Das Unbewusste – Eine Brücke zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften [1 ed.] 9783666451331, 9783525451335

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Das Unbewusste – Eine Brücke zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften [1 ed.]
 9783666451331, 9783525451335

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Schriften des Sigmund-Freud-Instituts

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Band 20 Marianne Leuzinger-Bohleber / Simon Arnold / Mark Solms (Hg.) Das Unbewusste – Eine Brücke zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften

Marianne Leuzinger-Bohleber /  Simon Arnold / Mark Solms (Hg.)

Das Unbewusste – Eine Brücke zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 11 Abbildungen und 5 Tabellen Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-45133-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: misterQM/photocase.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Marianne Leuzinger-Bohleber Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I Das Unbewusste: Perspektiven der klinischen Psychoanalyse und Neurowissenschaft Mark Solms »Das Unbewusste« in Psychoanalyse und Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Karl Friston Ich bin – also denke ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Carlo Semenza Das Unbewusste in der kognitiven Neurowissenschaft. Einige Anregungen für die Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Heinz Weiß Primitive Wiedergutmachung, Wiederholungszwang und unbewusste Verarbeitung von Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Theodore J. Gaensbauer Nonverbale Erinnerungen von Traumata in der frühen Kindheit: Bewusst oder unbewusst? . . . . . . . . . . . . . . . 143 Marianne Leuzinger-Bohleber Embodiment und die Annäherung an das Nicht-Repräsentierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

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Inhalt

II Das Unbewusste: Konzeptuelle und empirische Studien Werner Bohleber, Juan Pablo Jiménez, Dominique Scarfone, Sverre Varvin und Samuel Zysman Die unbewusste Phantasie und ihre Konzeptionen: ein Versuch der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Riccardo Steiner Anmerkungen zum Begriff der Unbewussten Phantasie . . . . 239 Tamara Fischmann, Marianne Leuzinger-Bohleber, Michael Russ und Margerete Schött Trauma, Traum und Transformation in der Psychoanalyse. Klinische und Extra-Klinische Forschung im Rahmen einer EEG/fMRT-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Robert M. Galatzer-Levy Abschließende Bemerkungen und Ausblick auf den Brückenschlag zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Marianne Leuzinger-Bohleber

Vorbemerkungen

Dieser Band enthält ausgewählte Vorträge der »Joseph-SandlerResearch-Conference« 2014, die zum siebten Mal in Frankfurt am Main stattfand. Das Sigmund-Freud-Institut (SFI) organisierte diese wichtigste Forschungskonferenz der »International Psychoanalytical Association (IPA)« in Kooperation mit dem Research Board der IPA, der Universität Kassel, der Goethe-Universität Frankfurt a. M. sowie dem IDeA-Zentrum der Landes-Offensive für Wirtschaftliche und Wissenschaftliche Exzellenz (LOEWE). Joseph und Annemarie Sandler gründeten zusammen mit Robert S. Wallerstein, Otto Kernberg, Arnold Cooper und Peter Fonagy diese erste Forschungskonferenz der IPA in den 1990er Jahren. Sie fand bis 2007 jeweils am ersten Märzwochenende am University College in London statt. Die Konferenz sollte vor allem dazu dienen, den Dialog zwischen extraklinischen (empirischen und interdisziplinären) Forscherinnen und Forschern und niedergelassenen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern zu intensivieren und gleichzeitig die Psychoanalyse an aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten aktiv zu beteiligen. In Frankfurt wurden folgende Themen aufgegriffen: 2008:  Early Development and its disturbances: Psychoanalytic perspectives and ADHD and other psychopathologies. 2009: Religion and fanatism. Recurrence of a subject 2010: Persisting shadows of early and later trauma. 100 years International Psychoanalytical Association, 50 years Sigmund Freud Institut, 20 years IPA Research Conferences 2011: The significance of dreams. Bridging clinical and extraclinical research in psychoanalysis 2012: Research in early parenting and the prevention of disorder: Interdisciplinary challenges and opportunities

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2013:  Finding the body in the mind. Researchers and clinicians in dialogue 2014: The unconscious: A bridge between psychoanalysis and cognitive science. Researchers and clinicians in dialogue Da diese Konferenzen auf ein immer größeres Interesse bei den Mitgliedern der IPA stießen, entschloss sich diese, die Konferenz zukünftig zwischen den drei Regionen der IPA rotieren zu lassen. 2015 fand sie an der Yale University in den USA statt, 2016 wird sie in Buenos Aires organisiert. Seit 2013 werden diese Forschungskonferenzen mit dem »Research Training Program« (RTP) der IPA kombiniert. Es waren vor allem Peter Fonagy, Robert Wallerstein und Robert Emde, die das RTP ebenfalls in den 1990er Jahren gründeten, um den wissenschaftlichen Nachwuchs in der IPA zu fördern. Es fand 10 Jahre lang jeweils 10 Tage im August am University College in London statt. Inzwischen haben fast 500 meist junge Akademikerinnen und Akademiker dieses Trainingsprogramm in psychoanalytischer Forschung durchlaufen (vgl. Website der IPA und des SFI). Eine dritte Aktivität zur Förderung der Forschung in der IPA wurde ebenfalls vor allem von Peter Fonagy initiiert: Als Reaktion auf die erneuten Anfeindungen gegen Psychoanalyse Ende der 1990er Jahre – die Psychoanalyse habe versäumt, ihre Ergebnisse nach den Kriterien der evidence-based medicine zu belegen – ­publizierte er eine erste Ausgabe des »Open Door Review« (ODR), in der Zusammenfassungen der zahlreichen Outcome- und Prozessstudien zu psychoanalytischen Therapien einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden. Wie die dritte Edition des ODR zeigt, die 2015 von Marianne Leuzinger-Bohleber und Horst Kächele herausgegeben und beim IPA-Kongress in Boston präsentiert wurde, hat sich inzwischen das Spektrum der klinischen und extraklinischen Studien in der Psychoanalyse enorm erweitert. Ebenso die Reflexion auf die anspruchsvollen wissenschaftstheoretischen und methodischen Fragen, wie sich die Psychoanalyse – als Wissenschaft des Unbewussten, das heißt des nicht direkt Beobachtbaren – einer wissenschaftlichen Überprüfung ihrer klinischen Befunde stellen kann (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber u. Kächele, 2015; hier v. a. den einleitenden Teil).

Vorbemerkungen

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Zum interdisziplinären Dialog zwischen Psychoanalyse und den Neurowissenschaften Im Folgenden noch einige kurze einleitende Bemerkungen zum Thema dieses Bandes.1 Wie bereits erwähnt, war die Konferenz 2014 dem Kernthema des interdisziplinären Dialogs zwischen der Psychoanalyse und ihren Nachbardisziplinen gewidmet: dem Unbewussten. Bekanntlich wird die Psychoanalyse seit Freuds Zeiten als Wissenschaft des Unbewussten definiert. Doch inzwischen haben sich viele andere Disziplinen, so auch die Cognitive Science, mit der Frage nicht bewusster Informationsverarbeitungsprozesse beschäftigt. Doch verstehen diese Forscherinnen und Forscher das Gleiche unter »dem Unbewussten«? Kann die Kernthese der Psychoanalyse – dass es ein dynamisches Unbewusstes gibt, in das Tabuisiertes, seelisch nicht Erträgliches verbannt wird und oft unerkannt aktuelles Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst – angesichts neuerer Forschungen aus dem Bereich der Kognitions- und Neurowissenschaften noch aufrechterhalten werden? Oder erweist sich dieses Verständnis des Unbewussten nach wie vor für einen Veränderungsprozess in Psychoanalysen und Psychotherapien als unverzichtbar? Für manche Autorinnen und Autoren, zum Beispiel den Nobelpreisträger Eric Kandel (1998, 1999, 2006, 2009), erfüllt sich in den letzten Jahrzehnten eine Vision von Sigmund Freud: Sein Leben lang habe Freud gehofft, dass neuere Entwicklungen in den Neurowissenschaften dazu beitragen könnten, psychoanalytische Prozesse auch naturwissenschaftlich zu erforschen. Angesichts des Standes der neurologischen Methoden seiner Zeit aber, habe er einen entsprechenden Versuch in seiner Arbeit »Projekt einer wissenschaftlichen Psychologie« aufgegeben, sich von dieser Vision abgewendet und die Psychoanalyse als ausschließlich psychologische Wissenschaft des Unbewussten definiert. Wie Eric Kandel und viele andere postulieren, öffnen neuere Entwicklungen in den Neurowissenschaften, zum Beispiel die Untersuchung des lebenden Gehirns mithilfe von bildgebenden Verfahren (z. B. von MEG, EKP, PET, fMRI) ein neues Fenster für die Psychoanalyse hin zu der Welt der heutigen Wissenschaften. 1 Die folgenden einführenden Anmerkungen basieren u. a. Leuzinger-Bohleber und Weiß, 2014.

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Die Notwendigkeit, psychoanalytische Behandlungen mit neurowissenschaftlichen Methoden zu belegen2 Kandel formulierte leidenschaftliche Plädoyers für diesen Dialog. So ist er davon überzeugt, dass die Psychoanalyse zukünftig die Ergebnisse ihrer Behandlungen auch mit neurowissenschaftlichen Methoden belegen muss. In einem Punkt hat er völlig Recht: Wenn es der Psychoanalyse gelingen würde zu zeigen, dass ihre Therapien auch die Funktionsweise des Gehirns nachhaltig verändern, wie dies etwa der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Norman Doidge (2007) postuliert, würde sie im Bereich der Medizin und im Gesundheitswesen auf neue Weise ernst genommen. Bereits jetzt versuchen einige Forschungsgruppen entsprechende Studien durchzuführen, so zum Beispiel Buchheim, Kächele et al. in der sogenannten Hanse-Neuro-Psychoanalysis-Studie, Northoff, Grimm, Böker et al. in ihren Untersuchungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Manfred Beutel und sein Team an der Psychosomatischen Abteilung der Universitätsklinik Mainz, Linda Mayes und ihre Forschergruppe an der Yale University und Bradley Peterson an der Columbia University in New York, um nur einige Wenige zu nennen. Auch wir am SFI haben in Zusammenarbeit mit dem Max Planck Institute for Brain Research den Ball aufgenommen, der uns von Eric Kandel zugespielt worden ist.

Die Zeitschrift »Neuropsychoanalysis« Kaplan-Solms und Solms (2003) entwickelten die sogenannte neuroanatomische Methode, mit der sie Patienten nach einem Schlaganfall psychoanalytisch untersuchten. Inzwischen haben sich in verschiedenen Ländern ähnliche Forschungsgruppen gebildet und zu neuen Erkenntnissen zum sogenannten »Leib-Seele-Problem« beigetragen (vgl. z. B. Damasio, 1999; Sacks, 2007 u. a.). 1999 erschien zum ersten Mal die internationale Zeitschrift »Neuropsychoanalysis«, in der namhafte Neurowissenschaftler/-innen und 2 Zum Dialog zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften vgl. Leuzinger-Bohleber, Böker, Fischmann, Northoff u. Solms, 2015.

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Psychoanalytiker/-innen Themen wie Emotion und Affekt, Gedächtnis, Schlaf und Traum, Konflikt und Trauma sowie bewusste und unbewusste Problemlösungsprozesse detailliert und kontrovers diskutieren. 2000 wurde die internationale Gesellschaft »Neuropsychoanalysis« gegründet, die in regelmäßigen Kongressen ebenfalls den Austausch zwischen diesen beiden Wissenschaften pflegt. So scheinen zunehmend Forschungsgruppen weltweit zu realisieren, dass sich Neurowissenschaften und Psychoanalyse in interessanter Weise ergänzen könnten: Die Neurowissenschaften verfügen inzwischen über die objektivierenden und exakten Methoden zur Prüfung anspruchsvoller Hypothesen über menschliches Verhalten, während die Psychoanalyse aufgrund ihrer reichen Erfahrung mit Patientinnen und Patienten und ihrer besonderen Art der klinischen Feldforschung einen Reichtum differenzierter Erklärungsansätze zu unbewussten Sinnstrukturen entwickelt hat, um die vielschichtigen und komplexen Beobachtungen in der psychoanalytischen Situation zu konzeptualisieren. Diese Erklärungsansätze können auch für die Neurowissenschaften von Interesse sein und spezifische Forschungsfragen aufwerfen (vgl. Böker et al., 2013).

Psychoanalytische Konzeptforschung und wissenschaftstheoretische Anmerkungen Ein weiteres Feld, das Eric Kandel erwähnt und in dem sich der interdisziplinäre Dialog mit den Neurowissenschaften schon seit Jahrzehnten in fruchtbarer Weise auswirkt, ist die psychoanalytische Konzeptforschung, eine spezifische Form der genuin psychoanalytischen Forschung. Wie wir in anderen Arbeiten ausführlich diskutiert haben, befruchtet der interdisziplinäre Dialog mit den Neurowissenschaften die klinisch-psychoanalytische Arbeit nicht direkt, das heißt vereinfacht ausgedrückt, kein neurowissenschaftliches Forschungsergebnis kann einer Psychoanalytikerin oder einem Psychoanalytiker konkret raten, wie er sich in einer spezifischen klinisch-psychoanalytischen Situation mit einem spezifischen Analysanden verhalten soll. Die psychoanalytische Behandlungstechnik und -intuition liegen auf einer völlig anderen Ebene als die Weiterentwicklung psychoanalytischer Konzepte, Modelle und Theorien.

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Daher findet der Austausch der Wissenskorpi zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften immer auf der Ebene der Konzepte statt und nicht auf der Ebene des konkreten klinischen Handelns (vgl. u. a. Leuzinger-Bohleber, 2008, S. 256 ff.; LeuzingerBohleber, 2015a, 2015b). Um die Psychoanalyse als wissenschaftliche Disziplin für den Austausch mit anderen Wissenschaften attraktiv zu machen, ist aber eine Offenheit, ein Bemühen um »externale Kohärenz« (Strenger, 1991) ihrer psychoanalytischen Konzepte und Begriffe unverzichtbar. In anderen Worten sollten psychoanalytische Konzepte und Theorien nicht im Widerspruch zum aktuellen Wissen in anderen Wissenschaften, zum Beispiel den Neurowissenschaften, stehen und müssen daher ständig kritisch reflektiert und weiterentwickelt werden. Erstaunlicherweise erscheinen viele der Kernkonzepte von Sigmund Freud als external kohärent mit heutigen neurowissenschaftlichen Theorien komplexer seelischer Prozesse und können sogar in ihrem Erklärungsgehalt präzisiert und teilweise erweitert werden. Allerdings müssen auch kritische Punkte in psychoanalytischen Konzepten diskutiert werden, die durch den Dialog mit den Neurowissenschaften modifiziert und teilweise sogar fallengelassen werden müssen (vgl. dazu Solms, 2013, Scarfone, 2015; Leuzinger-Bohleber, 2015a; Leuzinger-Bohleber, ­Canestri u.Target, 2010). Doch ist zu bedenken, dass der Dialog der Psychoanalyse mit den Neurowissenschaften noch neu ist und daher zuweilen in seinen Möglichkeiten überschätzt oder sogar idealisiert wird (vgl. dazu auch Böker u. Seifritz, 2012, S. 625). Zudem stellt die Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern beider Disziplinen, die diese Bezeichnung wirklich verdienen, die Beteiligten vor hohe persönliche und fachliche Anforderungen, wie wir schon in den 1990er Jahren in einem interdisziplinären Kolloquium erlebten, in dem 20 Neurowissenschaftler/-innen und Psychoanalytiker/innen über Gedächtnis, Traum und therapeutische Prozesse gemeinsam forschten (siehe dazu Koukkou, Leuzinger-Bohleber u. Mertens, 1998; Leuzinger-Bohleber, Mertens u. Koukkou, 1998). Sie ist auch mit anspruchsvollen wissenschaftstheoretischen, -methodischen und kulturkritischen Problemstellungen verbunden. Denken wir hier nur an die viel diskutierte Gefahr des eliminativen Reduktionismus psychischer Prozesse auf neurobiologische

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Vorgänge, eines »szientistischen Selbstmissverständnisses der ­Psychoanalyse« (­Habermas) oder auch an die Folgen einer unreflektierten Übertragung von Konzepten, Methoden und Interpretationen von einer wissenschaftlichen Disziplin auf die andere (vgl. dazu Pfeifer u. Leuzinger-­Bohleber, 1986; Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, 2002; Leuzinger-Bohleber, Schneider u. Pfeifer, 1992; Hampe, 2003; ­Brothers, 2002; Hagner, 2008, Leuzinger-Bohleber et al., 2010, ­Böker u. Seifritz, 2012, Leuzinger-Bohleber, Fischmann, Böker, Northoff u. Solms, 2015). Um nur einen Aspekt dieses Diskurses herauszugreifen: Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner (2008) untersucht detailliert und überzeugend, wie sehr die Visualisierung von Prozessen, die bisher im Verborgenen unseres Körpers, im Gehirn, abliefen durch die neuen bildgebenden Verfahren unser Denken und Fühlen, aber auch Wissenschaft und Kultur ganz allgemein, unbemerkt beeinflussen. In seinem Beitrag kommt er zu Schlussfolgerungen, die ich hier in Teilen wiedergeben will: »Man differenziert [in den Studien mit bildgebenden Verfahren]) ungeordnetes Denken von mathematischen Problemlösungen, […] die Erinnerungen an die ersten Kindheitserlebnisse, an den letzten Krach mit dem Lebenspartner oder an die Konflikte mit den Eltern, von erotischen Träumen an die aufregendste Liebesbeziehung. […] Im 20. Jahrhundert sind solche Aushebungen bekanntlich zuvörderst von der Psychoanalyse gemacht worden. Was sie an biographischen Details, Intimitäten und verborgenen Schichten hervorholt, wird vermutlich keine Durchleuchtung des Gehirns jemals erreichen. […] Diese Verschiebung [von der Psychoanalyse hin zu den Hirnbildern, L.-B.] könnte dazu führen, dass die Vielfalt und Relevanz des geistigen Lebens hauptsächlich an seiner Visualisierung gemessen wird. […] Der Preis für eine solche Entwicklung besteht darin, dass ›das Erforschen der tieferen Zusammenhänge, das Erklären, Aufzählen, Erzählen, Berechnen, kurz das historische, wissenschaftliche, textuell lineare Denken von einer neuen, einbildenden, »oberflächlichen« Denkart verdrängt wird‹ (Flusser 1992, S. 44). In Bezug auf die Wissenschaften vom Menschen bedeutet dies, dass die Tiefenbohrungen des alten Denkens, für welches die Psychoanalyse – unabhängig von der Frage, ob ihre Hypothesen richtig sind – stellvertretend angesehen werden kann, durch den oberflächlichen Einblick der Hirnbilder abgelöst werden« (S. 188 f.).

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Theorien des Unbewussten in der heutigen, pluralen Psychoanalyse Bekanntlich hat Freud mit seiner Entdeckung des dynamischen Unbewussten zur dritten großen Kränkung der Menschheit beigetragen: Er schockierte uns mit der Einsicht, dass wir alle »nicht Herren und Frauen im eigenen Hause sind«, sondern weitgehend und unerkannt durch unbewusste libidinöse und aggressive Triebimpulse und Phantasien gesteuert werden. In das Fremde in uns, ins Unbewusste, werden jene Teile der Persönlichkeit verbannt, die in der jeweiligen Kultur verboten und tabuisiert sind. Im Wien Anfang des 20. Jahrhunderts waren dies vor allem sexuelle Impulse und Phantasien. Heute sind es vielleicht eher nicht ertragbare, tabuisierte Erfahrungen im Zusammenhang mit Trauma, Ohnmacht, Vereinzelung, Verlust der Sinn- und Wertsysteme oder auch von Insuffizienzgefühlen in einer immer enger zusammenrückenden, globalisierten, medialisierten und durch neue Techniken beherrschten Welt. In all seinen Werken warnte Freud davor, diese unbewussten Kräfte zu verleugnen. Nur die Einsicht in ihre Wirksamkeit könne einen weisen Umgang mit ihnen garantieren. Ein Wegschauen und Negieren des Unbewussten führe nicht nur in die seelische Krankheit, sondern vergrößere die Gefahr von ungesteuerten Triebdurchbrüchen und bedrohe das menschliche Zusammenleben und unsere Kultur. In den mehr als hundert Jahren ihrer Geschichte hat sich die Psychoanalyse als klinische und konzeptuelle Wissenschaft mit weltweit 12 000 Mitgliedern der »International Psychoanalytical Association« auch bezogen auf ihre zentralen Konzepte wie das Unbewusste derart ausdifferenziert, dass wir heute von einem Zustand der Pluralität der Theorien sprechen und sich die Frage stellt: Gibt es sie wirklich, die Psychoanalyse? Existieren nicht vielmehr viele Psychoanalysen nebeneinander? (vgl. dazu auch Leuzinger-Bohleber u. Weiß, 2014). Sprechen moderne ich-psychologisch orientierte Psychoanalytiker, wie zum Beispiel Fred Pine (2011) aus New York, auch heute noch vom dynamischen Unbewussten als das von der Psychoanalyse untersuchte Produkt abgewehrter Impulse und Triebwünsche, definieren andere, zum Beispiel Giuseppe Civitarese (2011) aus Pavia, bezugnehmend auf Bion, von einem Kontinuum

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von Bewusstem und Unbewusstem. Das Unbewusste breche nicht zum Beispiel durch Versprecher, Symptome und Inszenierungen ins Bewusstsein ein, sondern jeder bewusste Vorgang sei immer auch von unbewussten Prozessen begleitet. Auch Werner ­Bohleber (2011) geht angesichts von Befunden der Neurowissenschaften und der experimentellen psychologischen Forschung zu unbewussten Formen der Informationsverarbeitung von einem nichtverdrängten Unbewussten aus und diskutiert die Unterschiede zum dynamischen und kreativen Unbewussten. Jorge Luis Maldonaldo (2011) aus ­Buenos Aires, hält hingegen nach wie vor am Konzept des dynamischen Unbewussten und der psychoanalytischen Konflikttheorie fest, das den Gegenstand der Psychoanalyse von jenen anderer Disziplinen unterscheide, die latente, nicht bewusste Informationsverarbeitungsprozesse erforschen. Miguel Kolteniuk Krauze (2011) aus Mexico City, schließlich plädiert, ausgehend von Jacques Lacan, für zwei Dimensionen des Unbewussten als einem System »der Urverdrängung, die durch ihre Beharrungskraft und mangelnde Symbolisierbarkeit charakterisiert ist, und die, durch den Primärvorgang und seine Schicksale gekennzeichnete, sekundäre Verdrängung: daher auch André Greens Ansatz, dem es um die Erhaltung der Triebdimension geht« (S. 2). Alle diese Autoren waren Hauptreferenten des IPA-Kongresses 2011 in Mexico City zum Thema »Exploring Core Concepts: Sexuality, Dreams and the Unconscious«. Die eben skizzierte Zusammenfassung ihrer unterschiedlichen Auffassungen mag auf Anhieb illustrieren, dass die Pluralität von Theorien einerseits zum Reichtum der heutigen, internationalen Psychoanalyse als einer Disziplin gehört, die sich immer schon mit hochkomplexen klinischen Phänomenen beschäftigt hat und versucht, bewusstes, vorbewusstes und unbewusstes seelisches Geschehen zusammen mit ihren Patientinnen und Patienten zu entschlüsseln. Bezogen auf die Psychoanalyse als wissenschaftliche Disziplin, die ihre Erkenntnisse, wie jede andere Wissenschaft in der nichtpsychoanalytischen Community, kritisch zur Diskussion stellt und ihre Identität in Abgrenzung zu anderen Therapieverfahren immer wieder neu definiert und kommuniziert, müssen allerdings die Linsen des Kaleidoskopes immer wieder neu geschliffen werden, um Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in den einzelnen Konzeptualisierungen

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vom Unbewussten zu erkennen und fruchtbar zu diskutieren. Dies ist eine Voraussetzung für innovative Weiterentwicklungen in der Psychoanalyse als international verankerte Wissenschaft. Dieser Band ist ein weiterer gemeinsamer Versuch, das Kernkonzept der Psychoanalyse neu und vertieft zu verstehen.

Übersicht über die Beiträge des Bandes Das eben erwähnte Ziel, zur innovativen Weiterentwicklung der Psychoanalyse beizutragen, verfolgt das »Project Committee for Conceptual Integration« unter dem Chair von Werner Bohleber seit mehreren Jahren. Lassen Sie mich also von hinten anfangen. In ihrem Beitrag in Teil II »Das Unbewusste: Konzeptuelle und empirische Studien« stellen die Autoren Werner Bohleber, Juan Pablo Jiménez, Dominique Scarfone, Sverre Varvin und Samuel Zysman einige Ergebnisse ihrer Arbeit vor und zeigen Perspektiven auf, wohin sich die Diskurse innerhalb der internationalen Psychoanalyse zum zentralen Konzept der unbewussten Phantasie entwickeln. Riccardo Steiner, einer der besten Kenner der Theorieentwicklungen der Psychoanalyse, kommentiert ihre Arbeit mit einem breiten historischen Abriss. Er diskutiert zuerst den historischen Kontext, vor allem die Romantik und den deutschen Idealismus, in dem Freud sein Konzept des Unbewussten entwickelte. Darauf diskutiert er die phylogenetische Natur der Urphantasien, wie sie Freud verstand und wie sie von kleinianischen Autorinnen und Autoren, zum Beispiel von Bion und Segal, weiterentwickelt wurden. Auch die empirische Arbeit, die Marianne Leuzinger-Bohleber, Tamara Fischmann, Michael Russ und Margerete Schött im letzten Beitrag in Teil II präsentieren, basieren auf jahrelanger Konzeptforschung zum Traum, seiner Generierung während des Schlafes und möglichen Transformationen während Psychoanalysen und psychoanalytischen Langzeitbehandlungen unter anderem durch die Forschergruppe um Ulrich Moser in Zürich. Daher dient der Beitrag im Kontext dieses Bandes zur Illustration, wie heutige Forschungsgruppen versuchen, mit anspruchsvollen empirischen Methoden unbewusste Veränderungsprozesse in Psychoanalysen zu belegen.

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Die Beiträge in Teil I »Das Unbewusste: Perspektiven der klinischen Psychoanalyse und der Neurowissenschaft« nehmen die bereits erwähnte, ursprüngliche Idee von Joseph und Annemarie Sandler auf, an den internationalen Forschungskonferenzen der IPA jeweils klinisch-psychoanalytische Beiträge mit interdisziplinären Forschungen in Beziehung zu setzen und gemeinsam zu diskutieren. Mark Solms fasst in seinem einführenden Beitrag den aktuellen Stand der Erkenntnisse zusammen, die der interdisziplinäre Austausch zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften zum Unbewussten in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Er geht dabei von den Essays zum Unbewussten von Sigmund Freud (1915) aus und diskutiert die Thesen der klassischen psychoanalytischen Metatheorie zum Unbewussten aus der Sicht der heutigen kognitiven und affektiven Neurowissenschaften. So versucht er zum Beispiel das Freud’sche Konzept der Verdrängung mit dem aktuellen Verständnis des kognitiven, nichtverdrängten Unbewussten in den Neurowissenschaften systematisch zu vergleichen. Der bekannte britische Neurologe und Psychiater Karl Friston präsentiert in seinem Beitrag seine Auffassung, dass bewusste Prozesse immer von sensorischen, eben unbewussten Austauschprozessen, im Sinne des Konzepts des Embodiments, begleitet sind. Seine Argumentation besteht aus zwei Teilen: Zuerst fasst er die dynamischen Gesetze jedes lebenden Systems mit seiner Umwelt zusammen – angefangen mit dem einzelnen Zellorganismus bis hin zum menschlichen Gehirn. Die regelhafte Dynamik legt nahe, dass die internen Zustände eines Organismus als Versuche verstanden werden können, Modelle zu bilden, um die externen Ursachen möglicher Störungen voraussagen zu können. In anderen Worten, muss jedes System, das existiert, probabilistische Vorstellungen über die externale Welt ausbilden. Als Heuristik bedeutet dies: Falls ich bin (existiere), dann muss ich denken (Überzeugungen ausbilden). Im zweiten Teil der Argumentation werden die Überzeugungen genauer untersucht, die das Ich betreffen. Im nächsten Beitrag diskutiert der bekannte italienische Psychiater und Neurowissenschaftler Carlo Semenza das Problem, dass manche Teile des Gehirns nicht zu wissen scheinen, was in anderen Teilen des Gehirns geschieht, wie faszinierende empirische und klinische Beobachtungen zum Beispiel zum Phänomen

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der Dissoziation belegen. Semenza bezieht sich unter anderem auf Befunde nach Verletzungen des Gehirns, deren Verständnis eine neue, neurowissenschaftliche Konzeptualisierung des Unbewussten erfordern. Diesen neurowissenschaftlichen Beiträgen stellt Heinz Weiß in einer ausführlichen Falldarstellung von einer Behandlung mit einem Borderline-Patienten sein Verständnis unbewusster Prozesse gegenüber. Er diskutiert vor allem die Beziehung zwischen Wiedergutmachung, dem Wiederholungszwang und unbewussten Schuldgefühlen. Er argumentiert, dass ein Scheitern einer reifen Wiedergutmachung, statt Trauer und dem Ertragen von Schuld, zu einer weiteren Schädigung der inneren Objekte der Patientinnen/ Patienten führen kann. Außerdem werden die klinischen und behandlungstechnischen Konsequenzen dieser Konzeptualisierungen aufgezeigt. Der US-amerikanische Kinderanalytiker und Forscher Theodore J. Gaensbauer präsentiert ein Gespräch mit einem vierjährigen Kind, das im Alter von zweiundzwanzig Monaten einen traumatischen Verlust erleiden musste. Seine Analyse stellt dabei die traditionelle Sichtweise, dass nonverbale Erinnerungen früher Traumata ausschließlich außerhalb der bewussten Wahrnehmung aufträten, infrage. Während dieses Gesprächs zeigt sich anhand einer Art Fluidität, mit welcher das Kind zwischen verbalem und nichtverbalem Ausdruck hin und her wechselt, sowie anhand des Kontextes, in welchem sich die nonverbalen Erinnerungen manifestieren, dass nonverbale Ausdrücke oftmals eine bewusste Kommunikation der traumatischen Erfahrung darstellen. Diese Darstellung illustriert, wie Kinder teilweise fähig sind, schwere Traumatisierungen als unbewusste embodied memories zu erinnern und sie in Gesprächen auszudrücken, obwohl sich diese während der ersten zwei Lebensjahre und somit lange vor der Sprachentwicklung ereigneten. Im letzten Beitrag des ersten Teils zeigt Marianne Leuzinger-Bohleber auf, wie neuere Konzepte zum Unbewussten die praktisch klinische Arbeit des Analytikers befruchten können. Innovative, kreative Einfälle des Analytikers in der Übertragungssituation bilden oft den entscheidenden ersten Schritt, um im Körper des Analysanden zwar Präsentes (Unbewusstes), aber nicht Re-Präsentiertes in Bilder und Sprache zu fassen. In der analytischen Literatur werden diese

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spontanen Einfälle oft metaphorisch umschrieben als turning point der Behandlung, als meeting of the minds oder now moments etc. Doch liegen bisher kaum plausible Erklärungsmodelle für das Zustandekommen solcher Einfälle vor. Die Embodied Cognitive Science entwickelte in den letzten Jahren interessante Konzeptualisierungen von Gedächtnis und Erinnerungen, indem sie sich vor allem von den sogenannten Life Sciences, der Biologie, der Genetik, der empirischen Entwicklungsforschung und den modernen Neurowissenschaften anregen ließ. Der Modellvorstellung des Embodiments zufolge bilden sich erste, unbewusste Verstehenskategorien mithilfe des sogenannten Spiegelneuronensystems in Interaktionen des Subjekts mit der Umwelt aufgrund sensomotorischer Koordinationen, das heißt automatisch, nicht zentral gesteuert, selbstregulativ und embodied. Ein Fallbeispiel illustriert, wie das unbewusste Verstehen der traumatischen Hintergründe des bizarren Verhaltens einer Patientin im Erstinterview zwar spontan in den heftigen Gegenübertragungsreaktionen der Analytikerin zum Ausdruck kam, aber erst im dritten Jahr der Psychoanalyse, aufgrund einer tragenden analytischen Beziehung, zu den ersten bewussten, spezifischen Einfällen der Analytikerin führen und damit die Durcharbeitung der traumatischen Erfahrungen in der analytischen Beziehung initiieren konnte. Robert Galatzer-Levy, der renommierte Psychoanalytiker und Forscher aus Chicago, fasst im letzten Beitrag dieses Bandes die Erkenntnisse der Tagung zusammen und gibt einen Ausblick auf die Möglichkeiten des Brückenschlags zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften. Er zeigt einen roten Faden in der historischen Sicht auf das Unbewusste in der Psychoanalyse auf und diskutiert, wie einige der in diesem Band versammelten Beiträge das Freud’sche Denken schlichtweg auf den Kopf stellen. Als Beispiel dafür dient ihm unter anderem wie Freuds implizite Annahme des Bewusstseins als Begleiterscheinung von mentalen Prozessen durch eine Theorie ersetzt wurde, in der das Bewusstsein als eher selten und als Mittel des slow thinking, also des vorsichtigen Hypothesentestens über die Umwelt angesehen wird. Weiter argumentiert Galatzer-Levy zum Beispiel, dass nicht, wie Freud dachte, die Aufrechterhaltung einer physiologischen Homöostase, sondern die Interaktion als hervorstechendes menschliches Merkmal, die »rechnerische« Hauptaufgabe

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ausmache. Schließlich zeigt er die Relevanz dieser Argumentation für die zukünftigen interdisziplinären Dialoge über das Unbewusste auf.

Danksagungen Wir danken allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre Bereitschaft, mit Neugier und Offenheit über den disziplinären Zaun zu blicken und dazu beizutragen, dass eines der zentralen Konzepte der Psychoanalyse, das Unbewusste, neu beleuchtet und aufgrund aufregender Erkenntnisse aus den Nachbarwissenschaften weiterentwickelt wird. Die Joseph Sandler Research Conference der »International Psychoanalytical Association« bot den institutionellen Rahmen, solche interdisziplinären Brückenbildungen zu gestalten. Dass wir sie acht Jahre hintereinander in Frankfurt ausrichten konnten, war eine große Ehre für das Sigmund-Freud-Institut. Auch dem IDeA Zentrum der Hessischen Exzellenzinitiative LOEWE, der Universität Kassel und der Goethe-Universität danken wir für die gemeinsame Organisation der Konferenz. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken wir für die finan­ zielle Unterstützung der Tagung und dem Verlag ­Vandenhoeck & Ruprecht für die Möglichkeit, einige der Hauptvorträge in diesem Band zu veröffentlichen. Panja Schweder, Dirk Schildt, Renate Stebahne und Elke Weyrach sowie den vielen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des SFI danken wir für die Organisation der Tagung.

Literatur Bohleber, W. (2011). Response by Werner Bohleber (Major panel: The unconscious, 47th IPA Congress, Mexico City, 2011). International Journal of Psychoanalysis, 92, 285–288. Böker, H., Richter, A., Himmighoffen, H., Ernst, J., Bohleber, L., Hofmann, E., Vetter J., Northoff, G. (2013). Essentials of psychoanalytic process and change: How can we investigate the neural effects of psychodynamic psychotherapy in individualized neuro-imaging? Frontiers in Human Neuroscience, 7, 355.

Vorbemerkungen

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Marianne Leuzinger-Bohleber

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Vorbemerkungen

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I Das Unbewusste: Perspektiven der klinischen Psychoanalyse und Neurowissenschaft

Mark Solms

»Das Unbewusste« in Psychoanalyse und Neurowissenschaften

Vorbemerkungen Die angemessene Form, Freuds 150. Geburtstag zu feiern, ist nicht etwa ein Rückblick, sondern der Blick voraus. Deshalb möchte ich in diesem Beitrag den aktuellen wissenschaftlichen Rang von Freuds Verständnis der Psyche resümieren. Dabei geht es mir weder darum, ein Loblied auf Freud zu singen, noch soll ein Schlussstrich unter sein Werk gezogen werden – vielmehr möchte ich eine Bestandsaufnahme seines wissenschaftlichen Erbes vornehmen, um einen realistischen Weg in die Zukunft aufzuzeigen. Auf schönere Weise können wir einem echten Wissenschaftler unsere Hochachtung meiner Ansicht nach nicht bezeugen. Dass mein Urteil subjektiv ausfällt, liegt in der Natur der Sache: Ich kann nur meiner persönlichen Meinung über Freuds wissenschaftlichen Rang Ausdruck verleihen. Diese Meinung aber ist sachlich fundiert, denn ich arbeite nicht nur klinisch als Psychoanalytiker, sondern erforsche als Neurowissenschaftler Themen, für die auch Freud selbst sich sehr interessiert hat; zudem bin ich mit seinen Schriften wohlvertraut, denn ich habe jedes Wort, das er geschrieben hat, nicht nur gelesen, sondern auch übersetzt. Und es gibt keinen besseren Weg, um die Worte eines anderen Menschen zu verstehen, als den Versuch, die ihnen zugrunde liegenden Ideen in eine andere Sprache zu übersetzen. Das gleiche gilt, wiewohl in einem anderen Sinn, wenn man die Überlegungen einer bestimmten Disziplin in die Sprache und in den Bezugsrahmen einer anderen Disziplin zu übersetzen versucht. Ich hoffe, dass meine Referenzen als Freud-Spezialist die Leserinnen und Leser davon abhalten können, auf das, was ich hier schreibe, lediglich mit einer Infragestellung meiner Wiedergabe von Freuds Ideen zu reagieren. Natürlich wird es Meinungs­verschiedenheiten

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geben, aber dies ist kein Anlass für talmudische Debatten, denen sich Psychoanalytiker/-innen ohnehin bereits allzu ausgiebig gewidmet haben. Solche Diskussionen sind in der Psychoanalyse mittlerweile zu einem grundsätzlichen Problem geworden: Interne Dispute über hochspezifische theoretische Fragen, um die sich außerhalb der Psychoanalyse niemand schert, haben viel zu viel intellektuelle Energie beansprucht. Bisweilen hat es den Anschein, als wäre die Psychoanalyse selbst zum Gegenstand des psychoanalytischen Theoretisierens geworden – als ginge es um die Psychoanalyse der Psychoanalyse. Auf beunruhigende Weise erinnert dies an Überlegungen, zu denen Freud einst durch bestimmte narzisstische Formen des Denkens insbesondere von psychotischen Patienten und Patientinnen veranlasst wurde, für die Ideen zu ihren eigenen Objekten werden – das heißt, Wörter so behandelt werden, als wären sie Dinge. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass die Psychoanalyse selbst nicht wichtig ist; wichtig ist ihr Gegenstand. Der Gegenstand der Psychoanalyse ist nicht die Psychoanalyse, sondern die Psyche. Ihr ist die psychoanalytische Forschung gewidmet. Ich möchte im Folgenden den heutigen Rang von Freuds Verständnis der Psyche unter dem Blickwinkel moderner neurowissenschaftlicher Erkenntnisse über denselben Gegenstand betrachten. Ich versuche also, eine Verbindung zwischen dem Gegenstand der Psychoanalyse und dem (zufällig identischen) Gegenstand einer anderen Disziplin herzustellen, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit von der Psychoanalyse selbst abzuziehen und auf ihren Gegenstand, auf eine Beziehung zur Außenwelt, hinzulenken. Freuds Ideen in einer neurowissenschaftlichen Perspektive zu betrachten ist weder willkürlich noch unangemessen. Freud war Neuroanatom und klinischer Neurologe, und er führte mehr als zwanzig Jahre lang verschiedenartige neurowissenschaftliche Forschungen durch. In den 1890er Jahren beschäftigte er sich intensiv mit verhaltensneurologischen und neuropsychologischen Fragen, und er wandte sich von diesen Feldern erst ab, als ihm klar wurde, dass Lösungen für die Probleme, mit denen ihn seine Beobachtungen neurotischer Prozesse (bei »neurologischen« Patienten und Patientinnen mit funktionellen Störungen des Nervensystems) konfrontierten, hier nicht zu finden waren. Die dazu erforderlichen neurowissenschaftlichen Methoden standen schlechterdings nicht

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zur Verfügung. Es gab keinerlei Möglichkeit zur empirischen Erforschung der Hirnsysteme, die Phänomene wie das psychogene Vergessen und die hysterische Konversion hervorrufen. Dies zwang Freud, seine neurowissenschaftlichen Forschungen aufzugeben – was er nur sehr widerstrebend tat. Um sich ein Bild von den Mechanismen machen zu können, die solchen funktionellen Zuständen zugrunde lagen – und auf diesem Wege die Gesetze zu identifizieren, denen das allgemeine Funktionieren des menschlichen »psychischen Apparats« gehorcht –, blieb Freud keine andere Wahl, als sich auf klinisches Material und auf die systematische Sammlung introspektiver (psychologischer) Beschreibungen zu stützen. Dies war das einzige empirische Fenster, das ihm Einblick in die Funktionsweisen der Psyche gewährte. Er musste sich damit bescheiden, aus solchem Material Rückschlüsse auf die mutmaßliche funktionelle Organisation der zugrunde liegenden Mechanismen zu ziehen. Aber er hat immer prophezeit, dass es eines Tages möglich sein würde, solche Probleme neurowissenschaftlich zu erforschen. Ihm war auch durchaus bewusst, dass die Anwendung neurowissenschaftlicher Methoden auf die Probleme, die ihn interessierten, zahlreiche Vorteile gegenüber den psychologischen Verfahren aufweisen würden, die er benutzen musste. Und aus diesem Grund prophezeite er nicht nur, dass die Neurowissenschaft eines Tages in der Lage sein würde, eine physiologisch-anatomische Beschreibung des psychischen Apparats zu formulieren, sondern begrüßte diese Aussicht auch ohne Vorbehalt. Dass dieser Tag nun gekommen ist, steht außer Frage. Unsere Methoden ermöglichen es uns, eine direkte neurowissenschaftliche Perspektive auf jede psychische Funktion einzunehmen. Deshalb sind wird nun endlich in der Lage, Freuds Schlussfolgerungen über die funktionelle Organisation der Psyche neurowissenschaftlich zu überprüfen, und ebendies soll im Folgenden geschehen. Es erübrigt sich zu sagen, dass meine Ausführungen lückenhaft bleiben müssen und ich mich lediglich auf Freuds wichtigste Thesen konzentrieren kann. Ich werde vierzehn von ihnen abhandeln. Erstens möchte ich Freuds These untersuchen, nach der der größte Teil unserer psychischen Aktivität unbewusst ist (1). Zweitens möchte ich seine These untersuchen, die besagt, dass ein Teil dieser unbewussten psychischen Aktivität aktiv vom Bewusstsein ferngehalten

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wird (2), das heißt aktiv unterdrückt oder aus dem Gewahrsein verdrängt wird. Drittens werde ich untersuchen, ob diese dynamisch unbewusste Aktivität einen indirekten Einfluss auf das bewusste psychische Leben ausübt (3) – dass unbewusste psychische Inhalte durch »Ersatzbildungen«, durch Mechanismen wie Verschiebung und Symbolisierung, re-repräsentiert werden. Viertens werde ich die These betrachten, nach der die unbewusste psychische Verarbeitung anderen Funktionsprinzipien gehorcht als jenen, die die bewusste und vorbewusste (oder deskriptiv unbewusste) Verarbeitung bestimmen (4). Diese beiden Funktionsweisen des psychischen Apparats sind zum einen der sogenannte Primärvorgang, zum anderen der Sekundärvorgang. Fünftens will ich untersuchen, ob der Sekundärvorgang, dem die Ich-Funktionen gehorchen (das heißt die Exekutivkontrolle der Psyche), auf der Hemmung des Primärprozesses – dem sogenannten Aufschub der Abfuhr – beruht (5). Sechstens werde ich die Annahme erläutern, dass die Primärprozesse von emotionalen und nicht von rationalen Rücksichtnahmen bestimmt werden (6) – dass der Primärprozess einem Lustprinzip gehorcht, das Realitätsanforderungen (das sogenannte Realitätsprinzip) missachtet. Danach wende ich mich, siebtens, der Überlegung zu, dass das Lustprinzip die Psyche durch einen extrem starken Trieb beeinflusst, der in den Fortpflanzungs- und Überlebensbedürfnissen des Körpers gründet. Dies ist Freuds »­Libido«-Konzept (7). An diesem Punkt werde ich, achtens, versuchen, einige der Komponenten des sich herauskristallisierenden Bildes zu integrieren, indem ich die Interaktion zwischen den verschiedenen Elementen im Kontext einer kurzen Betrachtung von Freuds These erläutere, dass Träume den Königsweg zum Verständnis des Unbewussten (seiner normalerweise verborgenen, triebgesteuerten Inhalte) darstellen (8). Im Anschluss daran (9) werde ich einige allgemeine Überlegungen zu Freuds Triebtheorie formulieren, um dann, zehntens, die aktuelle Bedeutung von Freuds Ansichten über die Ätiologie der Neurosen zu überprüfen (10). Dies dient als tragfähige Grundlage für eine, elftens, Diskussion der Wirkungsweise psychoanalytischer Therapie (11). Zu guter Letzt werfe ich einen kurzen Blick auf die Theorie der infantilen Sexualität (12), auf den berühmten Ödipuskomplex (13) und auf Freuds Ansichten über die Geschlechtsunterschiede sowie über die geschlechtliche Identität und die sexuelle Orientierung (14).

