Das unpersönliche Denken [Reprint 2019 ed.] 9783111457086, 9783111089683

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Das unpersönliche Denken [Reprint 2019 ed.]
 9783111457086, 9783111089683

Table of contents :
VORWORT
INHALT
EINLEITUNG
FALLWELT UND SYNTAGMA
DAUERSYNTAGMA UND ZWEITSEELE
DIE KRANKE ZWEITSEELE
DIE UMSEELE
DIE DIALEKTIK
DAS DOGMA ENTSTEHUNG, SCHICKSAL UND ENDE
SCHLUSS
NAMEN-VERZEICHNIS
SACH-VERZEICHNIS

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P A U L F E LD K E L L E R

DAS UNPERSÖNLICHE DENKEN

WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. ). GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG ]. GUTTENTAG VERLAGSBUCHHANDLUNG-GEORG REIMER-KARL ). TRDBNER-VEIT & COMP 19 4 9

Archiv- Nr. 4 2 4 8

49

D R U C K : W. G I R A R D E T / W U P P E R T A L

Vorwort Es war im Jahre 1906. Ich wanderte

als blutjunger

Mensch

barfuß die fast hundert Kilometer lange Kurische Nehrung

von

Cranz bis Memel. Mit mir zog ein Schwärm Fliegen, die mich als willkommene,

durch die Sandwüste

wandernde

Oase

miß-

brauchten. In der Mitte der Nehrung, meilenweit

von jeder menschlichen

Behausung, kam mir von Memel her ein Mensch entgegen,

der,

weit älter und sicherlich weniger unschuldig als ich, einen noch größeren Fliegenschwarm

hinter sich herzog, den er nicht los-

werden konnte. Das kurze Gespräch über das Woher und brachte die beiderseitigen Schwärme

Wohin

durcheinander.

Und als jeder von uns in entgegengesetzter

Richtung

weiter-

zog, nahm er wieder seinen Schwärm mit. Ob aber jeder wieder ,seine' Fliegen hatte und nicht mit ,fremden'

davonzog,

weiß ich

nicht zu sagen. Eher ist das Gegenteil wahrscheinlich. Denn ein

individuelles

Recht an Parasiten, wie an Sitten und Bräuchen, heiten, an Vorstellungen,

Denkgewohn-

Einfällen, die uns über die Haut oder

durch das Gehirn kriechen, gibt es nicht. Wenn

einer

Unge-

ziefer hat, haben es alle. Was wir hier für persönlich halten, ist schon zum großen Teil kollektiv, nur die Weideplätze,

ist Gemeingut,

die Nährböden,

und wir sind

auf denen die ,Fliegen'

hinüber und herüber wechseln. Lange vor dem materiellen lischen, an dem alle ,teilhaben',

Kommunismus

gab es den see-

wie Piaton sagt: Symbole,

innerungen, Dogmen u. a., was Hegel als ,objektiven

Er-

Geist' zu-

sammenfaßt, plötzliches

aber auch plötzliche Magendrücken

Hochstimmungen

und Katzenjammer

und ebenso

ganzer

Völker,

wie wir heute in den Zeitungen lesen und Sartre es an Argos zeigt. Der eine hat mehr, der andere weniger davon. Dem einen gefallen sie, der andere will sie loswerden.

Immer aber

erweist

sich die Kraft und Tiefe der Persönlichkeit

darin, ob sie,

wenn selbst ohne Möglichkeit

ihrer

tiven Ansteckungsstoffe

der Verscheuchung,

kollek-

Herr wird oder nicht.

Das Thema dieses Buches ist das unpersönliche hinter ihm steht das große abendländische

Denken,

Thema

der

lichkeit, als das A und O aller christlichen Kultur im Gegensatz

zu allem weltanschaulichen,

lerischen

Kollektivismus.

moralischen

Der

wie

abgr

Persönschroffen künst-

Verfasser

INHÄLT VORWORT

->

EINLEITUNG

9

F ALLWELT U N D FUGU NG Die Umwelt Die Merkwelt Die Fallwelt Unterschiede zwischen Merkwelt und Fallwelt Ergebnis

20 20 21 21 2i 26

DAUER-FUGUNG UND ZWEITSEELE Ihr Wesen Ihre biologische Wichtigkeit Elastizität und Sprödigkeit Modelle für den inneren Aufbau Der Abbau des Syntagmas Die Zwangsfugung . • Die Über fugung Aufgeschlossenheit und Überfugung Die determinierende Tendenz' Die vorausbestimmte Auffassung Abweichung der Dauerfugung von der Willenshandlung . . . . Folgenschwere Konsequenzen Die Doppeltänschung der Dauerfugung Das Verstehen Eduard Spranger Keine Initiativ-Fugung Wichtigkeit der Kleinethik Die Frage der Steuerung Fugung und Charakter Das ,gewappnete Herz' Unumkehrbarkeit der Geschichte Zusammenspiel persönlichen und unpersönlichen Denkens in der Geschichte Friihfugungen und Muttergedanken Monopole einmaliger Erlernbarkeit Der Mentalkrieg Die Psychologie-Waffe. Edgar Dacque

28 28 29 30 31 32 34 34 36 33 40 41 43 44 46 48 51 53 54 56 60 61

DIE

75 75 76

KRANKE Fugungfordernde Die Paranoese

ZWEITSEELE Mittel

64 66 69 70 71

Inhalt Der Fanatismus Die Alternation Beschreibung Theorie der Alternation Hysterische und nichthysterische Wechselfugung Rebekka West. Der Ur-Tannhäuser Die Paranoëse als Forscherkrankheit Der Okkultismus. Don Quijote Psychome in der Wissenschaft Der zweitseelische Automatismus Die Sekundär-Person Das Psychom Beispiele zur Psychombildung Von der Uber fugung zum Schwindel. Mary Baker-Eddy Paranoia und Paranoëse Sekundärperson und Differentialethik Unpersönliche Wissensbildung DIE

U M SEE LE Das ,Archaikum' der Seele Von Hegel zu Bachofen Klages Das Repertorium der Archetypen Empirischer Apriorismus Stockgeist und Tiefenperson Gilles de Raiz Die allgemein-menschliche Medialität Das Phantom Die besondere Medialität Fremdgesteuerte Urteilsbildung Empirisches Gewissen und Umseele Psychurgie Polymorphie der Seele Der kollektiv-seelische Rapport Bewußtseinsbeleuchtung ist keine Erleuchtung Exogener Impuls und blinder Fleck Hegels ,objektiver Geist' Die Umseele bei Hebbel und Ibsen Pneumatoid und Kulturgedächtnis Theorie des ,objektiven Geistes' Übertragbarkeit des objektiven Geistes' Permeabilität Der Genius Der Fanatiker Umseele und Parapsychologie

. . . .

77 78 80 81 83 87 90 91 94 96 97 99 102 103 107 109 113 116 116 119 122 125 129 130 139 141 148 151 158 162 163 165 166 169 172 173 175 178 183 187 189 195 200 205

Inhalt DI E DI ALE KT 1 K Allgemeines Korrekturen am Dialektik-Begriff Dialektische Begriffslehre Dramaturgie der Dialektik Das Szenarium der Dialektik Das Zusammenspiel Die nationale These und ihre Dialektik Links und Rechts Katalog der Ideen Hybridisierung von Idee und Interesse Interesse und Idee Verteilung von These und Antithese Reigen der Dialektik Die endogene Dialektik der Revolution Der dialektische Aufbau Kehrthese (Metathese), Querthese, Cyclothese Die simultane Antithese Gibt es eine philosophische Dialektik? DAS

20S 208 215 22} 229 246 248 237 261 268 270 275 281 285 289 291 296 SOS 307

DOGMA. Entstehung, Schiksal und Ende 310 Das mehrsinnige Denken. Seine soziale oder Simultanbedeutung . 310 Das mehrsinnige Denken. Seine geschichtliche oder Sukzessivbedeutung 315 Exkurs zum geschlechtlichen Denken 318 Politik und Religion. Die ,Schutzfärbung' 325 Das unpersönliche Denken des Alltags 327 Die Dauer'dquivokation 328 Die mehrsinnigen Durchgangsbegriffe 333 Die Stauung der Begriffe 335 Das häretische Denken 338 Die Zwangsläufigkeit der Gegenhäresie 346 Die dialektische Ausgliederung der Bedeutungsfülle 351 Häresie und Synhäresie 357 Die Antihäresie 359 Die nadohäretische Entwicklung des artikulierten Vollbegriffs . . 360 Die Reformation 362 Gegenreformation und Begriffsversteinerung 3,66 Die Begriffsverwitterung 367 Die Verwertung des Kulturschutts 377 Das Problem der Umdeutung 388 Das Glaubensplus 389 SCHLUSS 396 NAMEN-VERZEICHNIS 405 SACH-VERZEICHNIS 409

EINLEITUNG Der Bilderraum unserer Seele ist ein Schauplatz, also ein Theatron, eigenartiger Vorgänge von höchster Realität. Auf dieser Bühne agiert zuerst einmal das Ich als Vertreter einer ganz bestimmten „Weltanschauung". Das Ich ist in diesem Raum einmalig und findet seinesgleichen nicht. Denn die andern „Auftretenden" sind keine Personen; aber schauen wir sie uns genau an: sie sind Bilder von Personen und Tieren, Bergen und Meeren, von Vater und Mutter, von Gott und Teufel. Diese Bilder füllen das, was wir vorschnell „Erinnerung" und „Phantasie" zu nennen pflegen. Aber das ist schon Theorie. Wir aber wollen nur eine vorurteilsfreie Beschreibung liefern. Wir dürfen auch den Denkraum oder Bilderraum nicht mit der „Welt" verwechseln. Denn in dieser treten freilich außer dem Ich noch viele Personen auf, im Bilderraum aber außer dem Ich nur „Bilder" und „Begriffe". Diese Bilder ballen, türmen, formen sich zu ganzen Mythologien, die Ideen zu Ideologien, die Begriffe zu Theorien. Das Ich ist stolz auf diese „seine" Leistungen, „seinen" geistigen Besitz — so stolz, daß es sich vom Protagonisten zum Monagonisten, zum Solo-Akteur aufschwingt. „Es gibt nur einen Darsteller, und das bin ich." Kurz, das Ich vertritt die Bühnenauffassung des SoloAkteurs, also das Prinzip des Marionetten- oder Puppentheaters, wo nur einer denkt und spricht und den Puppen das Gedachte einbläst. Unterstützt wird das Ich in dieser Auffassung durch seine eigentümliche Beleuchtungstechnik. Denn unsere Bühne besitzt einen Scheinwerfer, mit dem das Ich den Bilderraum nach und nach abtastet. Sobald einzelne Bilder oder Ideen in den grellen Lichtkegel dieses Scheinwerfers treten (das Ich nennt ihn „Bewußtsein"), glaubt es, sie auch hervorgebracht zu haben, und läßt an dieser Uberzeugung nicht rütteln. Auf dieser Bühne

10

Einleitung

hält sich der Beleuchter schon für den Dichter und wirklichen Schauspieler selber. Psychologisch ausgedrückt: das Ich hält alles, was im Bilderraum, im Denkraum vorgeht, für persönliches Denken. Aber das ist ein Irrtum. Denn auch die andern Akteure haben etwas von sich auszusagen, allerdings erst, wenn der Psychologe sie zum Reden bringt. Dann werden die Bilder zu Sinnbildern, Urbildern, die Begriffe zu „Ideen" (im Sinne platonischer „Erinnerung" oder Apriorität). Die Mutter w i r d zur M a g n a Mater, der Sumpf zum brodelnden Brunstquell, der Zauberer Merlin, der getreue Eckart, der Eisenhans (im Märchen) zu Symptomen automatisch tief gesteuerter Seelenführung. Jetzt geht erst das D r a m a an. Das Ich glaubte an sich als an das einzige denkende Prinzip. Noch Kant meinte, daß das „ich denke" alle Denkinhalte müsse begleiten können und damit wohl auch eine Wahrheit enthalten müsse. Seit Bachofen, Freud und namentlich C. G. Jung erfährt das Ich, daß sein persönliches Denken die Gedankenbühne mit solchen Gedanken teilen muß, die gar nicht ichhafter, nicht persönlicher H e r k u n f t sind. Das ist das große Ereignis unseres Jahrhunderts, mindestens ebenso wichtig wie die Entdeckungen der Physik. W i r lernen, es gibt neben diesem Denken noch ein anonymes, unpersönliches Denken. Das ganze große Archaikum der Seele hat nicht das Ich zum logischen Subjekt. W o es her kommt, wissen wir nicht. Aber w i r haben erkannt, unsere Bühne ist kein Kasperletheater, sondern ein richtiges Theater mit eigenwilligen Vorgängen, und das Ich ist kein Drahtzieher und Einbläser, sondern ein Mittelding zwischen erstauntem Zuschauer, der sich auf der Bühne selber zu schaffen macht, und einer Art Conferencier, der das Ich gern werden möchte. Aber seine „Ansage" deckt sich nicht mit der Selbstaussage der Akteure, und damit ist der dramatische Konflikt gegeben. In die Seele ist der Zwiespalt geworfen, an der w i r alle leiden. Von hier aus sei ein Rückblick und ein Vorausblick erlaubt. W i e sieht der Bilderraum des Primitiven, w i e sah der des Vormenschen aus? Ursprünglich gab es noch keine Trennung von Wahrnehmungsbild und selbständigem Erinnerungsbild. Die reproduktiven Elemente waren Bestandteile derWahrnehmungs-

Einleitung

11

bilder. D a r u m mußten, weil es eine freie Vorstellungswelt nicht gab, jene Urbilder, von denen oben die Rede war, mit den Wahrnehmungsbildern verschmelzen, auf die sie angewiesen waren. In den Sterngruppen z. B. haben sie wirklich jene Bilder gesehen, mit denen sie heute bloß noch bezeichnet werden. Ein größeres und weiteres T o r aber öffnete sich den Urbildern, als die Vorstellungen sich endgültig von den "Wahrnehmungen trennten und ein Eigenleben zu f ü h r e n begannen, ganz davon abgesehen, d a ß sie noch eine lange Zeit „wahrnehmenderweise" (eidetisch) gesehen wurden. Jetzt konnte ihre Bilderbühne von den gleichen elementaren Bildern bevölkert werden wie unsere heutige. W a s noch fehlte, waren die zusammengesetzten Gestal tungen höheren Grades: die Mythologien u n d Ideologien. U n d was zweitens fehlte, war der Bühnenbeleuchter mit seiner Beleuchtungstechnik. Denn wohl gibt es f ü r den Primitiven ein Bewußtsein, aber nur von den „Dingen", von der „ W e l t " , nicht von ihnen als „Vorstellungen". Die Bühne selber bleibt f ü r den Primitiven im Dunkeln. Von ihrer Existenz, vom V o r h a n d e n sein eines Bilderraums weiß er nichts. Für uns Heutige aber haben die Bilder z w e i Indices: einen stellvertretenden, repräsentativen und einen sich selber meinenden. W i r wissen, was sie bedeuten, w i r sehen aber auch ihre seelische Substanz ohne die Bedeutung. D a s eine ist der W e l t index, das andere der psychische, der „Bühnen"index. Denn die Vorstellungsbilder bedeuten uns auch an sich etwas, als denkraumerfüllende seelische Akteure. Die Vorstellungen des Primitiven besitzen keinen solchen Bühnenindex. W i r aber können unsere Bilder von ihrer Selbstaussage, ihrem „Spruchband", das ihnen gleichsam zum Munde heraushängt, von der Behauptung ihres Wahrheitswertes unterscheiden. D e r Primitive kennt n u r räumliche, nicht seelische Wirklichkeit, nur den tastbaren, sichtbaren, stofflichen Raum, nicht den D e n k r a u m oder Bilderraum. Für seelische Wirklichkeit fehlt das O r g a n . Ein Beispiel: die bei weitem verbreitetste Weltanschauung aller Zeiten u n d K o n tinente ist der Spiritismus, der Geisterglaube. Noch heute huldigen ihm alle Asiaten und A f r i k a n e r , u n d sehr viele, w o nicht die meisten Angehörigen der Westvölker (obwohl sie es nicht w a h r h a b e n wollen). Sie alle glauben an die Realität der spirits

12

Einleitung

(der abgeschiedenen wie der nie Mensch gewesenen „Geister"), wir rationalistischen Psychologen nur an die Realität des Spiritismus: die allerdings ist unzweifelhaft und gewichtiger als alles andere. W i r erkennen dann zwei Wirklichkeiten an, der Primitive dagegen kennt nur die eine: den naiven, stofflichen Realismus, den Materialismus. Denn auch die Geister sind stofflich („Ätherleib"!). Diesen stofflichen Realismus abzulegen, ist auch für die meisten Modernen zu anstrengend. D e r auf ihn gegründete naive Materialismus ist heute noch die Weltanschauung für Millionen. W i r andern sind Dualisten: neben der stofflichen W e l t (der natürlichen wie „übernatürlichen") behauptet die psychische Realität ihr Recht. U n d diese ist keine bloß persönliche. Denn wir sahen, daß die Ideologien ein unpersönliches Denken darstellen. Alle so Denkenden sind insofern Dualisten, auch wenn ihre eigene Interpretation ihres Denkens monistisch, also materialistisch, ist. Aber bei diesem Dualismus kann es nicht bleiben. Die Zukunft gehört der Anerkennung des Seelischen als einziger tatsächlicher und nicht erst spekulativ erschlossener Realität. Von einer zweiten parallelen Wirklichkeit „materieller" Art wissen wir nichts. Man verwechsele unsere psychologische Fragestellung nicht mit der erkenntniskritischen, philosophischen, die uns hier nicht beschäftigt. Das Psychische reicht unendlich weiter als jedes Ich und jedes Bewußtsein, jeder „stream of consciousness" ( W . James). Unmittelbar wissen wir freilich nur von dem Ausschnitt des Psychischen, der in den jeweiligen Lichtkegel des Bewußtseins tritt. V o n ihm aber ist der Schluß auf das unermeßliche Reservoir erlaubt, aus dem sich der jeweilige Bewußtseinsausschnitt speist. Diese umfassende seelische Wirklichkeit war früher nicht bekannt. Sie ist uns heute unmittelbarer als der spekulative Begriff der „Materie", der sich heute in ein „ B i l d " auflöst, das mit dem Bilde der Wellenbewegung alterniert. W i r erleben heute den vollen Einbruch der Psychologie in die Physik. Nicht erst seit heute, schon seit Ernst Mach und dann durch Albert Einstein ist die Physik in diese N ä h e zur Psychologie gerückt und sind beide verschränkt worden. Die Probleme des Einbaus des W a h r nehmungsprozesses in den physikalischen Prozeß, der konstitu-

13

Einleitung

tiven Bedeutung des Beobachters und seiner Bewegung relativ zum Beobachteten, der Gleichzeitigkeiten, der Heisenbergschen „Unsicherheitsrelation", des Weizsäckerschen

„Meditationssym-

b o l s " sind Beispiele der neuartigen (nicht kausalen) Verknüpfung des Physischen und des Psychischen. D a s schließt den psychophysischen Parallelismus aus, in dem jede Parallelreihe ohne die andere ihren unabhängigen Sinn behält, aber auch die kausale Einwirkungstheorie (influxus physicus). Dazu

tritt ein unabweisbarer

Gedanke

von

Leibniz.

Die

materielle „ G r ö ß e " der W e l t , die demMenschen seit jeimponierte, sinkt zur relativen G r ö ß e zusammen, weil es bei rechter Besinnung keine andere gibt. Das Meter bleibt der vierzigmillionste T e i l des Erdumfangs, aber nach der G r ö ß e des Erdumfangs zu fragen hat keinen Sinn, wenn wir den regressus in infinitum vermeiden wollen. Eine G r ö ß e „an sich" gibt es nicht — weder eine G r ö ß e des Meters noch der Erde, t r o t z W i l h e l m W u n d t s Widerspruch, für den die „ L ä n g e " des Meters und damit die G r ö ß e der W e l t etwas Absolutes war.

D a m i t fällt das I m p o -

nierende am materiellen Kosmos für den denkenden Geist dahin. E r bleibt weiterhin ein sinnliches Sinnbild des Erhabenen. „Aber im R a u m wohnt das Erhabene nicht." U n d so ist es mit der Zeit. R e a l ist nur die psychische Zeit, die „ D a u e r " (Bergson). M i t der physikalischen Zeit hat das Seelische nichts zu tun. Es wird kein anderer Ausweg bleiben

als der von Leibniz

gefundene: die Anerkennung seelischer R e a l i t ä t

als der ein-

zigen, von der wir wirklich wissen. Die Materie oder ihr E r s a t z bild bleibt eine bloße P r o j e k t i o n seelischer Wirklichkeit. Freilich sind wir heute noch nicht so weit. W i r sind Menschen des Ü b e r gangs. U n d mehr als schüchterne Tastversuche in Neuland der Erkenntnis sind auch die modernen physikalischen

Theorien

nicht. Die großen Entdeckungen stehen uns noch bevor. D e r Kairos fürs „monistische" Denken,

für

einen

konsequenten

Psychismus ist noch nicht angebrochen. D i e Psychologie ist genau so wie die Physik historisch gebunden und auf

„Meditations-

s y m b o l e " angewiesen. D a s aber ist schon heute als Irrtum zu erkennen, die W i r k l i c h keit nur in den stofflichen Dingen zu suchen, die wir sehen und tasten. W i r leben nicht nur im physikalischen R a u m .

D e r un-

14

Einleitung

persönliche, anonyme seelische Raum mit seinen Kräften: Bildern, Begriffen, Formeln, Ideen, Glaubens- und Modebegriffen, öffentlicher Meinung, fable convenue in Moral, Weltanschauung, Politik, Kunstdingen, in gewerblichen, sozialen, kirchlichen, technischen Einrichtungen, kurz der „objektive Geist" mit seinen harten Gegebenheiten geographischer und ethischer, geschichtlicher, konfessioneller, parteipolitischer und berufsständischer Artung samt der „Dialektik" ist so unerhört wirklich, daß Gegenstände dieses Raums, vor allem die großen Ideologien, die Menschen in Kulturkriege, Kreuzzüge, Weltanschauungskämpfe, Revolutionen, Staatsstreiche hetzen. Die politische Gegenwart ist voll davon. Eine heute weit verbreitete Auffassung lehrt die ausschließliche oder teilweise Zurückführung dieser Ideologienkämpfe auf wirtschaftliche Interessen. Auch diese Auffassung ist ein Irrtum. Die wirtschaftlichen Interessen sind nur e i n Faktor und nicht einmal ein notwendiger. Vielfach ist das Interesse nur ein Interpretationsmittel. Oder es ist ein Interesse an der Ideologie, die aber selber nicht auf ein Interesse zurückgeht. Völker- und individual-charakterologische Unterschiede sind ein zweiter Faktor. Daneben aber f ü h r e n d i e l d e e n e i n E i g e n l e b e n . Der Großteil der Arbeiter und Bauern bekennt sich gar nicht zur proletarischen Ideologie des Kommunismus — gegen ihr Interesse. Und die „Arbeiterparteien aller Länder setzen sich nachweislich zu einem großen Teil aus Leuten zusammen, die gar keine Arbeiter sind. Zu den mutigsten Barrikadenkämpfern von 1848 gehörten Studenten, darunter adlige, und Künstler. Von der großen europäischen Schicksalsrevolution von 1789 wurden durchaus nicht alle französischen Bürger, aber auch nicht n u r Bürger, sondern auch ein großer Teil des französischen Adels i n n e r l i c h erfaßt, so sehr ein anderer Teil vorwiegend Motiven der Opportunität folgte. Damals wurde der zweite Stand, wie heute das Bürgertum (nicht nur das „Stehkragenproletariat") zu einem Teil von echten Linksgedanken, anderseits die Ärmsten aller Zeiten von Rechtsgedanken gepackt. Selbst heute gibt es eine starke christliche Arbeiterbewegung, auch in Deutschland. Persönliches Interesse und unpersönliche Idee mögen vereint §chla-

Einleitung

15

gen: sie marschieren getrennt! Und auch das kommunistische Wirtschaftssystem ist nicht mit der weltanschaulichen Ideologie des Kommunismus, d. h. dem physikalischen und dem historischen Materialismus identisch. Diese nüchternen Tatsachen lehren die große Gewalt der „Idee" als harter psychologischer Wirklichkeit, die gerade der Mann der Praxis neben dem Erforscher der öffentlichen Meinung in Rechnung stellen muß. Diese unerbittliche seelische Realität widerlegt den historischen Materialismus als Übertreibung und Verallgemeinerung eines richtigen Gedankens, ohne das Verdienst derjenigen zu schmälern, die als Pioniere den vergessenen Einzelfaktor des wirtschaftlichen Interesses als erste zu Ehren gebracht haben. Genau so wie wir die Verdienste Siegmund Freuds um die Herausstellung des vergessenen geschlechtlichen Interesses für die Ideologien-, die Weltanschauungsgeschichte der Menschheit zu würdigen wissen, ohne der Psychoanalyse — darin ist zwischen Marx und Freud kein Unterschied — ein Recht zur monomanen Deutung der Geschichte zuzubilligen. Am Eigenleben der Ideen ist also kein Zweifel erlaubt. Sie müssen sich zwar mit dem wirtschaftlichen wie mit dem geschlechtlichen und manchem andern Interesse in die Beherrschung der Menschen, der Völker teilen, sind aber in ihrem Gehalt und ihrer dialektikeigenen Gedankenbewegung von allen Interessen unabhängig. D i e g r o ß e n I d e e n u n d I d e o logien der M e n s c h h e i t sind kein bloßer U b e r b a u". Auch der bolschewistische Nihilismus als eine der Standard-Ideologien der Menschheit lebt aus eigenem Recht, er steht und fällt nicht mit dem wirtschaftlichen Interesse der Arbeiterklasse. Mit der (falschen) Behauptung seiner psychologischen Bedingtheit, nämlich seiner Ableitbarkeit aus dem Interesse und Wunsch der Arbeiter, ist der Bolschewismus nicht widerlegt, zumal auch viele Menschen außerhalb des Proletariats dieser Ideologie anhängen. Andernfalls wäre eine solche Widerlegung auf Grund des Nachweises einer willkürlichen, vom Interesse diktierten Ideologie, zwingend und inappelabel. Was diese anonymen Ideologien vom persönlichen Denken unterscheidet, ist ihr Freisein von Werten, vor allem vom Wahrheitswert und der Umstand, daß der ihrer bewußte Mensch

16

Einleitung

nicht zugleich das Subjekt ist, das sie verantwortet. Das sie „denkende" (richtiger: „habende") Subjekt ist nicht ihr logisches Subjekt, ist nicht ihr Sinnträger. D a m i t erledigt sich der Streit zwischen H a n s Pfitzner und d e m Musikpsychologen

Bahle um die R o l l e des Künstlers

beim

Schaffensprozeß:

unwillkürliche „Intuition" oder angestrengte geistige Arbeit?

Inspiration

v o r der T r a n s p i r a t i o n oder umgekehrt? D a s unpersönliche Denken hat der K ü n s t l e r

tatsächlich nicht in der H a n d , es liefert ihm

Zusammenhänge.

fertige

Aber sie haben a n sich noch keinen geistigen

noch keinen gemeinten künstlerischen

Wert,

Sinn. Ohne Gemeintsein gibt es

keinen Sinn. Dieser nun ist Sache einer ganz persönlichen geistigen Leistung sowohl nach der ästhetischen wie der verstandesmäßigen Seite.

W o r a u f letzten Endes die Anhänglichkeit der Menschen für diese oder jene Ideologie zurückgeht, wissen wir nicht. Es sind charakterologische Unterschiede. Aber niemand glaube an eine eindeutige Wahlverwandtschaft zugunsten der einen oder der anderen Ideologie. Die W e l t der Ideologien läßt sich deutlich in „links" und „rechts" unterscheiden: dort die auflösenden, zernichtenden, hier die aufbauenden, ordnenden. Zwischen Nihilismus und Positivismus bewegt sich das ideologische Denken der Menschheit. U n d kein Bürger oder Aristokrat glaube, er sei gegen Linksgedanken, kein Arbeiter, er sei gegen Rechtsgedanken gefeit. D e r heutige Kommunismus gar hat seine bolschewistische Anfangsform längst überwunden und steht mit seiner straffen, sachlichen Ordnungsgewalt, seinem Autoritätsglauben an die heiligen Bücher des Marxismus extrem rechts (wie sonst nur noch der Katholizismus), seine materialistische Ideologie dagegen kommt inhaltlich von links und bemüht sich um den Anschluß an die neuen Rechts-Ideale, ohne sie bisher gefunden zu haben. Die Rolle des Menschen, sein Verhältnis zu diesem IdeenFundus, zu seinem unpersönlichen Denken ist bisher unerforscht. Eine Ideologie zu „haben", ist meistens schon ein Sich-zu-ihrbekennen. Aber das muß nicht allgemein sein. J e persönlicher der Mensch ist, umso stärker vermag er sich von den Ideologien, auch von öffentlicher Meinung und fable convenue zu distanzieren und seine W a h l unter ihnen zu treffen. Erst d a m i t beginnt seine persönliche Leistung als Voraussetzung für jede Art Philosophie und Kunst. An sich aber sind die Ideen kein

17

Einleitung

Reservat des Philosophen oder Künstlers. Sie sind allgemeinmenschlich. Wir werden aufhören müssen, die Ideen zum „Geist", zur Philosophie zu rechnen. Sie gehören als unpersönliche Mächte des anonymen Denkens der Psychologie an. D a s hat man namentlich von Hegel bis heute nicht bedacht. Nicht w i r denken sie. Wir Menschen sind nicht Subjekte, sondern Objekte dieses Denkens, über dessen Herkunft der Denkende nichts weiß. Sie sind einfach da, sie überfallen ihn, und er unterbaut sie nur, falls er nicht doch noch seine Wahl trifft (was selten genug geschieht) post festum mit Gründen und nennt dies dann „Philosophie". Wir sind Empfänger, nicht Sender einer uns von der Wiege bis zum Grabe oszillierend umwogenden Ideenmasse. Wir verhalten uns dabei leidend, nicht tätig. Diese Tatsache sophie-Systeme, Persönlichkeit

sind,

geschaffen hat. einer

der

ist die U r s a c h e d a f ü r , d a ß große, g e w a l t i g e

große

Kunstwerke

so selten

welche diese S y s t e m e

Selbst R i d i a r d W a g n e r s

gelungensten,

klassischsten

adäquater

gestaltet,

diese

aller

der

Kunstwerke

„Tristan und Isolde"

Ausdrücke

Philo-

Ausdruck

Zeiten

geht als für

den

N i h i l i s m u s weit über die als K ü n s t l e r i m m e r h i n b e d e u t s a m e Persönlichkeit W a g n e r s hinaus.

D a s a u f f a l l e n d s t e B e i s p i e l ist H e g e l s g r a n d i o s e s

logien-Geflecht, gemessen

an

der

kleinbürgerlichen

Philistrosität

Ideoseines

U r h e b e r s . Seine persönliche L e i s t u n g liegt in d e m o r d n e n d e n Fleiß, m i t d e m er die G e d a n k e n m a s s e n b e w ä l t i g t e , v o r a l l e m a b e r d a r i n , d a ß er sich in der Schwebe über links u n d rechts hielt u n d d a s

Oberwältigtwerden

v o n d e n E x t r e m e n d e n E p i g o n e n überließ. W i r k ö n n t e n noch J . S. B a c h u n d N i e t z s c h e nennen. G r u n d s ä t z l i c h a b e r deckt sich n i e m a n d e s

Persön-

lichkeit mit der v o n i h m v e r t r e t e n e n I d e o l o g i e .

Die Aktivitätstäuschung, die uns etwas anderes lehren will, ist eine weit über die Ideologie hinaus verbreitete Erscheinung. Gegenüber dem modernen, zumal amerikanischen, Aktivismus, der alles in aktives „Verhalten", Pragmatik, Instrumentalik auflösen möchte und seine Berechtigung nur für die Kleinvorgänge der niederen Zonen der Lebensanschauung, der Religion behält, ist mit Nachdruck auf unsere p a s s i v e R o l l e dem IdeenÄther gegenüber hinzuweisen, in dem wir seelisch schwimmen. Freilich halten wir uns von den Ideen, von unserer Weltanschauung, der wir huldigen, nun auch „überzeugt". Aber das ist ein Irrtum. Dem Sichbekennen ist kein A k t tätigen Sich-überzeugthabens vorausgegangen. U n d erst das wäre ein A k t persönlichen Denkens. Derlei gibt es. U n d Johannes Rehmke hatte unrecht, 2 F e l d k e l l e r , Das unpersönliche Denken

18

Einleitung

wenn er die aktive D e n k h a n d l u n g überhaupt leugnete. Aber bezüglich der Ideen einerseits, der Alltagslogik anderseits hätte er recht. Denn die Aktivitätstäuschung erstreckt sich auch auf die Kleinstvorgänge unseres Alltagsdenkens, auf unser Begreifen, Urteilen, Schließen, Folgern. Wir sind die Beleuchter, die Lichttechniker unserer Gedankenbühne, nicht ihre Akteure. W i r w i s s e n heute, d a ß T r a u m b i l d e r s i n n v o l l e Z u s a m m e n h ä n g e stellen k ö n n e n , d e r e n E l e m e n t e wohl aus d e m persönlichen

dar-

Wachleben

s t a m m e n , d i e a b e r als K o m b i n a t i o n e n neu, also a n o n y m sind u n d dennoch s i n n v o l l e Z u s a m m e n h ä n g e darstellen. A u s dieser T a t s a c h e schöpft ja d i e g e s a m t e m o d e r n e Psychotherapie. D a s s e l b e gilt v o n jenem

Riesen-

gebiet d e r W a c h t r ä u m e , als Q u e l l e v o n M y t h o s , R e l i g i o n u n d K u n s t . E s stellt d a h e r diesen T a t s a c h e n gegenüber nichts N e u e s d a r , w e n n B e n d e r in B o n n

(nadi Mitteilungen auf

dem Bayreuther

f e s t s t e l l t e , d a ß d i e b e i m sog. K r i s t a l l s e h e n

Psychologenkongreß)

auftauchenden Bilder

und

Schriftzeichen K o m b i n a t i o n e n eines a n o n y m e n Sinnes darstellen, welcher d e r V e r s u c h s p e r s o n selber u n b e k a n n t ist, dessen S u b j e k t also nicht d a s S u b j e k t d e r Versuchsperson ist. Gewisse m e d i a l e F ä h i g k e i t e n u n d die sog. c r o s s - c o r r e s p o n d a n c e s gehören in d a s gleiche K a p i t e l .

Es gibt kein menschliches Denksubjekt, das den ö d i p u s Mythos „er"dacht, obwohl „ge"dacht hat. D a s ist ein fundamentaler Unterschied. Die „Menschenrechte" von 1789 waren zuvor schon von den französischen Denkern vertreten worden. Aber erfunden hatte sie niemand, was nicht ausschließt, daß ein Vol-

taire sie in persönlichem D e n k e n h i n t e r h e r verantwortete. In diesem Voltaireschen Sinne haben die Revolutionäre selber sie sich nie zu eigen gemacht. Diese Mühe macht sich nur der Philosoph. Jene waren nie die Sinnsubjekte der ihnen fertig zuströmenden Menschenrechts-Ideologie, und ihr persönliches Denken verlor an Substanz nichts, als sie wenige Jahre danach die gleiche Ideologie wieder preisgaben und gegen Gedanken von rechts eintauschten. Der Umstand, daß die Menschen die Gegenstände ihres Nach • denkens auswählen können, verführt sie zu dem Glauben, auch Richtung und Art des Denkens seien persönlich. Sie wissen um dieses Denken, und sie wissen zugleich um ihr Ich. Diese beiden Tatbestände sind unmittelbar wahrnehmbar. Dagegen ist die logische Verkoppelung beider eine (vom unpersönlichen Denken automatisch vollzogene) logisch unbegründete Konstruktion. D i e

19

Einleitung

Menschen machen ihr Ich zum logischen Subjekt, zum verantwortlichen Sinnträger ihres unpersönlichen Denkens. A b e r das ist bloße Scheinaktivität.

Denn

nicht

wir

besitzen

d i e l d e o l o g i e , s o n d e r n s i e b e s i t z t u n s . Sie k o m m t f i x und fertig aus unserm H a u p t wie Athene aus dem des Zeus, und weder Zeus noch Hephaistos haben sie hervorgebracht. Uns ziemt Bescheidenheit. D e r Aberglaube als G e f a h r gehört der Vergangenheit an. Die G e f a h r der Gegenwart aber ist das Aberwissen.

FALLWELT UND SYNTAGMA Die Umwelt Es gab Zeiten, da man wohl von einer Außenwelt des Menschen wußte und sie seinem Innenleben gegenüberstellte. Es waren Zeiten vorwiegend physikalischen und erkenntnistheoretischen Interesses. Von den unermeßlich wichtigen Spannungen und Einflüssen zwischen Außen und Innen wußte man dagegen noch nichts. Das kam erst mit den damals unbekannten biologischen und soziologischen Erkenntnissen des letzten Jahrhunderts. Die reine Statik des Außen und Innen, die sich als falsch erwies, wurde durch den dynamischen Begriff des M i l i e u s ersetzt, den man mit U m w e l t verdeutschte. Das Milieu ward zum Sammelbegriff für die Einwirkungen der geologischen, klimatischen N a t u r k r ä f t e auf den Organismus. Das Milieu verändert das Lebewesen, dies antwortet nach Lamarck mit Anpassung. Trotz deren (bescheidener) Aktivität verhält sich der Organismus leidend: der bestimmende Partner ist die Umwelt. Derselbe Vorgang wiederholt sich nach Taine im gesellschaftlichen Leben. Die gesamte Theorie von Milieu und Anpassung bildet den Kern der sozialistischen Weltanschauung und Ethik. Der Mensch ist nicht nur Produkt der sozialen (einschließlich ökonomischen) Zustände seiner Zeit, darüber hinaus verlangt die Moral vom einzelnen die Anpassung an die Gemeinschaft. In diese Rahmentheorie haben Marx und Lenin an einer bestimmten Stelle den revolutionären Aktivismus, den Willen, die sozialen Zustände mit Gewalt zu verändern, eingebaut. Aber er gilt nur zeitweilig. Für die Theorie im ganzen liegt das Schwergewicht auf der bestimmenden Aktivität des Milieus. „Das Sein bestimmt das

Die Merkwelt

— Die

Fallwelt

21

Bewußtsein", „Das Leben ist größer als das Denken": die marxistische wie die pragmatistische (russische wie amerikanische) Formulierung meinen dasselbe.

Die Merkwelt Es war das Verdienst des Hamburger Biologen Jakob von Üxküll, auf die bestimmende, aktive Rolle jedes tierischen Organismus hinsichtlich „seiner" Umwelt hingewiesen zu haben. Üxküll schuf einen ganz neuen „Umwelt"begriff, wonach es gar keine f ü r verschiedene Tierarten gemeinsame „Umwelt" gibt, sondern jede sich ihre spezifische erst schafft, so daß jeder Tierspecies „ihre" und nur ihre Umweltspecies zugeordnet ist. Die Milieutheorie ist damit nicht widerlegt: beide Theorien meinen nicht genau dasselbe Problem und stehen daher nicht im strengen Konkurrenzverhältnis. Sie schließen einander nicht aus. Wohl aber ergänzt Uxkülls Theorie die Milieutheorie und berichtigt ihre Einseitigkeiten. Danach gibt es in der Hundewelt nur Hundedinge, keinen „Herrn" und kein „Wachen", kein „Melden" und keine „Stubenreinheit" — das sind Dinge der Menschenwelt, und zwischen beiden ist kein Verstehen (wenngleich hervorragende Kollaboration) möglich. Da Üxküll auch den Ausdruck „Merkwelt" verwendet, gebraudien wir hier diesen statt des sonst vieldeutigen Wortes „Umwelt" (Milieu). Die Merkwelt ist im Gegensatz zur Umwelt Ausdruck starker seelischer Aktivität. Trotz des oben Gesagten sind die beiden Begriffe „Milieu" und „Merkwelt" Ausdruck nicht nur entgegengesetzter biologischer Betrachtungen, sondern auch stärkster weltanschaulicher Gegensätze. Die Fallwelt Üxküll hat nun den interessanten Versuch gemacht, seine „Merkwelt"-Theorie vom Tier auch auf den Menschen zu übertragen. Sein Buch: „Die Umwelten meiner Freunde" zwingt uns, zu der Frage, ob der Versuch geglückt ist, Stellung zu nehmen. J a und nein! Die Anwendung des neuen Begriffs ist gelungen,

22

Fallwelt

und

Syntagma

aber — nur auf das Tierische am Menschen. Gerade dasspezifisch Menschliche, das, was den Menschen charakterisiert, wird von dem Begriff nicht getroffen. Der Begriff verliert hier seine große Bedeutung. Das liegt vor allem daran, daß die tierische Merkwelt etwas Gewordenes und Statisches darstellt. Sie hat ja keine Abläufe, keine Geschichte! Just dies aber besitzt das jeweilige menschliche Welt- und Lebensbild. Das menschliche "Weltbild ist dynamisch gerade dort, wo es sich um Freunde und Feinde, um Religion, Politik und soziales Leben handelt. Auch jene Freunde Üxkülls sind geschichtliche (zeit- und tagesgeschichtliche), von Neigungen, Vorurteilen hin und her gezogene Wesen. Hier gruppieren sich alle Vorstellungen, zerfallen (je nach der Neigung) und gruppieren sich wieder von neuem um einen Interesse-Mittelpunkt. Hier findet sich ein kristallmäßiges Anschießen und Abfallen, ein magnetoides Anziehen und Abstoßen der Bewußtseinsinhalte. Die „ W e l t " eines Menschen ist im Gegensatz zu der eines Tieres elastisch, dehnbar je nach Stimmung, Bedrängnis, Situation. Sie ist nicht homogen wie die Tier-Umwelt, sondern hat ein Zentrum, auf das alles sich zu bewegt, einen Gravitationspunkt, ein Gefälle. Gewiß hat auch der Mensch die statische, mitgeborene Merkwelt des Tiers, besonders das Kind. Aber ihre Berücksichtigung genügt nicht, um den Menschen zu verstehen. Denn die menschliche W e l t ist, obwohl sie sich auf der statischen Umwelt aufbaut, doch darüber hinaus eine ständig in dynamischer Spannung befindliche „Fall"welt, die in fortwährendem Fallen auf das jeweilige und auch wechselnde Gravitationszentrum begriffen ist. Dieser Mittelpunkt ist das I n t e r e s s e . Ohne das Phänomen des Interesses und damit der Fallwelt ist der Mensch nicht Mensch und als solcher nicht zu verstehen. W i r haben hier eine seelische Gefälle-Welt, eine zentrifugale W e l t vor uns. D i e m e n s c h l i c h e F a l l w e l t i s t g e s c h ä f t lich und moralisch, sozial und politisch e i n e W e l t d e s l n t e r e s s e s , die t i e r i s c h e M e r k w e l t i s t e i n e n a t u r h a f t e W e l t des s t a t i s c h e n Bedürfnisses. Die Funktion nun, die der Fallwelt auf der Seite der Seele entspricht, ist eine Zuwendung der Seele zu sich selber, eine mehr

Unterschiede

zwischen Merkwelt

und

Fallwelt

23

oder weniger autistische Orientierung am eignen Interesse. Die Biologie (Jacques Loeb u. a.) spricht von Phototaxis, Heliotropismus, Geotropismus. Wir könnten entsprechend die Begriffe der „Psychotaxis" oder des „Psychotropismus" bilden. Wir wählen statt dessen im Anschluß an einen bereits vorliegenden, von Rudolf Eucken gebildeten Begriff den des seelischen S y n t a g m a s, zu deutsch „ F u g u n g", freilich gespannter, energiegeladener und damit dynamischer Art. Die D a u e r f u g u n g steigert und verselbständigt sich zu einem spontan agierenden seelischen Gebilde neben der Einzelseele. W i r nennen sie darum „ 2 w e i t s e e 1 e ".

