19, 58, 81 Harbsmeier, E. 349 Harris, K. 28 Heidegger, M. 201 Heller, A. 242 Hennigfeld, J. 43, 148 Hermann, R. 122 Herms, E. 122 Hofmann, G. 145 Holl, J. 54 Hühn, L. 43, 72 Hutter, A. 43 Iwand, H.J.

327

Joest, W. 90 Jüngel, E. 119 Kant, I. 150, 298, 322 Knappe, U. 322 Kodalle, K.-M. 310 Lange, D. 91, 135 Lincoln, U. 119, 213 Lisi, L.F. 322 Lübcke, P. 157 Luther, M. 18, 44, 90, 111, 123, 350

Pannenberg, W. 72, 256 Pattison, G. 298 Pieper, A. 141 Pröpper, T. 72 Rasmussen, A.M. 43, 61 Riedel, M. 305 Ringleben, J. 17, 19–22, 34f, 48f, 55, 59f, 68, 114f, 124, 129, 173, 220, 231, 256f, 274, 295, 321, 324 Roberts, K.A. 122 Roberts, R.C. 295, 307 Rorty, R. 154 Roth, M. 63 Schäfer, K. 300 Schmidinger, H.M. 67 Schröer, H. 23, 307 Schüepp, G. 308 Schulz, H. 112, 175, 315, 332 Sedmak, C. 320 Seils, M. 111 Stokes, P. 70 Theunissen, M. 17, 19–22, 32, 34ff, 50, 53f, 57ff, 70, 72, 78, 81ff, 87, 106, 108, 114f, 118, 135, 148ff, 168, 186f, 189f, 210, 213, 227, 238, 256ff, 263, 275, 285f Thonhauser, G. 201 Tietz, C. 19, 72, 295 Tillich, P. 229f Tschuggnall, P. 308 Vogel, T.

112

Malantschuk, G. 30 Mjaaland, M.G. 60 Möhler, D. 318 Müller, J. 318

Weisshaupt, K. 45 Whittaker, J.H. 321 Willi, H.-P. 318 Wolff, K. 368

Nordentoft, K.

Zur Mühlen, K.-H.

131, 296, 313, 335

111

Begriffsregister Neben den grundlegenden Begriffen der Untersuchung wurden auch markante Begriffe und Wendungen der KT in das Register aufgenommen. Bei einigen Einträgen werden ausgewählte Stellen angegeben. Kursiv gedruckte Seitenzahlen beziehen sich nur auf den Anmerkungsteil. Es wird meistens nur die substantivische oder adjektivische Form des Wortes aufgeführt, unter der andere Formen mit nachgewiesen werden.

Abstraktion – Abstraktion des »Pfahls im Fleisch« 272 – Abstraktion seiner selbst 223–227 – »unendliche Abstraktion von allem Äußerlichen« (170 / 55, 25f) 223, 226 – Wandlung von der Abstraktion zur Konkretion 266, 270 affektiert, unaffektiert 95f, 100, 286 akustisch 57, 144f, 305, 339, 371f Anderer – ein anderer sein wollen 46, 79, 82f, 207, 209f, 252, 256 – Verhältnis zum (setzenden) Anderen 52, 56–64, 66, 69ff, 97, 104, 129f, 294 Angenehmen und Unangenehmen, Kategorien des 200, 259f Angst 25, 87, 99, 101, 107, 109, 121, 155f, 159, 167, 200f, 227, 269, 278, 338 – Angst und Verzweiflung 200f Anlass und Grund der Verzweiflung, Unterscheidung zwischen 187–191 Anti-Climacus 23, 25, 27, 31ff, 43f, 307 Ärgernis 27, 33, 39f, 59, 68, 149, 186, 295, 307–315, 330, 355–358, 360, 366, 371f, 375f – Ärgernis in der Verzweiflung an der Vergebung der Sünden 355f – Formen des Ärgernisses 356ff – Sünde als Ärgernisnahme 307–315 Arzt 63, 87, 91, 97–101, 103, 105ff, 168, 170, 172, 174, 201, 251