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Ich verzichte auf jeden Versuch, diese hochkomplexen Zusammenhänge in all ihrer Tiefe auszuloten oder sie auf der Ebene der empirischen Details zu ergründen, die uns mittlerweile tatsächlich zugänglich ist. Mein Ziel besteht lediglich darin, den aktuellen Stand der Dinge in seinen Grundzügen darzulegen.

Zu Freuds 14 wichtigsten Thesen (1)  Das Bewusstsein und das Unbewusste Freuds Behauptung, dass ein Großteil – ja sogar der größte Teil – unseres psychischen Lebens unbewusst bleibe, stieß zunächst auf massive Gegenrede. Die Formulierung »unbewusste psychische Aktivität« wurde gar als Widerspruch in sich angesehen. Freuds empirische Rechtfertigung seiner These stützte sich in hohem Maße auf die Phänomene der posthypnotischen Suggestion, durch die Patienten veranlasst wurden, nach dem Aufwachen aus der Trance – ohne sich der Gründe für ihr Tun bewusst zu sein – Verhaltensweisen auszuführen, die ihnen im Hypnosezustand suggeriert worden waren. Dies überzeugte Freud davon, dass uns die Motive unseres eigenen Verhaltens nicht immer bewusst sind. Beeindruckt war er auch von der Häufigkeit, mit der solche Patientinnen und Patienten Konfabulationen produzierten, um ihre Handlungen zu erklären – Rationalisierungen, an welche die Patienten und Patientinnen ganz offenkundig selbst glaubten. (Die Themen Selbsttäuschung und Konfabulation werden uns im Folgenden häufig wiederbegegnen.) Freuds andere wichtige Rechtfertigung der unbewussten psychischen Aktivität lautete, dass sie unübersehbare Lücken in der Verursachungskette psychischer Vorgänge schlösse. Wenn zum Beispiel eine Patientin nach dem Tod einer Schwester, in deren Ehemann sie selbst verliebt ist, an neurotischen Hemmungen leidet, muss ihr ein Gedanke der Art: »Jetzt endlich ist er frei, um mich zu heiraten«, nicht unbedingt bewusst sein. Der Rückschluss aber, dass sie einen solchen Gedanken, wenngleich subjektiv nicht bewusst, gedacht haben muss, vervollständigt die Kette der Ereignisse, die das ätiologische Moment mit dem Auftauchen der Symptome verbindet. Die psychoanalytische

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Deutung erfüllt die Funktion, die Kausalkette zu vervollständigen. Durch die Beobachtung ihrer Auswirkungen auf die Patientin kann die Validität der Schlussfolgerung sodann überprüft werden. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Neurowissenschaft eine Fülle an unabhängigem Material erbracht, dass diese einst umstrittene These beweist. Die Quellen des Materials, das ihre Vertreter von der Tatsache überzeugte, dass sich psychische Vorgänge jeder Art unbewusst vollziehen können, hatten rein gar nichts mit Freuds Arbeit zu tun. Dazu gehört etwa das Phänomen des Blindsehens, eine Erkrankung, durch die Patienten und Patientinnen, die infolge einer Läsion des visuellen Kortex vollständig blind sind, gleichwohl angemessen auf visuelle Stimuli reagieren können – auf Stimuli also, deren sie sich bewusst nicht gewahr sind. Die allgemein akzeptierte Schlussfolgerung lautet, dass diese Patientinnen und Patienten unbewusstsehen (Weiskrantz, 1990). Mit anderen Worten: Es ist möglich, visuelle Stimuli zu verarbeiten, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Split-BrainUntersuchungen haben gezeigt, dass dies unter anderem auch auf Akte des sozialen und emotionalen Urteilens zutrifft. Roger Sperry berichtete zum Beispiel den Fall einer Patientin, deren Hirnhemisphären chirurgisch voneinander getrennt worden waren; sie nahm pornografische Bilder wahr, die nur zu ihrer isolierten rechten Hemisphäre projiziert wurden, errötete und kicherte. Auf die Frage, was ihr denn so peinlich sei, konnte sie allerdings keine rechte Antwort geben, sondern sagte nur: »Das ist wirklich ein komischer Apparat, den Sie da haben, Dr. Sperry!« (Galin, 1974). Ähnliche Beobachtungen sind in Hülle und Fülle dokumentiert. Dasselbe gilt für die Phänomene des impliziten Gedächtnisses. Unzählige Beobachtungen bestätigen mittlerweile, dass neurologische Patienten, die keine neuen (bewussten) Erinnerungen mehr speichern können, trotzdem eindeutig in der Lage sind, aus ihren Erfahrungen zu lernen. So werden ihr Denken und ihr Verhalten weiterhin durch unbewusst erinnerte Vorgänge nachweisbar beeinflusst. Diese Beobachtung führte zu der Erkenntnis, dass Erinnerungen generell nicht nur einmal gespeichert werden, sondern viele Male und, abhängig von unterschiedlichen funktionellen Kriterien, in zahlreichen Gedächtnissystemen. Die meisten dieser Systeme operieren weitgehend oder sogar vollständig unbewusst. Für unsere Zwecke ist das interessanteste von ihnen vielleicht das emotionale Lernsystem, das Joseph LeDoux erforscht hat.

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Er konnte die neuralen Pfade identifizieren, die dafür verantwortlich sind, dass Objekte als angsterregend wahrgenommen werden, und demonstrierte, wie solche emotionalen Urteile auf der Grundlage von Erfahrungen gefällt werden können, an die sich der Proband nie erinnert (LeDoux, 1995). Von besonderem Interesse sind dabei wiederum jene Fälle, in denen amnestische Patienten und Patientinnen Pseudoerklärungen ihres Verhaltens konfabulieren, von dem die Forscher/-innen wissen, dass es durch Erfahrungen motiviert ist, an die sie sich nicht erinnern. Noch auffälliger sind gar die Experimente von Benjamin Libet (1983), der zeigte, dass willkürliche Bewegungen neurophysiologisch getriggert werden, bevor die bewusste Entscheidung, sie auszuführen, getroffen wird. Die bewusste Entscheidung für Handlungen folgt in Wirklichkeit auf ihre unbewusste Initiierung. Die Schlussfolgerung, dass der freie Wille weitgehend illusorisch ist, lässt sich kaum von der Hand weisen. Kurz, Freuds These, dass psychische Vorgänge jeglicher Art unbewusst vonstatten gehen, ist unter den renommiertesten Neurowissenschaftlern und Naturwissenschaftlerinnen nicht mehr umstritten. Darüber hinaus wird allgemein anerkannt, dass das Bewusstsein eine sehr, sehr begrenzte Angelegenheit darstellt – es haftet lediglich einem geringen Teil unserer psychischen Aktivitäten an. Im Großen und Ganzen gehen wir heute davon aus, dass das Bewusstsein nicht mehr als ungefähr sieben Informationseinheiten gleichzeitig zu speichern vermag. Wenn man einen Augenblick lang überlegt, welch gewaltige Mengen an Information im menschlichen Geist enkodiert sind, und sich das Ausmaß der Informationsverarbeitung vor Augen führt, die notwendig ist, damit auch nur alltägliche mentale Aktivitäten durchgeführt werden können, wird deutlich, welch bescheidenen Bruchteil sieben Informationseinheiten repräsentieren. Freud zog zweifellos zu Recht den Schluss, dass das Bewusstsein lediglich die Spitze des Eisbergs ist. Tatsächlich gab die Erkenntnis, dass praktisch jedwede psychische Funktion unbewusst ausgeführt werden kann, in den vergangenen Jahren Anlass, die Frage umzukehren: Warum haben wir überhaupt Bewusstsein? Wenn Wahrnehmung, Urteil, Erinnerung und Wille (um nur die bereits erwähnten und alles andere als erschöpfenden Beispiele zu nennen) allesamt auch ohne Bewusstsein perfekt funktionieren – wozu ist das Bewusstsein dann gut? Wel-

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chen unverzichtbaren Beitrag leistet es zu unserer psychischen und geistigen Aktivität? (Uns bliebe zweifellos eine Menge Ärger erspart, könnten wir das Leben leben, ohne uns seiner bewusst sein zu müssen!) Freuds Antwort auf diese Frage lautete, dass sich das Bewusstsein in erster Linie entwickelt hat, um Gefühle zu erzeugen. Freud hielt das Bewusstsein für primär emotional. Ohne das Bewusstsein wären wir nicht fähig, Lust- und Unlustgefühle zu erleben, das heißt, Situationen einen qualitativen Wert zuzuschreiben. Freud zufolge wird der Zustand des Subjekts seinem Selbst durch Lust- und Unlustgefühle in ihrer elementarsten Form repräsentiert. Lustgefühle entstehen aus dem introzeptiven Gewahrsein eines homöostatischen Gleichgewichts, während Unlust durch ein Ungleichgewicht hervorgerufen wird. Ebendies ist die Funktion des Bewusstseins. Es informiert uns darüber, wie gut es uns geht, und zwar mittels einer psychophysischen Skala, die in einer im Laufe der Evolution ausgebildeten Einschätzung unseres biologischen Zustands gründet. Erst später weitete sich das Bewusstsein dieser Sichtweise zufolge nach außen aus – auf die Wahrnehmung äußerer Objekte. Deshalb können wir nicht nur denken: »Ich fühle mich so und so«, sondern auch: »So fühle ich mich gegenüber diesem oder jenem Objekt.« Dies ist meiner Meinung nach eine wunderbare Theorie, die in vielerlei Hinsicht intellektuell befriedigend ist. Daher freue ich mich, berichten zu können, dass einige der führenden zeitgenössischen Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auch diese Theorie vollkommen unabhängig von Freud vertreten. Herausragende Beispiele sind der Affektforscher Jaak Panksepp (1998) und der Verhaltensneurologe Antonio Damasio (1999). Vor einigen Jahren schrieb Damasio in Reaktion auf eine von mir vorgelegte Zusammenfassung der einschlägigen Grundthesen Freuds: »Meiner Meinung nach können wir sagen, dass Freuds Einsichten in die Natur des Bewusstseins mit den aktuellsten neurowissenschaftlichen Sichtweisen übereinstimmen« (Damasio, 1999, S. 38). Somit können wir getrost folgern, dass Freuds Ansichten über das Ausmaß und die Ubiquität der unbewussten Kognition sowie sein Verständnis von Zweck und Funktion des Bewusstseins mit zeitgenössischen neurowissenschaftlichen Ansichten vereinbar sind. In einem bestimmten Aspekt aber bleiben diese Ansichten weiterhin umstritten.

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(2) Verdrängung Häufig zu hören ist der Einwand: »Das Unbewusste der kognitiven Neurowissenschaften ist ein anderes als das Unbewusste Freuds.« Diese Aussage ist falsch. Das Unbewusste moderner Wissenschaftler/-innen ist mit dem deskriptiven Unbewussten Freuds identisch. Aber Freud hielt überdies fest, dass ein Teil dieser unbewussten Kognition dynamisch unterdrückt und vom Bewusstsein ferngehalten wird. Die Kontroverse, die sich in den 1980er Jahren an dieser These entzündete, resultierte weitgehend aus einem groben Missverständnis durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den nahezu hysterisch geführten Debatten über die sogenannten falschen Erinnerungen. Seither haben sachlich arbeitende Forscher/-innen zuverlässiges experimentelles Material erbracht, das für die Existenz eines »motivierten Vergessens« (Anderson et al., 2004) spricht. Kaum jemand bestreitet heutzutage, dass es in der Tat möglich ist, etwas einfach deshalb zu vergessen, weil man es nicht erinnern will. Ein vor wenigen Jahren in der Zeitschrift »Nature« erschienener Kommentar zog den Schluss: »Wenn bei durchschnittlichen Personen in einem harmlosen Laborsetting signifikante Verdrängungseffekte erzeugt werden können, dann sind in realen Lebenssituationen weit stärkere Effekte zu erwarten« (Conway, 2001, S. 310). Noch beeindruckender sind die Erkenntnisse aus der klinischneuropsychologischen Forschung. Ein verblüffendes Beispiel ist das Phänomen der Anosognosie. Diese Erkrankung wird durch Schädigungen der rechten Hemisphäre verursacht, die zur Folge haben, dass die Patienten und Patientinnen die gravierenden physischen Konsequenzen der Läsion bewusst überhaupt nicht wahrzunehmen scheinen. So verhielt es sich bei V. S. Ramachandrans Patientin Frau B.: Ihr linker Arm war nach einem Schlaganfall gelähmt, was sie aber rundweg leugnete. Ramachandran aktivierte die geschädigte rechte Hemisphäre künstlich durch Wärmestimulation. Unter diesen Versuchsbedingungen erkannte die Patientin ihre Paralyse erstmals an und räumte sogar ein, dass der Arm seit dem Schlaganfall chronisch gelähmt war. Dieses Eingeständnis bewies, dass sich zumindest ein Teil ihrer Psyche dieser Tatsache die ganze Zeit über bewusst gewesen war (andernfalls hätte sie vermuten müssen, dass die Lähmung plötzlich, während der experimentellen Wärme­stimulierung,

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­aufgetreten sei). Am stärksten aber beeindruckte Ramachandran die Tatsache, dass sich die Patientin, sobald die Stimulierung nachließ und sie zu ihrer anosognostischen Verleugnung zurückkehrte, ausgesprochen detailliert an das Experiment erinnern konnte (bis hin zum Muster der Krawatte, die der Experimentator während des Interviews getragen hatte) – vergessen hatte sie lediglich ihre eigenen Antworten auf die Fragen nach ihrem gelähmten Arm. Ramachandran (1994), der so gut wie nichts über Psychoanalyse wusste (und weiß), zog folgenden Schluss: »Die bemerkenswerte theoretische Implikation dieser Beobachtungen ist, dass Erinnerungen tatsächlich selektiv verdrängt werden können […] Meine Bekanntschaft mit dieser Patientin hat mich erstmals von der Realität der Verdrängungsphänomene überzeugt, die den Eckpfeiler der klassischen psychoanalytischen Theorie bilden« (S. 324).

Dass die Psychoanalyse für Ramachandran eine Terra incognita ist, betone ich deshalb, weil seine Ergebnisse ebenfalls einen unabhängigen Beweis für eine These konstituieren, zu der Freud mit gänzlich anderen Methoden gelangt ist. Übereinstimmendes Beweismaterial ist in der Wissenschaft immer wichtig, weil es bestätigt, dass die betreffende Beobachtung nicht das Artefakt der ihr zugrunde gelegten Methode darstellt. Die Verwendung neurowissenschaftlicher Methoden zur Untersuchung psychodynamischer Phänomene hat den zusätzlichen Vorteil, sie erheblich zu konkretisieren, was die wissenschaftliche Aufgabe stark vereinfacht und die Schlussfolgerungen überzeugender macht. Mitglieder meiner Arbeitsgruppe haben Ramachandrans Beobachtungen über die Anosognosie bestätigt und erweitert (­Kaplan-Solms u. Solms, 2003; Fotopoulou, Solms u. Turnbull, 2004; Turnbull, Evans u. Owen, 2005). Von besonderem Interesse ist die in diesen Fällen zu verzeichnende Tendenz, die Selbsttäuschung mit konfabulatorischen Pseudoerklärungen zu untermauern. Diese Fälle geben beinahe sämtliche Abwehrmechanismen zu erkennen, die Freud auf der Grundlage funktioneller nervöser Störungen erschlossen hat. Wenn man die Validität der Verdrängung anerkennt, muss man auch einräumen, dass bestimmte aktuelle Erkenntnisse über diesen

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Mechanismus zeigen, dass nicht sämtliche Phänomene, die Freud unter dieser einheitlichen erklärenden Überschrift zusammenfasste, tatsächlich einen gemeinsamen, dynamischen Mechanismus haben. Freud hat viele verschiedene Vorgänge als Verdrängung (selbst im engen Wortsinn) bezeichnet. Zumindest einige von ihnen, beispielsweise die posttraumatische Amnesie, werden nicht durch motiviertes Vergessen verursacht, sondern vielmehr durch die Ausschüttung von Stresshormonen, die den Hippocampus deaktivieren und somit eine Struktur ausschalten, die für die Enkodierung episodischer Erinnerungen unabdingbar ist. Die traumatischen Erinnerungen werden deshalb nicht aus dem Bewusstsein gedrängt, sondern gar nicht erst enkodiert (Schacter u. Tulving, 1994). Das gleiche gilt für die infantile Amnesie. Der Hippocampus ist in den ersten Lebensjahren noch nicht reif genug, um angemessen zu funktionieren. Aus diesem Grund werden die zahlreichen prägenden Einflüsse, die auf die in Entwicklung begriffene Psyche einwirken, nicht durch einen dynamischen Mechanismus unterdrückt: Sie können schlechterdings nicht als persönliche Erinnerungen enkodiert werden. Wie aber machen sie ihren Einfluss auf die entwickelte Persönlichkeit geltend? Die Antwort lautet: Sie werden von anderen Gedächtnissystemen enkodiert, zum Beispiel von dem bereits (im Zusammenhang mit LeDoux’ Arbeit) erwähnten emotionalen Gedächtnissystem. Diese Gedächtnissysteme sind von Geburt an ausgereift, funktionieren aber vollständig unbewusst. Somit steht zwar die Existenz der von Freud beschriebenen Phänomene fest, die Erklärung, die er für sie gab, war aber falsch: Die infantile Amnesie ist nicht dynamisch motiviert. Die Amnesie für Träume hingegen kommt offenbar tatsächlich durch einen Mechanismus zustande, der dem von Freud postulierten gleicht. Träume werden durch eine dynamische Veränderung in der regionalen Hirnaktivierung erzeugt, und zwar durch eine Aktivierung der triebhaft-motivationalen (limbischen) Systeme bei Deaktivierung der exekutiv-kontrollierenden (präfrontalen) Systeme. Infolgedessen werden sie nicht von den reflexiven Systemen verarbeitet, die normalerweise die kognitiven Prozesse einschließlich der Erinnerungsprozesse steuern. Wenn die präfrontalen Kontrollsysteme beim Aufwachen wieder online gehen, findet eine dynamische Veränderung zurück zur exekutiven Kontrolle statt, und die triebhaft erzeugten Erfahrungen werden vergessen (Solms, 2001).

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Freud nahm an, dass Erinnerungen nicht einmal, sondern viele Male gemäß einer Reihe funktioneller Kriterien enkodiert werden und dass der Verdrängungsvorgang dadurch konstituiert wird, dass keine Retranskription auf die exekutive Repräsentationsebene erfolgen kann. Gleiches geschieht offenbar im Fall der Träume; sie werden nicht auf die präfrontale Kontrollebene retranskribiert, die ein willkürliches Erinnern ermöglicht. (Genauso wie der Hippocampus sind auch die Stirnlappen bei kleinen Kindern unterentwickelt; deshalb könnte dieser Mechanismus eventuell ebenfalls eine Rolle für die infantile Amnesie spielen – wenn auch nur eine sekundäre.) Es ist wichtig anzuerkennen, dass das vergessene Material bei jeder Form der Verdrängung zwar dem bewussten Erinnern nicht zugänglich ist, aber in anderer Form in anderen (unbewussten) Gedächtnissystemen erhalten bleibt. Deshalb übt es weiterhin Einfluss auf Kognition und Verhalten aus. Wir werden auf diesen Aspekt sogleich zurückkommen, wenn wir die exekutiven Kontrollmechanismen detaillierter betrachten.

(3) Ersatzbildung Freud vertrat die Ansicht, dass verdrängte psychische Inhalte (vor allem wenn sie unzulänglich verdrängt werden) ihren Einfluss auf bewusste Kognition und bewusstes Verhalten durch Ersatzbildungen geltend machen, nämlich durch Mechanismen wie Verschiebung und Symbolisierung. Diese These wird von modernen Kognitionswissenschaftlern nicht einhellig akzeptiert – aber hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen! Ein neuropsychologisches Experiment, das in diesem Zusammenhang relevant ist, wurde vor sehr langer Zeit von Betlheim und Hartmann (1951) mit Patienten und Patientinnen durchgeführt, die infolge einer Schädigung der bereits erwähnten exekutiven Kontrollsysteme, die mit dem Verlust der willkürlichen Kontrolle von Abrufprozessen einherging, unter einer Korsakow-Psychose litten. Sie baten die Patienten und Patientinnen, sich ordinäre sexuelle Geschichten in Erinnerung zu rufen. Wie in solchen Fällen typisch, sagten die Patienten und Patientinnen nicht einfach, dass sie sich an solche Geschichten nicht erinnern konnten, sondern produzierten

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falsche Geschichten (Konfabulationen), die sie aber selbst für das Original hielten. Interessant war an diesen Geschichten, dass die Konfabulationen die Originale durch Ersatzbildungen entstellten, die eine auffallende Ähnlichkeit mit jenen Symbolisierungen aufwiesen, die Freud aus der Deutung von Träumen erschlossen hatte. So wurde beispielsweise aus einer Vergewaltigungsgeschichte in der Erinnerung der Patientin von Betlheim und Hartmann eine Geschichte, in der es ums Treppensteigen ging, während die gewaltsam erzwungene Penetration des Opfers in einer Geschichte über ein Schwert wiederauftauchte, das in seine Scheide eingeführt wurde. Der Unterschied zwischen diesem Experiment und Freuds Traumdeutungen bestand darin, dass im ersten Fall der latente Inhalt den Untersuchern unmittelbar bekannt war, so dass sie die Modi der Umwandlung vom latenten Inhalt (Originalgeschichte) in den manifesten Inhalt (erinnerte Geschichte) empirisch nachweisen konnten. Auch dieses Experiment unterstreicht den Wert übereinstimmenden, aber mithilfe unterschiedlicher Methoden gewonnenen Beweismaterials. Das Problem besteht in diesem Fall allerdings darin, dass Betl­ heim und Hartmanns Beobachtungen nie repliziert wurden. (Meines Wissens hat tatsächlich niemand je einen entsprechenden Versuch unternommen.) Deshalb ist ein eigener Fall, der denselben Punkt beweist, von Interesse (Solms, 2001). ES, wie ich den Patienten nennen werde, war ein 56-jähriger Ingenieur mit Korsakow-­ Psychose, die durch die chirurgische Entfernung eines Meningioms verursacht worden war, das sich oberhalb der Nasenhöhle entwickelt hatte. Bei dem Eingriff war ein Teil der Stirnlappen zerstört worden. Zehn Monate nach dieser Operation begann ich, sechsmal pro Woche in einer regulären 50-minütigen Sitzung mit ihm zu arbeiten. ES zeigte keinerlei bewusstes Gewahrsein des klinischen Zwecks unserer Sitzungen und sah in mir abwechselnd einen Kunden, einen Kollegen, einen Mechaniker und ein Mitglied seiner Sportmannschaft. Zudem war ihm überhaupt nicht bewusst, dass man eine Gehirnoperation an ihm vorgenommen hatte und dass er amnestisch war. Als ich ihn zu Beginn der 10. Sitzung im Wartezimmer abholte, fasste er kurz an die Narbe auf seinem Kopf und sagte: »Hi, Doc!« Dies schien ein Fortschritt zu sein, und so leitete ich die Sitzung mit den Worten ein:

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MS: »Sie haben auf Ihren Kopf gezeigt, als ich Sie im Wartezimmer begrüßte.« ES: »Meiner Meinung nach besteht das Problem darin, dass eine Kassette fehlt. Wir müssen … wir brauchen einfach die genauen Angaben. Was für eine ist es? Eine C49? Sollten wir sie bestellen?« MS: »Was macht eine C49-Kassette?« ES: »Gedächtnis. Es ist eine Gedächtniskassette – ein Gedächtnisimplantat.«

Sein Hinweis auf Implantate erinnerte mich daran, dass er einige Jahre zuvor kieferchirurgisch behandelt worden war und Zahn­ implantate bekommen hatte. Der Eingriff hatte ihn von langwierigen Beschwerden befreit. Er fuhr fort: ES: »… Aber ich habe das nie richtig verstanden. Eigentlich habe ich sie seit gut fünf oder sechs Monaten überhaupt nicht mehr benutzt. Offenbar brauchen wir sie im Grunde gar nicht. Ein Doktor hat alles herausgeschnitten. Wie hieß er noch? Dr. Solms, glaube ich. Aber es sieht so aus, als sei sie im Grunde überflüssig. Mit den Implantaten klappt alles reibungslos.« MS: »Sie wissen, dass irgend etwas mit Ihrem Gedächtnis nicht in Ordnung ist, aber …« ES: »Ja, es funktioniert nicht 100 %, aber wir brauchen es auch nicht – es hat gelegentlich ein paar Schläge ausgelassen. Die Untersuchung ergab, dass irgendein C oder C09 fehlte. Denise hat mich zur Untersuchung hergebracht. Wie heißt der Arzt noch mal? Dr. Solms oder so. Und er hat diese Sache mit der Herztransplantation durchgeführt, und jetzt ist wieder alles in Ordnung – es schlägt einwandfrei.«

Er bezog sich ganz offenkundig auf einen »Schrittmacher«, den man ihm etliche Jahre zuvor zur (erfolgreichen) Behandlung seiner Herzrhythmusstörungen eingesetzt hatte. Deshalb sagte ich: MS: »Ihnen ist bewusst, dass etwas fehlt. Ihnen fehlen bestimmte Erinnerungen, und das ist natürlich beunruhigend. Sie hoffen, dass ich das Problem lösen kann, so wie die anderen Ärzte die Probleme mit Ihren Zähnen und mit Ihrem Herz gelöst haben. Aber Sie wünschen es sich so sehr, dass es Ihnen schwerfällt zu akzeptieren, dass noch nicht alles in Ordnung ist.«

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ES: »Ah ja, ich verstehe. Ja, es funktioniert nicht 100 Prozent. Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen. Musste für ein paar Minuten vom Platz gehen. Aber jetzt ist alles wieder bestens. Ich glaube, ich sollte nicht wieder spielen, aber Sie wissen ja, wie ich bin, ich gebe nicht gern auf. Deshalb war ich bei Tim Noakes – weil ich ja diese Versicherung habe, wissen Sie, also weshalb sollte ich sie nicht auch nutzen, warum nicht den Besten konsultieren –, und er sagte: ›Gut, spielen Sie weiter‹.«

Dieser kurze Auszug reicht, um zu illustrieren, worauf es mir ankommt. Es ist nicht sonderlich schwierig, die Verbindungen zwischen den latenten Gedanken des Patienten und seinen manifesten Ideen zu identifizieren, durch die sie in seinen konfabulatorischen Assoziationen ersetzt werden. Zum Beispiel wurde der latente Gedanke: »Man hat mir einen Gehirntumor entfernt«, durch die manifesten Gedanken ersetzt: »Ich habe Zahnimplantate bekommen«, und: »Mir wurde ein Herzschrittmacher eingesetzt.« (Die Tatsache, dass die substituierten Gedanken mit erfolgreichen Operationen zusammenhingen, der latente Gedanke hingegen mit einer fehlgeschlagenen, war offensichtlich nicht gleichgültig; auf diesen Aspekt werde ich jedoch erst später eingehen.) Der latente Gedanke, der die (gravierende) chirurgisch verursachte Hirnläsion betraf, wurde in ähnlicher Weise durch die manifeste Idee einer (eher geringfügigen) Sportverletzung am Kopf ersetzt, und entsprechend trat an die Stelle des Gedankens: »Der Gedächtnisteil meines Gehirns fehlt«, die Idee: »Eine C49-Gedächtniskassette fehlt.« (Die Implikation, dass man die benötigten Ersatzteile bei einem Lieferanten bestellen kann, spielt auch hier eine Rolle, ist aber für den gegenwärtigen Kontext weniger relevant.) Entscheidend ist Folgendes: Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass die manifesten Gedanken des Patienten in einer sinnvollen Weise mit latenten Gedanken zusammenhingen, die er nicht direkt ins Bewusstsein bringen konnte. Dies ist ein hinreichender empirischer Beweis für die Existenz der Ersatzbildung oder, einfacher formuliert: So und nicht anders arbeitet unser Gehirn. Die Existenz solcher Prozesse rechtfertigt auch die methodische Grundlage der psychoanalytischen Forschung: die Deutung. Die Suche nach den Verbindungen zwischen den Konfabulationen dieses Patienten und ihren offenkundigen kognitiven Vorläufern ist das Gleiche wie das,

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was die Psychoanalytikerinnen und -analytiker tun, wenn er zum Beispiel einen Traum deutet. Der einzige Unterschied besteht darin, dass bei Patienten wie ES, deren latente Gedanken sich so mühelos identifizieren lassen, die Methode wesentlich durchsichtiger ist. Ich habe festgestellt, dass neurologische Kolleginnen und Kollegen die Deutung als valides wissenschaftliches Verfahren bereitwilliger anerkennen, wenn man sie mit klinischem Material dieser Art demonstriert. Genauso reagieren sie, wenn ich ihnen erläutere, dass die alltägliche Diagnose Paraphasie eine identische Annahme voraussetzt. Das neurologische Symptom der semantischen Paraphasie ist dadurch gekennzeichnet, dass Patienten/Patientinnen nicht das Wort sagen, das sie eigentlich sagen wollen, sondern ein anderes. Sie sagen zum Beispiel Milch oder Fluss, wenn sie in Wirklichkeit Flüssigkeit sagen wollen. Das gesprochene (manifeste) Wort hängt zweifelsfrei auf eine sinnvolle Weise mit dem intendierten (latenten) zusammen; und die Existenz solcher Bedeutungsnetzwerke ist es, die die Paraphasie zuallererst möglich macht. (Freuds gefeierte Arbeit über die Fehlleistungen, die Parapraxis, ging von ebendiesem Phänomen aus.) Die bereits beschriebenen kognitiven Transformationen bestätigen nicht nur die Existenz der Ersatzbildung, sondern konstituieren auch unabhängige Beweise für die beiden Prinzipien des psychischen Funktionierens.

(4) Primär- und Sekundärvorgang Die Art zu denken, die durch den bereits beschriebenen Fall der Korsakow-Psychose illustriert wird, weist große Ähnlichkeit mit dem von Freud beschriebenen Primärvorgang auf. Es lohnt sich deshalb, sich zu vergegenwärtigen, dass Freud ihre typischen Merkmale  – die er als Charakteristika des dynamischen Unbewussten betrachtete – aus verschiedenen indirekten Quellen (wie Träumen, Witzen und neurotischen Symptomen) erschloss. Gleichwohl können wir diese Art zu denken in solchen pathologischen Fällen unmittelbar beobachten. Dasselbe trifft anscheinend auf die übrigen »speziellen Besonderheiten des Systems Unbewusst« zu, die Freud beschrieben hat, nämlich die Zeitlosigkeit,

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die Widerspruchslosigkeit und die Ersetzung der äußeren durch die psychische Realität. Dass manche unbewussten Gedächtnissysteme Prinzipien gehorchen, die sich radikal von jenen unterscheiden, die das bewusste reflexive Erinnern steuern, hat Implikationen, die von den Theoretiker/-innen der modernen Neurowissenschaften bislang nicht untersucht wurden. Wenn assoziative Gedächtnisprozesse, sobald sie der exekutiven Kontrolle enthoben sind, in der zügellosen Weise funktionieren, wie es bei ES der Fall war (dessen exekutive Kontrollsysteme geschädigt waren), dann könnten die mnestischen Prozesse kleiner Kinder (deren exekutive Kontrollsysteme noch nicht ausgereift sind) in ähnlicher Weise funktionieren. Es könnte sogar möglich sein, dass latente mnestische Assoziationen dieser Art ständig in uns erzeugt werden, bevor sie über präfrontale Retrievalmechanismen in die wiedererkennbaren, realitätsangepassten Erinnerungen transformiert (oder retranskribiert) werden, die uns bewusst vertraut sind. All dies legt nahe, dass die soeben erwähnten Realitätsanpassungen (die Freuds Sekundärprozess charakterisieren) grundlegend von der Integrität der Stirnlappen abhängig sind.

(5) Das Ich Sämtliche verfügbaren – phylogenetischen, ontogenetischen, klinischen und bildgebenden – Nachweise legen den Schluss nahe, dass die realitätsangepasste, rationale Kognition (jene Art der Kognition, die Freud unter der Überschrift »Sekundärvorgang« erklärt hat) vollständig von diesem Teil des Gehirns abhängig ist. Wir haben bereits gesehen, dass die Präfrontallappen die exekutiven Kontrollfunktionen vermitteln, die Freud dem »Ich« zuschrieb. Deshalb ist es kein Zufall, dass sich dieser Teil des menschlichen Gehirns durch seine Größe am stärksten von der entsprechenden Hirnregion anderer Primaten (ja, sogar aller anderen Säugetiere) unterscheidet. Dies ist zugleich die Gehirnregion, die in der Entwicklung des Menschen am spätesten heranreift und deshalb auf postnatale Einflüsse am sensibelsten reagiert. So überrascht es auch nicht, dass mit bildgebenden Verfahren die höchste Aktivität in dieser Hirnregion bei sekundärprozesshafter Kognition nachgewiesen wurde, während sie

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in den »primärprozesshaften« Zuständen, die das Träumen und die Psychose charakterisieren, entsprechend deaktiviert ist. Im Einklang damit führen Läsionen in diesem Teil des Gehirns zu erheblichen Beeinträchtigungen des sekundärprozesshaften Denkens und zu einer entsprechenden Dominanz des Primärvorgangs. Diese Fakten werden überzeugend durch Harlows berühmte Beschreibung der Konsequenzen einer Stirnlappenverletzung im Fall des Phineas Gage illustriert: »Das Gleichgewicht oder die Balance zwischen seinen geistigen Fähigkeiten und seinen animalischen Neigungen scheint zerstört zu sein. Er ist launisch, respektlos, flucht mitunter auf abscheulichste Weise […], toleriert weder Grenzsetzungen noch Ratschläge, die seinen Wünschen zuwiderlaufen […]. In seinem geistigen Potential und seinen intellektuellen Leistungen ist er ein Kind, aber er besitzt die animalischen Leidenschaften eines kraftstrotzenden Mannes« (Harlow, 1868, S. 327).

Angesichts solcher Beschreibungen überrascht es nicht, dass die inhibitorischen Fähigkeiten dieser Hirnregion im Allgemeinen als Grundlage der exekutiven Kontrollfunktionen der Präfrontallappen betrachtet werden. Folgerichtig bezeichnet man das soeben beschriebene neurobehaviorale Syndrom als Enthemmung. Freuds Postulat, dass die sekundärprozesshafte Kognition (und daher die gesamte exekutive Kontrollaktivität des Ichs) letztlich auf der Hemmung beruht, ging von einer völlig anderen empirischen Basis aus, wird jedoch durch diese Befunde bestätigt. Was aber wird gehemmt?