Unterschiede zwischen Merkwelt und Fallwelt Die Merkwelt des Tieres wird mit dem Tiere g e b o r e n . Sie wird ihm konstitutionell, sinnesphysiologisch und biologisch v e r e r b t . Sie kann ihm nicht anerzogen, nicht einmal andressiert werden. Die Merkwelt ist darum Natur, die Fallwelt Kultur. Jene kann, weil zum „Merkmal" der Tierspecies gehörig, nicht „übertragen" werden. Die Hauskatze wird nie das menschlicheMerkweltding „Tisch" wahrnehmen, geschweige intendieren, sondern nur das Katzending: „sprunghaft erreichbare flache Erhöhung, auf der es gemeinhin, freilich verbotenes, Essen gibt". Umgekehrt sind die auf der Vorderseite i h r e s Lebens befindlichen „Nacht"dinge und -erlebnisse dem Menschen unerreichbar. Für den H u n d ist die Peitsche keine „Peitsche", sondern ein feindliches Lebewesen, dessen erzieherischer Zweck ihm fremd bleibt. Auf das Kind dagegen übertragen sich Begriff und Zweck eines Strafinstruments sehr bald. Ist ferner die Merkwelt statisch und bei der Geburt potentiell fertig abgeschlossen, so wächst die Fallwelt dauernd oder nimmt ab. N u r hier gibt es daher das Phänomen des ,guten Gewissens'. Das Tier hat darum kein „gutes Gewissen", höchstens ein „schlechtes Gewissen".Denn das „gute Gewissen" ist ein FallweltPhänomen: was in die magnetoide Fugung der Fallwelt gelangt und sich dort festsetzt, ist vom Interesse gesiebt, zugelassen und gruppiert; am „schlechten Gewissen" aber hat niemand ein Inter-

24

Fallwelt

und

Syntagma

esse, es ist nicht interessemäßig, nicht syntagmatisch, sondern von außen her, nämlich durch das soziale Verhältnis zu unsern Mitmenschen, beim H u n d zu seinem Herrn, bestimmt. Darum ist die Merkwelt für jedes Tier etwas Einmaliges, die Fallwelt eines Menschen dagegen ist immer in mehreren Exemplaren vorhanden, die nebeneinander existieren. Denn der Mensch ist Kreuzungspunkt einer Anzahl Interessen als Familienglied, Geschäftsmann, Bürger, Sportsmann usw. Ja, es gibt ganz und gar vergängliche, nur für bestimmte Fälle gebildete Fallwelten, die mit dem Interesse spurlos verschwinden. Die Merkwelt aber stirbt erst mit dem Tier. Dressur kann sie quantitativ anreichern, aber in ihrer qualitativen Bestimmtheit nie verändern. Die Anreicherung der menschlichen Fallwelten dagegen ist nie bloß quantitativ. Inhalt und Bauplan ändern sich gemäß den Interessen. Und diese wechseln nicht nur im Einzelleben, sondern auch im großen, im Geschichtlichen, für ganze Geschlechterabfolgen (Syntagmen der Kultur). Die dauernde, nicht nur merkmalhafte, vorstellungshafte, sondern gesichtspunkthafte, fugungsmäßige (syntagmatische) Anreicherung der Geschichte als eine Abfolge von Zweitseelen, die wir „Kultur" nennen, beruht auf der Zunahme von Gravitationsmittelpunkten, um die sich das Bewußtseinsleben energiegeladen gruppiert. Der Mensch und seine Geschichte haben darum Zukunftsaussichten, die dem Tier fehlen. Die Fallwelt zeigt darum auch Assimilierungs-, also Ernährungsvorgänge, die Merkwelt nur Verwirklichung dessen, was schon der Möglichkeit nach in ihr angelegt ist. Die Fallwelt ist elastisch und der Erweiterung, aber auch Verengung (z. B. bei Gefahr der Verführung oder im Fanatismus) fähig; die Merkwelt ist spröde und unbildsam. Darum kann die Zweitseele erkranken und wieder gesunden, die Merkwelt kann nichts dergleichen. Es gibt daher Geistesepidemien, Revolutions- und Kriegspsychosen", Fanatismen usw. nur in der Menschenwelt. Damit zusammen hängt, daß die Zweitseele und ihre Fallwelt als ein sensibles Organ selber gereizt und verletzt werden kann, die Merkwelt niemals.

Unterschiede zwischen Merkwelt

und

Fallwelt

25

Darauf beruht das sozial bedeutsame Phänomen des „Ärgernisses" (im neutestamentlichen Sinne als „skandalon"), das es in der Merkweltsphäre nicht gibt. Zur Schau getragene Andersgläubigkeit stört das zweitseelischeSyntagma des mittelalterlichen Inquisitors so gut wie des modernen Parteifunktionärs und des Agenten der staatlichen Geheimdienste und wird vom Parteiaktivisten wie Körperverletzung empfunden und gerächt. Und selber wo auch der Mensch als tierisches Erbteil seine Merkwelt, und er besitzt sie, in sich trägt, da „hat" er sie anders, als das Tier sie hat. Denn der Mensch besitzt die Fähigkeit, seine relative Merkwelt dem Grade nach, wenn auch nur annähernd, in Riditung auf eine ideal zu denkende „letzte" und „absolute" Wirklichkeit, die wir ja nur ahnen können und die uns biologisch und erkenntnistheoretisch nie und nimmer gegeben ist, zu überwinden. Das Tier dagegen zeigt nicht die kleinsten Ansätze zur Merkweltüberwindung. Der Mensch sieht die Welt immer ausschnittloser, totaler, je mehr er als Mensch sich vollendet. Im Zusammenhang mit dieser geahnten Erkenntnis haben Philosophen vor und nach Uxküll den Menschen das „weltoffene" Tier genannt (Nietzsche, Scheler). Mit dieser Tendenz, bildsam zu bleiben, streitet freilich eine andere zur Überspezialisierung als einseitiges Hirntier, die den Menschen, noch ehe er wirklich „Mensch" geworden ist, wieder in das Tiertum zurücknehmen möchte. Ausdruck dieser Überspezialisierung (zerebrale Hypertrophie) ist die spezifisch tiermenschliche Merkwelt, die der Mensch als Tier, nicht als Mensch, überspitzt hat: die Merkwelt der Technik, die das Verhältnis des Menschen zur N a t u r , zur Gesamtwelt, vor allem zu Gott und zu seinesgleichen zu beherrschen droht und deren Uberfütterung nicht nur seine Verwirklichung als Mensch, sondern auch seine Lebensfähigkeit als Organismus tödlich gefährdet. Näheres in des Verfassers „Geophilosophie und Historiurgie" in Actes de VIII« Congres Internat, de Philosophie, Prag 1936 S. 555 ff. und Archiv f. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Berlin 1937.

26

Fallwelt

und

Syntagma

Ergebnis Soll unser intellektuelles Leben zum Handeln tauglich sein, so darf es uns nicht bloß wie dem Tier einen „Merkwelt" genannten Ausschnitt aus der idealen, statischen Großwelt spiegeln, es muß vielmehr, weil Handeln auf Verwirklichung von Möglichkeiten, also auf Phantasie, Erinnerung, Vorwegnahme der Z u k u n f t beruht — was alles das Tier nicht kennt —, auch von dieser Fülle von möglicher, aber nicht wirklicher Zukunft, Plänen, Wertungen einen Ausschnitt, eine aktive Gestaltung liefern, die zur Grundlage des Handelns dienen kann. Denn wir stellen nicht bloß vor, wir stellen auch heraus, wir bauen eine ganze Probierwelt, eine Modellwelt im kleinen, die bereits dem, was wir anstreben, irgendwie entspricht. "Wir g l a u b e n , in dieser ständigen Vorwegnahme die Welt zu spiegeln, wir t r e i b e n in Wirklichkeit die Welt erst zu dem noch gar nicht verwirklichten, also auch unmöglich sich „spiegelnden" Ziele vorwärts. So glaubt der Unternehmer schon an die bestehende Wahrheit und Wirklichkeit des von ihm Geplanten. Es w i r d aber erst Wahrheit d u r ch seinen Glauben an die Sache. Mit dem Erfinder, dem Staatsmann ist es nicht anders: sie glauben an das Ziel an sich. Sie wissen nicht, daß dies keine Sache reiner Erkenntnis ist, daß vielmehr ihr persönlicher Einsatz in Rechnung gestellt werden muß. Dann erst stimmt es! Dieser wichtige biologische Faktor, der aus der indifferenten Welt eine auf ein Ziel hin stürzende, beseelte Welt macht, diese Selbstgruppierung, Selbstordnung, Selbtsorganisation der Seele auf das Ziel hin: das ist das Syntagma. Uber die einzelnen Schritte dieses Vorgangs: die Siebung der Vorstellungen, ihre Entfärbung im Gedächtnis („Gewissen", „Undank"), die relative Betonung (in der Kränkung u. a.), die Gruppierung (etwa im emotionalen Gedächtnis), Umgruppierung, Auswechslung (in der Bekehrung, im Abfall) siehe des Verf. Buch „Verständigung als philosophisches Problem", Erfurt 1928 S. 70—116. Uber den Unterschied von Fallwelt und Merkwelt vgl. auch des Verfassers „Psycho-Politik", Berlin 1947, S. 5 ff.

Mit dem Syntagma als Ergebnis eines seelischen Gefälles sind wir beim Zentralphänomen alles geschichtlichen Lebens angekommen. Das Tier hat keine Geschichte, weil es keine vom

Ergebnis

27

Interesse oder sonstwo her gesteuerte, magnetoid „gefugte" Vorstellungswelt besitzt. Der Mensch aber sitzt in seinem Gehäuse, einem Gebinde von Begriffen und Vorstellungsbildern, das sich in Theorien und Dogmen, Programmen und Systemen die besondere Festigkeit einer Dauerfugung gibt, die zur Selbständigkeit einer Zweitseele aufsteigt. In besonders entschiedenen Charakteren statuiert sie als Überfugung, Zwangsfugung so etwas wie eine Sekundärperson. Hiermit beginnt das unpersönliche Denken — schon bei den Auswirkungen des persönlichen Inter esses. Aber außer dem Interesse sind noch ganz andere, unpersönliche Mächte am Aufbau unserer magnetoiden Vorstellungsfugungen und Fugungssysteme beteiligt. Es kommt zur Kollektivfugung, die sich zu einer Art Sammelseele steigert, die sehr bewußte Formen annehmen kann. Aber auch ohne dies Bewußtsein schwimmen wir von der Wiege bis zum Grabe in einer Umseele (Peripsyche), aus der sich das Vorstellungsleben unserer Einzelseele speist. Steigert sich die übermäßige Fugung zum Denkkrampf, dann kommt es zu den geschwulstartigen Formen des Psychoms (Phrenoms). Die Krankheit selbst nennen wir Paranoese.

DAUERSYNTAGMA UND ZWEITSEELE Ihr Wesen Der Mensch bedarf je nach Zweck und Vorhaben für Familie, Geschäft und Alltag hunderterlei Syntagmen, die leicht entstehen, vergehen und sich auswechseln lassen. Er bildet aber auch jene oft ein ganzes Leben vorhaltende Dauerform des Syntagmas, die zur „Zweitseele" wird und mit der die Tragödie des Menschseins anhebt. Die Zweitseele ist nicht die Persönlichkeit selber. Sie kann aber sehr wohl durch „Übung" und Verhärtung des bildsamen Materials der Seele bzw. Einfahrens in feste Dauerbahnen so etwas wie eine S e k u n d ä r - P e r s o n werden. Gewiß kann niemand ohne Syntagmen eine biologisch wertvolle Existenz führen. Aber es ist ein Unterschied, ob die sittliche Persönlichkeit wechselnde Syntagmen herausstellt, mittels deren sie auf die Welt einwirkt d. h. handelt, oder aber ob sich einDauersyntagma, eine komplette Zweitseele als eine dritte Instanz zwischen die Persönlichkeit und die Welt einschiebt und nunmehr aus dieser Zwischeninstanz heraus gehandelt wird. Jetzt gibt es eine Art materialisierter Psyche, einen „objektiven Geist" im kleinen (schon innerhalb des Subjekts), ein angedeutetes Psychophantom, das sich an Stelle der Persönlichkeit schiebt und diese nicht zum Handeln kommen läßt. Hier ist die Grenze für das Pathologische. Es gibt ganze Menschenklassen und Berufe, die gewohnheitsmäßig aus einer permanenten Zweitseele heraus, also aus zweiter H a n d , statt in jedem Augenblick aus der Tiefe und K r a f t der eigenen Seele heraus, handeln. Sie ersparen sich die Mühe der Verantwortung und jedesmaligen Entscheidung.

Ihr biologische

Wichtigkeit

29

Ihre biologische Wichtigkeit V o n diesen extremen, groben Fällen abgesehen, ist die biologische Bedeutung des Dauersyntagmas groß und positiv: diese gewährt jene wohltuende Einheit, Beständigkeit und Krisenfestigkeit

der Persönlidikeit

zumal

in Situationen

seelischer

Dauerbelastung, ohne die kein E r f o l g in der W e l t , aber auch kein Glück der Persönlichkeit möglich ist. D a ß diese K r a f t des S y n t a g m a s der Sache der Erkenntnis schaden k a n n , d a r f nicht verwundern. D e r Uberfugung k a n n niemand etwas anhaben. Sic ist mit Reden, mit Argumenten nicht zu widerlegen, weil alle E i n w ä n d e zu nichts anderem dienen, als die Fugung der Zweitseele noch zu verstärken. J e d e r m a n n hat ein Interesse an der H a r m o n i e und Stabilität seines Wesens. E r gibt diese in der Regel auch nicht um neuer Erkenntnisse willen preis. N u r bei wenigen M ä n n e r n der W i s senschaft findet man diese innere Plastizität und Bereitschaft, von G r u n d aus umzulernen und damit die H a r m o n i e des bisherigen Syntagmas zu zerstören. D i e Psychologie der Wissenschaft selber wird an diese bedeutsame Tatsache anknüpfen müssen. D e n n es verbirgt sich dahinter das richtige Gefühl, daß es sich bei der Zerstörung des Syntagmas um einen zumeist irreversiblen V o r g a n g handelt, der sich nicht mehr ungeschehen machen läßt. D i e Seele hat Schutzvorrichtungen, um sich nicht ohne N o t die zu gegebener Zeit lebenswichtigen S y n t a g m e n zersetzen zu lassen. Die Philosophen der Universität Florenz weigerten sich, wie Galilei 1610 an Kepler schreibt, die Planeten durch ein Fernrohr zu betrachten. Helmholtz erklärte, weder die Zeugnisse aller Mitglieder der Königl.Preuß. Akademie d. Wiss. noch das Zeugnis seiner eigenen Sinne würden ihn auch nur von der Fähigkeit der Gedankenübertragung überzeugen. Professor Magnin weigerte sich, einer einzigen Konsultation der Somnambulen Estella B. in St. Quentin beizuwohnen, und ebenso Carl Stumpf, einer Kommission zur Untersuchung der sog. okkulten Phänomene beizuwohnen. Einem Wiener Universitätsprofessor wird 1890 dié Äußerung zugeschrieben: „Ich glaube an hypnotische Suggestion nicht eher, als bis ich einen Fall gesehen habe, und ich werde einen solchen Fall niemals zu Gesicht bekommen, da ich mir derlei Erscheinungen niemals ansehen werde."

30

Dauersynta%ma und

Zweitseele

Entsprechendes gilt für alle Ereignisse im Kriege:

jede Partei bucht

sie als Argumente zu ihren Gunsten. A u d i hier ist es wie beim Spiritismus: nicht nur jede Wahrheit, auch jeder Irrtum hat seine Interessenten, und die spiritistischen Beisitzer und Forscher betrügen nicht weniger als die Medien selber. D a s Gegenteil sind jene Gelehrten,

die je nach Zeit und politischen

U m s t ä n d e n bereit sind, Entgegengesetztes zu lehren und zu

vertreten.

W i r haben d a f ü r in R u ß l a n d wie in Deutschland eine Fülle v o n Beispielen kennen gelernt.

Elastizität und Sprödigkeit Im allgemeinen ist die Fugung Erwachsener e l a s t i s c h (aber durchaus nicht immer), und zwar je gebildeter sie sind. Sie ist imstande, das Entgegengesetzteste mehr oder weniger assimiliert zu einem Ganzen, einer unitas multiplex zu formen. Sie erträgt Spannungen, ohne zu zerbrechen. Die Mutter läßt sich ihr Bild von ihrem Kinde auch durch dessen Verbrechen nicht zerstören. Der Gläubige, der Patriot, zumal im Kriege und angesichts feindlicher, zersetzender Nachrichten, bewährt ein elastisches Dauersyntagma. Die Syntagmen des Jugendlichen dagegen sind s p r ö d e und besitzen eine geringe Assimilationsfähigkeit. Kinder ertragen Spannungen nicht. Sie weinen leicht. Hier muß eine unvorsichtige religiöse wie geschlechtliche Aufklärung die sich erst bildenden Syntagmen zerstören. Die Nachtseiten des Daseins lassen sich dem Gesamtbild des Lebens noch nicht einverleiben. Infolge davon bricht das jugendliche Syntagma entweder auseinander, es entsteht Negativismus und Zynismus, oder aber das S y n t a g m a wird vorzeitig starr und unelastisch und zur Verarbeitung von Konflikten untauglich. Die Syntagmen der Frau sind durchschnittlich weniger elastisch als die des Mannes. Die Starrheit ist eine Schutzvorrichtung, um Heterogenes, das nicht ganzheitlich in weitem Bogen überwölbt werden kann, gar nicht erst in das Syntagma einzulassen. Unerträgliche Spannungen können zu Zerreißungen des Syntagmas und Nervenzusammenbrüchen führen. Der Philosoph als intellektueller T y p u s bringt es in der Elastizität der Syntagmen am weitesten. Bei mehreren von ihnen

Modelle für den inneren

Aufbau

31

( J a k . Böhme, Schelling, Hegel) wird auch das Negative in das positive Weltbild eingegliedert.

Bei Böhme ist Gott gut und

böse zugleich. D o r t , wo solche seelische Weite fehlt, wird das Dauersyntagma zum überempfindlichen Seelenorgan.

Man erntet Feindschaft,

wenn man den Menschen ihr Syntagma antastet oder gar verlangt, sie sollen es, weil ihnen schädlich, gegen ein anderes eintauschen. Dagegen erwirbt man sich ihre Freundschaft, gibt man ihrem Seelengehäuse zu weiterem An- und Ausbau durch entsprechende Vorstellungen Nahrung. W i e das Beispiel der Heiratsschwindler zeigt, läßt der Mensch sich leichter Geld und Gut als lebenswichtige Bestandteile seines Syntagmas entwenden. Die betrogene Frau empfindet die Elemente ihres syntagmatischen Gefüges als stärker zu ihr gehörig (als ichnäher) und deren Enteignung biologisch bedrohlicher als materiellen Diebstahl.

Modelle für den inneren Aufbau Das Gerüst oder d e r B a u p l a n zu einem eigentümlichen Weltbild als Ergebnis eines seelischen Gefälles: das also ist die Zweitseele. Der Vorstellungsinhalt ist dabei sekundär. Die betreffende Seele ist bereit, Entgegengesetztes und einander Feindliches zu vertreten — ohne dabei zu alternieren (wir werden nachher auch alternierende Syntagmen und Zweitseelen kennen lernen). Hauptsache bleibt, daß die logisch unverträglichen Elemente je einen geeigneten Stellenwert im ganzen System erhalten. Dieses System ist ein Gravitationsfeld; denn es handelt sich dabei, wie wir sahen, um eine Fallwelt. Ihr Mittelpunkt ist das Interesse, das die einen Vorstellungen, Erinnerungen, Wahrnehmungen, Begriffe, anzieht, die andern abstößt. Die angezogenen werden geordnet und gruppiert. Einige Erinnerungs- und Urteilsprozesse werden beschleunigt, andere verlangsamt oder ganz gelähmt — je nachdem wie das Interesse es erfordert. Im Gegensatz zum gewöhnlichen physikalischen Magneten werden hier also Elemente (die Vorstellungen) zum Fliehen gebracht. Das Ausgewählte wird geordnet. Auch hierin

32

Dauersyntagma

und

Zweitseele

ist das Syntagma ein magnetisches Kraftfeld, von dessen Polen Kraftlinien ausgehen, um die sich die angezogenen Elemente (etwa Eisenfeilspäne) gruppieren. So baut jedes Interesse im Syntagma seine eigene Welt auf. Will man sich dies syntagmatische K r a f t f e l d durchaus in einem Modell bildlich veranschaulichen, so wähle man dazu das Bild eines Kegels, dessen Spitze der Gravitations-, aber auch Gestaltungsmittelpunkt ist, um den herum im Mantel und in der Grundfläche des Kegels sich die Vorstellungselemente gruppieren. Wir halten also fest, daß es sich durch zwei wichtige Besonderheiten auswirkt. Diese Eigentümlichkeiten sind erstens rein qualitativ die Gestaltung und zweitens die Geschwindigkeit des Gestaltungsablaufs, die Beschleunigung und Hemmung. Das Syntagma ist selbst ein ( Vorgang. Es gibtDauersyntagmen, die fast ein ganzes Leben oder doch viele Jahre vorhalten. Meistens sind es solche religiöser, weit- und lebensanschaulicher Art. Es gibt kürzere, wie die eines Anwalts, die nur so lange währen wie die Vertretung dauert. Von dieser letzteren Art tragen wir gleichzeitig viele Möglichkeiten in uns, die sich jeden Augenblick aktualisieren können. Auch diese sind keine alternierenden Syntagmen, die sich ja immer auf denselben Gegenstand beziehen, sondern disparate, deren Gegenstände einander selten etwas angehen, sich vielmehr höchstens hier und da überschneiden: wir tragen gleichzeitig das seelische Gefälle des Berufs, des Gelderwerbs, des Familienvaters, des Staatsbürgers, des Sportmanns, des Gläubigen u. dgl. mit uns herum.

Der Abbau des Syntagmas Von hier aus kommt man zu einer brauchbaren T h e o r i e d e r Z e r s e t z u n g . Denn Zersetzung ist das Gegenstück zum Dauersyntagma. Beide Prozesse sind lebenswichtig. Im biologisch richtigen Ablauf sollen beide stets zusammengehen. Entstehen seelische Gebilde neu, so bleiben die alten nicht stehen, sondern lösen sich mehr oder weniger auf. Mit jeder neuen Religion zersetzen sich alte, mit neuen politischen Systemen geht ein

Der Abbau, des

Syntagmas

33

seelisches „Aufräumen" der alten Hand in Hand. Dies verlangt die „monarchische Ordnung des Bewußtseins" (Th. Lipps). Freilich gibt es wünschenswerte und unerwünschte Zersetzung. Es kann Zersetzungsreifes wie noch Lebensfähiges und Wertvolles davon betroffen werden. Doch allgemein gesprochen, entspricht jedem neuen Interesse, jeder Zuwendung auch eine Abwendung und der Zerfall eines entsprechenden Syntagmas aus Mangel an Nahrungszufuhr. Biologisch ist das Gleichgewicht zwischen beidem wichtig. Herrscht die Zersetzung vor, bleibt nichts Positives übrig; herrscht das Syntagma vor, kommt es zur seelischen Erstarrung. Auch zwischen den Ursachen der Zersetzung müssen wir scheiden. Sie können exogen und endogen sein. Eine gesunde Dauerfugung wächst von außen, nämlich durch den Anstoß des Interesses als gestaltbildenden Prinzips. Sie ist nicht Selbstzweck, sie darf sich daher nicht von innen her, also aus bloß intellektuellen Motiven gestalten. Ebensowenig darf sie sich aus solchen Motiven zersetzen. Werden Widersprüche, Ungereimtheiten (z. B. des religiösen, des nationalen Gefüges aufgedeckt und das Wissen davon in die Seele geschleudert, so ist das Gefüge des gesunden und hochwertigen Menschen imstande, dem vernichtenden Einfluß zu wehren und die Spannung zu ertragen, wofern es sich um ein lebenswichtiges (oder „ichnahes") Interesse handelt. Denn nur dieses darf eine Dauerfugung hervorrufen und wieder auflösen. Der Schlüssel zu diesem Wunder des lawinengleichen Zusammenballens vorher harmlos unbeweglicher Einzel-Gedanken und Gedankenmassen ist das Syntagma mit seinen beiden Triebkräften persönlichen „Interesses" und überpersönlicher Dynamik. Im Fanatismus wird die Fugung zum geschichtsgestaltenden Dynamit. Sie kann als Orgie der seelischen (und leiblichen: Dionysien) Selbstverstümmlung Krankheit und Entartung bedeuten, kann aber auch als reinigendes Fieber der Umkehr verfahrener geschichtlicher Verhältnisse und damit der Anbahnung der Gesundung dienen (Revolutionen). All dies gehört in eine Psychologie des Geschichtlichen, die erst noch geschrieben werden muß. 3 F e l d ' k e l l e r, Das unpersönliche Denken

34

Dauersyntagma und Zweitseele D i e Zwangsfugung "Wenn j e m a n d sein einseitiges, wenn auch biologisch normales

S y n t a g m a auch t r o t z eigner Q u a l und ernster Selbstbemühungen nacht mehr los wird, d a r f von Z w a n g s f u g u n g

gesprochen

werden. E i n allbekanntes Beispiel ist der Z w a n g , die Menschen ausschließlich daraufhin zu betrachten, zu beurteilen und zu bewerten, was sie dem Betrachter geschlechtlich bedeuten. Sex u a l i t ä t ist auch (neben dem H a ß und dem politischen Psychom) die stärkste Abstraktion, die wir kennen. Das an e i n e r Stelle biologisch Richtige und W e r t v o l l e übersteigert sich und verallgemeinert sich so, daß es biologisch unwert wird. D a s

Ent-i,

sprechende gilt für die harmlosere, erotische Fugung, welche nur auf e i n e n

Menschen geht, ihn unter Abstraktion von seinen

üblen und seinen indifferenten Eigenschaften idealisiert und sein Bild fälscht. Z u r Zwangs-Fugung kann dagegen die Eifersucht führen. E i n solches starkes Zwangssyntagma, wie O t h e l l o es zeigtsollte mit allen seinen Folgen nicht als Verbrechen, sondern als seelischer D e f e k t beurteilt werden, unbeschadet aller n o t w e n digen Sicherungsmaßnahmen. D a b e i ist die Frage, ob der B e t r e f fende an einem Mangel oder an einem Zuviel an

Phantasie

leidet, sekundär: sowohl das eine wie das andere k o m m t der „ E r n ä h r u n g " der Zweitseele zugut. D i e Phantasiearmut

wird

die formale S t r u k t u r der Zweitseele versteifen, der Phantasiereichtum w i r d n i c h t

der Gegenseite, sondern

ausschließlich

dem schon verzerrten W e l t b i l d neue N a h r u n g zuführen.

So

wird a l l e s ,

im

was Othello erfährt, von ihm automatisch

Sinne seiner Eifersucht gedeutet, eingeordnet, bewertet.

D i e Uberfugung Aus der übermäßigen Fugung mit reicher Phantasie' rekrutieren sich nicht wenige Systembildner der Philosophie, Geschichtsschreiber und große Staatenlenker.

große

Ist nämlich

die

Phantasie so groß wie der Mensch, dann zeigt sie die N e i g u n g , nach allen Seiten hin durchzubrechen und die einseitige K r e b s wucherung des Psychoms zu unterbinden. Diese Neigung ist e t w a

Die

Uberfugurtg

35

bei Hegel, bei Leibniz, bei Nietzsche unverkennbar. Das ganze, große, reiche Leben wird in die zwar vorgefaßten Systemgedanken aufgesogen, zwingt nun aber seinerseits, den ursprünglich allzu engen Rahmen des ursprünglichen Systemgedankens zu erweitern. Zum gleichen Universalismus drängt die Zweitseele der großen Staatenlenker, etwa Alexanders, Theoderichs, Karls, Peters, die mit der wachsenden Fülle der angegliederten Völker, der neuen Aufgaben und Zukunftsmöglichkeiten auch die ursprüngliche Zweitseele erweitern mußten. So kommt es, daß die universalen Denker und Völkerbeherrscher zu ihrer Zeit mißverstanden werden, weil vieles von dem, was sie denken, was sie tun, der bekämpften Gegenseite recht zu geben scheint. Die Zeitgenossen verstehen es nicht, weil es nicht in i h r Fugungssystem paßt. Für sie ist das Hineinlassen von Gründen, Anschauungen, Begriffen in das bereitgehaltene Syntagma ein ganz ausreichender Rechtsgrund, sie nun auch zu glauben. Sie begreifen nicht, daß der Denker, Historiker, Richter, schöpferische Staatsmann ein reicheres Syntagma besitzt, dessen Inhalt seine formale Struktur zu sprengen droht, ein Syntagma, das Entgegengesetztes umfaßt und gelten läßt. Das ist das V e r hältnis der Syntagmen von C a t o und Brutus zu dem, Orient und Okzident verknüpfenden, Syntagma von Cäsar gewesen. J a , in deren Sinne hat der überragende Geist überhaupt kein Syntagma. Denn der weltumspannende, lebenumfassende Geist ist schwer zu durchschauen und darum den andern ein Ärgernis. Bei diesen, also nicht bei den Unausgesprochenen und Indifferenten, sondern den Vertretern der Uberfugung, durchaus noch nicht Fanatikern, hat man nach kurzer Unterhaltung sehr bald die „Strippe" in der Hand, an der ihre Urteils- und Begriffsbildung abläuft (ihr syntagmatisches Gesetz), oder ihre syntagmatische Gleichung, bei den andern dagegen muß man sich viel mehr Mühe geben und Zeit nehmen, weil die reichere und größere Persönlichkeit unter keinen Begriff zu bringen ist.

36

Dauersyntagma und Zweitseele Aufgeschlossenheit und Überfugung Die. A u f g e s c h l o s s e n h e i t

der Seele ist keine I n d i f -

ferenz. Diese ist ein M a n k o , eine Fehlerscheinung, nämlich der Ausfall einer fällig gewordenen Dauerfugung. J e n e aber ist ein Plus, ein reiches Gefüge, ein inneres Beteiligtsein, jedoch verbunden mit keuscher Zurückhaltung im Urteil, mit Diskretion. Diese Reserve, die sich der Mensch aus sittlicher Verpflichtung und logischer K r a f t auferlegt, diese Zurückhaltung des Urteils ist ohne starke Persönlichkeit nicht möglich. Ein gesundes S y n t a g m a wird also nicht wuchern, sondern wird sich (wie ein gesunder N e r v , der sich selber dämpft) bremsen und sich gerade im eignen straffen A u f b a u bewähren, welcher die Suspension des Urteils mit einschließt. D i e ungesund wuchernde Fugung des Fanatikers k a n n dies dagegen nicht, ohne in Indifferenz zu verfallen. An dieser Stelle tritt das Problem des seelischen Niveaus in die Psychologie ein. D e r Mensch von hohem N i v e a u ist niemals indifferent, aber seine Dauerfugung hat einen hohen Ansatzpunkt: nämlich in den P r i n z i p i e n ,

in der W e l t - und Lebensanschauung, in

der Religion. I m andern Falle hätte er etwas vom Nominalisten und Libertinisten oder wäre infantil. Dagegen ist er in den Elementen der Urteilsbildung frei, duldsam, voller M u ß e des D e n kens und unbefangen. E r atmet innerlich tief ein, aber auch tief aus, und beides an der richtigen Stelle. D e r Ausspannung im Grundsätzlichen dort entspricht die Entspannung in allem einzelnen hier, und erhält sich offen für alle Eindrücke. E r w i r d der bunten Fülle des Lebens in ihren tausend kleinen empirischen Tatsächlichkeiten gerecht. Anders die Überfugung derjenigen, welche immer und ausnahmslos syntagmatisch denken. Sie betrachten Kunst und Literatur auf T e n d e n z , Menschen auf Politik oder Sexualität hin. Sie haben immer und stets ein Urteil bei der H a n d und ordnen alles N e u e in die bereitgehaltenen Schubfächer des Begriffs. Sic sind immer in den K r a l l e n des Schopenhauerschen

„Willens",

der sie niemals für Spiel, reine Erkenntnis und

ästhetische

Betrachtung frei gibt. Solche Menschen können sich naturgemäß niemals erneuern, weil ihnen selber — dank des vorgehaltenen

Aufgeschlossenheit

und

Überfugung

37

syntagmatischen Siebes — nichts „Neues" unter der Sonne begegnen kann. Das Kennzeichen der Überfugung ist der „ U n t e r s a t z " im logischen Bau ihrer Gedanken. Sie denken und reden nur in Untersätzen, d. h. in ausgesprochenen „Schlüssen". Denn Untersätze kommen notwendig von Obersätzen und führen stets zu Schlußsätzen hin. Sie stehen also nicht für sich, als etwas, das auch für sich Sinn hätte. Niemals bedeutet daher ein Gedanke, ein Satz des übertriebenen Syntagmas etwas in sich Giltiges, Zweckfreies. Immer ist er eingeordnet, eingespannt in das Netz eines Syntagmas. Immer hat er — in diesem Koordinatensystem — einen S t e l l e n w e r t . In der Überfugung denkt der Mensch vielleicht Gedanken ohne Absicht, aber keinen ohne Stellenwert. Ein unbefangenes Gespräch schöner Geselligkeit ist für ihn entweder „leer" — denn ein solches hat das Kennzeichen, daß in ihm Untersätze fehlen oder eine nur gelegentliche, untergeordnete Rolle spielen — , oder es ist für ihn unmöglich. M i t Vertretern der Überfugung ist darum unbeschränkt ihrer beruflichen Tüchtigkeit keine bildende Unterhaltung möglich, weil alles, was man ihnen sagt, fugungsmäßig gedeutet, d. h. auf seinen dialektischen Stellenwert geprüft und eingeordnet wird („was will er damit sagen?"). Es fehlt die seelische Unbefangenheit und Frische, die zum Menschsein gehört (Schiller). Der Mensch mit seelischem Niveau dagegen hat zwei Möglichkeiten der Entlastung vor der biologisch unerläßlichen Dauerfugung: die erkenntnismäßige Haltung, die in der vorurteilslosen Prüfung aller Einzelheiten und im Suspendieren des Urteils für die Dauer dieser Prüfung besteht, und zweitens die ästhetische Haltung, die schöne Besinnlichkeit, welche die Fähigkeit zur „Muße" einschließt, ohne die nach Nietzsche Vollmenschentum unmöglich ist. Eine Folge dieser Erkenntnis ist, daß man k e i n e V e r • t r e t e r v o n U b e r f u g u n g e n zu Verhandlung e n schickt, weil sie sich nachweislich nicht in fremdes Seelengefüge hineinfinden. Der Mangel an dieser Einsicht ist der T o d des Parlamentarismus. W o jeder nur noch pro domo spricht, grundsätzlich darauf eingestellt ist, sich durch keine Gegengründe überzeugen zu lassen und daher gar nicht erst zuzuhören

38

Dauersyntagma

und

Zweitseele

und das eigene Vorstellungsgehäuse korrigieren und bereichern zu lassen, da wird wirkliche Beratung zum Ding der Unmöglichkeit. I n welch erschreckendem Maße selbst Denker von Fach außerstande sind, ihre Fallwelten, ihre Syntagmenbildung zu regulieren und zu kontrollieren, zeigen jene Ausführungen in den „Jahresringen" des Psychiaters A l f r e d E. H o d i e (München 1939 S. 135), die sich auf die Streitereien des Straßburger Pathologen v. Reddinghausen und seines damaligen Assistenten Aschoff mit den klinischen Direktoren einerseits, den Vertretern der Psychiatrie und Neurologie anderseits bezogen. M a n sollte diese Kompromißlosigkeit in nachgeordneten Dingen wie Überlassung anatomischen Materials, Zuständigkeitsfragen, wer sezieren dürfe, nicht als bloße „Schrullen" eines sonst vornehm gesinnten, „knorrigen", unbequemen Westfalen entschuldigen oder gar beschönigen. Es ist in Wirklichkeit ein Mangel an Intelligenz und Selbstzucht. Der wirklich vornehme Mensch läßt sich zu Kompromissen nicht bloß überreden. E r sucht sie von sich aus. I h m ist nicht wohl, wenn Vertreter anderer, ebenso berechtigter Interessen an die W a n d gedrückt werden. M a n gebe diesen Männern Waffen in die H ä n d e , und sie entfesseln einen Krieg aus innerer Unfreiheit. Von Staatsmännern auch solcher Charakterstruktur und syntagmatisdier T y p i k werden nun aber die Völker regiert. W ä r e es nicht an der Zeit, sich auch um diese Dinge dort zu kümmern, wo mehr auf dem Spiele steht als die anatomische Frische von H i r n - und Rückenmark und andern Leichenteilen zu Forschungszwedcen? Die wichtigen Folgerungen f ü r die Soziologie der magnetoiden Vorstellungsfugung, namentlich f ü r die Wissenschaft von der Verhandlungsf ü h r u n g und der Verständigung gehören nicht mehr in den Rahmen dieser Arbeit. Das Wichtigste darüber steht in „Verständigung als philos. Problem" S. 130 ff.