– ärztliche Diagnose der Verzweiflungskrankheit 98ff Ästhetik, Ästhetiker 23f, 26, 28f, 31f, 192f Auferstehung 122, 293, 369 Aufmerksamkeit, aufmerksam auf sich selbst / die Verzweiflung / die Krankheit 38, 49, 60, 67, 92, 96ff, 107, 116, 121, 124, 131, 139ff, 163, 178, 192, 197f, 203, 211, 224f, 246, 304, 372 – allerhöchste Aufmerksamkeit 304 – aufmerksam auf Gott 161f. Augenblick 28, 32f, 68, 73–77, 79, 89ff, 94, 96, 100ff, 104, 110, 113, 118ff, 124, 126, 130, 137, 142f, 148, 157ff, 175, 207, 210, 220f, 232f, 243, 245–248, 258f, 279, 284, 302, 327, 334, 337f, 368 – zwei Augenblicksdimensionen 76 Äußerliches – »Druck des Äußerlichen« (165 / 49,10f; 181 / 69,18f) 202, 253

Beamter, ungewöhnlich tüchtiger (178 / 65,6) 237 Bewegung 21, 35, 47f, 51, 67, 88, 126, 129f, 139f, 152, 174f, 190, 245, 274f, 287, 299, 318, 333, 338 – »Bewegung auf der Stelle« (151 / 33,30) 47, 152 – Doppelbewegung 129f, 139f, 245, 318 – Rückwärtsbewegung 190 – Scheinbewegung 152

394 Beweis – Beweis für das Ewige im Menschen 91, 286 – Beweis für die Wahrheit des Christentums 121 – Beweis gegen das Dasein 180 – Beweis gegen Gottes Güte 269, 302, 365 Bewunderung 35, 39, 84, 293f, 311–315, 346, 355f, 372, 374 – unglückliche Bewunderung 35, 39, 84, 293f, 311ff, 346, 355, 374 Bewusstsein – natürliches Bewusstsein 20, 106 – Bewusstseinszustand des Halb-Dunkels 181–184, 334 Brücke, hinter sich abgebrochene (221 / 113, 1–5) 32, 339f Christ 26f, 37, 44, 67, 85ff, 90, 112, 121, 162, 179, 192, 208, 216, 251, 299, 302, 307, 312, 320, 346f, 357, 374 – »einer von den gebildeten Christen« (171 / 57,3) 216, 357 – »so halbwegs« Christ (178 / 65,8f) 251, 302, 346f – »Nur der Christ weiß, was unter der Krankheit zum Tode zu verstehen ist.« (125 / 7,1f) 37, 85, 179 – Seligkeit des Christen 67 – Vorzug des Christen 67, 192 Christenheit 26f, 31ff, 191f, 194, 208, 302, 306, 308, 326f, 344, 349, 356–361, 363f, 376 – Heidentum in der Christenheit s. Heidentum Christentum 32, 44, 91, 95, 121, 154f, 191f, 294, 307f, 311, 320, 324ff, 328, 330ff, 358–370 – »wie ein Wagenheber so ist die Erhebung durch das Christentum« (213 / 104,13f) 32 – Christentum für Unwahrheit erklären 363–370 – man das Christentum weder begreifen kann noch soll (211 / 101,3f) 328

