Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Stalins [1 ed.]
 9783428481156, 9783428081158

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Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Stalins

STUDIEN ZUR DEUTSCHLANDFRAGE

Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis BAND 13

Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Stalins

Mit Beiträgen von Heinrich Bodensieck, Manfred Overesch, Michael Richter, Hermann-Josef Rodenbach, Klaus Schwabe, Jürgen Schwarz und Gerhard Wettig

Duncker & Humblot . Berlin

Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge geben ausschließlich die Ansichten der Verfasser wieder.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode StaUns : [dem vorliegenden Band liegen Referate zugrunde, die auf der Wissenschaftlichen Fachtagung des Göttinger Arbeitskreises im Oktober 1989 gehalten wurden] / mit Beitr. von Heinrich Bodensieck ... - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Studien zur Deutschlandfrage ; Bd. 13) (Veröffentlichung / Göttinger Arbeitskreis ; Nr. 448) ISBN 3-428-08115-3 NE: Bodensieck, Heinrich; I. GT; Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung

Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 448 Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6887 ISBN 3-428-08115-3

INHALT

Rahmenbedingungen und Weichenstellungen für das besiegte Deutschland Von Prof. Dr. Heinrich Bodensieck, Hagen........................................

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Die amerikanische Deutschlandpolitik 1945 - 1953 Von Prof. Dr. Klaus Schwabe, Aachen................................................

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Die französische Deutschlandpolitik von 1944 - 1953 Von Prof. Dr. Jürgen Schwan, Neubiberg...........................................

63

Die Deutschlandnote vom 10. März 1952 nach sowjetischen Akten Von Prof. Dr. Gerhard Wettig, Köln.....................................................

83

Die westeuropäische Option - Kulturpolitische Zeitzeichen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland Von Prof. Dr. Manfred Overesch, Hildesheim....................................

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Die verstärkte Sowjetisierungspolitik Moskaus und die Entwicklung der DDR Von Dr. Hennann-Josej Rodenbach, Bonn.........................................

133

Die Rolle der CDU der SBZ in der sowjetischen Deutschlandpolitik in den Jabren 1949 bis 1952 Von Dr. Michael Richter, Bonn ............................................................

155

Zum Stand der Forschung über Berijas Deutschland-Politik im Frühjahr 1953 Von Prof. Dr. Gerltard Wettig, Köln.....................................................

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Dem vorliegenden Band liegen Referate zugrunde, die auf der Wissenschaftlichen Fachtagung des Göttinger Arbeitskreises im Oktober 1989 gehalten wurden.

RAHMENBEDINGUNGEN UND WEICHEN· STELLUNGEN FÜR DAS BESIEGTE DEUTSCHLAND I Von Heinrich Bodensieck

Es war hauptsächlich die kontinentale Machtausweitung aufgrund der deutschen Blitzkriege und nicht schon die großdeutsche Politik des nationalsozialistischen Regimes, welche die Verantwortlichen für die Allianz der Vereinten Nationen veranlaßte, die Verantwortlichen der inzwischen so bezeichneten United Nations, für das Ende des Zweiten Weltkriegs ein weitaus radikaleres Vorgehen gegen das Deutsche Reich zu planen, als es seit 1919 gemäß dem Vertrag von Versailles verwirklicht worden war. Zwar hatten nicht nur die Betroffenen Härte und Ungerechtigkeit mancher Bestimmungen beklagt, aber aus dem, was sich innerhalb und besonders außerhalb der damals gezogenen Grenzen bis 1941/42 tatsächlich ereignete, folgerten immer mehr Beobachter, ihre Urteile in bezug auf die Deutschen würden bestätigt und es seien endlich jene Konsequenzen zu ziehen, die Europa und die Menschheit für alle Zeiten vor den Friedensstörern sicherten. Propagandathesen des Ersten Weltkriegs2 wur~en auch bei den damals Aufgewachsenen wiederbelebt. Heterostereotype und entsprechende Geschichtsbilder

1 Der folgende Text bietet in aktualisierter Fassung die Rahmen-These meines Referats vom 28.10.1989. Neuerscheinungen seit 1990 wurden möglichst berücksichtigt, ebenso Unterlagen, die seit 1990 im Zentralen Partei-Archiv (ZPA) der SED (seit 1992 "Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv" - SAPMO) zugänglich sind. Innerdeutsche Diskussionen der Jahre 1947-1949 werde ich anhand der zeitgenössischen Publizistik sowie der Bestände mehrerer in- und ausländischer Archive demnächst gesondert dokumentieren und untersuchen. 2 Für Großbritannien bereits seit 1870/71 seien nicht nur aufgrund der zuvor veröffentlichten Werke der Verfasser vor allem folgende Beiträge genannt, und zwar in: Wendt, Bernd Jürgen (Hrsg.): Das britische Deutschlandbild im Wandel des 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 3 der Veröffentlichungen des "Arbeitskreises Deutsche England-Forschung", Bochum 1984 - künftig zit.: "Wendt, Deutschlandbild"; Kleinknecht, Thomas: Die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 aus der Sicht des britischen Gelehrtenliberalismus (S. 81-1(2); Kuropka, Joachim: "Militarismus" und das "Andere Deutschland". Zur Entstehung eines Musters britischer Deutschlandinterpretation (S. 103-124); Meyers, Reinhard: Das Dritte Reich in britischer Sicht. Grundzüge und Determinanten britischer Deutschlandbilder in den dreißiger Jahren (S. 127-144); Kettenacker, Lothar: Preußen-Deutschland als britisches Feindbild im Zweiten Weltkrieg (S. 145-168); Birke, Adolf M.: Geschichtsauffassung und Deutschlandbild im Foreign Office Research Department (S. 171-197).