Die „determinierende Tendenz". U m die von der Dauerfugung ausgehende Vorausbestimmung unseres jeweiligen Denkens zu verstehen, müssen wir an Achs Forderungen über die Willenshandlung anknüpfen. N a r z i ß A c h hat vor mehr als 30 Jahren in Königsberg fundamentale experimentelle Feststellungen zu einer Sonderart der seelischen Determination gemacht, nämlich der Willenshandlung, d. h. der willkürlichen Selbstdetermination ( N . Ach, Über die Willenstätigkeit und das Denken. Göttingen 1905). Schon

Die »determinierende

Tendenz"

39

vor Ach hatten G. E. Müller und Pilzecker den experimentellen Nachweis geführt, daß im menschlichen Vorstellungsverlauf außer den Assoziationen und ihren Reproduktionstendenzen noch ein anderer determinierender Faktor am Werke sei. Würde das nicht der Fall sein, wären nur Assoziationen und ihre Erneuerungen nachweisbar, so würde dies bedeuten, daß das menschliche Vorstellungsleben letztlich das reine Ergebnis einer länger zurückliegenden Vergangenheit sei, auf der auch die jüngere und jüngste Vergangenheit erst sekundär aufsitze oder fuße, um im jeweiligen Augenblick die „Gegenwart" zu gebären. Allein so ist es beim Menschen nicht. Schon in jeder „jüngsten Vergangenheit" des gesunden Seelenlebens steckt ein primärer Impuls, der nicht aus noch weiter zurückliegender Vergangenheit ableitbar ist, sondern der spontan einsetzt und als Perseveration der Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit in die jeweilige Gegenwart hineinragt und nachwirkt. Ein Beispiel für Perseverationen überhaupt ist das perseverierende Nachklingen von Worten und Wendungen im schriftlichen und mündlichen Stil, so daß dieser unter den allen bekannten lästigen Wiederholungen von Silben, Wortformen oder auch nur Gleichklängen leidet. Ein anderes Beispiel ist der Endreim, dessen Wirkung unmöglich wäre, wenn es keine Perseveration gäbe. „Gedächtnis" ist etwas anderes. Narziß Ach aber ging noch viel weiter. Er fand, daß solche „determinierenden Tendenzen" nicht nur im Vorstellungsverlauf wirksam sind, sondern namentlich die Grundlage f ü r die W i 1 l e n ' s H a n d l u n g e n darstellen. Unter diesen nun versteht er solche Wirkungen, die von einem eigenartigen Vorstellungsinhalt der Zielvorstellung ausgehen und eine Determinierung gemäß der Bedeutung dieser Zielvorstellung nach sich ziehen. Er wies die Existenz solcher determinierender Tendenzen vor allem einwandfrei in den heute allbekannten posthypnotischen Suggestionswirkungen nach. Wohl werden durch den gleichen Reiz ganz verschiedene Vorstellungen reproduziert, aber es wird im einzelnen Falle nur jene Vorstellung überwertig, die dem Sinn des Impulses d. h. der „Absicht" des frei Wollenden oder — das bleibt sich für den seelischen Mechanismus gleich — des Hypnotiseurs entspricht. Durch die von den determinierenden

40

Dauersyntagma

und Zweitseele

Tendenzen ausgehenden Nachwirkungen aber wird nach Ach der geordnete und zielbewußte Ablauf des geistigen Geschehens bestimmt.

Die vorausbestimmte Auffassung. N . Ach hat aber auch schon gesehen, daß genau wie in der posthypnotischen Befehlsausführung die G e n e s e des bewußten Endergebnisses (der Willenshandlung) selber u n b e w u ß t ist. Das ist außerordentlich wichtig. Wohl ist ein gewisser „D r a n g " vorhanden, den die Versuchspersonen als „Erwartung", als „Wissensinhalt" u. dgl. kennzeichnen. Aber weder ist das, worauf es doch einzig ankommt, nämlich der I n h a l t des Befehls bzw. der Absicht, bewußt, noch sind irgendwelche entv sprechenden Empfindungen sichtbarer, hörbarer, kinästhetischer Art oder aber Erinnerungsbilder von all dem nachweisbar, sondern der Inhalt zeigt keinerlei anschauliche (phänomenologische) Bestandteile. N u r d e r „D r a n g " ist in Form von Empfindungen als anschauliche Bewußtseinsrepräsentation eines unanschaulich gegebenen Wissensinhaltes gegeben. So wird durch die von den determinierenden Tendenzen d. h. — so sagen wir, nicht Ach — vom I m p u l s ausgehenden Nachwirkungen der geordnete und zielbewußte Ablauf des geistigen Geschehens bestimmt. Wichtig ist nun, daß schon nach N . Ach die determinierenden Tendenzen über diesen zielbewußten Ablauf hinaus auai die Bildung n e u e r assoziativer Verbindungen und die Bildung n e u e r Zusammenhänge ä l t e r e r Vorstellungselemente ermöglichen. Dies aber grenzt schon hart an die (nicht mehr von bewußter Absicht, sondern von unbewußten Impulsen, nämlich vom Interesse, vom Druck des Milieus, von der Zeitgeistrichtung durch „Übertragung" gestaltete) Dauerfugung der ZWeitseele. Es kommt jetzt zu einer „ d e t e r m i n i e r e n d e n A p p e r z e p t i o n " d. h. vorausbestimmten Auffassung, die einer vorausgehenden Determination auf Grund von deren Nachwirkung entspricht. Diese gehen ausdrücklich im Unbewußten vor sich. Denn wir wissen weder in bezug auf den bewußten Wil-

Abweichung der Dauerfugung

von der

Willenshandlung

41

lensakt noch auf die posthypnotischen Suggestivhandlungen, wie sie arbeiten. Solche vom Unbewußten determinierte Apperzeption sind auch die „passiven Apperzeptionen" Wundts. Solche sind aber auch die von Bender neuerdings untersuchten Sinnzusammenhänge, die z. B. beim sog. Kristallsehen aus dem Unbewußten aufsteigen.

Abweichung der Dauerfugung von der Willenshandlung Von grundlegender Bedeutung für den Unterschied der von N . Ach behandelten W i l l e n serscheinungen zu den von uns hier untersuchten Fugungs-Phänomenen der Determination ist die von Ach eigens betonte B e w u ß t h e i t d e r D e t e r minierung s e l b s t (zum Unterschied vom Willensi n h a 11). Sie ist nach seinen Worten die eigentümliche Bewußtheit der Wirksamkeit von determinierenden Tendenzen. Das Individuum hat das deutliche, wenn auch unanschauliche Erlebnis, ob im gegebenen Falle ein vorliegendes psychisches Geschehen „im Sinne einer früher gestifteten Determinierung vor sich geht oder nicht". Einen solchen, auf die Wirksamkeit von früheren determinierenden Tendenzen zurückzuführenden Ablauf geistiger Prozesse bezeichnet N . Ach als eine „gewollte" H a n d lung; denn sie geht mit dem „ E i n v e r s t ä n d n i s " des Subjekts vor sich. Auf Grund des Vorhandenseins oder Fehlens dieser unanschaulichen „Bewußtheit des Einverständnisses" ist das Subjekt also in die Lage versetzt, jeweils angeben zu können, ob die geschehene Handlung „gewollt" war oder nicht, allgemeiner: ob es sich um ein unter einer „Determinierung" stehendes Geschehen handelt oder um kein solches, sondern um einen bloßen Reflex. An dieser Stelle ist eine Lücke, die unsere Untersuchung über die Syntagmen schließen will. E s g i b t tatsächlich e c h t e D e t e r m i n a t i o n e n o h n e diese „Bewußth e i t e i n e r T e n d e n z " , ohne dieses Bewußtsein des „Suchens", des „Dranges", wenn auch vielleicht mit der nebenher laufenden Bewußtheit des schlichten (nicht ausdrücklichen)

42

Dauerjyntagma und Zweitseele

„Einverständnisses", das gleichsam geschenkt, niemals „gesucht" ist; u n d

dies

eben

sind

d i e S y n t a g m e n . Alles also,

was mit W i l l e n und H a n d l u n g zusammenhängt, fällt noch unter die Ach'sche Beschreibung der unanschaulich bewußten Determination. Erst w o er von

„Suggestion" spricht, beginnt

die

von uns gezogene Grenze, w o jene Determinationen beginnen, die in der Regel absolut unbewußt d. h. nicht nur der Genese (dem „ W i e " ) , sondern auch der Tatsache des Determiniertseins (dem „ D a ß " ) nach unbewußt ablaufen. W i r müssen hier die determinierten W i l l e n s handlungen von den gleichfalls determinierten d. h. suggerierten V o r s t e l l u n g s abläufen genau unterscheiden. Zu jenen gehören durchaus noch die posthypnotischen Befehlsausführungen: sie fallen daher unter die Ach'sche Beschreibung. Dagegen rollen die von einem Impuls gleich welcher unbewußt determinierten fugungsmäßigen

auch während des ganzen Prozesses o h n e einer T e n d e n z ab. D i e s tig!

ist

Art

Vorstellungsabläufe jene Bewußtheit

außerordentlich

wich-

Es findet also nicht b l o ß wie bei der posthypnotischen

Befehlsausführung eine Täuschung in der

Lokalisierung

der dort deutlich gespürten Determination

statt (diese wird

bekanntlich in die eigene statt in die hypnotisierende fremde Person verlegt), sondern es wird überhaupt keine Determination empfunden. D a s Problem der Lokalisierung (in die eigene oder in eine fremde Person) k a n n hier also gar nicht entstehen, weil die Voraussetzungen dafür fehlen. Wohl

finden

bei Suggestion und H y p n o s e

lokalisierende

Projektionen des „ K o m m a n d o s " statt, also eine A r t Parallele zur lokalisierenden P r o j e k t i o n des Schalles in den sichtbaren R a u m . Beidemal ist diese P r o j e k t i o n als Genese unbewußt, als Ergebnis bewußt. D e r genannte „ D r a n g " der „Bewußtheit einer T e n d e n z " tritt also immer zugleich als Lokalisierung auf, bei reinen Suggestionen als eigensubjektige, bei nichthypnotischen Befehlsausführungen als fremdsubjektige Einordnung des I m pulses. D o r t glaubt die Person, der Impuls gehe von ihr selber, hier dagegen, er gehe von einer andern Person aus. Alles

das

fehlt

im

S y n t a g m a . Weil Bewußtheit

einer T e n d e n z und Lokalisierung dieser T e n d e n z in einem von

Folgenschwere

Konsequenzen

43

irgendwoher ausgehenden Impuls zusammengehören, ist dort b e i d e s vorhanden, fällt hier b e i d e s aus. Denn in bezug auf das Syntagma gibt es nicht nur kein Bewußtsein von der A r t der Genese (das fehlte in der Willenshandlung ja auch schon), sondern auch kein Bewußtsein von der T a t s a c h e der Geneue (dem Drang) und also erst recht von dem Woher ihres Impulses. W i 11 e n s h a n d 1 u n g Impuls

Genese der Auswirkung (unbewußt) Auswirkung als Drang (bewußt) I t Lokalisierung (bewußt)

I

Ergebnis (bewußt)

Syntagma Impuls

Genese der Auswirkung (unbewußt) Auswirkung (unbewußt) keine Lokalisierung

Ergebnis (bewußt)

Vergleicht man also beide Arten von Vorgängen links und rechts, dann springt der viel stärkere Unbewußtheitscharakter des Syntagmas in die Augen. Zwar ist die konstituierende Kausalkette beim Willens- wie beim Fugungs-Vorgang gleich. Denn die Bewußtseinserscheinungen des „Drangs" und der „Lokalisierung des Dranges" kausieren ja nicht; sie laufen leer. Auch ohne sie würde die in jedem Falle unbewußte Genese schließlich doch zum bewußten Endergebnis führen. Folgenschwere Konsequenzen Der syntagmatisch, zweitseelisch Denkende glaubt also an die Nichtvorausbestimmtheit d. h. den persönlichen Charakter, die Selbststeuerung seines Denkens. Er weiß nicht, daß dies Denken anonym gesteuert, daß es von einer Instanz, die er nicht kennt, determiniert ist.

44

Dauersyntagma

und

Zweitseele

Diese Selbsttäuschung, diese Aktivitätstäuschung ist das zweite hochdramatische Moment in der Tragödie der menschlichen Geschichte (das erste tragische Moment war die Tatsache der Zweitseele überhaupt). W i r sehen unsere Unterhändler, Parlamentarier, Parteiführer mit der ernstesten Miene von der Welt vor ihren Verhandlungspartnern, Parteifreunden, Versammlungsauditorien Ideen, Gedankengänge, Uberzeugungen entwickeln, die sie in gutem Glauben als ihre eigenen, selbstverantworteten (wie es ehrlicherweise erfordert wird) entwickeln. Und doch ist alles unwahr, die Gedankengänge sind fremdgesteuert, die Überzeugungen sind (unfreiwilliger) Schwindel. Die andern sahen das Unwahre, wissen nichts von Psychologie und glauben an Böswilligkeit, der Verdacht wirkt auf den Gegner zurück, der seinerseits verdächtigt. Es kommt zu Beschuldigungen, Verhandlungsabbrüchen, Krieg. Doch sind heute b e i d e Parteien nicht mehr so unschuldig wie früher. Es gibt heute eine Psychologie von diesen Dingen, und es gibt Politiker, die sich vor der Psychologie fürchten. Sie haben auch allen Grund dazu! Eine Parallele zu der Schuldfrage ist die Schuld an Taten in der Trunkenheit. Nicht die Taten sind strafbar, sondern der fahrlässige Mißbrauch der Rauschgifte. Genau so ist es in der modernen Politik. W i r dürfen die bona fide handelnden Staatsmänner nicht f ü r die zum Kriege führenden einzelnen Handlungen verantwortlich machen, wohl aber der fahrlässigen Nichtachtung psychologischer Einsichten, die heute jeder gewinnen kann. Denn sie alle müssen sich selber sagen, daß es kein Zufall ist, daß die Ergebnisse, zu denen sie kommen, immer genau zugunsten d e s Volkes, d e r Klasse, d e r Partei sprechen, der sie angehören.

Die Doppeltäuschung der Dauerfugung W i r unterscheiden nunmehr dem Impuls nach dreierlei determinierende Tendenzen: 1. Das eigenpersönliche Kommando. Hier herrscht volle Be-

Die Doppeltäuschung

der Dauerfugung

45

wußtheit der determinierenden Tendenz (die normale Willenshandlung als Initiativhandlung). 2. Das fremdpersönliche Kommando auf wachsuggestivem oder posthypnotischem Wege. Hier ist die determinierende Tendenz als solche bewußt, wenn auch nicht immer ihr Woher. Der Befehl geht hier, wenn selbst von der „eigenen Person", ¿o doch in solchem Falle von einer entfremdeten, weil längst vergangenen „eigenen Person" aus. Hierher gehören alle Befehle, die man sich f ü r einen späteren Zeitpunkt selber gibt, so daß nachher keine Initiativhandlung zustande kommen kann und soll, also nicht nur solche Phänomene wie die „Kopfuhr", sondern jeder medianisch wirkende „Vorsatz". 3. Das unpersönliche Kommando. Hier liegt kein Bewußtsein einer determinierenden Tendenz vor. W i r kennen also auch das Woher nicht. Die Wirkung aber ist die gleiche wie im Falle 2. Sie erstreckt sich sowohl auf Handlungen wie auf Syntagmen. Die Handlungen sind physiologischer und biologischer N a t u r , nämlich I n s t i n k t h a n d l u n g e n (der hypnotischen und mediumistischen Handlung verwandt), d i e Syntagmen sind häufig sozialer und geschichtlichm i l i e u h a f t e r A r t . Dort geht der Impuls von der N a t u r , der Gattung, hier vom „Zeitgeist", „Volksgeist", der „Masse" oder wie man es nennen will, aus. In erregten Zeiten (Krieg, Revolution, religiöse Erregung) ist der apersönliche Befehl mit Händen greifbar. Hier stellt sich ein anderes Problem, das der „Ü b e r t r a g u n g", z. B. schon die einer kollektiven Euphorie in einer festlichen Versammlung. Aber auch die so persönlich scheinenden zwanghaften Wahne und Einbildungen (Querulanten-, Verfolgungs-, Beziehungswahn) gehen mit persönlichen Syntagmen einher, deren Impulse selber nicht persönlich sind. Überall hier beim unpersönlichen Kommando ist ein „Kommandierender" vorhanden. Aber nicht nur dieser ist dem Kommandierten unbekannt, sondern überdies noch die Tatsache des Kommandos selbst. Darum kann wohl der Kommandierende als etwas anderes, aber nicht a 1 s Kommandierender bekannt sein. Dies ist wegen der von N . Ach so genannten „Bewußtheit des Einverständnisses" wichtig. Nämlich: das vom Zeitgeist, Massengeist ausgehende Kommando zu einer H a n d l u n g wirkt auf

46

Dauersyntagma

und

Zweitseele

das ihm ausgelieferte Individuum gleich einer Hypnose. Alle Erscheinungen einer solchen, das nicht eigenpersönliche Kommando, die Spannung des „Dranges" nach einer Richtung („Bewußtsein einer Tendenz") und der irrige Glaube, daß diese Spannung auf ein eigenpersönliches Kommando zurückgehe, sind vorhanden. D a s K o m m a n d o zu e i n e r F u g u n g d a g e g e n zeigt w e d e r jene S p a n n u n g noch dies Bew u ß t s e i n e i n e r T e n d e n z . Gleichwohl ist das Kommando real vorhanden, daher gleicht auch seine Auswirkung einem hypnotischen Befehl, aber mit dieser starken Abweichung: der „kommandierende" Zeitgeist oder dgl. ist zwar ebenso bekannt wie das eigene Ich oder fremde Personen, aber sie alle können niemals a 1 s kommandierende Instanzen bekannt sein. Das ist der Unterschied! Das Individuum kann also bei Erfüllung des „Befehls" — hier also zur Gestaltung eines Syntagmas — niemals das B e w u ß t s e i n eines Befehls oder einer Erfüllung haben, sondern nur das eines „Einverständnisses" (wie Ach es nennt) ohne Befehl, und auch dieses n u r , w e n n und w o es auf die Ubereinstimmung mit dem Zeitgeist usw. überhaupt achtet (daß kein Bewußtsein einer Vorausbestimmung, sondern höchstens das eines Einverständnisses vorliegt). Die Dauerfugung hat also der posthypnotischen Befehlsausführung gegenüber eine Selbsttäuschung mehr: nicht nur das persönliche Moment ist ein Irrtum, sondern auch die Tendenzlosigkeit (der Wollende wie der posthypnotisch Handelnde wissen wenigstens von Spannung und Drang). Das Verstehen "Wir sind hiermit bei dem wichtigen Problem des „ V e r s t e h e n s" angekommen, und es erhebt sich die Frage: handelt es sich beim Zustandekommen von Dauerfugungen geschichtlicher, kollektiver Art überhaupt um V e r s t e h b a r e s , wie von geistes- und geschichtswissenschaftlicher Seite behauptet wird? Zum Verstehen wird erfordert:

Das

Verstehen

47

1. Auf Seiten des Verstehenden Unmittelbarkeit der Einsicht aus Erkenntnis oder Liebe („durch Mitleid wissend") von Subjekt zu Subjekt, von Mensch zu Mensch ohne Umweg über ein N e t z von Kategorien, Ideen, Werten, die j a auch erst wieder „verstanden" werden müßten! 2. Auf Seiten des zu Verstehenden: es muß sich tatsächlich um ein echtes Subjekt, um eine Persönlichkeit, Seele handeln. Ein bloßes O b j e k t , eine Sache kann nicht selbst, sondern immer und ausnahmslos nur als „gemeint" aus dem Sinne einer Persönlichkeit, auf die der Verstehensakt letztlich allein zielt, verstanden werden (zum Unterschied vom naturwissenschaftlichen Erklären und Begreifen, wo wir keine Einsicht in innere Gründe, d. h. keine Erkenntnisgründe oder Wertgründe verlangen, sondern uns mit äußeren Gründen d. h. Realgründen, Ursachen und Gesetzen begnügen). Denn „Sinn" (Grund, Uberzeugung, W e r t ) gibt es nur dort, wo ein Subjekt, eine Seele, Persönlichkeit vorliegt, und sonst nicht. Letztlich kann nur eine Persönlichkeit, niemals eine Sache verstanden werden. 3. Auf beiden Seiten: Wissen um tatsächliche Freiheit der Entscheidung, Wertung, Überzeugung und Gestaltung. Unfreies kann nicht „verstanden" werden. Die Antwort auf die Frage, ob kollektive d. h. geschichtliche Dauerfugungen (der „objektive Geist") „verstanden" werden können, muß nach all dem lauten: Nein. Sie sind nur herleitbar, erklärbar, begreiflich. Denn es sind bei ihnen wohl determinierende Tendenzen, aber nicht eigener, sondern fremder Provenienz am Werke, die wesentlich am Zustandekommen der Fugungen beteiligt sind, die aber vom Verstehenden einkalkuliert werden müßten und die er doch nicht verstehend, sondern nur erklärend in Betracht ziehen darf, weil das zu verstehende Subjekt von diesen fremdgesteuerten determinierenden T e n denzen nichts weiß und nichts wissen darf. Auch einen Hypnotisierten kann niemand „verstehen", sondern höchstens denjenigen, d e r ihn hypnotisiert hat und nun sein Handeln verantwortet, das der Hypnotisierte selber nicht verantworten kann! Entsprechend ist es mit der geschichtlichen Dauerfugung. Diese bietet (1) keine Anhaltspunkte für eine „Einsicht" in das zu verstehende Subjekt, weil die determinierenden Ursachen nicht

48

Dauersyntagma und Zweitseele

„ G r ü n d e " der zu verstehenden Persönlichkeit sind. Es hat ( 2 ) nur kollektive Ursprünge, die auf persönliche, im Sinne eines Subjekts (hier also eines hypothetischen Geschichts- oder W e l t geistes) zurückführbar sein müßten, um verstanden werden zu können.

Es hat (3) wegen fremdgesteuerter

Determiniertheit

keine Freiheit der Oberzeugung, Wertung, Entscheidung und Gestaltung. D a m i t ist die A n t w o r t gegeben. Es kann sich also bei den geschichtlichen u. a. kollektiven, also fremdgesteuerten Syntagmen entweder nur um ein „Scheinverstehen" (Poppelreuter) oder um ein E r k l ä r e n aus Realgründen handeln. Denn alle hypnotischen oder — wie die fremdübertragenen Syntagmen —

hypnoiden

Zustände und Handlungen sind sehr realer und nicht ideeller N a t u r . Dies trifft auch für den Zeitgeist, Geschichtsgeist, „objektiven G e i s t " zu. Es ist dies das Einiggehen des Menschen mit dem impulsgebenden kollektiven Unbewußten, es ist aber kein wirkliches, einsichtiges Sicheinswissen aus Gründen der Erkenntnis und eigener W e r t u n g , also nicht ideell erworben, sondern reell „übertragen", mithin, obwohl erklärbar, doch nicht verstehbar. Verstehbar wäre in diesem Falle nur der das kollektive U n b e w u ß t e verantwortende Weltgeist.

Eduard Spranger Die gegenteilige Lehre, es handele sich auch bei subjektiver nahme

am

„objektiven

Geist"



in unserer Sprache:

tragenen Dauerfugungen unpersönlicher H e r k u n f t — stehbares, hat a m ausführlichsten und gründlichsten

an

Anteil-

fremdüber-

u m wirklich V e r -

E d u a r d S p r a n g e r

behandelt und bejaht. F ü r Spranger ist das höchste Verstehen kein direktes Verstehen v o n Mensch zu Mensch, sondern nur ein mittelbares Verstehen a u f dem U m wege

über

die „allgemeinen Strukturgesetzlichkeiten"

des

„objektiven

Geistes" als eines D r i t t e n und Höheren über den beiden Menschen ( b z w . Mensch und

Sache),

die verstehen und

verstanden

werden

sollen,

als

eines „ M e d i u m s " . In erster Linie also werden Kultursysteme, d. h. K o l lektiva, N e u t r a , Sachen e r f a ß t und der Mensch nur als Schnittpunkt dieser rationalen Linien, dieses überpersönlichen Reiches des Sinnes, des Geistes als gemeinsamen Mediums aller Subjekte. verstanden:

Staat,

Religion, Wissenschaft, Recht, 'Wirtschaft, aber auch Maschinen,

Danach w e r d e n also in erster Linie

Sachen

Musik

Eduard

Spranger

49

(ohne Rekursion auf den Techniker, auf den Komponisten), dann auch Personen. Und persönliches Verstehen ist für Spranger ein besonderes Verstehen neben anderem, nicht d a s Verstehen schlechtweg. Dies Verstehen geschieht nicht direkt, sondern wird vermittelt durch einen „festen Kern ewiger Sinngebilde', die als ein Netz oder Koordinatensystem aus Zusammenhängen der Werte und des Sinnes, als ein apriorisches, kategoriales Gerüst des Verstehens über allem Verstehbaren ausgespannt sind. Verstehen wird damit zur (angewandten) Wissenschaft, insbesondere zur Psychologie, mit deren Hilfe der verstehende Wissenschaftler den andern Menschen sogar besser verstehen kann, als dieser sich selbst versteht, da ja der Psychologe viel mehr weiß und der Historiker (im übergreifenden und produktiven Verstehen) viel mehr Zusammenhänge ideeller und realer Art überschaut als der zu Verstehende selber. Immer also wird hier (im produktiven Verstehen) das einzelseelische Leben von objektiven umgreifenden Sinnzusammenhängen her gegliedert und aufgebaut. So kommt es zum Begriff des „übergreifenden Verstehens". Denn das wirkliche Verstehen hat es mit höchst verwickelten Seelenstrukturen zu tun und ist daher extrem psychologisch. ( D a ß der „objektive Geist" als ein Mittleres vom zeitlos idealen Geist strfeng unterschieden wird, sei hier nur nebenbei angedeutet.) Als Ergebnis, mit dem Spranger nicht allein dasteht, sondern den ganzen klassischen deutschen Idealismus auf seiner Seite hat, springt dann die Einsicht heraus: der Geist kommt verstehend zu sich selbst, indem er seine eigene Gesetzlichkeit erfaßt. I m Verstehen wird „die Differenzierung in der Totalstruktur des geistigen Lebens zum Bewußtsein erhoben". Darum gipfeln die Höchstleistungen des geschichtlichen Verstehens nach Spranger in der kulturpsychologischen Besinnung, in der Geschichtsbesinnung und in der normativen Wertbesinnung. Das geschichtliche Verstehen ist nichts anderes als das Selbstverständnis des Geistes. Diese Verstehens-Theorie ist die durchgearbeitetste und geistigste, die wir kennen. Sie läßt aber nach einer andern Richtung unbefriedigt. Sie geht, wie wir glauben, am U r p h ä n o m e n des Verstehens vorbei. Denn das Urphänomen kann nicht erfaßt werden, ohne unserer obigen Forderung 2 zu genügen, wonach alles Verstehen S i n n - Verstehen ist — das ist es auch bei Graf Keyserling — , eben darum aber (und dies geht weit über Keyserlings Formulierungen hinaus) immer nur p e r s o n a l e s Verstehen sein kann, weil „Sinn" anders als persönlicher Sinn oder Sinn eines Subjekts ein widerspruchsvoller Begriff ist („Sinn" von „sinnen"') Diese Subjekthaftigkeit oder Gemeintheit gehört zum Begriff des Sinns — schon seiner bloßen Definition nach! — und damit auch zum Urphänomen des Verstehens als Sinn-Verstehens. W i r können beispielsweise den Sinn einer Maschine nur verstehen aus dem gemeinten, persönlichen Sinne ihres Konstrukteurs. Anders niemals! W i r können also einen Menschen unmöglich aus seinen fremdübertragenen Dauersyntagmen geschichtlicher Herkunft verstehen. Diese Dauersyntagmen sind ja gerade das Unpersönliche, nicht Verstehbare, obwohl 4 Feldkeller,

Das unpersönliche Denken

50

Dauer syntagma

und

Zweitseele

gut Erklärbare und Begreifliche, an ihm. Diese fremdübertragenen Syntagmen des „objektiven Geistes" werden ja vom Menschen selber gar nicht „gemeint", nicht „verantwortet". Er würde zu anderer Zeit, in anderm Land, in andern Lebensumständen ganz andere Syntagmen herausbilden! Er kann also aus ihnen unmöglich verstanden werden, weil Verstehen auf „Eigenes" geht und diese fremdübertragenen

Kollektiv-Syntagmen

so wenig Eigenes darstellen wie die hypnotischen Suggestionsinhalte. D a m i t aber kommen wir auf d.en schwersten Einwand. H ä t t e Spranger recht, dann wäre der Wissenschaftler, gar der Psychologe, der beste Versteher, nicht bloß Erklärer und Erläuterer. Dann wäre alles Verstehen tatsächlich extrem psychologisch. Das Gegenteil ist der Fall! Nicht nur in der Medizin gilt dies. Unsere weisesten Psychiater wissen es: wer seine Kranken wirklich verstehen will, wo es noch einen Rest an ihnen zu verstehen gibt, der schickt seine Wissenschaft schlafen und stellt sich m e n s c h l i c h ein. D a n n gewinnt er das Vertrauen des Kranken. Diese Einsicht gilt aber erst recht in der Geschichte und im Leben. Wie man an einem Genie vorbei „versteht", d a f ü r ist die philiströse Beurteilung des Sokrates durch Hegel ein Beispiel. Spranger nennt als Ideal des Verstehens die kunstvolle, Seelen- und gesdiichtskundige Analyse des Sokrates bei Heinrich Maier („Sokrates" 1920). Heinrich Maier w a r ein außerordentlich tüchtiger Gelehrter und Geisteshistoriker. Aber als Versteher eines Sokrates oder, sagen wir, eines Jesus wünschen wir uns keinen Gelehrten, und wäre es der kenntnisreichste, sondern eine Maria von Magdala! Das höchste Verstehen kann nicht, wie Spranger will, „aus dem Sinn f ü r das Gesetzliche" hervorgehen. Die Probe aufs Exempel ist längst gemacht worden. Albert Schweitzer, der gelehrte Kronzeuge und Biograph Jesu, i s t Historiker. Aber, um einen Jesus von N a z a r e t h zu verstehen, hörte er auf, es zu sein, legte seine Forschung und Wissenschaft zur Seite, ging hin zu den Ärmsten nach A f r i k a und — tat desgleichen. Das umgreifende kollektive Dauersyntagma gehört niemals zum Verstehens-Bestand, weil es niemals „gemeint" ist. Wer daher einen Menschen auf dem Umwege über seine fremdübertragenen geschichtlichen Syntagmen (den „objektiven Geist") verstehen will, handelt so sinnwidrig und u n zweckmäßig wie einer, der aus T r ä u m e n und Fehlhandlungen den Menschen nicht bloß erklären und begreifen, rekonstruieren, sondern verstehen will. Denn auch die T r a u m d e u t u n g ist wohl sinnhaft, aber nicht aus dem gemeinten Sinne des Menschen heraus vollziehbar. E d . Sprangers Verstehens-Lehre ist niedergelegt in: Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie (Festschrift f ü r Joh. Volkelt, München 1918); Verstehen und Erklären. Thesen von Ed. Spranger (8 t h International Congress of Psychology. Proceedings and papers. Groningen 1927); Die Frage nach der Einheit der Psychologie (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie d. Wiss. X X I V , 1926); Lebensformen, Halle, 3. Aufl. 1922 S. 365—90.

Kein

51

lnitiativ-Syntagma

Kein l n i t i a t i v - S y n t a g m a O b alle fremde, sei es fremdpersönliche, sei es unpersönliche, Determination

nur durch Vermittlung

der

eigenpersönlichen

Determination wirken kann, diese nicht leichte Frage bleibe hier dahingestellt. Uns genüge hier, zu wissen, d a ß der Mensch nicht nur im Handeln,

wie man längst weiß,

sondern auch in der

Fugung zur Marionette werden kann, also auch zur nette —

ob

seines

eigenen

willkürlich

oder

Mario-

I m p u l s e s , den er selber sich unwillkürlich,

ausdrücklich

oder

schlicht — eine Zeit vorher gegeben hat. Auch in diesem Falle wirkt der Impuls als „Fremd"impuls. M a n gibt Impulse „auf V o r r a t " , die irgendwann einmal zur Ausführung drängen. E i n eigenpersönlicher Impuls dagegeh, wenn befolgt, würde j a eine echte

Willenshandlung

bewirken,

die

immer

persönlich

ist.

Solche Handlungen gibt es. Die Willenshandlung ist Initiativhandlung, sie folgt dem eigenen Impulse auf dem Fuße. A b e r bei der Fugung und ihrer Determination liegt es anders als beim Handeln, weil es dort keinen eigenpersönlichen Impuls gibt. H a n d l u n g k a n n

auch auf fremden Impuls oder K o m -

mando zurückgehen (nur ist sie dann keine freie „Willenshandlung), die Fugung m u ß es. Auch w o es sich also nicht um fremdes K o m m a n d o , sondern „eignes" handelt, ist dieses doch kein eigenpersönliches, weil es immer einer früheren Zeit angehört. Dies liegt im Wesen der Fugung, zum Unterschied zur Willenshandlung, die immer Initiativhandlung ist. E s g i b t Initiativ-Fugung,

keine

sondern das S y n t a g m a ist Produkt

einer Übung, steht also nicht am A n f a n g , sondern am Ende einer gewissen Zeitstrecke. Es hängt von der Vergangenheit, von einer einmal gewesenen und zur Zeit der Fugung nicht mehr vorhandenen Initiative ab.

Auch wenn diese Initiative ein „eigener"

Impuls war, so wirkt dieser Impuls doch jetzt nur noch n a c h , d. h. der „eigene" Impuls ist für die Zeit des nunmehrigen Syntagmas kein eigenpersönlicher fremdpersönlicher.

Impuls mehr, sondern

ein

U n d für das Abrollen der Fugung ist der

„eigene" Anstoß jetzt genau so fremd wie ein

fremdpersön-

licher. D e r Impuls ist j a auf V o r r a t gegeben, denn die Entwicklung eines Syntagmas braucht Zeit, dieses ist also niemals von der

4'

52

Daueriyntagma

und

Zweitseele

Gegenwart, niemals von der (persönlichen) Willenshandlung, sondern immer nur von der Vergangenheit abhängig. Das Ergebnis ist, daß wir im syntagmatischen Denken zwar subjektiv, aber nicht eigengesetzlich (autonom) verfahren. Darin liegt das Tragische dieser unserer unentbehrlichsten menschlichen Funktion. W i r können o h n e Syntagmen biologisch nicht auskommen, geschweige Erfolge des Handelns erzielen, begeben uns m i t ihnen und i n ihnen aber eines guten Teils unserer freien Persönlichkeit. W i r werden, ohne es zu wissen (denn das eigene Wissen darüber wäre biologisch schädlich), zu Marionetten unseres zwar eigenen, aber längst vergangenen und daher nicht mehr „eigenen" persönlichen Impulses. Man sieht, die Forderung, jederzeit ein anhebender Mensch zu sein, ist in gewissen lebenswichtigen Punkten unseres geistigen Lebens nicht erfüllbar. W i r kommen nur m i t dieser biologisch unerläßlichen Einrichtung vorwärts, aber nicht o h n e Irrtum und vielleicht auch nicht ohne Schuld. Hier liegt das Urphänomen des aus der Metaphysik des Tragischen wohlbekannten „Sichverstrickens". Der tragische Mensch wird ein Eigner, indem er sich zugleich sich selber entfremdet. Er wird ein Heiliger und gerät in Sünde. Er befördert aus großem, reinem Impuls einen edlen Gedanken und stürzt in den Abgrund. Beispiele sind Thomas Becket, von C . F. Meyer gestaltet, und Michael Kohlhaas. Thomas Becket, vom englischen König Heinrich II. 1157 zum Reichskanzler ernannt, dient treu der Sache des Königs, der ihn mit großen Hoffnungen fünf Jahre später zum Erzbisdiof von Canterbury erhebt und nunmehr einen beispiellosen Umfall an ihm erlebt. Denn mit der Erlangung der Primaswürde ist Becket zum Papisten geworden und treibt eine extrem-kirchliche und antiroyalistische Politik. Fraglos liegt kein charakterloser »Umfall", sondern die Auswechslung eines Charakters gegen einen andern, ebenso in seiner Persönlichkeit angelegten, festen und gediegenen zweiten Charakter mit den entsprechenden Syntagmen vor. Tatsächlich deutet der Dichter C. F. Meyer (in der Novelle „Der Heilige") eine Art Depersonalisation, genauer „Besessenheit", an. Der Gekreuzigte nimmt von ihm „Besitz". Das ist der mythologische Ausdruck für die vom Kollektivgeist (hier der Kirche) vorgenommene „Übertragung" einer Fugung mit dem „Bewußtsein des Einverständnisses",

dodi ohne das

„Bewußtsein einer determinierenden Tendenz".

Aber auch dann, wenn der Impuls einmal persönlich gewesen ist, wird der Mensch, falls er den Impuls nicht „erneuert", zu

Wichtigkeit

der

Kleinethik

53

dessen Marionette. Das ist das Schicksal aller Dauerrevolutionäre gewesen. Die Ideale waren rein, als sie konzipiert worden waren, mit der Länge der Zeit aber werden sie zunächst — im Widerspruch zum „Ideal" — zur Routine. U n d werden sie immer noch festgehalten, so wird Verblendung und Verbrechen daraus.

Wichtigkeit der Kleinethik Von hier aus allein kann eine E t h i k d e r Dauerf u g u n g gegeben werden. Angesichts der großen geschichtlichen Ideale und deren Entartung haben wir das unmittelbare Gefühl, bei so großen Dingen sollte die Macht des Syntagmas zugunsten der freien Initiative des „anhebenden" Menschen eingeschränkt werden. Anders als im Alltag, Haushalt, Beruf muß in den großen Dingen des Lebens eine Schranke f ü r die Routine auch im Denken aufgerichtet werden. N u n aber kann der Mensch die einmal fertigen Syntagmen nicht mehr ändern. Wohl aber kann er den Fugungs V o r g a n g in die H a n d nehmen. Das ist zwar schwer, aber nicht unmöglich. Es gehört Psychologie und Selbsterkenntnis dazu. Der Mensch muß über die fremdpersönlichen und unpersönlichen Ursprünge seiner Syntagmen Bescheid wissen. Das ist die Vorbedingung für die Initiativ-Behandlung sich bildender Syntagmen in statu nascendi. Nachher ist es zu spät. Es ist das eine auf die Kleinvorgänge des Lebens gehende oder differenzielle E t h i k . Solche Ethik der differenziellen Kleinvorgänge ist schon im gesunden Leben von höchster Wichtigkeit und von den Religionsstiftern warm empfohlen worden. Für die Psychotherapie ist sie geradezu unerläßlich, so wahr gerade hier der Arzt ohne die Mithilfe des Patienten in den inneren Dingen des Vorstellens, Urteilens, des Vorsatzes und Gemütslebens machtlos ist. Das Gefährlichste an jedem Syntagma ist die Vortäuschung einer Eigengesetzlichkeit des Denkvorgangs, wo es sich immer um ein fremd- oder unpersönliches Kommando und davon abhängige Determination handelt. D a es, zum Unterschied vom determinierten Handeln, hier auch nicht einmal ein Bewußtsein von

54

Daueriyntagma

und

Zweitseele

der Determination gibt, so erscheint das syntagmatische Denken als ein objektives und mit aller Autorisation einer solchen behaupteten Objektivität und Unantastbarkeit ausgestattet. Dies ist keine Sache der Freiheit mehr, sondern des Denkzwangs. Auch psychologisches Wissen hebt den Zwang nicht auf, kom pensiert ihn nur. W i r können bei hohen ethischen Ansprüchen an uns selbst die Initiative zur Fugung vor allem negativ beeinflussen, dann — aber schon weniger gut — auch positiv in die H a n d nehmen; was immer wir tun: wir setzen ein rollendes R a d in Bewegung, das wir nicht mehr aufhalten können. Selbst dauernde Nachkontrolle (differenzielle Gewissenserforschung) könnte nur den „persönlichen Fehler" (persönliche Gleichung) feststellen und Kompensationen (Gegengewichte) herstellen, ihn aber nicht aus der W e l t schaffen. „Das Erste steht uns frei, beim Zweiten sind wir Knechte", heißt es auch hier bei der Gestaltung unserer Syntagmen. Man spricht auch von der „Angst vor der eigenen Courage". Das klingt paradox, weil Mut, also etwas Positives, hier von der Persönlichkeit getrennt gedacht wird. Und doch hat es mit der Redensart seine Richtigkeit. Denn der muteinflößendc Befehl, den man sich erteilt, wirkt nach der längst erloschenen Initiative nach und zwingt den Beeinflußten, gleichsam aus zweiter H a n d zu handeln. Mit der gleichen Unwiderstehlichkeit legt sich um den K e r n der Persönlichkeit ein Gehäuse, das an „unser" Statt nicht bloß erst handelt, sondern bereits vor allem Handeln wahrnimmt, erinnert, auffaßt und urteilt. Die syntagmatische Determination hängt nicht mehr von uns ab, sondern geht auf den syntagmatischen Impuls zurück.