Begriffsregister

Dämonie 44, 46, 167, 181, 227, 233, 244f, 261f, 267–270, 275, 277, 286f, 335, 337f, 340 Demut, Demütigung 94f, 143, 229, 232, 262, 264, 269, 273, 311, 347f Denker, der nicht in seinem Palast wohnt (158f / 42,14–21) 198ff Dialektik 22, 33, 48f, 55, 59, 66f, 95, 101f, 105, 112–115, 118, 143, 174–177, 187, 190, 232, 235, 250f, 274, 283, 285ff, 295ff, 314, 332, 342, 348, 362 – Dialektik des Glaubens 112–115, 332, 348, 362 Dichter 142f, 235, 245, 296 Dogma, Dogmatik 285f, 293, 317–332, 334, 364, 372ff, 376 – ethisch-dogmatisch 334 – Sünde als dogmatischer Begriff 317–332 Doppelzüngigkeit (223 / 115,4) 343–346 Durchsichtigkeit 25, 45–49, 52, 57, 59f, 65f, 94f, 97, 111f, 121, 144f, 148, 153f, 171, 179f, 182, 210, 228, 258, 260, 265, 267f, 303, 305f, 331, 370, 376 – Durchsichtigkeit und absolute Bewusstheit 45ff, 180, 267 Einsamkeit 232–250, 255, 260, 270f, 344 – Bedürfnis nach Einsamkeit 235f Endlichkeit 25, 29, 47ff, 51ff, 104, 125–130, 135, 137, 139f, 142f, 145–150, 161, 193f, 205, 225, 262, 266f, 271, 274, 277, 282f, 298, 304, 318 – Verendlichung 25, 129f, 140, 226, 267, 299, 318 – Verzweiflung der Endlichkeit 145–149 Entelechie 300 Erbschaftsfall (177 / 63,29–64,8) 231f Erbsünde s. Sünde Ethik, Ethiker 23, 31f, 66, 68, 192ff, 175ff, 192ff, 319, 322f, 328, 334 – ethisch-dialektisch 66, 175ff – ethisch-religiös 23, 192f Ewigkeit, Ewiges 21f, 25ff, 29–33, 36, 51, 62, 73, 75ff, 79, 84f, 89–94, 96, 98, 100f, 112f, 148f, 187–190, 204ff, 212, 216,

Begriffsregister



– – – – –

219–248, 250ff, 258, 262f, 267f, 272ff, 278, 286, 309f, 330, 334f, 351, 367 Ewiges »von sich abgeworfen haben oder abwerfen« (133 / 13,27) 75, 83, 91, 168, 286 »Ewigkeit ist die wesentliche Kontinuität« (217 / 108,18f) 334f Forderung der Ewigkeit 94, 206, 309f »Mißbrauch des Ewigen« (181 / 69,4) 250, 272, 351, 367 Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst 221–248 »Verzweiflung mit Hilfe des Ewigen« (181 / 69,3f) 250ff

Fatalismus 122, 130, 135, 158ff, 163f, 282, 338 felix culpa 76, 288 Freiheit 20, 23, 25, 29ff, 51, 72, 83, 91, 104, 111, 123, 126f, 149, 278, 300, 326, 340, 344 – »Das Selbst ist Freiheit« (145 / 26,8) 30, 51, 126f Gebet 122–125, 293, 314, 372, 375 – Anbetung 122, 307, 312, 314f Geheimnis 49, 314f, 321, 328, 331 – »Geheimnis der gesamten neueren Philosophie« (206 / 95,5f) 49 Geist, Geistigkeit 25, 28f, 38, 45ff, 51f, 55, 59f, 66ff, 85f, 89ff, 96ff, 101ff, 137, 144f, 160f, 171, 183f, 191–195, 197–201, 204f, 235f, 242, 249f, 255f, 259, 270ff, 286f, 303–309, 330, 334, 336f, 344, 358, 362f, 368ff – dämonische Geister 338 – »Der Geist ist das Selbst. Was aber ist Geist? Der Mensch ist Geist« (129 / 9,9) 45ff – geistige Struktur und Leib-Seele-Verhältnis 101–104 – Geistigkeit und Heidentum 191–195, 358, 362f – Geistigkeit und Unmittelbarkeit 197–201, 204f – Geistwerdung, Vergeistigung, durch-