(6) Das Lustprinzip Freud war der Ansicht, dass sich das Denken des Sekundärprozesses entwickelte, um das Lustprinzip der Anpassung an die Realität zu unterwerfen (Realitätsprinzip). Dem Lustprinzip wiederum dient der Primärprozess, der keinen Aufschub duldet. Gibt es das Lustprinzip wirklich? Anders gefragt: Entspricht das menschliche Annäherungs- bzw. Vermeidungsverhalten Gefühlen der Lust bzw. der Unlust, und repräsentieren diese Tendenzen

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tatsächlich unsere elementare Motivation? Natürlich tun sie dies! (Und wir können die Entstehung dieser Tendenzen bis zu der einfachen säulenähnlichen Struktur eines winzig kleinen Areals von Zellen zurückverfolgen, das tief in den Hirnstamm eingebettet und unter dem Namen periaquäduktales Grau bekannt ist.) Für unsere Zwecke relevanter aber ist folgende Frage: Werden diese Tendenzen durch die exekutiven Kontrollmechanismen gehemmt, die wir soeben den Präfrontallappen zugeschrieben haben? Wenn unsere Zuschreibung korrekt ist, dann sagt die Freud’sche Theorie voraus, dass Verhalten und Kognition enthemmter Patientinnen und Patienten durch ein relativ ungezügeltes Streben nach Lust charakterisiert sein sollte. Lässt sich diese Vorhersage bestätigen? Die Antwort lieferten bereits Beobachtungen jener Art, wie sie bereits erwähnt wurden: Patientinnen/Patientinnen mit Verletzungen der präfrontalen inhibitorischen Strukturen respektieren »weder Grenzsetzungen noch Ratschläge, die [ihren] Wünschen zuwiderlaufen« (Harlow, 1868, S. 327; Hervorhebung durch Verfasser, M. S.). Verhalten und Kognition dieser Patienten werden zweifellos von »Leidenschaften« beherrscht (um noch einmal Harlow zu zitieren) und setzen sich deshalb über Realitätsanforderungen und rationale Rücksichtnahmen hinweg. Aber trotz dieser alltäglichen klinischen Beobachtung (oder gerade aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit) haben nur wenige Forscher systematisch nachzuweisen versucht, dass das menschliche Gehirn von einem enthemmten Lustprinzip beherrscht wird, wenn seine präfrontalen exekutiven Kontrollfunktionen ausfallen. Eine aktuelle Untersuchung, die Fotopoulou et al. (2004) an dem bereits beschriebenen konfabulierenden Patienten ES vornahmen, ist daher von besonderem Interesse. Fotopoulou bat naive, nicht einschlägig informierte Versuchspersonen, ein Zufallssample von ES’ Konfabulationen (N = 156) mit der jeweiligen Realität zu vergleichen (zum Beispiel wurde die Konfabulation: »Ich bin ein junger Student und trinke zusammen mit meinem Freund ein Bier in einer Kneipe« verglichen mit der entsprechenden Realität: »Ich bin ein Patient mittleren Alters in einer Klinik und werde von einer Neuropsychologin befragt.«). Die Versuchspersonen wurden gebeten, die Konfabulationen auf einer Sieben-Punkte-Skala nach dem

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Kriterium zu bewerten, ob die subjektive Situation des Patienten in ihnen, gemessen an der Realität, als angenehmer oder weniger angenehm präsentiert wurde. Die Ergebnisse waren eindeutig: Die überwältigende Anzahl der Konfabulationen hing mit Gefühlen zusammen, die angenehmer waren als die entsprechende Realität. Mit anderen Worten: Konfabulationen ersetzen unlustvolle Realitätsverhältnisse durch lustvollere Phantasien; sie gehorchen einem Lustprinzip. Turnbull, Berry und Evans (2004) und Fotopoulou und Kollegen (2004) haben dieses Ergebnis seither mit anderen Samples wiederholen können. Turnbull, Jenkins und Rowley (2004) gingen sogar noch weiter und wiesen nach, dass den Konfabulationen typischerweise gedämpfte Stimmungslagen vorausgehen und bessere Stimmungen folgen. Anders formuliert: Ihr Zweck ist offenbar die Vermeidung von Unlust. Untersuchungen derselben Forscher/-innen über das (bereits erläuterte) Phänomen der Anosognosie legen nahe, dass auch diese Störung die Patientinnen und Patienten in die Lage versetzt, unangenehmen Realitäten (»Mein Arm ist gelähmt«) auszuweichen und sie durch wünschenswerte (»Nein, er ist gar nicht gelähmt«) zu ersetzen. Aber die Präfrontallappen dieser Patienten sind intakt. So drängt sich folgende Vermutung auf: Unter der Voraussetzung, dass ein im Hirn aktives Lustprinzip normalerweise durch die exekutiven Kontrollmechanismen der Präfrontallappen gehemmt und dem Blick verborgen wird, sind diese Stirnlappen nicht der einzige Teil des Gehirns, der jene inhibitorische Funktion erfüllt. Das Lustprinzip wird ebenfalls kontrolliert durch die rechtshemisphärischen Strukturen, die mit der Anosognosie zusammenhängen. Deshalb ist es interessant zu sehen, dass ebendiese Strukturen eine Repräsentation der »Realität« im Hirn ermöglichen, und zwar keine Repräsentation im inhibitorischen Sinn, sondern im konkreten Sinn der Abbildung der dreidimensionalen Präsenz der realen Objektwelt – der res extensa Descartes’. Die äquivalenten Strukturen in der linken Hemisphäre repräsentieren die abstrakte Welt logisch-grammatikalischer Beziehungen. (Wie Ramachandran, 1998, es formuliert: Die linke Hemisphäre denkt sich Geschichten aus, die von der rechten an der Realität geprüft werden.) Es wäre ein Fehler, etwas so Komplexes wie Freuds »Realitätsprinzip« mit den Funktionen einer einzigen Hirnregion gleichzusetzen.

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(7) Libidotheorie Wir müssen nun die Antriebskraft betrachten, die dem Lustprinzip zugrunde liegt. Freud zufolge besteht die oberste Aufgabe des Realitätsprinzips darin, die wunschgeleiteten Anforderungen eines allgemeinen Bedürfnissystems unter Kontrolle zu halten, das er als Libido bezeichnete. Diese unheimliche Kraft ist ein unabweisbar drängendes, allgegenwärtiges Verlangen nach Lust jeglicher Art (Sexualität in dem sehr allgemeinen Sinn, den Freud dem Begriff beilegte). Diese Kraft gründet vermutlich in unserer biologischen Konstitution und stellt über ihre Gebundenheit an den Körper Arbeitsanforderungen an die Psyche. Gibt es im Hirn wirklich ein allgemeines Wunsch-System, das unser Streben nach Lust aktiviert? Ein solches System existiert tatsächlich. Wir haben es hier mit einem der bemerkenswertesten Beispiele für ein Freud’sches Konzept zu tun, das von der modernen Neurowissenschaft, die mit gänzlich anderen Methoden eine völlig andere Forschungsagenda verfolgt, wiederentdeckt wurde. Jaak Panksepp (1998) bezeichnet dieses System als SEEKINGSystem. Andere Autoren haben ihm andere, aber ähnlich klingende Namen gegeben, beispielsweise Bedürfnis-, Belohnungs- oder Selbststimulierungssystem. Das SEEKING-System – das in erster Linie durch die Hirnchemikalie Dopamin vermittelt wird – funktioniert genauso wie die mentale Kraft, die Freud beschrieben und als »Libido« bezeichnet hat. Es stimuliert unsere Gehirne mit optimistischen Erwartungen, erzeugt das Gefühl einer sinnvollen Zielgerichtetheit und steuert jede unserer positiven, zielsuchenden Interaktionen mit der Welt. Jedes Verlangen – nach Sex, Nahrung, Flüssigkeit, Wärme, Wissen usw. – wird durch dieses System kanalisiert. Und ebenso wie für Freuds Libido sind all die Gelüste auch für dieses System austauschbar. Gleichviel welcher Quelle ein Wunsch entstammt, der Effekt ist derselbe: blindes Suchen. Das SEEKING-System ist, mit einem Wort gesagt, objektlos. Um Panksepps Lieblingsanalogie zu benutzen: Es ist »ein zielloser Ansporn« (»a goad without a goal«). Energisch identifiziert und prüft es sämtliche potenziellen Lustquellen dieser Welt auf seiner Suche nach allem, das seine augenblicklichen Bedürfnisse befriedigen könnte.

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Die Motivationskraft dieses Systems ist wahrlich erschreckend. Wenn man Labortieren Gelegenheit gibt, es direkt (durch ins Hirn implantierte Elektroden) zu stimulieren – wodurch sie sich die schwierige und frustrierende Aufgabe ersparen können, die konkrete Befriedigung in der Außenwelt aufzuspüren –, stimulieren sie dieses System buchstäblich pausenlos und auf Kosten sämtlicher anderer Verhaltensweisen bis an den Rand des Hungertods. Deshalb überrascht es nicht, dass alle Arten der Sucht aus ebendiesem System ihre unwiderstehliche Macht über unsere Psyche beziehen (vgl. zum Beispiel Goldstein u. Volkow, 2002). Ich wiederhole: Zwischen Panksepps SEEKING-System und Freuds Libido besteht eine in höchstem Maß bemerkenswerte Übereinstimmung. Ein besseres Beispiel für die buchstäbliche Wiederentdeckung eines Freud’schen Konzepts durch die moderne Neurowissenschaft lässt sich nicht finden. Wer sonst als Freud hätte vorausgesagt, dass das menschliche Gehirn ein solches System beherbergt? Es existiert wirklich! So gewinnen wir nach und nach einen Gesamteindruck von den Funktionsweisen der Psyche. Angetrieben von einem allgemeinen Wunschsystem, erkunden wir interagierend die Welt auf der blinden Suche nach Objekten und Erfahrungen, die unsere ständig andrängenden Bedürfnisse zu befriedigen vermögen. Diese Bedürfnisse werden durch chemische Botenstoffe erzeugt, die aus vielfältigen homöostatischen Physiologien, der Expression unserer biologischen Existenz, hervorgehen. Die Erfolge und Misserfolge dieser endlosen Suche werden durch die Bewusstseinsfunktion reguliert, deren (oberste) Aufgabe es ist, Gefühle der Lust und Unlust zu produzieren – die wiederum mit denjenigen Objekten assoziiert werden, die am besten geeignet sind, sie hervorzurufen. Diese Objekte und Erfahrungen bilden das Material des repräsentationalen Gedächtnissystems, das das gewaltige Volumen des unter dem Schädeldach liegenden Kortex ausfüllt. Das Wissen um die Welt, das in diesen Repräsentationen enkodiert ist, wird zur Kontrolle der Gelüste benutzt, die uns zuallererst mit ihnen in Kontakt gebracht haben. Dieser Kontrollfunktion dienen insbesondere die inhibitorischen Fähigkeiten jener kortikalen Region, die hinter der (für den Menschen spezifischen) Stirn liegt: die Präfrontallappen.

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(8) Traumtheorie Trefflich illustriert wird die Interaktion zwischen den soeben beschriebenen Systemen durch den Traumprozess, und zwar aus exakt jenem Grund, den Freud vermutete: Das Träumen ist ein Königsweg zum Verständnis der Arbeitsweise der Psyche, weil die erwähnten inhibitorischen Kontrollmechanismen ebenso wie der Kortex nachts schlafen. Dies schafft eine einzigartige Gelegenheit, direkt zu erleben, wie das Gehirn unter den Bedingungen des Primärvorgangs funktioniert. Der Hauptgrund dafür ist (abgesehen von der Aufhebung der präfrontalen Kontrolle) die Tatsache, dass das SEEKING-System niemals schläft. Die dopaminergen Neuronen, die dieses System (aus einem Bereich nahe der Schädelbasis) aktivieren, feuern im Schlaf wie im Wachzustand kontinuierlich mit gleichbleibender Feuerungsrate. Dies stellt das übrige Gehirn vor ein interessantes Problem: Wie reagiert es auf die unabweisbaren Arbeitsanforderungen, die dieses System stellt und die den Organismus normalerweise veranlassen, mit der Objektwelt zu interagieren, um seine Ziele zu erreichen? Den Ergebnissen der meisten aktuellen Forschungen über dieses Thema zufolge (Braun et al., 1998; Solms, 2001) bewältigt es diese Anforderungen, indem es Träume produziert. Träume (imaginäre Interaktionen mit Objekten) tauchen statt der realen Interaktionen auf, nach denen die SEEKING-Aktivität verlangt. Im Fall der Träume vollziehen sich diese (imaginären) Interaktionen ohne präfrontale Hemmung und geben deshalb die unheimliche Funktionsweise der tiefsten motivationalen Schichten zu erkennen, die unserem Blick normalerweise verborgen bleiben. Dieses hohe Maß an Übereinstimmung zwischen Freuds Traumtheorie und modernen neurowissenschaftlichen Ergebnissen, das für die Libidotheorie belegt ist, kommt einem Triumph der Psychoanalyse gleich. Zu meiner großen Freude durfte ich diesen Triumph Anfang dieses Jahres persönlich miterleben, als die Experten, die sich in großer Zahl zur Tucson Consciousness Conference (einer der wichtigsten Termine auf dem internationalen neurowissenschaftlichen Veranstaltungskalender) eingefunden hatten, im Anschluss an eine detaillierte Darlegung der soeben zusammengefassten neurowissenschaftlichen Ergebnisse die Aktualität der Freud’schen Traumtheorie entschieden bestätigten.

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Ein ähnlich befriedigendes Erlebnis hatte ich bei einem internationalen neurowissenschaftlichen Kongress in Rio de Janeiro, als der renommierteste Experte für die mit bildgebenden Verfahren arbeitende Psychosenforschung nicht nur Freuds Vermutung bestätigte, dass das psychotische und das träumende Gehirn große Ähnlichkeit aufweisen, sondern diese Ähnlichkeit auch weitgehend auf die gleichen Mechanismen zurückführte, die Freud erschlossen hatte: eine dynamische Veränderung in Form einer erhöhten Aktivierung der SEEKING-Mechanismen bei gleichzeitiger Deaktivierung der Kontrollmechanismen, gekoppelt mit einer Regression der kortikalen Aktivierung auf posteriore, kortikale, perzeptuelle Systeme. Nun aber müssen wir uns einige Punkte ansehen, in denen die heutige Neurowissenschaft andere Auffassungen vertritt als Freud.

(9) Die Triebtheorie im Allgemeinen In gewisser Weise wurde Freuds Triebtheorie bestätigt. Es steht außer Frage, dass wir Menschen animalische Lebewesen sind, ebenso wie alle anderen Kreaturen Gottes. Unsere Körper und Gehirne wurden von Kräften geformt, die keinem höheren Zweck dienen als dem der Reproduktionsfitness. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, sind wir letztlich alle der Sexualität ausgeliefert. Nichts wurde in das menschliche Genom hineinselektiert, das nicht den entscheidenden biologischen Test bestanden hat: »Erhöht es meine Chancen, zu überleben, um mich fortzupflanzen?« Was das menschliche Genom anlangt, so weiß man heute, dass wir Menschen annähernd 100 Prozent unseres genetischen Materials mit unserem nächsten Verwandten unter den Primaten, nämlich dem Schimpansen, gemeinsam haben. Die minimalen genetischen Unterschiede scheinen zur Erklärung unserer größeren Stirnlappen kaum auszureichen! Eines aber produzieren diese Unterschiede ganz sicher nicht, nämlich Varianten der Hirnsysteme, die unsere Triebe erzeugen. Diese Systeme sind beim Menschen und anderen Primaten identisch, und sie sind fast identisch beim Menschen und allen anderen Säugetieren (Panksepp, 1998). Selbst mit den primitivsten Geschöpfen teilen sie viele Gemeinsamkeiten (Pfaff, 1999).

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Bislang habe ich lediglich einen dieser Triebmechanismen beschrieben: das sogenannte SEEKING-System. Bereits erläutert habe ich die auffallenden Gemeinsamkeiten zwischen diesem System und Freuds libidinösem Trieb. Nun aber ist zu konstatieren, dass entsprechende Gemeinsamkeiten bei sämtlichen anderen Triebsystemen, die die moderne Neurowissenschaft identifiziert hat, nicht existieren. Es gibt zweifellos nichts, das man vernünftigerweise mit Freuds Todestrieb vergleichen kann. Stattdessen besitzen wir offenbar eine Reihe relativ eigenständig organisierter Triebsysteme, die jeweils einen anderen Trieb vermitteln. Diese Systeme können weder unter eine allgemeine Überschrift gestellt noch aufeinander reduziert werden. Sie dienen nicht allesamt der Sexualität (außer in dem soeben erwähnten globalen Sinn), und ebenso wenig dienen sie der Destruktivität oder gar der Aggression. Tatsächlich erfüllt sogar nur einer von ihnen die Funktion der Aggression – das RAGE-System –, und selbst dieses dient nur der heißen Aggression, wie sie von den Neurobiologen genannt wird. (Die kalte oder prädatorische Aggression wird vom SEEKING-System unterstützt, männliches Dominanzverhalten wiederum von einem weiteren System, das in erster Linie das wilde Spiel oder Raufen – PLAY – vermittelt.) Darüber hinaus gibt es distinkte Systeme für FEAR (Furcht, Angst) und LOSS (Verlust) und andere, die – in verschiedenen Kombinationen – komplexere Verhaltensweisen wie mütterliche CARE (Fürsorglichkeit) unterstützen. All diese Systeme haben sich unabhängig voneinander entwickelt und fördern das Überleben und die Reproduktionsfitness durch spezifische Beiträge; und in ähnlicher Weise üben sie ihren Einfluss auf die Psyche relativ unabhängig voneinander aus. Darüber hinaus reifen sie unter dem Einfluss verschiedenartiger epigenetischer Szenarien und reagieren auf unterschiedliche Umweltfaktoren. Das Resultat sind unzählige potenzielle Permutationen mehr oder weniger sensibler und mehr oder weniger gut angepasster Systeme – die allesamt gemeinsam, harmonisch oder unharmonisch, operieren. Diese Fakten haben gravierende Implikationen für unser Verständnis der menschlichen Psyche. Wir müssen unsere Schlussfolgerungen hinsichtlich der Auswirkungen der präfrontalen Hemmung auf das SEEKING-System sowie unsere damit zusammenhängenden Rückschlüsse bezüglich des Lustprinzips um die Annahme ergänzen,

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dass sich genau die gleichen Interaktionen auch zwischen exekutiven Kontrollsystemen und den anderen Triebsystemen des Gehirns abspielen. So wird zum Beispiel das SEEKING-System in Fällen präfrontaler Enthemmung zusammen mit RAGE und PLAY und FEAR aus der normalen regulatorischen Kontrolle entlassen usw. Dies wiederum hat wichtige Weiterungen für unser Verständnis der Ätiologie der Neurosen.

(10) Die Ätiologie der Neurosen Freud war der Meinung, dass sich neurotische Symptome entwickeln, weil die Verdrängung, und zwar insbesondere die Verdrängung libidinös besetzter Ideen, scheitert. (Die Verdrängung an sich ist nicht pathologisch. Es ist vielmehr notwendig, Material aus dem Bewusstsein zu drängen, dass die Effizienz oder Integrität des Ichs insgesamt zu untergraben droht, selbst wenn dieser Vorgang einen gewissen Preis hat.) Im Licht meiner bisherigen Ausführungen betrachtet, ist es wahrscheinlich, dass neurotische Symptome aus der gescheiterten Verdrängung von Vorstellungen aus jedem der soeben erläuterten multiplen Triebsysteme erwachsen. Zumindest sollten wir unsere klinische Erfahrung auf diese Vermutung hin kritisch überprüfen. Gestützt auf unser modernes Verständnis der menschlichen Triebsysteme halte ich es für außerordentlich plausibel, dass ein (entweder infolge einer konstitutionellen Sensibilität oder infolge einer umweltbedingten Traumatisierung) schlecht reguliertes ­FEAR-System Patienten/Patientinnen in Schwierigkeiten bringen kann, ohne dass dieses ätiologische Moment zwangsläufig durch das SEEKING-System vermittelt – oder in erster Linie vermittelt – werden muss. Das Gleiche gilt für das LOSS-System (das auch als ­PANIC-System bezeichnet wird) usw. Alles, was wir über diese Systeme und insbesondere über ihre hohe Sensibilität für frühe Umweltfaktoren wissen, ist ohne Einschränkung mit diesem Verständnis vereinbar. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang eine Beobachtung von LeDoux (1996) über das FEARSystem: Sobald ein Objekt imprinted (oder besetzt) wurde, kann die Besetzung niemals wieder zurückgezogen werden, selbst wenn (oder

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vielleicht weil) die Quelle und die Art seiner Triebbedeutung dem Subjekt vollständig unbewusst ist. Es ist sehr gut möglich, dass das Gleiche auf die übrigen Triebsysteme zutrifft. LeDoux’ Ergebnissen zufolge besteht der einzige Weg, den Stellenwert einer solchen Assoziation in der mentalen Ökonomie zu ändern, darin, die Art und Weise zu beeinflussen, wie sie auf der Ebene der präfrontalen Kontrolle reguliert wird. Wir müssen nicht nur die Implikationen betrachten, die die Vielfalt potenzieller Konflikte zwischen all diesen Triebsystemen und dem exekutiven Kontrollsystem für unser Verständnis der Neurosen besitzt, sondern auch die Implikationen, die die potenziellen Konflikte zwischen den verschiedenen Triebsystemen selbst mit sich bringen. Die Vorstellung, die strittige psychiatrische Nosologie auf eine bessere theoretische und empirische Grundlage zu stellen, indem wir unsere recht willkürlichen Klassifizierungen und Definitionen im Licht der explodierenden Kenntnisse über diese Systeme überprüfen, die so offenkundig zentral an der psychischen Gesundheit beteiligt sind, ist eindeutig verlockend.

(11) Die therapeutische Wirkung der Psychoanalyse Was ich soeben gesagt habe, hat natürlich wichtige Implikationen für die therapeutische Wirkungsweise der Psychoanalyse. Weil dieses Gebiet absolut unerforscht ist, muss ich mich hüten, allzu weit abzuschweifen, und beschränke mich deshalb auf den Hinweis, dass wir alle Ausführungen Freuds über das Ziel der Analyse, das Ich zu stärken, indem man seinen Zugang zu den unzähligen Kräften, die es bemeistern muss und deren nicht unwichtigste unserem Triebleben entstammen, mühelos in Hypothesen über die Stärke und den Einflussbereich der Exekutivkräfte der Präfrontallappen übersetzen können. Die theoretischen Grundlagen für diese Behauptung wurden bereits weitgehend dargelegt. Das wichtigste an dieser Hypothese ist, dass sie einen völlig neuen Weg bahnt, diesem hochkomplizierten Problem auf den Grund zu gehen. Die ersten empirischen Ergebnisse liegen bereits vor: Praktisch jede funktionelle hirnbildgebende Studie über erfolgreiche Behandlungen durch talking cure erbringt densel-

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ben Nachweis, nämlich dass das therapeutische Resultat einer Veränderung in der Stoffwechselaktivität der Präfrontalregion entspricht. Ich kann dieses Thema nicht abschließen, ohne zumindest darauf hinzuweisen, dass das Phänomen der Übertragung in neurowissenschaftlichen Kreisen weithin anerkannt wird, wenngleich es in der neurokognitiven Literatur unter verschiedenen anderen Namen und in vielerlei Verkleidungen auftaucht. Alles, was wir in der Neurowissenschaft über die Unauslöschlichkeit und über den allgegenwärtigen Einfluss früherer Erfahrungen auf das aktuelle Funktionieren gelernt haben – über die »erinnerte Gegenwart«, um Edelmans (1992) treffende Formulierung zu benutzen –, stimmt mit Freuds Einsichten in dieses Phänomen überein. Auch hier beschränke ich mich auf den Hinweis, dass die einzige wesentliche Modifizierung, die an seiner Konzeptualisierung vorgenommen werden muss, in einer Multiplizierung der Vielfältigkeit der Phänomene (und folglich der zugrunde liegenden Mechanismen) besteht, die Freud unter dem Begriff Übertragung zusammengefasst hat. Viele andere Themen kann ich hier aus Platzgründen nicht einmal erwähnen. Ich schließe deshalb mit einem – allzu verkürzten – Überblick über die wichtigsten verbleibenden Themen.

(12) Infantile Sexualität Das SEEKING-System, das wir mit Freuds Libido und deshalb mit der Sexualität im weitesten Sinne gleichgesetzt haben, ist von Geburt an voll aktiv. Das Kind muss (innerhalb der Grenzen der repräsentationalen Fähigkeiten, über die sein infantiler Kortex verfügt) mit der ganzen Wucht der Anforderungen zurande kommen, die dieses Appetenzsystem erzeugt. Und das bedeutet zugleich, dass das Kind mit seinem Befriedigungsverlangen fertig werden muss und dabei nur minimale Hilfe von den exekutiven Kontrollmechanismen der Präfrontallappen erhält – die in der menschlichen Entwicklung erst als letzte heranreifen. Die einzige Einschränkung, die ich machen möchte, wurde bereits genannt: Der Säugling muss nicht nur mit der unmodulierten Libido fertig werden, sondern auch mit unmodulierter Angst, mit unmoduliertem Trennungsschmerz, unmodulierter Wut usw.

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Was diese anderen Triebsysteme betrifft, so ist besonders interessant, dass die Hirnsysteme, die (bei der Mutter wie auch beim Säugling) das Bindungsverhalten vermitteln, kaum von jenen Systemen zu unterscheiden sind, die der weiblichen Sexualität im engeren Sinne zugrunde liegen. So kann beispielsweise das Stillen von Mutter und Baby im Kontext expliziter sexueller Lust erlebt werden. Dies trägt zweifellos zur Konstellation der Gefühle und Vorstellungen bei, die Freud als Ödipuskomplex bezeichnet hat.

(13) Der Ödipuskomplex Die obligatorischen Rollen, die männlichen und weiblichen Erwachsenen und ihren Nachkommen beiderlei Geschlechts in den »Familien« der Primaten zugeschrieben werden, und insbesondere die Schicksale des sogenannten Alpha-Männchens, sind hier von besonderem Interesse. Ein gründlicheres Verständnis des menschlichen Ödipuskomplexes könnte sich abzeichnen, wenn man ihn im Lichte dieser möglichen Primatenäquivalente einer neuerlichen Überprüfung unterzöge. Meines Wissens wurde ein solches Projekt bislang von niemandem ernsthaft in Angriff genommen, obwohl die wunderbare Arbeit von Stephen Suomi (2004) exzellente Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Ich denke jedoch, dass Freuds These vom Ödipuskomplex als Kernkomplex der Neurosen die höherrangigen repräsentationalen Faktoren in der Genese dieser Störungen allzu stark betont. (Wir dürfen zudem nicht übersehen, dass auch Psychoanalytikerinnen und -analytiker selbst seit langem anerkennen, dass die der ödipalen Situation vorausgehende Mutter-Säugling-Dynamik für die psychische Gesundheit und die Persönlichkeitsentwicklung von erheblicher Bedeutung ist.)

(14) Unterschiede zwischen den Geschlechtern und damit zusammenhängende Themen Ähnliche, ja sogar noch stärkere Vorbehalte hege ich gegenüber Freuds Theorien bezüglich psychisch verursachter Unterschiede

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zwischen den Geschlechtern. Geschlechtsspezifische Unterschiede scheinen tief in angeborenen, auf der Ebene der bereits beschriebenen Triebmechanismen angelegten Dispositionen zu gründen. Ein Großteil der beträchtlichen Unterschiede in den Gehirnen von Jungen und Mädchen kann bis ins zweite Schwangerschaftsdrittel zurückverfolgt werden (LeVay, 1994). Ich neige sehr zu der Annahme, dass die repräsentationalen Kognitionen, durch die sich diese unterschiedlichen Triebtendenzen äußern (beispielsweise der notorische Penisneid bei Freud), größtenteils Konsequenzen und nicht Ursachen der Unterschiede sind. Das heißt aber nicht, dass Umweltfaktoren ignoriert werden könnten, wie der sogenannte Multiplikatoreneffekt beweist. Exakt dieselben Überlegungen gelten für die Entstehung der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität. Hier hat Freud offenbar die Bedeutsamkeit der prä-repräsentationalen, genetischen und epigenetischen Einflüsse unterbewertet (wenngleich keineswegs ignoriert). Wenn man sich mit diesen Themen auseinandersetzt, sollte man allerdings vor den fundamentalistischen Tendenzen auf der Hut sein, die die wissenschaftlichen Fakten bis zum heutigen Tag verzerren.

Abschließende Bemerkungen Die Schlagzeile einer jüngst erschienenen Ausgabe von »Newsweek« bringt meine grundsätzliche Schlussfolgerung auf den Punkt: »Freud ist nicht tot!« Ironischerweise ist sein größter Irrtum offenbar auf seine Unterschätzung unserer Fähigkeit zur Selbsttäuschung zurückzuführen, das heißt auf seine offenkundige Überschätzung dessen, was wir introspektiv über die grundlegende Funktionsweise eines Apparats erfahren können, der Freud zufolge in sich unbewusst ist. Anders formuliert: Die aktuellsten Erkenntnisse insbesondere der affektiven Neurowissenschaft legen die Vermutung nahe, dass die repräsentationale Kognition die eigentlichen Grundkräfte verdeckt und verdunkelt, die uns in einem weit höheren Maße antreiben, als es Freud klar war.

»Das Unbewusste« in Psychoanalyse und Neurowissenschaften 

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Andererseits besteht Freuds größtes Erbe vielleicht darin, uns zu zeigen, dass wir die herausragende Wichtigkeit der bewussten Instanz unserer Psyche, des empfindungsfähigen, fühlenden, willensbegabten Ichs, nicht vergessen sollten. Dieser Faktor wird allzu leicht von Kognitions- und Neurowissenschaftlern/-wissenschaftlerinnen übersehen, die offenbar tatsächlich der Überzeugung sind, dass wir das Subjekt ignorieren und die menschliche Psyche wie einen bloßen Gegenstand behandeln könnten, so als wäre sie nicht mehr als eine informationsverarbeitende Vorrichtung oder ein Organ ähnlich wie die Leber. Besonders prägnant hat Oliver Sacks (1985) diesen Aspekt formuliert: »Die Neuropsychologie ist eine bewundernswerte Wissenschaft, aber sie schließt die Psyche […] aus. Es ist das Ziel der Neuropsychologie wie auch der klassischen Neurologie, vollkommen objektiv zu sein, und eben darauf basieren auch ihre großen Erfolge und Fortschritte. Aber ein lebendes Wesen und insbesondere ein Mensch ist vor allem […] ein Subjekt, nicht ein Objekt. Ebendieses Subjekt, das lebendige ›Ich‹, ist es, das [von der Neuropsychologie] ausgeschlossen wird« (S. 217).

Was das Hirn einzigartig macht, ist seine Fähigkeit zur Subjektivität, seine Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und sich seiner Urheberschaft gewahr zu sein. Kein anderes Organ des Körpers und keine mechanische Vorrichtung verfügt über diese Besonderheiten. Wenn wir nicht diese Eigenschaften des Gehirns ins Zentrum unserer (theoretischen und methodologischen) Bemühungen rücken, die Mechanismen zu ergründen, die dieses geheimnisvolle und wunderbare Organ steuern, werden wir es nie wirklich verstehen. Dies ist meine Vision von der Zukunft der Psychoanalyse. Als methodischer und theoretischer Ansatz mit Stärken wie auch Schwächen, der aus der außergewöhnlichsten Perspektive das Gehirn untersucht, die man nur beziehen kann, indem man mit ihm redet. Als eine Perspektive auf den Organismus, die nur das menschliche Gehirn ermöglicht, wird sie einen angemessenen, bescheidenen Platz in der Familie der Wissenschaften einnehmen. Dank der Fähigkeit des Gehirns, sein persönliches Funktionieren zu reflektieren und in Worte zu fassen, können wir besser v­ erstehen

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lernen, wie es sich von einer Maschine oder von einem nicht empfindungsfähigen Organ unterscheidet – und dadurch zu einem besseren Verständnis des Zwecks gelangen, den subjektive Gefühle und freier Wille erfüllen. Sich vorzustellen, dass wir das menschliche Verhalten jemals verstehen können, ohne zu begreifen, wie diese Aspekte des Gehirns funktionieren, wäre eine grobe Selbsttäuschung. All dies setzt natürlich voraus, dass wir die Barrieren einreißen, die noch immer die Psychoanalyse von anderen Wissenschaftsdisziplinen und insbesondere von den Neurowissenschaften trennen. Ebendies ist das erklärte Ziel der neuropsychoanalytischen Bewegung (www.neuro-psa.org). Gleichwohl stehe ich Bewegungen grundsätzlich ambivalent gegenüber. Ich bin nicht sicher, ob es klug von Freud war, aus der Psychoanalyse eine Bewegung zu machen. Ebenso wenig bin ich sicher, ob er ihr tatsächlich mehr genutzt als geschadet hat, indem er sie in Form der »Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung« (IPV) institutionalisierte. Sei’s drum – wir können es uns nicht länger leisten, als isolierte, Scheuklappen tragende Sekte betrachtet zu werden. Ist es wirklich möglich, dass dieses so verbreitete Bild jeder realen Grundlage entbehrt? Oder verhält es sich nicht etwa doch so, dass Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker oft nicht wissen, was sie nicht wissen, und nicht realisieren, dass sogar ihr Wissen über das Unbewusste nur begrenzt ist? Dass wir weit entfernt von jeder Allwissenheit sind und wenig Grund haben, uns selbstgefällig zurückzulehnen? Ich bin sicher nicht der Einzige, der sich bisweilen dafür schämt, sich als Psychoanalytiker zu bezeichnen – und dies nicht, weil ich ein Wissenschaftler und ein Mensch sein möchte, wie Freud einer war. Meiner Meinung nach sprechen gute Gründe dafür, zu der weniger rigide strukturierten Institutionalisierung unserer sogenannten Profession zurückzukehren, die für die Psychoanalyse der frühen Tage charakteristisch war. Zumindest dann, wenn wir eine verbindungsstiftende Interdisziplin wie die Neuropsychoanalyse zu begründen versuchen, müssen wir jungen Forscherinnen und Forschern realistische berufliche Perspektiven bieten. Dazu gehört eine Ausbildung in psychoanalytischen Methoden und Theorien, aber wir müssen sie nicht 10 Jahre lang darauf trainieren PsychoDentisten zu werden (wie mein Freund Riccardo Steiner uns nennt!).

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Vielleicht benötigen diese jungen Forscherinnen und Forscher nicht mehr als das, was die Pioniere und Pionierinnen unserer Disziplin besaßen: eine ein- oder zweijährige Erfahrung auf der Couch, eine gewisse klinische Erfahrung und eine umsichtig ausgewählte Einführung in unsere Literatur? Ich bin nicht sicher. Keinen Zweifel aber habe ich daran, dass es auch künftig notwendig sein wird, an die Ausbildung unserer Klinikerinnen und Kliniker die höchsten Anforderungen zu stellen, so wie es an unseren besten Ausbildungsinstituten in der Vergangenheit üblich war. Nun aber muss ich zum Schluss meiner Überlegungen kommen, bevor sie zu einem Manifest ausarten. Ich wiederhole meine frühere Schlussfolgerung: Freud ist nicht tot. Weit entfernt. Im Jahre des 150. Jubiläums seines Geburtstags können wir mit Fug und Recht sagen, dass seine Ideen eine Renaissance erleben. Freud ist überall präsent, und besonders in den Neurowissenschaften betrachten wir sein Werk mit neuen Augen und stellen fest, dass es »nach wie vor das kohärenteste und intellektuell ergiebigste Verständnis der Psyche« repräsentiert, über das wir heute verfügen (Kandel, 1998). Abschließend aber müssen wir uns daran erinnern, dass es letztlich »nicht darum geht, Freud zu widerlegen oder ihn zu bestätigen, sondern dass es darauf ankommt, die Aufgabe zum Abschluss zu bringen« (Guterl, 2002, S. 63). Mir scheint, dass wir schließlich doch noch zu dem Projekt zurückkehren, das Freud in Angriff genommen hat, und uns noch einmal ernsthaft an der (wahrscheinlich unmöglichen) Aufgabe versuchen, es zu vollenden. Ich bin stolz auf die Rolle, die ich in dieser Entwicklung gespielt habe.

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Karl Friston

Ich bin – also denke ich

Vorbemerkungen »Wie lassen sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines l­ebenden ­Organismus vor sich gehen, durch die Physik und die C ­ hemie erklären?« Erwin Schrödinger (1944/1993, S. 20 f.)

Inwiefern tangiert Schrödingers Frage philosophische Behauptungen, so wie René Descartes’ berühmtes Theorem Cogito ergo sum (»Ich denke, also bin ich«)? Dieser Beitrag versucht, Denken innerhalb probabilistischer Annahmen zu fassen und dabei Bewusstsein mit probabilistischen Beschreibungen von Selbstorganisation – wie in statistischer Physik und dynamischer Systemtheorie üblich – in Verbindung zu setzen. Obwohl dieses Vorhaben auf den ersten Blick anspruchsvoll erscheinen mag, könnte es sich leichter gestalten als erwartet. Der Kunstgriff besteht darin, philosophische Begriffe – wie Ich denke und Ich bin – mit formalen Konstrukten – wie probabilistischer Inferenz und Implikationen, die sich aus der Existenz über erweiterte Zeitintervalle ergeben – zusammenzufügen. Kurz, wir beginnen bei der Überlegung, was es für ein System, wie eine Zelle oder ein Gehirn, bedeutet zu existieren. Mathematisch formuliert impliziert dies gewisse Eigenschaften, welche die Art definiert, wonach der Zustand solcher Systeme verändert werden muss, so wie Ergodizität; so muss beispielsweise jegliche Messung solcher Systeme über die Zeit konvergieren (Birkhoff, 1931). Wenn wir diese fundamentalen Eigenschaften im Kontext einer Trennung zwischen inneren und äußeren Zuständen annehmen, lässt sich aufzeigen, dass die inneren Zustände gleichwertig viel Quantität verringern wie in Bayes’scher Statistik. Das bedeutet, es ist stets möglich, ein bestehendes System zu interpretieren und probabilistische Rück-

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schlüsse über sein äußeres Milieu zu machen. Diese Erkenntnis stellt Descartes’ Theorem formell auf den Kopf; nämlich die Annahme: Ich bin [ergodisch], also denke ich. Wenn ein System indes denkt – im Sinne sich aktualisierender probabilistischer Annahmen –, welche Annahmen trifft es dann? Betrachten wir die einzige selbstkonsistente (Vor-)Annahme, nämlich Ich denke, also bin ich [ergodisch]. Diese Vorannahme ist formell gleichbedeutend mit der Unsicherheitsreduktion in Bezug auf (äußere) Ursachen sensorischer Zustände, die zwischen äußeren und inneren Zuständen eingreifen. Hierin besteht die Unabdingbarkeit, die sowohl wissenschaftliche Hypothesentestung als auch aktive Wahrnehmung lenkt (Helmholtz, 1866/1962; Gregory, 1980; O ­ ’Regan u. Noë, 2001; Wurtz, McAlonan, Cavanaugh u. Berman, 2011). Außerdem liefert dies eine gute Perspektive auf die aktive Erfassung unseres Sensoriums, welche davon ausgeht, dass Wahrnehmungsprozesse mit der Bayes’schen Annahmenaktualisierung (Dayan, Hinton u. Neal, 1995) – einer Dynamik, die von den grundlegenden Prinzipien der Selbstorganisation abgeleitet werden kann – in Verbindung gebracht werden können. Um diese Argumente anschaulicher zu machen, werden wir ein Beispiel aktiver Inferenz betrachten, wobei Simulierungen, die zuvor in Friston, Adams, Perrinet und Breakspear (2012) beschrieben wurden, genutzt werden. Der vorliegende Beitrag umfasst drei Teilabschnitte. Der erste Teil bezieht sich auf zwei aktuelle Entwicklungen über formelle Betrachtungen der Selbstorganisation. Es handelt sich bei der ersten um eine Anwendung Bayes’scher Inferenz und verleiblichter (engl. Embodied) Wahrnehmung im Gehirn (Friston, Kilner u. Harrison, 2006). Die zweite stellt einen Versuch dar, das Wesen von Selbstorganisation in zufälligen dynamischen Systemen zu verstehen (Ashby, 1947; Haken, 1983; Maturana u. Varela, 1980; Nicolis u. Prigogine, 1977; Schrödinger, 1944/1993). Dieses Material wurde bereits zuvor präsentiert (Friston, 2013) und hat, obwohl es eher technisch erscheinen mag, einige relativ einfache Implikationen. Die Prämisse dabei ist, dass biologische Selbstorganisation geradezu unvermeidlich ist und sich als eine Form aktiver Bayes-Inferenz manifestiert. Bereits zuvor haben wir vorgeschlagen (Friston, 2013), dass Ereignisse »innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebenden Organismus« (Schrödinger, 1944/1993) durch die bloße Existenz

Ich bin – also denke ich

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einer Begrenzung oder einer Hülle entstehen könnten und dass eine (Markov-)Hülle (engl. Markov blanket) innerhalb der räumlichen Verknüpfung zwischen dynamischen Systemen unausweichlich sein könnte. Wir werden sehen, dass die bloße Existenz einer MarkovHülle bedeutet, dass man die Selbstorganisation internaler Zustände im Sinne von Bayes-Inferenz über äußere Zustände interpretieren kann. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich näher mit dem Wesen der Bayes-Inferenz, im Sinne von Vorannahmen, die mit einem System in Zusammenhang stehen, das Dispersion (Entropie) äußerer Zustände durch Handlungen minimiert. Wir werden sehen, dass diese Vorannahmen zu einer Vorab-Erfassung des Sinnesapparats führt, welcher darum bemüht ist, Unsicherheit über Hypothesen zu minimieren, die durch innere Zustände formuliert wurden. Im letzten Teilabschnitt werden diese Konzepte anhand Simulationen sakkadischer Suchbewegungen illustriert, um das Wesen aktiver Inferenz zu bestimmen. Dieser Teil umfasst eine kurze Beschreibung der Vorannahmen eines Akteurs in Bezug auf die kausale Struktur seiner visuellen Welt und wie diese Welt erfasst würde, um Unsicherheit zu minimieren. Letztlich werden die Ergebnisse simulierter sakkadischer Augenbewegungen und damit einhergehender Inferenz beschrieben, mit einem besonderen Fokus auf der Auswahl von Annahmen und Hypothesen, die von unserem enaktiven Gehirn gestaltet werden.

Ich bin, also denke ich Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der grundlegenden Theorie über die Selbstorganisation ergodisch schwach mischender, zufälliger dynamischer Systeme, um zu zeigen, dass diese immer im Sinne aktiver Modellierung oder Inferenz interpretiert werden können. Dies ist deshalb so wichtig, da es zu Schlussfolgerungen führt, die gänzlich konsistent mit dem good regulator theorem (jeder gute Regulator ist ein Modell seiner Umwelt) und verwandten Ansichten über Selbstorganisation sind (Ashby, 1947; Nicolis u. Prigogine, 1977; van Leeuwen, 1990; Maturana u. Varela, 1980). Es bedeutet

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außerdem, dass es eine direkte Bayes’sche Interpretation jedweder selbstorganisierter Dynamiken in einem System, das im ergodischen Sinne existiert, gibt. Was nun folgt, ist eine Zusammenfassung des Materials aus Friston (2013).