Die Frage der Steuerung G l a u b e und Zuversicht, Vertrauen und Hoffnung sind ohne die Erscheinung der Dauerfugung überhaupt nicht begreiflich. Zu Unrecht hat man dabei immer oder vorzugsweise an den religiösen Glauben gedacht. Dieser aber ist von der erzieherischen und seelsorgerischen Seite her viel zu stark intellektualisiert worden. D e n n der Kern des Glaubensphänomens vollzieht

Die Frage der

Steuerung

55

sich nicht in den Verstandes-, sondern in den n i c h t sichtb a r e n B e r e i c h e n , in denen sich die Dauersyntagmen bilden. Erst wenn wir in diese Bereiche hinabsteigen, entdecken wir Unterschiede von Glauben und Glauben, die für die Menschenbehandlung wichtig sind. In diesen syntagmatischen Bereichen werden auch die nicht-intellektuellen Glaubensmittel in ihrer Bedeutung beleuchtet. Denn es ist nicht das W o r t . Und wenn das Wort, dann nicht in erster Linie das Inhaltliche, Intellektuelle am W o r t , auf das sich der Glaube gründet. Denn das bloße W o r t kann kein Syntagma schaffen, und Glaube ist ja nichts anderes, psychologisch gesehen, als Dauerfugung, als seelischer V e r b a n d aller Äußerungen und insofern freilich auch der Intellektuellen. Das W o r t hat aber immer nur dann Geschichte gemacht, wenn es auf andere, nicht worth'afte, fugungtreibende Mittel traf. Mit Gutenberg konnte das gedruckte Wort, mit der Erfindung des R a d i o s umgekehrt wieder das gesprochene Wort Geschichte machen, weil es dort zum mindesten eine vorbereitende Stimmung antraf, hier aber außerdem noch mit dem (ja mitübertragenen) Versammlungsgeräusch, mit den Symbolen der Fahnen, Bilder, Zeichen, mit Musik (Märschen und Hymnen) und fortgesetzter Propaganda der T a t einherging. W i r d nun das „politische Gemeinschaftsgerät" nun noch um das F e r n s e h e n bereichert, kommt die erlebnismaschinelle Einrichtung des F i l m s hinzu, dann sind die entsprechenden Syntagmen gesichert. Schon ohne all das hat von jeher der bloße Anblick der Massen, blitzenden Augen, leuchtenden Gesichter, der Eindruck froher Stimmen fugungtreibend gewirkt. Das W o r t selber ist nur ein letztes Siegel. Denn noch ehe ein W o r t des Redners gefallen ist, ist sich die Masse einig, weil überzeugt. Hinzu kommt das auffallende P h ä n o m e n d e r r e z i p r o k e n , also nicht vom Redner allein ausgehenden, U b e r t r a g u n g. Vielmehr zapft der Redner selber seine eigene syntagmatische Ubertragungskraft wiederum der Masse ab, zu der er spricht. Manches Geheimnis Casars und Napoleons erklärt sich daraus. D a ß es sich dort (bei der Menge) um die fremdgesteuerte biologische Persönlichkeit handelt, geht daraus hervor, daß die Syntagmen zumeist — auf die Ausnahmen gehen wir

56

Dauenyntagma

und

Zweitseele

noch ein — im Augenblick verschwinden, sich in nichts auflösen, sobald man den einzelnen aus der Masse herausnimmt und auf sich selber stellt. Dies eben will man verhindern. H a t man umgekehrt Grund, die gegenseitige syntagmatische Beeinflussung der Menschen dort zu verhindern, wo sie als schädlich erkannt wird, so müßte man jeden Zuhörer in eine eigens zu konstruierende Loge setzen, die ihn verhindert, die anderen Zuhörer zu sehen, und nur den Redner sichtbar werden läßt. Denn es ergibt eine grundsätzlich andere Stimmung, ob der Redner zu mir allein oder aber nur zu einer Gruppe spricht. Diese Z u s a m menwirkung von biologischer Persönlichkeit und fremdgesteuerter Kollektiv-Fug u n g ist die unserer heutigen Erkenntnis entsprechende Wahrheit an dem „Gesetz" Carpenters, wonach jede Wahrnehmung eines Tuns einen mehr oder weniger unwiderstehlichen unbewußten Impuls zum Mittun in uns erregen soll. Denn so formuliert, ist das Gesetz nicht richtig.

Fugung und Charakter Hier liegt vielmehr eine C h a r a k t e r s c h e i d e vor, auf welche die heutige Psychologie, von verschiedenen Seiten her vorstoßend, ihrerseits bereits gekommen ist. Diese Charakterscheide ist f ü r den „Glauben" wichtig. Es gibt kein besseres Experiment f ü r den Charakter, als den Menschen in entsprechende Situationen zu stellen und zuzusehen, ob er (kameradschaftlich) mittut oder ob er abgeschreckt wird. Die meisten Menschen sind ehrlich und anständig, trotzdem werden, die einen in ihren Aneignungstrieben, sexuellen Trieben, Macht- und Verleumdungstrieben bestärkt und zum Mittun ermutigt, wenn sie sehen, daß eine größere Zahl Volksgenossen und Kameraden es tun. Ja, es gilt als unkameradschaftlich und spielverderbend, sich „auszuschließen". Mit dem Begriff des „bösen Beispiels" ist es nicht getan. Es geht tiefer, es ist eine Charakterscheide. Denn nicht im Moment des „Beispiels" liegt das Ermutigende. Sonst wäre unerklärlich, warum ein und dasselbe Beispiel eine andere kleinere Menschengruppe trotz aller entgegenstehenden Be-

Fugung und

57

Charakter

denken n i c h t ermutigt, sondern im Gegenteil tief erschreckt, deprimiert, beschämt und abschreckt, und z w a r m e h r

ab-

schreckt,

die

als

Versuchung selber

wenn aus

ohne

dem

gekommen

das

„Beispiel"

Innern

wäre.

des

Derselbe

Menschen

Mensch,

derselbe

S o l d a t , der im Kriege bedenkenlos plündert oder als Zivilist in Teuerungszeit (wie wir derlei erlebt haben) aus Geschäftsläden W a r e n entwendet,

wird abgestoßen,

sobald er es nicht mehr

allein tut, sondern andere es tun sieht. M a n sehe auch, wie ein nacktes Mädchen auf eine Männergruppe w i r k t . D a s spiel"

ist

also

C h a r a k t e r

ist

nicht

das

„Bei-

Entscheidende,

der

e s . E r allein macht das „Beispiel"

zum

Beispiel. Dieser Tatsache werden die heutigen Charakterologien und T y p o l o g i e n nicht gerecht. D e n n d i e gie

muß

bis

in

die

C h a r a k t e r o l o -

Syntagmen

hineingehen,

wenn sie solche Dinge erfassen will. W i r haben gesehen, daß es nicht auf das bloße S y n t a g m a und seine „Festigkeit", sondern auf seine H e r k u n f t a n k o m m t . Z u sehr hat die herrschende Charakterologie auf den bloßen „ V e r b a n d " W e r t gelegt. M i t der bloßen „Kameradschaftlichkeit" ist es nicht getan. Dies Phänomen ist zweideutig. W i r haben gesehen, daß die Syntagmen der biologischen Persönlichkeit immer

fremd-

gesteuert sind und sich daher auswechseln, je nachdem, welches K o l l e k t i v u m sie steuert.

Diese Tatsache erklärt erst das P h ä -

nomen überraschender Revolutionen. W ä r e n in jedem einzelnen Falle

immer

verschiedene

Menschen

zum

Zustandekommen

einer R e v o l u t i o n oder einer Gegenrevolution erforderlich, dann würde es recht selten zu solchen k o m m e n .

Nach einer R e v o -

lution müßten erst einmal die meisten der Revolutionäre weggestorben oder ausgewandert sein, ehe die Gegenbewegung einsetzen könnte. So ist es aber nicht. V i e l m e h r gibt die leichte Auswechselbarkeit der von verschiedenen K o l l e k t i v a her gesteuerten Fugungen die Möglichkeit, d a ß ein und dieselben Leute die R e v o l u t i o n wie die Gegenrevolution machen, wie w i r es an den geschichtlichen Vorgängen bis in die jüngste Zeit hinein sehen. Es waren ein und dieselben — und nicht verschiedene — Leute, welche Hosiannah und Kreuzige, welche gestern „Es lebe der K r i e g ! " und morgen: „ N i e wieder K r i e g ! " riefen, welche die

58

Dauersyntagma

und

Zweitseele

beiden Napoleone vergötterten und verfluchten, welche die faschistischen wie die kommunistischen Parteien füllen. Vgl. Shakespeare, Heinrich V I . 2. Teil, 4. Aufzug, 8. Auftritt. „K a m e r a d s c h a f t l i c h k e i t " bedeutet also einerseits Getragenwerden vom Kollektivum, syntagmatische d. h. zweitseelische Fremdsteuerung ohne eigene Verantwortung, anderseits aber Eigensteuerung, Verantwortung (die immer einsam ist und nie kollektiv oder auch nur plural sein kann), Mitgestalten des Gemeinschaftsgeistes, und das heißt grundsätzliche Bereitschaft, ihm W i d e r s t a n d zu leisten. Es ist die Zweideutigkeit alles „Sozialismus": es kann gegenseitiges Schmarotzertum, es k a n n schenkende Tugend bedeuten. Da die meisten Menschen aber nur eine biologische Persönlichkeit haben, so hat es keinen Zweck, an etwas zu appellieren, was nicht vorhanden ist. Die leichte Auswechselbarkeit der kollektiv gesteuerten Syntagmen rein biologischer Persönlichkeiten muß in Kauf genommen werden, das damit verbundene Risiko muß bewußt getragen werden. Es muß kompensiert werden durch den S t a m m nicht bloß biologischer Persönlichkeiten, welche auch ohne Stütze durch fremdgesteuerte Syntagmen, allein auf sich gestellt und im Widerspruch zu aller Kameradschaft, selbst zu dem, was zeitweilig „Ehre" und „Pflicht" heißt, auf einsamem Posten Entscheidungen treffen. Offenbar ist deren „Glaube" ein ganz anderer als jener, und beide haben nichts als den Namen gemein. Im Gegenteil gilt der, welcher ohne solche Rückendeckung noch glaubt (welcher nicht bloß Pflichten, sondern Vorpflichten kennt) und Dauerbelastungen samt Entbehrungen erträgt, bei den andern als „der Dumme". Eridi Jaensch hat in diesem Zusammenhange den wichtigen der I n t e g r a t i o n

Begriff

als psychologische K a t e g o r i e eingeführt. "Wir sehen

jetzt, mit der bloßen Integration ist es hier nicht getan. Integriert sind die gesunde biologische w i e die eigengesteuerte Persönlichkeit. Es m u ß über diese Bestimmung Bewertung

Platz

hinaus noch eine tiefere

greifen.

Unterscheidung

Sonst f a l l e n die wichtigen

und

syntagmatischen

Gegensätze aus. Auch der Fremdgesteuerte ist „integriert", er ist in seiner A r t etwas Ganzes. Er bildet das G r o s — je nachdem — der A r m e e n , Kirchenangehörigen,

proletarischen Klassen.

Völker,

O h n e ihn

lassen

sich keine Schlachten schlagen. D a z u t r i t t ein zweites M o m e n t , welches die eigengesteuerte von der biologischen Persönlichkeit unterscheidet. D e r grundverschiedenen

Her-

Fugung

und

59

Charakter

kunft und Genese der „integrierten" Persönlichkeit entspricht auch eine qualitativ

grundverschiedene

Struktur.

Für

Jaensch ist der

Gegensatz

zum Integrierten (in allen seinen drei Formen) der „lyrische" Typus. Es ist klar, daß ein aufgelöster, haltloser, zersetzter T y p u s unsicher ist und nicht glauben kann. Sein Gegenteil (der J s - T y p u s ) ist erdgebunden, d. h. unmittelbar und ohne Zwischenschaltung von Mittelgliedern (Eindrucksfähigkeit,

reiches Wissen,

Verstand

und

Kritikfähigkeit)

seiner Sache

sicher. Aber es ist dieses die naive Sicherheit, die nicht die einzige ist. Es ist die bornierte Sicherheit der nur biologischen Persönlichkeit. Daneben gibt es eine andere, die ihre Sicherheit und Glaubensfähigkeit nidit aus der fremdgesteuerten Fugung schöpft und die daher imstande ist, eine reiche Differenziertheit,

Eindrucksfähigkeit,

Aufgelockertheit

der Seele,

Zerknirschungsfähigkeit und also doch „Labilität" auszuhalten und auszutragen. „Gesund und dumm" ist nicht die einzige Formel, auf die sich der integrierte Mensch bringen läßt ( „ d u m m " mangelnden

nur in dem Sinne der

Differenziertheit und Aufgeschlossenheit den inneren

Ein-

drücken gegenüber).

Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis.

Jener unzerstörbare

Glaube in seinem höchsten, überhaupt denkbaren Sinne, ist nicht bloße

Integration

überhaupt,

sondern

Integration

auf

dem

Grunde stärkster Differenziertheit, stärkster Spannungen, Aufgelockertheit und Labilität, aber nur im Sinne von Plastizität und Elastizität der Seele („Labilität"

also nicht als Schluß-

ergebnis). Nur diese Integration ist — geistig, nicht biologisch gesehen — überhaupt etwas wert, weil die andere, undifferenzierte ja niemals auf die Probe gestellt wird und gestellt werden darf. Die Integration v o r der Differenzierung ist bloße Borniertheit (Brett vorm K o p f innerlich schwer beweglicher, sturer Leute), sie kann sich auch nie üben und zum Durchhalten unter schwersten Aushungerungserscheinungen des Glaubens befähigt werden. W i r d die kollektiv gesteuerte Fugung mager, wird sie leicht ausgewechselt. Erst die eigengesteuerte und auf reich differenziertem Grunde (des Wissens, Erlebens und der Kritikfähigkeit) aufgebaute

und im Ertragen stärkster Spannungen

bewährte Dauerfugung ist gegen jede Zersetzung gefeit. Solche stark individualisierten Persönlichkeiten, die alle Gefahrmomente kommender Notzeiten in der Phantasie bereits vorweggenommen haben und über das kollektive Syntagma hinaus einen starken Fonds eigner Syntagmen in sich selber bilden, sind zu jenem Glauben befähigt, der vor dem T o d nicht erschrickt. Sie sind das

60

Dauersyntagma

und

Zweitseele

Kennzeichen der Führer (nicht bloßer Anführer) eines Volkes, welche Panikstimmungen vorbeugen und das Volk aus einer Krisenzeit in eine bessere hinüberretten müssen.

Das „gewappnete H e r z " Dies ist jene moralisch, politisch und religiös wichtige Fähigkeit, die eigenen Syntagmen fest in die H a n d zu nehmen und sie nicht dem Zufall zu überlassen, also weder bloß positiv f ü r alle Syntagmen offen zu sein (Wachs in den Händen jedes Verführers und Demagogen) noch rein negativ sich allen zu verschließen, sondern zugleich positiv wie negativ zu funktionieren, aufzubauen und auszuscheiden, die Bildung vital schädlicher Syntagmen und die Zersetzung lebenswichtiger zu verhindern. Es ist dies der Weg einer d i f f e r e n z i e l l e n E t h i k , die nicht erst bei Handlungen und Vorsätzen, sondern schon bei den differenziellen Vorgängen des Wahrnehmens, Vorstellens, Sicherinnerns, Zuwendens, Abwendens und Aufmerkens einsetzt. Denn diese differenziellen Vorgänge, wenn man sie außer acht läßt, gehen unabhängig vom bewußten Leben ihren Weg weiter, durchdringen als „petites perceptions" (Leibniz), als Bazillen des Seelenlebens die stärksten Syntagmen, zersetzen sie und verseuchen den ganzen menschlichen Habitus. Und sie bauen neue und sittlich unerwünschte Syntagmen auf. Denn es schießen Vorstellungselemente, die vorher gar nicht dazu bestimmt waren und wegen ihres harmlosen Aussehens unbedenklich in die Seele eingelassen wurden, zum Syntagma an. Vorher waren sie lose und gelockert. Wenn ein entsprechendes „Interesse" einsetzt, bilden sie plötzlich einen festen Verband. Wer z. B. beständig Vorstellungen in die Seele einläßt, Reden anhört, die, obwohl an sich neutral, dem Ehegatten, der Ehefrau dereinst Abbruch tun k ö n n e n , darf sich nicht wundern, wenn sie später, sobald eine Kristallachse gegeben ist, an diese anschießen. Die Wichtigkeit dieser Vorgänge für die P o 1 i t i k liegt auf der H a n d . Die Erfindungen des Kinos, vor allem des Radios sind zu schnell gekommen, als daß bereits psychologische Gegenmethoden des Schutzes, der Immunität gegen Reklame, Sug-

Unumkehrbarkeit

der Geschichte

61

gcstion, Gesinnungsverderbnis, mentale Verführung, Gedankenuntreue, gegen Flugzettel-, Radio- und Mundpropaganda hätten erfunden und entwickelt werden können. Das Wort: „Ein Pfui dem Mann, der sich nicht wehren kann!" gilt genau so für die Wehrlosmachung, die Überrumplung und Abschlachtung der schwachen Seele, wie wir derlei in den vergangenen Kriegs- und namentlich Nachkriegsjahren erlebt haben. Im Punkte der inneren Treue, dem Kampf gegen die Besudlung durch Wort, Bild, Schrift ist immer noch Flucht der beste Teil der Tapferkeit gewesen, weil schon die Befassung mit dem Bazillus ansteckend wirkt. Man läßt ja auch in der Heilkunst die Ansteckungsstoffe und Erreger nicht erst in den Körper gelangen, um ihn dann erst zwecks Erprobung der eigenen Widerstandsfähigkeit zu bekämpfen. Mit der Seele ist es genau so. Nächst der Zurückhaltung bzw. der Flucht ist erst in zweiter Linie Kritik von Wichtigkeit, und diese auch nur in nachgeordneten Fragen der Zweckmäßigkeit, Billigkeit, wahrheitsgetreuen Formulierung usw. In allem Grundsätzlichen, in allen Werthaltungen, also in den ethischen Grundhaltungen der Seele, darf es dagegen kein Schwanken geben. Hier ist eindeutige Entschiedenheit des Ja- und Neinsagens zu den entsprechenden Syntagmen geboten. Und wer das eigene Herz nicht fest in die Hand nehmen kann, dem müssen die lebenswichtigen Dauerfugungen von den seelenstärkeren Mitbrüdern und Mitschwestern verschafft und intakt erhalten werden. In allen andern Fragen des Lebens dagegen sind Fugungen der Vorstellungen unerläßlich. Diese Einseitigkeit und Gewissenlosigkeit ist der Preis, den wir zahlen müssen, um überhaupt handeln zu können. Eine sehr bekannte Sentenz Goethes zielt in die gleiche Richtung. Aber auch hier ist der Mensch nicht hilflos. Er kann den Fehler zwar nicht korrigieren. Er kann ihn aber kompensieren, durch zusätzliches Wissen, durch Kritik parieren. Unumkehrbarkeit der Geschichte Wir können also nur einiges, nicht aber alles beeinflussen. Ist der Prozeß der Fugung einmal im vollen Gange, kann er nicht mehr rückläufig gemacht werden. Das rollende Rad dreht sich

62

Dauersyntagma

und

Zweitseele

nicht zurück. Günstigstenfalls wird es gehemmt oder vom Zahn der Zeit zerstört. D e r P r o z e ß d e r F u g u n g i s t i n v i e l e n F ä l l e n i r r e v e r s i b e l , nicht umkehrbar: es gibt eine Art Entropie auch in der geistigen W e l t . A u f ihr beruht der Fortgang der Geschichte, der nicht zurückgenommen werden kann. Die Irreversibilität gewisser seelischer Abläufe ist eine T a t sache. Urteile, Urteilsenthaltungen, Begriffsbestimmungen können zurückgenommen werden; ein einmal innerlich erfaßter und zum tiefen Eindruck gewordener Begriff, eine ebensolche Auffassung, eine Meditation, eine „Erleuchtung", eine echte „Einsicht" kann es nicht. Ein Produkt der Denkübung bleibt qualitativ unverloren, so lange das, quantitativ meßbare, Geübtsein andauert. Es gibt Gedanken-Operationen, Denksdiritte, die nicht mehr zurückgegangen werden können. Es gibt auch außerhalb der Denkerlebnisse irreversible seelische Eintritte, denen kein seelischer Austritt entspricht, so auf dem Gebiet der Sinneseindrücke. H a b e ich zum ersten Male in einem K l a n g die Obertöne gehört, dann ist es fortab unter den gleichen Versuchsbedingungen unmöglich, sie n i c h t zu hören. Entsprechendes gibt es auch auf dem Gebiet des Sichtbaren. Es gibt noch viele Menschen, welche bewußt keine andern als schwarze und graue Schatten sehen. Sobald man ihnen indes auf sonnenbeschienener weißer Fläche einmal blaue Schatten gezeigt hat, ist dieser Vorgang für sie unzurücknehmbar. Sie können jetzt auf sonnenbeschienenem Schnee niemals wieder schwarze Schatten sehen. A u f dem Gebiet des Denkens nun ist diese Eigenschaft der Irreversibilität besonders folgenschwer für Einzelleben und Geschichte. Ein irreversibler Gedanke ist nach Aussage aller, die ihn e i n m a l nur in ihrem Leben erfahren haben, der kantische Gedanke von der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit: der kritische Idealist kann nie wieder naiv werden. O d e r : wer zum ersten Male darauf geführt worden ist, den Begriff Gottes nicht mehr materiell, sondern unstofflich zu fassen, kann diesen Schritt zu einem geistigen Gottesbegriff nicht wieder zurücktun. Oder wer erstmalig begriffen hat, daß das Gute und das Nützliche, das Schöne und das Angenehme zweierlei ist, kann diese einmal differenzierten Begriffe nicht wieder in der

Urinmkehrbarkeit

der

Geschichte

63

früheren Weise integrieren. Die einzelne Theorie, z. B. die kopernikanische, kann nach ihrer Annahme wieder abgelegt werden, wie jeder vermeintliche Irrtum, oder es kann Urteilsenthaltung geübt werden. Aber das Intellektuelle an a l l e n Bildungserlebnissen (also auch am Gedanken des Kopernikanismus) enthält einen hochwichtigen irreversiblen Bestandteil. Dieser steckt in aller (intellektuellen) Bildung und bewirkt, daß der „Gebildete" nicht wieder ungebildet werden kann. Diejenigen, welche derartige Denkerlebnisse an sich methodisch beobachteten, kennzeichneten sie als Erlebnisse der Uberraschung, ja Überrumplung. Schopenhauer spricht mit Beziehung auf solche vom „Handstreich". Man denkt vorher etwa, man könne den Gedankenschritt — und dies gilt bereits auch vom syntagmatischen I m p u l s , wenn man ihm nachgibt — wohl wagen, das Probieren koste nichts. In Wirklichkeit kostet es das Nichtmehrzurückkönnen. Die „Unschuld" ist dahin. Es gibt in der Seele eingeleitete Prozesse, die müssen ausgetragen werden, wenn man nicht eine vernichtende Radikalkur anwenden will. (Der Solipsismus z. B., jener äußerste Schritt des vor- und nachkantischen Kritizismus, kann nicht zurückgenommen werden, er muß ausgetragen werden bis ans Ende, bis er einen geläuterten Objektivismus und Realismus aus sich gebiert.) Im übrigen herrschen die irreversiblen Denkvorgänge in der J u g e n d vor. Sie kennzeichnen die Bildungsfähigkeit der Seele, aber auch die Grenzen ihrer Plastizität, insofern sie nicht zurückgenommen werden können. Aus dem gleichen Grunde der Irreversibilität hat die polemische Befassung mit Ketzern die Gläubigen noch immer ihre Unschuld gekostet. Die kritischen und ehrlichen unter den Orthodoxen aller Zeiten wissen es: wir haben alles getan, die Irrlehren zu unterdrücken, mit dem Erfolge, daß wir nun selber welche im Gehirn haben und es nicht einmal wissen! Den, der sich die Unschuld bewahren will, führt nur intellektuelle Abtötung zum Ziel. Für das Syntagma aber heißt das: gewaltsame Entfärbung und damit „Auflösung", „Zersetzung". Es gibt Eindrücke und Begriffe, gegen die man sich anders nicht wehren kann und bei denen „Flucht" der bessere Teil der Tapferkeit ist. „Treue"

64

Dauersyntagma

und

Zweitseele

heißt hier nicht Kämpfen; denn Kampf bedeutet hier Ansteckung, Übertragung. Die Befassung mit den ketzerischen, zersetzenden Begriffen muß von vornherein abgelehnt werden. Denn ist die Befassung erst eingetreten, dann ist die Zersetzung des zu schützenden Glaubens, der Sitte usw. unvermeidlich. Es kann aber vorkommen, daß sich gleichzeitig auch jene zersetzenden Begriffe selber zersetzen. Solche Gegenzersetzungen führen zu einer Art „Nihilismus". Es braucht also bei der „Zersetzung" überhaupt nicht Unmoral oder sonst ein „Interesse" vorzuliegen, die intellektuelle Zwangsläufigkeit des irreversiblen Denkvorgangs an sich genügt bereits. Man kann den Ketzer bekämpfen, aber das Unterscheidende des ketzerischen Begriffs muß zuvor erlebt sein. Darum ist die bloße Befassung mit dem Ketzer, geschweige seine Untersuchung und Verurteilung und Vernichtung in einem gewissen Punkte auch immer sein Sieg gewesen. Das erklärt viele Maßnahmen der Kirchen und mancher Staaten gegen „Zersetzung", nämlich der ihnen wertvollen Syntagmen.

Zusammenspiel persönlichen und unpersönlichen Denkens in der Geschichte N u r wo das Gedankenexperiment zur Schaffung einer Fugung nicht geglückt ist, wo es niemals (im Experiment, in der Erziehung, in der Schulung) zum vollen Denkerlebnis gekommen ist, da ist ein Abrutschen und Zurückgleiten in die Ausgangslage wohl möglich. Im übrigen ist die Irreversibilität zwangsläufig, d. h. von unserer Willkür unabhängig. Ihr kommt nicht denkinhaltliche, sondern nur denktechnische Bedeutung zu. Deshalb liegt sie außerhalb des Blickpunktes des Bewußtseins, und wiederum gerade deshalb ist sie, weil kaum bewußt, eine uneinnehmbare Position. Das Hinlenken der Aufmerksamkeit einer nennenswerten Anzahl von Menschen, geschweige einer Klasse, einer Partei, eines Volkes, auf sie, ist unmöglich. Weil darum der, meist unbewußte, Angriff des Ketzers in diesem Gebiet auf allerkleinster Front geschieht, der aber eine hohe Bedeutung zukommt, darum ist dieser Angriff unwiderstehlich.

Zusammenspiel

persönlichen

u. unpersönlichen

Denkens in der Geschichte

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Und er ist es deshalb, weil er unwillkürlich in den Gegnern, in den eignen Zöglingen, in den Klienten usw. weiter wirkt. Es ist eine alte Erfahrung, daß man, will man Menschen beeinflussen, auf ihr Unbewußtes wirken muß. Hier tritt nun der merkwürdige Fall ein, daß sogar seitens des „Senders", also s y n t a g m a t i s c h , unbewußt auf das Unbewußte gewirkt wird. Und zwar geschieht diese unbewußte Einwirkung in einem Sinne, der nur bei Erziehung, Seelsorge, Reklame, Propaganda auch in Richtung auf die W ü n s c h e des Erziehers, Seelsorgers usw. liegt, dagegen im kollektiven Fortgang des geschichtlichen Lebens — als Religion, Politik, Wissenschaft — zumeist der Absicht beider Teile zuwiderläuft. Denn dem Lehrer, Missionar, Polemiker, Revolutionär ist es ja um ganz andere Dinge (nämlich um Inhalte) als bloß um Denktechnisches, etwa die irreversible Differenzierung der Begriffe, zu tun. Davon später Genaueres. Anderseits ist es dem persönlichen Interesse der Zuhörer des Missionars, des Zeitungslesers usw. durchaus zuwider, daß ihre neuen Begriffe und Gedankenschritte, mit denen sie dem Redner, Schreiber folgen und deren Denktechnik sie keine Aufmerksamkeit schenken, irreversibel sein sollen, so daß sie buchstäblich in einer „Falle" gefangen sitzen. In der T a t gehören die beiden Erscheinungen der g e s c h i c h t l i c h e n Falle und der Nichtumkehrbarkeit zusammen. Auf diesen irreversiblen Denkerlebnissen aber beruht nun gerade der Fortgang des geschichtlichen Lebens, an ihm hätte der „Geist" der Geschichte sein höchstes Interesse! Auf ihnen liegt für die Geschichte der Ton. Für die kämpfenden Parteien liegt er ganz wo anders, nämlich natürlich in ihren bewußten inhaltlichen Stellungnahmen und Wertungen. Das ergibt zwei parallel laufende Gedankenprozesse: den überindividuellen, geschichtlichen und den persönlichen, deren Hochton und Tiefton nicht übereinstimmen, sondern intermittieren. Die Hochtöne der, irreversiblen geschichtlichen und die der persönlichen zurücknehmbaren Denkerlebnisse überschneiden sich. Die Geschichte bewegt sich in s y n k o p i s c h e m R h y t h m u s . Das will heißen: die inhaltlichen Uberzeugungen, Formulierungen, Lehren, Dogmen, die f ü r den e i n z e 1 n e n so außerordentlich hohe Bedeutung besitzen, haben sie f ü r 5 F e l d k e l l e r , Das unpersönliche Denken

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Dauersyntagma und Zweitseele

die Geschichte des K o l l e k t i v u m s durchaus nicht. U n d umgekehrt: das für den Fortgang der Geschichte Wesentliche und Entscheidende an den intellektuellen Vorgängen der Denkenden selber liegt in etwas ganz anderem, was die Denkenden nicht interessiert. J e n e r unterirdische Strom irreversibler

Gedanken

aber ist das Grundwasser der Geschichte.

Frühfugungen und Muttergedanken N u r ein kleiner T e i l dieser irreversiblen Denkvorgänge sind Fugungen, und umgekehrt sind nicht alle Fugungen irreversibel. J e n e irreversiblen sind die großen Syntagmen, die, wenn gehörig durchgebildet, in der Regel ein ganzes Leben vorhalten und nicht „zersetzt" werden können. D i e nicht irreversiblen dagegen sind jene Klein-Fugungen des Lebens, welche kommen und gehen und in besonderen Fällen auch alternieren können. J e n e ersten Syntagmen sind die frühsten, die wir als K i n d e r mitbekommen haben. Sie sind moralischer, familiärer, konfessioneller, weltanschaulicher, beruflicher, sozialer und politischer A r t . Sie entscheiden im voraus über alle unsere im Leben nötig werdenden W e r t h a l t u n g e n und haften uns das ganze Leben an. „ D e r erste Anstrich haftet am längsten", hat einmal Heinrich H e i n e mit Beziehung auf jene Renegaten gesagt, welche wohl ihre D o g m a t i k , aber noch lange nicht ihre Werthaltungen losgeworden sind. Durch das Phänomen des „ A b f a l l s" wird also in solchen Fällen immer noch das Gerüst der ehemaligen Syntagmen hindurchschimmern. Solcher „ A b f a l l " , ist nicht mit

„Zersetzung"

verbunden. E r ist nicht etwa eine Umkehrung der Fugung. D e n n diese großen, ein Leben vorhaltenden Syntagmen sind irreversibel, und es tritt nur eine leichte Entfärbung in toto ein. Sie sind wie eine Melodie, die man bis zum G r ^ b e nicht wieder los wird. Doch ist uns j a das S y n t a g m a viel ichnäher als eine Melodie, die immer O b j e k t bleibt. Dieser U m s t a n d ist es, der den „ K a m p f um die J u g e n d " für Kirchen und Regierungen, für Parteien und Klassen so lohnend

Frühfugungen

und

Muttergedanken

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macht. Es ist ein Kampf um die unzersetzbaren Dauerfugungen, wie sie nur in der Jugend aufblühen. Die politischen Interessenverbände wissen genau, daß nur auf dies Reis gepfropfte Gesinnungen Bestand haben. Alle Schulkämpfe haben, ihre Ursache in dem richtigen Gefühl, daß ein mit einer weltanschaulichen Dauerfugung „besetztes" Gemüt gegen das Eindringen konkurrierender Syntagmen gefeit ist: ein gefährlicher Anreiz für verbrecherische Regierungen! Die dauersyntagmatische Bereitschaft und Empfänglichkeit des Kindes ist etwas Einmaliges und Kostbares, das den Wettlauf der Machtgruppen in der Umwerbung der Jugend lohnt, der umso angespannter wird, als man praktisch Kinder mit jeder, auch der extremsten Dauerfugung, der katholischen wie der evangelischen, der kommunistischen wie der faschistischen, ausrüsten kann. Das ist die Regel. Denn der Mensch ist, syntagmatisch betrachtet, ein AI 1 e s f r e s s e r. Nur in wenigen Menschen bricht die Persönlichkeit, die ein Urphänomen ist, durch und wirft ein ungemäßes Syntagma von sich ab und meistens selbst erst dann, wenn es schon zu spät ist, so daß die restlose Beseitigung nicht mehr gelingt. Es kann dann gedämpft, übertönt, überlagert werden, löst sich aber nicht mehr in seine Bestandteile auf. Es kann Indifferenz entstehen, der Inhalt der Gesamtfugung kann zeitweilig aus dem Bewußtsein schwinden wie z. B. bei einem Auswanderer die auf die Heimat bezüglichen Syntagmen. Eine „Zersetzung" aber tritt damit noch nicht ein, weil der Ausgewanderte unbewußt fortfährt, alle Dinge im Lichte seiner nationalen Herkunft zu sehen. Auch das berechtigte Mißtrauen aller „alten Kämpfer", z. B. früher der sozialdemokratischen Partei gegen Neuankömmlinge aus dem bürgerlichen Lager, hat hierin seinen Grund. Vermittlerin der lebenslänglichen Frühfugungen aber ist die M u t t e r . Wichtiger noch als die Mutter-Sprache sind die M u 11 e r - G e, d a n k e n. Sie bestimmen den „Geist" eines Hauses, der eine Dauerfugung ist und aus dem sich die lebenslänglichen Frühfugungen der Kinder täglich speisen. Daher das Bestreben aller großen weltanschaulich-politischen Parteien in den europäischen Ländern — was die früheren Kleinparteien zumeist versäumt hatten — , sich der Mütter zu versichern und sie zu schulen, wie es die katholische Kirche seit Jahrhunderten

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Dauersyntagma

und

Zweitseele

getan hat, die außerdem noch eine laufende Fugungs-Kontrolle durch das Beichtinstitut ausübt. Darum ist die Familie die Zelle einer jeden Kultur, die der Staat, die Kirche usw. wohl beeinflussen, kontrollieren, zerstören, aber nicht selber schaffen und aufrecht erhalten kann. Alle späteren Syntagmen aber sind mehr oder weniger zurücknehmbar, auflösbar, zersetzbar. Das sind die mehr wissenschaftlichen Syntagmen der späteren Schul- und Hochschulzeit, die des Berufs, die Pubertäts- und Ehefugungen. Mit der Länge der Ehezeit wird dann auch das Syntagma fester und bleibt selbst über eine Trennung und sogar Scheidung hinaus bestehen, wenn die Ehe lange genug bestanden hat. Ein solches Syntagma kann irreversibel und unzersetzbar, sehr wohl aber mit der Länge der Zeit der Verblassung unterworfen sein. Länge der Zeit, Kraft des Gemüts, aber auch Gewöhnung und Trägheit des Denkens tun hier viel, doch nicht alles. Der Mechanismus der Fugung bleibt unabhängig davon als ein selbständiger und sehr beachtlicher Faktor des Intellekts, ohne den ja kein intentionales Gefühl denkbar ist, bestehen. Hier gibt es auch kaum eine Alternation. Dagegen sind die Kleinfugungen des Alltags, namentlich die erotischen, die forensischen und selbst die wissenschaftlichen jener starken Entfärbungsmöglichkeit ausgesetzt, wie wir bei der Besprechung der Alternation beschrieben haben. So lange das syntagmatische Band da ist, kann zwar nichts gelockert werden. Dies Band schwindet aber unter Umständen vollständig, z. B. wenn ein Rechtsstreit beendigt ist, wenn eine kurze Verliebtheit in Abneigung oder Gleichgültigkeit umgeschlagen ist. Dann werden die bisher gebundenen Elemente des Syntagmas frei und können neue Bindungen eingehen. Bei der Alternation tun sie das schon bei Lebenszeit der konkurrierenden Zwillingsfugung, sobald dies bereits stark entfärbt ist. Auch das wirtschaftliche Interesse, das ja an sich lebenslänglich ist, wirkt sich in Kleinfugungen aus, da ja die Gegenstände wechseln. So lange nun das Syntagma dauert und wir alles in seinem Lichte sehen, sprechen wir von einem V o r u r t e i l . Dieses ist nicht bloß ein „Urteil vor der Untersuchung", sondern ein unbewegliches Urteil, dem intellektuell nicht beizukommen ist. Es

Monopole

einmaliger

Erlernbarkeit

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sitzt so fest, weil es kein isoliertes Urteil ist wie die andern, die es zersetzen möchten, sondern weil es in ein syntagmatisches System eingebaut ist, aus dem sich nichts, also auch das „Vorurteil" nicht, herauslösen läßt.

Monopole einmaliger Erlernbarkeit Die Plastizität und Weltoffenheit der Menschenseele (im Gegensatz zur überspezialisierten Insekten- und selbst Affenseele) hat ihre Grenzen an dem Phänomen des n u r e i n m a l i g e n E r w e r b s , der singulären Erlernbarkeit bestimmter Fähigkeiten. Das auffälligste Beispiel ist die Muttersprache. Sie hat ein Monopol, das nicht ersetzt werden kann. Sie ist die Sprache, in der wir träumen. Nach geschehener „ W a h l " der Muttersprache ist dieses Fach in der Seele „besetzt": eine zweite Muttersprache kann der Mensch nicht erlernen, obwohl er andere Sprachen sehr viel genauer kennen mag als sie und genauer als die Menschen, welche diese Sprache als Muttersprache sprechen. Mit ihrer Erlernung ist die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft der Seele f ü r „Muttersprachen" erschöpft. Dies Phänomen der einmaligen Erlernbarkeit ist nun aber selber nicht einmalig. Wir können eine Reihenfolge in der einmaligen Erlernbarkeit aufzustellen versuchen: 1. die Muttersprache, 2. die Muttergedanken (zweitseelische Dauerbereitschaft) in Religion, Moral, Konfession, Kirche, verstärkt durch die größere Ichnähe der Mutter im Gegensatz zum Vater, 3. die Parteinahme für die eigene Familie, 4. für das eigene Volk, die nationale Ideologie, 5. für die eigene soziale Klasse, die politische Partei-Ideologie, 6. für die Freunde, Verwandtschaft, die Standesgenossen, 7. für die vom Lehrmeister eingeimpften Doktrinen. Sie halten bei zahllosen Gelehrten vom ersten Semester bis zum Grabe vor. So mancher Kathederpapst, von dem man sagt: „. . . und er schuf Privatdozenten nach seinem Bilde", hat dies Monopol einmaliger „Besetzung" der Seele mit grundlegenden wissenschaftlichen Vorurteilen zu seiner eigenen Selbstverwirklichung auf Kosten der Jugend skrupellos ausgenutzt.