395 geistigt 28ff, 50, 55, 95f, 98, 183f, 193, 199ff, 272, 274, 304, 307, 359, 369 – heiliger Geist 75; Sünde wider den Heiligen Geist s. Sünde – negative Geistigkeit 250 – Sterben im geistigen Sinne 89ff – Tod im geistigen Sinne 85f – verzweifelte Geistigkeit und göttliche Geistigkeit 303ff Geistlosigkeit 23, 31f, 67, 78, 82, 108, 161, 163ff, 168, 170ff, 193, 195, 199ff, 210, 215–218, 234ff, 241f, 249, 257, 302, 304ff, 308, 336f, 339, 359, 362ff, 369, 375 Geliebte, »seine« (Kierkegaards Beispiel 135 / 16,27–17,2) 78, 83f, 92ff, 194 Glaube 21f, 24ff, 30f, 35, 49f, 68, 107–125, 129f, 141, 146, 157, 160, 162f, 172f, 175ff, 190f, 194, 218ff, 228ff, 244ff, 251f, 263, 268f, 273, 275, 283f, 286–289, 293, 296, 304, 306f, 310–315, 317–332, 334f, 337, 347f, 356f, 360ff, 368ff, 373–376 – Begreifen und Glauben angesichts der Sünde 317–328 – Begreifen und Glauben der weggenommenen Sünde 328–332 – Glauben und Verstehen angesichts der Verzweiflung 115–121 – glauben wollen 111f, 116–119 – Nachahmung der Glaubenswahrheit (im Trotz) 251f – reflexiv-unmittelbar Verzweifelter und die Möglichkeit des Glaubens 218ff – Rückfall im Glauben 347f – »Trotzdem« des Glaubens, »trotzdem eine Möglichkeit« (155 / 38,2f) 113f, 123, 160, 172, 191, 194, 332, 348 – Wesen des Glaubens angesichts der Verzweiflung 107–115 Glück 107f, 110, 169, 172, 177, 187, 197–205, 207ff, 218, 221, 256, 271, 287, 313, 345, 353, 369 – sinnliche Beschränkung und eingebildete Größe im Glück 198ff – Unmittelbarkeit des Glücks 197f Gott

396

Begriffsregister

– »daß für Gott alles möglich ist« (153 / 36,13; 154 / 37,4; vgl. 156 / 38,35f) 110f, 115–118, 122, 130, 141, 162, 246, 251f, 266, 293, 306, 310, 332 – Gottesbeweis 91 – leidender Gott (199 / 86,18) 293, 310ff, 327, 375f – scheinbares »Handgemenge« mit Gott (226 / 118,21) 354, 356 – vor Gott 52, 86, 108, 142f, 146, 169, 193f, 284, 294, 296–303, 305–312, 318, 324f, 327, 329f, 334, 338–341, 343–351, 353, 359ff, 364, 366f, 369, 371ff, 375f – Zwang Gottes 91, 126, 128, 147, 150, 161, 180, 194 Grenze, das Begrenzende 137f, 146, 151, 153, 157, 267, 328 Hass 231f, 234, 346 Heidentum 23, 67, 191–195, 203, 306f, 358–363, 376 – »Heidentum in der Christenheit« (160 / 43,39) 191f, 306, 359f Heilung 32, 63, 67, 85f, 95, 106, 117, 169, 187, 283 Hoffnung 85ff, 89, 109f, 114, 125, 130f, 155–159, 162, 164, 233, 246, 262f, 265f, 278, 287f, 310, 341 – Hoffnung und Hoffnungslosigkeit 86f. Idealismus 43, 322 Inkognito – göttliches Inkognito 326ff, 374 – Inkognito in der Verzweiflung 271 Irdisches in toto (175 / 61,15) 148, 188f, 227, 239, 254, 341, 345, 356, 375 Irrtum 175, 185, 197f, 200, 370 Jugendlicher

217f

Kind 119, 156f, 170, 203, 205, 217, 235 König – »König ohne Land« (183 / 71,13f) 257, 259 – König oder Kaiser, der einen Vertrauten

nach dem anderen umbringen lässt (180f / 68,9–18) 245 – König, der inkognito sein will (211 / 100,24–36) 326ff Konkretion, Konkretheit 29, 49f, 128ff, 223, 225ff, 253, 261–271, 277, 309, 356, 362 – konkreter Nachteil 261–264 – Konkretion der Synthese 128ff – Konkretion in der Verzweiflung 266f Krankheit 21f, 37ff, 59, 63, 67f, 73ff, 85–106, 113f, 122, 170f, 182, 184f, 281f, 287, 318 Lehrer 141 Leib 25, 54f, 85f, 89f, 101–106, 173, 195, 202, 204, 282, 287, 293 – Leib der Sünde 173 Leidenschaft 120f, 176, 187f, 190, 199f, 222f, 238f, 243f, 246–249, 262, 264, 267, 271, 279, 287f, 304, 312, 317, 320f, 324, 328, 330f, 342, 345f, 366, 373, 375 – leidenschaftsloser Augenblick (179 / 66,36) 243, 247f, 287, 342, 349 – Verstandesleidenschaft s. Verstand Liebe 26f, 30, 83f, 87, 92f, 155, 199f, 231f, 234, 236, 238, 244f, 248, 262, 269, 278f, 343, 346, 350, 355, 357f – »schwermütig liebend« (153 / 35,23) 87, 155, 200, 269, 278 – Selbstliebe 27, 231f, 234, 236, 238, 244f, 248, 262, 279, 343, 346, 350, 355, 357f Luftballon, mit dem man aufsteigt (221f / 113,23–29) 340f. Lust und Verzweiflung 78ff, 83f, 90, 93, 142, 252, 259f Mensch, natürlicher 67, 86f, 191–195, 306, 312, 324, 326ff, 358f, 361 – natürlicher Mensch und Heidentum 191–195 Metamorphose (174 / 60,36) 217, 219f, 275 Metaphysik 285f