3 Aus den jüngsten Diskussionen sei verwiesen auf K1einsteuber, Hans J.: Stereotype, Images und Vorurteile - Die Bilder in den Köpfen der Menschen. In: Trautmann, Günter (Hrsg.): Die häßlichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn.

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ließen sie die Kontinuität der "Deutschen Gefahr" erkennen. Geopolitische Grundvorstellungen legten ihnen nahe, Handlungsräume und bedrohte Gebiete sowie die weltweiten Konsequenzen zu erfassen4• Seit der militärischen Wende des Zweiten Weltkriegs und während des Jahrzehnts bis zur Festigung der deutschen Zweistaatlichkeit im Kalten Krieg spielten derartige Gedankengänge für Entscheidende sowie für einflußreiche Publizisten und Berater der Siegermächte eine wichtige Rolle. Auf die Diskussionen über Kriegsziele reagierten Sprecher der Besiegten in den nationalpolitischen Kontroversen des Kalten Kriegs. Bei den Westmächten lauteten 1942/43 die Folgerungen aufgrund der Erfahrungen, wie sie damals wahrgenommen wurden: Künftig sollten in völkerrechtlicher, militärischer, wirtschaftlicher und territorialer Hinsicht keinerlei Ansatzpunkte für einen erneuten Revisionismus existieren. Darüber hinaus müßten alle gesellschaftlichen und ideologischen Voraussetzungen und Ausprägungen des preußisch-deutschen Militarismus und des völkisch-autoritären Denkens und Verhaltens vollständig beseitigt werden. Es dürfe also weder ein gemeinsames Reich als souveräner Staat mit den Kernen eigener Streitkräfte und Rüstungsindustrie oder genau berechenbarer Reparationsforderungen noch ein zahlenmäßig nennenswertes "Grenzdeutschtum" oder gar eine inselförmig abgetrennte Provinz wie Ostpreußen geben. Das Aussiedeln aller Deutschen östlich "natürlicher Grenzen" habe die ethnisch homogenisierten slawischen Nachbarstaaten als sichere Bollwerke gegen jeden neuen "Drang nach Osten" wiederherzustellen. Kriegsverbrecher und atle Verantwortlichen für Angriffsplanungen seien streng zu bestrafen. Das den Deutschen verbleibende Gebiet solle besetzt und gemeinsam in jedem Lebensbereich so umgestaltet werden, daß es nach dem Abzug der Militärregierungen und der Truppen unmöglich sein werde, die Veränderungen rückgängig zu machen. Auch könne es dann keine zweite Dolchstoßlegende geben. Während ihrer Gipfelkonferenzen erörterten die Verantwortlichen der strange alliance nicht nur Grundzüge derartiger Kriegsziele; denn die Art Reihe "Ausblicke". Darmstadt 1991, künftig zit.: "Trautmann: Deutsche"; S. 60-68. Vgl. unten in Anm. 7 den Hinweis auf "Gesamtkonzept". 4 Es geht also um die Art der Wahrnehmun.g, wie es Werner Link im Anschluß an Peter Schöllers sowie Harold und Margaret Sprouts Uberlegungen formulierte: "Entscheidend ist, wie das geographische und weltpolitische Milieu, seine Möglichkeiten und Beschränkungen wahrgenommen werden und wie das 'Psycho-Milieu' aussieht, wie das Wertesystem und der Interpretationsrahmen beschaffen sind", s. Link, Wemer: Das Spannungsverhältnis zwischen geographischer Mittellage und weltpolitischer Grenzlage in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. In: Hauser, Oswald (Hrsg.): Das geteilte Deutschland in seinen internationalen Verflechtungen. (Ranke-Gesellschaft). Göttingen - Zürich 1987, künftig zit. als "Hauser, Deutschland", S. 254 - 269, Zitat S. 255 und Anm. 4. - In Großbritannien erschienen 1990 zwei Werke, deren Verfasser auch in diesem Sinn die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge von Geographie und Internationalen Beziehungen behandelten: Taylor, Peter J.: Britain and the Cold War. 1945 as Geopolitical Transition; Dalby, Simon: Creating the Second Cold War. Tbe Discourse of Politics. (beide: London - New York). - Jüngst zeitgeschichtlich-vergleichend und die Wirksamkeit geopolitischer und geostrategischer Doktrinen und Dogmen betonend: BrilI, Heinz: Deutschland im geostrategischen Kraftfeld der Super- und Großmächte (1945-1990). In: Zitelmann, Rainer; Weißmann, Karlheinz; Groß heim, Michael (Hrsg.): Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland. Frankfurt/M. - Berlin 1993, S. 259-276.