Ergodische Wahrscheinlichkeitsdichten und Flüsse Wir beginnen bei der Überlegung, dass jegliches ergodisch schwach mischendes, zufälliges und dynamisches System mittels stochastischer Differenzialgleichungen wie folgt beschrieben werden kann: x˙ = f (x) + w(1) Hier ist der Fluss von Zuständen f (x) zufälligen Fluktuationen w ausgesetzt. Da das System ergodisch und schwach mischend ist, wird es – nach einem bestimmten Zeitraum – zu einer invarianten Zustandsmenge konvergieren, welche Pullback oder random global attractor genannt wird (Crauel u. Flandoli, 1994; Crauel, 1999). Die zugehörige ergodische Wahrscheinlichkeitsdichte p(x | m) für jedes System oder Modell m ist die Lösung aus der Fokker-Planck-Gleichung (Frank, 2004), welche die zeitliche Entwicklung der Informationsdichtewahrscheinlichkeit über Zustände beschreibt: p˙(x | m) =   ∙ (Γ  − f)p(2) Hierbei ist der Diffusions-Tensor Γ die Hälfte der Kovarianz (Amplitude) zufälliger Fluktuationen. Gleichung (2) zeigt, dass die ergodische Wahrscheinlichkeitsdichte vom Fluss abhängt, welcher immer in Form rotations- und divergenzfreier Komponenten ausgedrückt werden kann. Dies ist die Helmholtz-Dekomposition (auch bekannt als fundamentales Theorem der Vektoranalysis) und kann in Form einer antisymmetrischen Matrix Q(x) = −Q(x)T und eines Gradientenfeldes L(x) formuliert werden, die die Rolle einer Lagrangi­anischen Funktion einnimmt (Ao, 2004): f (x) = (Q − Γ)  L(x)(3)

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Unter Anwendung dieser Standardform (Yuan, Ma, Yuan u. Ao, 2014) ist es einfach zu demonstrieren, dass p(x˜ | m) = exp(− L(x)) die Lösung der oben angeführten Fokker-Planck-Gleichung ist (Friston u. Ao, 2012). Das bedeutet, der Fluss kann in Form ergodischer Wahrscheinlichkeitsdichte ausgedrückt werden: f (x˜) = (Q − Γ)  ln p(x | m)(4)   

Dies ist ein wichtiges Ergebnis, denn es zeigt, dass der Fluss einerseits in eine Komponente, die in Richtung von Regionen mit höherer ergodischer Wahrscheinlichkeitsdichte fließen (die rotationsfreie Komponente), und andererseits in eine orthogonale (divergenzfreie) Komponente zergliedert werden kann, welche auf Isolinien der ergodischen Wahrscheinlichkeitsdichte zirkulieren. Diese Komponenten sind wie eine Bergaufwanderung und eine Wanderung um den Fuß eines Hügels. Zusammenfassend gesagt kann jedes ergodische stochastische dynamische System als ein auf Umwegen stattfindender Anstieg der Log-Likelihood-Funktion der Zustände, die eingenommen werden, formuliert werden. Später werden wir die Likelihood-Funktion in einem statistischen Sinne interpretieren und sehen, dass jedes zufällige, dynamische System so verstanden werden kann, als vollführe es eine Selbstinterpretation.

Systeme und Markov-Hüllen Wenn wir über ein System sprechen, welchem es möglich ist, abgesondert von seiner Umwelt zu existieren, nehmen wir bedingungslos die Vorstellung einer Markov-Hülle in Anspruch. Eine Markov-Hülle ist eine Zustandsmenge, die zwei andere Mengen in statistischer Hinsicht voneinander trennt. Der Begriff MarkovHülle wurde im Zusammenhang von Bayes’schen Netzwerken oder Graphen eingeführt (Pearl, 1988) und bezieht sich auf Kinder(-knoten) einer Menge (die Menge der Zustände, die beeinflusst werden), seine Eltern(-knoten) (die Menge an Zuständen, die es beeinflussen) und die Eltern(-knoten) der Kinder(-knoten).

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Eine Markov-Hülle erzeugt eine Aufteilung von Zuständen in internale und äußere Zustände, die durch die Markov-Hülle von den internalen Zuständen verborgen oder maskiert (isoliert) werden. Zum Beispiel mag die Oberfläche einer Zelle eine Markov-Hülle erzeugen, die intrazelluläre (innere) und extrazelluläre (äußere) Zustände voneinander abtrennt (Auletta, 2013; Friston, 2013). Statistisch gesprochen können äußere Zustände nur indirekt über innere Zustände gezeigt werden, und zwar durch die Markov-

Externale Zustände

Internale Zustände

Sensorische Zustände

Externale Zustände

Internale Zustände

Aktive Zustände

Abbildung 1: Markov-Hüllen und das Freie-Energie-Prinzip. Diese Schemata illustrieren die Aufteilung von Zuständen in innere Zustände und äußere Zustände, welche durch eine Markov-Hülle voneinander separiert werden – einschließlich sensorischer und aktiver Zustände. Die obere Illustration zeigt diese Aufteilung, wie sie innerhalb einer Zelle angelegt sein könnte: Innere Zustände können mit intrazellulären Zuständen der Zelle assoziiert werden, während sensorische Zustände zu Oberflächenzuständen oder zur Zellmembran werden, welche die aktiven Zustände überlagern (z. B. die Aktinfilamente des Cytoskeletts). Die untere Illustration zeigt die gleichen Abhängigkeitsverhältnisse, lediglich neu angeordnet, sodass sie zu Handlungen und Wahrnehmungen innerhalb des Gehirns in Verbindung gesetzt werden können: Aktive und innere Zustände minimieren ein Funktional freier Energie sensorischer Zustände. Die darauffolgende Selbstorganisation entspricht dann der Wahrnehmung, während Handlung Gehirnzustände zu äußeren Zuständen zurückführt. Siehe auch Tabelle 1 für eine Definition der Variablen.

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Hülle. Die Markov-Hülle selbst kann in zwei Mengen aufgeteilt werden, welche Kinder(-knoten) der äußeren Zustände sind und gleichzeitig nicht sind. Wir werden uns hierauf im Folgenden als Oberfläche oder sensorische Zustände beziehungsweise aktive Zustände beziehen. Einfach ausgedrückt, die Existenz einer MarkovHülle S × A impliziert eine Aufteilung in äußere, sensorische, aktive und innere Zustände: x   X = Ψ × S × A × R wie in Abbildung 1 zu sehen ist. Tabelle 1: Definitionen der Tupeln (Ω, Ψ, S, A, R, p, q), die der aktiven Inferenz zugrunde liegen

Ein Ergebnisraum Ω, aus dem zufällige Fluktuationen w ∊ Ω gezogen werden Äußere Zustände Ψ: Ψ x A x Ω → ℝ – Zustände der Welt, die sensorische Zustände verursachen und vom Handeln abhängen Sensorische Zustände S: Ψ x A x Ω → ℝ – Die Wahrnehmungen eines ­ kteurs, die eine probabilistische Zuordnung von Handeln und äußeren A Zuständen ermöglichen Handlungszustände A: S x R x Ω → ℝ – Das Handeln eines Akteurs, das von seinen sensorischen und inneren Zuständen abhängt Innere Zustände R: R x S x Ω → ℝ – Repräsentative Zustände des Akteurs, die von sensorischen Zuständen abhängen und Handeln verursachen Ergodische Wahrscheinlichkeitsdichte p(ψ, s, a, r | m) – eine Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion über äußere ψ ∊ Ψ, sensorische s ∊ S, Handlungs- a ∊ A und innere Zustände r ∊ R für ein System oder Modell m Variierende Informationsdichte q(ψ | r) – eine arbiträre Wahrscheinlichkeits­ dichtefunktion über äußere Zustände, die von inneren Zuständen parame­ trisiert werden

Äußere Zustände verursachen sensorische Zustände, welche innere Zustände beeinflussen (aber nicht von diesen beeinflusst werden), während innere Zustände aktive Zustände verursachen, welche äußere Zustände beeinflussen (aber wiederum nicht von diesen beeinflusst werden). Entscheidend ist, dass die Abhängigkeitsverhältnisse, die durch die Markov-Hüllen induziert werden, eine zirkuläre Kausalität erzeugen, welche an diejenige des Wahrnehmungs- und Handlungszyklus erinnert (Fuster, 2004). Diese zirkuläre Kausalität bedeutet, dass äußere Zustände Veränderungen in inneren Zuständen – via sensorischer Zustände – bedingen, wäh-

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rend die inneren Zustände auf die äußeren Zustände durch aktive Zustände rückwirken. Nach dieser Differenzierung können wir die Abhängigkeiten zwischen den Zuständen betrachten, die von den Markov-Hüllen impliziert werden, und zwar im Sinne ihres Flusses. Der Fluss durch jedweden Punkt (s, a, r) im Zustandsraum der inneren Zustände und ihrer Markov-Hüllen ist (Friston, 2013): fr (s, a, r) = (Γ − Q) r ln p(s, a, r |m) fa (s, a, r) = (Γ − Q) a ln p(s, a, r |m)

(5)

Hierdurch wird ersichtlich, dass der Fluss der inneren und aktiven Zustände einen Gradientenaufstieg marginaler ergodischer Wahrscheinlichkeitsdichte über innere Zustände und ihre Markov-Hüllen vollführt. Es handelt sich um marginale Wahrscheinlichkeitsdichte, da wir die äußeren Zustände ausgeschlossen haben. Das bedeutet, die inneren und aktiven Zustände verhalten sich so, als kannten sie die Verteilung über äußere Zustände, welche notwendig wäre, um die Marginalisierung durchzuführen. Mit anderen Worten, die inneren Zustände werden erscheinen, als antworteten sie auf sensorische Fluktuationen, die auf (nachträglichen) Annahmen in Bezug auf zugrunde liegende Fluktuationen innerhalb äußerer Zustände basieren. Wir können diese Idee nun in eine Form bringen, indem wir diese Annahmen mit einer Wahrscheinlichkeitsdichte äußerer Zustände q(ψ | r) in Verbindung setzen, die durch innere Zustände kodiert (parametrisiert) wird: Lemma (freie Energie): Für jedes zufällige dynamische System mit einer Markov-Hülle und Lagrangianischer Funktion L(x) = − ln p(ψ, s, a, r) existiert eine freie Energie F(s, a, r), welche den Fluss innerer und aktiver Zustände im Sinne eines generalisierten Abstiegs beschreibt: fr(s, a, r) = (Q − Γ) r F fa(s, a, r) = (Q − Γ) aF F(s, a, r) = Eq[L(x)] − H[q(ψ | r)]

(6)

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Ich bin – also denke ich

Diese freie Energie ist eine Funktion einer variierenden Wahrscheinlichkeitsdichte q(ψ | r) – parametrisiert durch innere Zustände –, die der erwarteten Lagrangianischen Funktion minus der Entropie der variierenden Wahrscheinlichkeitsdichte entspricht. Beweis: Wird der Satz von Bayes angewandt, können wir den Ausdruck für freie Energie in Form der Kullback-Leibler-Divergenz umformulieren (Beal, 2003): F(s, a, r) = −ln p(s, a, r | m) + DKL [q(ψ | r) || p(ψ | s, a)](7) Wenn q(ψ | r) = p(ψ | s, a), dann verschwindet der Divergenz-Begriff und wir entdecken den ergodischen Fluss aus Gleichung (5): fr (s, a, r) = (Γ − Q) r ln p(s, a, r |m) fa (s, a, r) = (Γ − Q) a ln p(s, a, r |m)

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Mit anderen Worten, der ergodische Fluss gewährleistet, dass die variierende Wahrscheinlichkeitsdichte die nachträgliche Wahrscheinlichkeitsdichte ist. So repräsentiert die variierende Wahrscheinlichkeitsdichte die verborgenen Zustände in einem optimalen Bayes’schen Sinne W. Anmerkungen: Dieser Beweis verdeutlicht lediglich, dass wenn innere Zustände als parametrisierende Bayes’sche Annahmen über äußere Zustände interpretiert werden, die Dynamiken innerer und aktiver Zustände als ein absteigender Gradient auf einer variierenden, freien Energie-Funktion innerer Zustände und dessen Markov-Hülle beschrieben werden können. Variierende freie Energie wurde von Feynman eingeführt, um schwierige Marginalisierungsprobleme bei Pfadintegralformulierungen im Rahmen von Quantenphysik zu beheben (Feynman, 1972). Dies ist auch die freie Energie-Begrenzung, die ausgiebig bei approximativer Bayes’scher Inferenz genutzt wird (Beal, 2003; Hinton u. van Camp, 1993; Kass u. Steffey, 1989). Der Ausdruck für freie Energie in Gleichung (7) offenbart seinen Bayes’schen Sinn: Der erste Ausdruck ist die negative Log-Evidenz oder marginale Wahrscheinlichkeit der inneren Zustände und ihrer Markov-Hülle. Der zweite Ausdruck stellt eine relative Entropie- oder Kullback-Leibler-Divergenz (Kullback

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u. Leibler, 1951) zwischen der variierenden Wahrscheinlichkeitsdichte und der nachträglichen Wahrscheinlichkeitsdichte äußerer Zustände dar (z. B. die Ursachen sensorischer Zustände). Weil diese Divergenz nicht kleiner als Null sein kann, scheint es so, dass der innere Fluss die Divergenz zwischen der variierenden und nachträglichen Wahrscheinlichkeitsdichte minimiert hat. Mit anderen Worten erscheint es so, dass die inneren Zustände das Problem Bayes’scher Inferenz durch die Verschlüsselung nachträglicher Annahmen hinsichtlich der Ursachen ihrer sensorischen Zustände gelöst haben – unter Anwendung eines generativen Modells, das durch die Lagrangianische Funktion geliefert wird. Dies bezeichnet man als exakte Bayes’sche Inferenz, weil die variierenden und nachträglichen Wahrscheinlichkeitsdichten identisch sind. Später werden wir approximative Formen (unter der Annahme von Laplace) betrachten, die zu approximativer Bayes’scher Inferenz führen. Kurzum, es wird so erscheinen, dass die inneren Zustände an Bayes’scher Inferenz beteiligt sind, aber was ist mit der Handlung? Da die Abweichung in Gleichung (7) niemals kleiner als Null sein kann, handelt es sich bei freier Energie um eine obere Begrenzung der negativen Log-Evidenz. Nun haben wir, weil das System ergodisch ist (expected surprise: erwartete Überraschung; entropy: Entropie): F(s, a, r) ≥ −ln p(s, a, r | m) →(9) Et[F(s, a, r)] ≥ Et[−ln p(s, a, r | m)] = H[p(s, a, r | m)] expected surprise

entropy

Das bedeutet, Handlung wird (durchschnittlich) so erscheinen, dass sie eine obere Begrenzung für die Entropie der inneren Zustände und ihrer Markov-Hüllen anbringt. Zusammen mit der Bayes’schen Modellierungsperspektive ist dies konsistent mit dem good regulator theorem (Conant u. Ashby, 1970) und verwandten Beschreibungen von Selbstorganisation (Ashby, 1947; Nicolis u. Prigogine, 1977; Friston u. Ao, 2012; van Leeuwen, 1990; Pasquale, Massobrio, Bologna, Chiappalone u. Martinoia, 2008). Diese Verfahren betonen die homöostatische Natur von Selbstorganisation, welche

Ich bin – also denke ich

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innere Zustände innerhalb physiologischer Grenzen aufrechterhält. Dieser charakteristische Widerstand gegen die Ausbreitung innerer Zustände unterliegt der besonderen Fähigkeit belebter Systeme, dem zweiten Gesetz der Thermodynamik zu widerstehen – oder genauer gesagt, dem Fluktuationstheorem (Evans u. Searles, 1994). Weiterhin, wie schon an anderer Stelle gezeigt wurde (Friston, 2012; Friston, 2010), ist die Minimierung freier Energie konsistent mit informationstheoretischen Formulierungen über sensorische Verarbeitung und sensorisches Verhalten (Bialek, Nemenman u. Tishby, 2001; Barlow, 1961; Linsker, 1990). Letztlich zeigt Gleichung (7), dass die Minimierung freier Energie auch die Maximierung der Entropie variierender Wahrscheinlichkeitsdichte (oder nachträglicher Unsicherheit) in Übereinstimmung mit dem Maximum-EntropiePrinzip (Jaynes, 1957) mit sich bringt. Die Maximierung nachträglicher Unsicherheit mag seltsam erscheinen, aber sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Bayes’schen Inferenz – welche eng mit dem Laplace’schen Indifferenzprinzip und Ockhams Rasiermesser (engl. Oackham’s razor) verbunden ist. Ein interessanter Aspekt der Formulierung über freie Energie besteht darin, dass innere Zustände Annahmen in Bezug auf die Konsequenz von Handlung kodieren. Mit anderen Worten, innere Zustände sind nur dazu in der Lage, Handlung durch ihre sensorischen Konsequenzen abzuleiten – in dem gleichen Sinne, in dem wir unserer Bewegungen an sich nicht bewusst sind, lediglich ihrer Folgen. Das erzeugt eine wichtige Differenzierung zwischen Handlung und (approximativer nachträglicher) Annahmen über ihre Konsequenzen, welche durch die inneren Zustände kodiert werden. Aus unserer derzeitigen (existenziellen) Perspektive muss diese statistische Interpretation ergodischen Verhaltens etwas ziemlich Tiefsinniges sagen: Da innere Zustände probabilistische Annahmen kodieren, wird die Freie-Energie-Funktion innerer Zustände nun zu einem Freie-Energie-Funktional (die Funktion einer Funktion) einer Wahrscheinlichkeitsverteilung. Dies ist bemerkenswert, weil der Fluss (materieller) Zustände also zu einem Funktional (immaterieller) probabilistischer Annahmen wird. Das setzt das Physische (Zustände oder res extensa) auf interessante Weise in Verbindung mit dem Geistigen (Annahmen oder res cogitans). Eine andere

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Karl Friston

Perspektive auf diese Brücke zwischen der cartesianischen Teilung besteht darin, dass das Freie-Energie-Lemma oben eine (im weiten Sinne) Verbindungsrealisierung bereitstellt (Wilson, 2001; Gillet, 2002). Mit anderen Worten, der implizite Prozess der Inferenz erfordert eine einzigartige Zuordnung zwischen biophysikalischen Zuständen (inneren Zuständen) und den Eigenschaften (probabilistische Annahmen), die sie realisieren (vgl. Bechtel u. Mundale, 1999; siehe Abbildung 2). Wahrscheinlichkeit und Vorannahmen

Funktional freier Energie

res cogitans (Annahmen)

Annahmenproduktion

Nachträgliche Annahmen

Funktional freier Energie

res extensa (extensiver Fluss)

»Ich bin [ergodisch], deshalb denke ich«

Annahmenproduktion

res extensa (extensiver Fluss)

»Ich denke [ich bin ergodisch], also bin ich [ergodisch]«

Abbildung 2: Materielle und immaterielle Aspekte ergodischer Dynamiken. Linke Illustration: Dieses Schema verdeutlicht die Beziehung zwischen dem (ergodischen) Fluss biophysikalischer Zustände, welche von einem Freien-Energie-Funktional einer Wahrscheinlichkeitsdichte beschrieben werden. Die (variierende) Wahrscheinlichkeitsdichte stimmt mit nachträglichen Annahmen über äußere Zustände, die sensorische Zustände verursachen, überein. Besonders wichtig erscheint hier die Tatsache, dass eine bedeutende Kopplung zwischen dem (materiellen) Fluss und den (immateriellen) Annahmen existiert, welche durch den Fluss realisiert (verursacht) werden und den Fluss realisieren (verursachen). Rechte Illustration: Das gleiche Schema wurde herangezogen, um den Umstand zu verdeutlichen, dass das Freie-­Energie-Funktional sowohl von nachträglichen als auch von Vorannahmen abhängt, die dem generativen Modell (oder dem Lagrangianischen Fluss) inhärent sind. Darüber hinaus basieren diese Vorannahmen selbst nur auf nachträglichen Annahmen (durch ihre Unsicherheit oder Entropie), wobei eine zusätzliche Schicht probabilistischen Bootstrappings hinzugefügt wird. Die maßgebende Differenz zwischen der linken und rechten Illustration ist darin zu sehen, dass der (materielle) Fluss des Systems nun durch (immaterielle) Vorannahmen hinsichtlich der Natur dieses Flusses bestimmt wird und dementsprechend andeutet, dass man die Dynamiken belebter Systeme als von Annahmen ihres eigenen Verhaltens bestimmt interpretieren kann.

Ich bin – also denke ich

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Im nächsten Abschnitt berücksichtigen wir die Natur dieser Annahmen in einem etwas detaillierteren Maßstab hin zu einer expliziteren Realisierung von Annahmen im Kontext aktiver Inferenz und Bayes’scher Annahmeaktualisierung (engl. Bayesian belief updating).

Ich denke, also bin ich Der vorherige Abschnitt wies nach, dass (ergodische) Systeme mit Maßen, die über die Zeit zusammenlaufen, in gewisser Weise mit probabilisitschen Annahmen ausgestattet sind, welche durch ihre inneren Zustände kodiert werden. Jedenfalls differenziert diese Formulierung nicht zwischen der Art der Systeme (oder ihrer Markov-Hüllen), die über die Zeit auftreten – oder der Natur der anziehenden Menge an Zuständen, welche sie mit einem kenntlichen Phänotyp ausstatten. Diese anziehende Menge oder der zufällige dynamische Attraktor kann dabei in großem Ausmaß strukturiert und raumfüllend sein, jedoch ein geringes Volumen oder eine geringe Entropie behalten (Freeman, 1994) – ähnlich wie der Zyklus der Zustände, den wir in unserer alltäglichen Routine ausfindig machen können. Umgekehrt könnte die anziehende Menge eine große Anzahl an Zuständen mit einem gestaltlosen (hohen Volumen oder hoher Entropie) Attraktor umfassen. Innerhalb dieses Abschnitts versuchen wir das Auftauchen strukturierter anziehender Mengen, die für belebte Systeme – wie unserem eigenem – charakteristisch sind, zu erklären, indem wir die Modellierungsinterpretation ergodischen Flusses nutzen. Dazu folgender Beweis: Lemma: Die inneren Zustände jedes ergodischen Systems, das mit einer Markov-Hülle und einem Attroktor geringen Maßes (oder einer ergodischen Wahrscheinlichkeitsdichte geringer Entropie) ausgestattet ist, müssen annehmen, dass sie einen Attraktor geringen Maßes besitzen. Beweis: Der Beweis erfolgt durch Reductio ad absurdum. Das Freie-Energie-Lemma beweist die Existenz einer Lagrangianischen Funktion, welche die Rolle eines probabilistisch-generativen Modells für die äußeren Zustände eines Systems spielt. Dieses Modell bedingt (Vor-)Annahmen des Systems, welche die Handlung bestimmen,

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Karl Friston

während Handlung den Fluss erzeugt, der von der Lagrangianischen Funktion beschrieben wird. Wenn nun die Annahmen, die durch die Lagrangianische Funktion bedingt werden, kein geringes Maß an Anziehungsmengen beinhalten, dann kann jedwede Handlung, die ein geringes Maß an Anziehungsmenge bewahrt, nicht durch die Lagrangianische Funktion beschrieben werden. Das bedeutet, das System kann nicht ergodisch sein (weil es das Freie-Energie-Lemma verletzt) und wird sich nach einer hinreichenden Zeitspanne W auflösen. Anmerkungen: Diese Beweisführung stützt sich auf die zirkuläre Kausalität, welche der Zuordnung zwischen probabilistischen Beschreibungen (Annahmen) und biophysikalischen Dynamiken (Fluss) inhärent ist. Mit anderen Worten, Handlung ist eine Komponente des Flusses, welcher eine ergodische Wahrscheinlichkeitsdichte mit einer zugehörigen Lagrangianischen Funktion herbeiführt. Diese Lagrangianische Funktion bedingt Annahmen, die Handlungen beschreiben. Einfach ausgedrückt muss das physikalische Verhalten eines ergodischen Systems mit seinen Annahmen konsistent sein. Das bedeutet, es ist gänzlich vertretbar, innere Zustände (enkodierte Annahmen) als Autoren ihrer eigenen Existenz anzusehen – wo diese Annahmen durch Handlung erfüllt werden. Dies hängt natürlich von einer gewährenden Umwelt ab, die den Annahmen eine wahrheitsgetreue Beschreibung dieser erfassten Umwelt ermöglicht. Dieser gewährende Aspekt betont die Ko-Evolution von Akteuren und ihrer erfassten Umwelt, welche für immer in einer existenziellen Allianz miteinander verbunden sind. Im Folgenden werden wir diesen Beweis detaillierter durcharbeiten, indem wir uns die Annahmen, welche die Systeme oder Akteure unterhalten mögen, genauer anschauen. In der jetzigen Ausgestaltung sind Annahmen Verteilungen, welche freie Energie definieren; dies beschreibt den Fluss innerer Zustände und Handlungen (Gleichung (6)). Wir haben bereits gesehen, dass nachträgliche Annahmen mithilfe innerer Zustände kodiert werden. Dennoch ist freie Energie auch durch die Lagrangianische Funktion oder das probabilistisch-generative Modell definiert. Wir können dieses Modell in Hinsicht auf seine Wahrscheinlichkeit und Vorannahmen auf folgende Weise darstellen (likelihood: Wahrscheinlichkeit; empirical priors: empirische Vorannahmen; full priors: Gesamtheit an Vorannahmen; posterior uncertainty: nachträgliche Unsicherheit):

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Ich bin – also denke ich

F = Eq [−ln p(s˜ | ψ˜v , ψ˜u , a˜, r˜) − ln p(ψ˜v | ψ˜u) − ln p(ψ˜u | a˜ ) −  likelihood



empirical priors empirical priors

ln p(a˜ , r˜ | m) − H[q(ψ˜ | r˜)] full priors

posterior uncertainty

(10)

Hierbei wurden die äußeren Zustände Ψ = Ψv × Ψu in verborgene und Kontrollzustände differenziert. Kontrollzustände sind die Konsequenzen von Handlung und im generativen Modell bestimmen sie die Evolution verborgener Zustände. Gleichung (10) führt auch eine ~ über Zustände an, um ihre Bewegung, Beschleunigung und so weiter zu verzeichnen, sodass x˜ = (x, x΄, …) ist. Das erlaubt uns, Wahrscheinlichkeiten über den Fluss oder Trajektorien der Zustände als ihrem momentanen Wert entgegengesetzt zu erwägen. Wie oben ist die freie Energie die erwartete Lagrangianische Funktion (Energie) minus die Entropie der nachträglichen Annahmen. Dennoch wurde hierbei die Lagrangianische Funktion in Wahrscheinlichkeit, empirische Vorannahmen und die Gesamtheit aller Vorannahmen faktorisiert. Die Wahrscheinlichkeit ist einfach die Eintrittswahrscheinlichkeit einiger sensorischer Zustände bei gegebenen Ursachen, während empirische Vorannahmen Wahrscheinlichkeitsverteilungen über verborgene Zustände bei gegebenen Kontrollzuständen und Kontrollzustände diese bei gegebener Handlung sind. Die Gesamtheit aller Vorannahmen ist über Handlung und innere Zustände verteilt und spielt für das Folgende keine Rolle. Empirische Vorannahmen sind ein technischer Ausdruck, welche Komponenten eines (hierarchischen) generativen Modells bezeichnen, die zwischen der Wahrscheinlichkeit und der Gesamtheit aller Vorannahmen »eingeschoben« sind. Diese Komponenten des generativen Modells sind in den Systemdynamiken eingebunden. Mit anderen Worten: Sie stellen die Lagrangianische Funktion dar, deren Erwartung, unter nachträglichen Annahmen, die marginale Wahrscheinlichkeitsdichte erzeugt, welche den Fluss in Gleichung (5) beschreibt. In diesem Sinne drückt das generative Modell Vorannahmen über die Evolution verborgener und Kontrollzustände aus und wie diese Zustände das Empfindungsvermögen in einem probabilistischen Sinn erzeugen. Die Vorannahmen betreffen die Konsequenzen der Handlung – durch

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Karl Friston

die Minimierung freier Energie mithilfe von Handlung – und stellen selbsterfüllende Annahmen über die Folgen von Verhalten dar. Welche Form können diese Annahmen also annehmen? Wenn wir uns irgendein System oder einen Akteur vorstellen, welches oder welcher sich an seine Umwelt angepasst (oder diese umgearbeitet) hat, dann wird seine ergodische Wahrscheinlichkeitsdichte eine geringe Entropie besitzen, welche nach oben durch das Ausmaß oder Volumen seines zufälligen dynamischen Attraktors begrenzt wird (Friston, 2012). Mit anderen Worten, es wird sich auf seine Umwelt auf eine strukturierte und organisierte Weise einlassen und anziehende Mengen von Zuständen schrittweise immer wieder aufsuchen. In rechenbasierter Biologie und Physik ist dies als ein nonequilibrium steady state bekannt (­Jarzynski, 1997; Tomé, 2006). Man kann die Entropie der ergodischen Wahrscheinlichkeitsdichte durch die Entropie der sensorischen Zustände (und ihrer Markov-Hüllen) und die Entropie der äußeren Zustände bei gegebenem Status der Markov-Hüllen beschreiben: H(Ψ, S, A, R) = H(S, A, R | m) + H(Ψ | S, A) (11) = Et[− ln p(s˜, a˜, r˜  | m)] + Et[H(Ψ | S = s˜, A = a˜)] expected surprise

expected uncertainty

Weil das System ergodisch ist, stimmen diese beiden Komponenten mit dem Verlauf der erwarteten Überraschung und der nachträglichen Unsicherheit überein. Überraschung ist nichts anderes als die negative logarithmische marginale Informationsdichte oder die Evidenz eines Bayes’schen Modells, das implizit vom ergodischen Fluss minimiert wird, während die erwartete Unsicherheit der Entropie der nachträglichen Verteilung über äußere Zustände entspricht. Obwohl diese Ausdrücke kompliziert erscheinen mögen, drücken sie dennoch etwas sehr Intuitives aus; nämlich, dass Akteure, die sich an die Umgebung angepasst haben, grundsätzlich von ihren sensorischen Wahrnehmungen nicht überrascht werden und sich über die Ursachen dieser Wahrnehmungen im Klaren sind. Dennoch gibt es hier ein Problem.

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Ich bin – also denke ich

Wie wir im vorigen Abschnitt erfahren haben, unterdrückt der ergodische Fluss nur die Überraschung und die Grenze freier Energie (Gleichung (9)). Das bedeutet, dass es nicht garantiert ist, dass die Ursachen einer Wahrnehmung immer eine geringe Entropie haben. Wir haben auch festgehalten, dass Handlungen nur die Entropie sensorischer Zustände und deren Markov-Hülle unterdrücken – nicht jedoch die Entropie äußerer Zustände. Anders formuliert könnten ergodische Systeme prinzipiell eine hohe Entropie aufweisen und sich in große Raumvolumina auflösen. Welche Eigenschaften oder welche Annahmen müssen Systeme mit geringer Entropie also besitzen? Eine einfache Antwort steckt in der Anerkennung der Tatsache, dass äußere Zustände vom Handeln abhängen. Also ist es hinreichend für einen Akteur, wenn er über die Vorannahmen (bedingt durch seine Kinetik, seine Vernetzung oder funktionelle Architektur) verfügt, dass seine Handlungen eine Umwelt mit geringer Entropie generieren. Einfach ausgedrückt: Äußere Zustände hängen vom Handeln ab, Handeln jedoch minimiert einzig die Überraschung. Daher müssen Akteure mit ergodischen Wahrscheinlichkeitsdichten von geringer Entropie Verteilungen mit hoher Entropie überraschend finden. Wir können das folgendermaßen formalisieren (prior surprise: vorherige Überraschung; posterior uncertainty: nachträgliche Unsicherheit; expected uncertainty: erwartete Unsicherheit): − ln p(ψ˜u | a˜ ) ∞ Et[H[p(ψ˜v | s˜, a˜)]] = Eτ[H[q(ψ˜v (t + τ) | r˜v(t), ψ˜u)]](12) prior surprise

posterior uncertainty

expected uncertainty

Dieser Ausdruck macht deutlich, dass die wahrscheinlichsten Kontrollzustände diejenigen sind, die die nachträgliche Entropie oder Unsicherheit über unbekannte Zustände in der Zukunft reduzieren. Dem generativen Modell eines Systems mit geringer Entropie ist also inhärent, dass es Vorannahmen darüber gibt, dass Kontrollzustände wahrscheinlich keine nachträgliche Unsicherheit erzeugen. Der Ausdruck rechts vom Gleichheitszeichen macht sich die Tatsache zunutze, dass die variierende Informationsdichte identisch ist mit der nachträglichen Wahrscheinlichkeitsdichte über unbekannte

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Zustände. Das bedeutet, dass seine Durchschnittszeit geschätzt werden kann, indem die Entropie von unbekannten zukünftigen Zuständen für jegliche Trajektorie von Kontrollzuständen evaluiert wird. Dieser inhärente Optimismus beinhaltet drei interessante technische Punkte. Zunächst ist es erwähnenswert, dass Vorannahmen eine Minimierung der Unsicherheit von nachträglichen Annahmen verursachen (Gleichung (12)), während nachträgliche Annahmen an sich danach streben, die nachträgliche Unsicherheit zu maximieren (Gleichung (6)). Das ruft eine Dialektik hervor, die nur dadurch aufzuheben ist, dass die sensorische Umgebung in einer Form wahrgenommen wird, die Unsicherheit unter Berücksichtigung des Laplace’schen Indifferenzprinzips minimiert. Zweitens ist es relevant, dass die nachträgliche Unsicherheit auf künftige Zustände ausgerichtet ist. Das bringt unmittelbar die aktive Schlussfolgerung der Antizipation und Planung ins Spiel, was wir im folgenden Abschnitt anhand antizipatorischer Augenbewegung zu illustrieren versuchen. Drittens haben wir eine einzigartige probabilistische Konstruktion, in der die Vorannahmen Funktionale von nachträglichen Annahmen sind und wo nachträgliche Annahmen wiederum von Vorannahmen abhängen. Diese zirkuläre Abhängigkeit ist im rechten Abschnitt von Abbildung 2 dargestellt und unterstreicht die (geistige) Kontrolle von äußeren Zuständen. Die zuvor erwähnten Vorannahmen sind Funktionen von Kontrollzuständen und Funktionale der Annahmen über zukünftige unbekannte Zustände. Die Unsicherheit oder Entropie, die diese Vorannahmen quantifizieren, kann als Salienz fiktiver Outcomes betrachtet werden, wobei ein salienter Outcome Unsicherheit (Entropie) auflöst, die mit den nachträglichen Annahmen über die Verursachung einer Wahrnehmung im Zusammenhang steht. In der unteren Illustration wird Salienz als Funktion dessen dargestellt, wo ein visuelles Bild erfasst wird: σ (ψ˜u) = −H[q(ψ˜v(t + τ) | r˜v(t), ψ˜u)]. Das führt zur Berechnung einer Salienzkarte, die die Vorannahmen über den Outcome der visuellen Erfassung bildet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Akteur der Autor seines eigenen Phänotyps sein kann – wenn wir die Lagrangianische Funktion interpretieren, die seine Dynamiken als Annahmen auslegt: genau genommen als Vorannahmen darüber, wie die sensorische

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Umwelt erfasst wird. Praktisch bedeutet das, dass man Selbstorganisation auf zwei verschiedene Arten simulieren kann. Zum einen könnte man Bewegungsgleichungen aufschreiben und das emergente (nonequillibrium steady-state) Verhalten untersuchen – das wiederum mit einer Lagrangianischen Funktion oder ergodischer Wahrscheinlichkeitsdichte beschrieben werden kann. Alternativ könnte auch die Lagrangianische Funktion aufgeschrieben und das gleiche Verhalten durch einen Steigungsgradienten der freien Energie simuliert werden. Der entscheidende Unterschied ist, dass man Verhaltensweisen im Sinne einer Lagrangianischen Funktion vorschreiben kann, die den Fluss beschreibt – in Umkehrung zur Beschreibung des Flusses, der die Lagrangianische Funktion vorschreibt. In diesem Sinne einer Vorschreibung des Verhaltens gemäß der Lagrangianischen Funktion, die auf Vorannahmen basiert, können wir Akteure als autopoietische Schriftsteller ihres verleiblichten Austauschs mit der Umwelt betrachten. Im nun folgenden letzten Abschnitt wollen wir diese Ausführungen anhand der aktiven visuellen Erfassung der Umwelt illustrieren und einige Phänomene demonstrieren, die dem bewussten und unbewussten Schlussfolgern sehr nahe kommen.

Simulation sakkadischer Suchbewegungen Im Folgenden wird die in Friston, Adams, Perrinet und Breakspear (2012) beschriebene Simulation sequenzieller Augenbewegungen wiedergegeben, um die Theorie des vorigen Abschnitts zu illustrieren. Sakkadische Augenbewegungen sind zur Beschreibung der aktiven Inferenz sehr nützlich, da sie visuelle Suchstrategien darstellen und von zahlreichen psychophysischen, neurobiologischen und theoretischen Studien untersucht wurden (so z. B. von Tatler, Hayhoe, Land u. Ballard, 2011; Wurtz, McAlonan, Cavanaugh u. Berman, 2011; Shires, Joshi u. Basso, 2010; Bisley u. Goldberg, 2010; Ferreira, Apel u. Henderson, 2008; Grossberg, Roberts, Aguilar u. Bullock, 1997; Srihasam, Bullock u. Grossberg, 2009). Zunächst konzentrieren wir uns dabei auf die grundsätzliche Phänomenologie sakkadischer Augenbewegungen, um Schlüsselelemente des oben beschriebenen Schemas der aktiven Schlussfolgerung zu illustrieren. Dieses Schema kann als formelles

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Karl Friston

Beispiel aktiven Sehens betrachtet werden (Wurtz et al., 2011), das im Jargon des Enaktivismus auch als visuelles Palpieren bezeichnet wird (O’Regan u. Noë, 2001). Eine zugängliche Einführung in die neurobiologischen Aspekte des P ­ redictive Codings findet sich bei Bastos und Kollegen (2012). Dieser Abschnitt soll zunächst die Produktion und Modellierung visueller Signale beschreiben. Dabei konzentrieren wir uns auf ein recht simples Paradigma (die Kategorisierung von Gesichtern), um darzustellen, inwiefern Vorannahmen jenes Verhalten beeinflussen, durch das ein generatives Modell konstituiert wird. Die Spezifizierung eines generativen Modells ermöglicht uns die Simulation selbstorganisierten Verhaltens, indem die Dynamiken äußerer Zustände, innerer Zustände und die von Markov-­Hüllen durch die Lagrangianische Funktion spezifiziert werden, welche Vorannahmen zur Unsicherheitsreduktion berücksichtigt. Anders ausgedrückt werden wir die Gleichungen für Bewegung (Gleichungen (1) und (6)) integrieren und die resultierenden Dynamiken interpretieren (siehe Abbildung 3 zur Form dieser Gleichungen): fψ(ψ˜, s˜, a˜) fs(ψ˜, s˜, a˜) x˙˜ = f(x˜) + w:  f(x˜) = (Q − Γ) ˜r F(s˜, a˜, r˜ ) (Q − Γ) a˜ F(s˜, a˜, r˜ )

(13)

Zur Durchführung der Simulationen fehlt jetzt noch die Spezifizierung der Gleichungen für Bewegung von inneren und äußeren Zuständen. Dazu muss das Wesen der Prozesse der Generierung sensorischer Wahrnehmungsmuster spezifiziert werden. Zusätzlich wird das Lagrangianische L(x˜) spezifiziert, das die freien Energien und die daraus resultierenden Dynamiken von Wahrnehmung und Bewegung determiniert. Anschließend wird die divergenzfreie Komponente des Flusses bestimmt, um die generalisierten Zustände unter Berücksichtigung ihrer generalisierten Bewegung zu aktualisieren: Q x˜ F = D ∙ x˜, wobei D ∙ x˜ = (x΄, x΄΄, …) ein Differenzialoperator ist (Friston, Stephan, Li u. Daunizeau, 2010). Ein interessantes Problem, das aus diesen Simulationen resultiert, ist, dass die äußeren Zustände, die die Wahrnehmungen generieren, nicht unbedingt die sind, die vom generativen Modell angenommen werden.

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Ich bin – also denke ich

Visuelle Erregnungen

Wahrscheinlichkeit

action

Empirische Vorannahmen Gesamtheit Vorannahmen

Propriozeption

Externale und sensorische Zustände

Salienzkarte

Generatives Modell externaler und sensorischer Zustände

Abbildung 3: Generative Modelle visueller Suche. Dieses Schema (linke Illustration) liefert die Gleichung von Bewegung, die sensorische Zustände erzeugt (in propriozeptiven und visuellen Kanälen). Visueller Input wird durch ein Bild erzeugt, das räumlich erfasst wird, indem ein bestimmter Punkt fokussiert wird – ein äußerer Zustand der Welt. Das generative Model (rechte Illustration) ergibt sich im Sinne von Wahrscheinlichkeit, empirischen Vorannahmen und der Gesamtheit an Vorannahmen. Die propriozeptive Wahrscheinlichkeit basiert auf einer ungenauen (engl. noisy) Version der erwarteten Augenposition, während der visuelle Input durch eine Zahl potenzieller Bilder oder Hypothesen generiert wird. Ihre relativen Gewichte sind (nicht negative) perzeptuelle, verborgene Zustände, deren Dynamiken gewährleisten, dass sie sich stets zu einer Gesamtheit summieren. Die Gesamtheit an Vorannahmen wird durch eine Salienzkarte (engl. map of salience) bestimmt, die sich der nachträglichen Sicherheit innerhalb der abgeleiteten verborgenen Zustände annähert (hier kodieren die perzeptuellen Zustände die konkurrierenden Bilder). Siehe Friston, Adams, Perrinet und Breakspear (2012) für weitere Details.