Begriffsregister

Missverhältnis 60, 64ff, 69–77, 127f, 142, 299, 303, 345, 359, 361 Mitteilung 281, 319f, 331f, 374 Mittelbarkeit 107, 200, 203f, 231 – mittelbar-unmittelbar 231 Mitwisser der Verschlossenheit 236–239, 243, 247, 336 Möglichkeit 51, 62f, 65–76, 87, 92f, 97, 99f, 109–119, 121–124, 127–131, 135, 138–141, 149–165, 189f, 193f, 200ff, 211–216, 245f, 250–259, 261ff, 265–270, 275, 277–280, 282ff, 288, 306, 309ff, 322ff, 332, 334f, 338, 362, 365, 373 – abstrakteste Möglichkeit des Selbst 129 – ausgefüllte und ergänzte Möglichkeit 68f – Gott als die umfassende Möglichkeit 121–124 – Möglichkeit und Wirklichkeit in der Verzweiflung 66–69 – Möglichkeitsbegriffe der KT 149 – »Selbst der Möglichkeit nach« s. Selbst jat± d}malim – »trotzdem eine Möglichkeit« (155 / 38,2f), »Trotzdem« des Glaubens 113f, 123, 160, 172, 191, 194, 332, 348 – Verzweiflung der Möglichkeit 149–155 – »Wiedergabe des Selbst, die die Möglichkeit des Selbst ist« (147 / 28,11f) 109, 138–141, 178, 193 Mystifizierung 204f, 207 Natur – Gottes Größe in der Natur 314f – menschliche Natur 70, 96f, 355 – tiefe Natur (des Menschen) 96, 98, 236, 255, 345, 347, 349, 355, 375 Negativismus 53, 286 Neid 312–315, 356, 372 Nihilismus 285 Notwendigkeit 25, 51, 72, 87, 104, 113, 122ff, 130, 135, 140, 147–153, 156–164, 170, 211, 220, 226, 252f, 261, 263, 267, 282f, 311, 338

397 – Notwendigkeit und Freiheit 25, 51, 104 – Notwendigkeit und Zufälligkeit 147ff – Verzweiflung der Notwendigkeit 156–164 Offenbarung Gottes / Christi 33, 56, 59, 84, 106, 115, 296, 304f, 319, 323f, 328, 357, 359ff, 363f, 367ff, 374ff Ohnmacht 88f, 93, 117, 168, 194, 207f, 212, 214f, 221ff, 256, 259, 266, 283, 305, 335, 337f, 365 – Ohnmacht und Macht in der trotzigen Handlung 259 – Ohnmacht und Macht in der Verzweiflung 88f Ontologie 300 Orthodoxie, theologische 318 pantheistisch 318 Paradox 26, 114, 148, 191, 307, 311, 317–321, 324f, 330–332, 348, 368, 373f – doppeltes Paradox 330ff »Pfahl im Fleisch« (184 / 72,21) 187, 262–268, 310, 353, 366f Pfarrer, Geistlicher 208f, 239f, 243, 347, 349 Phantasie, Phantasterei, Phantasmagorie 109, 115, 117f, 120f, 124, 129f, 135, 137–143, 146, 150f, 153–156, 158, 160–165, 185, 192f, 199f, 207, 222–227, 234f, 249–252, 254, 260–263, 265–268, 272, 274, 277, 288, 301f, 308, 342, 362 – Phantasie und das Phantastische 138f – phantastische Existenz 129, 141ff – phantastisch Religiöser 142f – Schein des Phantastischen 139ff – Spießbürger und die Phantasie 162f – Verzauberung durch die Phantasie 260 Pseudonym 24–28, 43f Psychologie 15f, 24, 31, 61, 182–185, 285f, 313, 333f, 376 Rat- und Gerichtshaus, dem der Rücken zugewandt wird (167 / 52,6–9) 205f