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der Verwirklichung konnte die künftigen Verhältnisse zwischen den Verbündeten erheblich beeinflussen. Außerdem wollten Realpolitiker jeder Macht schon vor dem gemeinsamen Sieg oder spätestens vor den abschließenden Vereinbarungen bestimmte Weichen zu ihren Gunsten stellen. Angloamerikaner waren bestrebt, einen haltbareren cordon sanitaire zu errichten, als er in den 20er und anfangs der 30er Jahre im Zusammenhang mit Frankreichs kontinentaler Position existiert hatte. Das "Super-Versailles"-Ziel war also doppel~eutig. Versucht man trotz einiger Widersprüche in den unterschiedlichen Uberlieferungen5 diese Ambivalenz zu erfassen, so fällt ein Merkmal mehrerer Einzelbesprechungen zwischen den "Großen Drei" auf: im Rahmen der jeweiligen Tagesordnung behandelten sie Themen gesprächsweise. Dabei war manchmal schlagwortartig Vorgetragenes wie "Preußen" wichtig; stets bezog es sich sowohl auf das Problem als auch auf die Situation. Einerseits rechtfertigte es das, was im eigenen Interesse geschehen sollte oder bereits verwirklicht war, andererseits mochte es das diskreditieren, was der Konkurrent zu erreichen versuchte. Propagandistisch Vereinfachtes kennzeichnete jedoch nicht nur diese Verhandlungen. Fachleute argumentierten intern ähnlich, wenn sie die Sitzungen vorbereiteten. Vergleichbares galt bei einem Kurswechsel. Sofern es wegen der Lage noch nicht angebracht erschien, ihn öffentlich und programmatisch zu betonen, wurde er dennoch so hinter verschlossenen Türen angekündigt oder ohne Vorwarnung erprobt. Dann signalisierten veränderte Stichworte und Bezugspunkte (etwa der Geopolitik) dem Verhandlungspartner die neue Betrachtungsweise und begründeten das ihr entsprechende Verhalten. Das konnte sich in unvorhergesehener Weise auswirken, falls ein Wortführer erst kurze Zeit im Amt war, noch nicht vertraut mit um akzentuierten Argumentationen oder gar mit den zugrunde liegenden geographischen Realitäten. Er mochte Falsches formulieren, ohne sich der Bedeutung des Gesagten für die Positionen aller Verhandlungspartner bewußt zu s~in - offensichtlich ist Präsident Truman ein derartiger faux pas unterlaufen. Auch solche Eigenarten schlagworthaft anmutender Darlegungen seien beachtet, um wichtige Etappen beim Behandeln des Deutschen Problems zu berücksichtigen, nämlich Erörterungen zunächst in Teheran und dann in Potsdam. Stets wirkte sich aus, von welchem Gesamtkonzept7 her argumen5 Grundlegend die textkritisch-vergleichende Ausgabe: Fischer, Alexander (Hrsg.): Teheran - Jalta - Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der "Großen Drei". Bd. I "Dokumente zur Außenpolitik". Köln 1968, 3. Aufl. 1985, künftig zit.: "Fischer TJP". - Da seit 1986 zusätzliche bzw. erweiterte Dokumentationen verfügbar sind, werde ich für "Potsdam" auch auf diese Texte zurückgreifen. 6 Selbstverständlich ließe sich auch annehmen, es habe sich um eine bewußt vertuschende Sprachregelung gehandelt, und zwar mit dem Vorsatz, das eigentlich Gemeinte erst bei passender Gelegenheit stillschweigend als seinerzeit "Gesagtes" auszugeben. Um zu entscheiden, weIche Version zutrifft, müßte das (hoffentlich noch unverändert greifbare) Original des amtlichen Protokolls herangezogen werden. 7 Dieser Begriff sei hier verwendet, ohne daß er theoretisch eigens entwickelt oder abgesichert würde. Er soll jenes Ensemble von "Einstellungen" und "Images" mit Lagebeurteilungen sowie jeweils gesehenen Möglichkeiten und Erfordernissen des Entscheidens erfassen, das seit Ende der 60er Jahre häufiger thematisiert wurde, um die Internationalen Beziehungen zu analysieren. Dabei spielen Geschichtsbilder genau so wie "cognitive maps" eine Rolle. Publizisten

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tiert wurde. Greift man es auf, so läßt sich verdeutlichen, in welchen Zusammenhängen seit der militärischen Wende und nach dem Sieg in Europa jeweils Lösungsstrategien für das Deutsche Problem vorgetragen wurden. Außerdem erlaubt der Vergleich Rückschlüsse auf den Zeitpunkt, zu dem innerhalb der strange alliance auf höchster Ebene die einander ausschließenden Ansprüche auf - auch militärische - Präsenz und gleichberechtigte Mitwirkung im Macht- und Einflußbereich des Partners vorgetragen wurden. Falls eine Ablehnung nich.~ hingenommen, sondern das Ziel weiterverfolgt wurde, wäre hier also der Ubergang zum Kalten Krieg mit allen Konsequenzen gerade für Mitteleuropa zu datieren; denn es lag für die UdSSR nahe, einheimische Verbündete außerhalb ihres Staatsapparats zu mobilisieren.

Ein radikaleres "Versailles" in den Spannungsfeldern großräumiger Entwürfe

Zur Zeit der deutschen Niederlage von Stalingrad hatte sich Roosevelt mit Churchill in Casablanca auf die Forderung geeinigt und sie bald auch öffentlich bekanntgegeben, die Besiegten dürften nur "bedingungslos kapitulieren". Im Sommer 1943 wurde in der UdSSR das "Nationalkomitee Freies Deutschland" (NKFD) gegründet, wenig später der "Bund Deutscher Offiziere" (BDO). Zeitgenössischen Beobachtern war bewußt, daß diese Signale an die Bekämpften durchaus unterschiedliche politische Strategien der Großmächte ausdrückten, vielleicht sogar mehr als nur Rivalität beim Ringen darum, welcher Seite sich die Deutschen künftig anschließen würden.8 und Wissenschaftler verbreiten sie in den öffentlichen Diskussionen und beeinflussen die Vorstellungen auch der außenpolitisch und strategisch Planenden und Handelnden. Mit Niedhard sei jedoch betont, wie schwierig es ist, die Bestandteile "aus Akten und anderen Quellen" zu ermitteln; denn hier schlagen sich "in erster Linie politische Vorgänge" nieder "und erst in zweiter Linie Einschätzungen, Einstellungen, Vorurteile, Rollenverständnisse und dergleichen mehr". Niedhart, Gottfried: Perzeption und Image als Gegenstand der Geschichte von den internationalen Beziehungen. Eine Problemskizze. In: Wendt, Deutschlandbild (1984, oben Anm. 2), S. 39-52, Zitat S. 46; dort auch wichtige Hinweise zur Literatur bis Anfang der 80er Jahre. Für die Ausprägungen weItpOlitischen Denkens in den öffentlichen Diskussionen sei auf die Darstellung dieses Bereichs der Bewußtseinsgeschichte verwiesen: Gollwitzer, Heinz: Geschichte des weltpolitischen Denkens. Bd. 2: Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege. Göttingen 1982. Künftig zit.: "Gollwitzer: Imperialismus". Mir geht es darum, auf die Wirksamkeit derartiger Vorgaben im Zusammenhang mit Entscheidungen überhaupt und besonders für die Kriegskonferenzen aufmerksam zu machen. M. E. handelt es sich nicht um Denkmodelle, die für die Entscheidenden unverbindlich waren. Gemäß ihren Interessen verdeutlichten sie ihnen vielmehr bereits damals neuralgische Punkte und "Kann-" oder sogar "Soll-Bruchstellen" von Staaten. Anders: Moltmann, Günter: Ursprünge des Kalten Krieges. In: Neue Politische Literatur XVI (1971), S. 134-139, bes. S. 138; vgl. ders.: Die westalliierte Europa- und Deutschlandpolitik 1944-1949. In: Politische Bildung. Jg. 4 (1971), Heft 2 (Neubearbeitung 1984), S. 15, Anm. 12. 8 s. Memoranden des "Office of Strategie Services" seit dem 6. August 1943 in: Heideking, Jürgen; Maueh, Christof (Hrsg.): USA und deutscher Widerstand. Analysen und Operationen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg. Tübingen und Basel 1993, S. 219234. Vgl. Bungert, Heike: Ein meisterhafter Schachzug. Das Nationalkomitee Freies Deutschland in der Beurteilung der Amerikaner, 1943-1945. In: Heideking, Jürgen; Maueh, Christof (Hrsg.): Geheimdienstkrieg gegen Deutschland. Subversion, Propaganda und