Der generative Prozess Bei diesen Simulationen werden sensorische Signale in zwei verschiedenen Modalitäten generiert – Propriozeption und Sehen. Propriozeption beschreibt das Zentrum des Blickes als Verschiebung von seinem ursprünglich irgendwie gearteten, äußeren Referenzrahmen. Visueller Input wird als eine Anordnung sensorischer Kanäle verstanden, die ein visuelles Ereignis in einem zweidimensionalen Bild erfasst (I: ℝ2 → ℝ). Dabei wird ein Raster von 16 × 16 Kanälen genutzt, um einen kleinen Bildausschnitt zu erfassen – die foveale Fixation. Um diesen Prozess biologisch realistischer zu gestalten, wurde jeder visuelle Kanal mit einem rezeptiven Feld ausgestattet,

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Karl Friston

welches gewichtete Informationen über das Zentrum und die Umgebung des Bildes bereithält. Der einzig variierende äußere Zustand Ψ ∈ ℝ2 beschreibt das Zentrum der okulomotorischen Fixierung, dessen Bewegung vom Handeln gesteuert wird (und mit einer zeitlichen Konstante von 16 Zeitpunkten à 12 ms vergeht). Dieser äußere Zustand bestimmt, wo die visuelle Szenerie erfasst wird. Alle propriozeptiven und visuellen Signale waren praktisch störungsfrei (engl. Noiseless), wobei zufällige Schwankungen eine logarithmische Genauigkeit von 16 aufwiesen. Die Bewegung des Fixationspunktes zeigte Schwankungen im Bereich niedriger Amplituden mit einer logarithmischen Genauigkeit von 8. Dieser Schritt vervollständigt unsere Beschreibung des Prozesses, der propriozeptive und visuelle Signale generiert. Nun wenden wir uns dem Modell dieses generativen Prozesses zu.

Das generative Modell Wie schon beim generativen Prozess werden propriozeptive Signale als eine ungenaue (engl. Noisy) Zuordnung äußerer propriozeptiver Zustände aufgefasst, welche die Blickrichtung enkodieren. Visueller Input wird modelliert als eine Mischung visueller Eindrücke, die an einem Ort erfasst werden, welcher durch den verborgenen propriozeptiven Zustand spezifiziert wird. Dieser verborgene Zustand geht mit einer Zeitkonstante von vier Zeitpunkten (48 ms) in einen verborgenen oder unbekannten Kontrollzustand über. In anderen Worten determiniert der verborgene Kontrollzustand den Ort der Blickrichtung in einer Art und Weise, die der equillibrium point-Hypothese für motorische Reflexe (Feldman u. Levin, 195) nicht unähnlich ist. Entscheidend ist, dass der visuelle Input in diesem Modell von mehreren Hypothesen oder inneren Bildern Ii: ℝ2 → ℝ : i ∊ {1, … N} abhängt, die für die Vorannahmen des Akteurs darüber, was seine Wahrnehmungen verursacht haben möge, konstitutiv sind. Der Input zu einem bestimmten Zeitpunkt ist eine gewichtete Mischung dieser inneren Bilder, wobei die Gewichtungen mit den verborgenen perzeptuellen Zuständen übereinstimmen. Die Dynamiken dieser perzeptuellen Zustände

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implementieren insofern eine Art dynamischer Softmax-Funktion, in dem Sinne, dass die Lösung der Bewegungsgleichungen immer eine Summe der Gewichtungen von 1 ergibt. Das bedeutet, dass die verborgenen perzeptuellen Zustände die (Softmax-)Wahrscheinlichkeit dafür angeben, dass das innere Bild mit dem Index i den visuellen Input verursacht. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass gegebene verborgene propriozeptive und visuelle Zustände den propriozeptiven und visuellen Input eines Akteurs vorhersagen können. Das generative Modell wird durch diese Vorhersagen und durch die Amplituden zufälliger Schwankungen spezifiziert, welche die vorherige Sicherheit über den sensorischen Input und die Bewegung verborgener Zustände determinieren. In den folgenden Beispielen nutzten wir eine logarithmische Genauigkeit von 8 für propriozeptive Wahrnehmungen und ließen den Akteur in dem Glauben, dass sein visueller Input eine Genauigkeit von 4 aufwies, also einigermaßen ungenau (engl. Noisy) war. Abschließend muss noch das Vorwissen über den verborgenen Kontrollzustand spezifiziert werden, auf welchen der Blick des Akteurs fiel.

Vorannahmen und Salienz Zur Simulation sakkadischer Augenbewegungen wurde das Schema aktiver Inferenz für 16 Zeitpunkte (196 ms) integriert, ehe eine Salienzkarte berechnet wurde, um die Vorannahmen über die verborgenen Kontrollzustände zu aktualisieren, welche den Blick anziehen. Diese Prozedur wurde acht Mal wiederholt, um eine Sequenz von acht Augenbewegungen zu erreichen. Salienz wurde für insgesamt 1024 (32 × 32) Orte berechnet, die gemäß Gleichung (11) (in der die erwartete Unsicherheit an dem Ort ausgewertet wurde, der vom Kontrollzustand festgelegt ist) gleichmäßig über die visuelle Szenerie verteilt wurden. In anderen Worten: Die Salienz wurde unter stetiger Berücksichtigung nachträglicher Annahmen über den Inhalt der visuellen Szenerie für alle möglichen Fixationspunkte evaluiert. Die somit ermittelte Salienz über 32 × 32 Orte ergibt schließlich eine Salienzkarte, deren Peak die nächste Sakkade festlegt (indem

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das Handeln reflexiv durch die propriozeptiven Folgen der wahrscheinlichsten Kontrollzustände gesteuert wird). Salienz ist also ausschließlich eine Funktion von fiktiven Annahmen über den Zustand der Welt und vermittelt dem Akteur, wohin er als nächstes zu schauen hat. Abbildung 4 beinhaltet eine recht simple Illustration von Salienz, die auf nachträglichen Annahmen oder Hypothesen darüber basiert, dass lokale (foveale) Inputs durch ein Bild von Nofretete verursacht werden. Die rechte Seite illustriert die klassischen Ergebnisse von Yarbus (Yarbus, 1967) von einem Bild und den Augenbewegungen, die es auslöst. Die Abbildungen auf der linken Seite

Die Welt erfassen, um Unsicherheit zu reduzieren

Stimulus

Visueller Input

Salienz

Erfassung

Abbildung 4: Salienz und visuelle Suche. Dieses Schema zeigt eine Illustration der Salienz, welche auf nachträglichen Annahmen oder Hypothesen darüber basiert, dass lokale (foveale) Inputs durch ein Bild von Nofretete verursacht werden. Die rechte Seite illustriert die klassischen Ergebnisse von Yarbus (1967) von einem Bild und den Augenbewegungen, die es auslöst. Die Abbildungen auf der linken Seite geben den visuellen Input nach der Erfassung des Bildes auf der rechten Seite (durch konventionelle rezeptive Felder mit On- und Off-Zentren) und die damit verbundenen Salienzkarten wieder, die auf der lokalen Erfassung von 16 × 16 Pixeln basieren (nach dem generativen Modell). Die Größe des Blickfeldes, in Relation zur visuellen Szene, wird durch die Kreise im linken Bild angedeutet. Der wichtigste Punkt ist hierbei, dass die salienten Merkmale des Bildes das Ohr, die Augen und den Mund umfassen. Die Orte dieser Merkmale scheinen konsistent zu sein mit den Orten, die die sakkadischen Augenbewegungen angezogen haben (wie auf der rechten Seite gezeigt) (prior surprise: vorherige Überraschung; posterior uncertainty: nachträgliche Unsicherheit).

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geben den v­ isuellen Input wieder, nachdem das Bild auf der rechten Seite von rezeptiven Feldern mit On- und Off-Zentren verarbeitet wurde. Wichtig ist hierbei, dass die rezeptiven Felder Lichtkontraste unterdrücken und scharfe Kanten hervorheben. Diese Kanten generieren nachträgliche Annahmen über den Inhalt und die genauen Orte einer visuellen Szene. Die daraus gewonnenen Informationen reduzieren die nachträgliche Unsicherheit und sind somit salient. Saliente Merkmale des Bildes sind in der mittleren Abbildung dargestellt und schließen insbesondere das Ohr, das Auge und den Mund ein. Die Orte dieser und weiterer salienter Merkmale erscheinen konsistent mit jenen Orten, die sakkadische Augenbewegungen anziehen (rechte Abbildung). Die Salienzkarte streckt sich dabei über das Sichtfeld hinaus (wie dem Kreis auf der linken Abbildung zu entnehmen ist). Dieses Phänomen spiegelt den Fakt wider, dass Salienz nicht davon abhängt, was tatsächlich gesehen wird, sondern was unter bestimmten Hypothesen über die Verursachung einer Wahrnehmung gesehen werden könnte. Um die Simulationen etwas realistischer zu gestalten, berücksichtigten wir durch die Implementierung des Inhibition of Return (IOR)-Phänomens (Wang u. Klein, 2010; Itti u. Koch, 2001) eine weitere Vorannahme. Dazu musste jeweils die Salienz unterdrückt werden, die bereits unmittelbar zuvor fokussiert wurde. Die Berücksichtigung des IOR gewährleistet, dass jede Sakkade einen neuen Ort fixiert und ist ethologisch durch die Vorannahme motiviert, dass die visuelle Szenerie einer stetigen Veränderung unterliegt, sodass auch vorherige Fixationen später erneut revidiert werden sollten. In diesem Abschnitt wurde am Beispiel einer visuellen Szene mit verborgenen Zuständen beschrieben, wie sensorische Informationen generiert werden und wie diese Szenerie erfasst wird. Dazu haben wir die Wahrscheinlichkeit und die Vorannahmen beschrieben, welche zusammen das generative Modell ausmachen. Die besondere Überlegung hier ist, dass diese Vorannahmen auf der Annahme basieren, dass der Akteur saliente sensorische Informationen erfassen wird, welche auf seinen aktuellen nachträglichen Annahmen über die Verursachung dieser Merkmale beruhen. Nun sind wir in der Lage, die Spezifika des Verhaltens ins Auge zu fassen, die ein solches Modell hervorruft.

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Simulation sakkadischer Augenbewegungen Wir schließen den Text mit einer Simulation visueller Suche unter dem oben beschriebenen generativen Modell. Unsere Absicht ist es, das Wesen aktiver Inferenz zu beschreiben, wenn es mit Vorannahmen assoziiert ist, welche Salienz maximieren und Unsicherheit reduzieren. Abbildung 5 zeigt die Resultate einer solchen Simulation, in der ein Akteur drei verschiedene Bilder oder Hypothesen darüber hatte, was die Szenerie darstellt (ein Gesicht aus frontaler Perspektive, ein umgekehrtes Gesicht und ein gedrehtes Gesicht). Ihm wurde ein frontales Gesicht gezeigt und seine nachträglichen Annahmen wurden über 16 Zeitpunkte (12 ms) ermittelt, ehe die Salienz evaluiert wurde. Dann wurde eine Sakkade durchgeführt, indem während der folgenden 16 Zeitpunkte jeweils der salienteste Ort der Szene fokussiert wurde. Diese Prozedur wurde für insgesamt acht Sakkaden wiederholt. Die obere Zeile der Abbildung zeigt die durchgeführten Augenbewegungen als rote Punkte am Fixationspunkt jeder Sakkade. Die zugehörige Reihenfolge von Augenbewegungen ist in dem Bild oben links dargestellt, wo die roten Kreise grob das Blickfeld des Akteurs abbilden. Diese Sakkaden wurden unter den Vorannahmen verursacht, welche durch die Salienzkarten der zweiten Reihe induziert wurden. Wichtig ist hierbei, dass sich die Salienzkarten mit jeder neuen Sakkade verändern, da nachträgliche Annahmen über den verborgenen sensorischen Input immer sicherer werden. Des Weiteren ist zu sehen, dass überall dort keine Salienz induziert wird, wo es bereits unmittelbar zuvor eine Fixation gab – das entspricht der Inhibition of Return. Die nachträglichen Annahmen über den verborgenen Zustand erzeugen visuelle und propriozeptive Vorhersagen, die die Augenbewegungen steuern. Die okulomotorischen Reaktionen sind in der dritten Zeile dargestellt: Die beiden verborgenen propriozeptiven Zustände stehen für vertikale und horizontale Augenbewegungen. Der Ausschnitt des zu jedem Zeitpunkt (am Ende jeder Sakkade) fokussierten Bildes ist in der vierten Zeile zu sehen. Die vorletzte Zeile gibt die nachträglichen Annahmen des Akteurs zu jedem Zeitpunkt im Sinne der nachträglichen Erwartungen und eines 90 %-Konfidenzintervalls über den wahren Stimulus wieder. Der springende Punkt an dieser Stelle ist,

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Ich bin – also denke ich Sakkadische Augenbewegungen

Sakkadische Fixierung und Salienzkarte

Propriozeptive Erwartungen

2

Verdeckte (okulomotorische) Zustände

0 -2

200

400

600

800 time (ms)

1000

1200

1400

1200

1400

Visuelle Ausschnitte Perzeptuelle Erwartungen 5

Erwartungen bezüglich verdeckter (perzeptueller) Zustände

0 -5 200

400

600

800 time (ms)

1000

Zugehöriges Perzept

Abbildung 5: Die Dynamiken der Wahrnehmung. Diese Abbildung zeigt die Ergebnisse einer Simulation, in der einem Akteur ein Gesicht präsentiert wurde, dessen Reaktionen durch das Inferenzschema simuliert wurde. In dieser Simulation hatte der Akteur drei internale Bilder oder Hypothesen über die zu erfassenden Stimuli (ein Gesicht aus frontaler Perspektive, ein umgekehrtes Gesicht und ein gedrehtes Gesicht). Dem Akteur wurde ein frontales Gesicht präsentiert und seine nachträglichen Erwartungen wurden über 16 Zeitpunkte (12 ms) evaluiert, ehe die nächste Sakkade stattfand. Das wurde für acht Sakkaden wiederholt. Die resultierenden Augenbewegungen sind als rote Punkte am Ende jeder Sakkade in der oberen Reihe dargestellt. Die zugehörige Abfolge von Augenbewegungen ist in der Anzeige oben links dargestellt, wobei die roten Kreise grob die Proportion des erfassten Bildes wiedergeben. Diese Sakkaden werden verursacht von den Vorannahmen über die Blickrichtung, welche auf den Salienzkarten in der zweiten Zeile basieren. Wichtig ist hierbei, dass sich diese Karten mit jeder weiteren Sakkade kontinuierlich in dem Maße verändern, in dem die nachträglichen Annahmen über den verborgenen Zustand sicherer werden. Diese nachträglichen Annahmen liefern sowohl visuelle als auch propriozeptive Vorhersagen, die die Augenbewegungen steuern. Okulomotorische Reaktionen sind in der dritten Zeile im Sinne der beiden verborgenen okulomotorischen (propriozeptiven) Zustände dargestellt, die den vertikalen und horizontalen Verschiebungen entsprechen. Die damit verbundenen Anteile des (am Ende jeder Sakkade) erfassten Bildes werden in Zeile 4 illustriert. Die vorletzte Reihe zeigt die nachträglichen Annahmen in statistischer Hinsicht, nämlich die nachträglichen Erwartungen und das 90 %-Konfidenzintervall über den wahren Stimulus (der grau hinterlegte Bereich). Die letzte Zeile zeigt das Perzept, das implizit ausgewählt wird (gewichtet mit der Unsicherheit).

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dass die Erwartungen über den wahren Stimulus aus den konkurrierenden Repräsentationen folgen und, als Folge dessen, sich die nachträgliche Sicherheit über die Stimuluskategorie erhöht (das nachträgliche Konfidenzintervall wird kleiner, bis es der Erwartung entspricht). In einer andernorts veröffentlichten Studie wird diese Art von Phänomen empirisch untersucht (Churchland et al., 2011). Die letzte Reihe bildet die jeweils gewählte Hypothese ab, wobei die Intensität die bedingte Unsicherheit über den Stimulus wiedergibt. Dazu wurde die Entropie (durchschnittliche Unsicherheit) der Softmax-Wahrscheinlichkeiten verwendet. Diese Simulation offenbart eine Reihe wichtiger Punkte. Zunächst zeigt sich, wie die Anhäufung von Evidenzen zur Auswahl einer Hypothese führt, die die vorläufigen sensorischen Eindrücke am besten erklärt. Dieser Vorgang findet sowohl zwischen als auch während der Sakkaden statt. Die Akkumulation von Evidenz innerhalb einer Sakkade ist schon während der ersten Fixation zu erkennen und die Unsicherheit nimmt in dem Maße ab, in dem saliente Informationen gesammelt werden. Die Art der hier dargestellten Akkumulation (also die Evidenz-Akkumulation während einer Sakakde) ist zuvor beschriebenen Modellen von perzeptueller Diskriminierung formell ähnlich (Gold u. Shadlen, 2003; Churchland et al., 2011). Damit ist gemeint, dass nachträgliche Erwartungen über perzeptuelle Zustände von sensorischer Information gesteuert werden. Hier allerdings hängt die Akkumulation explizit von den im generativen Modell berücksichtigten Vorannahmen ab. In diesem Fall wird die Prävalenz jeder perzeptuellen Kategorie als dynamischer Prozess modelliert, der kontinuierliche Eigenschaften aufweist. Anders ausgedrückt: Diesem Modell ist die Annahme inhärent, dass sich der Inhalt der Welt kontinuierlich verändert. Das spiegelt sich in der sukzessiven Zunahme der korrekten perzeptuellen Erwartungen gegenüber konkurrierenden Erwartungen einerseits und in der Reduktion des nachträglichen Konfidenzintervalls andererseits wider. Veränderungen von Annahmen unmittelbar nach einer Sakkade weisen darauf hin, dass neue Daten generiert werden, während die Augen ein neues Ziel fixieren. Wichtig ist an dieser Stelle, dass der Akteur nicht nur visuellen Kontrast modelliert, sondern auch wie sich dieser Kontrast verändert – das wiederum induziert zunächst eine Erhöhung der

Ich bin – also denke ich

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Unsicherheit in der schnellen Phase der Sakkade. In Abhängigkeit von der Richtigkeit der nachträglichen Annahmen sinkt die Sicherheit erneut, sobald die Sakkade ihren Zielort erreicht hat. Das Ausmaß dieser Reduktion ist gewöhnlich kleiner als nach der vorherigen Sakkade. Damit kommen wir zum zweiten wichtigen Punkt, nämlich dem der zirkulären Kausalität, die der perzeptuellen Suche zugrunde liegt. Nur die Hypothese kann sich über mehrere Sakkaden hinweg durchsetzen, die die erfassten salienten Merkmale einer Szenerie korrekt vorhersagt. Diese Erfassung der Umwelt hängt ab vom eigenen Handeln oder verleiblichter Inferenz, was die Vorstellung einer visuellen Palpation stützt (O‘Regan u. Noë, 2001). Das bedeutet jedoch, dass die Hypothese ihre eigene Verifikation anordnet und nur dann überleben kann, wenn sie eine korrekte Repräsentation der Welt gewährleistet. Wenn saliente Merkmale einer Szene unentdeckt bleiben, wird die Hypothese durch eine bessere ersetzt. Aus dieser Perspektive wird Wahrnehmung zum Hypothesentesten (Gregory, 1980; Kersten, Mamassian u. Yuille, 2004), wobei die Betonung auf den selektiven Prozessen liegt, die dem sequenziellen Testen zugrunde liegt. Das trifft vor allem dann zu, wenn Hypothesen Vorhersagen machen können, die einen größeren Umfang haben, als die gegebenen Merkmale zu einem Zeitpunkt. Letztlich gibt es neben den erwarteten zahlreichen Fokussierungen der Augen und Nase auch eine Fixierung der Stirn. Das ist in gewisser Hinsicht paradox, da die Stirn keine Kanten enthält und die nachträgliche Sicherheit über ein Gesicht kaum erhöhen kann. Jedoch ist diese Region außerordentlich informativ im Hinblick auf die verbliebenen zwei Hypothesen (zur Lokalisation der Nase im umgekehrten Gesicht und des linken Auges im gedrehten Gesicht). Diese subliminale Salienz wird durch Inhibition of Return ausgelöst und entspricht der Tatsache, dass diese beiden konkurrierenden Hypothesen noch nicht gänzlich ausgeschlossen wurden. Das wiederum unterstreicht die kompetitive Natur der perzeptuellen Selektion durch Inhibition of Return und kann heuristisch als Testen von Alternativhypothesen betrachtet werden. Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit zum Naturwissenschaftler, der zur Falsifikation seiner Hypothese Daten erhebt, die möglichst effizient entweder die Nulloder die Alternativhypothese bestätigen.

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Abschließende Bemerkungen Wir haben ausgehend von basalen Überlegungen zum ergodischen Verhalten zufälliger dynamischer Systeme gezeigt, wie Inferenz als emergente Eigenschaft eines jeglichen (schwach mischenden) Systems konstruiert werden kann – und wie sie als generelle Reduktion freier Energie aufgefasst werden kann. Mit dieser Formalisierung konnten wir sogar relativ abstrakte philosophische Themen wie den Realismus und die cartesianische ontologische Differenz von Materiellem (ergodischer Fluss) und Immateriellem (Annahmen, die durch Lagrangianischen Fluss verursacht werden) behandeln. Einige relativ simple (reductio ad absurdum) Belege für Lagrangianische ergodische Systeme führten zur Erkenntnis, dass alle autopoietischen oder selbstorganisierten Systeme implizit Vorannahmen darüber mit sich bringen, dass sie ihre sensorische Umgebung zur Reduktion der Unsicherheit über ihre kausale Struktur erfassen. Diese in gewisser Hinsicht abstrakten Argumente fanden ihre Anwendung durch die Simulation sakkadischer Augenbewegungen, die sich – wie bereits zuvor festgestellt – gut eignen, um die Computeranatomie verleiblichter (aktiver) perzeptueller Inferenz zu illustrieren. Die wichtigste Botschaft dieser Arbeit ist, dass unbewusste Prozesse – wie auch bewusste Inferenz – den gleichen Prinzipien gehorchen könnten, die allen selbstorganisierten Systemen mit gekoppelter Dynamik zugrunde liegen. Die Emergenz intentionaler Phänomene basiert auf der Entdeckung einer Markov-Hülle, welche innere Zustände von äußeren differenziert. Die Existenz dieser Unterscheidung impliziert eine generelle Synchronizität (Huygens, 1673; Hunt, Ott u. Yorke, 1997) zwischen äußeren (z. B. dem der Umwelt) und inneren (z. B. neuronalen) Zuständen, die einer Gesetzmäßigkeit folgen – in dem Sinne, dass innere Zustände das gleiche Funktional freier Energie minimiert, das für eine Bayes’sche Inferenz genutzt wird. Das verleiht den inneren Zuständen einen letztlich prädiktiven Aspekt, der sich mit vielen Grundlagen des Bewusstseins oder der Kognition deckt; gerade wenn man berücksichtigt, dass der Akteur der Urheber seines Verhaltens ist. Es muss betont werden, dass diese Inferenz oder Assimilierung in dem Sinne aktiv ist, in dem die inneren Zustände die Ursachen eines sensorischen Inputs, stellvertretend durch eine Handlung,

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beeinflussen. Die daraus hervorgehende zirkuläre Kausalität zwischen Wahrnehmung und Handlung stimmt größtenteils mit zahlreichen Formulierungen der Embodiment- und Künstlichen Intelligenz-Forschung überein; zum Beispiel der Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus (Fuster, 2004), aktives Sehen (Wurtz et al., 2011; Shen, Valero, Day u. Paré, 2011), die Nutzung prädiktiver Informationen (Ay, Bertschinger, Der, Güttler u. Olbrich, 2008; Bialek et al., 2001; Tishby u. Polani, 2011) und homeokinetische Ansichten (Soodak u. Iberall, 1978). Darüber hinaus werden diese Perspektiven mit einer generellen Handhabung zirkulärer Kausalität und Autopoiese in der Kybernetik und Synergetik (Haken, 1983; Maturana u. Varela, 1980) verbunden. Erstaunlicherweise wurden diese Schlussfolgerungen von Helmholtz bereits vor über einem Jahrhundert erstmalig formuliert (von Helmholtz, 1971): »Each movement we make by which we alter the appearance of objects should be thought of as an experiment designed to test whether we have understood correctly the invariant relations of the phenomena before us, that is, their existence in definite spatial relations« (von Helmholtz, 1878, S. 384).

Übersetzung: Moritz Firmenich und Patrick Rachel

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Carlo Semenza

Das Unbewusste in der kognitiven Neurowissenschaft Einige Anregungen für die Psychoanalyse Psychoanalyse und kognitive Neurowissenschaft teilen ein gemeinsames Interesse am Bewusstsein. Jede Disziplin hat, mit den Vorzügen ihrer jeweiligen Methodologie und geschulten Beobachtungen, verschiedene Wahrheiten darüber aufgedeckt, wie mentale Prozesse in einer mehr oder weniger bewussten Weise auftreten. Eine gegenseitige Befruchtung der beiden Domänen, obwohl offensichtlich wünschenswert, blieb bisher jedoch äußerst beschränkt. Die Aufmerksamkeit der Gelehrten wurde tatsächlich stark von der Natur ihrer Interessen und Ziele verzerrt. Das Ziel dieses Beitrags ist es, im Anschluss an die Untersuchung einiger dem Konzept Bewusstsein innewohnender Schwierigkeiten, die zur Beschränkung des Austausches zwischen Psychoanalyse und kognitiver Neurowissenschaft beitragen, Beispiele bereitzustellen, wie Fortschritt in die Richtung eines ergiebigen Zusammenwirkens zustande gebracht werden kann. Es wird argumentiert werden, dass ein gewisser Fortschritt dadurch erreicht wird, dass Implikationen aus neuropsychologischen Fällen in Betracht gezogen werden, die eine Dissoziation auf verschiedenen Ebenen innerhalb des Bewusstseins aufweisen. Diese Dissoziationen spiegeln die relativ modulare Organisation des Gehirns und demzufolge des kognitiven Systems wider. Bedenkt man die besonderen Eigenschaften dieser unterschiedlichen, relativ unabhängigen neuronalen Netzwerke und Teile unseres mentalen Apparats, könnten sich für die Psychoanalyse daraus interessante Anregungen ergeben; so unter anderem, wie sie psychodynamische Prozesse mit ihren eigenen angemessenen Methoden untersuchen kann.

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Bewusstsein in der Neurowissenschaft Was ist Bewusstsein und woher stammt es? Heutzutage scheinen sowohl die Philosophie als auch die Neurowissenschaften die Ansicht zu teilen, dass das Bewusstsein eine Funktion des Gehirns darstellt: »[Bewusstsein ist] ein reales, natürliches, biologisches Phänomen, buchstäblich im Gehirn lokalisiert« (Revonsuo, 2001); »Bewusstsein ist vollständig verursacht von neurobiologischen Prozessen und realisiert in Gehirn-Strukturen« (Changeux, 1983; Zitate ins Deutsche übertragen vom Übersetzer, D. M.). Wir alle stimmen überein, dass das Bewusstsein sich auf bewusste mentale Zustände, Gefühle und ein Selbstempfinden bezieht. Eine Definition von Bewusstsein ist jedoch alles andere als einfach. Der Kontext von Bewusstsein ist weit und facettenreich und die Problemstellungen geraten häufig durcheinander. Manchen Ansichten zufolge gibt es so etwas wie ein einheitliches Bewusstsein nicht: Für jede gegebene kognitive Funktion seien spezifische BewusstseinsSysteme vorhanden. Bewusstsein umfasst darüber hinaus mehrere Aspekte. Aus Gründen der Klarheit ist es zweckmäßig, zwischen den Konzepten und den Begriffen, die diese Aspekte beschreiben, zu unterscheiden. Der Inhalt des Bewusstseins verweist auf die spezifische Information, der sich jemand zu einem gegebenen Moment bewusst wird. Bewusster Zugang ist der Prozess, durch den ein Stück Information ein bewusster Inhalt wird. Bewusstes Verarbeiten verweist auf die verschiedenen Operationen, die auf einen bewussten Inhalt angewendet werden können. Bewusster Bericht ist der Prozess, durch den ein bewusster Inhalt beschrieben werden kann, verbal oder auf anderem Weg. Jemand kann etwas berichten, wenn und nur wenn er oder sie sich dessen bewusst wird. Selbst-Bewusstsein ist eine besondere Instanz des bewussten Zugangs, bei der der Fokus des Bewusstseins auf den eigenen inneren Zuständen liegt. Der Zustand von Bewusstsein assoziiert mit Wachheit oder Vigilanz, verweist auf die Fähigkeit, einen Strom von bewussten Inhalten aufrechtzuerhalten. Wichtig ist, dass Bewusstsein stark von Aufmerksamkeit abhängt. Aufmerksamkeit, die Funktion, die innerhalb der Wahrnehmung eine Reizauswahl erlaubt, spielt eine ausschlaggebende Rolle im

Das Unbewusste in der kognitiven Neurowissenschaft 

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Zugang zum Bewusstsein. Sie wird wiederum durch ein komplexes System mit vielen Facetten aufrechterhalten: Diffuse Aufmerksamkeit und selektive Aufmerksamkeit sowie Bottom-up- und Top-downProzesse sind hier nur Beispiele für verschiedene Aspekte von Aufmerksamkeit, die irgendwann für die Psychoanalyse zweckmäßig eingesetzt werden könnten. In den Worten von Dehaene und Naccache (2001) zielt die kognitive Neurowissenschaft des Bewusstseins darauf ab zu ermitteln, ob eine systematische Form von Informationsverarbeitung und eine reproduzierbare Klasse von neuronalen Aktivierungsmustern vorliegt, die systematisch zwischen mentalen Zuständen unterscheiden kann, die Probanden im Vergleich zu anderen Zuständen als bewusst bezeichnen. Die neuronalen Mechanismen des Bewusstseins zu verstehen, stellt jedoch eine große Herausforderung für die kognitive Neurowissenschaft dar; und das Thema wird von vielen aus verschiedenen Perspektiven heraus angegangen. Es ist daher schwierig, die diversen Theorien und empirischen Daten zu vergleichen, die aus unterschiedlichen Quellen stammen, welche kaum miteinander in Austausch stehen. Etliche theoretische Modelle des Bewusstseins wurden in den letzten Jahren tatsächlich innerhalb der Neurowissenschaft vorgeschlagen. Eine erschöpfende Beschreibung dieser Modelle befindet sich nicht innerhalb der Ziele dieses Beitrags. Anstelle eines umfassenden Überblicks über die Forschung zum Bewusstsein innerhalb der Neurowissenschaft und den Theorien, die von empirischen Untersuchungen inspiriert wurden und auf diesen aufbauen, wird dieser Beitrag nur einige Beispiele betrachten. Das Ziel dieser Beispiele wird es sein, die Grenzen dieser Modelle aufzuzeigen und so der psychoanalytischen Theorie und Praxis hilfreich zu sein. Ein Beispiel eines Modells, das dazu in der Lage ist, vielen Beobachtungen Rechnung zu tragen, wurde von Dehaene und Kollegen dargestellt (Dehaene u. Changeux, 1997; Dehaene u. Naccache, 2001; Dehaene, 2008; Dehaene, Charles, King u. Marti, 2014). Das Kernkonzept des Modells stellt der »globale neuronale Arbeitsraum« (global neuronal workspace) dar. Dieses System korrespondiere mit verteilten Neuronen anhand von Verbindungen über weite Distanzen, die verdichtet in präfrontalen, cingulären und parietalen Regionen auftreten. Solche Neuronen seien dazu in der Lage, multiple

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spezialisierte Prozessoren (die unabhängig und ohne gegenseitige Kenntnis arbeiten) miteinander zu verbinden und Signale im gesamten Gehirn-Umfang auf spontane und unmittelbare Weise auszustrahlen. Der sogenannte globale neuronale Arbeitsraum würde die Modularität des Nervensystems durchbrechen und die Übermittlung von Information zu multiplen neuronalen Zielen ermöglichen. Diese Übermittlung erzeugt eine globale Verfügbarkeit, die als Bewusstsein erlebt werde. Während nichtbewusster Verarbeitung werde Evidenz im Gegensatz dazu lokal, innerhalb spezialisierter Unterkreisläufe angehäuft, überschreite den Schwellenwert aber nicht, der für die Auslösung globaler Umsetzung und somit für bewusste Berichtbarkeit benötigt wird. Im Gebrauch des globalen neuronalen Arbeitsraums wird eine Unterscheidung zwischen subliminaler Verarbeitung, vorbewusster Verarbeitung und bewusster Verarbeitung gemacht. Bei der subliminalen Verarbeitung verbreitet sich Aktivierung, bleibt jedoch schwach und verflüchtigt sich innerhalb von ein bis zwei Sekunden. Ein Kontinuum von subliminalen Zuständen kann bestehen, abhängig von Top-down-Aufmerksamkeit, Instruktionen etc. Bei vorbewusster Verarbeitung kann die Aktivierung stark sein, anhalten und sich zu multiplen spezialisierten sensomotorischen Arealen hin verbreiten; wenn die Aufmerksamkeit vom Stimulus weg orientiert wird, ist der Zugang der Aktivierung zu höheren parieto-frontalen Arealen blockiert und keine weiterreichende Synchronizität kann hergestellt werden. Schließlich dringt in der vollständig bewussten Verarbeitung die Aktivierung bis in ein parieto-frontales System vor, kann ad libitum im Arbeitsgedächtnis aufrechterhalten werden und versetzt in die Lage, intentionale Handlungen, einschließlich verbaler Berichte, anzuleiten. Der Übergang von vorbewusster zu bewusster Verarbeitung kann abrupt und plötzlich vor sich gehen. Warum bleibt manches Wissen dauerhaft unzugänglich? Die globale neuronale Arbeitsraum-Hypothese gibt an, dass Information bewusst zugänglich ist, falls sie explizit im Feuern von Gruppen exzitatorischer Neuronen mit bidirektionalen Verbindungen zu einem verteilten Netzwerk von Arbeitsraum-Neuronen kodiert ist. Information könnte aus wenigsten drei Gründen dauerhaft nicht­bewusst bleiben: Sie ist (1) nicht in neuronalem Feuern enkodiert; sie ist

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(2) nicht in einer expliziten Form des Feuerns repräsentiert; oder sie wird (3) von funktional vom Arbeitsraum getrennten Neuronen kodiert. Zusammenfassend scheinen nichtbewusste Stimuli keine Stufe der Verarbeitung zu erreichen, auf der die Informationsrepräsentation in einen Prozess der Überlegung übergeht, der willentliche Handlungen mit einem Gefühl von Eigentum fördert. Diese Beschreibung ist zugegeben sehr skizzenhaft. Sie ist jedoch ausreichend, um hier zu bemerken, dass das Modell auf Grundlage der globalen neuronalen Arbeitsraum-Hypothese zumindest eine wichtige Gemeinsamkeit mit dem Modell von Meynert und der Wiener Schule der Neurologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufweist. Die Stärke von unbewussten Prozessen scheint nicht ausreichend berücksichtigt zu sein. Unbewusste Prozesse würden in Meynerts Konzeption aufgrund ihrer Schwäche nicht bewusst werden (vgl. u. a. Freud, 1891 bzw. Solms u. Saling, 1986) Wie Solms und Saling (1986) darlegten, wies Freud das in der Wiener Umgebung weithin akzeptierte Modell von Meynert zugunsten des Modells von Hughlings Jackson (1931) zurück. Nach Jacksons Modell würden sehr starke Prozesse, die aus subkortikalen Arealen entspringen, aktiv aus dem Bewusstsein heraus aufrechterhalten, indem der Einfluss aus kortikalen Arealen gehemmt werde. Aus diesem Grund war Jacksons Modell kompatibler mit dem Gedankengang, der schließlich zur Psychoanalyse führte. Welche Vorteile sie auch immer mit sich bringt, die globale neuronale Arbeitsraum-Hypothese scheint folglich nichts zum spezifischen Interesse der Psychoanalyse beizutragen zu haben: Nichts scheint aktiv aus dem Bewusstsein ferngehalten zu werden. Ein weiteres Modell wurde von Rizzolatti, Semi und FabbriDestro (2014) vorgeschlagen. Es bildet eine Ausnahme zu anderen Modellen, insofern es eine gemeinsame Anstrengung aus Neurowissenschaften und Psychoanalyse darstellt. Ihre theoretische Arbeit hat eine andere Perspektive und beschäftigt sich mit anderen Aspekten des Bewusstseins als Autorinnen und Autoren vor ihnen. Das Hauptanliegen von Rizzolatti und Kollegen (2014) besteht darin, die Nützlichkeit davon auszuloten, neurophysiologische Daten und Modelle anhand des theoretischen Konstrukts des Egos, wie es von Freud ausgearbeitet wurde, neu zu überdenken. Sie argumentieren, dass die Systeme, die der Organisation von Handlung

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und bewusster Wahrnehmung unterliegen von einem kortikalen Motor-Netzwerk, gebildet aus parieto-frontalen Verschaltungen, vermittelt werden. Die Aktivierung dieses Netzwerks weist, laut der Autoren, große Ähnlichkeiten dazu auf, was von Freud als der bewusste Teil des Ego postuliert wurde. Sie schlagen außerdem vor, dass das Default-Mode-Netzwerk jenen Teil des Egos repräsentieren könnte, der hauptsächlich in unbewusste Prozesse involviert ist. Das Default-Mode-Netzwerk ist ein Netzwerk von Regionen, das in Ruhe hohe Aktivität zeigt, sich jedoch unter zielgerichteter Kognition deaktiviert (Raichle et al., 2001). Die wichtigsten Komponenten dieses Systems sind der mediale präfrontale Kortex, Strukturen des medialen Temporallappens und das posteriore Cingulum. Rizzolatti et al. (2014) gehen weiter in ihrer Annahme, dass es, sowohl um kohärent handeln zu können als auch um ein grundsätzliches Verständnis des Verhaltens anderer zu haben, notwendig ist, die Existenz eines neurophysiologischen Motor-Ego, ähnlich zu dem Reiter in der von Freud benutzten Metapher, vorauszusetzen. Eine entscheidende Komponente des neurophysiologischen Motor-Ego wäre das System von Spiegelneuronen, das hauptsächlich in den fronto-parietalen Regionen lokalisiert ist; diese Neuronen erhielten durch automatisches Reagieren auf Handlungen Anderer die Identifikationsprozesse aufrecht. Eine ausführliche Beschreibung der Theorie von Rizzolatti und Kollegen (2014) übersteigt das Ziel dieses Beitrags bei weitem. Hier soll nur einmal mehr die Betonung der Rolle der fronto-parietalen Strukturen als kritisch für das Bewusstsein hervorgehoben werden, was stark an die globale neuronale Arbeitsraum-Theorie erinnert, die bereits erwähnt wurde. Genau wie es jedoch in der globalen neuronalen Arbeitsraum-Theorie der Fall ist, wird nirgends in Rechnung gestellt, wie etwas aktiv aus dem Bewusstsein ferngehalten werden kann. Eine Theorie, die hier noch erwähnt werden sollte, weil sie unter Psychoanalytikerinnen und -analytikern verbreitet wurde, während sie wenig bis gar keinen Platz in der kognitiven Neurowissenschaft gefunden hat, ist die von Edelman (2004). Edelman verwirft tatsächlich explizit die kognitive Neurowissenschaft. Laut seiner Theorie sind für die Konstitution des Bewusstseins zwei hauptsächliche Arten von Signalen entscheidend: jene, die vom Selbst her

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stammen und Wertesysteme sowie regulatorische Elemente des Gehirns und des Körpers konstituieren, sowie jene, die aus dem Nicht-Selbst stammen, zum Beispiel Signale aus der Welt, die durch globale Abbildungen umgewandelt werden. Signale bezogen auf Wert und kategorisierte Signale der äußeren Welt würden korreliert und führten zu Gedächtnis (konzeptuelle Kategorisierung). Dieses Wert-Kategorie-Gedächtnis ist durch wiedereintretende Pfade (reentrant paths) mit der aktuellen perzeptuellen Kategorisierung von Welt-Signalen verbunden. Das Konzept der wiedereintretenden Signalisierung (reentrant signaling) zwischen neuronalen Gruppen ist definiert als der andauernde rekursive dynamische Austausch von Signalen, der parallel zwischen Gehirn-Karten abläuft und der kontinuierlich diese Karten zueinander in Zeit und Raum in Beziehung setzt. Wiedereintritt hängt für seinen Betrieb folglich von den verschlungenen Netzwerken von massiv parallel-wechselseitigen Verbindungen innerhalb und zwischen neuronalen Gruppen ab. Laut Edelman ist diese wiedereintretende Kopplung die entscheidende evolutionäre Entwicklung, aus der sich das primäre Bewusstsein ergab. Wenn es über viele Modalitäten hinweg auftritt (Sehen, Berührung usw.), kann das primäre Bewusstsein durch das Erinnern von vorausgegangenen wertgeladenen Erfahrungen Objekte und Ereignisse miteinander verknüpfen. Die Aktivität der unterliegenden wiedereintretenden neuronalen Systeme führt zu der Fähigkeit, Unterscheidungen auf hohem Niveau zu treffen. Diese Fähigkeit würde den Überlebenswert erhöhen. Edelmans Theorie wurde häufig in Bezug zur Psychoanalyse, sowohl von Edelman selbst als auch von Psychoanalytikerinnen, in einer sehr vagen, verallgemeinerten Art und Weise verwendet, was unglücklicherweise oft zu pauschalisierten Bemerkungen und groben Fehlern führte (z. B. in der Interpretation, was die Kognitionswissenschaft über das Gedächtnis aussagt oder sogar zur Zurückweisung einiger von Chomskys Ideen). Unter diesem Vorbehalt kann man hier bloß darauf aufmerksam machen, dass die Annahmen über das Funktionieren des Langzeitgedächtnisses, die Edelman vorbrachte, im Gegensatz dazu, wie er offensichtlich glaubte, nicht inkompatibel mit dem aktuellen Denken innerhalb der kognitiven Neurowissenschaft sind; tatsächlich aber ohne diesem viel hinzuzufügen. Er behauptet, dass in kognitiven Theorien das Langzeitgedächtnis iso-

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morph mit der Erfahrung sei und diese deshalb einfach unmittelbar widerspiegele; daraus folge die Überlegenheit seiner Ansichten; ein grobes Missverständnis. Laut der Kognitionswissenschaft wird das Langzeitgedächtnis tatsächlich durch ankommende genauso wie durch vergangene Erfahrungen kontinuierlich verändert und geformt. Genauso wie Freuds Theorie der Nachträglichkeit behauptet. Schließlich ist noch eine Reihe von Studien erwähnenswert, die von Interesse für die Psychoanalyse sind, da sie sich mit der Frage des freien Willens beschäftigen. Diese Studien, angestoßen von ­Libet (1985), waren dazu in der Lage, Hirnaktivitäten auszumachen, die in Verbindung zu einer Bewegungsentscheidung stehen (Soon, Brass, Heinze u. Haynes, 2008; Bode, Bogler u. Haynes, 2013). Diese Aktivierung scheint stattzufinden, kurz bevor sie den Menschen bewusst wird. Wenigstens einige Handlungen – wie die Bewegung eines Fingers – werden zunächst unbewusst eingeleitet und treten erst einige Sekunden später ins Bewusstsein ein. Es ist demnach möglich, auf Grundlage der Gehirnaktivität eines Probanden im fMRT eine Handlung vorherzusagen (z. B. die Wahl eines Knopfes, links oder rechts), bevor der Proband die bewusste Entscheidung, die Handlung auszuführen, erlebt. Die Gehirnregionen, die in diese Vorhersage involviert sind, umfassen den anterioren medialen PräfrontalKortex und den medialen Parietal-Kortex (Precuneus/­posteriores Cingulum). Solche Befunde stellen das grundsätzliche Konzept des freien Willens infrage. Diese Studien sind jedoch höchst umstritten und es findet sich auch in den Neurowissenschaften kein Konsens über die Interpretation der Befunde. Weitere empirische Forschung wird also benötigt.