398 Reflexion 26f, 45, 54, 102, 107ff, 114, 120, 126, 129, 138–141, 146, 150f, 153ff, 162, 175, 183, 193, 197, 201f, 204, 209–222, 225f, 228–234, 236f, 239ff, 246, 256ff, 262, 274f, 278, 288, 299f, 302, 334, 357 – »Das Selbst ist Reflexion« (147 / 28,10) 45, 108, 138 – »Reflexion des Nichts« (142 / 23,21) 107ff, 120, 129, 141, 146, 175, 226, 234, 299 – »unendlich machende Reflexion« (147 / 28,7f) 138, 193 – Verzweiflung der Unmittelbarkeit mit Reflexion 211–220 Resignation 254, 272f Rettung aus der Verzweiflung 24, 107–131, 145, 172–177, 183, 187–190, 206, 215, 222f, 232f, 244f, 251, 268, 287f, 306, 332, 337 Reue 29f, 32, 218, 228, 238, 273, 284, 340ff, 344, 368 sacrificium intellectus 311, 328 satisfactio vicaria 173 Schicksalsschlag 96, 98, 203–210, 255, 271f – »Schicksalsschläge und entsetzliche Entscheidungen« (142 / 24,15f) 96, 255 Schöpfer 56, 71, 91, 256f, 296, 300, 307, 310, 345, 350, 352, 355f, 360, 368, 370, 375f Schöpfung, Geschöpflichkeit, Geschöpf 22, 35, 56, 70f, 112, 284, 300, 310, 345 Schwermut 23, 28f, 31, 33, 87, 155, 159, 200, 269f, 278, 351f Schwindel 102ff, 118 Seele 25, 54f, 59, 73, 75, 85f, 89, 97, 101–106, 108, 116f, 183ff, 193ff, 202ff, 220, 244, 259, 285, 339, 341, 349 – leiblich-seelisch, seelisch-sinnlich 54f, 73, 75, 85f, 89, 103–106, 108, 117, 183, 193, 195, 244 Selbst – »[D]as Selbst muß gebrochen werden,

Begriffsregister

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um es selbst zu werden« (179 / 66,34f) 244, 246ff, 324 das Selbst selbst konstruieren 142, 212, 252f, 352 dem Selbst Zwang antun (178 / 65,1) 235, 260 »Der Geist ist das Selbst« (129 / 9,9) 45 drei Formen der Rede vom Selbst 50 »sicher hat jedes Selbst als solches Kanten« (149 / 31,3) 147 »[J]e mehr Vorstellung von Christus, desto mehr Selbst« (225 / 118,2f) 353 »Je mehr Gottes-Vorstellung, desto mehr Selbst; je mehr Selbst, desto mehr Gottes-Vorstellung« (194 / 81,8f) 302, 353 Maßstab für das Selbst 297–303, 353, 358f, 371 nacktes, abstraktes Selbst (170 / 55,27f) 226, 261 Selbst jat± d}malim / der Möglichkeit nach 36, 45, 50, 62, 72, 127f, 130f, 138f, 149f, 170, 175, 252, 257f, 299, 301, 324, 340 Selbstbehauptung (170 / 55,10) 219, 229, 231, 313, 327 Selbstischkeit 78, 84, 213, 236, 279, 342, 358f, 362 Selbstmord 67, 194f, 229f, 242–245, 260, 268, 283, 352, 369 Selbstseinwollen und Nichtselbstseinwollen 20, 34, 64, 80–84, 185ff, 209f, 212, 230f, 234, 249, 251, 266, 278ff – Nichtselbstseinwollen und Selbstliebe 234 – drei Stufen des Nichtselbstseinwollens 209f – Gegendruck des Nichtselbstseinwollens 230f Selbstverdoppelung 50, 138, 141, 167, 249, 256f, 260, 265, 268, 280, 283, 329 Selbstverhältnis 31, 40, 45–60, 64ff, 70–73, 76f, 94, 104, 147, 258, 289, 294ff, 303, 315, 340–345, 351–355, 357, 360, 365ff (sich) selbst loswerden wollen 58f,