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Denn wer die Wehrmacht positiv herausstellte, bekundete, daß er Deutschlands Eigenständigkeit und nationale Einheit weiterhin anerkannte. Vermutlich würde er darauf Wert legen, diesen Staat nicht zu isolieren, sondern an sich zu binden. Traditionen der preußisch- bzw. deutsch-russischen Zusammenarbeit stellten Anknüpfungspunkte dar. Wer dagegen freie Hand haben wollte, um sich nicht erneut durch "Vierzehn Punkte" binden zu lassen, sondern um in der Mitte Europas das Deutsche Reich und den Primat nationalstaatlichen Denkens ein für allemal zu beseitigen, konnte sicherlich Rechte und Freiheiten des Individuums betonen, mußte sich aber auch darüber im klaren sein, daß die bisherigen Großgruppen-Werte durch neue Orientierungen zu ersetzen waren, wollte man nicht in dieser Hinsicht der Konkurrenz das Feld überlassen. Regional greDZÜbergreifende Zusammenschlüsse boten sich an, besonders wenn sie früher wegen geographischer und· dynastischer Gegebenheiten existiert hatten oder es jetzt wegen erprobter wirtschaftlicher Zusammenarbeit sinnvoll erscheinen konnte, sie neu zu bilden. In idealtypischer Weise lassen sich so wichtige Unterschiede verdeutlichen und in größere Zusammenhänge einordnen, die in Teheran 9 zutage traten, als Churchill und Roosevelt mit Stalin darüber berieten, wie die United Nations den Blankoscheck der "Bedingungslosen Kapitulation" einlösen sollten. Denn jedes der Konzepte lief auf ein "verbessertes Versailles" hinaus: entweder sollte die gefährliche Isolation des Besiegten vermieden werden, die ihn schwanken oder zur Gegenseite tendieren ließ, oder es sollte auf absehbare Zeit der Kern allen souveränen Handelns jener Sprachgruppe beseitigt werden, die westlich der UdSSR noch immer zahlenmäßig am stärksten blieb und deren Potenzen sonst unkalkulier- und unbeherrschbar erschienen. Genau so wie der ursprüngliche Vertrag von Versailles stellte aber auch jede Verschärfung ein Risiko dar. Das galt sowohl in wirtschaftlich-sozialer Hinsicht als auch in bezug auf die Frage, ob Rumpf-Deutschland geteilt werden solle. Es war entscheidend, ob das nationalstaatliche Bewußtsein künftig ähnlich stark und folglich nutzbar sein werde wie zur Zeit der Weimarer Republik oder ob es sich umpolen lasse. Wer auf die Einheit setzte, konnte sich folgerichtig um alles kümmern, was im unmittelbaren Herrschaftsbereich jenes Konkurrenten geschah, der z. B. über das Industriezentrum verfügte. Dieser hingegen vermochte sein besetztes Territorium auch dadurch wirkungsvoll gegen solchen Anspruch abzuschotten, daß er die Einwohner immunisierte und veranlaßte, einem neuartigen Staatsgebilde beizutreten. Dies würde jedoch nur erfolgreich sein, falls Vorwürfe des Separatismus wirkungslos blieben, wenn also das Nationalstaatsbewußtsein bereits zugunsten anderer Werte zurückgetreten war. In Teheran konnten diese Konflikte noch gar nicht ausdrücklich ausgefochten werden, da der gemeinsame Sieg erst errungen werden mußte und politische Planungen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg. Göttingen 1993, S. 90-12l. 9 Nachweise It. Fischer TJP sowie W. S. Churchills Memoiren ("Der Zweite Weltkrieg", Bd. V: Der Ring schließt sich. Zweites Buch: Von Teheran bis Rom, dt. Stuttgart 1953 [künftig zit.: Memoiren V /2], S.95-97) und Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.): Die Teheraner Konferenz der höchsten Repräsentanten der drei alliierten Mächte UdSSR, USA und Großbritannien (28. November - 1. Dezember 1943). Dokumentensammlung. russ. Moskau 1984, dt. Moskau/Berlin (DDR) 1986. Künftig zit.: TE-SU mit Nr. und S.