70

Dauersyntagma

und Zweitseele

Der Mentalkrieg Für die praktische Bedeutung und Behandlung der Fugungen in Notzeiten seelischer Dauerbelastung und Bedrängnis wird immer von den E r f a h r u n g e n u n d F e h l e r n des e r s t e n W e l t k r i e g e s ausgegangen werden müssen. Denn tausendmal wichtiger als die materiellen Waffen ist d a s D y n a m i t d e s G e d a n k e n s . Zu Beginn des Krieges 1914 war jedes Gewehr, jeder Knopf genau vorgesehen und gebucht. Aber über die Mentalität der Seelen, für einen wie langen Krieg sie gerüstet waren, darüber fehlte jede Berechnung. Im Kriege aber wird der Aufbau (samt jeweiliger Umorganisierung und Durchgliederung, Akzentuierung und Ausmerze) des an sich in weitesten Grenzen veränderlichen Gesamthabitus der Seele, das Syntagma hinsichtlich seines Potentials an Spannungen, seiner Dehnbarkeit, Zähigkeit und Haltbarkeit auf die stärkste Zerreißprobe gestellt. Wird doch der Seele zugemutet, das Schwerstvereinbare an intellektueller Redlichkeit einerseits mit Zweckwissen und Zweckurteil anderseits zusammenzubringen. Über diesen Konflikt, den wir im alltäglichen Leben nicht merken, weil seine Anlässe zu unbedeutend sind, ist im Kriege noch jeder einigermaßen intelligente Soldat gestolpert. Ist doch zu beachten, daß das Syntagma im Kriege aus Gründen der seelischen Selbsterhaltung wie der seelischen Stoßkraft nicht primitiv genug sein kann (derb gesprochen: die dicksten Lügen schlucken muß), gerade dieses ungewöhnlich primitive Syntagma aber f ü r zivilisierte Völker nicht mehr allgemein menschlich ist, sondern eine ganz bestimmte, einseitige moralische Geistesverfassung zur Voraussetzung hat, die wohl für einige Zeit, aber unmöglich lange festgehalten werden kann. Es gibt in jedem Volke eine genau bestimmbare, für jedes Volk individuell veränderliche Schwelle, jenseits der die glatte Herstellung und das Festhalten des K r i e g s s y n t a g m a s auf den Widerstand der Seele stößt. Denn das Kriegssyntagma — dies gehört zu seiner Eigenart — absorbiert nicht den ganzen Menschen. Es ist der Zeit und der Struktur nach nicht auf Absolutheit eingerichtet. Es ist vielmehr transitorisch und partiell, und dies steht im Widerspruch zu seinem Inhalt. Die Fugung hat eine bestimmte

Der

Mentalkrieg

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Zeitgestalt. Bildung und Deformierung des Syntagmas sind dynamische Prozesse, ein Auf und Ab bestimmter Kurvengestalt — und es soll doch seinem Inhalt und Vorgeben nach im Kampfakt den ganzen Menschen erfüllen. D a s ist die Paradoxie eines jeden Krieges unter Kulturvölkern, sogar eines gerechten, wie ihn die alliierten Völker gegen Hitler-Deutschland führten. Gemäß dem Interesse wird unter den Vorstellungen vom eigenen Volk und vom Gegner erstens einmal eine Wahl getroffen, wogegen andere ausgemerzt werden. Alles, was f ü r den Gegner spricht, fällt unter den Tisch. Vorstellungen, die ihn in günstigem Licht erscheinen lassen, und Tatsachen, die unser eigenes Recht zweifelhaft machen könnten, werden ausgemerzt. Zweitens werden die nach dieser Siebung übrigbleibenden Vorstellungen und Urteile in zweckentsprechender Weise akzentuiert. Was den eigenen Interessen, wohl gar Wünschen entspricht, wird besonders unterstrichen. Das beeinflußt die Erinnerung und damit wieder neues Wahrnehmen und Urteilen. Drittens werden die Vorstellungen und Begriffe jeweils so gruppiert und zusammengestellt, wie man sie gerade braucht, um etwas zu beweisen oder um Dinge in interessierter Weise zu sehen, so daß man mit dem gleichen Material an Tatsachen ganz Entgegengesetztes beweisen kann. Die bereits ausgesiebten und akzentuierten Tatsachen erhalten nun auch noch einen S t e l l e n w e r t im System, einen Index, je nach der Gruppe von Vorstellungen, in der sie nun jeweils ganz Entgegengesetztes b e d e u t e n . Die gleiche Tatsache (bzw. Vorstellung) kann in verschiedenem Zusammenhange ganz verschiedene Beweissysteme stützen: entscheidend d a f ü r ist allein das jeweilige Syntagma. Das ist der Grund, weshalb immer beide Parteien aus den gleichen Tatbeständen Nährstoff f ü r ihre entgegengesetzten Syntagmen gewinnen und weshalb es nutzlos ist, mit Gegnern des Glaubens in Religion, Politik, Nationalität, Wirtschaft, Erotik in einen Streit des Beweisens und Widerlegens einzutreten, weil man mit jedem Argument das Syntagma des Gegners nährt und stärkt (wegen des verschiedenen Stellenwerts!). Es ist daher, wenn m a n über die dazu erforderlichen Mittel verfügt, ebenso leicht, mit geeigneter Bearbeitung der Seelen ein Syntagma zu erzeugen, wie es zu zersetzen. Man beachte auch, daß dies

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Dauersyntagma

und

Zweitseele

Phänomen auch noch andern Gesetzen gehorcht, daß es nämlich frei beweglich ist wie ein Pseudopodien und sich ebenso leicht wie dieses reaktivieren wie dematerialisieren kann. Wer diese Gesetze mißachtet, dem geht es wie 1918, als ein ganzes Volk verbrannte, was es 1914 angebetet hatte. Es sind der Masse nach d i e s e l b e n Leute (und nicht etwa verschiedene) gewesen, welche die entgegengesetztesten Schwenkungen des „Umlernens" von 1914, 1918, 1933 und 1945 mitgemacht haben und neue mitzumachen bereit sind. In andern Völkern ist es nicht anders, als es bei uns war. Dort steht überall die Truppe für die nächste Revolution im Falle eines unglücklichen Krieges immer schon bereit. Die dortigen Führer mögen die Menschen in der H a n d haben, die Fugung aber folgt eigenen Gesetzen. Nicht einmal ein eindeutig überzeugender Verteidigungskrieg kommt heute unter großen Kulturvölkern vor (den zweiten Weltkrieg ausgenommen). Zumeist liegen Angriff und Verteidigung auf beiden Seiten in heilloser Verschränkung vor, liegen die letzten Ursachen im fernen Dunkel so weit zurück, daß nicht mehr entschieden werden kann, wer letztlich „angefangen" hat. Auch der einfache Kämpfer muß in einem mäßig langen Kriege nach Ideen handeln können. Auch das Syntagma eines kriegführenden Volkes, und nicht nur der Magen,bedarf bekömmlicher und ausreichender Ernährung, soll das Syntagma nicht verhungern und sich auflösen. Das deutsche Volk hatte, wie man sich gut entsinnt, im ersten Weltkriege an Führer-Idologie zu viel und an seelischer Hausmannskost zu wenig. Das alte kaiserliche Rußland ging nicht zuletzt auch deswegen zugrunde, weil eine unwissende Regierung dem Volke den Krieg und die Kriegsziele innerlich nicht nahezubringen verstand. Dieses mußte Seite an Seite mit den ihm innerlich fremden West Völkern für deren ihm ganz unverständliche Ideale kämpfen. So kam es, daß jede Armee in ihren eigenen Reihen mit innerpolitischen Gegnern marschierte — nicht illoyalen Bürgern, sondern potentiellen Gegnern mit labilen, leicht auswechselbaren Syntagmen. Daneben erschien auf jeder Seite, auch auf deutscher, ein kleiner Stamm, eine Kerntruppe mit stabilen, nicht auswechselbaren Syntagmen. Sie bildeten die „Offiziere" späterer Umwälzungen, weil sie im

Die Psychologie-Waffe.

Edgar

Dacqué

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Falle einer seelischen Katastrophe und Neugruppierung sofort das Tausendfache an Uberläufern um sich sammelten. Sie sind zu jeder Zeit die Ursachen, daß der Kampf sozialer, politischer und weltanschaulicher Leidenschaften nicht erstirbt.

Die Psychologie-Waffe Edgar Dacqué Ohne die Wissenschaft von diesen Dingen werden wir niemals die Psychologie und Moral der politischen Vorgänge in der Welt in die H a n d bekommen. Die Folge dieser Unkenntnis ist, daß noch immer Temperament, Leidenschaft, Unwissenheit, H a ß oder Todfeindschaft die Beziehungen der Völker zu einander regeln. Aber einmal wird das Eis brechen und werden auch diese Dinge zum Wohl a l l e r Völker von deren Gelehrten eifrigst studiert werden. Und man wird es beim Studium nicht belassen, sondern die Dinge zu beeinflussen suchen und Methoden p r a k t i sch e r V ö I k e r - P s y c h o t h e r a p i e ausfindig machen. Denn die Gesetze der Fugung sind in der Seelenkunde das, was in der Mechanik die Hebelgesetze sind. Wer sie beherrscht und mächtig genug ist, sie anzuwenden, nur der allein wird die Bewegungsmechanik der Völker und Klassen und damit die Geschichte der Menschheit lenken und beeinflussen können. E d g a r D a c q u é hat in einem seiner letzen Werke f ü r die Zeit nach dem Ablauf der (heutigen) mechanozentrischen und der (kommenden) biozentrischen Epoche mit sehr guten Gründen das Heraufkommen eines psychozentrischen Zeitalters vorausgesagt, und er hat grausige Bilder von furchtbaren Erfindungen der Seelentechniker jener noch fernen Zeiten entworfen — Zeiten, in denen die Völker ihre Kriege nicht mehr mit Pulver und Metall, sondern mit den Instrumenten der Fernhypnose, der willkürlichen Telekinese und Teleplastik (Roboter), namentlich aber der seelischen Tötung führen werden, gegen deren Gebrauch im Dienste eines satanischen Vernichtungskampfes die Menschen sich nur durch die Erfindung seelischer Gasmasken und Schutzmäntel werden sichern können. Schon wirft die

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Dauersyntagma

und Zweitseele

junge, aber furchtbare Erfindung der seelischen Äther-Waffe des Fernhörens und Fernsehens (folgenschwerer als die Erfindung des Buchdrucks, Pulvers, Dynamits und Atomgeschosses) ihre Schatten voraus. Ungleich wirksamer als die Sprengstoffe jeder Zukunft aber wird das Dynamit des Gedankens sein. Uber die von Dacque noch gar nicht geahnte furchtbare Waffe seelischer Fremdsteuerung an anderer Stelle. D a ist es wichtig, der düsteren Dacqueschen Prophezeiung gegenüber die andere Seite der Sache zu betrachten und zu erwägen, daß die Psychologie, die Wissenschaft, der die Zukunft gehört, nicht nur Wunden zu schlagen, sondern auch Wunden zu heilen wissen wird. Sie kann uns die Mittel an die H a n d geben, durch Einsicht in die Abläufe des bewußten und unbewußten, persönlichen und kollektiven Lebens dem gegenseitigen Verständnis der Völker und ihrer dringenden Lebensbedürfnisse, was Lebensraum und natürliche Entfaltung ihrer Kräfte anlangt, zu dienen. Sie kann damit ein Segen für die Menschheit sein. Sie kann (neben der Biologie) Mittel des Aufbaus und des Glücks f ü r Milliarden Menschen an die H a n d geben, welche sich heute und morgen aus Unwissenheit, Lebensangst, Hunger, Machtgier, Not, Elend und Komplexen mannigfacher Art zerfleischen müssen. Sie k a n n ! Ob sie es w i r d , hängt von der Kraft der künftigen Revolution ab, mit welcher die gequälte Menschheit sich gegen die unbelehrbare Zunft der Berufspolitiker, die sie in den Abgrund reißt, erheben wird. Nach dem unvergleichlichen Satan der Psychologie, der auch nach 1945 noch eine unsichtbare Politiker-Schule hinterlassen zu haben scheint, die mit den unheimlichsten praktisch-psychologischen Methoden der Völkervergiftung, der Demoralisierung und der seelischen Wehrlosmachung arbeitet, kann nur ein Engel und Heiland der Psychologie eine Wende herbeiführen. Auf keinen Fall wollen die Psychologen und Philosophen, die diesen Namen verdienen, gleich den Physikern der Gegenwart protestlos und tatenlos zusehen, wie ihre Wissenschaft mißbraucht und geschändet wird.

DIE K R A N K E Z W E I T S E E L E Fugungfördernde Mittel W i r kommen bereits in die Nähe der Pathologie, wenn wir nach s y n t a g m e n - t r e i b e n d e n M i t t e l n fragen. Es sind dies natürliche und künstliche Zustände. Nach zwei Richtungen zeigt sich die dadurch erzielte Veränderung: 1. nach Richtung der Energie der Fugung wie der Gefügezerstörung, 2. nach Richtung der Struktur: alle syntagmen-treibenden Mittel sind zugleich Mittel zur Primitivierung des Syntagmas, d. h. zum einfachen und eindeutigen Aufbau des Weltbildes, zum Radikalismus („Totalitarismus") eines jeweils ganz bestimmten Prinzips, kurz zur radikalen Vereinfachung der Welt nach gut und böse, nützlich und schädlich, Freund und Feind, recht und unrecht, heilig und verrucht. Solche natürlichen Mittel sind Sexualität („du siehst mit diesem T r a n k im Leibe . . . " ) und Erotik: jede auf ihre besondere Weise, ferner Mutterliebe, H a ß , Zorn und Eifersucht. Das gleiche gilt von der Verzagtheit. Mit dem Sinken der Vitalität nämlich sinkt auch die reiche Durchgliederung, Gegensätzlichkeit und Elastizität des Gefüges, mit der Steigerung der Lebenskraft und Lebensfreude hebt sie sich. Am reichsten ist es am Abend, am einseitigsten, primitivsten unter dem schwermütig machenden Einfluß der Nacht und der Einsamkeit am frühen Morgen, der den extremsten Ausschlag im Rhythmus der Fugung anzeigt, weshalb die meisten Selbstmorde in der Frühe geschehen. Zu den künstlichen Mitteln zählen die Rauschgifte, allen voran der Alkohol. Zum Infantilismus gehört ein Absinken in das primitive Syntagma der frühen Jugend. Das gleiche gehört zur Senilität, dem Kindischwerden des Alters. Unter den Geistes-

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Die kranke

Zweitseele

kranken sind es die Manisch-Depressiven, die zu einseitigen und extremen Fugungen von starker Durchschlagskraft neigen. Ist der Mensch nun von N a t u r und Erbgut so geartet, daß er, in seiner Dauerfugung befangen, die andere Seite der "Welt nicht mehr erkennen kann, so ist zwar nicht seine freie Willensbestimmung aufgehoben, aber sein Bewußtsein so eingeengt, daß sein Wille ein gänzlich einseitiges Material zur Urteilsgrundlage des Handelns geliefert erhält. So gibt es „Verbrecher", die im Grunde keine sind, weil sie sich nie die „andere Seite" ihres Tuns oder Unterlassens haben klar machen können, bis es zu spät ist und sie erst bei Auswechslung der Zweitseele (die zumeist erst vorm Strafrichter geschieht) das Unheil erkennen. Das vorangehende G e w i s s e n (conscientia antecedens) ist immer schon Zeugnis eines reich gegliederten Gefüges; das sich aber erst hinterher rührende Gewissen (conscientia consequens), das also erst auf äußere Umstände, zu denen auch die geschehene T a t gehört, reagiert, zeugt von primitivem, eingeengtem Bewußtsein. Im Gegensatz zum Dämmerzustand, der den g e s a m t e n Bewußtseinszustand verschleiert, beleuchtet die Wucherung, also Erkrankung des Syntagmas, die P a r a n o e s e , einen Teil des Bewußtseinsbestandes überhell und schlägt den entsprechenden andern gleich wie mit dem Locheisen heraus, so daß er unwirksam wird.

Die Paranoese Mit solcher Paranoese gehen viele Menschen einher, die keine Verbrecher und auch keine Geisteskranken sind, auch im freien Willen nicht behindert werden und sich dennoch in den Maschen des Gesetzes verfangen. W i r sprechen dann nicht mehr bloß vom Syntagma, sondern bereits vom Psychom. W i r kennen das Kriegspsychom streitender Völker, das Parteipsychom sich bekämpfender politischer Parteien, sozialer Klassen und Erwerbsstände, das des religiösen und politischen Fanatikers, schließlich das Gerichtspsychom prozessierender Personen. Von ihnen unterscheiden sich die Staatsmänner (im Gegensatz also zu den Parteiführern und Agitatoren), die Anwälte (im Gegensatz zu den

77

Der Fanatismus

Parteien vor Gericht) dadurch, d a ß sie keine Paranoese haben, sie sich vielmehr den reich gegliederten Zustand des üblichen S y n t a g m a s bewahren, dessen Zuspitzung nicht über das biologisch (zum H a n d e l n ) Erforderliche hinausgeht. Eine akute übertriebene Fugung — im Falle einer außergewöhnlichen beruflichen oder prozessualen Anstrengung



fällt dabei

nicht aus dem R a h m e n des N o r m a l e n heraus. chronische Paranoese zu unterscheiden,

durchaus noch V o n ihr ist die

bei welcher

die

Zu-

spitzung einseitigen Sehens und Betrachtens, die Verengung des Bewußtseins, die V e r a r m u n g des Weltbildes und — sehr wichtig — die Beschleunigung der syntagmatischen Einordnung und Voreiligkeit des Urteils zur zweiten N a t u r geworden ist. E i n e solche Paranoese w i r k t im Sinne einer Dauer-Abstraktion, so w a h r das Leben (und gar das k r a n k e Leben) viel stärkerer und wirksamerer Abstraktionen fähig ist als die Wissenschaft.

D e r Fanatismus Eine

unzweifelhafte Paranoese

ist

der

Fanatismus.

B l o ß e H e f t i g k e i t des Gefühls findet sich auch bei außerfanatischen Zuständen, umgekehrt gibt es Fanatismus auch bei ruhigen N a t u r e n . E r zeichnet sich durch ein Psychom von ungewöhnlicher Abstraktion aus, also durch eine Verzerrung des natürlichen Weltbildes. U n d diese besteht in dessen dauernder weltanschaulicher Vereinseitigung und damit V e r a r m u n g . Einseitig und arm ist auch "die sexuelle Fugung, aber ihr fehlt das Weltanschauliche, weil es nur den U m g a n g mit Menschen betrifft. E i n zweites M e r k m a l des Fanatismus ist seine ansteckende K r a f t . D i e leichte Übertragbarkeit

dieser

Extremphänomene

erzeugt

geistige

Epidemien, deren Eigentümliches es ist, daß die von ihr B e f a l lenen nichts von ihrem K r a n k s e i n wissen wollen und jede derartige Diagnose bekämpfen. Der A r z t und Psychologe Carl Gustav C a r u s mußte im erregten Jahre 1848 diese gefährliche Erfahrung machen. E r schreibt in seinen „Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten"

4. Teil,

1866,

S. 58

bei

Erwähnung seiner Forschungsarbeiten: „Die zweite kleinere Arbeit, welche die Geschichte einer Reihe von Geistesepidemien, von den alten Geister-

78

Die kranke

Zweitseele

gesellschaften und der Tanzwut an bis auf die Greuel der Hexenprozesse, Taranteltänze u. dergl. zusammenstellte und mit einem Blick auf die revolutionäre Epidemie schloß, welche 1848 durch einen großen Teil der Menschheit ging, trug ich zunächst in der Albina einer sehr zahlreichen Versammlung vor . . . Sogleich aber und noch am selben Abend regte sich der Parteigeist darüber, denn während der größte Teil der Zuhörer in hohem Grade sich durch den Vortrag angezogen und befriedigt fand, brachte er unsere Demokraten höchlich auf, welche mir unverhohlen wissen ließen, man sei mit Mühe zurückzuhalten gewesen, mich nicht im Vortrage zu unterbrechen und zugleich eine heftige Debatte zu eröffnen." Carus zitiert auch (a. a. O. S. 52/3) d e M a i s t r e , der in einem seiner Briefe über Frankreich sagt: „Ein Fingerhut voll Wasser, in Dampf verwandelt, kann eine Bombe zum Platzen bringen. Dasselbe Phänomen gibt es in der geistigen a WeIt: ein simpler Gedanke, eine Idee kann durch einen Grad Wärme in einen andern Aggregatzustand übergehen. Die ruhigen Begriffe und Grundsätze werden zu Leidenschaften und Fanatismus und rücken Berge von der Stelle."

Die Alternation Wir sahen, das Syntagma kann Entgegengesetztes in sich fassen. J a , ein gesundes Syntagma ist ein biologischer Wert und hält auch dann stand, wenn neue Vorstellungen in es eingehen, die dem bisherigen Vorstellungsbestand widersprechen. D a s Leben lehrt, daß Bestätigungen der Widersprüche und allenfallsige künftige Vorstellungsschübe abgewartet werden müssen, die ihrerseits zu den „neuen" Vorstellungen in Widerspruch treten können. D a n k solcher Zähigkeit und S p a n n k r a f t des gesunden Syntagmas vermag es Konflikte und Spannungen entgegengesetzter Tendenzen im gleichen syntagmatischen Rahmen zu ertragen. Etwas ganz anderes ist es, wenn statt einer einzigen Dauerfugung z w e i d a sind, weil die alte, mit Widersprüchen überladene, die Spannung nicht mehr ertrug. Verteilen sich beide auf verschiedene Individuen, deren jedes sich innerlich anders entschieden hat, so ist nichts Auffälliges daran. Anders aber, wenn beideDauerfugungenimgleichen Individuum a l t e r n i e r e n („zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust"). Dieser Zustand ist den meisten, obwohl nicht allen Menschen bekannt. Es sind aber verschiedene G r a d e und Umstände vom Harmlosen bis zum Krankhaften möglich.

Die

Alternation

79

Die Alternation ist ein Zwitterzustand, dessen biologischer Sinn nicht eingesehen werden kann. Das Normale ist ja die Differenzierung eines in seiner Fülle oder Spannungsgeladenheit bereits untragbaren, weil zweideutig gewordenen Zustandes. Auf dieser Vieldeutigkeit, zumeist Zweideutigkeit von Begriffen und ganzen Fugungen beruht zum Teil aller Fortschritt im individuellen und geschichtlichen Geistesleben. Dieser Vorgang ist i r r e v e r s i b e 1. Ist etwa ein religiöser Lehrbegriff (etwa die „Rechtfertigung") mit wachsender Anhängerzahl so stark durch anschießende Vorstellungen angereichert worden, daß er den verschiedensten religiösen Intentionen gerecht wird, dann kommt ein Zeitpunkt so starker begrifflicher Differenzierung, daß die einzelnen Intentionen sich von einander trennen und jede, von einem eigenen Begriffsleib umgeben, einen besonderen Begriff aus sich entläßt. Die monarchische Ordnung des Bewußtseins verlangt nun, daß jedes Individuum sich mit einem einzigen Begriffe begnüge. Anderseits kann die einmal geschehene Differenzierung nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Der Mutterbegriff ist ja für immer dahin. Was hieß etwa früher nicht alles „Sozialismus"! Zwei einander feindliche Intentionen, nämlich Schmarotzertum bzw. Eigennutz und soziale Verpflichtung, waren in e i n e n Begriff gepackt. Heute ist der Begriff auseinander gebrochen, und „Sozialismus" heißt für uns heute etwas anderes als etwa im kaiserlichen Deutschland, als der Begriff Materialismus, Klassenbewußtsein, Kampf gegen Bildung und Besitz mitumfaßte. Ein Zustand der Alternation, der b e i d e Intentionen festhält, ist hier nicht einmal als Übergang denkbar. Das Erlebnis des neuen Begriffs entscheidet. Der Mutterbegriff ist tot, weil der ganze Vorgang irreversibel ist. Im Medianismus des bloßen Begriffsdenkens gibt es also nach der Differenzierung keine Alternation. Ganz anders aber in der Vorstellungsverfugung, die ja kein bloßer Begriff, sondern ein ganzes System aus Vorstellungen und Urteilen von praktischer Bedeutung ist, zumal wenn hinter ihm ein starkes Interesse stellt. Im Falle einer Ehescheidung, eines Zwistes von Eltern und Kindern, unter Freunden oder einer Gemeinschaft, der man lange angehört hat, geht es um keinen Begriff, sondern um Recht und Unrecht, um Welt- und Lebensanschauungen. Hier kann es vor-

80

Die kranke

Zweitseele

kommen, d a ß ein erwachsenes K i n d , also ein reifer Mensch, dessen E l t e r n geschieden sind, Leben und Verhältnisse das eine M a l mit den Augen der Mutter, das andere M a l aber mit den Augen des V a t e r s ansieht. D e r Fall der Charakterschwäche sei ausdrücklich ausgeschlossen. W i r sprechen von reifen und charakterstarken Menschen ohne Indifferenz, die in beider Hinsicht lebhaft und entschieden empfinden und entsprechende Dauerfugungen bilden, die entgegengesetzte Inhalte haben.

Beschreibung Möglich sind nun solche alternierende Dauersyntagmen nur dadurch, d a ß sie (infolge der monarchischen Ordnung des Bewußtseins) niemals gleichzeitig aktiviert werden und d a ß das nichtaktivierte S y n t a g m a sich in einem Zustand der „ E n t f ä r b u n g " befindet, wie wir es nennen. Denn es handelt sich nicht um „ V e r d r ä n g u n g " und „Vergessen", da keine „Zensur" statthat. D i e betreffende Person „ w e i ß " alles; denn das entfärbte S y n t a g m a kehrt j a wieder. D i e Vorstellungen und Erinnerungen sind alle da, aber sie sind blaß, haben die überzeugende K r a f t verloren, weil der fugungsmäßige V e r b a n d selber gelockert ist. Beim nächsten M a l e (der Reaktivierung des bislang entfärbten S y n t a g m a s ) aber ist alles wieder fest ins System gefügt und farbenleuchtend. D a f ü r ist nun seinerseits die andere, korrespondierende, Dauerfugung (mehr als zwei sind kaum beobachtet w o r den) der E n t f ä r b u n g und Kraftlosigkeit anheim gefallen. D e r ganze Zustand aber kann nicht etwa als „Schwanken" und „ U n entschlossenheit" gekennzeichnet werden. K a n n die betr. Person doch im Gegenteil aufs höchste entschieden handeln!

Freilich

tut sie es jeweils anders. D e n n es kehren die alten Vorstellungen, Begriffe, Urteile n i c h t

stückweise

zurück: der

ganze

V e r b a n d kehrt vielmehr in toto wieder. E i n anderes W i e d e r kehren gibt es hier nicht. Es sind j a zwei entgegengesetzte „ I n teressen", die den Menschen in solchem Falle beherrschen, ihn aber zu keiner Synthese, auch zu keinem Ausgleich k o m m e n lassen, sondern ihn hin und her zerren. Beispiele aus der Dichtung sind Schillers D o n Carlos, der zu Albas Erstaunen durch

Theorie

der

Alternation

81

ein Wort der Königin, die er liebt, ein „anderer" wird, ferner Weislingen in Goethes „Götz" und Clavigo. Höchst auffallend ist die Alternation bei zwei Wagnerschen Gestalten: Tannhäuser und Kundry. Tannhäuser wechselt sechsmal das seelische Syntagma: einmal in der Vorfabel, einmal im 1. Akt, zweimal im 2. Akt und zweimal im 3. Akt. Niemals ist er indifferent, immer entschieden und darum nicht ärmer, sondern seelisch reicher als die treuen und beständigen Charaktere des Dramas. Ihn und nicht W o l f r a m liebt Elisabeth. Alle diese Gestalten sind also trotz ihrer Alternation bei weitem noch keine Schwächlinge, obwohl ihre Treulosigkeit und ihr wiederholter „Verrat" gerade hier ihre Ursache haben. Die Betroffenen leiden darunter selber am schwersten. Die meisten Fälle haben, ohne krankhaft zu sein, etwas von der Depersonalisation an sich. Das eine Ich versteht das andere nicht mehr. Eine echte Depersonalisation zeigt Wagners Kundry. Theorie der Alternation Der Vorgang der Aktivierung eines bisher inaktiv gewesenen Syntagmas erinnert schon an die H y p n o s e , nur daß hier der Hypnotiseur fehlt. Daß wir etwas wissen und logisch verbinden, genügt ja zum Handeln bei weitem noch nicht. Wir wissen unendlich viel, aber damit dies Wissen die biologisch unersätzliche Stoßkraft erhält, muß es nach strenger Auslese unter Ausstoßung der Fülle nicht einschlägigen, im Augenblick gar schädlichen, Wissens syntagmatisch geordnet und in Bewegung gesetzt werden. Das vom „Interesse" geleitete Syntagma stellt also jene außerordentliche Verengung des Bewußtseins dar, die zum unterscheidenden Wesensmerkmal des Menschen gehört. Denn das Tier hat d i e s e Bewußtseinsverengung nicht, wie wir sahen (es hat andere). Und ein allwissender Gott würde sich dauernd im Wege stehen und nie zum Handeln gelangen, wenn er nicht in gleicher Weise organisiert wäre. Er müßte Fugungen bilden d.h. zugunsten einer Einengung seines Bewußtseins „beschränkt", d. h. aber „Mensch" werden. Das war von je eine der größten spekulativen Schwierigkeiten, Gott in die Welt handelnd eingreifen zu lassen. Allwissenheit im Sinne gegenwärtigen Wissens 6 F e l d k e I l e r ,

Das u n p e r s ö n l i c h e D e n k e n

82

Die kranke

Zweitseele

und hypnoider Zustand, wie ihn der Handelnde braucht, schließen einander aus. Zwei alternierende Zwillingsfugungen nun haben eine jeweils verschiedene Denkvaluta. Diese Verschiedenheit besteht nicht darin, daß die Assoziations- und Reproduktionsgesetze nicht gelten. Sie gelten. Aber die Gefühlstöne fehlen. Es tritt D e n k 1 ä h m u n g f ü r das zur Zeit entfärbte Vorstellungsgebiet ein: die wenngleich gut reproduzierten Vorstellungsdaten werden nicht dazu verwendet, die erforderlichen „zwingenden" Schlüsse zu ziehen. Denn diese Schlüsse würden der zur Zeit aktivierten Dauerfugung widersprechen und sie stören. N u r mit Bezug auf das eine Syntagma aber besteht D e n k f r e u d i g k e i t , in bezug auf das andere besteht Denkfaulheit selbst dann, wenn seine Intention durch ein reiches Vorstellungsmaterial besser gestützt wird. Dort treffen wir voreilige Schlüsse, hier Denkausfälle an. Das jeweilig nichtaktivierte Syntagma erscheint zersetzt, summenhaft, statt ein Ganzes zu bilden. Es zerfällt in ein Mosaik. Es fehlt der Gedankenkitt. Das den Alternierenden Quälende besteht nun darin, daß er die Auswechslung beider Fugungen nicht in der H a n d hat. Denn mit der willkürlichen Apperzeption und Aufmerksamkeits-Zuwendung ist es nicht getan. Auch bei geübter Selbstbeobachtung wird nicht einmal immer die Ursache des Wechsels sichtbar. Bisweilen mögen ganz äußerliche Anlässe die Alternation im Gefolge haben. Wir wissen, daß die N a t u r , ein frischer Frühlingsmorgen, wohl gar mit der Aussicht einer Wanderung, den ganzen Menschen auswechseln kann. Eine Erfahrung, ein Begegnis unscheinbarer Art kann das Maß voll machen, das dem schon längst drängenden und „fälligen" inaktiven Zwillingssyntagma zum Heraustreten verhilft. Dasselbe können Stimmungswechsel, sowohl Euphorie wie Mißvergnügen, oder Alkoholgenuß bewirken. Aber es wäre eben darum ganz falsch, die Alternation selber für einen Ausfluß bloßer Laune zu halten. Wir kennen die Ursache nicht, warum eine Frau, die sich von ihrem Mann getrennt hat, zeitweilig immer wieder nicht nur für ihn Partei ergreift (das kann die Wirkung des Trägheitsgesetzes der Gefühle sein, die sich nicht so schnell wie Vorstellungen und Urteile wandeln), sondern sich mit ihm identifiziert d. h. mit ihm denkt,

83

Hysterische und nichthysterische Wechseljugung

mit ihm erlebt, die Dinge sieht wie er, gleich d a r a u f aber wieder sich ihm entgegensetzt, und beides unwillkürlich und nicht intellektuell

(etwa

infolge

eines Besinnens).

Es

gibt hier

„ G r ü n d e " , nur reale „Ursachen", die uns verborgen

keine

bleiben.

Schwerlich ist diese lästige Einrichtung noch biologisch wertvoll, weil sie kein einheitliches H a n d e l n gestattet.

Hysterische und nichthysterische Wechselfugung D a s Gegenteil sind unverwischbare Dauerfugungen, die, wie in der Ehe, ein ganzes Leben vorhalten. Aber selbst in der Ehe gibt es die Alternation des sexuellen mit andern, nichtsexuellen Dauerfugungen. Daraus k a n n H a ß l i e b e entstehen. Das eigenartige Phänomen ist den siamesischen Zwillingen vergleichbar. Insofern besonders, als der normale Ehepartner das Gefühl hat oder haben kann, mit dem G a t t e n nicht allein zu sein, gleich als sitze immer noch ein anderer mit dabei, der ganz anders gesonnen ist und nur noch nicht das W o r t ergriffen hat. W e n n w i r sehen, wie die alternierenden Personen unter ihrer Gespaltenheit leiden, können wir dieser — um die Ausdrücke „krank",

„pathologisch" zu vermeiden —

einen

biologischen

W e r t nicht zuerkennen. G e w i ß ist die menschliche Seele p o l y m o r p h : wir tragen die Fähigkeit nicht nur zu mehreren Berufen, sondern auch zu zwei oder mehr Charakteren,

selbst

Religionen und Weltanschauungen mit uns herum. Diese sind uns angeboren. Welche aber in die Erscheinung tritt, bestimmt das „ M i l i e u " , wie der M a r x i s t ; die „Geschichte", wie der R e a k tionär; das von G o t t verhängte „Schicksal", wie der Theologe sagt. Diese Polymorphie w i r k t sich nun in besonderen unglücklichen Fällen als Monstruosität aus. Solche sind die parapsychologischen Ichspaltungen, wie sie namentlich J a n e t untersucht hat. Solche sind erst recht jene schizothymen oder gar schizoiden Zustände, die sich durch unzusammenhängende Gedanken auszeichnen. Sind diese Gedanken heterogen, so haben sie jeweils ein seelisches Gefälle nach zwei verschiedenen Zentren und liegen bereits alternierende Dauerfugungen vor.

6*

84

Die kranke

Zweitseele

Wir finden solche Alternationen auch beim h y s t e r i s c h e n T e m p e r a m e n t , was den Betreffenden dann den Vorwurf der inneren Unwahrhaftigkeit, Unbeständigkeit, Untreue und Unzuverlässigkeit einträgt. Wir finden hier Doppelexistenzen d. h. die Durchführung zweier verschiedener, unverträglicher Rollen nebeneinander. Der Unterschied des Hysterikers vom nichthysterischen Zustand alternierender Dauerfugungen zeigt sich nun darin, daß dort in der einen Rolle die andere vergessen wird. Der Hysteriker leidet also persönlich nicht unter der Doppelrolle, nur seine Umgebung, während der geistig Intakte d. h. in seiner Persönlichkeit nicht Labile um seine alternierenden Dauerfugungen weiß und sie unter mehr oder weniger großen Beschwerden zu beherrschen trachtet. D e r Psychiatrie ist diese Alternation der Syntagmen dem Phänomen, wenn auch nicht dem Begriff nach, soweit Hysterische in Frage kommen, genau bekannt. So schreibt O . Bumke (Lehrbuch der Geisteskrankheiten 1929, 274 f.): „Es gibt hysterische Frauen, die wirklich eine Art D o p p e l e x i s t e n z besitzen, besorgte Hausfrauen und zärtliche Mütter und zugleich Dirnen niedrigster Art sind und die offenbar in der einen Situation die andere vollkommen vergessen". Man beachte das „zugleich „Es ist gar nicht nötig", fährt Bumke fort, „daß es dabei zu einem „ a l t e r n i e r e n d e n B e w u ß t s e i n " im Sinne einer Bewußtseinst r ü b u n g kommt. D i e Kranken können in dem einen Zustand genau so klar sein wie im andern; nur ihre Persönlichkeit schwankt, ist labil. D a rum vermag der Hysterische auch Verbrechen und sonstige Schändlichkeiten, die er veranlaßt hatte, mit der ruhigsten Miene v o n der Welt abzuleugnen, den Mitschuldigen zu verraten und im Stich zu lassen. Er ist nach der Tat oder nach der Entdeckung ein anderer geworden, der von dem, was vorher war, nichts mehr weiß; er hatte das Erlaubte und das Unerlaubte zu spielerisch nebeneinander gedacht, daß es ihm nichts ausmacht, sich nachträglich entweder mit der einen oder mit der andern Gedankenreihe zu identifizieren".

Man sieht den Unterschied. Das eine ist ein intellektuelles, das andere ein moralisches Phänomen, das tief in Bestand und Wert der Persönlichkeit eingreift. Beim nichtpathologischen Alternieren der Dauerfugungen gibt es kein derartiges Vergessen wie das geschilderte, weil die Persönlichkeit intakt ist oder sein kann: alle Vorstellungs- und Erinnerungsbestandteile der jeweils nicht aktivierten Zwillingsfugung stehen zur vollen Verfügung und entbehren nur der zu Schlüssen und Entscheidungen befähigen-

Hysterische

und nichthysterische

Wechselfugung

85

den Denkvaluta: sie werden anders gewertet. Diese Persönlichkeiten sind nicht labil, können aber gleichwohl zweierlei Gewissen haben, deren jedes in einem besonders tief empfundenen Lebenswert wurzelt. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür in der Geschichte. Dies ist auch der Fall von R e b e k k a W e s t , wie Ibsen sie in „Rosmersholm" gezeichnet und gemeint hat. O s k a r Bumke f a ß t sie mit guten Gründen als eine schwer Hysterische auf. T u t man dies mit ihm, dann muß man annehmen, d a ß Ibsen sie stark verzeichnet hat, weil sie im Schauspiel selbst hinterher als hochwertige Persönlichkeit erscheint. Eine solche W a n d l u n g aber gibt es bei Hysterischen nicht. In der T a t zieht Bumke diesen Schluß, d a ß Ibsen sich in den psychiatrischen T a t sachen geirrt habe. D a es sich um keine Wirklichkeit, sondern um eine Dichtung handelt, ist diese Deutung möglich. W i r indes wollen einen andern, mindestens ebenso gut möglichen Weg der Deutung einschlagen, den uns die vom Dichter an die H a n d gegebenen Einzelheiten gestatten. W i r versuchen, auf G r u n d unserer Erkenntnisse von der Fugung und Ü b e r f u g u n g die Gestalt der Rebekka West z w a r als Verbrecherin, aber nicht als Hysterica uns verständlich zu machen. U n t e r den Wikingern und ihren Frauen, wie wir aus den Sagas wissen, sind viele solche starke und ungebrochen handelnde N a t u ren gewesen, ehe sie christlich wurden und das Christentum eine andere, menschliche Seite in ihnen weckte, die n e b e n der andern, heidnischen bestand und besteht. Rebekka West richtet sich f ü r ihre U n t a t selbst. T ä t e sie es nicht, w ü r d e sie vielleicht (da sie weiter lebt) ihr früheres, mit sehr guten Gründen zu stützendes „heidnisches" oder „verbrecherisches" Dauersyntagma wieder reaktiviert erhalten haben: sie hat einfach den M a n n zu gewinnen gesucht, dem sie sich geistig ebenbürtig fühlte, und hat mit dem Recht dieser Ebenbürtigkeit die andere Frau verdrängt. D a ß diese ins Wasser ging, m u ß nicht einmal ihre Schuld sein, kann es natürlich sehr wohl. Diese T a t Rebekkas braucht nicht hysterisch zu sein, weil echte Werte dahinter stehen, die beim hysterischen M a n n wie bei der hysterischen Frau fehlen: hier werden die Syntagmen aus einem Nichts oder nicht viel mehr, meist aus Zweckmäßigkeitsgründen oder Eigensucht, Eitelkeit. Bosheit gewechselt. Dagegen haben wir — und auch in unserer Zeit — mehrfach den Fall m e h r m a l i g e r echter Konversionen hin und zurück und wieder hin (meist zwischen Protestantismus und Katholizismus) erlebt. U n d genau das gleiche in den beiden letzten Jahrzehnten politisch und noch viel häufiger erotisch. Das wechselnde „gute Gewissen" ist noch kein hysterisches Symptom. Es k a n n in echtem Wertempfinden wurzeln und ist dann ein Entfärbungs- (kein Verdrängungs-) Phänomen, d. h. der Gehalt des jeweils inaktivierten „guten Gewissens" ist unvergessen, aber summenhaft aufgelöst oder „zersetzt", entbehrt der zu

86

Die kranke

Zweitseele

Schlüssen und Entscheidungen, k u r z zu Verganzheitlichungen

befähigen-

den D e n k v a l u t a .

Ein Beispiel für Alternationen ohne Hysterie bieten auch bisweilen die Angehörigen

der Hysterischen, wie O . B u m k e

(a. a. O . ) kennzeichnet. Sie können einer echten

sie

Paranoese

mit oder ohne Alternationen verfallen, ohne selber hysterisch zu sein. B u m k e sagt: „Übrigens füllt die Psychologie dieser Angehörigen beinahe ein K a p i t e l f ü r sich. Sie können jahrelang gequält und tausendmal enttäuscht, betrogen und in Verlegenheit gebracht worden sein und fallen den K r a n k e n doch immer wieder zum Opfer. . . . Derselbe Kollege, der mir auf die Mitteilung, seine F r a u habe andere Patientinnen

bestohlen,

berichtet hatte, auch die Manteltaschen in seinem W a r t e z i m m e r hätte sie schon

geplündert,

ergriff

nach

einer

Stunde

Zusammenseins

mit

der

K r a n k e n entrüstet ihre P a r t e i , wie wenn die ganze Vergangenheit auch für ihn ausgelöscht w ä r e . " D a s ist deutlich.

Dieser F a l l ist echte, nicht psychopathische, nicht hysterische Paranoese, weil biologisch wichtige, sozusagen „berechtigte I n teressen", freilich in einem nicht mehr biologisch

wertvollen

Grade, vertreten w e r d e n . O b diesDauersyntagma mit den andern» voraufgegangenen und scheinbar „vergessenen" alterniert, ist eine Sache für sich: die Alternation k a n a

hinzutreten, sie

braucht es nicht, wie die typische Kriegs- und Paranoese zeigt,

Revolutions-

die sich auf absehbare Zeit nicht auswechselt

(zum Begriff der Alternation gehört ein psychisch merkbarer Rhythmus). Ist der biologisch wertvolle G r a d eines biologisch wertvollen Dauersyntagmas nicht überschritten, dann liegt auch nicht einmal eine Paranoese vor. So lag Goethes Eintreten für seine F r a u gegen Bettina B r e n t a n o nach dem Zusammenstoß beider Frauen ein ordnungsgemäßes und keineswegs übertriebenes Dauersynt a g m a zu Grunde, weil er ein berechtigtes Interesse vertrat, obwohl Christiane im Unrecht war. Die Frage der „ O b j e k t i v i t ä t " stellt sich beim S y n t a g m a , so lange es nur aufs H a n d e l n und nicht auf die Theorie, die Wissenschaft geht, überhaupt nicht. D i e ist hier fehl a m O r t . S o b a l d gehandelt werden m u ß , h a t e i n S y n t a g m a vorauszugehen. E r s t in der Reflexion, in der Wissenschaft, in der richterlichen Interessenabwägung gibt es mit Fug „ O b j e k t i v i t ä t " . Ebenso, w o ein K r i e g noch nicht ausgebrochen ist, sondern sein

Rebekka

West. Der

87

Ur-Tannhäuser

Entstehen noch fraglich ist und noch verhütet werden

kann.

I s t er ausgebrochen, ist sie für die Beteiligten in der Regel nur schwer möglich, weil gehandelt werden muß. D a r u m w a r in der Solonischen Gesetzgebung N e u t r a l i t ä t verboten, sobald ein Bürgerkrieg ausgebrochen war. U m ihre Geltung festzustellen, erhebt sich freilich die schwierige Frage, w o

und w a n n

ein

K r i e g beginnt. W e r schon im K a m p f der Presse, Propaganda, Äthersendungen den Krieg sieht, wird bereits in allen Äußerungen wissenschaftlicher Art auch in „Friedens"zeiten die Möglichkeit zu „verbrecherischer O b j e k t i v i t ä t " gegeben sehen. E i n solcher Seelenzustand bildet schon den Ubergang zur Paranoese.