Begriffsregister

61f, 78–84, 91, 94, 120, 126, 169, 192, 194, 210, 259, 303, 311 – theologisches Selbst (193 / 79,29) 298 Setzungsverhältnis 52, 57, 60–64, 71, 77, 104, 294 Sinnlichkeit 184, 192f, 197–200, 204, 215, 259, 318, 330 – sinnliche Beschränkung und eingebildete Größe im Glück 198ff Soteriologie 284 Spekulation 26, 114, 285f, 308, 311, 317f, 320f, 325f, 328, 373f Spießbürger 160–165, 170, 277, 282, 285 Stärke und Schwäche (verzweifeltes Selbstseinwollen und verzweifeltes Nichtselbstseinwollen) 185ff, 211f, 229ff, 234f, 238f, 244, 266 Sterben 85–91, 106, 117, 128, 155, 171, 195, 208, 282, 309–312, 367 – Absterben 85f, 90, 114, 129, 347 – Ambivalenz des Sterbens im geistigen Sinne 89ff Stille 144f, 339 Stolz 237f, 244f, 249f, 261f, 264, 279, 327, 336f, 345ff, 349, 357f Sünde – entschiedenste Sünde 194, 242f – Erbsünde 320 – Sünde instar omnium 33 – Sünde wider den Heiligen Geist 40, 295, 364, 366, 368f, 375 – Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln 349–358 – Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären 363–370 – Sünde, über die Sünde zu verzweifeln 343–349 – vergeistigste Sünde 365 – »Vertiefung in der Sünde« (222 / 113,34f) 344ff, 354, 361, 364, 369 Synthese 25, 51–55, 57, 63, 67, 69–73, 86, 102–105, 125–130, 137, 147, 149f, 159, 161, 183, 195, 211, 242, 250, 267, 294, 303, 358f Teufel

45f, 180, 267

399 Tier 66f, 170, 198, 224 Tod 70, 85–94, 106, 113, 125, 145, 129ff, 155, 173, 190, 206, 244, 282, 287f, 310ff, 369f – Tod / Sterben Christi 106, 173, 310ff, 369f – Tod im leiblich-seelischen und im geistigen Sinne 85f – Krankheit zum Tode s. Krankheit – Todeshoffnung 86, 131 – Todesstille 145 Totstellen 206f Trauer 92f, 256, 344f, 349, 351f, 369 Trivialität 153, 158–164, 217f Trost, Untröstlichkeit 17, 247, 262, 264, 272f, 349, 369 Trotz 22, 32, 38, 59, 82, 92, 124, 168f, 171, 176, 180f, 212f, 225, 229f, 234, 238ff, 242f, 249–280, 294, 296, 299, 302, 307, 309f, 335, 337f, 351f, 355f, 359, 365ff, 369, 375 – Verzweiflungsformen des Trotzes 249–276 Tugend 193, 306f Tür 215f, 229, 233f, 240, 270 – blinde Tür (171 / 56,21) 215f – verklemmtes oder überdrehtes Türschloss (186 / 74,38) 240, 270, 272 – verschlossene Tür (177 / 64,13) 233f Umkehr (175 / 62,35) 174f, 182f, 187, 190f, 220, 268, 275, 318, 341 Unendlichkeit 25, 47ff, 51ff, 94f, 104, 108f, 125ff, 129f, 135, 137–146, 148ff, 158, 181, 193, 199, 224f, 246, 250–257, 261f, 266f, 274, 277, 282f, 298f, 301–304, 318, 329, 345, 352ff, 358f, 361f – Verunendlichung 25, 129f, 139, 142, 150, 226, 266, 299, 318 – Verzweiflung der Unendlichkeit 137–145 Unglück 66, 79f, 86, 91f, 101ff, 187, 189, 199f, 203ff, 207f, 221, 246, 262, 266, 272, 313, 335, 353, 367 – unglückliche Bewunderung s. Bewunderung