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sich außerdem offenbar nur Stalin und Churchill eingehend und vor allem machtpolitisch mit Möglichkeiten und Wechselwirkungen ihrer bevorstehenden Entscheidungen beschäftigt hatten. Trotzdem sollte man bedenken, was im Pro und Contra der Erwartungen und Begründungen jeweils gemeint gewesen sein dürfte. Während der Schlußsitzung schien man sich grundsätzlich einig zu sein, das restliche (klein-)deutsche Territorium staatlich so aufzuteilen, daß Preußen isoliert werde - gemeint waren damit nach Roosevelts Vorschlag nur die Gebiete östlich der Elbe. lO Churchill wollte die dort lebende Bevölkerung wegen ihres Militarismus und der Reichsgründung streng behandeln, also bestrafen. Die Deutschen der übrigen Territorien seien abstammungsmäßig "weit weniger ungestüm"; er betrachtete sie als nationalistisch Verführte. Geleitet von den Siegern, ließen sie sich in neuen, greDZÜbergreifenden Zusammenschlüssen und vor allem "in erträglichen Lebensbedingungen" zumindest im Lauf einer Generation so umerziehen, daß sie "sich nicht zu Preußen hingezogen" fühlten. Das sei innerhalb von fünfzig Jahren erreichbar. Der Brite gab dies Konzept als konstruktiv aus; denn im Unterschied zu Roosevelts Vorschlag und zum isolierenden "Anschluß"-Verbot von 1919 gegen ein Großdeutschland würde es die Deutschen vom unmittelbaren Drang zur kleindeutschen Wiedervereinigung mit Preußen in einem neuen Reich ablenken. Als Vorbild diente die Lösung, mit der Romanows, Hohenzollern und Habsburger die Polnische Frage während des 19. Jahrhunderts beantwortet hatten, und deshalb hätte Stalin als Nachfolger der Zaren zustimmen können. Trotzdem gelang es dem Runden Tisch nicht, sich über Art, Ausmaß und Dauer der staatlichen Teilung zu verständigen. Offenbar argwöhnten Churchills Partner, er betone zwar das Auseinanderdividieren der Deutschen, wolle jedoch eigentlich den britischen Einfluß auf dem Kontinent sichern und zumindest die nichtmilitärischen Eigenschaften wie Fleiß und Genauigkeit aller Nicht-"Preußen" nutzen. Indem er sie auf zwei Regionalbünde l1 verteilte, mochten sie sich gemäß ihren unterschiedlichen Traditio10 Das ergibt sich aus den Angaben nicht so sehr Churchills ("2. Hannover und Norddeutschland"), sondern im SU-Protokoll: "Teil zwei sollte Hannover und die norlWest lichen Gebiete Deutschlands... umfassen" (Fischer TJP, S. 84; TE-SU, Nr. 62 11, S. 136) sowie aus den Bohlen Minutes: "2. Hanover and Nortlwest section," s. FRUS "The Conferences at C.airo and Tehran 1943", Washington 1961, S. 60(). II Churchill drückte sich bei der Wiedergabe des von ihm ausgewerteten Protokolls seiner Äußerung unklar aus. In der Antwort an Roosevelt betonte er zweierlei: erstens Übereinstimmung mit dessen Meinung, Preußen sei unbedingt zu isolieren, und zweitens das Loslösen der "süddeutschen" Staaten zwecks Eingliederung in einen 'Vonau bund". "Hannover und Norddeutschland" scheint er hier übersehen zu haben, offenbar wegen des Ruhrgebiets, [das Roosevelt (im Unterschied zu den "alten westfälischen Städten") internationalisieren wollte], um nach dem wiederholten Betonen des Abgrenzens von "Preußen" zu formulieren: "Ob es eine oder zwei Gruppen sein werden, macht mir nichts aus." Angesichts der öffentlichen Diskussionen, auf die sich Churchill bezog und auf die auch Stalin anspielte, lag es in der Logik der historischen Analogie zu Polen, neben "Preußen" zwei mit Nichtdeutschen integrierte Bünde zu organisieren. Colville berichtete über ein Gespräch Churchills im Dezember 1940, in dem der "Nord-Bund" mit der Hauptstadt Den Haag eine Rolle spielte; zit. von Kettenacker, Lothar: Preußen-Deutschland, in: Wendt, Deutschlandbild (1984), S. 167, Anm. 76 nach Martin Gilbert. V gl. im Zusammenhang mit den britischen Akten hierzu: Tyrell, Albrecht:

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nen wieder übernational orientieren, einerseits in Richtung Donau und andererseits hin zur Rheinmündung. Für Sachsen und das deutsche Gebiet südlich der Mainlinie sollte es sich um eine Art auferstandenes und zugleich vergrößertes Habsburgisches Reich handeln, für den gesamten Nordwesten außerhalb "Preußens" vielleicht um eine vergleichbare Kombination von Oranien und Hannover. Churchill brauchte sich über Vorbehalte gegen solche Entwürfe nicht zu wundern. Seit März hatte er Konföderationen als Konstruktionselemente eines künftigen Europa propagiert. Kurz vor Beginn der Konferenz hatte die UdSSR deshalb die nationale Unabhängigkeit jedes Staates hervorgehoben, wohingegen Smuts vorgeschlagen hatte, Großbritannien solle mit jenen "kleinen Demokratien in Westeuropa", die früher neutral gewesen seien, enger zusammenarbeiten. 12 Während der vorhergehenden Sitzungen hatte sich der Premierminister schließlich immer wieder dafür eingesetzt, vorrangig die Entwicklungen auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer zu behandeln. So war der kontinentale Rahmen seiner Vorschläge für die besserst eIlende, national desintegrierende und zugleich im westlichen Sinn umerziehende Behandlung aller nichtpreußischen Deutschen erkennbar gewesen. Es ging um das Einbinden in Gruppierungen, die zwar in vielerlei Hinsicht unterschiedlich zusammengesetzt waren und deren Zentren außer halb Deutschlands lagen, die aber beide eng mit Großbritannien kooperieren sollten. Schließlich hatte sich Churchill am abfälligsten über PreußenB geäußert. Angesichts der Berichte über NKFD- und BDO-Aktivitäten in der UdSSR zielten diese Ausfälle unmißverständlich gegen Stalins neuesten Trumpf in der Deutschland-Politik. Immerhin formulierte der Premierminister nicht nur abstrakt, "Preußen" sei "die Wurzel allen Übels in Deutschland,,14, sondern er spezifizierte, offenbar bezogen auf die Propaganda in Schwarz-WeißRot, sie liege "in der preußischen Armee und ihrem Generalstab,,15. Stalin scheint auf diese Kritik nicht reagiert zu haben. Falls die UdSSR das preußisch-deutsche Militär nur als Waffe der psychologischen Kriegführung gegen das NS-Regime einsetzte und sich ChurchilIs Gesamtkonzept verwirklichen ließ, konnte sich Folgendes ergeben: Erstens werde das rheinisch-westfälische Wirtschaftsgebiet zum Nordwestbund gehören, das auf deutsch besiedeltem Territorium verbleibende Zentrum der Schwerindustrie also nationalem oder gar preußischem Zugriff entzogen sein, ebenso anderen Einflüssen, sprich: der UdSSR. Zweitens würden alle Nicht-Preußen von vornherein mit ihren engeren europäischen Nachbarn wirtschaftlich im wesentlichen gleichgestellt, so daß keine isolierende VerGroßbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten 1941-1945. Bd. 2 "Dokumente zur Deutschlandpolitik. Beihefte", Frankfurt / Main 1987, S. 189 f., besonders Anm. 5. sowie 102. Künftig zit. "TyrelI: Großbritannien". 12 Vgl. Hinweise in meiner Auswertung der zeitgenössischen Publizistik: Provozierte Teilung Europas? Die britisch-nordamerikanische Regionalismus-Diskussion und die Vorgeschichte des Kalten Krieges 1939-1945. Opladen 1970, S. 53 ff. 13 Auch hierzu die Beiträge in Wendt, Deutschlandbild (1984). 14 Lt. TE-SU, Nr. 62 11, S.136. 15 Lt. Churchills Memoiren, dt. V /2, S. 95 ergänzend,

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elendung als Nährboden für kommunistischen oder nationalistischen Radikalismus zu befürchten war, für die nächsten Jahrzehnte also auch kein Drang zur Wiedervereinigung. Drittens: Sofern die UdSSR die Verantwortung dafür übernahm, daß "Preußen" schlechter behandelt würden als die übrigen Deutschen, werde das die kommunistische Propaganda benachteiligen und ein zweites "Rapallo" oder gar "1939" verhindern. Viertens würden die einander benachbarten Bünde übernationaler Art einen breiten Streifen bilden vom Donaugebiet, also zumindest von der Adria, bis zur Lübecker Bucht. Das trennende Gebiet werde eine Zusammenarbeit Frankreichs mit der UdSSR erschweren. Angesichts solcher Konsequenzen verdeutlichte Stalin noch während der Sitzung sowohl seine Absage an Staatenbünde als auch die Überzeugung, daß sich die Deutschen immer wiedervereinigen wollten. Diese Position genau so wie die Kenntnis westlicher Absichten prägte die künftige Deutschland-Politik der UdSSR. Im Verhältnis zu den Mit-Siegern mußte es ihr darauf ankommen, nicht auf das eigene Besatzungsgebiet begrenzt zu werden, sondern zumindest im wirtschaftlich wichtigsten Territorium gleichberechtigt mitbestimmen zu können; die deutschen Befehlsempfänger hatten sich entsprechend vorzubereiten und zu verhalten. Deshalb argumentierte Stalin nach dem Sieg gegenüber Ulbricht und den beiden anderen "Gruppen-Beauftragten" der KPD in der SBZ, die Anglo-Amerikaner verwirklichten ihren Plan zur Zweiteilung Deutschlands, und als Kern der zu gründenden Partei der Werktätigen müsse die KPD nicht nur antifaschistisch wirken, sondern ebenfalls die nationale Eiyheit sichern bzw. erkämpfen. 16 Auch während der Konferenz von Potsdam 1 bezog sich Stalin auf die früher geäußerten Absichten. Nun verlangte er, das Ruhrgebiet als wirtschaftliches Zentrum unter die Verwaltung der vier Besatzungsmächte zu stellen; entsprach das nicht der Art, wie Groß-Berlin als politisches Zentrum inmitten der SBZ behandelt wurde? Roosevelt hatte in Teheran die Deutsche Frage noch isoliert gesehen und gemeint, sie lasse sich aufsplitternd beantworten, falls die wirtschaftlich bedeutsamen Gebiete internationalisiert würden. Später schienen die West16 s. meinen Beitrag: Wilhelm Piecks Moskauer Aufzeichnungen vom "4/6.45". Ein Schlüsseldokument für Stalins Deutschlandpolitik? In: Fischer, Alexander (Hrsg.): Studien zur Geschichte der SBZ / DDR. Bd. 38, "Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung", Berlin 1993. S. 29-55; S. 43 f. diskutierte ich nicht die Dreiteilung mit dem Unterschied zwischen "Preußen" und "Nordwestdeutschland", weil sich Stalin gegenüber Ulbricht offenbar nur auf westliche Pläne zur Zwei teilung bezogen hatte. 17 s. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bd. VI: Triumph und Tragödie, Zweites Buch: Der Eiserne Vorhang, dt. Ausgabe Stuttgart 1954; Truman, Harry S.: Memoiren. Bd. I: Das Jahr der Entscheidungen (1945), dt. gekürzte Ausgabe, Stuttgart 1955; Foreign Relations of the United States. Diplomatie Papers (FRUS): Tbe Conference of Berlin (Tbe Potsdam Conference) 1945 (In Two Volumes), Vol. 11. Washington 1960; Fischer TJP 1968; Butler, Rohan Pelly, M. E. - Yasamee, H. J. ( Hrsg.): Documents on British Policy Overseas (DBPO). Series I, Vol. I: Tbe Conference at Potsdam July - August 1945. London 1984; Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.): Die Potsdamer (Berliner) Konferenz der höchsten Repräsentanten der drei alliierten Mächte - UdSSR, USA und Großbritannien (17. Juli - 2. August 1945). Dokumentensammlung. Bd. 6 "Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 his 1945. Moskau 1984, dt. Moskau/Berlin (DDR) 1986. Künftig zit.: PO-SU mit Nr. und S.