Bewusstsein könnte uneinheitlich sein: Das modulare Gehirn Die im vorangegangenen Abschnitt kurz beschriebenen Modelle stellen bloß einige (wichtige) Beispiele dar. Sie tragen jedoch kaum der Vielfalt der verschiedenen Phänomene, die beobachtbar sind, Rechnung. Es gibt einige weitere neuronale Modelle des Bewusstseins, die hier nicht erwähnt werden können. Jedes dieser Modelle

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nimmt eine andere Perspektive darauf ein, wie etwas als bewusst oder nicht erlebt wird. Es gibt tatsächlich viele Wege zum (Un-)Bewussten. Dieser Beitrag zielt darauf ab, die Aufmerksamkeit der Psychoanalytikerinnen und -analytiker auf einen Aspekt des Bewusstseins zu lenken, der bisher noch nicht in allen seinen potenziellen Implikationen bedacht wurde: Bewusstsein könnte uneinheitlich sein. Das bedeutet, dass unser Geist in relativ unabhängigen Abteilungen arbeitet, die keine Kenntnis voneinander haben. Psychoanalytiker/-innen könnten über die Arbeit dieser Abteilungen, wie sie von der klinischen Neuropsychologie in Erfahrung gebracht wurde, Bescheid wissen wollen und dieses Wissen zu ihren eigenen Zwecken einsetzen. Ein fundamentales Konzept, entscheidend für das Verständnis von dem, was im Folgenden behandelt wird, ist die Modularität des Geistes. Dies stellte in der Vergangenheit eine viel debattierte Frage dar (siehe Fodor, 1983; Shallice, 1988; Semenza, Bisiacchi u. Rosenthal, 1988; Semenza, 1996; Coltheart, 1999). Eine modulare Organisation beinhaltet den Umstand, dass einige Teile des Gehirns (und des Geistes) für die Verfolgung ihrer Zwecke mit einem gewissen Grad an Unabhängigkeit handeln. Das ist das Ergebnis eines evolutionären Prozesses, der sowohl Vor- als auch Nachteile hat. Die Vorteile beinhalten schnelle und einfache Evolution (vorteilhafte Mutationen können Teile des Systems verändern ohne Auswirkungen auf andere Teile zu haben, für die sie nachteilig sein könnten) und die hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit (relativ unabhängige Systeme werden nicht durch andere verlangsamt; feste, verbindliche Verarbeitungswege vermeiden Mehrdeutigkeit). Nachteile beinhalten die Isolation von Systemen (die nichts voneinander wissen können) und Kosten für die Kommunikation zwischen Systemen (zusätzliche Energie muss dafür aufgebracht werden, die Teile funktional zu verbinden, die gewöhnlich in völliger Unabhängigkeit arbeiten). Das Gehirn (wie das kognitive System) ist folglich zu einem gewissen Ausmaß in modularer Weise organisiert. Infolgedessen können einige Teile des Gehirns nicht wissen, was andere Teile tun. Dieser Umstand spiegelt sich in überraschenden experimentellen Befunden und klinischen Phänomenen aufgrund von Hirnschädigungen wider, die Dissoziationen innerhalb des Bewusstsein-­ Systems zeigen.

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Verbindungsunterbrechungen innerhalb des Gehirns: Neuropsychologische Syndrome Die folgende ist eine, keineswegs erschöpfende, aber ausreichende Darstellung einiger Beispiele von klinischen Syndromen, die ein bestimmtes Maß an Modularität nahelegen. Im Speziellen repräsentiert jedes dieser Syndrome, das durch eine bestimmte Gehirnschädigung hervorgerufen wurde, ein Beispiel für eine relative Dissoziation von bewusster Information. Eine klare Dissoziation zwischen Information, die bewusst (explizites Wissen), und solche, die nur unbewusst verarbeitet wird (implizites Wissen), kann bei diesen Patientinnen und Patienten aufgezeigt werden. Ein Teil des Gehirns (und des Geistes) verhält sich folglich, als ob es nichts von den anderen Teilen wüsste. Die isolierte Arbeit eines Teils des Systems legt interessante Eigenschaften offen, die schwerer in einem fehlerlos arbeitenden Gehirn zu erkennen wären. Insgesamt scheinen neuropsychologische Syndrome die Theorien des uneinheitlichen Bewusstseins zu unterstützen. Es wird angenommen, dass sie Verbindungsunterbrechungen zwischen einzelnen Modulen und ihren entsprechenden Bewusstseinszentren wider­spiegeln.

Das »Split Brain« (»die linke Hand sollte nicht wissen, was die rechte Hand tut …«) Ein relativ bekanntes Beispiel sind PatientenPatientinnen mit einem sogenannten Split Brain (Gazzaniga, 1967; Sperry, 1968). In diesen relativ seltenen Fällen ist das Corpus callosum, die Hauptverbindung zwischen den zwei Hemisphären, teilweise oder vollständig unterbrochen. Dies führt zu einem Verlust der Kommunikation zwischen den zwei zerebralen Hemisphären. Am besten bekannt sind Fälle einer vollständigen operativen Durchtrennung mit dem Ziel, die Schwere von anderenfalls unbehandelbaren epileptischen Anfällen zu reduzieren. Diese PatientenPatientinnen zeigen eine sehr interessante Symptomatik. Typische Beispiele sind die Unfähigkeit, ein Objekt mit einer Hand zu fassen, das mit der anderen abgetastet wurde, oder die Unfähigkeit von Rechtshändern/Rechtshänderinnen, ein Objekt

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in der linken Hand zu benennen oder zu beschreiben (diese Information geht in die rechte Hemisphäre, Benennung findet jedoch in der linken statt), sogar wenn es angemessen verwendet wurde. Manchmal geraten die beiden Hände in Konflikt miteinander: Eine Hand macht das rückgängig, was die andere getan hat, oder arbeitet aktiv gegen die Handlung. Die zwei Hemisphären scheinen demnach unabhängig zu arbeiten und unabhängig mit Reizen umzugehen, die der jeweiligen Hemisphäre präsentiert wurden. Split-Brain-Patientinnen und -patienten sind daher beschrieben worden, als hätten sie zwei »Geister« und zwei Bewusstseinssysteme (Sperry, 1968). In gewöhnlichen sozialen Situationen sind Split-Brain- von nicht hirngeschädigten Patienten/Patientinnen, abgesehen von bestimmten Gedächtnisproblemen, jedoch nicht unterscheidbar. Entscheidend ist, dass sie ein einheitliches Selbstempfinden und mentales Leben aufweisen. Gazzaniga (1967) glaubt, dass die Arbeit der linken Gehirnhälfte für das Einheitsempfinden verantwortlich ist. Die linke Hemisphäre arbeite als ein Interpret von dem, was passiert, und habe in diesem Sinne das letzte Wort. Ähnlich dazu schlägt Morin (2001) vor, dass Split-Brain-PatientenPatientinnen zwei uneinheitliche Ströme von Selbstbewusstsein aufweisen: einen vollständigen in der linken Hemisphäre (die Hemisphäre, in der Sprache verarbeitet wird, wenigstens bei RechtshändernRechtshänderinnen), und einen primitiven in der rechten Hemisphäre.

Blindsight (Rindenblindheit) und Anton-Syndrom Blindsight (Weiscrantz, Warrington, Sanders u. Marshall, 1974; ­Cowey, 2004) ist das Phänomen, bei dem Menschen, die aufgrund von Läsionen im primären visuellen Kortex kortikal blind sind, sich trotzdem in der Lage befinden, auf visuelle Reize zu reagieren, die sie bewusst nicht sehen. Die Patientinnen und Patienten können folglich über Zufallsniveau die Lage und andere Eigenschaften (Farbe, Form, Bewegung, …) von Reizen erraten, deren Projektion in das hemianoptische Feld ihnen nicht bewusst ist. Eine anatomische Erklärung für diesen Befund ist allgemein anerkannt. Die Patienten Patientinnen sehen den Reiz nicht über den

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geniculo-kortikalen (der in den primären visuellen Kortex führt), sondern über den tecto-kortikalen Pfad, der die primären visuellen Gebiete nicht erreicht. Der Reiz erreicht somit nicht das Bewusstsein: Information kommt nichtsdestotrotz auf einem Weg im Kortex an, der unbewusst genutzt werden kann. Ähnliche Phänomene wurden für die auditorische und die taktile Modalität beobachtet. Blindsight und verwandte Phänomene fordern den Alltagsglauben heraus, dass Wahrnehmung in das Bewusstsein kommen muss, um Verhalten zu beeinflussen. Man kann von sensorischer Information geleitet werden, von der man keine bewusste Kenntnis hat. Patienten und Patientinnen mit Anton-Syndrom benehmen sich, als könnten sie sehen, trotz ihrer vollständigen kortikalen Blindheit aufgrund des totalen Verlusts der primären visuellen Bereiche. Dieses Syndrom kann deshalb als Umkehrung des Blindsight angesehen werden. Die Patientinnen und Patienten reden über Phantasie­ inhalte, die sie vorgeben zu sehen (konfabulieren).

Unilateraler räumlicher Neglect Unilateraler räumlicher Neglect (oft kurz einfach Neglect genannt) ist die Unfähigkeit, alles, was sich im Hemisphären-Raum kontralateral zur Läsion befindet, zu bemerken oder zu erkennen. Dieses Symptom entsteht nicht aufgrund eines Fehlens von Sinneseindrücken. In den meisten Fällen ist die Läsion in den posterioren rechten Gebieten lokalisiert; folglich ist die missachtete Seite am häufigsten die linke Seite. Menschen, die von Neglect betroffen sind, beachten die zur Läsion konterlaterale Seite selbst dann nicht, wenn sie dazu aufgefordert werden, und ignorieren weiterhin alles, was auf dieser Seite platziert wird. Sie würden behaupten, dass dort nichts ist. Das Syndrom hat viele Varianten und nicht alle Phänomene treten in jedem Fall auf. Bei einem Teil der Fälle ignorieren die Patienten und Patientinnen nicht bloß die Seite des realen Raums gegenüber der Hirnläsion; bei den Fällen, die vom sogenannten repräsentationalen Neglect betroffen sind, ignorieren sie genauso die Seite des Raumes einer imaginierten Szene. Folglich beschrieb der Patient, von dem Bisiach, Luzzatti und Perani (1979) berichten, genau die Gebäude (z. B. den Königlichen

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Palast) auf der rechten Seite des Piazza del Duomo (Domplatz) in Mailand, als er darum gebeten wurde, sich vorzustellen am Ende des Platzes gegenüber der Kirche zu stehen. Er behauptete, dass nichts Wichtiges auf der linken Seite liege. Im Gegensatz dazu konnte er, als er später gebeten wurde sich vorzustellen, er verlasse die Kirche, die Gebäude auf der rechten Seite von seiner Perspektive aus wieder korrekt beschreiben (z. B. die Galleria Vittorio Emanuele II), aber er ignorierte die Gebäude auf der linken Seite. Neglect kann auch einen wahnhaften Zustand (Somatoparaphrenie) einschließen, in dem Patienten und Patientinnen die Zugehörigkeit einer Extremität oder einer gesamten Körperhälfte verleugnen. Ein übliches Phänomen ist es, die Extremität den Untersuchern/Untersucherinnen zuzuschreiben (»Es ist Ihr Arm, Doktor!«). Eine verleugnete (neglected) Extremität kann zum Objekt der Aggression werden, wobei sich die Patienten und Patientinnen absichtlich verletzen. Eine Reihe von Phänomenen in Verbindung mit Neglect zeigen, wie unbewusst wahrgenommene, abgespaltene Information die Verarbeitung anderer Information beeinflussen kann. Zum Beispiel erleichtern es im visuellen Feld des Neglects präsentierte Wörter, im gesunden Feld zu lesen. Interferenzen Stroop-Effekt) von Reizen im visuellen Feld des Neglects (nicht bewusst gesehen!) können die Verarbeitung im gesunden Feld beeinflussen. Paradoxerweise können Patienten/Patientinnen, die persönlich von Neglect betroffen sind, sogar solche mit Somatoparaphrenie, ihr Defizit selbst korrekt einschätzen (z. B. kann es vorkommen, dass sie in einem Fragebogen ihre Fähigkeit, ein Glas zu heben, mit einem Wert von 2/10 einschätzen und doch die falsche Überzeugung vorbringen, dass ihrer Extremität nichts fehlt!). Neglect ist eines der am meisten untersuchten neuropsychologischen Syndrome, auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen, die es für das Verständnis von Bewusstsein hat und seinem Zusammenhang mit Aufmerksamkeit. Bewusste Verarbeitung, das legt dieses Phänomen nahe, könnte auf verschiedenen Integrationsebenen stattfinden. Hirnverletzungen führen zu einer Isolation von Prozessen, die zuvor in übergeordneten Netzwerken integriert wurden. Als Konsequenz führt dies zu einem Verlust der Emergenz eines Bewusstseinskorrelats. Innerhalb dieser pathologisch erworbenen

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Modularität könnte es zu Konflikten zwischen Prozessen kommen, die nicht mehr integriert werden.

Fremde-Hand-Syndrom Beim Fremde-Hand-Syndrom (Alien-Hand-Syndrom) werden unwillkürliche Bewegungen einer Extremität bei Patientinnen und Patienten in Verbindung mit einem Gefühl von Entfremdung und der Personifizierung der Extremität erlebt. Der Patient betrachtet sie als fremd, unwillkürlich, seltsam, unkooperativ. Etwa könnte ein Patient/eine Patientin Kleidung mit der rechten Hand anziehen und sie mit der linken wieder herunterreißen. Oder, wenn er oder sie Durst hat, das Glas mit der einen Hand füllen und mit der anderen wieder ausschütten. Während die rechte Hand eine Ware im Geschäft bezahlt, holt die andere das Geld wieder zurück. Hände können sich aktiv gegenseitig bekämpfen: Ein Briefkuvert haltend kann jede Hand unabhängig und gleichzeitig versuchen es zu halten oder es abzulegen, ganze zehn Minuten lang. Die Extremität wird also so wahrgenommen, als hätte sie einen eigenen Willen: Sie scheint aus sich selbst heraus zu handeln, jenseits der Kontrolle durch die Patienten/Patientinnen. Sie kann aktiv der anderen Extremität widersprechen oder ihr entgegenarbeiten. Die Zugehörigkeit zum eigenen Körper wird jedoch selten verleugnet. Fremde-Hand-Phänomene wurden als Folgeerscheinungen von zwei Variationen, anteriorer und posteriorer Schädigungen, berichtet. Bei der anterioren Variante findet man die Schädigung im linken Frontalkortex und im anterioren Corpus callosum oder nur im Corpus callosum. Die posteriore Variante kann im Gegensatz dazu aufgrund einer corticobasalen Degeneration entstehen oder aufgrund von posteriorer Vaskular-Schädigung in parientalen Gebieten, also nur auf der rechten Seite.

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Prosopagnosie und Capgras-Syndrom Prosopagnosie ist die Unfähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen, während andere Aspekte der visuellen Verarbeitung (z. B. Objekterkennung) und das Gedächtnis unbeeinträchtigt sind. Sie resultiert aus einer Schädigung der posterioren Gebiete (inferiore okzipetale Gebiete, Fusiformer Gyrus, anteriorer temporaler Kortex) in der rechten oder linken Hemisphäre. Eine interessante Eigenschaft der Prosopagnosie ist, dass sie sowohl einen bewussten als auch einen unbewussten Aspekt der Gesichtserkennung nahelegt. Normale Menschen unterscheiden genau, ob ein vorgelegtes Gesicht bekannt oder unbekannt ist; Menschen mit Prosopagnosie können unfähig sein, Menschen auf Bildern erfolgreich zu identifizieren oder einfache Bekanntheitsurteile zu fällen (bekannt/unbekannt?). Wenn jedoch Maße der emotionalen Reaktion verwendet werden (typischerweise ein Maß der Hautleitfähigkeit), fällt die Reaktion auf bekannte Gesichter, genau wie bei normalen Menschen, höher aus, selbst wenn keine bewusste Wiedererkennung stattgefunden hat. Das Capgras-Syndrom kann als Umkehrung der Prosopagnosie aufgefasst werden. Die Patienten und Patientinnen glauben, dass bekannte Menschen (und/oder Orte, in diesem Fall wird die Bezeichnung reduplikative Paramnesie verwendet) durch gleiche Entitäten ersetzt wurden. Sie sind sich der physikalischen Gleichheit bewusst, aber nicht der Identität und scheinen keine Emotionen zu verspüren, die normalerweise mit den bekannten Personen (oder Orten) verbunden wären. Die Patienten und Patientinnen nehmen deshalb an, dass ein Verwandter oder Partner durch einen Doppelgänger ersetzt wurde. Es gibt eine anatomische Interpretation dieses Phänomens. Die rechte Amygdala, die neue von alter Information unterscheidet und ankommende Information mit Emotionen verbindet, sei aufgrund von Hirnschädigung vom Frontallappen und den emotionalen Leitungsbahnen getrennt worden (Ellis u. Young, 1990; Hirstein, 2010). Die Patienten und Patientinnen sind über die Wiedererkennung eines bekannten Gesichts oder Orts verwirrt, da die Emotion fehlt, die sie gewöhnlich in Verbindung mit einer solchen Wiedererkennung erleben. Der Wahn (es sieht nach einem aus, ist aber keiner)

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resultiert aus dem unbewussten Versuch, aus der widersprüchlichen Information Sinn herzustellen.

Amnesie und Claparède-Phänomen Der Verlust von episodischem/autobiografischem Gedächtnis resultiert aus bilateralen Schädigungen des Hippocampus und der Amygdala oder der anterioren Kerne des Thalamus, der Mamilarkörper und den Verbindungen zwischen diesen Strukturen. Die Patientinnen und Patienten können weder Episoden erinnern, noch irgendwie Neues explizit erlernen. In dieser Verfassung bleibt das semantische Gedächtnis (z. B. konzeptuelles Wissen und Wörter), eine, neben dem episodischen Gedächtnis, weitere Komponente des expliziten deklarativen (bewussten) Gedächtnisses, erhalten. Semantische Erinnerungen werden tatsächlich in anderen Hirnregionen, hauptsächlich im linken Temporallappen, gespeichert. Es ist noch wichtig zu erwähnen, dass das implizite (prozedurale) Gedächtnis auch intakt bleibt. Das implizite Gedächtnis arbeitet hauptsächlich unbewusst. Ein unbeeinträchtigtes implizites Gedächtnis innerhalb einer Amnesie liegt dem Claparède-Phänomen zugrunde. Claparède begrüßte jeden Tag eine amnestische Frau, die sich auf seiner Station regenerierte, aber jedes Mal konnte sie sich nicht an sein Gesicht erinnern. Eines Tages verbarg Claparède eine Stecknadel in seiner Hand, schüttelte die Hand der Patientin und stach sie dabei. Am nächsten Tag erinnerte sie sich immer noch nicht an ihn. Doch als er ihr seine Hand zum Schütteln anbot, zögerte sie und zog ihre eigene Hand zurück, als ob sie eine Gefahr erkannte. Sie konnte demnach, während sie Schwierigkeiten damit hatte irgendetwas explizit durch ihr episodisches Gedächtnis zu erlernen, nichtsdestotrotz unbewusst mittels implizitem Gedächtnis lernen. Das Claparède-Phänomen wurde zum Objekt tiefgehender Untersuchungen an amnestischen Patienten/Patientinnen. So machte Milner (1962) die weiterführende Entdeckung, dass ihr amnestischer Patient HM (möglicherweise der bekannteste und am meisten untersuchte Patient in der Geschichte der Neuropsychologie), obwohl er keinen bewussten Abruf von neuen Erinnerungen

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an Menschen, Orte und Objekte zeigte, nichtsdestotrotz in der Lage war, neue perzeptuelle und motorische Fertigkeiten zu erlernen (siehe Squire u. Wixted, 2011 für einen relativ aktuellen Überblick). In späteren Jahren folgten viele zusätzliche Beobachtungen, wie das implizite Gedächtnis vollständig erhalten bleiben konnte, bei gleichzeitiger dramatischer Störung des expliziten Gedächtnisses.

Isolation der individuellen Semantik Die Isolation der individuellen Semantik ist eine Art von neuropsychologischer Dissoziation, die von Semenza, Zettin und Borgo (1998) berichtet wurde. Ihr Patient zeigte ein sehr merkwürdiges Muster der Dissoziation. Die beeinträchtigten Funktionen beinhalteten: Benennung von Personen unter allen Bedingungen, semantische Information, Gesichtszuordnung, Abruf von personen-­ spezifischer Information, wenn passende Namen nicht genannt werden. Im Gegensatz dazu wies derselbe Patient intakte linguistische Funktionen und linguistisches Gedächtnis auf, intakte Gesichtserkennung, Bekanntheitsurteile sowie intakten Abruf von personenspezifischer Information, wenn passende Namen gegeben wurden. Folglich konnte der Patient den Namen oder irgendeine andere Information über eine berühmte Person nicht abrufen, obwohl sie ihm nichtsdestotrotz bekannt vorkam. Wenn ihm aber der Name der Person zur Verfügung gestellt wurde, dann konnte er alle möglichen biografischen Informationen über diese Person erinnern. Wurde ihm zum Beispiel ein Bild von Luciano Pavarotti vorgelegt, behauptete er – ein Opern-Fan –, dass er die Person kenne, aber sich an nichts über sie erinnern könne. Wenn der Untersucher jedoch den Hinweis gab, der Name der Person sei Pavarotti, sagte der Patient: »Ja! Das ist Luciano Pavarotti, der bekannteste Tenor der Welt.« Er fuhr damit fort, Information zu geben, die er vorher nicht abrufen konnte, wie: »Er war der erste, der in der Met (Metropolitan Opera, New York) eine Zugabe bekommen hatte. Er singt, oft einen weißen Schal in der Hand haltend, weil er abergläubisch ist. Er hat vor kurzem seine Ehefrau für eine jüngere Frau verlassen«. Dieser letzte Teil an biografischer Information spiegelt interessanterweise ein Ereignis wider, das in der Zeit, nachdem der Patient seine Hirn-

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läsion erlitten hatte (im posterioren Bereich der linken Hemisphäre), geschehen war. Biografische Information scheint in dieser Verfassung im Gehirn des Patienten gewissermaßen eingekapselt und unzugänglich zu sein. Der einzige Weg, einen Zugang dazu zu erhalten, war durch den Schlüssel des Namens der Persönlichkeit. Semenza und Kollegen (1998) argumentieren, dass dies nur passieren kann, wenn personenzugehörige individuelle semantische Informationen im Gehirn von allgemeiner Semantik relativ getrennt wären (ein detailliertes Modell, das dieser Dissoziation Rechnung trägt, wird in Semenza, 2009, berichtet).

Dissoziationen im Gedächtnis: einige Anregungen für die psychoanalytische Theorie und Praxis Die Beschreibung der bereits berichteten klinischen Symptomatiken verfolgte hauptsächlich das Ziel, die Aufmerksamkeit auf das Phänomen der anatomischen und funktionalen Dissoziation bei einigen Aspekten des Bewusstseins zu lenken. Es wurde gezeigt, dass Teile des Gehirns handeln, ohne von anderen Teilen Kenntnis zu haben. Es wird hier behauptet, dass diese Tatsache, wenn sie von Psychoanalytikerinnen und -analytikern berücksichtigt wird, zu wichtigen Entwicklungen in der psychoanalytischen Theorie und Praxis führen könnte. Die Implikationen der klinisch-neuropsychologischen Phänomene könnten wenigstens so nützlich sein wie die Modelle des Bewusstseins, die in der bereits beschriebenen nichtklinischen Neurowissenschaft entstanden sind. Um diese Aussage zu unterstützen wird, hier eine Dissoziation zwischen explizitem und impliziten Gedächtnis als Beispiel herangezogen. Die Konsequenzen der distinkten Eigenschaften dieser beiden Arten von Gedächtnis auszuarbeiten, wie dies von der neuropsychologischen Forschung angeregt wird, könnte zu Fortschritten in einigen Interessengebieten der Psychoanalyse führen. Implizites Gedächtnis umfasst, per Definition, eine Reihe von unbewussten Prozessen. Diese Prozesse sind in anderen Teilen des

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Gehirns verankert als die des expliziten Gedächtnisses. Die Funktionen des expliziten Gedächtnisses, wie aus Läsionen in klassischer Amnesie und Korsakow-Syndrom hervorgeht, hängen von den medialen Temporallappen, einschließlich des Hippocampus und der Amygdala, sowie der Mittellinie des Zwischenhirns (einschließlich der anterioren Kerne des Thalamus, der Mamilarkörper und den Verbindungen dieser Strukturen) ab. Das implizite Gedächtnis hängt hingegen hauptsächlich von subkortikalen Strukturen, den Basalganglien und dem Cerebellum ab, nur in einigen Fällen, wie einigen Erinnerungen von visuellem Inhalt, von kortikalen Gebieten, zum Beispiel dem rechten Okzipitallappen. Nach anderen Ansichten ist die kortikale Grundlage des impliziten/prozeduralen Gedächtnisses grundsätzlich in der rechten Hemisphäre, im Gegensatz zum expliziten/deklarativen Gedächtnis, das in der linken Hemisphäre lokalisiert ist. Selektive Läsionen in diesen anatomischen Systemen erlauben es den kognitiven Neurowissenschaften, die zwei Aspekte des Langzeitgedächtnisses besser zu unterscheiden und ihre spezifischen Eigenschaften besser zu verstehen. Das implizite Gedächtnis, wie bereits erwähnt, arbeitet hauptsächlich unbewusst oder auf einem subliminalen Level der Wahrnehmung. Es reift auch früher als das deklarative Gedächtnis (sogar vor der Geburt!, vgl. Brazelton, 1992) und ist bei der Geburt bereits deutlich funktionstüchtig. Das implizite Gedächtnis beinhaltet motorische, perzeptuelle (also körperliche) genauso wie kognitive ­Fähigkeiten, agiert mittels Konditionierung, durch nichtassoziatives Lernen (Habituation) und perzeptuelle Bahnung. Entscheidend ist, dass es auch unbewusst auf den Erwerb von semantischer Information wirkt und Urteile und Vorlieben modifiziert. Es benötigt keine fokale Aufmerksamkeit zur Encodierung. Eine andere wichtige Eigenschaft ist, dass der Aufbau des impliziten Gedächtnisses Zeit benötigt. Genauso braucht es auch Zeit zu verblassen: Es ist sehr resistent und schwer zu modifizieren! Es wird nonverbal erworben, durch Imitation, in den meisten Fällen unbewusst, möglicherweise durch Identifikation und ähnliche Mechanismen. Eine spezielle Unterkategorie des Gedächtnisses, die implizites (hauptsächlich unbewusstes) Lernen und Speicherung von Information über emotional signifikante Ereignisse einschließt, wird emotionales Gedächtnis genannt. Dieses Gedächtnis wird von der

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Amygdala und seinen Verbindungen getragen. LeDoux (1996) unterscheidet zwischen emotionaler Erinnerung und der deklarativen Erinnerung an eine emotionale Situation. Das deklarative Gedächtnis schließt Fakten über eine Situation ein, während sich das emotionale Gedächtnis auf emotionale Reaktionen in einer Situation bezieht. Eine deklarative Erinnerung kann eine emotionale Erinnerung hervorrufen oder nicht. Die Psychoanalyse hat für lange Zeit nur explizite (deklarative) Erinnerung berücksichtigt. Ein Teil der Therapie zielt darauf ab, das Auftauchen solcher Erinnerung durch die sogenannte talking cure zu begünstigen. Erst seit relativ kurzer Zeit hat sich die Aufmerksamkeit auf die Arbeitsweise des impliziten (prozeduralen) Gedächtnisses konzentriert. Wichtige Beiträge des Neurowissenschaftlers und Nobelpreisträgers Eric Kandel (1999) sowie einer Reihe von Psychoanalytikern/ Psychoanalytikerinnen, die auch kognitive Psychologie oder Neurowissenschaft praktizieren (z. B. Fonagy, 1999, Mancia, 2006), haben damit begonnen zu veranschaulichen, wie implizite Gedächtnisprozesse tatsächlich direkte Relevanz für die Psychoanalyse haben. Diese Pionierarbeit stellte den Startpunkt für eine sehr fruchtbare theoretische und empirische Arbeit dar. Andere folgten mit einer Reihe von Beiträgen, auf verschiedenen Pfaden innerhalb dieser Denkrichtung. Im Detail zu berichten, was bisher unternommen wurde, um die Implikationen der Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis zu verstehen, geht über die Ziele dieses Beitrags hinaus (ein guter Überblick von einigen der wichtigsten Arbeiten kann bei Fosshage, 2005, gefunden werden). Nur ein paar wenige Beispiele sollen deshalb, zusammen mit einigen Vorschlägen für weitere Arbeiten, vorgestellt werden. Vor der Darstellung solcher Beispiele, lohnt es sich jedoch, daran zu erinnern, wieso zu denken begonnen wurde, dass es für die Psychoanalyse wichtig sein könnte, die Aufmerksamkeit auf das implizite Gedächtnis zu legen. Es ist tatsächlich wichtig, zwischen offensichtlichem Gedächtnisausfall aufgrund von Verdrängung und solchen aufgrund der Tatsache, dass einige Erinnerungen unbewusst bleiben, da sie sich im impliziten Gedächtnissystem befinden, zu unterscheiden. Dieses Gedächtnis könnte mit dem Bereich des unbewussten Egos korres-

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pondieren, das nicht der Verdrängung unterworfen ist (Hartmann, 1939). Dieser Bereich sollte frei von Konflikten sein. Es handelt sich um ein Gebiet von Funktionen, die von Geburt an vorhanden sind und unabhängig von Trieben reifen: Mobilität, Perzeption und Assoziation. Er trägt zur Bildung des Selbst bei (z. B. Siegel, 1999; Semenza, Costantini u. Mariani, 2005). Das innere Empfinden, wer man ist, resultiert nicht bloß aus dem, was man explizit abrufen kann, sondern auch aus den impliziten Erinnerungen. Solche Erinnerungen erzeugen mentale Modelle und inneres subjektives Erleben von psychischem Inhalt (wie Bilder, Empfindungen, Emotionen), sie beeinflussen Verhaltensreaktionen und moralische Entwicklung (Goldberger, 1996). Aber es können dabei auch Dinge schiefgehen: Ein Fehlen von Empathie oder exzessive Zudringlichkeit (Intrusivität) können sich als adaptive, ursprünglich nützliche Absonderungen (Isolationen) dieser schlecht oder nichtrepräsentierten Erinnerungen im prozeduralen Gedächtnis festsetzen. Diese Erinnerungen sind häufig mit (Mikro-)Traumata verbunden (siehe auch die Konzepte von Bollas, 1978, der von »ungedachtem Gewussten« [unthougth known], und Stern, 1998, der von »unformulierter Erfahrung« [unformulated experience] sprach), die als physische Sensationen, Alpträume, somatische Krankheiten, Ausagieren, bestimmte Charaktereigenschaften und Handlungsstile, primitive Abwehr oder schwierige Beziehungen (besonders mit den Analytikern/Analytikerinnen, wenn einmal in Analyse) zutage treten können. Man betrachte zum Beispiel folgende Szenarios: Eine schizoide Mutter könnte prozedurale Signale (äquivalent zu angeborenem sozial-auslösendem Verhalten (social releaser; vgl. Bowlby, 1998) eines Neugeborenen fehlinterpretieren und inkonsistente Antworten geben. Ebenso könnte eine depressive Mutter ihrer eigenen Fähigkeit nicht vertrauen, auf die Signale des Neugeborenen antworten zu können. Wiederholt diesen inadäquaten Signalen ausgesetzt zu sein, könnten das Selbst nachteilig formen. Darüber hinaus könnten das Fehlen von Empathie oder die Intrusivität, als zunächst adaptive und nützliche Antwort, über die Isolation dieser schlecht oder nichtrepräsentierten Erinnerungen im prozeduralen Gedächtnis entscheiden. Prozedurale Erinnerungen weisen tatsächlich einige Vorteile auf: Sie sind schnell und erlauben es, automatisch und reflexartig zu handeln. Als solche können

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sie einfach auf effizientem, wenn auch primitivem Weg abgerufen werden, um wahrgenommenen Gefahren zu begegnen. Die dem impliziten Gedächtnis intrinsischen Eigenschaften machen nachteilige psychische Inhalte, über die Zeit geformt unter nachteiligen Bedingungen und durch (Makro- sowie Mikro-)Traumata, sehr resistent gegen Veränderung und kaum zugänglich für äußere Einflüsse und Bewusstsein. Weniger primitive, jedoch kaum zugängliche, prozedurale/implizite Erinnerungen können sich später im Leben durch den Prozess der Identifikation als Handlungsmuster etablieren. Diese Erinnerungen mögen niemals verbalisiert werden. Keine von ihnen ist dabei jemals verdrängt worden. Ich verwendete dafür den Begriff eingeschlossen bzw. encapsulated (Semenza, 2001; 2004). Dieser Begriff, geliehen aus der Theorie der Modularität des Geistes von Fodor (1983), sollte die Unzugänglichkeit und relative Isolation, verbunden mit dem automatischen unbewussten Auftreten, hervorheben. Die Funktionsweise ähnelt recht genau jenem Modul von Fodor, das durch Umweltreize und alltägliche Lebensereignisse aufgerufen wird. Das Verändern (und sogar das Beobachten) einer solchen Arbeitsweise stellt eine schwierige Aufgabe dar. Der generelle Widerstand von negativen eingeschlossenen Erinnerungen für Veränderung entsteht aus der primären adaptiven Funktion des impliziten/nondeklarativen Gedächtnissystems. Wenn nachteilig, dann können eingeschlossene Erinnerungen nicht mit verbaler Therapie behandelt werden. Sie benötigen Zeit (jedes prozedurale Gedächtnis ist resistent gegen Vergessen) und technische Modifikationen. Nur manche werden schließlich das Bewusstsein erreichen. Herauszuarbeiten, wie eingeschlossene Erinnerungen in die Übertragung (und Gegenübertragung) eingreifen können, kann zu wichtigem theoretischem Fortschritt führen. Dementsprechend haben Sander et al. (1998), Stern et al. (1998) und die »Boston Change Process Study Group«, eine Gruppe von Kleinkind-Forschern/-Forscherinnen und Psychoanalytikern/Psychoanalytikerinnen, die Idee entwickelt, dass es Momente in der Interaktion zwischen Patient/-in und Therapeut/-in gibt, die die Errungenschaft einer Reihe neuer impliziter Erinnerungen darstellen, die es der therapeutischen Beziehung erlauben, auf einem neuen Level fortzuschreiten. Dieser Fortschritt hängt nicht von bewussten Einsichten ab. Mehrere wei-

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tere Vorschläge wurden in Fosshages (2005) Überblicksartikel vorgebracht. Fosshage (siehe auch Lichtenberg, Lachmann u. Fosshage, 1996) beobachtet, wie Patienten und Patientinnen an die analytische Sitzung mit Erwartungen herangehen und bestimmte Hinweise selektiv beachten sowie ihnen Bedeutung zuweisen, die diese Erwartungen bestätigen. Sie interagieren dann interpersonal auf eine Weise, die dazu neigt, Reaktionen vom Analytiker oder der Analytikerin hervorzurufen, die ihre Erwartungen bestätigen. Diese Prozesse formen also laufende Erlebnisse auf der Grundlage von davor erworbenen impliziten Gedächtnismodellen. Um sie zu verändern, ist es entscheidend, sich dieser, sich ständig replizierenden Muster, bewusst zu werden. Modifikationen können dann mit der Zeit stattfinden und die Beziehungsmuster langsam verändern. Ein besonderes Feld, wo die bereits erwähnten Konzepte zu einem beträchtlichen Fortschritt führen könnten, ist die Untersuchung von prozeduralen Erinnerungsmechanismen, die in Institutionen am Werk sind. Inwieweit es die Psychoanalyse betrifft, könnte es im Speziellen interessant sein, theoretischen Einblick, wie er schon kurz beschrieben wurde, in den Ablauf der Betreuung von psychiatrischen Patienten/Patientinnen in dementsprechenden Institutionen zu gewinnen. Bei der psychiatrischen Betreuung in Krankenhäusern, einschließlich der ambulanten Dienste, finden sich sicherlich Aspekte, bei denen die Arbeit von Mechanismen des impliziten Gedächtnisses deutlich wird. Ein einfacher Startpunkt könnte sein, dass es einen groben, aber fundamentalen Unterschied zwischen Arbeitsweisen auf Grundlage von explizitem Gedächtnis und solchen auf Grundlage von impliziten Mechanismen gibt. Demnach verwenden Psychiater/innen, wenn sie sich nicht allein auf pharmakologische Behandlung beschränken, eine talking cure und damit eine Therapie, die hauptsächlich auf expliziter Gedächtnisfunktion beruht. Diese Behandlung, individuell durchgeführt oder in kleinen Gruppen, ist zeitlich begrenzt. Im Gegensatz dazu kümmert sich der Institutionsapparat, überwiegend durch das Pflegepersonal vermittelt, praktisch die ganze Zeit um die Patienten/Patientinnen. Dabei kommt hauptsächlich eine komplexe Reihe von meist unausgesprochenen Regeln und Funktionsweisen zur Anwendung, die vollständig unbewusst bleiben kann. Diese Behandlung könnte im Hinblick auf die Ge-

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nesung der Patientinnen und Patienten nicht weniger wichtig sein, wie das Reden und die pharmakologische Behandlung, mit denen sie in positiver oder negativer Weise interagieren kann. Es ist nicht das Ziel dieses Beitrags, ausführlich über psychiatrische Institutionen zu sprechen. Es soll jedoch daran erinnert werden, dass aus einer psychoanalytischen Perspektive gezeigt wurde, dass solche Institutionen, wie auch immer organisiert, sich auf dieselbe Weise wie Individuen verteidigen (Sacerdoti, 1966). Zudem ist solche Abwehr wahrscheinlich primitiv organisiert, schwer zu entdecken und resistent gegen Veränderung. Wie eine solche Abwehr mit impliziten Gedächtnismechanismen interagiert und diese nutzen könnte, ist von größtem Interesse. Einige Konzepte zu entleihen, die einmal mehr unter Berücksichtigung der Eigenschaften des impliziten Gedächtnisses innerhalb der kognitiven Neurowissenschaft entwickelt wurden, könnte dabei zu beträchtlichem Fortschritt führen.