400

Begriffsregister

Unmittelbarkeit 24, 28, 58, 82, 98, 105, 107, 120, 129, 168, 190ff, 197–228, 230–235, 237, 239ff, 250, 253f, 256, 259f, 271, 274f, 278f, 287f, 297f, 302, 304f, 327, 334, 336f, 345, 357, 375 – »Knick« der Unmittelbarkeit (167 / 51,10f) 204, 206, 208, 215, 283 – mittelbar-unmittelbar 231 – Verzweiflungsformen der Unmittelbarkeit 197–220 Unruhe 21, 59f, 98f, 101, 167, 180, 200, 202 Unschuld 25, 167, 177, 191f, 195, 281, 344, 353, 358ff Unsterblichkeit 194, 216 Untergang 24, 112–116, 118–124, 130, 159f, 163, 172, 175, 177, 179, 190f, 194, 201, 205f, 228, 234, 246, 262, 264, 283, 296, 317, 319, 332, 337, 348, 362 Ursprünglichkeit 70f, 73, 90f, 94, 146ff, 150, 153, 171, 191, 247, 284, 301, 303, 349, 359, 371f Urstandslehre 284

310f, 317–320, 322–325, 328, 330ff, 346, 373f – Glauben als Aufgabe des Verstandes 115–119 – fauler Verstand 320 Verstandesleidenschaft im Glauben 120f, 176, 288, 320, 324, 328, 331, 373 Verstimmung 100f, 344, 347 Verzweiflung – am Ewigen oder über sich selbst 221–248 – der Endlichkeit 145–149 – der Möglichkeit 149–156 – der Notwendigkeit 156–164 – der reinen Unmittelbarkeit 197–210 – der Unendlichkeit 137–145 – der Unmittelbarkeit mit Reflexion 211–220 – des Trotzes (handelnde Form) 255–260 – des Trotzes (leidende Form) 261–275 – »Formel für alle Verzweiflung« (135 / 17,3) 80–84

Verderben (corruptio) 66ff Vergebung (der Sünden) 173, 198f, 285f, 295, 304, 349–358, 360–364, 367–370, 375 Verhältnis – Verhältnis als negative Einheit 50, 53f, 59, 85f, 97, 103, 126ff – Verhältnis zwischen zweien (129 / 9,16f) 47f, 51–56, 59, 63, 70, 101, 103, 127f Verschlossenheit 232–248, 250, 256f, 260, 268, 270ff, 274, 283, 304, 335f, 338f, 352 – absolut bewahrte Verschlossenheit (180 / 67,28) 240, 242ff, 260, 268, 336 – verschlossene Tür s. Tür – Verschlossenheit des trotzig Leidenden 270ff – Verschlossenheit in der Verzweiflung am Ewigen 232–248 Verstand 26, 84, 110, 115–119, 173f, 178, 200, 212, 228, 248, 251, 262, 266, 287f,

Wagnis 21, 93, 99, 108, 120, 146, 148, 161, 171, 336 Wahnsinn 115f, 119, 121, 142f, 275, 346 Wahrscheinlichkeit 110, 161–165, 277, 282 Weiblichen, Verzweiflung des 249f, 255 Wille 28, 32f, 65, 72, 81, 83f, 111f, 116, 119, 138, 168–171, 182–186, 198, 212, 214, 229f, 252, 265, 278, 287, 304f, 310, 314, 317, 340–343, 346, 360 – freier Wille 72 – »tief und innerlich zu wollen« (SKS 3, 183 / EO2, 201) 28, 33 – Widerwille 32, 182–185, 212, 229 – Wille und Erkenntnis 184f, 314, 341f Wohnung, die verlassen, aber nicht aufgegeben wird (170 / 55,36–56,6) 213f, 218, 221f Wunder 124f Zeit

51, 62, 73–76, 79, 84, 89f, 92ff, 100,

Begriffsregister

146, 157f, 202, 205, 212, 219f, 222f, 232, 245f, 262f, 267f, 272f, 324, 330, 339 – Zeit und die Verzweiflung der Notwendigkeit 157f

401 Zugluft, Kierkegaards Beispiel der (155 / 38,4–8) 114 Zweifel 31, 148f, 350