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mächte gemäß dem Plan Morgenthaus eine radikale Entindustrialisierung durchsetzen zu wollen. Nach den Erfahrungen seit 1920 mit den Reparationen und wegen des damaligen Zusammenhangs mit der Weltwirtschaftskrise wurden in den USA aber bald stärker die Stellungnahmen jener Fachleute beachtet, die auf Konsequenzen aus Zielvorgaben und auf Wechselwirkungen bestimmter Entscheidungen aufmerksam machten Zwar sei den Deutschen das besondere "Reichs"-Bewußtsein zu nehmen1~, sie sollten aber politisch und sozial zufrieden leben. Dann dürften sie sich weder in staatlicher noch in wirtschaftlicher Hinsicht veranlaßt sehen, erneut früher eingeschlagene Wege zu beschreiten. Dazu zählten das Streben nach kontinentaler Autarkie, zum Balkan als bevorzugtem Absatzgebiet Deutschlands und besonders zur Bindung an Rohstoffe aus der UdSSR. Jede Art "Drang nach Oste~" lasse sich verhindern, sobald Deutschlands ~Jrtschaft auf den Handel mit Ubersee angewiesen sei. "Fett, aber impotent" und abhän~g von den Seemächten, könne der Staat künftig nicht mehr gefährlich sein. 2 Wegen dieses höherrangigen Ziels müsse Großbritanniens Exportindustrie zugunsten der Deutschen auf einen Teil des erhofften Kriegsgewinns verzichten. Damit werde außerdem der Interessenkonflikt zwischen UdSSR und Großbritannien in der Reparationsfrage im westlichen Sinn gelöst. Während die Briten die Konkurrenz auszuschalten und deshalb das Industriepotential herabzusetzen trachteten, verlange der Osten Waren aus der laufenden, besonders der Veredelungs-Fertigung, wolle die deutschen Anlagen erhalten sowie die Abhängigkeit von Vorprodukten und Abnehmern ausnutzen und kontrollierend ausbauen. Ein derartiger Einfluß sei auszuschließen, da er sich nicht nur in Deutschland auszuwirken drohe.

18 "As long as the wordReich exists in Germany as expressing a nationhood, it will forever be associated with the present form of nationhood. lf we admit that, we must seek to eliminate the very wordReich and that it stands for today": F. D. Rossevelt am 1. April 1944 an die Joint Chiefs of Staff, und er führte aus, "the change in German philosophy must be evolutionary and may take two generations": FRUS 1944, Vol. I: General Washington 1966, S. 501 f., Zitate S.502. - Ungenau und mit fehlerhaftem Beleg zitiert Balfour, Michael: Progaganda in War 1939-1945. Organisations, Policies und Publies in Britain and Germany. London, Boston and Henley 1979, S. 366 f. - Kettenacker erwähnt, daß Roosevelt bereits in Teheran am 28.11.1943 ähnlich argumentierte, woraufhin Stalin entgegnet habe, es genüge nicht, das Wort zu beseitigen, vgl. Kettenacker, Lothar: Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges. Bd. 22 "Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London", Göttingen - Zürich 1989, S. 234, Anm. 109 mit Beleg FRUS "Cairo and Teheran", S. 570. - Dieser Band künftig zit.: Kettenacker: Krieg (1989). 19 Churchills Wunsch vom August 1941, Beleg "Dalton Diary vom 26.8.1941" nach Dilks, David (Hrsg.): The Diaries of Sir Alexander Cadogan 1938-1945, Llndon 1971, S. 402, zit. von Kettenacker, Lothar: Preußen-Deutschland, in: Wendt, Deutschlandbild (1984), S. 168, Anm. 77, s. Tyrell: Großbritannien, S. 189. 20 Für solche Art von Deutschlands "Platz an der Sonne" warb bei seiner britischen Leserschaft am 28. Juli 1944 Lippmann, Walter: U. S. War Aims, London 1944, S. 72 f., 74. Wenige Monate später findet man diese Überlegungen in den entsprechenden Ausarbeitungen des Department of State wieder; vgl. A. 21.