Ein paar Worte über Verdrängung Es ist kaum zu übersehen, dass das, was innerhalb der Interaktion zwischen Neurowissenschaft und Psychoanalyse über das Bewusstsein gesagt worden ist, selten von der Verdrängung handelt. Aber Verdrängung, (unbewusste) aktive Beseitigung von Erinnerungsmaterial aus dem Bewusstsein, ist eine der grundlegenden Entdeckungen der Psychoanalyse! Es mag das sein, worum es sich am meisten in den psychoanalytischen Sitzungen dreht. Weder die neurowissenschaftlichen Modelle, die bereits beschrieben wurden, noch neuropsychologische Dissoziationen scheinen jedoch viel zum Verständnis der Natur dieser Mechanismen beizutragen. Wie Verdrängung im Gehirn vonstattengeht, bleibt immer noch unbekannt. Aber man kann sicher sagen, dass die Versuche, Verdrängung experimentell zu fassen, zu kontroversen Ergebnissen geführt haben. Es wurden jedoch interessante Experimente durchgeführt (siehe z. B. Shevrin, Bond, Brakel, Hertel u. Williams, 1996; Anderson u. Green, 2001; Schnider, 2003; Anderson et al., 2004; einen aktuellen Überblick geben Anderson u. Hanslmayr, 2014). Anderson et al. (2004) haben zum Beispiel funktionelle Magnet-Resonanz-Bildgebung

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verwendet, um das neuronale System zu identifizieren, das daran beteiligt ist, ungewollte Erinnerungen aus dem Bewusstsein fernzuhalten. Ungewollte Erinnerungen zu kontrollieren war mit erhöhter dorsolateraler präfrontaler Aktivierung, reduzierter Aktivierung im Hippocampus und eingeschränkter Merkfähigkeit für diese Erinnerungen assoziiert. Präfrontal-kortikale und rechtseitige Aktivierungen im Hippocampus sagten das Ausmaß des Vergessens vorher. Später, im Überblicksartikel von Anderson und Hanslmayr (2014), werden sich abzeichnende behaviorale und neuro-bildgebende Belege dafür berichtet, dass das Unterdrücken der Bewusstwerdung einer unwillkommenen Erinnerung durch inhibitorische Kontrollprozesse im lateralen Präfrontalkortex erreicht wird. Diese Mechanismen interagieren mit neuronalen Strukturen, die Erlebnisse im Gedächtnis repräsentieren, indem sie Bahnen unterbrechen, die die Merkfähigkeit unterstützen. Solche Ergebnisse scheinen die Existenz von aktiven Vergessensprozessen zu bestätigen und laut der Autoren ein neurobiologisches Modell für die Untersuchung des motivierten Vergessens zu liefern. Anstatt hier einen vollständigen Überblick über ähnliche Versuche zu geben, sollen einige Überlegungen darüber angestellt werden, was die Angelegenheit für experimentell Forschende schwierig macht. Ob und in welchem Ausmaß diese aktiven Vergessensprozesse mit der Verdrängung im psychoanalytischen Sinn in Verbindung gebracht werden können, ist allerdings eine zu diskutierende Angelegenheit. Unbewusste Verdrängung scheint damit nicht erfasst zu werden. Aber die Mechanismen, die in diesen Studien hervorgehoben wurden, könnten tatsächlich zur Verdrängung beitragen. Das Erfassen neuronaler Veränderungen (wie?), während sich die Verdrängung herstellt, scheint tatsächlich sehr schwierig zu sein. Andere Methoden als neuronale Bildgebung sind damit auch nicht sehr weit gekommen. Sicherlich wurde eine irreführende Annahme gemacht: Es wurde angenommen, dass Verdrängung stärker bei unangenehmen als bei angenehmen Erinnerungen arbeitet. Solch eine Unterscheidung ist heikel, wie Psychoanalytiker/-innen wissen. Bedrohlich ist nicht dasselbe wie unangenehm. Und selbst wenn man unterscheiden könnte: Annehmlichkeit ist nicht die ganze Angelegenheit. Folglich ist der Abruf von angenehmen und unangenehmen Erinnerungen nicht dazu geeignet, Ergebnisse zu liefern, und tat

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dies auch nie (wie von Baddeley, 1997, berichtet). Im Gedächtnis etwas zu erzeugen, was mit einer Emotion in Verbindung steht, und es nicht zu mögen, sind zudem unterschiedliche Prozesse, wie Lambie und Marcel (2002) beobachtet haben. Was wir nicht erinnern, ist Teil unserer Imagination. Was verdrängt ist, sind weniger Ereignisse, eher Affekte, die mit den gleichen Ereignissen verbunden sind. Eine fundamentale Schwierigkeit könnte auch aus der Tatsache entstehen, dass Verdrängung keinen einzelnen Mechanismus und kein einheitliches Phänomen darstellt (Modell, 2003), sondern verschiedene Komponenten beinhalten könnte. Neben niedrigen (subkortikalen) Mechanismen, die stärker mit Trieben verbunden sind, mache eine Neuanpassung von Bedeutung die Wiedererinnerung annehmbarer. Dieser Mechanismus, wie Modell (2003) argumentiert, könnte analog zur Metaphernbildung sein. Diesen Mechanismus in Begriffen der Neurowissenschaften zu fassen, ist eine sehr schwere Aufgabe. Eine vorläufige Analyse dieses Phänomens hinsichtlich Unterkomponenten, im Geiste der kognitiven Neurowissenschaft (Semenza et al., 1988), wäre jedoch zwingend notwendig und könnte schließlich zu besseren Experimenten führen. Solms (2000) Hinweis, dass im Korsakow-Syndrom der Mangel an Inhibitionsmechanismen das Funktionieren des Unbewussten durch die Konfabulation durchschaubar macht, könnte tatsächlich einige Unterkomponenten des Verdrängungsmechanismus offenlegen. Beim Korsakow-Syndrom führt eine Läsion im thalmatischen/hypothalmatischen System zu Amnesie; zusätzlich äußern sich, möglicherweise aus einer Unterbrechung der Verbindungen dieser Strukturen zum Frontalkortex, Konfabulationen, bei denen vorher verdrängter, unbewusster Inhalt zutage tritt. Mentale Inhalte, die durch Konfabulation offengelegt wurden, könnten jedoch gar nicht so leicht durchschaubar sein und welche Mechanismen und Strukturen sie dem Bewusstsein unzugänglich gemacht haben (falls sie tatsächlich unzugänglich sind) ist immer noch unbekannt.

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Abschließende Bemerkungen Die Psychoanalyse könnte von den Ideen der Neurowissenschaft profitieren, ohne von ihren eigenen Zielen abzusehen. Es gibt jedoch gegenwärtig keine Theorie des Bewusstseins in neurowissenschaftlichen Begriffen, die die Psychoanalyse problemlos verwenden könnte. Einige Aspekte der aktuellen Modelle, die für die Psychoanalyse nützlich sein könnten, sind noch nicht völlig verstanden. Während vollständigere und gewichtigere Theorien auf sich warten lassen, könnten einige größere Fortschritte, wie hier dargelegt wurde, aus Überlegungen über die Implikationen klinischer Phänomene in der Neuropsychologie, gemacht werden. Neurokognitive Syndrome zeigen kontraintuitive Phänomene, die in jeder möglichen Theorie des Bewusstseins berücksichtigt werden müssen. Zunächst zeigen sie an, dass Bewusstsein kein einheitliches Phänomen sein kann. Dies sollte schließlich mit unserer Intuition, dass Bewusstsein einheitlich ist, in Einklang gebracht werden. Dissoziationen innerhalb des Bewusstseins sind jedoch tatsächlich möglich und häufig neuronal erklärbar. Das in Betracht zu ziehen, könnte für die Psychoanalyse nützlich sein. Ein Beispiel für ein Gebiet, wo Fortschritte erzielt werden konnten und weiterhin können und die Neuropsychologie entscheidend mitgeholfen hat, wichtige Unterscheidungen zu treffen, ist das Gedächtnis. Eigenschaften verschiedener Arten von Gedächtnis sollten berücksichtigt werden, um ein besseres Verständnis der Phänomene in Verbindung mit Bewusstsein zu erlangen. Die Unterschiede zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis wurden tatsächlich kürzlich dafür genutzt, einige psychoanalytische Phänomene zu verstehen. Weiterer Fortschritt in verschiedene Richtungen scheint möglich. Verdrängung, der aktive Ausschluss aus dem Bewusstsein, wie sie von der Psychoanalyse entdeckt wurde, ist immer noch schwer zu fassen. Aber ihr Funktionieren und ihre neuronalen Grundlagen müssen früher oder später beleuchtet werden. Es könnte als strategischer Startpunkt nützlich sein, Modells (2003) Hinweis zu folgen, dass Verdrängung kein einfacher Mechanismus oder ein einheitliches Phänomen sein müsse. Natürlich, ungeachtet der neuronalen Mechanismen, die den aktiven Ausschluss aus dem Bewusstsein

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ermöglichen, werden Psychoanalytikerinnen und -analytiker weiterhin mit Verdrängung arbeiten und in den häufigsten Fällen ihren Patienten und Patientinnen damit effektiv helfen. Man kann nur daran erinnern, dass, wie in der kognitiven Neuropsychologie, viele Dinge über das Verhalten verstanden werden können, lange bevor neuronale Mechanismen entdeckt werden. Wie ich (Semenza, 2001) anmerkte, hat Mendel die Gesetze der genetischen Vererbung verstanden, ohne von Chromosomen oder gar der DNS zu wissen. In späteren Zeiten wurden dann die Funktionen solcher Strukturen, der Chromosomen, und solcher Moleküle, der DNS, verständlich, weil Mendels Gesetzte bekannt waren. Genaue Beobachtungen und stringente Theorie führen also letztendlich zu weiteren Entdeckungen. Übersetzung: Daniel Moedl

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Primitive Wiedergutmachung, Wiederholungszwang und unbewusste Verarbeitung von Schuld In diesem Text möchte ich zeigen, dass Wiedergutmachung weitestgehend an die unbewusste Verarbeitung von Schuld gebunden ist. Darüber hinaus werde ich herausarbeiten, dass, wenn echte, erwachsene Wiedergutmachung nicht zum Erfolg führt, primitive Wiedergutmachungsversuche ins Spiel gebracht werden. Diese bleiben jedoch vor allem aufgrund ihrer Konkretheit, ihrer Leugnung der Getrenntheit und ihrer omnipotenten Kontrolle von Ängsten und Schuldgefühlen erfolglos (Rey, 1986, Segal, 1981/1991, 1991/1996). Die Tragik dieser primitiven Wiedergutmachungsbestrebungen liegt darin, dass sie, anstatt Vergebung zuzulassen, oftmals die Beschädigung der inneren Objekte fortsetzen. Dies wiederum kann als einer der Mechanismen verstanden werden, der den Wiederholungszwang antreibt, welcher selbst als verzweifelter und immer wieder scheiternder Wiedergutmachungsversuch verstanden werden kann. In gewisser Weise ähneln diese Patientinnen und Patienten jenen Figuren der griechischen Mythologie (Sisyphos, Prometheus, Tantalos), deren Auflehnung gegen die Götter – das primitive ÜberIch – zu endloser Quälerei und Bestrafung führt. Es ist dieses primitive Über-Ich, welches Wiedergutmachung so schwierig macht. Andererseits braucht es auch Wiedergutmachung, um das archaische Über-Ich in eine containende Struktur umzuwandeln und es dadurch dem Ich zu ermöglichen, mit Gefühlen von Schuld und Trauer umzugehen (Klein, 1958/2000, O’Shaughnessy, 1999).1 1 In ihrer Arbeit »Zur Entwicklung des psychischen Funktionierens« (1958/2000) führt Klein aus, dass das frühe, archaische Über-Ich im Anfangsstadium sozusagen eine Art bad bank darstellt, die sich später hin zu einem Container entwickelt und schließlich zu einer Agentur, die dem Ich Wiedergutmachung ermöglicht. Kennzeichnend für Kleins Ansatz ist die Vorstellung einer Ko-Evolution von Ich

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In meinem klinischen Beitrag möchte ich nun zeigen, wie diese Entwicklung erschwert werden kann, insbesondere wenn eine pathologische Persönlichkeitsorganisation beteiligt ist und Gefühle von Zorn und Groll gesündere Teile der Persönlichkeit dominieren (Steiner, 1990, 1993; Weiß, 2009). In diesem Fall kann keine Wiedergutmachung geleistet werden und das Objekt wird immer und immer wieder beschädigt. In der Analyse kann dies zu einem klinischen Stillstand führen, bei dem das Ich von seinen zerstörten Objekten eingeholt wird, die sich in der Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung unbewusst re-inszenieren. Weiterhin werde ich beschreiben, wie dieser Fall immer wieder Anlass zu Ärger und Resignation meinerseits bot, mit der Folge, dass auch meine Möglichkeiten zur Wiedergutmachung unterminiert wurden und es mir schwerfiel, zu einer verstehenden Haltung zurückzufinden.

Fallbeispiel Herr B. ist ein 30-jähriger Angestellter, der in einer, vom kulturellen Hintergrund seiner Familie her, völlig anderen Umgebung aufgewachsen war. Seine Eltern waren schon vor seiner Geburt nach Deutschland gezogen, er war allerdings aufgrund seiner »fremden Wurzeln« in seiner Kindheit immer wieder Spott und Hänseleien ausgesetzt. Dies zusammen mit dem Anpassungsdruck seiner Eltern einerseits und deren strengem, traditionsbewusstem Erziehungsstil andererseits, verband sich zu der für ihn bedrückenden Erfahrung von Isolation, Demütigung und Beschämung. Diesen Nachteil versuchte er auszugleichen, indem er sich um besonders gute

und Über-Ich-Strukturen in engem Zusammenspiel mit frühen äußeren Einflüssen, die psychisches Wachstum und Entwicklung ermöglicht (O’Shaughnessy, 1999). Dieses Zusammenspiel bleibt natürlich größtenteils unbewusst. Wahrscheinlich könnte vereinfacht gesagt werden, dass zum Leisten von Wiedergutmachung vier Voraussetzungen erfüllt werden müssen: (1) die Integration von Liebes- und Hassgefühlen dem gleichen Objekt gegenüber, (2) die Entwicklung eines Über-Ichs, das fähig ist, entstehende Gefühle von Trauer und Schuld zu containen, (3) die Akzeptanz von Zeit und Vergänglichkeit und (4) die Unterstützung eines dritten Objektes, welches symbolisch hilft, in Phantasie und Realität entstandene Schäden und Verluste zu reparieren.

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schulische Leistungen bemühte und später detaillierte Kenntnisse des internationalen Finanzwesens erwarb, die ihn durch geschickte Transaktionen bereits im Alter von 21 Jahren zu einem Vermögen von mehreren Millionen Dollar kommen ließ. Nach der von ihm als ungerechtfertigt empfundenen Kritik durch einen Vorgesetzten kündigte er seine Angestelltentätigkeit bei einer Versicherungsagentur und beschloss, das Studium der Wirtschaftswissenschaften aufzunehmen, mit dem Ziel, eines Tages Fondsmanager an einer internationalen Börse zu werden. Um sich ganz seinem Studium widmen zu können, vertraute er die Verwaltung des Vermögens seinem Vater an. Als dieser jedoch in einer Börsenkrise nicht rechtzeitig reagierte, ging fast das gesamte Vermögen in kurzer Zeit wieder verloren. Die daraufhin einsetzende Depression und das dauernde Hadern von Herrn B. erschwerten sein Studium. Er scheiterte mehrfach knapp in Prüfungen, wechselte den Studienort und gab schließlich auf, nachdem ein von ihm idealisierter Professor verstorben und ein früheres Examen nicht anerkannt worden war. Seither zog er sich voller Groll und Verachtung von der Welt zurück. Er gab der »Dummheit« seines Vaters die Schuld an seinem Scheitern, weigerte sich, im Leben einen Neuanfang zu versuchen und erwartete stattdessen eine Entschädigung für das, was er zu Unrecht verloren hatte. So lebte er zuhause und tyrannisierte seine Eltern, denen er vorwarf, in unordentlichen, heruntergekommenen Verhältnissen zu leben, weil sie seinen »Anweisungen« nicht folgten. Er selbst hatte sich nur einmal getraut, seine Gefühle gegenüber einer jungen Frau einzugestehen und es niemals verkraftet, von ihr zurückgewiesen worden zu sein. Noch im gleichen Jahr hatte er den Terroranschlag auf das World Trade Center in New York miterlebt, wobei, meiner Meinung nach, das Einstürzen der Twin Towers zugleich den Zusammenbruch seines Selbstwertgefühls wie auch die mörderische Wut auf seine Eltern repräsentiert. Deshalb verbrachte er daraufhin die meiste Zeit mit Finanzanalysen vor seinem Computer, verletzte sich gelegentlich selbst und ließ die Eltern seinen Groll spüren. Nach mehreren Suiziddrohungen nahm er schließlich eine psychoanalytische Behandlung auf, die er indessen als demütigende Festschreibung seines Zustandes empfand, ebenso wie als vergebliche Anstrengung, ihm Stolz, Erfolg und finanzielle Unabhängigkeit zurückzugeben. Bereits im zweiten Vorgespräch erwähnte Herr B., er wisse nicht, ob ein anderes menschliches Wesen jemals so erniedrigt worden war wie er und ob er sich nicht unmittelbar nach unserer Sitzung ein Messer ins Herz

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rammen solle. Ich war erschreckt und alarmiert, aber auch aufgebracht über seinen Angriff und deutete, er setze mir das Messer auf die Brust und schiebe mir die Verantwortung zu, wenn nicht alles nach seinem Willen geschehe. In der Folgezeit schien seine Haltung mir gegenüber zwischen Bewunderung, Verachtung oder Unterwerfung gegenüber einer grausamen Figur zu schwanken, die von ihm »absoluten Gehorsam« verlangte. Wie ich noch zeigen werde, beinhalteten alle drei Konstellationen Aspekte seines grausamen, verfolgenden Über-Ichs. In unseren Stunden war Herr B. fast ausschließlich mit der Vergangenheit beschäftigt. Alle meine Versuche, seine gegenwärtige Lage in den Blick zu nehmen, wurden von ihm zurückgewiesen. So beschrieb er zum Beispiel in minutiösen Details den Verlauf der Börsenkurse im Jahr 2001, die damaligen Versäumnisse seines Vaters, die ungerechte Kritik eines früheren Ausbildungsleiters oder die Nicht-Anerkennung einer Kursbescheinigung, die vor sieben Jahren dazu geführt hatte, dass er zu einem Examen nicht zugelassen worden war. Während er die Stunden auf diese Weise mit monotonen Anklagen füllte, hatte ich das Gefühl, ihn nicht erreichen zu können. Oft fühlte ich mich müde, hoffnungslos oder ärgerlich, während er meine vergeblichen Bemühungen, einen emotionalen Kontakt zu ihm herzustellen, mit verständnisvoller Nachsicht zu übergehen schien. Für Herrn B. war klar, dass die Behandlung »zu spät« kam und mich an seiner Misere keine Schuld traf. So vergingen viele Monate mit einer Art »Tauziehen«: Während ich versuchte, ihn in das »Hier und Jetzt«, in die Gegenwart zurückzu­holen, zog er mich ins »Dort und Damals«, in die Vergangenheit zurück (­O’Shaughnessy, 1999). Wobei für mich ein mächtiger Groll und Zorn spürbar wurde. Die einzige »Lösung« – die einzige Form von »Wiedergutmachung«, die er sich vorstellen konnte – bestand für ihn darin, den Zustand vor dem Verlust seines Vermögens und dem Scheitern seines Studiums wiederherzustellen. Und da er wusste, dass ich dazu nicht in der Lage war, wurden meine Deutungen entweder als irrelevant empfunden oder als »Sticheleien« erlebt, was in mir Gefühle der Zurückweisung und des Ärgers hinterließ. Besonders wenn er seinen Vater als einfältig, faul und nutzlos hinstellte, konnte er mich so provozieren, dass ich mich mehr als einmal dazu hinreißen ließ, ihm seine unerträgliche Arroganz vorzuwerfen. Solche »Zurechtweisungen«, wie er es nannte, verletzten ihn zwar, ohne dass er sich jedoch etwas anmerken ließ.

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Dennoch hatte sich sein Zustand nach etwa zwei Jahren so weit stabilisiert, dass er sich daran machte, sein Vermögen mittels geschickter Finanzinvestments wieder aufzubauen. Er weigerte sich weiterhin, sich um eine reguläre Anstellung zu bemühen, und empfand es, wie er betonte, als »Strafe des Schicksals, solch unfähige Eltern zu haben« – eine Anklage, von der ich vordergründig ausgenommen war, obwohl ich mir, von einigen ärgerlichen Konfrontationen abgesehen, auch selbst ausgesprochen unfähig und erfolglos vorkam. Wiederholt ließ mich Herr B. wissen, dass er den »Umgang mit den Menschen« als enttäuschend empfand, und es schien klar, dass auch der Umgang mit mir für ihn nur eine weitere Enttäuschung bedeuten konnte. In einer Zeit, in der sich die Konflikte mit seinen Eltern zuspitzten, sprach er eines Tages voller Verachtung davon, dass er mit der Welt nichts mehr zu tun haben wollte. Dann entwarf er das Bild einer einsamen Insel, auf die er sich zurückgezogen hatte und die für alle Vorbeisegelnden mit einem großen Schild »Zutritt verboten!« gekennzeichnet war. Von dieser Insel aus würde er das weltweite Börsengeschehen verfolgen – in der Hoffnung, durch geschickte Investments seinen früheren Reichtum wiederherzustellen, um auf diese Weise ein Leben in Unabhängigkeit und im Überfluss zu führen. Während andere sich der Insel nicht nähern durften, war es mir gestattet, von Zeit zu Zeit in einem kleinen Boot anzulanden, um ihm Proviant zu bringen. Der Zutritt zu den »dunkleren Bereichen« im Inneren der Insel war aber auch mir verwehrt. Dieses Bild erschien mir ebenso anschaulich wie provokativ. Während ich versuchte, seinen selbstgerechten Zorn zu deuten, ließ mich Herr B. spüren, dass ich zu diesen »dunkleren Bereichen« in seinem Inneren tatsächlich keinen Zutritt hatte. Dadurch breitete sich in mir eine Hilflosigkeit aus, die so weit ging, dass ich mich eines Tages dabei ertappte, wie ich begann, die Börsenkurse aufmerksamer zu verfolgen, in der unsinnigen Hoffnung, wenn diese stiegen, würde es ihm besser gehen … Es schien, als hätte ich jedes Zutrauen in die Möglichkeit, ihm helfen zu können, verloren und als wäre ich ganz mit seinem omnipotenten Überzeugungssystem identifiziert. Denn der »Proviant«, den ich liefern durfte, diente lediglich dazu, den Status quo aufrechtzuerhalten, ohne einen wirklichen Zugang zu seinem Inneren zu finden. Trotzdem gab es auch Zeiten, in denen sich zwischen Herrn B. und mir ein besserer Kontakt entwickelte. Als er wieder einmal mit dem Satz beginnen

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wollte: »Im Jahr 2000 …« – und ich die üblichen Klagen über das Versagen seines Vaters zu hören erwartete, setzte er fort: »Im Jahr 2000 hätte ich Ihre Deutungen nicht verstanden.« Zu meiner Überraschung fügte er hinzu: Wenn er mich recht verstehe, sei seine Alles-oder-Nichts-Haltung das größte Problem und er stehe sich dadurch selbst im Weg. Und nach einer weiteren kurzen Pause ließ er mich wissen, dass er zu Freunden in die Schweiz eingeladen sei, die mit Bootsführern aus Neuseeland touristische Wildwassertouren organisierten. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Einfall einen Appetit auf Leben ausdrückte und sagte, er überlege vielleicht, ob er sich meiner Führung anvertrauen und von seiner einsamen Insel weg in unruhigere Gewässer bewegen könne. Er entgegnete, jemand, der die Erfahrung des Scheiterns nicht kenne, werde ihn wohl nie verstehen, und sofort hatte ich das Gefühl, als erhielte ich gerade eine neue Lektion in Scheitern und Missverstehen. Für Herrn B. hingegen war es schwierig, sich von mir verstanden zu fühlen. Denn aus seiner Sicht befand ich mich in einer idealen Position, ausgestattet mit all jenen Attributen, nach denen er sich sehnte: Geld, Ansehen, akademischem Titel und einer Familie. Dies ließ in ihm einen solchen Neid aufkommen, dass er zwar meine »Analysen« für »korrekt« befand, aber darauf bestand, ich könne mich niemals in seine Lage einfühlen. Deshalb konnte Herr B. meine Deutungen zwar »verstehen«, aber lange Zeit nicht aufnehmen und für sich verwenden. Denn sein Problem bestand darin, dass er nicht wiedergutmachen konnte. Statt die Beschädigungen anzuerkennen, die er anderen zufügte, war er ständig mit dem Unrecht beschäftigt, das ihm widerfahren war. So projizierte er sein Bedürfnis nach Wiedergutmachung und verlangte, dass nicht er, sondern andere wiedergutzumachen hätten, indem sie ihm zurückgäben, was man ihm zu Unrecht vorenthielt – insbesondere Geld, Erfolg und Achtung für seine Person. Aus diesem Grund bedeutete unbewusst für ihn Wiedergutmachung konkrete Entschädigung und nicht den Versuch einer Änderung. So empfand Herr B. das Leben – und die Analyse – als eine ständige Demütigung. Er verachtete Abhängigkeit und strebte danach, einen illusionären Zustand wiederherzustellen, in dem alles ihm gehörte und er auf niemanden angewiesen war. Von seiner einsamen Insel aus duldete er die Behandlung, solange sie ihm »Proviant«, also Unterstützung für seine Illusionen und seine Rachekampagne lieferte. Er lehnte sie jedoch ab, wann immer sie ihn mit der Realität von Trauer und Verlust in Berührung brachte.

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In dieser hoffungslosen Situation verging die Zeit ohne Aussicht auf Veränderung. Immer deutlicher zeichnete sich ab, wie sehr Herr B. unter der Herrschaft eines grausamen Über-Ichs stand, welches ihn entweder in die Position der scheinbaren moralischen Überlegenheit oder zu absolutem Gehorsam zwang. Er nahm für sich die höheren moralischen Werte in Anspruch und begründete damit seinen Rückzug von den Menschen – nicht ohne Bedauern allerdings, dass es ihm nie gelungen war, eine Beziehung zu einer Frau aufzunehmen. Vom Gefühl der Demütigung konnte er sehr schnell zu einer Haltung des Zorns übergehen, von der aus er auf die Menschen herabblickte. Er beschwerte sich in endlosen Litaneien über die »Dummheit« seiner Eltern und deren ungezählte Versäumnisse. Ganze Stunden konnte er damit zubringen, sich voller Verachtung darüber auszulassen, dass die Mutter trotz seiner wiederholten »Warnungen« mit einer Gabel in einer teflonbeschichteten Pfanne hantiert hatte, der Vater beim Essen keinerlei Manieren zeige, wie ein Idiot Auto fahre, sein Hörgerät nicht aufsetze und überhaupt seinen gut gemeinten Ratschlägen und »Anweisungen« nicht Folge leiste, weshalb er nicht mehr mit ihm rede. Dabei wurde seine Stimme immer lauter und er steigerte sich in einen erregten Zorn hinein. Er bezeichnete seine Eltern als »hoffnungslose Fälle« und fragte sich, wie lange er mit ihnen noch »Geduld haben sollte«. Ich hingegen empfand zunehmend ihn als hoffnungslosen Fall und war oft am Ende mit meiner Geduld. Wenn ich versuchte, seine Anklagen auf mich zu beziehen, ging er meist nachsichtig darüber hinweg. Erlebte er meine Bemerkungen jedoch als Kritik, dann fügte er sich entweder gehorsam oder sprach nicht mehr mit mir, wobei es gelegentlich zu heftigen, auch lauten Konfrontationen kam, in deren Verlauf ich mich, obwohl ich es eigentlich vermeiden wollte, zu Vorwürfen hinreißen ließ. Im Falle der zerkratzten Teflonpfanne hatte er seiner Mutter vorgeworfen, die Mahlzeit zu »vergiften«, während ich ihm vorhielt, er wolle nicht sehen, wie er mit seinen zornigen Anklagen anderen das Essen vergifte. Es folgte ein langes Schweigen, bevor er in der nächsten Sitzung vorwurfsvoll und verletzt erneut auf das Fehlverhalten seiner Mutter zu sprechen kam. Ich deutete ihm jetzt, er habe meine Bemerkung wie die spitze Gabel seiner Mutter empfunden, welche die dünne Schutzschicht in seinem Inneren zerstörte und ihm die Nahrung vergifte. Er schien diese Deutung zwar als abwegig zu empfinden, hörte aber aufmerksam zu. In einer lebendigeren und direkteren Weise protestierte er gegen meine Sicht seiner moralischen

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Überlegenheit, indem er sagte, er habe ein Recht, so zu denken. Dann aber schlug sein Protest in Empörung um und er erklärte: »Aufgrund meiner Niederlagen und unverdienten Demütigungen habe ich strenge moralische Normen entwickelt. Und wenn Sie denken, ich lebe aus einer Haltung der moralischen Überlegenheit heraus oder gar der Meinung sind, ein ›Laisserfaire‹ wäre gegenüber meinen Eltern die bessere Lösung, dann bin ich definitiv anderer Ansicht.« Diese Empörung konnte rasch in Zorn übergehen und dann nahmen seine Verachtung und sein Hass selbstzerstörerische Ausmaße an. Im Zorn ist Wiedergutmachung nur noch als Gnade denkbar und genau dies macht jede Vorstellung von Versöhnung so undenkbar. In dieser »Hölle« also musste die Therapie stattfinden. Und warum sollte es mir erspart bleiben, mit ihm durch diese Hölle zu gehen? Es schien, als wäre ich in der Übertragung entweder mit den entwerteten Eltern oder mit dem rächenden Über-Ich identifiziert, indem er mich im Besitz der höheren moralischen Werte wähnte und mit der Fähigkeit ausgestattet, ihn auf omnipotente Weise ändern zu können. Offenbar musste ich mir zuerst das Scheitern meiner eigenen Erwartungen eingestehen, um etwas von seiner Hilflosigkeit und Not aufzunehmen. Nach seiner selbstgerechten moralischen Erklärung fühlte er sich jedenfalls sehr einsam und ließ mich nach einem verlängerten Wochenende wissen, es gehe ihm schlechter, wenn er nicht zu den Stunden komme. Dabei wurden, deutlicher als bei früheren Gelegenheiten, eine verzweifelte Traurigkeit und Anhänglichkeit sichtbar. Dennoch eskalierte der Konflikt mit seinen Eltern, als diese die Einladung zu einer Hochzeit im Ausland annahmen. Er hatte es abgelehnt, mitzureisen, und verachtete seine Eltern dafür, dass sie sich die Reisekosten von den Verwandten bezahlen ließen. In »absolutem Gehorsam« fuhr er die Eltern zwar zum Flugplatz, sprach aber mit ihnen kein Wort und würdigte sie bei der Verabschiedung keines Blicks. Zu Hause zog er das Telefon aus der Steckdose heraus, um für sie nicht erreichbar zu sein. Sie sollten darüber im Unklaren bleiben, wie es ihm gehe, wobei Suizidphantasien und die Projektion von Verantwortung und Schuld eine wichtige Rolle spielten. Diese Situation spiegelte sich in der Behandlung wider, als er davon sprach, er würde »niemandem raten«, mit ihm in Kontakt zu treten. Er fügte hinzu, er befinde sich auf dem »Pfad der Selbstzerstörung«, und sagte, die Kälte in seinem Inneren spitze sich zu. Er könne sich das, was andere ihm an-

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getan hätten, jederzeit auch selbst antun. Ich deutete, er habe auch hier den Stecker gezogen, schicke mir Warnungen und lasse mich wissen, dass niemand ihn daran hindern könne, sich etwas anzutun. Er reagierte mit zornigen Wutausbrüchen, sprach davon, froh zu sein, dass seine Eltern endlich fort seien, und behauptete, nur er selbst könne sich helfen, indem er sein Vermögen wieder aufbaue. Andernfalls habe das Leben für ihn keinen Sinn mehr. Ich versuchte ihm nahezubringen, dass er meine Bemühungen als ziemlich nutzlos ansehe, sich eigentlich schrecklich einsam fühle und daran zweifle, ob irgendjemand seine Verzweiflung verstehen könne. Dabei hatte ich nur noch wenig Hoffnung, ihn erreichen zu können, und spürte, wie ich nahe daran war, aufzugeben. Es war in solchen Momenten, dass Herr B. manchmal in eine tiefe Traurigkeit geriet. Dann brachen seine Überlegenheit und sein Zorn zusammen und er wirkte völlig verzweifelt und hilflos. Ich fürchtete, gerade dann, wenn er sich aus der Vorherrschaft seiner destruktiven inneren Organisation löste, könnte er sich etwas antun, und sagte, er versuche sich durch Groll, Überlegenheit und Zorn zusammenzuhalten, um nicht von Traurigkeit, Abhängigkeit und Schuld überwältigt zu werden. Er antwortete, er stimme zwar mit meiner Analyse überein, aber er könne einfach nicht vergeben. Zu meiner Überraschung sprach er in der letzten Stunde vor der Weihnachtsunterbrechung davon, dass er erstmals seit Jahren wieder Weihnachtskarten beantworte und plane, eine befreundete Familie im Ausland zu besuchen. Nachdem er sich verabschiedet hatte, drehte er sich noch einmal um, wünschte mir schöne Weihnachten und sagte mit Tränen in den Augen: »Und vielen Dank, dass Sie im vergangenen Jahr immer für mich da waren!« Solche Momente konnten sehr berührend sein und ließen eine Fähigkeit zur Dankbarkeit erkennen, die lange Zeit versteckt war. Herr B. machte sich Sorgen, er werde die vierstündige Analyse über die Kassenleistung hinaus nicht finanzieren können, obwohl ich ihm meine Bereitschaft signalisierte hatte, ihm finanziell entgegenzukommen. Er wollte wissen, ob er zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen dürfe, ob ich bereit sei, ihn wieder aufzunehmen, und kündigte an, wenn er an der Börse Gewinne mache, würde er diese in die Analyse investieren. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er solle sich wegen seiner Zukunft nicht allzu viele Sorgen machen, und er sprach wieder mehr mit seinem Vater. Diese Bewegungen ließen Hoffnung in mir aufkommen, konnten jedoch ebenso schnell wieder zurückgenommen werden, wenn Demütigung und

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Scham überhandnahmen. Dann steigerten sich seine Anklagen und sein Zorn zu ungeheuerlichen Ausmaßen und er zog sich erneut in sein von Groll- und Rachegefühlen genährtes Abwehrsystem zurück, wenn er seinen Eltern wie ungehorsamen Kindern »Befehle« erteilte, ihren Tod herbeiwünschte und mir die drei »Grundprämissen« mitteilte, unter denen allein sich etwas verändern könnte, nämlich erstens, dass er sein verlorenes Vermögen wiedererlange, zweitens, dass andere die Schuld trügen und sich folglich zuerst verändern müssten und drittens, dass die Zeit umgekehrt und die schlimmen Erfahrungen seiner Kindheit ungeschehen gemacht werden müssten.

Abschließende Bemerkungen Die drei antitherapeutischen »Grundprämissen« von Herrn B. illus­ trieren, worauf sein Abwehrsystem und seine fast wahnhafte Missrepräsentation der Realität beruhten: Er fühlte sich durch sein berufliches Scheitern und die demütigenden Erfahrungen seiner Kindheit erniedrigt und verlangte, dass andere dafür die Verantwortung übernähmen. Durch die Beharrlichkeit seines Grolls und die Allmacht seines Zorns war ihm lange Zeit jede Bemühung um Wiedergut­ machung verwehrt. Seine Art, mit einem primitiven Über-Ich umzugehen, bestand darin, sich sowohl mit dessen idealen, omnipotenten als auch mit dessen grausamen, verfolgenden Aspekten zu identifizieren, so dass er sich seinen Eltern überlegen fühlte und berechtigt schien, auf sie herabzublicken und sie zu demütigen. In der Analyse wurden beide Seiten seines Über-Ichs in mich projiziert, so dass ich ihm entweder als ideales Objekt erschien, welches beständig seinen Neid hervorrief, oder aber als grausames Objekt, welches von ihm »absoluten Gehorsam« verlangte, ihn herabsetzte und mit einer »scharfen Kritik« unablässig zurechtwies. Lange Zeit schien es, als gäbe es aus dieser Situation keinen Ausweg und als müsste ich mich meines eigenen Scheiterns und Misserfolgs erwehren, indem ich ihm die Schuld zuschob und von ihm verlangte, dass er sich ändern müsse. Unbewusst war ich dabei mit Herrn B. identifiziert als jemand, der keinen anderen Weg wusste, mit seinem Scheitern und Misserfolg umzugehen, als die Schuld

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daran in andere zu projizieren. So gerieten wir in eine Situation, in der einer vom anderen verlangte, dass er sich ändern müsse – eine Sackgasse, in der zwar Groll und Rachegefühle gedeihen können, aber keine Wiedergutmachung möglich ist. Trotzdem waren unbewusste Wiedergutmachungsversuche bei Herrn B. nicht ganz abwesend, ließen manchmal aber eine solche Verzweiflung in ihm aufkommen, dass ich fürchtete, jeder weitere Fortschritt in der Analyse könne dazu führen, dass er sich tatsächlich etwas antue – geradeso als könne er nur überleben, solange er an seinem Groll und seinem Zorn festhielt. Ich denke, in jenen Momenten befand sich Herr B. an der Schwelle zur depressiven Position. Sobald die Ängste und Schuldgefühle, die dann auftauchten, unerträglich wurden, zog er sich jedoch erneut in seine auf Groll und Zorn beruhende Abwehrorganisation zurück. Ich habe Groll als einen Zustand beschrieben, in dem die Wunden offengehalten werden und der Wunsch nach Wiedergutmachung in ein Objekt projiziert wird, dem zugleich jede Wiedergutmachung verweigert wird. Auf diese Weise wird es bis zum Ende aller Zeiten mit Schuldgefühlen gequält. Andererseits war Herr B. in seinem Zorn mit einer moralisch überlegenen Position identifiziert, in der er manchmal wie ein Gott befand, die Welt sei zu schlecht für ihn und verdiene es nicht, von ihm geliebt zu werden. In dieser Position ist Wiedergutmachung nur noch als Gnade möglich. Beide Konstellationen  – Groll und Zorn  – verhinderten das Durcharbeiten von Schuldgefühlen. Statt Wiedergutmachung zu ermöglichen, riefen sie Demütigung und Zerknirschung hervor, was Rachebedürfnisse nährte und auf diese Weise die Beschädigung seiner inneren Objekte fortsetzte. Herr B. war zwar in der Lage, diesen Zyklus zu sehen. Er stimmte meinen diesbezüglichen »Analysen« – wie er sagte – durchaus zu, erklärte aber auch, einfach nicht vergeben zu können. Ich denke jedoch, dass wirkliches Verstehen genau an diese Möglichkeit zur Wiedergutmachung gebunden ist. Während Demütigung und Beschämung nach schneller Entlastung verlangen (vgl. Steiner, 2006), benötigt Wiedergutmachung Zeit – Zeit für die Anerkennung von Endlichkeit und Verlust. Vielleicht trifft es nicht nur für die individuelle Psyche, sondern auch für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen zu, dass dort, wo Wie-

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dergutmachung scheitert, der Weg in den Wiederholungszwang vorgegeben ist. Ich möchte diesen Gedanken hier nicht weiterverfolgen, sondern mit einer Überlegung abschließen, die Roger Money-Kyrle (1956) in seiner frühen Arbeit zur Gegenübertragung angedeutet hat. Er beschreibt darin, dass echtes Verstehen mit Wiedergutmachungsbemühungen des Analytikers an seinen eigenen beschädigten inneren Objekten einhergeht. Ich denke, in der Behandlung von Herrn B. gelangte ich mehr als einmal an einen Punkt, an dem ich mich angesichts seiner machtvollen, zornigen Anklagen hilflos fühlte und zeitweise jede Hoffnung auf Veränderung verlor. Oft projizierte ich diese Hilflosigkeit und Ohnmacht in ihn zurück und gab ihm dann an meinem Scheitern die Schuld. Erst in jenen Momenten, in denen ich die Begrenztheit meiner Möglichkeiten anerkennen musste und nahe daran war, aufzugeben, wurde es auch für Herrn B. möglich, sich seine Einsamkeit und Verzweiflung für kurze Momente einzugestehen. Es schien, wie es John Steiner (2011) ausgedrückt hat, als müssten beide, Analytiker und Patient, den Zusammenbruch ihrer Omnipotenz erleben, um die Grenzen dessen, was erreichbar ist, anzuerkennen und realistischere Ziele zu formulieren. Im Falle von Herrn B. bedeutete dies, wie er einmal sagte, dass die »Brandung« der Wellen, die gegen seine einsame Insel schlugen, etwas geringer wurde und er mich fragen konnte, ob er zurückkommen dürfe. Ich denke, er brachte in dieser Frage seine Unsicherheit darüber zum Ausdruck, ob ich ihm verzeihen könnte. Die Möglichkeit, selbst zu verzeihen, so hat es Henry Rey (1986) formuliert, ist nämlich an die Möglichkeit gebunden, sich vorstellen zu können, dass einem auch verziehen wird. In diesem Sinne, denke ich, konnte die Analyse die Probleme von Herrn B. nicht lösen, aber sie konnte ihm vielleicht wenigstens helfen, damit zu leben.