Rebekka West. Der Ur-Tannhäuser U n d nun lesen wir die Stelle in R e b e k k a s Selbstanklage noch einmal: „Ich w a r damals noch nicht, was ich jetzt bin, w o ich hier stehe

und

es euch erzähle.

zweierlei

Willen

im

Und

dann

gibt

es

auch

wohl

M e n s c h e n , sollte ich meinen!

Ich wollte Beate weghaben. So oder so. Aber trotzdem glaubte ich nicht, d a ß es jemals geschehen würde. Bei jedem Schritt, den es mich vorwärts lockte und reizte, schien etwas in mir zu schreien: jetzt nicht weiter! Nicht einen Schritt weiter! dann k o n n t e

Und

ich es doch nicht lassen." D i e Alternation steht

also fest. E i n m a l sah R e b e k k a alles als Feindin Beates, dann wieder als ihre Freundin an, für die sie sich aufopferte. Beides alterniert. Als das Schauspiel beginnt, ist das ältere S y n t a g m a I aktiviert, in dem dramatischen Schluß des 2. Aktes wird es gegen S y n t a g m a I I ausgewechselt. „ V e r g e s s e n " ist nichts (also auch keine Hysterie vorhanden), aber R e b e k k a

ver-

s t e h t sich nicht mehr, d . h . das summenhafl: gewordene S y n t a g m a I hat sich als solches aufgelöst, und der unganzheitliche G e h a l t dieses Syntagmas befremdet sie, so d a ß sie vor ihrem eignen gespensterhaft gewordenen Ichbild erschrickt. A u f f a l l e n d bleibt nur, d a ß sie bei solcher Nichtidentifikation dennoch ein Bedürfnis nach Sühne für eine ihr doch fremd gewordene Person hat. D a s deutet darauf hin, daß ein Rest Selbstidentifizierung erhalten geblieben ist und R e b e k k a sich nicht davor sicher fühlt,

88

Die kranke

Zweitseele

daß das alte Syntagma I doch wieder in ihre "Wirksamkeit eingesetzt würde, wie es auch uns so gut wie sicher erscheint, daß ohne das gewaltsame Ende die Alternierung wieder in ihre Rechte eintreten würde. Das spätere christliche Syntagma II ist ein „Gewissen", aber auch das heidnische ist gewissensartig, wie aus Rebekkas Lebensführung hervorgeht. Ibsen gibt im Gegensatz zum deutschen und französischen Naturalismus außergewöhnliche Menschen. Eine b 1 o ß e Hysterica (auch H e d d a Gabler hat nur hysterische Z ü g e ) wäre nichts Besonderes. Rebekka ist ein Geier, aber nidit krank, eine Wikingernatur mit doppelter Willensanlage zum Verbrechen u n d ' z u r Heiligkeit hin. Ibsen kannte solche Anlagen. Es ist die gleiche Lebenswirklichkeit, der wir auch bei Dostojewski begegnen. Als freies, wildes "Weib, selber ein Kind freier, verbrecherischer Liebe, war sie in das genau entgegengesetzte konservative, altadlige Haus des Pastorenehepaars Rosmer gekommen. Sie ist kein „Weibchen", in keiner Weise spielerisch, sondern eine „ N a t u r " im Sinne Goethes und verliebt sich mit dem ganzen Ernst einer solchen in den Pfarrer, der mit seiner mimosenhaft sensiblen Frau Beate in einer pietistischen Ehe (wie der Kammerherr in Fontanes „Unwiederbringlich") zu leben scheint. Ob Rebekka sich nun in dem Schwächling täuscht oder nicht, sie begehrt ihn f ü r sich und ist überzeugt, ihn aus der moralischen Düsternis seiner Ehe zu freien und sonnenhaften Überzeugungen bringen zu können. Die Ereignisse geben ihr recht. Sie hat große Dinge mit Rosmer vor, nicht aus der Sucht, aufzufallen oder eine Rolle zu spielen, sondern aus der Herrenmenschennatur ihres heidnischen Ursprungs heraus, die nach gut und böse nicht fragt. Sie sah, daß der Mann, den sie liebte, in freudloser Ehe verkümmerte („denn du warst niemals ganz du selbst, so lange Beate lebte"). Außerdem begehrte sie den Mann sinnlich-leiblich mit der animalischen Wildheit ihrer unverbrauchten Triebe. Im Augenblick fühlte sie die zarte Beate als ihre Feindin, die sie aus dem Wege räumen müsse. Der starke Wille hypnotisierte den schwachen. Beate, von Rebekkas unausgesprochenen Andeutungen überzeugt, hier keine Rechte mehr zu haben und weichen zu müssen, wählte den Freitod. Aber nicht nur Rebekka hypnotisierte die Beate. Die Siegerin wurde vice versa von der christlichen Dauerfugung der Besiegten „angesteckt" (Ibsens eigener Ausdruck). Ihre subjektive Schuldlosigkeit hielt nicht vor, sondern alternierte schon zu deren Lebzeiten, wie es scheint, mit einem schuldbewußten Gewissen: das eine konnte das andere nicht verstehen. Ihre N a t u r wurde gebrochen. Es kam aber auch zu keiner „Läuterung", solche Wertung liegt Ibsen ganz fern — Heidentum ist so viel wert wie Christentum —, nur zu einer „Umwandlung", wie er Rebekka sagen läßt. An der Doppelheit gleichberechtigter Dauerfugungen ist also nicht zu zweifeln: dort erscheint das heiße Begehren und T u n Rebekkas strahlend

Rebekka

West. Der

Ur-Tannhäuser

89

und gesund, hier als "verpfuschtes Leben". In dem Grade, wie sie Rosmer innerlich frei macht, wird sie selber gebrochen und unfrei. Auf seine Weise hat jedes der beiden Syntagmen recht. Dort war sie heidnisches Naturkind, hier ist sie geistige, wahrhaft und selbstlos liebende Frau: beides echt und stark, nur mit einander nicht vergleichbar. D i e s e s Doppel-Kraftweib ist es gewesen, das Ibsen hat darstellen wollen, keine Kranke oder Defekte, wie Bumke meint. Der Begriff „Läuterung" trägt daher eine unerlaubte Wertung in das D r a m a und fälscht Ibsens Absicht. Eine bloße Auswechslung liegt vor, und durchaus keine wesentlich letzte, wie es eine Läuterung verlangen würde. Wir sind überzeugt, Rebekkas christliche Zweitseele ist nicht ihre letzte, wie sie ja auch früher schon ausgewechselt worden ist. Rebekka hätte sich auf ihre zweite N a t u r zurückbesonnen, namentlich bei der Begegnung mit einem ebenbürtigen, ihr an Instinkten gewachsenen Manne, der ihr versagt geblieben ist. Diese „ N a t u r " besteht also aus zwei naturhaften Blöcken. Wir kennen aus der Geschichte auch sonst Menschen, deren animalische und deren geistige N a t u r sich in ihrer Großartigkeit die Waage hielten, nur daß gewöhnlich beide einander in einmaliger Konversion ablösten und nicht wie bei Rebekka alternierten. Die rechte Auffassung und auch Darstellung solcher Doppelnaturen wird durch die Abneigung des Publikums, sich in solche Monstruositäten hineinzudenken, erschwert. Es liebt Charaktere, die aus einem G u ß sind oder wenigstens e i n e r Wertung unterliegen, um nicht ein doppeltes Koordinaten-System heranbringen zu müssen. Dies ist z. B. auch der Grund, warum Richard Wagner die viel tiefere Fassung des „U r - T a n n h ä u s e r " dem Publikum zu Liebe hat ändern müssen. Tannhäuser ist ein Fall ausgesprochener Alternatiori der Zweitseelen. Sinnlichkeit (heidnische Antike, verkörpert in der Venus) und christliche Liebesauffassung (verkörpert in Elisabeth) sind beide gleich stark in ihm. Der Mensch geht daran zu Grunde. Wagner in seinen jungen Jahren strebte eine Synthese an, die dem idealen Menschen der Z u k u n f t die Ineinssetzung von Sinnlichkeit und Heiligkeit, Antike und Christentum ermöglichte. Darum deutete er in der Schlußfassung der Ouvertüre (gleichzeitige Verwebung der Venusbergmusik und des Chorals) wie am Ende des Dramas, und in seiner eigenen Erläuterung zur Ouvertüre die Synthese an: Gottheit und Sinnlichkeit versöhnen sich in einem „allumfassenden, heilig einigenden Kusse der Liebe". Darum wird in der ersten Fassung Venus mit Elisabeth gleichgestellt. Keine von beiden beherrscht das Schluß-Bühnenbild; dagegen ertönt Elisabeths Glöckdien, und von ferne leuchtet der rot erglühende Hörselberg der Venus als Zeichen der ihr von Gott zuteil gewordenen „Erlösung". Aber diese von Wagner gewollte Oberwölbung zweier Dauersyntagmen in einem heiligen Dritten erwies sich als nicht bühnenwirksam wegen der Unfähigkeit des Publikums, zwei so verschiedene Prinzipien als gleichberechtigt zu werten. Die Verherrlichung der Heiligen und die Verdam-

90

Die kranke

Zweitseele

mung der Teufelin war ihm geläufiger. Entsprechend war ihm ein alternierender, sowohl heidnisch-antiker wie christlicher, Tannhäuser mit z w e i m a l i g e m Wertakzent unverständlich. U n d so k a m es zu der zweiten und der heute gespielten dritten Dresdner Fassung, wonach Elisabeth den Geliebten von aller Strafe, die er ob seiner Sinnlichkeit „verdient" hätte, erlöst und die böse Venus verdammt wird. D a m i t w a r die Einheit hergestellt, aber die tiefe Idee Wagners verloren gegangen. In der Pariser Fassung wurde mit der gestrichenen Schlußfassung der Ouvertüre audi der Rest von Wagners ursprünglicher Tannhäuser-Idee getilgt.

Die Paranoese als Forscherkrankheit Die w i s s e n s c h a f t l i c h e P a r a n o e s e in ihrer alternierenden wie nicht alternierenden Form ist eine Forscher- und Entdecker- (auch Erfinder-, Reformer- und Religionsstifter-) „Krankheit", d. h. die zunächst ganz natürliche Form der Ubertreibung aus Entdeckerfreude oder Bekehrungseifer. Sobald der Forscher von einer Idee erfüllt ist, schießen von allen Seiten die „Belege" an die Kristallachse dieser Idee an, und der Entdecker sieht jetzt in der "Welt überhaupt nichts anderes mehr als Zeugnisse und Bestätigungen seines Gedankens, von deren Objektivität er überzeugt ist. Die Psychologie des Syntagmas und des seelichen Gefälles, das zu ihm führt, würde ihm, wenn er sie kannte, die Einsicht in die subjektive Bedingtheit seines neuen "Weltbildes oder Systems verschaffen, aber den Nachteil haben, ihm die Entdeckerfreude und die für deren Erhaltung erforderliche Illusion zu rauben. Er würde erkennen, daß keine „Inspiration" ihm den Schleier von den Augen der wirklichen Welt gezogen hat, sondern daß seine langjährige Forscherarbeit seinem Unbewußten die Bausteine zugetragen hat, die so lange ein Mosaik bildeten, Weil die verknüpfende Idee noch fehlte. Jetzt, wo diese gefunden ist, da siebt, ordnet, gruppiert und akzentuiert sich das Chaos der Bausteine psychomechanisch und ohne besondere Arbeitsleistung zum Kosmos: die eigentliche Arbeit ist früher geleistet worden, und der Forscher bringt jetzt die Ernte langjähriger Kleinarbeit ein. Er hat es also mit zwei Täuschungen: 1. der Inspiration der scheinbar plötzlich vom Himmel gefallenen Entdeckung, 2. der Objektivität des in Wirklichkeit

Der Okkultismus.

Don

91

Quijote

sehr einseitig gesiebten und sehr subjektiv zustande gekommenen psychotagmatischen Materials zu tun. Sehr leicht entsteht so bei Dichtern, Schriftstellern, Philosophen und Sektenstiftern der Eindruck der plötzlichen Eingebung und der objektiven „Offenbarung". Sie wissen nicht, daß erst die langen Jahre geistiger Vorarbeit jenes abgerundete Ergebnis reifen ließen, daß dann die bloße plötzliche Bewußtwerdung dem naiven und erschreckten Denker als Neugeburt erscheint, weil ihm die Vorgeschichte unbekannt ist. Der Mensch erschrickt also in Wahrheit vor seiner eigenen Dauerfugung, aus der sich, wenn er sich ihr ganz überläßt, eine Paranoese entwickeln muß. So hat bekanntlich Nietzsche solche Zustände gehabt, von denen er bekennt, daß sie in mythengläubigen Zeiten den Eindruck der Inspiration hervorrufen müßten. E i n Schulbeispiel f ü r diese Selbsttäuschung entnehmen w i r der Mitteilung Johannes Müllers, der seine Eindrücke f o l g e n d e r m a ß e n

wiedergibt:

„ M a n hat später gesagt, ich hätte sehr geschickt verstanden, meine

Ge-

danken den W o r t e n Jesu unterzulegen. D a s ist eine Selbsttäuschung der Oberflächlichkeit. In W a h r h e i t liegt es so, d a ß ich die Offenbarung Bergpredigt,

die ich empfing, in meiner Sprache mitgeteilt habe.

was ich aussprach, w a r

mir selbst

„So m u ß m a n m i r schon glauben,

ganz

neu und

unerhört."

d a ß ich v o r d e m Beginn

leuchtenden Einsichten nichts v o n d e m w u ß t e ,

der Aber

dieser a u f -

was sie m i r an

Klarheit

brachten, und die einzige V o r a u s s e t z u n g und Befähigung d a z u in meiner A r m u t des Geistes bestand. Ich habe also nicht das E v a n g e l i u m Jesu entdeckt, sondern es ist m i r enthüllt und im einzelnen wie im ganzen eingehend gezeigt w o r d e n . " wie sie sich v o l l z i e h t " . folgte

seiner

„Ich weiß seitdem, was „ I n s p i r a t i o n "

ist und

„ I n dieser W e i s e erfuhr ich den W i l l e n

Gottes,

F ü h r u n g und

lebte

aus

seiner

Wirkenskraft

und

immer

neuen B e g a b u n g . "

Der Okkultismus. Don Quijote Echte Paranoesen oder auch bloße Uberfugungen finden wir weit stärker als bei den Theologen und schlicht Gläubigen, die um keinen gefährdeten, weil neu erworbenen, Besitz zu kämpfen haben, bei den Sektierern aller Richtungen, den Bibelforschern, Theosophen, Lebensreformern, Gesundbetern, Wundergläubigen und Spiritisten. Deren seelisches Gefälle ist so stark, daß

92

Die kranke

Zweitseele

alle Einwände, gleich welcher A r t , nur der Hypertrophie des Syntagmas dienen, das man insofern einen „Allesfresser" nennen kann, als ihm alle Dinge, auch die scheinbar untauglichsten, zum Besten, d. h. zur Assimilation und Bestärkung dienen, und das auch die ungünstigsten Zeugnisse für sich, d. h. für die eigene Ernährung zu verwenden weiß. So verwenden die radikalsten Spiritismus-Gläubigen auch die Entlarvungen der Medien, auch deren

Selbstbezichtigungen,

haben, zu ihren Gunsten.

ihre

Bekenntnisse,

betrogen

zu

Sie handeln nicht anders, als es der

großartigste und starrsinnigste Phrenotiker, den je ein Dichter gestaltet hat, D o n Q u i j o t e , auf jeder Seite des berühmten Romans tut. Dessen Abenteuer und zweifelhafte Heldentaten mögen so schlecht auslaufen und gegen seine Ideologie von der Herrlichkeit der „fahrenden Ritterschaft" zeugen, wie es nur denkbar ist: immer dienen sie und erst recht als Argumente für diese Ideologie.

Mindestens ist stets ein „böser Zauberer" zur

H a n d , der den hochsinnigen und edlen Ritter durch teuflisches Blendwerk getäuscht oder gar seine unvergleichliche Dame, das Fräulein Dulcinea von Toboso, in eine einfältige Bauernmagd (in Wirklichkeit ist sie nichts anderes) verwandelt hat. Als Florence Cook, das berühmte Medium von Crookes, nach ihrer Verheiratung

entlarvt wurde

(ein Beisitzer hatte den „Geist"

gepackt

und dabei das Medium selber in Korsett und Unterrock im Arm festgehalten, während im Kabinett die Kleider und abgestreiften Verschnürungen lagen), da wurde auch diese Tatsache vom Syntagma der Spiritisten mit Leichtigkeit assimiliert. Sie sagten, der Kontrollgeist, nicht das Medium, habe die Täuschung ausgeführt. In Wirklichkeit gibt es in der T a t außer dem kriminellen Betrug auch den unbewußt medialen Betrug, das Medium nichts kann.

für den

Jene dritte Art Betrug von Seiten der „Gei-

ster" aber ist eine Erfindung des spiritistischen Dauersyntagmas. Dabei geht es nicht bloß um die Medien oder ihre Anhänger, ihre Clique, ihre Familie, welche von

der Karriere

des Mediums profitieren

und

dessen Fähigkeiten im besten Glauben durch dick und dünn verteidigen. „Lug und T r u g " ,

sagt Fanny Moser

(Der Okkultismus, 1935, S. 7 5 5 ) ,

„belasten dabei in eigentümlichster Weise audi die Beisitzer. Es gibt sogar einen Betrug

der

unabhängigen Forscher".

„Uneigennützige Betrüger'"

nannte sie der Okkultismus-Forscher Podmore. Gibt es eine Lust an der Täuschung, am Betrug, ja am Selbstbetrug, wie es eine Lust am Schmerz, eine (schon beim Affen wohl bekannte) Lust am Grauen und Entsetzen gibt?

Der Okkultismus.

Don

93

Quijote

Von da, von der Paranoese des reinen Glaubens bis zu der des (auslesenden, gruppierenden, also betrügerischen) Tuns, ist dann der Schritt nicht mehr so groß, und es sind gerade die gutgläubigen Medien, Anhänger, Beisitzer, welche Phantome fabrizieren oder sonstwie nachhelfen. „ N u n , ich habe mir geholfen. Alle tun es", sagte das berühmte physikalische M e d i u m G u z i k nach seiner E n t l a r v u n g im J a h r e 1924.

So kann sich auch in den Beisitzern und Forschern das seelische Gefälle vom unwillkürlichen Interesse an der Gestaltung der okkulten Dauerfugung bis zum Interesse, diese Dauerfugung massiv und real herzustellen, versteigen. So wird hier wie auch sonst im Leben (pia fraus, Jahrtausende alter, selbstverständlicher Priesterbetrug in der Religion, Lüge und Meineid vor Gericht) eine Irreführung nicht als Betrug angesehen, wenn sie vom seelischen Gefälle gefordert erscheint, weil sie ja nur bestätigt, was ohnedies wahr ist. Nach tatsächlicher (nicht nach normativer) Moral ist es e r 1 a u b t, eine gute Sache mit schlechten Gründen zu verteidigen. (Eine T a g u n g der deutschen Anwälte kurz vor dem ersten Weltkriege befaßte sich ausdrücklich mit der Frage, ob der Anwalt im Rechtsstreit mit Prozeßgegnern zur Berichtigung von Irrtümern verpflichtet sei, wenn die Wahrheit nur dem Gegner nützen würde. Die heiß umstrittene Frage wurde weithin verneint, von andern bejaht.) Das Vertuschungssystem, das Streben, nur das an Tatsachen, Zeugnissen zur allgemeinen Kenntnis durchzulassen, was ins eigene Syntagma paßt, ist die Regel. F a n n y Moser schreibt:

„Perovsky

General B., der seiner F r a u verbot,

einen

russischen

über eine betrügerische

z. B.

erwähnt

Bewegung

Guziks, die sie beobachtet hatte, zu sprechen. In die gleiche K l a s s e gehört Schrenk-Notzings Brief an mich mit der A u f f o r d e r u n g , meine E i n w ä n d e nicht zu veröffentlichen, griffen zu geben.

um den Gegnern kein Material zu neuen An-

V o n einem solchen V e r b o t zur S e l b s t f a b r i k a t i o n der

Phänomene ist nur ein Schritt, sofern man v o n der allgemeinen E x i s t e n z derselben überzeugt ist und gerade das Gelingen gerade dieses Versuches f ü r besonders wichtig hält." (A. a. O . 767.)

Übrigens tut der Mensch in harmloserer Form das gleiche täglich. Er bekräftigt und bestätigt seine Dauerfugung nicht nur in Gedanken und mit dem Urteil, sondern auch mit der T a t . Er a g i e r t dies sein Urteil als seine „ R o l l e " und hilft mehr oder

94

Die kranke

Zweitseele

weniger bewußt dort künstlich nach, wo die Argumente einmal nicht ausreichen, w o „in diesem einen F a l l e "

die als

empfundene

möchte

Wirklichkeit

anders verlaufen

atypisch und

der

Glaube an die als gerecht empfundene Wirklichkeit einer Stütze bedarf. W o also Einzelwahrheit als „ L ü g e " empfunden würde. Das gilt für alle kaufmännische W e r b u n g , religiöse, politisdie u. a. Propaganda. I n diesem Sinne haben alle Priester, Zauberer „betrogen", empfundene

Dauerfugung

Götzendiener,

d. h. eine biologisch wertvoll

nicht

nur

durch

Gedankenopera-

tionen, sondern auch durch reale Manipulationen zu stützen gesucht. F a n n y Moser spricht v o m „Betrug aus idealen M o t i v e n " und erwähnt die v o n Richter erzählte Anekdote, wonach „ A m p e r e bei einem elektrischen E x p e r i m e n t v o r einer akademischen Kommission der N a d e l , die entgegen seiner Behauptung ruhig blieb, mit dem F i n g e r einen Stoß versetzte, d a er sie unter allen U m s t ä n d e n bewegt sehen w o l l t e " . Zwischen dem F o r scher, der aus seiner wissenschaftlichen Oberzeugung heraus einem w i d e r lichen Zufall abhilft,

und dem aus gleichen Motiven betrügenden Spiri-

tisten sei kein Unterschied. „ V o n seinem Standpunkt hat jeder das gleiche Recht zu einer kleinen N a c h h i l f e " (a. a. O . 7 6 8 ) .

Psychome in der Wissenschaft In

der W i s s e n s c h a f t

wirkt

die Paranoese

besonders

katastrophal dann, wenn sie ihre Ursachen nicht in der wissenschaftlichen Monomanie selber, sondern in den öffentlichen Zuständen besitzt. W o keine Freiheit des Denkens besteht, müssen Paranoesen entstehen. K e i n e bewußte Schuld, sondern eine D e n k lähmung, die bereits das Gewissen beeinflußt, bringt das D e n k e n und das Weltbild, die wissenschaftlichen Urteile und G e d a n k e n systeme in eine Richtung, die ohne jene ständige Bedrohung der bürgerlichen Existenz

durch materiellen oder Gewissensterror

niemals eingeschlagen worden wäre. D i e Gelehrten denken und forschen bona fide. Denn die Paranoese geht so tief, d a ß auch das Gewissen, der beste Nervenschutz, den der Mensch besitzt, angegriffen und die Persönlichkeit entwertet werden k a n n , ohne daß diese etwas davon zu wissen braucht. Heilung k a n n hier

Piychome

in der

Wissenschaß

95

darum niemals durch Gründe, Beweise, Uberzeugungskünste, auch nicht durch „Läuterung" und ähnliche Flickversuche, sondern nur durch echte „Bekehrung", d. h. völlige Umkehr, Auswechslung der ganzen korrupten Persönlichkeit erfolgen, weil ja der Mensch polymorph ist und der Anlage nach mehrere Charaktere in sich birgt. Solche Zeiten wie etwa die des Kaisers Nikolaus I. sind für die Psychologie der „Fallwelt" unschätzbar, weil sie eine Fülle von Experimenten ersetzen, die praktisch gar nicht durchzuführen wären. Wir lernen aus dem Studium solcher Zeiten, wie sofort mit einem Regierungswechsel im Sinne geistiger Bedrückung schlagartig auch die Paranoese einsetzt, die gerade unter N i k o laus I. sehr lehrreich war. Das durch die innerseelische „Zensur" geschaffene seelische Gefälle wirkt anders als die von der Psychoanalyse entdeckte „Verdrängung", nämlich nicht einfach vergessen machend, sondern auslesend, entfärbend, umakzentuierend und umwertend. Sie wirkt dadurch viel radikaler: das nur Verdrängte wirkt in der Verkleidung weiter und kann jederzeit wiederkehren. Die entfärbte Dauerfugung, auch das entfärbte Gewissen kehrt nicht wieder — außer durch echte „Bekehrung", d. h. Auswechslung der ganzen Persönlichkeit oder — in kleinem Maßstabe — durch Alternation. T r o t z d e m die russischen Denker unter Nikolaus I. (wie die nazistischen unter Hitler) schlechte Tage sahen, waren sie ehrlich überzeugt, d a ß jetzt der Anbruch der wahren Philosophie sei! T r o t z d e m es keine Freiheit des Denkens gab und jeder Verdächtige belauert und eingesperrt wurde, glaubten jene, d a ß nun erst der Geist des russischen Denkens am Aufblühen sei! „Der P r o f . Michnewitsch in Odessa w a r nicht der einzige, welcher glaubte, nur in R u ß l a n d könne eine w a h r h a f t e Philosophie erblühen." Ein typischer Vertreter der Regierungsphilosophie dieser Zeit w a r der Petersburger Professor Fischer. Von ihm sagt der russische Philosophiehistoriker Jak. Kolubowsky (auf den auch obiges Z i t a t zurückgeht): „Fischer war, je nach Befehl der Obrigkeit, bereit, ganz entgegengesetzte Lehren zu predigen." H i e r haben wir die Paranoese in Verbindung mit Alternation. Die Alternation ist kein immer gleiches Phänomen. Sie kann sehr tief gehen (wie oben bei Rebekka West gezeigt worden) und sehr oberflächlich bleiben. Dies ist zumeist auf rein wissenschaftlichem Gebiet der Fall. Der Tiefengrad ist natürlich nicht in jedem Fall leicht zu bestimmen. E r ist bei „reuigen" Verbrechern angesichts der Beweislast oder nach zermürbender Untersuchungshaft zusammenbrechenden Angeklagten ganz verschieden.

96

Die kranke

Zweitseele

Ein wichtiger Faktor der Alternation ist die öffentliche Meinung. Das Syntagma eines aus der Masse herausgenommenen und einzeln verhörten Meuterers alterniert gewöhnlich sofort. Eine gelungene oder mißglückte Revolution ändert sofort die bis dahin bestehenden Syntagmen. Neuerdings tritt der überwältigende Einfluß der Radio-Propaganda der betreffenden Länder hinzu. Hierzu gehören alle den Unkundigen seltsam anmutenden Selbstbezichtigungen. Nicht wenige „Hexen" haben sich in ehrlicher Überzeugung von ihrer Schuld aus ihrer Paranoese heraus solcher Verbrechen bezichtigt, die sie (wie fleischlichen und geistigen Umgang mit dem Teufel) unmöglich begangen haben können. Noch heute bezichtigen sich im Beichtstuhl der römischen Kirdie gerade die zartesten Gewissen der unmöglichsten Dinge. Die vorgeschriebene Gewissenserforschung wirkt auf Menschen bestimmter seelischer Verfassung wie eine Folter, und diese erzeugt immer Paranoesen. Audi die Selbstbezichtigungen nicht reüssierender Kriegführender wie Revolutionäre aller Völker (so des deutschen 1918/19), der russischen Trotzkisten erklären sich zur Genüge aus dem Mechanismus des Syntagmas, das sich — sei es „von selber", sei es unter dem Druck der öffentlichen Lage und öffentlichen Meinung, des ö f f e n t lichen Anklägers, sei es durch geschickte Regieführung des Staatsanwalts — zu jener berüchtigten Paranoese schwerster Art steigert, die der Selbstpreisgabe gleichkommt. Von den rein seelischen Mitteln bis zur Folter gibt es zahlreiche und lückenlose Ubergänge.

Alternation ohne Paranoese finden wir überall in der gesunden Forschung. Gerade die gewissenhaften Forscher, Richter, auch Anwälte probieren in Gedanken alle Möglichkeiten aus: heute schießen alle Wissenselemente an jenen, morgen an diesen Fugungskern an. Ein Meister in der fast lebenslangen Festhaltung tiefgreifender, aber widersprechender Dauerfugungen war Immanuel Kant. U m der Alternation aus dem Wege zu gehen, schuf er die großen Dualismen: des Glaubens und Wissens, der praktischen und der theoretischen Vernunft,- der Freiheit und der Notwendigkeit des Kausalgesetzes. Am auffallendsten war und ist die theoretische Gottlosigkeit des im Praktischen tief gottgläubigen Mannes. Echten und häufigen Alternationen begegnen wir dagegen bei Friedrich Nietzsche.

Der zweitseelische Automatismus Ohne die harmlosen wissenschaftlichen Fugungen der Übertreibung, die jeder kennt, der eine Lieblingsidee verfolgt und pflegt (der sein „Mistbeet" kultiviert, wie man sagt), wäre for-

Die

Sekundär-Person

97

sehende Arbeit unmöglich. Sie kommen und gehen, vom Zeitgeist beeinflußt und auf ihn rückwirkend, lassen niemanden, einschließlich des Gegners, ungeschoren und steigern sich nur bisweilen in einzelnen Schulhäuptern und Schulen zur Paranoese. Man denke an den historischen Materialismus, an die Anthroposophie und an die Psychoanalyse. Die Wissenschaft als Ganzes lernt auch daraus, lernt auch aus den Fehlern, kräftigt sich durch ihre Uberwindung und hat davon auf die Dauer mehr Nutzen als Schaden. Schlimm wirkt sich die Paranoese dort aus, wo solche Selbststeuerung fehlt. Lehrer und Erzieher, Personalchefs, Aufsichtsbeamte und Polizisten unterliegen den Gefahren des seelischen Gefälles leichter als andere Menschen. Ein Lehrer kann durch dauernde Fehlauffassung, durch lange Übung im scharfen, aber einseitigen Blick, der nur das Ungünstige an einem Schüler sieht, sich dahin bringen, auch nur Ungünstiges zu e r w a r t e n . Und diese Erwartung schafft wiederum rückwirkend in einem sensiblen oder gar labilen Zögling durch Übertragung die Überzeugung, die bei ihm erwarteten schlechten Seiten auch zu besitzen. Der z w e i t s e e l i s c h e A u t o m a t i s m u s eines Polizeibeamten kann, ihm völlig unbewußt, zur dauernden H a f t u n g des Blicks an seinem O p f e r und fortgesetzten Strafanzeigen führen. Der Unteroffizier alten Stils hatte immer jemanden, der ihm schon als Rekrut „auffiel" und von dem sein Blick genau so wenig loskam wie der des Affen von der Schlange. Die viel berufene „Kriegspsychose" ist noch keine Psychose, sondern eine durch allerlei Umstände hervorgerufene, ganz natürliche Paranoese. Das seelische Gefälle läßt überall Spione sehen, solche festnehmen oder gar totschießen. Sonst urteilsfähige Männer nehmen die unsinnigsten Gerüchte gläubig auf, geben sie mit eigenen Zutaten weiter oder treffen übertriebene Maßnahmen. Die Sekundär-Person Diese mehr oder weniger krankhafte Uberwertigkeit einer spezifisch menschlichen Seelenfunktion wirkt sich als eine Art S e k u n d ä r - P e r s o n aus, die automatisch im Menschen 7 F e l d k e l l e r , Das unpersönliche Denken

98

Die kranke

Zweitieele

Leistungen vollbringt, die sonst unmöglich wären. Paranoese kann uns langsam der Menschlichkeit entkleiden. "Wir legen dann eine Kruste um unsern urtümlichen Menschen und handeln nicht mehr aus dessen Frische, sondern aus zweiter H a n d . Diese zweite Person in uns tritt sehr sicher auf, handelt jedoch nicht mehr aus ursprünglicher Verantwortung. Wir haben Jahresringe um unser Herz gelegt, haben ein Gehäuse wie eine Schnecke, ein „Plasma" oder wie wir sagen: eine Dauerfugung aufgebaut, ein Psychoid, das wie eine Seele aussieht und handelt und doch keine ist. Aus diesem Gehäuse, das sich von Jahr zu Jahr weiter ausbaut, wenn wir es nicht abbauen, aus dieser Art seelischen Kesselsteins oder Psycholiths kommen wir nicht mehr heraus, wenn wir Jahr für Jahr vergehen lassen und nicht für „Gelöstheit" sorgen. "Wir hören dann auf, anhebende Menschen zu sein (wenn wir es je waren), die Seele verliert ihre Plastizität, ihre Fähigkeit zur Initiative, und die akute Paranoese, die noch lange kein Malheur sein muß, entwickelt sich zur chronischen Psychosklerose, die wir im Gegensatz zu andern Sklerosen nicht erst bei reiferen Menschen, sondern leider schon häufig in jungen Jahren antreffen und die den Betreffenden für den Kulturfortschritt und höhere, geistige Leistungen unfruchtbar machen. Versuche solcher „Lösung" sind öfter als Bedürfnis empfunden und in besonderen Einrichtungen vorgenommen worden: kirchliche Seelsorge, Exerzitien, Meditation, Yogismus, Psychotherapie, Elmau, Darmstadt bezeichnen solche Unternehmungen, um den biologisch unterwertig, weil unbildsam, spröde gewordenen Charakter wieder aufzulockern, damit er neu sehen und auffassen lernt. "Wo das nicht geschieht, da schiebt sich zwischen die Seele und ihren Gegenstand, die Welt, ein Drittes: die „materialisierte" Psyche, das P s y c h o p h a n t o m , das hart und unbildsam, vor allem nicht mehr rückbildbar gewordene Psychop 1 a s m a, das wie ein Gespenst aus dem Menschen heraus handelt, der je länger je weniger wieder zu erkennen ist und uns schließlich nur noch die facies Hippocratica seiner einstigen Persönlichkeit darbietet. W i r nennen solche schon eindeutig krankhafte Bildung ein P s y c h o m (oder Phrenom).

Das

Psycbom

99

Diese auffallende Tatsache, daß ein Impuls eine Fugung zustandebringen kann, steht also nicht f ü r sich allein. Sie steht zusammen mit den Tatsachen der Hypnose, der posthypnotischen Befehlsausführungen und gewissen Tatsachen des echten Mediumismus, weiterhin aber auch des sog. „objektiven Geistes" (sowohl im Hegeischen wie im erweiterten Sinne von C. G. Jung und Zimmer) in einem großen, umfassenden Zusammenhang der Sekundär-Personen, die sowohl intraindividuell (wie die bisher betrachtete Fugung) als auch interindividuell d. h. sozialer Art sein können (Zeitgeist, Volksgeist, Klassengeist), jedenfalls jene psychoide Atmosphäre herstellen, die uns alle umspült und ohne die wir weder das Hegel-Sprangersche „Medium" des zum „Verstehen" erforderlichen sog. objektiven Geistes noch den „limbus" des Swedenborgschen Mediumismus erklären können. Alle diese „Atmosphären" (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) oder „Mutterlaugen" besitzen in irgendeiner Form den hypnoiden Impuls und die z w a n g s f u g u n g s h a f t e D e termination. Das Psychom Das Psychom ist eine Art seelischen Geschwulstes über die Normalerscheinung einer bloßen Fugung, Dauer- und Oberfugung hinaus. Ohne die Dauerfugung ist gesundes menschliches Leben nicht möglich. Diese menschliche Einrichtung erst gibt den Trieben die intellektuelle Stoßkraft. Sie ist der Verstärker, den sich der Mensch zur Durchsetzung seiner Interessen eingebaut hat. Sie schafft den Interessen erstens die dispositionelle Dauer und zweitens die ideologische Verankerung. Das Tier hat derlei nicht. Das Tier bedarf zur Durchsetzung seiner überpersönlichen Triebe keiner Ideologie. Denn sein Uberpersönliches beschränkt sich auf das „phylogenetische Unbewußte". Beim Menschen aber reicht das Unbewußte über die durch Vererbung weitergegebene Sphäre des Phylogenetischen weit hinaus in den durch die Begriffe „kollektives Unbewußtes", „objektiver Geist" gekennzeichneten Bereich. Ja, hier erscheint das Phänomen der „Ideologie" so eigengesetzlich, daß Trieb und Interesse dahinter zu verschwinden drohen. 7"

100

Die kranke

Zweitseele

Dies normale Phänomen erscheint nun als „Psychom" in der F o r m einer V e r k r a m p f u n g . W a s veranlaßt Liebende, die nicht gerade eine metaphysische Weltanschauung, etwa die Idee des Liebestodes treibt, freiwillig in den T o d zu gehen? Es gibt doch keinen Todestrieb! W a s macht den Politiker zum sturen F a n a tiker, der mit dem Lebensglück, j a der biologischen Existenz von Millionen sein Spiel treibt? E i n biologischer Sinn dieses V e r fahrens ist doch nicht sichtbar.

I m Gegenteil, diese um jeden

Preis gewalttätigen schweren Jungen sind Schädlinge in erster Linie des eigenen Volkes. Es gab j a auch psychomfreie Staatsmänner, einen M a r c Aurel, dessen philosophischer Hochsinn bei aller politischen Tüchtigkeit nie fähig gewesen wäre, das reiche Leben in seiner Fülle auf den armseligen politischen Generalnenner zu bringen;

einen Friedrich den Großen, der in seinen

Studierstunden voll Verachtung auf alle Politik herabsah; einen Bismarck, der imstande war, mitten in der Politik gar sehr sich den K o p f der andern, der Gegner — Österreicher, Sachsen, F r a n zosen, der Oppositionsparteien 1 8 6 6 in der Indemnitätsfrage — zu zerbrechen, also nicht b l o ß politisch zu denken, und andere: große, reiche Naturen, Sinn

die neben ihren Staatsgeschäften noch

für außerpolitisches D e n k e n hatten. W i r könnten

auf

Julius C ä s a r und viele andere psychomfreie Staatsmänner und D e n k e r hinweisen. D a s Psychom ist also etwas Besonderes, über die bloße Fugung Hinausgehendes. Dabei dürfen wir nicht übersehen, d a ß gerade das Genie von einer Idee „besessen" zu sein scheint, der es alles zum O p f e r bringt. Aber es ist auch wirklich nur Schein.

Denn

was den Genius vom F a n a t i k e r und beschränkten K o p f unterscheidet,

ist gerade im Gegenteil die Übermenschlichkeit

der

Universalität der Betrachtung, der Freiheit der Persönlichkeit, der Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Denkens, die ihn frei von aller K o n v e n t i o n , Vorurteilen, fable convenue, Zeitrichtung, kurz vom „objektiven G e i s t " schaffen und gestalten, denken

und fühlen läßt.

Goethe, Rembrandt,

Michelangelo

waren großartig psychomfreie Menschen, und Nietzsche w a r es nur deshalb nicht, weil sich neben seinem echten philosophischen Pathos, das vollkommen psychomfrei war, die K r a n k h e i t be-

Das Psychom

101

merkbar machte, die ihn seine überwältigenden Gedanken zeitweise wie etwas Fremdes „überfallen" ließ. Und gerade Nietzsche hat den Gedanken des „Übermenschen" geschaffen, den wir uns nur als den gänzlich psychomfreien Menschen denken können — psychomfrei im Sinne der Freiheit auch vom „objektiven Geist", zu der sich noch kein Sterblicher hindurchgerungen hat. Aber bei der Betrachtung von Kaiser Friedrich II., Friedrich II. von Preußen, Julius Cäsar, von Denkern wie Sokrates, Buddha, Jesus Christus, Spinoza, nach Abzug der krankhaften Züge auch Nietzsche selber zeigt sich deutlich die Richtung, in der w i r den freien und dabei positiven Menschen der Zukunft zu suchen haben: den Menschen, der nicht mehr nur Anhängsel einer Kollektivfugung oder gar eines Peripsychoms ist, den großen freien Menschen, wie ihn unsere Klassiker geschaut haben. Heute besonders haben sich die Menschen einem Uberstaat, einem Uberbewußtsein anheimgegeben; sie sind keine anhebenden Menschen mehr. Das humanistische Ideal des Menschen, der unmittelbar zu Gott steht, der aus dem eignen Innern lebt (also Monade im Sinne von Leibniz ist, was unmöglich auf alle Menschen zutreffen kann), der großen freien Persönlichkeit ist heute im Kurs gesunken und gibt dennoch das Ziel aller menschlichen Entwicklung an. Die Psychiatrie spricht v o n „überwertigen Ideen", am klarsten Ernst Kretschmer,

Medizinische

Psychologie,

Lpz. 1 9 2 6 ,

S. 1 6 9 ff. Auch

bringt das Gleichnis des auf die Eisenfeilspäne wirkenden

er

Magnetpols

und betont die selektive W i r k u n g f ü r Beobachtung und Erinnerung. Er unterstreicht ihre Bedeutung f ü r Liebe und Parteipolitik und die Neigung zu Beziehungsideen, die, sagt er, bei psydiopathischen

Menschen

zum systematisch gebauten paranoischen W a h n s y s t e m f ü h r e n kann. Das Verhältnis der überwertigen Idee zum Psychom w ä r e e t w a folgendes. W i r unterscheiden: 1) N o r m a l w e r t i g e Ideen. Beispiele sind der W e r t der Zange f ü r das Nagelziehen und die Rechtstitel im Erbschaftsstreit v o m S t a n d p u n k t des Richters. 2) N o r m a l überwertige Ideen. Hierzu gehören die Syntagmen als biologische Einrichtung im v i t a l e n

D e n k v o l l z u g . V o m Leben her ist die

überwertige Idee einer gewissen Prägung das N o r m a l e und die „normalwertige Idee"

(unter 1)

der

neutralen,

beschaulichen Betrachtung

das

Nichtnormale. W i r denken e t w a an die Möglichkeiten beruflicher Zielsetzung, an den W e r t der G r ü n d e in der Diskussion, an die Rechtstitel

102

Die kranke

Zweitseele

und Argumente vom Standpunkt nicht mehr des Richters, sondern der Parteien. 3) Anormal überwertige Ideen. Dies sind die Psychome. Hier erst handelt es sich um eine ( t r a n s i t o r i s c h e wie permanente) paranoetisdie Geistesverfassung. 4) P e r m a n e n t e , sehr starke psychomatische Oberwertigkeit von Ideen. Erst eine solche gibt uns den Anlaß, von Paranoia zu sprechen.