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Heinrich Bodensieck

So wurden in den USA Kernprobleme der unmittelbaren Nachkriegszeit aus der Distanz nüchtern durchkalkuliert. 21 Zugleich wurden die übrigen europäischen Konfliktzonen des russisch-britischen Verhältnisses seit dem 19. Jahrhundert berücksichtigt. Das betraf Stützpunkte in der westlichen Ostsee und am Zugang zum östlichen Mittelmeer. Die Zugriffe auf Fehmarn und auf Lübeck hatten abgewehrt werden können, aber im Vorfeld der Konferenz von Potsdam verlangte die UdSSR von der Türkei u. a. eine Basis an den Schwarzmeerengen. Bereits in Teheran hatte Stalin gefordert, dort künftig die Durchfahrt zu gewährleisten. Außerdem war es ihm damals ebenfalls um "eisfreie Häfen" für das gesamte Territorium der U4SSR gegangen, also sowohl in der Ostsee als auch im Fernen Osten. Der Ubergabe der Südhälfte Ostpreußens an Polen und dessen Westverschiebung hatte er zugestimmt, nachdem ihm das Gebiet um Königsberg samt Memel zugesprochen worden war. 22 Wegen der Bosporus-Basis argumentierte Stalin gegenüber Churchill und Truman mit den weltweit wichtigen Positionen d~r beiden Seemächte, nämlich mit Panama- und Suezkanal sowie Gibraltar. 3 Da das Ansinnen der UdSSR die Konvention von Montreux betraf, gelang es den westlichen Außenministern, das Thema so einzugrenzen, daß die "internationalen Binnenwasserstraßen" nur Europas zu erörtern waren. Die gesamtkontinental vorgebrachten und jetzt auf Westdeutschland ausgeweiteten Moskauer Ansprüche auf ~tützrte sowohl an Rhein-Ruhr als auch am Bosporus bzw. sogar an der Agäis sowie schon 1943 andeutend an der Korea- und an der La-Perouse-Straße25 hatte jedoch Trumans Berater veranlaßt, sich mit den Konsequenzen nicht nur für den atlantischen Bereich zu befassen, sondern für ganz Eurasien. Vermutlich schärfte der Gedankengang einer 1944 posthum erfolgten Veröffentlichung des in Yale tätig gewesenen Fachmanns für Internationale Beziehungen, Spykman, ihren Blick für die Zusammenhänge. Er hatte bereits 1942 geostrategisch für umfassende Regional-Konzeptionen der Westmächte in Europa plädiert und damit si21 Position des Depannent of State in den Auseinandersetzungen mit dem Secretary of the Tresury (Morgenthau) im Herbst 1944: FRUS "The Conferences at Malta and Yalta 1945". Washington 1955, S. 134 ff., bes. Entwurf für das Memonrandum des stellvertretenden Außenministers Stettinius vom 10. November 1944 für den Präsidenten. S. 166-171. Vgl. Hammond, Paul Y.: Directives for the Occupation of Gennany: The Washington Controversy. In: Stein, Harold (Hrgs.): American Civil-Military Decisions. A Book of Case Studiens. Alabama 1963, S. 311-464; in wirtschaftlicher Hinsicht bes. S. 342-347 (April - August 1944), S. 377-388 (Morgenthau-Diskussionen), S. 397 ff. (Roosevelt/Depannent of State), sowie Deuerlein, Ernst: Die Präjudizierung der Teilung Deutschlands 1944/45. In: Deutschland-Archiv 2. Jg. (1969), S. 353-369, Zitat S. 365 f. - ''The Morgenthau - Plan, 1943" s. Senate Committee on Foreign Relations, Staff of the Committee and the Department of State: A Decade of American Foreign Policy. Basic Documents, 1941-49. Washington, S. 502-505. 22 TE-SU Nr. 59, S. 116-118, Nr. 62 II, S. 138. 23 Truman, Memoiren, S. 376 f.; FRUS, S. 303; Fischer TJP, S. 291; DBPO S. 585; PO-SU Nr. 16, S. 134. Im Foreign Office hatte man damit gerechnet, Stalin werde nur vom Suez-, nicht vom Panama-Kanal sprechen, um USA und Großbritannien zu entzweien, s. Microfiche-Beilage S. 1035 zu DBPO. 24 Stalin äußerte den Wunsch, in Dedeagatsch einen Ersatzstützpunkt zu erhalten, anläßlieh von Churchills Abschieds-Bankett am Abend des 23. Juli - dieser Hafen war 1913 - 1923 und erneut 1941 - 1944 Bulgariens Zugang zum Mittelmeer gewesen, s. Churchill, S. 370 f. 25 Churchill, Memoiren V/2, S. 72 f., FischerTJP, S. 69; t'B-SU Nr. 59, S. 117 f.

Rahmenbedingungen und Weichenstellungen

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cherlieh Churchills Argumentation beeinflußt. Später hatte er Mackinders Ansatz weiterentwickelt: Es genüge nicht, sich auf den atlantischen Bereich zu beschränken, sondern das Randland ("rimland") ganz Eurasiens sei zu berücksichtigen. 26 Von dieser Betrachtungsweise wurde das Gesamtkonzept für die künftige Zusammenarbeit besonders im Weltverkehr geprägt, das Truman zum Thema "internationale Binnenwasserstraßen" vortrug. Gemäß der jüngst vereinbarten Konstruktion des UN-Sicherheitsrats setzte es vorau~ alle Großmächte seien besonders verantwortlich, und zwar gemeinsam. 2 Außerdem war es historisch-geographisch angelegt. Es ging von der Erkenntnis aus, sämtliche Kriege der letzten zwei Jahrhunderte seien in einem genau bestimmbaren Teil Europas entstanden; es handele sich um das Gebiet zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee sowie zwischen der Ostgrenze Frankreichs und der Westgrenze Ru~lands.28 Zweimal sei sogar der Weltfriede zerstört worden, weil zunächst Osterreich und jüngst Deutschland hier hätten herrschen wollen. Ein regionales Vormachtstreben führe jedoch zum Krieg. Demgegenüber stelle der freie und ungehinderte Verkehr von Gütern und Fahrzeugen auf den Binnenwa~serstraßen ein wichtiges Mittel dar, um diese Kriegsursache zu beseitigen. Uberall von Rußland bis England schaffe unbegrenzter Handel Wohlstand und Glück. Mit dem wirtschaftlich gesunden und sich selbst fördernden Euro