Beispiele zur Psychombildung Der Mensch kann den umseelischen Bereich unpersönlichen Denkens f ü r sein persönliches Denken nutzbar machen, sein Allerpersönlichstes mit Bildern und Symbolen des kollektiven Unbewußten koppeln, also Geist und Seele verbinden. Das ist nicht gerade bequem. Die unpersönlichen Bilder gehorchen anderen Gesetzen als denen der Wissenschaft und des persönlichen Gewissens. Das gibt die bekannten Spannungen zwischen „Glauben" und „Wissen", Gruppenseele und Persönlichkeit, denen kein gläubiger Mensch entgeht. Er kann diese Spannungen aber auch vermeiden, er kann dem umseelischen Impuls einseitig nachgeben und dann seiner Menschenwürde verlustig gehen. Der Versuchung dazu sind zahllose Gefolgsleute der geistlichen, militärischen und politischen Diktaturen, sind Priester, Offiziere, Parteifunktionäre erlegen. Doch gibt es da noch erhebliche Unterschiede. Sie kann harmlos bleiben, braucht nur untergeordnete Bezirke am Rande des Lebens zu erfassen, sie kann sich auf jenen ichnahen Lebenskern erstrecken, mit dem sich unsere Persönlichkeit zu identifizieren pflegt. Die Unterschiede können ganze Zeiten und ganze Menschenklassen degradieren. In Deutschland verlor ein über seine honorige Haltung und berufliche Würde eifersüchtig wachender Stand seine Ehre, als er sich mit hunderten Generalen an der Spitze einem unverkennbaren Verbrecher als willenloses Werkzeug seiner ehrlosen Pläne zur Verfügung stellte. Zwölf Jahre lang hielt der „objektive Ungeist" — so sollte man es nennen — ein ganzes Volk an der Kette. Die meisten finden, wenn erst einmal von der Dämonie solcher umseelischen Pest erfaßt, nicht mehr zu persönlicher Verantwortung zurück. Wie die Beispiele der zivilen Massenmörder, des Wieder-

Beispiele zur

Psychombildung

103

täuferwahns, des Mahdismus, der verbrecherischen Organisationen und der Greuel der Konzentrationslager des Nationalsozialismus zeigen, haben die verbrecherischen Aktivisten jeden inneren Maßstab verloren, so daß diese Pest in allen Fällen nur durch Gewaltanwendung von außen ausgetreten und ausgetilgt werden konnte. Eine innere Umkehr, wie solche bei Einzelverbrechern (Gilles de Raiz, Kürten) bekannt ist, verhindert die umseelische Umklammerung, die Versklavung an ein millionenfaches Kollektivum. Eine Ausnahme bilden nur solche Bewegungen, die ob ihrer gedanklichen Eigenart eine Entwicklung, eine „Dialektik" zeigen wie die große französische Revolution. Ein offenbares Psychom besaß Kriemhild, eine hypnoide Bcwußtseinsverengerung aus grenzenloser Rachsucht, also vorherrschendem Interesse. Offenbar war dieses das Primäre. D a rum fehlte ihr die Fähigkeit, sich auf den Standpunkt selbst Gernots, des geliebten Bruders zu stellen und den hohen sittlichen Wert seiner Treue zum Blutsfreund zu würdigen. Kaum anders aber sind Gunther und Hagen zu beurteilen. Halsstarrigkeit, Unbeugsamkeit und Psychombildungen sind in frühgeschichtlicher Zeit häufiger als heute. Umstellungsfähigkeit, innere Wendigkeit, Hineinversetzungsfähigkeit waren seltener. Sie sind moderne Errungenschaften. Fähigkeit zu innerer W a n d lung ist eine Voraussetzung zu demokratischer Gesinnung und nimmt mit dieser auf dem Wege nach Westen zu. Im Osten ist sie am geringsten, in Deutschland schwächer als in Ubersee. U n d bei uns ist sie auch erst eine christliche Errungenschaft. Die Psychombildung ist also keine moderne Krankheit. Im Gegenteil ist es heute der rückständige Teil der Menschheit, der keiner Wahnregulierung fähig ist. Es kann und darf nicht so bleiben, daß sich gerade aus ihm das Gros der Politiker zusammensetzt. Mit dem Faschismus allerdings war eine Menschensorte am Ruder, die aus ihrer Umstellungsunfähigkeit eine Tugend machte. Wer dem Gegner „gerecht" werden wolle, sei verloren, sagten sie. Dem Feinde dürfe selbst dort nicht beigepflichtet werden, wo er offenkundig recht habe. Man prägte den Begriff der „verbrecherischen Objektivität". Der paranoetische AntiMensch wurde zum Vorbild f ü r die Jugend erhoben. Diese Götzen sind gestürzt. Aber wir sind noch weit davon entfernt.

104

Die kranke

Zweitseele

daß die Befreiung vom Primitivismus auch auf die Partei- und Staatsfunktionäre, vor allem die Parlamentarier ausgedehnt werde. Die Politik ist das vom Christentum am letzten für die Eroberung übrigbleibende Gebiet. Ein instruktives Beispiel f ü r primitive Politiker-Psychome finden wir in Markgraf Gero. Fontane sagt über ihn und seinen Kreis in „ H a v e l l a n d " : „Von Parteigeist erfüllt und blind im Dienst einer großen Idee, sah man eigene Perfidien vorweg als gerechtfertigt an. Dagegen w a r wendischer Verrat einfach Verrat". „Weder die Deutschen noch ihre Chronisten, zum Teil hochkirchliche Männer, ließen sich ihre Verfahrensweisen anfechten (gemeint sind die unmenschlichen Verbreihen der damaligen Deutschen an den Slawen), klagten aber Mal auf M a l über die .Falschheit der götzdienerischen W e n d e n ' ".

Querulanten-, Erfinder- und Verfolgungswahn sind stets mit Psychomen verbunden. Paranoetiker waren etwa Jan van Leiden, Rousseau, Eugen Dühring, Shakespeares Hamlet (außerdem ein Neurotiker) und Goethes Tasso. Tasso denkt Antonio als seinen ärgsten Feind „und w a r ' untröstlich", wenn er ihn sich gelinder denken müßte. Er folgt willenlos dem Impuls, „schlimm und schlimmer von ihm zu denken". Der Verfolgungswahn wird zum Selbstzweck. Alle, die ihm dies interessegebundene Vorstellungs-Gefüge ausreden wollen, betrachtet er als seine Feinde. Die negativistische Gedanken-Konstruktion, die er mit seinem Künstlertum identifiziert und ohne die er nicht leben kann, macht ihn zum Nihilisten. D a r u m ist die Klarheit, mit der er über sich und sein Unglück spricht, keine sokratische Tugend, sondern der bekannte shakcspearische Denkstil des in seiner rationalen Selbsterkenntnis schwatzhaften Bösewichts, bei Goethe allerdings in der modernen Abwandlung des schwatzhaften Psychopathen, der wie auch heute mancher Geisteskranke über seinen Zustand genau Bescheid weiß. Das Besondere an Tassos Psychom ist dessen Alternation (das kranke Gegenstück zu Weislingen, Clavigo, T a n n h ä u s e r und Rebekka West): jede Alternationsreihe — es findet ein f ü n f m a l i g e r W e c h sel statt — hängt in sich zusammen. Es besteht also ein Doppelpsychom, wobei jedes abwechselnd die Persönlichkeit beherrscht.

Einen paranoetischen Eindruck macht eine Truppe im Kampf Die vorübergehende Zweck-Psychombildung wird dort mit allen Mitteln unterstützt. Es gilt, starke Hemmungen zu überwinden. Das geeignetste Mittel sind Marschrhythmus, Singen und klingendes Spiel. D i e Masse der innerlich Wehrlosen faßt beim Ertönen der ersten Marschtakte innerlich sofort Tritt und fühlt sich in der Gruppenseele wohl, während der wertvollere Teil

Von der Überfugung

zum Schwindel.

Mary Baker-Eddy

105

dem Marschrhythmus inneren Widerstand leistet. Entsprechend ist die Willigkeit, mit der sich jener Typus vom demagogischen Redner mitreißen läßt, der Abwehr des zweiten Typus entgegengesetzt. Die gewaltigen Erfolge des Faschismus in Italien und Deutschland beruhen auf der Skrupellosigkeit, mit der die Politiker die dazu Disponierten innerlich wehrlos machten. Die erwünschte Denklähmung und Erzeugung moralischen Schwachsinns waren die Folge. N u r so sind die Verbrechenstaten sonst friedlicher und rechtlicher Menschen in Feindesland zu erklären. Sie standen unter Fremdeinfluß eines unsichtbaren Syntagmenträgers. Und wo Sinnesänderung stattfindet, ist es ein großer Unterschied, ob sie eine Rückkehr zur freien verantwortlichen Persönlichkeit oder nur ein neues Psychom, diesmal im Sinne der gewandelten öffentlichen Meinung, bedeutet. „Bekehrungen" in diesem zweiten Sinne kennen wir aus politischen Prozessen und aus der deutschen Umsturzgeschichte von 1918/19, 1933 und 1945. Von der Überfugung zum Schwindel Mary Baker-Eddy Die Psychologie des „Schwindels" ist nicht darstellbar ohne Paranoese und kollektive Überfugung. Denn Schwindel ist immer ein gegenseitiges Hin und Her zwischen dem Schwindler und seinem Opfer, seinem kollektiven Resonanzboden, seiner Gemeinde. Die zahlreichen geheimnisvollen Kronprätendenten, die große Karriere der spiritistischen Medien, man verzeihe auch die Erwähnung der Propheten und der großen Visionäre, die alle Echtes mit Unwahrem mischten (Bernadette Soubirous, Therese Neumann) und die kleinen Visionäre (die Marienkinder von Marpingen, Mettenbuch und Dietrichswalde), dazu die „mentalen" Heiler Coue, Zeileis, Weißenberg, Rudolf Steiner, vor allem Mary Baker-Eddy, schließlich die politischen Massenverführer: sie alle sind nicht denkbar ohne Psychombildung. Mary Baker-Eddy, die Begründerin der „Christian Science", brachte es fertig, eine einzige, simple, aber überwertige Idee (die Heilung durch mentale Selbstbeeinflussung, nämlich durch die Seibitüberredung, es gebe das Phänomen „Krankheit" überhaupt nicht), zum Glaubensinhalt einer Riesengemeinde zu machen und diese über alle Kontinente auszudehnen.

106

Die kranke

Zweitseele

Audi in diesem Falle stand eine bis zum letzten Augenblick ihres neunzigjährigen Daseins vom Willen

zur Macht besessene Hysterikerin als

Radiator an dem einen Pol der großen Zwillings-Sende-Anlage, deren anderer Pol die fromme Gemeinde ist. Aus kleinen Verhältnissen stammend,

entwickelte sie aus einer eigenartigen Bewußtseinsverengung ein

Psychom, ein Vorstellungsknäuel, eine geschwulstartige Uberfugung, in der es so etwas wie Krankheit, Materie, akademische Heilkunst, medizinische Wissenschaft, Ärzte usw. überhaupt nicht gab.

Der paranoetische

Medianismus ihrer Zweitseele arbeitete so präzis, daß sie „vergaß", daß sie ihre Lehre von Mr. Quimby, einem heilpraktizierenden Uhrmacher, empfangen hatte, daß sie ihre Heilslehre nun vielmehr als „Offenbarung" direkt

von

Gott

selber

erhalten

haben

wollte,

und daß

umgekehrt

Quimby die neue Lehre von ihr entlehnt haben sollte, dem sie doch ihre Genesung von langjährigem Siechtum verdankte.

So viel ist



wenn

auch in anderem Sinne als sie meinte — an ihrer Lehre wahr, daß die mentale K r a f t Berge versetzen kann. Diese heilte nicht nur, sie verschaffte ihr hunderttausende Anhänger, ein Millionen-Vermögen, eine eigene Zeitung, ein eigenes „Metaphysic College" mit Universitätsbetrieb und eine großartige Kirchenorganisation mit eigenen Marmor-Domen in N e w Y o r k und in Boston.

Und obwohl Sekretäre, Redakteure, Journalisten, D o k -

toren und Kaufleute für sie arbeiteten, durfte sie es sich erlauben, keinen Widerspruch zu dulden. Denn in ihrem Reich, in ihrer Bibel:

„Science

and H e a l t h " , war sie absolute Herrin über Wahrheit und Irrtum. Relativ wenige Denksysteme von gleich straffer. syntagmatischer Bezogenheit auf eine einzige zentrale Idee mit Unterdrückung aller entgegenstehenden Tatsachen und Einwände sind bekannt. Die K r a f t des Vergessens — gegenüber Tatsachen und Personen (ihr Mensdienverbrauch, -verschleiß w a r wie bei allen Hysterikern riesengroß) — , die K r a f t der Akzentuierung der Vorstellungen, der Intoleranz, des Hasses gegen alle sich ihrer Fallwelt nicht willig einfügenden Vorstellungen und damit die elementare Vereinfachung des Weltbildes war so stark, daß diese Frau in hohem Alter der dem Senium sonst eigenen Gelassenheit so wenig teilhaft wurde wie in minderem Grade alle Geizigen, Intriganten,

Ver-

kannten, Unverstandenen, Verfolgten und sonstigen harmloseren P a r a noetiker. Sie starb den gräßlichen T o d einer trotz aller Anhängermassen isolierten und vereinsamten, aller Liebe baren Paranoetikerin. Zu der Diagnose auf Paranoia alles

Entgegenstehende

an

fehlt der Anlaß. Sie tilgte so radikal

Tatsachen,

Einwänden,

Überlegungen

aus

ihrem Vorstellungsbestand einschließlich der Erinnerung an diese Tilgung und ersetzte es durdi Passendes, daß sie selber „ehrlich" an ihr falsches Weltbild glaubte. Es handelte sich bei dieser ungewöhnlich energischen, willensstarken und eigenmächtigen Frau

also um keine Minderung der

freien Willensbestimmung, anderseits aber auch um keinen vorsätzlichen Betrug, da die für einen solchen erforderlichen Vorsatzvorstellungen gar nicht mehr aktivierbar waren und somit praktisch auch nicht existierten.

Paranoia und Paranoése

107

Paranoia und Paranoese Der Unterschied des Paranoikers vom Paranoetiker liegt nicht in einem Plus jenes Geisteskranken, sondern im Fortfall von Hemmungen, die im Paranoetiker noch wirksam sind. In der Straffheit des logisch-systematischen Denkens, der Reproduktions- und Denkbeschleunigung bzw. -lähmung und der Verfugung (des Syntagmas) besteht kein Unterschied. Der Paranoetiker steckt insofern voll und ganz im Paranoiker drin. Der Unterschied ist kein formaler, funktionaler, sondern ein inhaltlicher. Der quantitative Funktions b e r e i c h der übertriebenen Verfugung, der Psychombildung ist beim Paranoiker größer und umfaßt auch solche Bezirke, die ichnäher sind, d. h. dem Kern der Persönlichkeit näher stehen als die alltäglichen Bezirke der Wahnbildung. Solche ichnahen Bereiche sind etwa das Verhältnis zu den Mitmenschen, zur Familie, zu Freunden, zu Gott, zur Welt, ist also moralischer, religiöser und charakterologischer Art. Logik, Mathematik, Chemie usw. dagegen bleiben unberührt, ausgenommen den Fall, daß sie für jene ichnahen Bezirke Bedeutung gewinnen. Der Paranoiker kann, an der immanenten Logik gemessen, ein klarer Kopf sein. Sein W a h n betrifft die letzten Motive, Beziehungen, Werte. Sie spielen eine ungewöhnliche Rolle. Die immanente Logik ihrer sehr straffen Systematisierung aber ist zumeist einwandfrei. Im Gegensatz dazu werden beim Gesunden wie beim Paranoetiker die ichnahen Bezirke aus der automatischen interessegelenkten Verfugung herausgelassen. Wohl spürt auch der Normale die Versuchung, sein „Pech" statt auf Zufall oder eigene Verursachung vielmehr andern Menschen oder Mächten zuzuschieben. Aber die ichnahen Bereiche der Persönlichkeit besitzen einen starken Hemmungsschutz, solange der Mensch gesund ist. Schon der Paranoetiker aber gibt der Versuchung nach und macht „die andern", die Verwandten, die Nachbarn, die andern Parteien, die andern Konfessionen, die Nachbarvölker, die Juden, die Jesuiten, die Freimaurer (Beispiel: Erich Ludendorff) für alles Böse verantwortlich. Er scheut dagegen noch vor den metaphysischen, also den ichnächsten Bezirken zurück: Gott, den Teufel, die Weltordnung, den Bereich der Weltgesetze und ihrer

108

Die kranke

Zweitseele

möglichen Durchbrechung durch „Wunder" in den Wahn einzubeziehen, sind von der Persönlichkeit her kräftige Hemmungen wirksam. Im Paranoiker fallen auch diese Hemmungen fort. Er ist also nicht schlechtweg „besessen" — das wäre ja etwas Positives —, sondern ist durch einen Persönlichkeitszerfall gekennzeichnet, der nun allerdings ein Einfallstor für die Besitzergreifung von dunklen Mächten aus dem kollektiven Unbewußten öffnet. Jetzt macht der Kranke nicht mehr nur Übelwollen anderer Menschen, sondern direkten Vernichtungswillen geltend (Verfolgungswahn), jetzt gibt er Gott, dem Teufel, der Weltordnung, geheimen Mächten die Schuld oder sieht sich selber als Mittelpunkt der Welt (Selbstidentifizierung mit Kaiser, Gott, Satan) oder überschätzt seine Erfindungen, Entdeckungen oder glaubt, daß seine Gegner mit noch unerforschten Strahlen, Ultrawellen, magnetischen oder sonstwie fernwirkenden Kräften sein Verderben beschleunigen. Immer ist es nicht die Monomanie, die überwertige Idee an sich (die haben wir alle), sondern ihre Entfesselung, das Ubergreifen der Enthemmung von ichfernen auf sonst verschont bleibende, ichnahe Bereiche, was diese Kranken vom Paranoetiker und vom Gesunden unterscheidet. Dabei ergreift der Persönlichkeitszerfall (analog zum senilen Gedächtnisschwund) die rezenten Geisterwerbungen zuerst: höhere Ethik, Humanität und demokratische Gesinnung, mitmenschliches Vertrauen, christliche Religion (während unsere primitive Religion, die wir nie verlieren, nicht ergriffen wird). Sie schwinden zuerst, aber die ältesten Erwerbungen, vor allem Logik, das Geflecht der neutralen Denkgesetze usw. bleiben bis zuletzt intakt.Trotz allen vernünftigen, immanent-logischenDenkens sinkt der Paranoiker weltanschaulich und ethisch mehr und mehr auf ältere, überwundene Stufen des Menschseins. Er wird primitiv und infantil. So weit sinkt der Paranoetiker nicht, weil bei ihm keine organischen Veränderungen im Spiel sind. Beide schöpfen indes positiv aus keiner andern Quelle als wir Gesunden auch. Man solle sich nicht einbilden, die Wahnideen der Paranoiker seien von uns nicht „verstehbar" und die Diagnose dieser gründe sich auf solche „Unverstehbarkeit" ihrer Gedanken. Manche Psychiater und vor allem Juristen verlassen

109

Sekundärperson und Difjerentialethik sich auf dies beruhigende Indizium.

D e r weise Psychiater, der

Psychologe und vor allem der Philosoph wissen nur zu gut, daß es keine Versuchung gibt, die ein Reservat des Geisteskranken w ä r e und die nicht der Gesunde gleichfalls in sich erleben könnte. E s ist allgemein-menschliches, „a p r i o r i " bereitliegendes Ideengut, an dem wir alle teilhaben. Zwischen Faust und W a g n e r ist darin kein Unterschied, nur d a ß der „trockne Schleicher" seine A u f n a h m e o r g a n e hat eintrocknen lassen und selbst das wenige noch W a h r n e h m b a r e aus dem Bewußtsein verdrängt hat. Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden, Doch solchen Drang hab ich noch nie empfunden.

D e r lauterste Dichter weiß, d a ß es kein Verbrechen gibt, das er nicht selbst hätte begehen können. In uns allen schlummert der P a r a n o i k e r wie der Verbrecher. D a ß wir keiner werden, hindert die Integrität der Persönlichkeit. Sie hält die dunklen Mächte in uns nieder, aber keine Sekunde länger, als unsere Persönlichkeit intakt bleibt oder das Stadium der Involution noch nicht erreicht.

Sekundärperson und Differentialethik D a ß w i r aus Fugungen (Syntagmen) heraus handeln, ist die Regel. W i r haben sie auf V o r r a t bereit und brauchen uns nicht in jedem Augenblick erst zu entscheiden. D e r Zwang, Zeit und K r a f t zu sparen, hat uns die Typisierung des Handelns gelehrt. W i r bezahlen diese Technik aber mit einer Einbuße

unserer

Persönlichkeit und mit Demoralisierung. D a n k dieses mittelbaren Handelns auf dem W e g e über die Sekundärperson entgehen wir der unmittelbaren V e r a n t w o r t u n g für die einzelne T a t , so wie ein Betrunkener nicht unmittelbar an seiner U n t a t schuldig ist, die er im Rausch getan und die er nicht gewollt hat, wohl aber an seiner U n m ä ß i g k e i t , für deren Folgen er haftet. So ist auch der aus der Zwischenwelt der Sekundärperson heraus handelnde Mensch nicht an den

einzelnen

Handlungen, wohl aber an dieser Zwischenwelt, an dem angesammelten Fundus von Syntagmen schuldig. D e r Mensch h a f tet nicht f ü r das unpersönliche Denken und T u n der Sekundär-

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Die kranke

Zweitseele

person, die wie ein losgelassener Roboter auf eigene Faust Unheil stiftet, sondern allein für das persönliche Moment, nämlich für das fahrlässige Gewährenlassen, Nichtbremsen, heimliche Begünstigen oder für Indifferenz, wo gewissenhafte Beobachtung und Sorgfalt der inneren Lenkung zu fordern ist. Für dies alltägliche, allstündliche und -sekündliche Kleinhandeln, für die Art, wie wir wahrnehmen, vorstellen, im Gedächtnis deponieren, assoziieren d. h. welche Verbindungen unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen mit andern Vorstellungen knüpfen, wie unser Gedächtnis arbeitet (Ethik der Dankbarkeit), wie sich unsere Phantasie ergeht, wie wir erinnern, Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen erneuern, urteilen (verleumden, Vorurteile herstellen), Begriffe bilden und Schlüsse ziehen, haften wir unmittelbar. Aus diesen unscheinbaren Kleinhandlungen setzt sich nun eine ebenso unscheinbare Mikro-Ethik zusmmen, die so ganz anders als die in den bisherigen Schulbüchern beschriebene und in den Moralsystemen der Philosophen behandelte, immer etwas heroisch-protzige Ethik aussieht und erheblich näher als diese der Ethik der Bergpredigt kommt. D e r Bedeutung und dem Range nach ist sie auch gar keine Klein-Ethik, sondern umgekehrt gerade die Standard-Ethik des persönlichen Lebens. I m politischen Leben erscheint sie als demokratische Ethik, als Verwirklichung schlichter demokratischer Gesinnung und Humanität, während die G r o ß - E t h i k für die geschichtlichen Schauvorgänge, für die Auswirkungen der Staatsallmacht: Diktaturen, Staatsstreiche, Eroberungen, Kriege, Revolutionen gilt. Alles, was hier geschieht, hat die Larve der persönlichen Aktivität, wird aber von Dauer- und Überfugungen getragen, die von langer H a n d vorbereitet, im Augenblick ihres Vollzugs längst das Erstgeburtsrecht persönlichen Schaffens und damit die Ehre der Initiative eingebüßt haben und somit unpersönlich sind. Ist es doch ein Unterschied, ob jemand seinen eignen T o d oder einen unpersönlichen Massentod stirbt; ob ein Staatsbürger sich persönlich in der H a n d behält und auch dort nicht einschüchtern läßt, wo der Militarismus das Ansinnen des Fahneneids als einer fahrlässig zu gebenden Blankovollmacht an ihn stellt oder ob er auf Grund jahrelangen Drills seiner seelischen Anläufe schein-

Sekundärperson

und Differentialethik

111

heroische, aber unpersönliche Großtaten kriegerischen Lebens und Sterbens vollbringt. Die Taten der japanischen KamikazeFlieger, der italienischen Todespiloten und der deutschen U-Bootfahrer müssen unter diesem Gesichtspunkt, zumal bei Christen, Grauen auslösen. Sie sind der Rückfall ins Vormenschliche, zumal hier noch das Knechtschaftsverhältnis zur Gruppenseele hinzukommt. Das Syntagma ist das psychologische „K a r m a". Indem und wie der Mensch denkt, in seinen Gedanken verweilt und urteilt, den inneren Blick zuwendet und abwendet, ißt und trinkt er sich das Gericht. Die sog. großen Verbrechen sind dann nur die zwangsläufige Epiphänomene ganz anderer und wichtigerer originärer Vorgänge. Darum lehrte Christus eine différentielle Ethik der scheinbaren bloßen Gedankensünden. Wer es sich bequem macht, bringt sich gerade dadurch in die Hölle. Wer die erste différentielle Initiative scheut, bleibt sein Leben lang Knecht. Wer nicht vom Geist des Anfangens, Anhebens beseelt ist, lebt sein ganzes Dasein hindurch ein fremdes Leben und stirbt vermutlich auch einen fremden Tod. Wer sich im Kleinen nicht selbst befiehlt, dem befiehlt sein ganzes Leben hindurch ein anderer. Wer keine Disziplin, keine innere Haltung bewahrt, dem wird ein fremdes Gesetz auferlegt. Wer nicht „im kleinen" treu ist, kann es nicht „im großen" sein. Barmherzigkeit, also eine innere Disposition, will der H e r r und kein „Opfer". Die „kleinen" Lügen des Alltags sind in Wahrheit die großen Lügen, von denen man am schwersten loskommt: die fables convenues, die unausgesprochenen Lügen der Logik des Schweigens, die stummen Lügen, die als Voraussetzungen zu Trugschlüssen dienen, die politischen Lügen, die Gesinnungslügen als die eigentlichen mörderischen Lügen. Die Zweitseele ist insofern nur eine unpersönliche, neütrale Zwischenperson, ein P s y c h o p h a n t o m . Der Mensch wird sein eigenes „Medium", Medium seiner eigenen Vergangenheit. Er überlebt sich bei lebendigem Leibe, seine Gedanken und Handlungen sind unpersönliche Produkte einer materialisierten d. h. erstorbenen Psyche. Das sind Extremfälle. W i r ziehen die Linie zu ihnen hin, um die Harmlosigkeit des subalternen Denkens des Routiniers, Gewohnheitsmenschen zu widerlegen. Zeigt

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Die kranke

Zweitseele

sich dieses doch gerade dort, wo man es am wenigsten erwartet, in der Demoralisierung der wissenschaftlichen Forschung, die nicht mehr aus den Gleisen einmal ausgefahrener Syntagmen herauskommt. Die Zahl der Gelehrten, die sich schließlich nur noch selber abschreiben, ist Legion. In der Jugend Entdecker einer Wahrheit, nutzen sie das übrige Leben hindurch die einmalige Großtat zu ihrem Unheil, bauen sie aus ihr ein Gefängnis, das sie von der Wirklichkeit abschließt. Zu schweigen von der doppelten Gefängnismauer, wenn der Ursprung der Blendung selber keine Wahrheit, sondern ein Irrtum ist. Von einer Großtat der Forschung ging der Kantianismus aus; er endigte mit dem Aufbau einer Art chinesischer Mauer, welche die Gotteswelt erfahrbarer Wirklichkeit draußen ließ. Der große Gedanke Freuds von der Sexualität als einem allgegenwärtigen Bestandteil allmenschlichei Kultur führte noch bei seinem Urheber, zu schweigen bei den Anhängern, zur geistigen Erblindung für die Fülle und den Reichtum des Lebens, das sich so wenig auf den geschlechtlichen Generalnenner bringen läßt wie anderseits auf den nicht minder dürftigen der "Wirtschaft. Denn auch Karl Marx' große Entdeckung führte zur Einkapselung in eine Zwischenwelt. Seinen richtigen Grundgedanken so durchzuführen, daß er zum Teleskop für weltgeschichtliche Zusammenhänge statt zur farbigen Brille wird, mit der die Soziologen nur ihre eignen verabsolutierten Syntagmen erblicken; ist eine Aufgabe für die Zukunft. In der originären Entdeckung Rudolf Steiners lag viel Richtiges, es wurde aber durch die Totalisierung des entdeckten Weltausschnitts entwertet, welche keine andern seelischen Bereiche als die unpersönlichen, zum Teil erkünstelten und erquälten mediumistischen gelten ließ. Arnold Scherings geistvolle BeethovenDeutung, die von richtigen Einsichten in die seelischen Zusammenhänge produktiven musikalischen Schaffens mit den großen Dichtungen unserer Klassiker ausging, sah schließlich überhaupt nichts anderes mehr als Programmusik und führte sich ohne Not selber ad absurdum. Arthur Drews' richtige Ausgangsgedanken über astral-mythologische Zusammenhänge machten ihren sie übertreibenden Urheher schließlich für alle andern Zusammenhänge blind und führten zu der absurden These der „ChristusMythe". Wie stark den Psychologen Erich Jaensch seine psychologischen Grundgedanken zur Verengung seines Weltbildes und zur politischen Umneblung führten, ist noch bei allen, die es miterlebten, in unheimlicher Erinnerung. Durch die Jahrzehnte hin zieht sich einer der großartigsten syntagmatischen Spleene der Menschheit: die „Hauserei". Ein Einzelvorkommnis, das Rätsel um Caspar Hauser, zieht Menschen aller Himmelsstriche, aber ganz bestimmter seelischer Artung in seinen Bann, um sie nicht mehr loszulassen. Nietzsches kritische Durchführung richtiger Ideen durch dick und dünn zeigt ihn als krankhaften Paranoetiker, als extremen

Unpersönliche

Wissensbildung

113

Vertreter unpersönlichen Denkens, neben allem, was Nietzsche außerdem noch war. Immerhin liegen allen diesen genannten Forschungen Tatsachen zugrunde, das Spleenige kommt erst in der Ausschließlichkeit und in der Unhaltbarkeit der Durchführung zur Geltung. Eine Idee saugt dem Forscher das Blut aus und macht ihn zu ihrem automatischen Vollstrecker. Schwerer wiegen darum jene Zwischenwelten, bei denen schon die zugrunde liegende Idee fiktiv ist. Entsprechend krallt sich der jeweilige Spleen in die Persönlichkeit ein, um sich aller Wirklichkeit zum T r o t z nodi behaupten zu können. Die Erforschung der Bacon-ShakespeareFrage hat zu einer bändereichen Systematik geführt, welche jede Remedur und Korrektur bei den Anhängern der Bacon-Shakespeare-These ausschließt. Der moderne Antikopernikanismus äußert sich bei seinen Vertretern, von denen der verstorbene Johannes Schlaf noch der konzilianteste war, in der Form äußerster Verranntheit. Die Unfähigkeit auch nur zur probeweisen inneren Umstellung erreicht hier schon einen sonst nur in der Erotik und in der Politik vorkommenden Hartnäckigkeitsgrad. Ebenso aussichtslos ist jede Erörterung der wissenschaftlichen Grundlagen der Sterndeutung mit Astrologen und Horoskopstellern. Die Welteislehre von Hörbiger und Fauth ist der Lehrgegenstand eines ebenso spleenigen Außenseitertums, das als eine echte „Sekte" die Verbindung mit dem großen Strom- der Forschung bewußt abgeschnitten hat, wobei die Isolierung nicht die Ursache, sondern die Folge des Spleens eines zu unpersönlichem Denken prädeterminierten Menschentypus ist. Der Spiritismus, die Rassenlehre, der Antisemitismus zeigen das gleiche Bild. Die Runen- und Symboldeutung Hermann Wirths, der Schwindel um die Ura-Linda-Chronik, die gefährlichen Syntagmen der Ludendorffianer betreffs der Ermordung Mozarts durch die Freimaurer, Schillers durch Goethe, aber auch das extreme Weltanschauungs- und Geschichtsbild bei manchen Katholiken und Protestanten z. B. das frömmelnde Weltanschauungsgehäuse der Fürstin Sayn-Wittgenstein (der Freundin Franz Liszts) sind Beispiele, wie Vernunft und Wissenschaft durch sorglosen, unkritischen und von keiner Wachsamkeit kontrollierten Gebrauch zu Instrumenten der Verbreitung von Finsternis werden können.

Unpersönliche Wissensbildung Der Irreversibilität vieler Dauersyntagmen wegen ist, von der revolutionären Ethik Jesu her, sogar der G e b i l d e t e ein differentialethisch hoffnungsloser Fall, weil in dieser Bildung — es braucht gar kein Bildungshochmut vorzuliegen — ein gnadenloser Zustand, ein „sündiger" Habitus und nicht bloß ein sündiger Actus erkennbar wird; ein passiver Zustand per8 Feldkeller,

Das unpersönliche Denken

114

Die kranke

Zweitseele

manenter Sündhaftigkeit gegen den hl. Geist, wenn es so etwas gäbe. Die Irreversibilität macht die metanoia logisch und psychologisch unmöglich: in diesem Punkte stimmt die Parallele der vierten Abirrung vom Zustande der „Unschuld" zu den übrigen drei in Jesu Bergpredigt nicht mehr. "Wohl kann der Reiche durch freiwilligen wie unfreiwilligen Akt wieder besitzlos werden. Der „Gerechte" (der nach bestem Wissen und Gewissen vor sich und andern Sündenlose) kann durch Gewissenserforschung in den angemessenen Zustand bewußter Sündhaftigkeit zurückkehren. Sogar der, gewöhnlich verdorbene, Erwachsene kann durch Exerzitien zum aufgeschlossenen Kind werden. N u r dem mit Wissen Beschwerten, dem Aufgeklärten und Gelehrten, also nicht nur Verlehrten, ist der W e g zurück versagt. Jesus selber konnte gegenüber dem an Wissen (nicht Besitz) Reichen das Gleichnis vom Nadelöhr nicht brauchen und einem gebildeten jungen Griechen die Antwort nicht geben, die er dem bloß materiell reichen Jüngling erteilte. W i r sehen auch nirgends, daß er einem Gebildeten einen entsprechenden R a t erteilt. Er verflucht die Theologen, und er preist die Menschen des einfältigen Herzens, die „einfachen Menschen", wie man heute sagt, die „Armen im Geiste" selig: das ist alles. Hier ist die Grenze selbst für das Christentum, das insofern keine universale Religion ist, als es den Menschen in einem bestimmten gefährlichen geistigen Entwicklungszustand nicht mehr anspricht. Diese Entwicklung des Einzelmenschen zur „Bildung" d. h. intellektuellen „Kultur" ist eben wegen dieser Irreversibilität eine „Falle" und läuft genau parallel dem ebenfalls irreversiblen Entwicklungsgang des ganzen menschlichen Geschlechts, der in eine „historische F a l l e " führt, aus der es kein Zurück gibt. Hier hat die viel beklagte Abkehr aller menschlichen Kultur von „ G o t t " ihre gewichtigen psychologischen Ursachen. Es ist unleugbar,

daß mit dem Bildungsprozeß

und der Kultivierung der

Völker bei allem Gewinn auf der Seite der Humanität, der Gesittung, der Abnahme der Barbarei, des Wohlstandes, des K o m forts, der Gesundheit auf der anderen Seite wesentliche menschliche Werte unwiederbringlich verloren gehen: die Schlichtheit, tlifc Einfachheit und Unverdorbenheit des Herzens, die E i n f a l t

Unpersönliche

115

Wissensbildung

und Unbefangenheit, die Ungebrochenheit der N a t u r ,

ja,

die

Fähigkeit, eine „ N a t u r " (im Sinne Goethes) zu sein. M a n sieht, daß das von Kassandra ganz anders gemeinte, schon von Vaihinger umgedeutete Schillersche W o r t : „denn das Wissen ist der T o d " in mehr als einem Sinne richtig ist. wenn D . F. S t r a u ß auch mit seinem L o b

Und

auf die Bildung recht

hat, wenn er meint, daß im N a m e n der Religion,

der Politik

T a t e n der Unmenschlichkeit begangen worden seien, im N a m e n der Bildung und Humanität niemals, so ändert das nichts an der ausgleichenden Verschiebung in der Realisierung und in der V e r nichtung menschlicher Werte, ander bestehen können.

die nicht gleichzeitig nebenein-

An der K u l t u r k r i t i k Nietzsches

Kierkegaards ist in diesem Punkte nicht zu rütteln.

wie

Aller Bil-

dung und K u l t u r liegt ein Zug zur Abschleifung und Unpersönlichkeit des Denkens und damit ein Stück Heidentum zugrunde, M a g die Bildung auf der einen Seite den Menschen innerlich unabhängig machen

und auf sich selbst stellen, auf der anderen

Seite macht sie ihn unfrei durch Uberfugungen, durch H ä u f u n g von Bildungselementen und damit Denkens.

durch Entpersönlichung des

D e r kultivierte Mensch bezahlt Bildung und K u l t u r

zu e i n e m

Teil

mit Denaturierung, Gebrochenheit,

Hem-

mungen, Verlust an M u t zu sich selbst, also Entwirklichung. E r braucht es nicht zu wissen. Aber sein Wissen wird zum Hemmnis der Metanoia, die, wenn sie dann doch erfolgt, eine um so größere geistige Leistung darstellt.

8*

DIE U M S E E L E Das „Archaikum" der Seele Es gibt dem Wortlaut nach keinen „objektiven Geist*, insofern „Geist" seinem "Wesen nach nur subjektiv sein kann, wie Paul H o f m a n n („Sinn und Geschichte" I, München 1938) nachgewiesen hat. Es gibt diese philosophische Kategorie nicht. Es gibt aber das dieser falschen Hegeischen Begriffsbildung zugrunde liegende Phänomen. Es gehört gar nicht in die Philosophie, kann anderseits aber auch mit den bescheidenen Mitteln der herkömmlichen „Schulpsychologie" nicht geklärt werden. Das ihm adäquate Instrument ist die neu zu schaffende Seelenforschung, welche die bisherige akademische Psychologie mit der sog. Parapsychologie einschließlich der Ausdruckskunde von Klages und der analytischen Psychologie kombiniert. Ohne diesen neuen Typus einer neuen Vorstellungs- und Denkpsychologie wird man diesem großen Reich des Unbewußten, des objektiven „Geist"ersatzes nicht beikommen. D a ß es mentale Vorgänge gibt, die ihrem Wesen nach in dem Reich des Unbewußten stationiert sind und nur unter günstigen Bedingungen sichtbar gemacht werden können, das hat vor Jahrzehnten der schärfste Beobachter dieses Forschungsgebietes, Max Dessoir, angedeutet. Er prägte den Begriff der seelischen „Fetzen", die unwillkürlich und unmethodisch, wie die Gelegenheit es bietet, an die Oberfläche des Bewußtseins steigen. Dessoirs Begriff bildete sich aus Beobachtungen wie an der Eusapia Paladino und anderen Medien. Manches an den Konnersreuther Vorgängen ließe sich zum Vergleich heranziehen. In allen Fällen steigen durch die herkömmlichen Methoden nicht aufklärbarc sinnvolle Vorstellungszusammenhänge f e r t i g ins Bewußtsein:

Das „Archaikum"

der

Seele

117

Bilder, Symbole, typische Vorgänge, die uns nur aus fremden Zeiten, fremden Literaturen, fernen Gegenden bekannt sind. Die jetzige Psychologie muß im Falle des Auftretens solcher Sinnzusammenhänge auf Erinnerungsbilder schließen, die dann natürlich nur im Laufe des Einzellebens erworben sein konnten. W o nun solcher Erwerb ausgeschlossen ist, steht sie vor einem Rätsel. Vor allem dort, wo es sich wie in der Archetypologie um Bilder nicht von einzelgeschichtlicher, sondern allgemeinmenschlicher Bedeutung handelt, die vielleicht niemals oder seit Jahrhunderten nicht ins Bewußtsein getreten sind und der betreifenden Einzelperson, dem Dichter, bildenden Künstler usw. auch nicht bekannt gewesen sein können. Dazu gehört etwa die Figur Merlins des Zauberers (nach den Forschungen Heinr. Zimmers), das Motiv des „großen Bruders", die Tafelrunde der zwölf Tafelgenossen mit einem Dreizehnten als Präses (Christus, Karl, Artus), vieles von Arthur Drews auf astrale Zusammenhänge Zurückgeführte. Das Inventar, der Fundus solcher Vorstellungsgebilde ist dank der modernen tiefenpsychologischen Forschung gewaltig angewachsen, ist aber kein Chaos, sondern quantitativ begrenzt, ein festes Weltalphabet. U n d hätte diese Forschung nichts anderes erreicht als die Verbindung von Archäologie, Literatur- und Kunstgeschichte, Religions- und Weltanschauungslehre mit der Seelenkunde, es wäre Ruhmes genug. Von allen Seiten stoßen jetzt die Wissenschaften auf jenen Punkt zu, von dem dereinst Licht auf sie alle fallen wird. Sie tragen Bausteine nicht bloß zu Einzelerkenntnissen ihres Sondergebiets zusammen, sondern zu jener Elementargrammatik des „Geistes", welche das Welt-Alphabet, das apriorische Riesenreich des „objektiven Geistes" oder — wie C. G. Jung es nennt — die Archetypen enthält. Diese Archetypen, wenn wir sie beisammen hätten, wären die inventarisierte Weisheit des Menschheitsgedächtnisses. Seit Bachofen und Klages aus den geschichtlichen Urkunden nicht das, was bloß „war", sondern was „ewig" ist und immer wiederkehrt, das seelische Urgestein aller Zeiten und Erdteile aller Völker, aller Religionen und Weltanschauungen uns zu entdecken gelehrt haben, seit C. G. Jung und seine Schar, Leopold Ziegler und Hermann Keyserling, Heinr. Zimmer und Walter

118

Die

Umseele

Andrae uns das ewige Archaikum der Seele zu erschließen begonnen haben, ist die oft ersehnte und oft verfehlte umfassende Synthese aller sog. „Geisteswissenschaften" auf dem Boden einer universalen Psychologie nur eine Frage der Zeit. Als Beispiel, wie hier gearbeitet wird, sei das von Andrae bearbeitete Motiv der „Feststraße" erwähnt. Die alten Feststraßen in Hattussa (der Hettiter) und Babylon, in Assur und Uruk, in Eleusis und Peking sind gesdiichtlidi bekannt. Nicht bekannt aber war jenes allgemeine „Bild" der Prozessionsstraße, von dem die einzelnen Feststraßen nur zufällige Sonderfälle darstellen. Man hat neuerdings durch Techniker und Straßenbauer die über 1000 m langen, 8 m tief fundierten, 8 m breiten, mit Mauern umgrenzten Straßen der Inkas studieren lassen. Bisher kannten wir nur die Abbreviaturen dieser gigantischen Gebilde: die kurzen europäischen Pilgerstraßen und Prozessionswege, die keinen Vergleich mit den Prachtstraßen nach den chinesischen Kaisergräbern oder den südindischen Straßen zu den Hindu-Tempeln aushalten. Aber uns interessieren nicht die gelehrten Einzelheiten. Wir fragen nach dem S i n n der alten Straßen. Die Philologie wird wieder zur „Theologie", der Archäologe zum Psychologen, der sich mit dem Spaten allein nicht begnügt, sondern in der Seele weitergräbt. Denn auf den Feststraßen vollzogen sich keine beliebigen weltlichen Geschehnisse, sondern nach Andrae die großen Dinge des Lebens. Vom Berliner Pergamon-Museum ist uns die babylonische Prozessionsstraße mit dem T o r der Göttin Ischtar vertraut. Die berühmten schreitenden Löwen auf blauem Emaillegrund sind keine gewöhnlichen Löwen, sondern göttliche Wesen, in deren Gefolge der Mensch die Straße vom Haupttempel zu einer zweiten Kultstätte wandelt, die Götterbilder entweder tragend oder auf einem Wagen fahrend. Immer überschritt man dabei G e w ä s s e r , und immer vermied man auf dem Rückmarsch den Hinweg, so daß ein K r e i s l a u f zustande kam. Dies alles, in vielen Völkern gleichlautend oder ähnlich wiederkehrend, erklärte man sich früher nach dem Schema der geschichtlichen Kausalität, der motivischen Ableitung von Vorgängern durch Nachahmung, schulische Überlieferung. Jedes Motiv, z. B. die griechische Seelenwanderung, mußte „woher" stammen, womit wieder nur einzelne geschichtliche Manifestationen gemeint waren. Die „Nachahmungen" sanken dann an Wert für den Historiker, das „Original" des ersten „Erfinders" stieg an Bedeutung. Nein, dieses Forschungsschema wird sein Alleinrecht, das es bisher gehabt hat, aufgeben müssen, so geht es nicht. In dieser Manifestationskette sind vielmehr alle Glieder vom gleichen Rang der U r sprünglichkeit, sind alle unmittelbar inspiriert, sofern sie nur „echt" sind. Es ist nicht das Spätere vom zeitlich Früheren inspiriert. Das post hoc ist hier — im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Betrachtung — kein propter hoc. So ist es auch mit den „Reisen 11 der Götter in alter und

119

Von Hegel zu Bachofen neuer Zeit.

Ihre Länge, D a u e r und U m s t ä n d e sind freilich verschieden.

A b e r das U r b i l d bleibt sich gleich. Diese „ R e i s e n " a u f den Feststraßen betrugen (nach Andrae) in H a t t u s s a und Assur nur z w e i bis drei, in B a b y l o n und U r u k schon sechs, a n d e r w ä r t s gar über hundert K i l o m e t e r . D a s sind Äußerlichkeiten. Nicht äußerlich aber sind die stereotypen Z ü g e : überall e t w a müssen dunkle T o r e

durchschritten werden,

und

Gewässer

und

K r e i s l ä u f e kehren wieder. Z u trennen d a v o n ist die Sinndeutung, die der einzelne Forscher, d e m V o r g a n g geben mag. Sie ändert an dem archetypischen T a t b e s t a n d nichts. In dieser Deutung, ob etwa das menschliche Leben mit seinen Stationen symbolisiert werden soll, oder ob der R h y t h m u s

des kosmischen

schehens gemeint ist, der episch und dramatisch agiert wird,

Ge-

gehen die

Gelehrten auseinander. Vielleicht sind sie alle falsch, weil der Archetypus nichts als sich selber meint

und

alle Unterlegung

und

Unterstellung

Menschenwerk ist.

Von Hegel zu Bachofen Die Umseele hat nächst Hegel ihren ersten großen Bearbeiter in B a c h o f e n gefunden, bei dem wir stärker als bei Hegel die erste Ahnung einer P s y c h o l o g i e d e r G e s c h i c h t e u n d d e s G e s c h i c h t l i c h e n , die wir selbst heute immer noch nicht besitzen, vorfinden. In seinem (von Savigny) mitgebrachten Programm der historischen Rechtsschule: „ M i t d e n T o t e n z u R a t e g e h e n ! " steckt eine ganze Wissenschaft, ein noch ungehobener Schatz — eine Forderung der Zukunft, deren Proklamation der v e r t i k a l e n Geschlechtergem e i n s c h a f t beim politischen Denker gerade der Gegenwart eigentlich auf Verständnis stoßen müßte. Denn Bachofen ist der erste Religionsforscher, der nicht bloß Vergangenheitsfragen nach Gewesenem stellt, sondern der den Hintergründen und noch gültigen und für alle Zeiten maßgebenden Untergründen des geschichtlichen Lebens, also auch der Gegenwart und Zukunft, nachgeht. Die Niebuhr-Mommsensche Geschichtsforschung untersuchte nur das Vergangene. Bachofens Symbolpsychologie der Mythen und Legenden, Sitten, Riten und Rechtsbräuche geht auf das heute und immerdar Allgegenwärtige in aller menschlichen Seele, auf den Mutterstoff, die „Materie", ihrer Vorstellungsinhalte, die nicht aus ihr s elber, sondern aus der sie umspü-

120

Die Umseele

lenden Mutterlauge der Um-Seele kommen. Dabei ist es der Vorzug der Menschenseele vor der Tierseele, ihre spezifisch menschlichen Seeleninhalte wenn auch gleichfalls hypnoid, traumhaft, so doch nicht auf dem Umwege über das Gattungsgedächtnis, also über die Vererbung (Instinkte), sondern d i r e k t aus dem kollektiven Unbewußten in der Form einer Zwischenseele selber zu schöpfen. D a ß wir Bachofen dabei als Fortsetzer Hegels fassen, darf nicht beirren. Rein historisch betrachtet, erschienen beide als Gegensätze, Bachofen als Irrationalist gegenüber der Vernunftsphilosophie Hegels und seiner Schule. Aber der Gegensatz ist äußerlich, weil er sich nur auf die Inhalte, die zufälligen Gegenstände bezieht, f ü r die beide Denker sich interessierten. Denn natürlich gibt es Rationales im „objektiven Geist". Aber auch das Irrationale in Religion und Recht hat Hegel bereits gesehen und es dann allerdings spekulativ zu erfassen gesucht. Doch der Hauptgegenstand ist ein und derselbe „objektive Geist" dort wie hier. U n d wenn Hegel den religiösen Mythen einen philosophischen Wahrheitswert beilegte, der ihrer Verwerfung im Wege steht, so war er nicht weit von Bachofen entfernt. Denn auch dieser begann damit, die von Mommsen u. a. als märchenh a f t und unwirklich verworfenen Sagen, z. B. die römischen Königssagen bei Livius, als hervorragende seelische Quellen anzuerkennen, allerdings — zum Unterschied von allen Vorgängern — als bare Geschichtsquellen! U n d in der Tat, sie sind Q u e l l e n f ü r d i e P h ä n o m e n o l o g i e , wenn man so will, d e s g r o ß e n z w i s c h e n s e e l i s c h e n B e r e i c h e s , für das G r u n d w a s s e r d e r G e s c h i c h t e . Sie geben uns genaue Auskunft über jene pneumatoide Mutterlauge aus U r zeiten, aus der sich die Einzelheiten religiösen und rechtlichen, politischen und sittlichen Geschehens speisen. D e n n a u c h wasHegeltrieb, warimGrundenichtsanderes a l s s u b l i m i e r t e r T o t e n k u l t . Wie denn bei den Völkern mit dem Maße ihrer Totenverehrung auch die N a t u r k r a f t des „objektiven Geistes" wächst, aller Aufklärung spottet und die Völker des ausgeprägten „objektiven Geistes" aus dem Mittelalter nie herauskommen (das japanische Schicksal ist nur eine Spitzenleistung dieses Geistes). Die Toten sind die meh-

Von Hegel zu

Bachofen

121

reren! (Daher: ad plures ire — sich zu den Vätern versammeln.) Wir wenigen Lebenden stehen auf den Schultern eines gewaltigen Erbes an Mythen und Symbolen. W i r stehen einem erdrückenden Heer fordernder Ahnengeister gegenüber. Den äußerlichen Gegensatz der historischen Wesenslehre von der philosophischen Seinslehre Hegels aufzubauschen, blieb der Hegeischen Schule vorbehalten (Ed. Gans). Er ist bedeutungslos. Auf die besonderen Inhalte dieser Zwischenseele gehen wir nicht ein. Aber es ist Wahres an der Bachofenschen These, daß das Heidentum — vielleicht nicht „die", aber — e i n e ursprüngliche Naturanlage des Menschen darstellt und daß in diesem Punkte die menschliche Seele n i c h t „naturaliter christiana" sein kann. Wieder liegt der Unterschied nicht im Inhaltlichen, sondern in der Tatsache der umseelischen Wesensbeeinflussung, der Jesus Christus erstmalig entgegentrat. In Übereinstimmung damit ist für Bachofen das Christentum nicht auf das Muttertum des Stoffes, sondern auf das Vatertum des Geistes gegründet. Dieser antispirituale Psychismus ist es gewesen, der den Übergang zu Klages gebildet hat. Von hier aus gesehen, erhält dann die Steinersche Frage: „Wie ist Religion verloren gegangen?" (an Stelle der alten Aufklärungsfrage: wie ist Religion „entstanden"?) einen Steiner selber unbekannt gebliebenen Sinn. Denn die heidnische Frömmigkeit der umseelischen Fremdsteuerung in metaphysischen Dingen mußte, wenn schon nicht verschwinden, so doch ihre Bedeutung einbüßen, weil mit dem Christlichwerden des Menschen etwas Neues neben das Alte trat und der Mensch nun gespalten wurde. Mit Jesus von N a z a reth trat Bewußtsein und Verantwortung an die Stelle, wo vorher die hypnoide Seele gewesen war. Heidnisch-naturhafte Traumhaftigkeit, Fremdsteuerung vom Kollektiven her wurde von seelischer Innerlichkeit verdrängt. Insofern ist er der Entdecker der Seele in ihrer Eigengesetzlichkeit. Auf die Inhalte kommt daneben nichts an. Aber es ist klar, d a ß nunmehr der Ahnenkult, die menschliche Urreligion, der Tellurismus, die orphische Theologie, die Symbolpsychologie und Sepulkralphilosophie, das Mutterrecht (wo es bestand), das Muttertum der Erde, Heroenverehrung, Totenkulte, Blutrache und Mordsühne, Dionysos-Dienst und Eleusinien, Kultus von Erde, N a d i t

122

Die Umseele

und Geschlecht gegenüber den Symbolen des Vaters, der Sonne, des Lichts zu untergeordneter Bedeutung herabsinken mußten. Natürlich verschwindet alles jenes nicht. Es lebt außerhalb der Religionen als Sport (entstanden aus den Wettkämpfen des Begräbniskults), Karneval, Spiel, Aberglaube, unverstandene Sitte und Gewohnheit, innerhalb der Religionen und selbst im Christentum als sakramentale Zugeständnisse an die wesenhaft heidnische Umseele des Menschen fort. Bachofen hat ein entscheidendes Teil zur Vervollständigung des Welt-Alphabets der Formen, namentlich der Symbole der Umseele beigetragen. Andere Forscher haben dies Welt-Alphabet von andern Gebieten her zu vervollständigen gesucht.

Klages Bei jedem großen Werk müssen zwei Köpfe arbeiten, sagt Hippel. Einer weist den Weg, der andere geht ihn. Nach Bachofen kam K l a g e s , nach dem Entdecker der Systematiker. Klages, der Tiefbauer, unterbaute die herkömmliche Archäologie mit einer noch tieferen, umfassenderen. Er legte nicht mehr nur materielle Denkmäler und Inschriften dieser und jener geographischen Vergangenheit, sondern das s e e l i s c h e Urgestein a l l e r Zeiten und Erdteile bloß. Im Archaikum der Seele ward ein apriorischer Riesenbereich gefunden, der im Gegensatz zum sokratisch-platonisch-kantischen nicht mehr bloß logisch-mathematisch, also abstrakt-formal war, sondern inhaltliches Wissen anschaulichster Art darstellte: wirkliche „Weisheit", ein Reich der mit uns geborenen Bilder und Symbole, das im Menschheitsgedächtnis seit Urzeiten fortdauerte. Die von Klages selber darauf gebaute Wertung und Weltanschauung zugunsten des Steinzeitmenschen hat mit jener großen Leistung nichts zu tun. Es ist aber durchaus logisch — und das einzusehen, fällt vielen Forschern zu schwer —, daß sich m i t den Klagesschen Einsichten (wie auch mit denen Keyserlings) das Verhältnis zur Welt der bisherigen Wissenschaft verändert, ja, der ganze Mensch sich zu ändern gezwungen ist. Denn die Klagessche Entdeckung ist nicht möglich, ohne daß sich

Klages

123

archaische Schichten im Forscher selber bloßlegen. Man entdeckt zugleich sich selber und neue Abmessungen des eignen menschlichen Volumens. Freilich darf man zu dieser Beobachtung nicht den temperamentschwachen nordischen oder englischen T y p u s heranziehen. Dann erst weicht der zahme Seelenzustand, der sich bis jetzt „Wissenschaft" nennt und der kein Boden für das Archaikum der Seele ist, einem neuen tieferen Wissen, das sich nicht mehr nur aus Begriffen und Abstraktionen speist (die damit nicht überflüssig werden), sondern in der Sprache der „Bilder", Träume, Symbole, Mythen unmittelbar aus dem gewaltigen Reich des „Unbewußten", das für Klages das eigentliche Reich des Lebendigen ist, selber quillt und rauscht. Aus diesem Born, gleichsam dem Quell Mimirs des Riesen, strömt jenes Zugleich von Ur-Wissen und Leben, das die „ W a h r h e i t " ist, Aletheia (vorgeblich von „Lethe": „was nicht vergessen w i r d " , so übersetzt Leopold Ziegler). Wogegen sein Gegenpol, das Gehirn, nach Driesch das psychometrische Organ des Menschen, von H . Keyserling gerade umgekehrt als das eigentliche Organ des Vergessens gedeutet wird. Also nicht der W a h r h e i t ! Denn diese entsteht nicht im Bewußtsein bzw. im Gehirn, sondern steigt erst hinterher aus dem Irrationalen, dem Unbewußten hervor, um sich im Bewußtsein zu spiegeln. Dann wäre das H i r n zwar gleichfalls ein „Steigrohr" neben den andern, die es gibt (wir kommen darauf zurück), aber ein mit einem engmaschigen Sieb versehenes, das die besten und für unser Menschsein wesentlichsten Inhalte nicht durchläßt. Und die H y p e r trophie gerade dieses Organs beim Hirn-Saurier hätte dann die einseitig intellektualistische, menschlich verarmte K u l t u r verschuldet, an der wir leiden und deren Gegenpol etwa in Deutschland wir an den Menschen dinarischer Herkunft mit religiöser und künstlerischer Begabung beobachten, während der amusische und areligiöse nordische Mensch seit den Wikingern und Angelsachsen den Staats- und Machtgedanken mit all seiner intellektuellen K ä l t e verwirklicht hat. Ein Paradoxon bleibt, daß der Verkünder des antiintellektuellen Rauschgedankens selber dem nordischenTypus zugehört. Es ist keine Frage, daß wir gewisse urtümliche menschliche Fähigkeiten nicht bei uns studieren können. Es ist widersinnig,

124

Die

Umseele

wenn die europäische Experimentalpsychologie das Wesen des Gedächtnisses an europäischen Versuchspersonen statt an ethnischem Material studiert, weil es dort verkümmert ist. Das Wesen des Geruchs muß am Nasentier und das Wesen der „Religion" nicht an Europäern und Amerikanern, wie es Leuba, James, Girgensohn taten, sondern am Orientalen, Neger, Azteken erforscht werden. Nur hier und vor allem in der Vergangenheit finden wir den Rausch und seine unverkümmerten Ausdrucksformen: den heiligen Königsmord, Tempelprostitution und lebendiges Einmauern, Vergöttern und hinterheriges Schlachten des Gottmenschen (bei den Mayas), das orgiastische Gottzerreißen, das Verschlingen des Gottes (mit der modernen „Kommunion" als kümmerlichem Rest), Selbstverstümmelung und religiösen Lustmord, altmexikanischen Kannibalismus mit reich verzierten Kannibalengabeln, kinderbratenden Molochdienst usw., in heutiger Zeit etwa noch den Mahdismus iüngsten Angedenkens, dessen krebsartig um sich greifende und den eanzen Sudan verpestende Wahnsinnsorgien der nordische Mensch (Kitchener) faktisch und symbolisch mit den Knochen des Mahdi in den Fluten des Nil ersäufte. Gleichwohl wird auch der gebildete Mensch der Gegenwart die alte Hypothese der „Seelenroheit" des „Wilden" fallen lassen. Aber er wird diese Zustände im scharfen Gegensatz zu Klages nicht für normal und menschenwürdig ansehen. Die Kritik der Religion (und unverkümmerte Religion gibt es in Euramerika nicht mehr) wird in den Besessenheitszuständen durch die Umseele (das kollektive Syntagma) immer eine Sucht, eine Phrenose, einen Mentalkrampf erblicken. Sie wird den Höhepunkt menschlicher Entwicklung nicht in der Vergangenheit, nicht im Urmenschen, sondern in der Zukunft crblicken, nicht im Umseelischen, überhaupt niemals im Zweitseelischen, sondern in der Seele selber, die immer Einzelseele ist, weil es eine Sammel „seele" in anderm Sinn als der einer Metapher nicht geben kann. Gipfelpunkt der Entwicklung der Menschheit ist für uns die freie, selbst entscheidende, eigengesetzliche, verantwortungsbewußte Persönlichkeit. Die Weltanschauung des modernen Menschen liegt bei allem Konservativismus nicht in der

Das Repertorium

der

Archetypen

125

Vergangenheit, sondern ist zukunftsfroh, fortschrittsgläubig, liberal. Der Urmensch dagegen ist der umseelische Mensch. An dieser Umseele als einem universalen, in Jahrhunderttausenden angesammelten Menschheitsgut sind die Seelen der Vergangenheit beteiligt. Nach Klages selber sind die Urbilder „erscheinende Vergangenheitsseelen". D i e R e l i g i o n d e s U r m e n s c h e n i s t d a h e r i m m e r „ A h n e n d i e n s t " , ob er dies nun weiß oder nicht. (In unserer Sprache: sie speist sich wie das ganze Leben des Urmenschen aus der Umseele.) Es ist Bachofens und Klages' Verdienst, das unwiderstehliche Ubergewicht der Toten über die Lebendigen — nicht in bloß geschichtlichem, politischem oder juristischem, sondern in umseelischem Sinne — überzeugend dargetan zu haben. Und auch darin hat Klages richtig gesehen, daß der Ozean der Umseele uns Menschen zwar alle umspült, durchaus nicht alle Menschen aber ein Organ dafür haben. An Hand guter Kenntnis der Umseele und mit sauberer Begriffsarbeit kann der kritische Forscher mit Klages sehr weit gehen, ohne dessen Spekulationen über den Eros und seine Wertungen von Geist und Leben mitzumachen. Die Anerkennung der Doppelnatur des Vollmenschen finden wir bei Klages nicht; denn dieser braucht den Geist u n d die Umseele, das Allerpersönlichste u n d die Umseele. So hoch der volle Mensch mit dem Kopf ins Geistige ragt, so tief wurzelt er mit den Füßen im Erdreich. Hier hat Hermann Keyserling schärfer gesehen. Auch verwechselt Klages den Geist, also das Tiefste, Allerpersönlichste, Eigengesetzliche (daher auch Seltene) im Menschen mit seinen Surrogaten, nämlich den Logoiden Wissenschaft, Technik, Staat. Das Repertorium der Archetypen Das Menschheits-Alphabet des unpersönlichen Bild-Denkens hängt in sich systematisch zusammen. Es ist nicht klein, aber doch nicht uferlos. Es kann einzelmenschlich, und es kann kollektiv sein. D o r t wirkt es aus der Vergangenheit des einzelnen Menschen heraus als Zweitseele, die das Gegenwartsleben des Mensdien überschattet und beeinflußt; h i e r sind es umgrei-

126

Die

Umseele

fende Zusammenhänge außerhalb des Einzelmenschen, ein umgreifendes und übergreifendes Denken. Dort kann sich der Mensch wenigstens grundsätzlich des Entstehens seines obwohl unpersönlichen Denkens erinnern; hier dagegen ist kein Erinnern möglich, an seine Stelle hat Piaton ein nicht mehr psychologisches, nur spekulativ erschlossenes metaphysisches oder mythologisches „Erinnern" ohne konstitutive Erinnerungsmerkmale, ohne Temporalzeichen gesetzt. In beiden Fällen des unpersönlichen Denkens, des einzelmenschlichen wie des kollektiven, bleiben die Ursprünge und der Werdegang (die Genese) des Denkens regelmäßig unter der Bewußtseinsschwelle und ragen nur die Denkresultate (Begriffe, Urteile, Schlüsse) über die Schwelle hinaus. Bedingung der Manifestierung sind immer die Q u e r v e r b i n d u n g e n , also die geographisch-milieuhaften Zusammenhänge. Solche sind die nationalen wie die landschaftlich-provinziellen Bindungen mit ihren Vorurteilen d. h. ihrer besonderen umseelischen Syntagmatisierung, ferner die „Aura" der großen Städte (jede hat ihre besondere psychische Physiognomie), die politischen Parteien, die religiös-konfessionellen Gruppen, die sozialen Klassen, die Wirtschafts- und Berufsstände, Kollegia, Kabinette, Kapitel, Truppenverbände, Korps mit ihrer Solidarität, ihrem Kameradschaftsgeist, auch die sozialen Phänomene auf der Basis des Sports, des Unterrichts, der Familie und Verwandtschaft, der Weltanschauung usw. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, daß sie über das bloße Moment der gegenseitigen Bindung hinaus, das sie äußerlich zusamenhält, eine nicht mehr bloß soziale Erscheinung zeitigen, nämlich Impulse, die sich in bestimmten Überzeugungen entladen, eine Art Mythos, dem Elemente von allen Seiten anschießen, kurz eine magnetoide Verfugung. In jeder Körperschaft bildet sich eine Legende heraus, die ihr Dasein einer bestimmten Art* die Dinge zu sehen, verdankt. Solcher Kollektivgeist ist der Klassengeist, die Parteilegende, der nationale Mythos, das Standesbewußtsein, das Klassenbewußtsein, namentlich heute des Proletariats, vor allem kirchlicher und religiös-weltanschaulicher Gemeinschaftsgeist, schließlich aber auch öffentliche Meinung und Zeitgeist. Ohne diese räumlich - geographischen Querverbindungen und

Das Repertorium

der

Archetypen

127

ihre umseelischen Niederschläge wären die im folgenden behandelten Längsverbindungen nicht lebensfähig (was wäre christliche Tradition ohne kirchliche Zusammenschlüsse?). Doch gilt nicht das Umgekehrte. Diese (zeitlichen) Längsverbindungen garantieren erst den höheren Rang einer umseelischen Verfugung. Man vergleiche etwa die Familie eines Industriearbeiters mit einer alteingesessenen Juristen- oder adligen Landwirtsfamilie. Hier tritt mit dem dort fehlenden Moment der Tradition die neue Längsverbindung hinzu. Oder man vergleiche einen Ruderklub oder eine Schulklasse mit einer Kirchengemeinde: alle haben sie sehr starke Querverbindungen und darauf gegründete Vorstellungs-Gehäuse. N u r die Kirchengemeinde aber hat, wie auch die Zünfte und politischen Verbände, die Universitäten und Freimaurerlogen, daneben auch eine starke Längsverbindung. Diese Längsverbindungen erst sind unser eigentliches Thema. Hier ist die Region der Bilder, Formeln, Zeremonien, Riten. Hier blüht die Denksitte, freilich auch der Wortfetisch. Und was vom 18., 19. Jahrhundert aus wie ein stumpfsinniges Mitschleppen durch die Jahrhunderte aussieht, erscheint dem Sozialpsychologen des 20. Jahrhunderts gerade als Zeichen einer Energiequelle, nämlich einer neuen, besonderen Denkung unpersönlicher Art. Heute ist man auf dieses anonyme, wenn auch in seinen Urteilen und Begriffen durchaus bewußte Denken unbekannter H e r k u n f t endlich aufmerksam geworden. Die kausale Bedeutung dieser (zeitlichen) Längsverbindung darf nun nicht übertrieben werden. Wohl ist eine kausale Ordnung nicht ganz abzustreiten, insofern die Längsverbindung die Fortpflanzung etwa von Initiationsriten, der Verwendung des Schlangensymbols, des Kelches von Jahrhundert zu Jahrhundert erleichtert. Aber es wäre ein Irrtum, zu glauben, diese mechanische lineare Weitergabe wäre die U r s a c h e ihres Wiederund Wiederauftretens. „Nachahmung", „Beeinflussung", „Übernahme" sind als dominierende Kategorien Kennzeichen einer heute veralteten geistesgeschichtlichen Denkweise, einer dogmatischen Methode im Sinne massiven Lehrens, Lernens und Abguckens. Man ist nicht mehr „gilgameschugge". Man glaubt nicht mehr mit der Rüdeführung des weltgeschichtlichen Motivs des

128

Die

Umseele

Abstiegs zur Unterwelt, ebenso wenig wie mit dem des Zusammenkommens von Mann und Frau, auf das Gilgamesch-Epos irgend etwas geklärt zu haben. Mögen Techniken und Gewandbehandlung auf Skulpturen etwa bei Praxiteles und im hellenistischen Barock oder die Kombination der Embleme Messer, Schlüssel, Lanze, Buch, Palmzweig mit Darstellungen der Erzväter, Apostel, Heiligen auch weiterhin der kausalen Betrachtung unterliegen, diese genannten Symbole selber, Nelke, Rose, Kreuz und tausend andere, zeigen auf der ganzen Welt die gleiche bestimmte Bedeutung, auch wo keine Längsverbindung vorliegt, keine Tradition die Brücke schlägt. Seit Freud und C. G. Jung sind eine Fülle solcher Sinnbilder in den Bereichen des Spiels und Sports, Handwerksbrauchs, der künstlerischen Darstellung, der Religion und Mythologie aller Völker, aber auch der Sitte, des Brauchtums und Sexuallebens nachgewiesen worden. Dies sind Tatsachen, und erst die Deutung, die ihnen die einzelnen Forschungsrichtungen geben (bald rein sexuell, bald kosmisch-religiös, mystisch, meteorologisch, sozial-lebenskundlich, biologisch, psychologisch, astral) ist eine Sache oftmals recht gewagter und unverbindlicher Spekulation. Zum Repertorium des querverbundenen unpersönlichen Denkens gehören alle Spielarten des „Komments" von den Raucher- und Trinkersitten, den Gesprächs- und Verkehrssitten bis zu den Spielregeln des Parlamentarismus. Obwohl sie alle ihre Geschichte haben, hat doch das Beispiel nicht mehr Lebender auf das Syntagma der jeweils vorhandenen Generation keinen Einfluß. Die Geschichte ist für das Syntagma nicht von notwendig konstitutiver Bedeutung. Es besteht auch meistens keine Verbindung zur Umseele des archetypisdien Unbewußten. Bei anderen aber besteht sie. Die Spielregeln der meisten, nicht willkürlich erdachten Spiele, soweit sie allgemein menschlich sind, weisen über die Querverbindungen hinaus. U n d ebenso speist sich aller Aberglaube, und zwar sowohl in der groben Form der Landbevölkerung als auch der verblaßte, aber durchaus lebendige des Stadtmenschen direkt aus umseelischem Bereich und nicht aus der Geschichte, obwohl er eine sich über alle Zeiten erstreckende allgemeine geschichtliche Erscheinung darstellt. Es gibt eben in der Geschichte Uberhistorisches, das sich nicht entwickelt, sondern nur die Umstände wechselt, ein geschichtsloser, aber aller Geschichte zugrunde liegender apriorischer Kanevas aus Zeichen, Bildern, Begriffen — analog dem phänomenologisch-logischen „Weltalphabet" Edmund Husserls und dem phänomenologisch-emotionalen „Reich der Werte" Max Schelers.

Empirischer

Apriorismus

129

Empirischer Apriorismus Mit obiger Lehre von den wichtigen Querverbindungen ergibt sich eine neue Art der Geschichtsbetrachtung. Für die ältere Geschichtsschreibung und Biographie stand die einzelne Persönlichkeit im Mittelpunkt der Betrachtung. Mit Hippolyte Taine kam die Milieutheorie auf. Der Mensch ist Produkt des Milieus seiner Zeit und dessen, was ihr vorangeht. Man säkularisierte das Genie, indem man es seiner Einzigkeit und Weihe entkleidete und es in die Resultanten auflöste, aus denen es sich angeblich zusammensetzte; es aus den Einflüssen herleitete, die auf das Genie eingewirkt haben. W i r wissen, wie stark diese Geschichtsbetrachtung auf die Weltanschauung des Sozialismus wie auf die Literatur im Sinne des Naturalismus, auf das „soziale Drama" (Gerhart Hauptmann) eingewirkt hat. Jetzt lernen wir eine dritte Möglichkeit kennen, Geschichte zu erklären. Da ist der Mensch nicht mehr ein Glied in der Kette, die irgendwo fern ihr unsicheres Befestigungsscharnier hat, mit dem das Einzelglied nur mittelbar verbunden ist. Da ist jeder Mensch vielmehr unmittelbar mit dem großen Quellreservoir verbunden, das ihn direkt und ohne geschichtlich vorangehende Mittelglieder speist. So allein ist die Multiplizität der Ereignisse zu erklären. An verschiedenen, von einander unabhängigen Punkten der Erde können gleichzeitig oder nacheinander motivisch gleiche Bilder, Symbole, Formeln, Kunststile, Begriffe entstehen, weil die jeweiligen Subjekte aus der gleichen unbewußten Quelle schöpfen, und ohne daß wir aus dem Funktionskreis der allgemeinen Medialität heraustreten müssen, ohne daß wir nötig haben, das Genie zu bemühen. Eine solche Geschichtsbetrachtung würde den Erfahrungscharakter dieser Wissenschaft nicht aufgeben, und sie würde zugleich jenen empirischen Apriorismus verwirklichen, dem schon Bachofen zusteuerte, als er dem Geschichtsverlauf ein System von Motiven, Leitbildern zugrunde legte. Ein nicht mehi' metaphysischer, sondern psychologischer Piatonismus würde als statisches Element die dahinbrausende bunte Dynamik des Geschehens bändigen und in der Regellosigkeit, aus derHeinr.Rickert eine Tugend machen wollte, das Gesetz der Archetypen sichtbar machen. 9 F e l d k e l l e r , Das uHpersönliche Denken

130

Die

Umseele

Stockgeist und Tiefenperson Die Zweitseele hat der Mensch allein, das Phänomen der Umseele (Peripsyche) teilt er mit dem Tier, nur ist sie beim ¡Menschen reicher, insofern sie auch alle jene geschichtlich-umseelischen Phänomene mitbetrifft, die der Kollektivseele des Tieres fehlen, weshalb das Tier wohl Staatenbildung und Kriegführung, aber keine Geschichte, keine Zivilisation und keine Kultur hat. Gleichwohl ist die bloße Tatsache der Umseele dasjenige, was tierische N a t u r und menschliche Geschichte verbindet. Das Phänomen des „Stockgeistes" etwa läßt uns geschichtlich-menschliches Kollektivleben mit naturhaft-tierischem in unmittelbare Beziehung setzen, ja beides teilweise als dasselbe begreifen und rätselhafte Vorkommnisse unpersönlichen Denkens aus allerjüngster Zeit überhaupt erst erklären. Denn hier, im U n p e r s ö n 1 i ch e n, ist der Punkt, wo Tierpsychologie und Geschichtspsychologie zusammenhängen und wir von jener für diese Aufklärungen erwarten dürfen. Was Edgar Dacque und seine Anhänger, was Herbert Fritsche, Felix Buttersack u. a. über die Hellsichtigkeit und Natursichtigkeit der Tiere, über die Ursinnes-Organe hellwitternder Hunde und deren Rudimente in den innersekretorischen Drüsen des Menschen theoretisierend behaupten, ist höchst prekär, aber .am Vogelzug, an der Wanderung der Aale, am Stockgeist der Ameisen, Wespen, Bienen ist nicht zu zweifeln. Hier liegt sinnvolles Handeln vor, dessen Erklärung nicht schon wie das der Instinkte durch die L ä n g s Verbindung der Vererbung gesichert ist, sondern das darüber hinaus durch die jenen Phänomenen eigentümliche Fernwirkung eine materielle Q u e r v e r b i n d u n g postuliert, die wir uns, wenn überhaupt, höchstens in Form unbekannter „Strahlen" vorstellen können. In jedem Falle, liegt hier ein Gleichschritt unpersönlichen Denkens vor. An der T a t sache der sogenannten „denkenden Pferde", „denkenden Hunde" ist kein Zweifel erlaubt, nur hat sie mit dem persönlichen Denken des Menschen, mit Multiplizieren und Wurzelziehen, nichts xu tun.

Stockgeist

und

Tiefenperson

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Viele scheinbaren Denkleistungen derjenigen Haustiere im engeren Sinne, mit denen wir nicht nur das Dach, den Witterungsschutz, sondern auch die gegenseitige Befriedigung sozialer .Bedürfnisse, die W ä r m e des seelischen Klimas teilen, enträtseln sich durch die viel näher liegende Erklärung der Telepathie, soweit diese überhaupt schon gesichert ist. Dabei ist die Fähigkeit, ein telepathisches Band zu knüpfen, kein Vorzug der Familientiere. Bei der K a t z e ist die an sich starke Kontaktfähigkeit auf die niederen Organe beschränkt und erhebt sich nicht ins Gemütsleben. Umgekehrt zeigt ein Stalltier wie das Pferd ein nicht nur physiologisches Kontaktbedürfnis. Pferde und Hunde sind denn auch diejenigen Haustiere, bei denen wir neben der physiologischen eine bis ins Unbewußte reichende seelische K o n t a k t freudigkeit vermuten dürfen. Sie ist die Bedingung für die differentielle Reaktion auf kleinste Zeichengebung des Menschen, die, nicht grundsätzlich unbewußt, doch dem Bewußtsein des Menschen für gewöhnlich entgeht. Darüber hinaus wird, möglicherweise mit Recht, ein grundsätzlich unbewußtes telepathisches Band zwischen dem Tier und seinem Lenker vermutet. Beides: die differentielle Reaktion auf Kleinzeichen (Finger, Arm, Blick) und die Telepathie, würde den Gleichschritt im Vorstellen dort und hier vollkommen erklären. Diese Übertragung, ob nun über „Seelenantennen" zur Aufnahme von Impulsen oder ohne sie, macht die Annahme selbständigen Denkens und Rechnens im Tier überflüssig. Es genügt, daß einer rechnet, der menschliche Sender. Nicht so aber jene Denkleistungen des Tieres, die es o h n e Symbiose mit dem Menschen vollzieht und die streng unpersönlicher N a t u r sind. "Während der Mensch beides kennt, obwohl auch hier die meisten zeitlebens aus dem unpersönlichen Denken nicht herauskommen, ist dem Tiere persönliches Denken und Pflichtbewußtsein grundsätzlich versagt. Daher gibt es hier wohl Wahrnehmungstäuschungen, aber keine „Irrtümer", d. h. U i teilstäuschungen, wohl schlechtes Gewissen, aber nichts „Böses", das über das sozial Schädliche hinausginge. Die Gebiete dieses unpersönlichen Denkens sind Nahrung (Beute), Fortpflanzung, Wohnung, Orientierung und soziales Verhalten gegen Freunde und Feinde, in Staat und Kriegführung. Die von Fritsche be9*

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Die Umseele

hauptete Charakterfühligkeit der Hunde und Reitpferde, der absolute Orientierungssinn der Brieftauben sind unpersönliche Wahrnehmungsurteile, wie sie der Mensch auch kennt. N u r die Sinnesorgane sind andere, uns unbekannte. H i e r ist das Tier reicher als der im wesentlichen auf drei physikalische und zwei diemische Sinne beschränkte Mensch. Dagegen ist die logische Dignität der auf die verschiedenen Sinneseindrücke, auch die uns gänzlich unbekannten, gegründeten Wahrnehmungs- und Gedächtnisurteile die gleiche wie bei uns Menschen. In der Logik des unpersönlichen Denkens gibt es keine Unterschiede, ganz gleich, welche Sinnesorgane im Spiel sein mögen. W i l l man beim Tiere logische Schlüsse im Sinne eines von bloßen Wahrnehmungen und Erinnerungsvorstellungen sich entfernenden Gedankenrechnens konstatieren, so würden auch diese dem unpersönlichen menschlichen Denken gegenüber nichts Neues bedeuten. Kommen im Rahmen des unpersönlichen Denkens schwache und starke, einmalige und dauernde Verkehrtheiten vor, so handelt es sich keinesfalls um „Irrtümer" des Tieres selbst, sondern um solche der Natur, falls man dieser ein logisches Subjekt beilegen will. Das Vorkommen von neurotischen, hysterischen, melancholischen, geisteskranken Hunden würde gegenüber menschlichen Zuständen keine neue Art irrtümlichen Verhaltens begründen. In beiden Fällen gehört der „Irrtum" nicht in die Psychologie, sondern in die Metaphysik. Er ist kein persönlicher Irrtum. Die bloße Psychologie kennt keinen Irrtum unpersönlichen Denkens. Täuscht das T i e r sich im Vorgefühl eines Erdbebens, so entspricht dies dem „Fehlausschlagen" der Wünschelrute: die Annahme eines „Irrtums" ist eine Vermenschlichung; die Rute wie das tierische Sinnesorgan reagieren in jedem Falle kausalgesetzlich. „Irrtum" aber ist eine logische Kategorie persönlichen menschlichen Denkens (gegründet auf „Erwartung"), die es im unpersönlichen Denken nicht gibt — man müßte denn dieses auf ein übergreifendes persönliches Denken

kosmischer Art

zurückführen

und

damit das Gebiet der Psychologie mit dem der Metaphysik vertauschen. Dann wäre letzten Endes alle Welt-Logik,

alles gesetzmäßig zu be-

greifende und zu berechnende „Verhalten" des Organischen wie des Anorganischen Inhalt einer Denk-Logik, handele es sich nun um das Fallen des Steins nach der Formel s = des sehenden Auges

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