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Literatur Klein, M. (1958/2000). Zur Entwicklung des psychischen Funktionierens. In R. Cycon (Hrsg.) (2000), Gesammelte Schriften. Bd. III (S. 169–186). Stuttgart: Frommann-Holzboog. Money-Kyrle, R. E. (1956). Normal counter-transference and some of its deviations. International Journal of Psycho-Analysis, 37, 360–366. O’Shaughnessy, E. (1999). Relating to the superego. The International Journal of Psychoanalysis, 80, 886–870. Rey, H. (1986). Reparation. Journal of the Melanie Klein Society, 4, 5–35. Segal, H. (1981/1991). Wahnvorstellung und künstlerische Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta. Segal, H. (1991/1996). Traum, Phantasie und Kunst. Über die Bedingungen menschlicher Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta. Steiner, J. (1990). The retreat from truth to omnipotence in Sophocles’ Oedipus at Colonos. International Review of Psycho-Analysis, 17 (2), 227–237. Steiner, J. (1998). Orte des seelischen Rückzugs. Pathologische Organisationen bei psychotischen, neurotischen und Borderline-Patienten. Stuttgart: KlettCotta. Steiner, J. (2006). Narzisstische Einbrüche: Sehen und Gesehenwerden. Scham und Verlegeneit bei pathologischen Persönlichkeitsorganisationen (herausgegeben von H. Weiß, u. C. Frank). Stuttgart: Klett-Cotta. Steiner, J. (2011). The numbing feeling of reality. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten am 25.06.2011 am Robert-Bosch-Krankenhaus, Stuttgart. Weiß, H. (2008). Groll, Scham und Zorn. Überlegungen zur Differenzierung narzisstischer Zustände. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 62, 866–886. Weiß, H. (2009). Das Labyrinth der Borderline-Kommunikation. Klinische Zugänge zum Erleben von Raum und Zeit. Stuttgart: Klett-Cotta.

Theodore J. Gaensbauer

Nonverbale Erinnerungen von Traumata in der frühen Kindheit: Bewusst oder unbewusst?

Unter Bezugnahme auf ein Interview mit einem vierjährigen Jungen, der im Alter von zweiundzwanzig Monaten einen traumatischen Verlust erlitten hatte, wird in diesem Beitrag die Beziehung von verbalen und nonverbalen Erinnerungen früher Traumatisierung im Kontext traditioneller Bewusstseinskonzepte diskutiert. Historisch betrachtet war lange Zeit, ausgehend vom Phänomen der frühkindlichen Amnesie (also der Beobachtung, das Erwachsene sich gewöhnlicherweise nicht an Lebensereignisse vor dem dritten oder vierten Lebensjahr erinnern), angenommen worden, dass traumatische Ereignisse aus der frühen Kindheit nicht erinnert werden (Freud, 1905/1953; Gaensbauer, 1995; 2002; Hayne u. Jack, 2011). Dagegen haben Forschungsergebnisse, die auf der Verwendung nichtsprachlicher Methoden zur Messung der Gedächtnisleistung beruhen, in den letzten Jahrzehnten deutlich gezeigt, dass jüngere Kinder, darunter auch Kinder in der präverbalen Entwicklungsphase, ein größeres Erinnerungsvermögen aufweisen als zuvor angenommen (Rovee-Collier u. Gerhardstein, 1997; Bauer, 1997; Meltzoff, 1995). Diese Forschungsergebnisse ließen die Annahme, das präverbale Entwicklungsstadium sei naturgemäß vorrepräsentativ, fragwürdig erscheinen. Darüber hinaus haben sie unser Verständnis über die Auswirkungen früher Traumatisierung deutlich verändert (Gaensbauer, 1985; Gaensbauer, 1995). So haben klinische Studien gezeigt, dass PTSD-Symptome, die im Bereich nonverbaler Erinnerung anzusiedeln sind, bereits in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres oder früher auftreten können (Scheeringa u. Gaensbauer, 2000). Solche Symptome umfassen affektive Reaktionen auf Trigger-Reize, die Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert sind, verhaltensbezogene und performative Reenactments im Spiel sowie bedeutungshaltige Zeigebewegungen oder Gesten, eine erhöhte Geschwindigkeit der Augenbewegungen und konkrete oder symboli-

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sche innere Repräsentanzen, die die Erwartungen und Reaktionen des Kindes auf alltägliche Ereignisse formen (Gaensbauer, 1995; 2002; Paley u. Alpert, 2003; Coates u. Gaensbauer, 2009). Auch wenn heute weitestgehend Konsens besteht, dass Lebensereignisse aus der frühen Kindheit erinnert werden können, bleibt es in der laufenden Diskussion umstritten, inwieweit sich Kinder bewusst sind, dass sie auf nonverbale Weise Erinnerungen ausdrücken. Traditionsgemäß sind Erinnerungen in zwei Hauptkategorien unterteilt worden: Deklarative bzw. explizite Erinnerungen werden vom Individuum bewusst als Erinnerungen eines Ereignisses wahrgenommen und können sprachlich ausdrückt werden. Prozedurale bzw. implizite Erinnerungen umfassen verhaltensbezogene und affektive Reaktionen und können automatisch, ohne bewusste Intention, ausgelöst werden (Zola-Morgan u. Squire, 1993; Squire, 2004). Innerhalb dieser traditionellen Klassifikation wurden nonverbale Erinnerungen aus der frühen Kindheit im Allgemeinen als implizit verstanden und damit dem Bereich außerhalb der bewussten Wahrnehmung zugeordnet. Ebenso wurde das prozedurale bzw. implizite Gedächtnis als frühe Gedächtnisform, das deklarative bzw. explizite Gedächtnis hingegen als spätere Gedächtnisform bezeichnet (Siegel, 1995). Studien zum Erinnerungsvermögen in der frühen Kindheit haben mit wenigen Ausnahmen gezeigt, dass Kinder nicht in der Lage sind, Ereignisse, die vor dem Spracherwerb stattgefunden haben, sprachlich wiederzugeben (Peterson, Grant u. Boland, 2005; Nelson u. Fivush, 2004; Simcock u. Hayne, 2002; Bauer, 2007). Dagegen verwendeten Studien, die eine Erinnerungsleistung von Kindern in der präverbalen Entwicklungsstufe nachweisen konnten, Messmethoden, die im Allgemeinen mit dem prozeduralen Gedächtnis assoziiert sind, wie dem klassischen oder operanten Konditionieren, der Blickpräferenzmethode, dem mimischen oder verhaltensbezogenen Ausdruck von Emotionen sowie der verzögerten Imitation expressiver Ausdrucksformen. Hieraus wurde geschlossen, dass nonverbale Erinnerungen von Kindern und Kleinkindern im Allgemeinen von impliziter Natur sind. Zahlreiche Entwicklungsforscherinnen und -forscher sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die im Alter von zwei Jahren erworbene Fähigkeit, begrifflich-symbolische Repräsentationen auszubilden, eine Grundvoraussetzung

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für die bewusste Wahrnehmung des Selbst ist. Diese Fähigkeit zur bewussten Selbstwahrnehmung wiederum stellt, wie angenommen wird, eine Grundlage für die Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses dar, also des Bewusstseins des Kindes, dass ein Ereignis in der Vergangenheit geschehen ist (Howe u. Courage, 1997; Howe, Courage u. Edison, 2003; Nelson u. Fivush, 2004). Während außer Frage steht, dass die sprachliche Wiedergabe von Erinnerungen nach dem zweiten Lebensjahr explizit und bewusst geschieht, ist die Annahme, dass nonverbales Erinnern implizit und außerhalb der bewussten Wahrnehmung erfolgt, aus verschiedenen Gründen einer Überprüfung zu unterziehen: Der erste Grund hierfür liegt darin, dass die neuronalen Mechanismen, die bei der verzögerten Imitation und dem visuellen Paarvergleich als Maß für die Erinnerungsleistung im präverbalen Entwicklungsstadium aktiviert sind, vermutlich die gleichen neuronalen Strukturen beanspruchen, die ebenfalls mit dem deklarativen bzw. expliziten Erinnern bei Erwachsenen assoziiert sind (McDonough, Mandler, McKee u. Squire, 1995; Manns, Stark u. Squire, 2000; Bauer, 2013). Eine zweite neurophysiologische Beobachtung ist, dass jüngere Kinder selbst nach dem Beginn des Spracherwerbs bei der Verarbeitung und internalen Repräsentation von Ereignissen unter anderem neuronale Mechanismen nutzen, die ebenso mit der nonverbalen Verarbeitung assoziiert sind. Sie erleben und internalisieren Ereignisse über verschiedene Modalitäten (kognitive und affektive sowie das gesamte sensomotorische Netzwerk), die in holistischer Weise aktiviert sind (Meltzoff, 1990; Fivush, 1998; Gaensbauer, 2004; 2011). Das Auslösen spezifischer Erinnerungen kann sowohl die Aktivierung einzelner als auch sämtlicher neuronaler Strukturen, die bei der Verarbeitung aktiviert waren, umfassen. Hieraus folgt, dass nonverbale Erinnerungsstrukturen potenziell bei jedem Abfrageprozess beteiligt sein können und damit vermutlich dem Bewusstsein zugänglich sind. Kurz gesagt ist Sprache auch nach dem Spracherwerb für Kinder nicht das alleinige Medium, um zu verstehen, was um sie herum geschieht (Simcock u. Hayne, 2003). So sind verbale Umschreibungen zukünftiger Ereignisse ohne konkrete nonverbale Veranschaulichung des Beschriebenen für jüngere Kinder unverständlich, auch dann, wenn sie bereits fließend sprechen. Wenn einem Kind zum Beispiel gesagt wird »Deine Mutter geht auf eine Dienstreise und

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wird am Samstag zurück sein«, oder wie in dem ernsteren, später beschriebenen Fall, »Deine Mutter ist gestorben und in den Himmel gekommen«, wird ihm dadurch nicht automatisch klar sein, welche Bedeutung dieses Ereignis genau hat. Aus diesen Gründen kann eine nonverbale Veranschaulichung wie eine Zeichnung, ein Spiel oder eine handlungsbezogene Darstellung für Kinder notwendig sein, um zu verstehen, was in ihrer Umgebung geschieht (Gaensbauer u. Kelsay, 2008; Benham u. Slotnik, 2006). Offen bleibt die Frage, wie sich verbale und nonverbale Erinnerungen aus der frühen Kindheit zueinander verhalten und wie nonverbale traumatische Erinnerungen kategorisiert werden können. Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß sich die unterschied­ lichen Erinnerungsformen einer einfachen Kategorisierung widersetzen, werde ich im Folgenden die verschiedenen Ausdrucksformen der Erinnerungen eines traumatisierten Kindes, die im Verlauf einer gerichtlichen Begutachtung zu beobachten waren, beschreiben und diskutieren.

Fallbeispiel Evaluationsbedingungen Im Alter von vier Jahren wurde Emilio im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens von mir in vier videografierten Sitzungen untersucht. Er und seine Mutter waren zwei Jahre zuvor in einen Autounfall verwickelt worden, im Zuge dessen die Mutter verstarb. Neben den emotionalen und entwicklungsbezogenen Einflüssen der traumatischen Erfahrung sollte auch deren Auswirkung auf sein Gedächtnis untersucht werden. Damit Emilio rechtskräftig in dem Zivilprozess, den seine Familie führte, aussagen konnte, sollte nachgewiesen werden, dass er über spezifische Erinnerungen an den Unfall verfügte. Um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, ich hätte ihm suggestiv Erinnerungen vermittelt, unterließ ich es ihm wie anderen jüngeren Kindern durch Scaffolding-Strategien und Gedächtnishinweise dabei zu helfen, sich mir mitzuteilen. Andersherum erlaubten es dadurch die Evaluationsbedingungen, dass Emilio seine Erinnerungen spontan und in selbstgewählter Form mitteilen konnte.

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Hintergrund Emilio war zweiundzwanzig Monate alt, als er Zeuge des Todes seiner Mutter wurde. Er saß auf einem der hinteren Sitze des Autos, welches – gefahren von seiner Mutter – von dem Auto eines angetrunkenen Fahrers, der eine rote Ampel übersehen hatte, seitlich gerammt wurde. Unfallzeugen, die Emilio aus dem Auto geholfen hatten, berichteten, dass seine Mutter mit aufgedunsenem, blau werdendem Gesicht zu Emilio gewandt gewesen sei. Durch das Blut und die Flüssigkeit in ihren Atemwegen habe sie geröchelt und um Luft gerungen. Emilio habe »Mama! Mama!« geschrien. Überall lag zerbrochenes Glas und Emilio blutete stark aus einer verletzten Ader an seiner Stirn. Er hatte oberflächliche Schnittwunden durch kleinere Glasscherben an Kopf und Nacken sowie kleinere Abschürfungen an anderen Teilen seines Körpers. Daneben hatte er keine ernsthaften Verletzungen. Er wurde von dem Rettungsdienst in ein Krankenhaus gebracht, wo seine Wunden gesäubert und die Wunde an seiner Stirn genäht wurde. Die Fäden wurden eine Woche später entfernt und die Narbe über ein Jahr mit Wundsalbe versorgt. Seine Mutter wurde vom Rettungsdienst in ein anderes Krankenhaus gebracht, wo sie später ihren Verletzungen erlag. Da Emilios Eltern vor dem Unfall mit seinen Großeltern mütterlicherseits zusammengelebt hatten, standen ihm auch nach dem Unfall fürsorgliche Erwachsene und eine große Familie zur Verfügung. Der Schmerz des Verlusts seiner Mutter konnte durch diese Verfügbarkeit anderer wichtiger Bezugspersonen gewissermaßen aufgefangen werden, auch wenn Emilio nach dem Unfall anhaltend intensive Trennungs- und andere Ängste sowie fortwährend Phasen von Trauer zeigte. Es waren bei ihm jedoch keine signifikanten PTSD-Symptome sichtbar. Es bereitet ihm keine Probleme, in einem Auto zu sein oder an der Unfallstelle vorbeizufahren. Er litt weder an Alpträumen noch an Flashbacks. Plötzliche laute Geräusche waren die einzigen mit dem Unfall verbundenen Reize, die Angst auslösten. Nach dem Unfall wurde Emilio erzählt, dass seine Mutter so verletzt gewesen sei, dass sie verstorben und in den Himmel gekommen sei. Er nahm an der Trauerfreier und dem Begräbnis teil, sollte sich jedoch während der Trauerfeier im hinteren Bereich der Kapelle und an der Grabstelle hinter anderen Trauergästen aufhalten. Seine Familie glaubte, dass er nicht wirklich sehen oder verstehen würde, was geschehe. Vor der Trauerfeier war Emilio erlaubt, im Raum der Kapelle umherzugehen, in dem, zumindest für eine kurze Zeit, seine Mutter in einem offenem Sarg aufgebahrt lag.

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Die Familie nahm an, dass seine Körpergröße nicht ausreiche, um seine Mutter in dem Sarg sehen zu können. Zum Zeitpunkt des Unfalls hatte Emilio gerade begonnen einfache Sätze zu sprechen. Seine sprachlichen Fähigkeiten verbesserten sich sehr nach seinem zweiten Geburtstag. Seine Familie berichtete, sie habe in der Zeit nach dem Unfall mit ihm weder über den Unfall noch darüber, was genau seiner Mutter zugestoßen war, gesprochen. Sein Vater war davon überzeugt, dass Emilio nicht an seine traumatischen Erlebnisse erinnert werden und seine Mutter in positiver Erinnerung behalten sollte. Die anderen Familienmitglieder respektierten diesen Wunsch. Sie erzählten ihm hingegen, wie sehr ihn seine Mutter geliebt habe und welche glücklichen Momente sie miteinander geteilt hatten. Sie passten sich Emilios besonderen emotionalen Bedürfnissen an; wirkten beruhigend und tröstend auf ihn ein, wenn er ängstlich oder traurig war. Auch wenn sie wussten, dass seine Angst bzw. Traurigkeit vermutlich mit dem Verlust seiner Mutter in Verbindung stand, fragten sie ihn nicht, welche Erinnerungen und Gedanken er hatte, wenn er ängstlich oder traurig war. Sie berichteten, er habe zweimal klare Erinnerungen an den Unfall geäußert. Dies sei zum ersten Mal nach sechs Monaten geschehen, als Emilio und sein Vater durch die Kreuzung fuhren, an der sich der Unfall ereignete, und Emilio bemerkte: »Hier hat der betrunkene Mann meine Mutter angefahren.« Das zweite Mal erfolgte beachtenswerterweise drei Jahre nach dem Unfall, als sich Emilio während des Prozesses gegen den angetrunkenen Fahrer mit seiner Tante im Gerichtsgebäude befand. Als er den Mann gegenüber in der Empfangshalle bemerkte, sagte er zu seiner Tante: »Dieser Mann saß auf dem Bordstein mit seinem Kopf nach unten«, und demonstrierte es, indem er sich hinhockte und seinen Kopf in die Hände legte. Daneben hatte er keine spontanen Erinnerungen geäußert. Wie bereits beschrieben, hatte seine Familie es unterlassen, mit ihm über den Unfall zu sprechen.

Erste Sitzung Von Beginn an fiel Emilios Beschäftigung mit dem Tod auf. Als er das Spielzimmer bei der ersten Sitzung betrat, begab er sich unmittelbar zu dem Puppenhaus, fand eine Jungenpuppe und sagte mir, der Junge habe Angst, weil ein Monster ihn umbringen würde. Wenig später, nachdem er einige

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Spielzeuge und Puppenmöbel aus einer Box auf dem Tisch platziert hatte, fing er an, mit einem der Spielzeuge gegen meine Stirn zu stoßen (was er, wie zu sehen sein wird, über alle vier Sitzungen hinweg wiederholte). Als ich ihn fragte, was geschehe, sagte er mir, dass ich sterben werde, weil ein böser Mann mich angezündet habe. Nach dieser Interaktion verging nicht allzu viel Zeit, bis er eine weibliche Puppe in dem Puppenhaus fand und sie neben mich auf den Tisch stellte. Er schubste dann die Puppe, sodass sie bäuchlings auf den Tisch fiel, und sagte zu mir: »Sie ist gestorben.« Eine kurze Zeit später fand er eine andere weibliche Puppe in dem Puppenhaus und sagte mir (während er es gleichzeitig demonstrierte), dass »sie vom Dach gefallen« ist. Er stellte dann die Puppe auf ein Lego-»Auto«, welches aus einem flachen Plastikbrett mit Rädern bestand, und brachte es zum Tisch. Er reagierte nun auf das Element des Autos, indem er ein weiteres Spielzeugauto nahm und es mehrere Male gegen die Puppe stieß, die er in der anderen Hand hielt. Dann legte er behutsam die Puppe in eine Spielzeug-Badewanne und sagte mir: »Sie ist gestorben. Sie ist sehr krank geworden und gestorben.« Anschließend legte er die Badewanne mit sehr ernster Miene verkehrt herum auf den Tisch, sodass sie die Puppe bedeckte. Sie glich nun einem Sarg. Als er für eine Zeit schweigend die herumgedrehte Badewanne betrachtete, fragte ich ihn, was die Familie jetzt tun würde, nachdem die Puppe gestorben sei. Er antwortete: »Sie werden die ganze Stadt nach ihr absuchen.« Dann hob er die Badewanne hoch, blickte kurz auf die Puppe und bedeckte sie dann wieder mit der Wanne. Ich fragte ihn, wie sich seine Familie fühlen würde, wenn sie sie nicht finde. Er antwortete: »Dann werden sie auch sterben.« Als er in der darauffolgenden Sitzung wiederholt mit seiner Hand bzw. mit einem Spielzeug gegen meine Stirn stupste, sagte ich ihm, dass ich eine große Schnittwunde an meiner Stirn habe, und fragte ihn, was ich tun solle. Er sagte, er würde einen Verband auf die Wunde legen, und tat so, als würde er dies tun. Ich fragte ihn dann, ob er jemals eine Schnittwunde im Gesicht gehabt habe. Er antwortete: »Nein, ich hatte einmal eine an meiner Hand, aber es kam kein Blut heraus. Es kam wie von selbst dorthin.« Während er das sagte, hielt er seine rechte über seiner linken Hand und machte damit rhythmische, wellenförmige Bewegungen nach oben und unten, als wolle er das Herausspritzen des Blutes verdeutlichen. Diese Sequenz veranschaulichte auf lebhafte Weise, was er erlebt hatte: zu sehen, dass Blut in Schüben über seine Hand floss, ohne dabei zu wissen, dass das Blut aus der verletzten Ader an seiner Stirn stammte.

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Eine kurze Zeit später fragte ich ihn wieder, ob er jemals eine Schnittwunde in seinem Gesicht gehabt hatte, und er verneinte wieder. Jedoch fragte er mich anschließend spontan, als hätten ihn diese Assoziationen (bewusst oder unbewusst) zu dem Unfall geführt: »Weißt du, wie meine Mutter gestorben ist?« Er beschrieb dann verbal, dass da ein betrunkener Mann war und eine rote Ampel. Und dass der Mann nicht angehalten habe und in das Auto seiner Mutter gefahren sei und dass sie so gestorben sei. Er fuhr dann fort: »Aber ich kam in ein Krankenhaus. Ich war ein Baby damals.« Er erzählte dann aufgeregt: »Ich hatte keine Windeln an! Sie sind heruntergefallen und ich war genau hier nackt.« Dabei spreizte er seine Beine und zeigte auf seine Leistengegend. Die verbale Beschreibung des Todes seiner Mutter war sehr genau, klang jedoch so, als sei sie ihm von anderen erzählt worden, nicht als komme sie von ihm selbst. Sein Vater und seine Großeltern teilten mir mit, dass ihm in dieser Weise von dem Unfall erzählt worden war. Seine Beschreibung und szenische Darstellung des Verlustes seiner Windeln und der Entblößung seines Genitals erschienen dagegen spontaner und lebhafter, auch wenn hier nicht klar war, ob er von einer eigenen Erinnerung berichtete oder ob er etwas nachspielte, das ihm erzählt worden war und das er sehr lustig fand. Das Verlieren seiner Windeln war in der Familie zum Thema gemacht worden und, wie mir die Familie berichtete, gefiel es Emilio, anderen davon zu erzählen. Gegenüber diesen verbalen Beschreibungen, die vermutlich auf dem beruhten, was ihm von Erwachsenen erzählt worden war, gab es in unserem Gespräch auch Beispiele nonverbaler Erinnerungen seiner Erlebnisse, von denen ich denke, dass sie wahrscheinlich nicht von anderen beeinflusst waren. Anknüpfend an seine Beschreibung des Unfalls bemerkte ich, dass er in dem Auto gesessen habe, und bat ihm, mir zu erzählen, was geschehen war. Er antwortete: »Etwas Schlimmes, aber daran erinnere ich mich nicht.« Dann begann er jedoch auf animierte, fast getriebene Weise, mich überall an meinen Händen, meinen Armen und an meinem Gesicht zu stupsen, als wolle er zeigen, wie er von Glasscherben getroffen wurde. Als ich ihm seine Darstellung spiegelte, indem ich rief, ich hätte »überall Schnitte«, setzte er sich zurück in seinen Stuhl, krümmte seinen Rücken, umfasste seinen Hals mit seinen Händen und gab während der nächsten 30 bis 40 Sekunden sehr laute röchelnde Töne von sich, als würde er verzweifelt um Luft ringen. Es war nicht leicht zu erahnen, wie viel bewusste Intention in diesen dramatischen Reenactments, Schnitte am gesamten Körper zu haben, steckte. Für mich handelte es sich dabei eindeutig um eine Imitation der letzten

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Atemzüge seiner Mutter. Zumindest waren beide Reenactments direkte Antworten auf meine Frage, was in dem Auto geschehen war. Ich war davon überzeugt, dass er zu einem gewissen Grad beabsichtigte, mir etwas mitzuteilen, was er nicht ohne Weiteres in Worte fassen konnte. Ich teilte ihm mit, dass es so wirke, als könne er nicht atmen, und dass es »beängstigend« sei. Er wiederholte die Worte: »Ich kann nicht atmen.« Dann beendete er das Gespräch, indem er das gesamte Spielzeug zurück in die Box legte.

Finale Sitzung Während ich in den ersten drei Stunden darauf bedacht gewesen war, seinen spontan aufkommenden Erinnerungen Raum zu geben, wurde ich während unserer letzten Sitzung etwas aktiver. Um die Situation kurz vor dem Unfall nachzustellen, setzte ich eine Mutterpuppe und eine Babypuppe auf den Boden in ein Auto und platzierte ein anderes Auto daneben. Dann bat ich Emilio, ob er mir zeigen könne, was nun geschehe. Nachdem er zunächst die Wagen willkürlich herumfahren lassen hatte, ließ er das andere Auto gegen das Auto fahren, welches den Wagen von ihm und seiner Mutter repräsentierte (jedoch nicht in der Art, wie sich der Unfall tatsächlich ereignet hatte), und sagte: »Und nun kommt die Mutter in den Himmel.« Als er die Jungenpuppe aus dem Auto in die Hand nahm, fragte ich ihn, was mit dem Jungen während des Unfalls geschehen sei. Emilio erwiderte, der Junge sei zum Arzt gekommen, weil er eine »Schramme« gehabt habe. Ich nahm ein Krankenbett und einige Puppen in medizinischer Bekleidung und er legte den Jungen in das Krankenbett. Ich fragte ihn, wie er in das Krankenhaus gekommen sei, und er sagte: »Ich glaube, der Arzt hat mich hingefahren.« Als ich ihn fragte, wo seine »Schramme« gewesen sei, zuckte er mit den Achseln und sagte wieder, dass er sich nicht erinnere. Dieses verbale Bestreiten, etwas über seine »Schramme« zu wissen, war bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass er in den drei vorangegangenen Sitzungen wiederholt gegen meine Stirn gestupst hatte, eine genähte Narbe an seiner »Schramme« gehabt hatte und über ein Jahr mit Wundsalbe an der Stirn behandelt worden war. Als ich ihn bat, mir zu zeigen, wie ihn der Arzt behandelt habe, begann er, die Puppen zurück in die Kiste zu legen und sagte: »Ich möchte etwas anderes spielen.« An dieser Stelle der Untersuchung versuchte ich seine Erinnerungen weiter zu eruieren und forderte ihn erneut auf, mir zu zeigen, wie der Unfall geschehen war. Dieses Mal stellte ich die

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beiden Autos jedoch in die exakte Position, die sie zueinander vor dem Unfall hatten. Ich fragte ihn: »Kam das andere Auto aus dieser Richtung?« Er antwortete: »Ich glaube, ja, so war es.« Nun, da die Spielsituation die tatsächliche Szene genauer repräsentierte, war Emilio im Vergleich zu den vorherigen Darstellungen motivierter und affektiv involvierter. Er nahm das Auto des angetrunkenen Fahrers in die Hand, kommentierte, es sei »super schnell!«, und ließ es mit viel Schwung und lautem Krachen gegen die Seite des Autos der Mutter- und der Babypuppe fahren. Weil die Frage relevant war, was Emilio genau erinnerte, fragte ich ihn erneut, ob er gesehen hatte, was seiner Mutter passiert war. Er antwortete zwar nicht, hob aber die hölzerne Puppe von Fisher Price, die den Jungen im Auto repräsentierte, auf. Er schaute sie eingehend an und sagte: »Es ist ein trauriges Gesicht.« Ich erwiderte: »Ich denke, dass auch du sehr traurig warst, als der Unfall geschah und die Mutter in den Himmel kam«, und fragte ihn wieder, ob er gesehen habe, was mit seiner Mutter geschah. Zum wiederholten Mal sagte er: »Ich sah sie nur, als sie bremste, aber als sie starb, sah ich sie nicht mehr.« Um konkreter zu werden, fragte ich ihn, ob er sie in dem Auto gesehen habe, was er bejahte. Ich fragte ihn, ob er mir erzählen könne, was er gesehen habe. Seine Antwort war: »Oh … ich sah …. mhm, mhm, mhm, mhm, mh, mh, … [wiederholt].« Als er diese »mh mh«-Laute wiederholte, wurde seine Stimme zunehmend hoch und kehlig, bis die Laute zu den bereits beschriebenen röchelnden und erstickenden Lauten wurden. Er beendete dann das Spiel, indem er sich auf die gegenüberliegende Seite des Spielzimmers begab. Ein weiteres Beispiel für die Trennung und das gleichzeitige Ineinandergreifen von verbalen und nonverbalen Erinnerungen bezogen auf die Schnittwunde an seiner Stirn ereignete sich etwas später in dieser Sitzung. Er stupste wieder mit einem Spielzeug gegen meinen Kopf, dort, wo ich eine »Schramme« hatte. Um die Realität ins Spiel einzubeziehen, fragte ich ihn (während ich meine Hand ausstreckte um das Haar auf seiner Stirn beiseite zu streichen, wo seine Narbe tatsächlich war): »Kann ich sehen, wo deine Schramme ist?« Er schien eindeutig zu wissen, was ich fragte, denn er bewegte seinen Kopf so, dass ich seine Narbe unmittelbar sehen konnte, und zeigte auf die Stelle. Daraufhin fragte ich wieder: »Hast du eine Schramme?« Wieder war seine verbale Antwort »Nein. Nein.« Da er durch sein Verhalten gezeigt hatte, dass er wusste, was ich meinte, fragte ich ihn, ob er wisse, wo seine Schramme sei. Er zuckte mit den Achseln und begann mit ein paar Spielsachen zu spielen. Ich ließ es nicht dabei beruhen, streckte, um seine Narbe aufzudecken, meinen Arm aus und

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sagte »dieser Schnitt dort«. Diese Geste war ein affektiv hinreichend bedeutsamer Reiz um eine bedeutende Verbalisierung seiner Gefühle auszulösen. Er wich abrupt zurück und sagte: »Du machst mir Angst.« Ich fragte ihn, was ihm Angst mache, und er sagte: »Das, was du sagst.« Ich fragte: »War es beängstigend, dass ich dich gefragt habe, wie du deine Schnittwunde bekommen hast?« Er antwortete: »Ja.« Wir beide wussten genau, was an meiner Frage ihm Angst bereitet hatte. Ein letztes Beispiel für die Trennung verbaler und nonverbaler Repräsentationen seines Traumas zeigte sich zum Ende der letzten Sitzung. Ich fragte Emilio, ob es andere Dinge gab, die ihn beängstigen würden, und er erzählte mir, dass er sich unter seinem Bett verstecke, weil er Angst vor seinem Spiegel hatte. Er hatte Angst, dass ein böser Mann durch den Spiegel kommen und ihn stehlen würde. Beschäftigt mit dem Bild des Spiegels fragte ich ihn, was passieren würde, wenn der böse Mann durch den Spiegel kommen würde. Ob er den Spiegel zerbrechen würde. Er ging auf diesen Aspekt des Zerbrechens des Spiegels nicht ein, wiederholte jedoch seine Angst, dass der böse Mann zurückkommen und versuchen würde ihn zu stehlen. Er sagte, er würde »den Mann auf den Hintern hauen«. Daraufhin wurde ich expliziter. Ich sagte, dass der Spiegel aus Glas sei, und fragte ihn, was passieren würde, wenn das Glas zerbrechen würde. Er antwortete mit bewegter Stimme: »Das wäre schliiimm! Man würde es in die Augen und Ohren bekommen und in den Bauch und Bluuuuut würde aus einem herauskommen!« Ich fragte ihn: »Hast du jemals gesehen, wie Glas zerbrochen ist?« Auch wenn er seinen vorherigen Antworten nach eindeutig aus eigener Erfahrung wusste, was passieren kann, wenn Glas zerbricht, war seine Antwort auf diese Frage ein definitives: »Nie. Niemals!« Die Angst, jemand könnte durch das Glas kommen und ihn stehlen, verdeutlicht einen weiteren Aspekt des traumatisierenden Unfalls, die Angst von einem Mann an der Unfallstelle aus dem zertrümmerten Auto geholt zu werden.

Diskussion In der Fallvignette werden verschiedene Formen, wie Emilio das Trauma des Unfalles und des Todes seiner Mutter verinnerlicht hat, sichtbar. Über verbale Schilderungen teilte er mir mit, wie der Unfall passiert war, wie seine Mutter in den Himmel kam, wie er

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seine Windel in dem Krankenhaus verloren hatte, wie er in das Krankenhaus kam, eine »Schramme« hatte und vom Arzt gefahren werden musste und wie der betrunkene Fahrer das Geschehen am Unfallort betrachtet hatte. Sein nonverbales Erinnern zeigte sich in unterschiedlicher Form: unter anderem als verinnerlichte Repräsentanzen, die gleichermaßen generalisierte Angst bezogen auf den Tod sowie spezifische Ängste vor zerbrechendem Glas und davor, von einem Mann gestohlen zu werden, auslösten; als Reenactments im Spiel, zum Beispiel der Beerdigung seiner Mutter, gefolgt von seiner Demonstration des Gefühls einen endgültigen Abschied zu erleben, sein wiederholtes Stoßen gegen meine Stirn, welches wiederum zahlreiche andere Assoziationen zu dem Unfall auslöste und schließlich seine dramatische Imitation der letzten Atemzüge seiner Mutter. Wie eingangs erwähnt, zeigte Emilio im Verlauf unserer Sitzungen, obwohl seine sprachlichen Fähigkeiten zu diesem Zeitpunkt bereits recht gut waren, häufiger Formen nonverbalen Erinnerns. Diese schienen emotional relevanter zu sein, wohingegen seine ausgedehnten verbalen Schilderungen über den Hergang des Unfalls und über den Verlust seiner Windel in dem Krankenhaus frei von negativen Affekten waren und eher einer Nacherzählung dessen glichen, was ihm bereits erzählt worden war, als dass es seine eigene Erzählung war. Seine Erzählung über die Einlieferung in das Krankenhaus war zwar von einer Pause begleitet, die etwas Bedrückendes hatte. Der wahrscheinlichere Auslöser dieser Pause scheint mir aber zu sein, dass er dabei gerade die Szene im Krankenhaus nachspielte und die traurige Jungenpuppe in dem Krankenbett betrachtete. Gegenüber diesem mangelnden Affektgehalt seiner verbalen Schilderungen waren seine nonverbalen Enactments deutlich emotionaler. Beispiele hierfür waren sein reges Stupsen um zu demonstrieren, wie er (bzw. ich) am Gesicht und gesamten Körper von Glasscherben getroffen wurde, seine dramatischen und lauten Würgegeräusche sein bedrückter Blick auf die Jungenpuppe mit dem traurigen Gesicht, als er über die Krankenhausszene nach dem Unfall nachdachte, sowie die Heftigkeit, mit der er die zwei Autos gegeneinander fahren ließ, nachdem sie in der Ausgangslage vor dem Unfall positioniert worden waren. Der vielleicht deutlichste Beweis für den affektiven Gehalt dieser Enactments war der Umstand, dass er sich danach zumeist emotional wieder verschloss oder das Spielthema wechselte.

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Emilios verbales und nonverbales Erinnern wies recht unterschiedliche wechselseitige Beziehungen zueinander auf: Zeitweise schienen beide Formen unverbunden und voneinander unabhängig zu sein. Zum Teil schienen sie wiederum stark miteinander verflochten zu sein, wenn auch in nicht vorhersehbarer Weise. Es gab ein paar wenige Fälle, in denen seine verbalen und nonverbalen Erinnerungen zu einer kohärenten Erzählung integriert waren. Das deutlichste Beispiel hierfür findet sich in seiner verbalen und gestischen Verbildlichung dessen, wie das Blut in mysteriöser, pulsierender Weise über seine Hand lief. Häufig geschah es auch, dass eine Erinnerungsform eine weitere auslöste. Ein Beispiel für eine verbale Schilderung, die eine nonverbale Erinnerung auslöste, ereignete sich, als ich ihn konkrete Fragen bezogen darauf stellte, was er in dem Auto gesehen hatte. Er antwortete nonverbal, indem er heftig gegen mein Gesicht und Oberkörper stieß und mit röchelnden Lauten die letzten Atemzüge seiner Mutter imitierte. Ein Beispiel für das Auslösen einer sprachlichen Mitteilung durch nonverbales Erinnern trat auf, als er mir sagte, dass ihn mein Griff nach seiner Stirn ängstige, weil es ihn daran erinnerte, wo seine Schnittwunde war. Eine kompliziertere, in beide Richtungen gewandte Verknüpfung trat auf, als seine nonverbale Darstellung, einen Schnitt auf meine Stirn zu machen, zu meiner Frage führte, ob er jemals eine Schnittwunde an seiner Stirn gehabt habe. Dies wiederum brachte ihn dazu, mich zu fragen, ob ich wüsste, wie seine Mutter gestorben sei. Der fluide Übergang vom verbalen zum nonverbalen Ausdruck seiner Erinnerung in diesen Beispielen erschwert die Unterscheidung dessen, was als bewusst, als vorbewusst oder als unbewusst verstanden werden sollte. Am auffälligsten waren diejenigen Momente, in denen Emilios verbales und nonverbales Erinnern nicht nur isoliert voneinander auftraten, sondern sich auch direkt zu widersprechen schien. Ein Beispiel hierfür war verbales Bestreiten, eine Schnittwunde an der Stirn gehabt zu haben, obwohl sein Verhalten darauf hinwies, dass er sich seiner »Schramme« und woher sie kam, bewusst war. Ein zweites Beispiel hierfür ist, dass er erst auf dramatische Weise im Einklang mit seinem Erleben darstellte, was geschah, als das Glas zerschmetterte, dann aber nachdrücklich verneinte jemals von zersplittertem Glas umgeben gewesen zu sein. Diese Widersprüche deuten auf eine

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beachtliche Dissoziation zwischen beiden Erinnerungsformen hin. Für gewöhnlich wird eine solche Dissoziation als psychische Abwehr traumatischen Erlebens gedeutet. Allerdings ist diese Erklärung hier aus verschiedenen Gründen nicht besonders zufriedenstellend: So vermied er die Exploration seines unmittelbaren Erlebens auf verbaler wie auch auf nonverbaler Ebene. Seine Leugnung war nicht nur in affektiv aufgeladenen Momenten beobachtbar, sondern auch, als er weniger angespannt war. Wann er verbal bzw. nonverbal erinnerte war nicht gut vorhersehbar, so als würde es eher von spezifischen Reizen und weniger von Abwehrprozessen abhängen. Dass er auf meine Frage hin auf nonverbaler Ebene zielgerichtet mir seine »Schramme« zeigte, aber zugleich dessen Existenz verbal bestritt, lässt auf einen komplizierteren Zusammenhang als einen bloßen Abwehrvorgang schließen, gerade weil er so leicht vom nonverbalen Ersatzelement zur verbalen Anerkennung des Wissens um die Narbe überging. Schließlich antwortete er auf meine Frage, was er während des Unfalls im Auto beobachtet hatte mit verhaltensbezogenen Enactments (beispielsweise den röchelnden Lauten), wobei es mehr den Anschein hatte, als fehlten ihm die Worte zu beschreiben, was er gesehen hatte, als dass er sich dagegen wehrte, etwas verbal auszudrücken. Ich würde vermuten, dass hier neben Vorgängen der Abwehr auch entwicklungsbedingte Veränderungen in der frühen Kindheit eine wichtige Rolle zur Erklärung des fluiden Übergangs bei gleichzeitiger Isoliertheit der verbalen und nonverbalen Erinnerungsformen spielen. Besonders bedeutsam erscheint hier die Entwicklung vom primär nonverbalen Lernen im präverbalen Stadium zum primär sprachlich vermittelten Lernen nach dem Spracherwerb. Dieser Entwicklungsschritt wird mit einer signifikanten neuronalen Reorganisation assoziiert, die die hippocampale und präfrontale Reifung sowie die zunehmende Dominanz der linken zerebralen Hemisphäre gegenüber der rechten Hemisphäre umfasst (Nelson, 1995; Bauer, 2013; Schore, 1994).Von diesem Schritt an, bis ins Erwachsenenalter, wird sprachbezogenes Wissen, das die grundlegende Basis für die Kommunikation von Ereignissen bildet, erworben. Wie eingangs erwähnt, geschieht dies jedoch nicht über Nacht. Auch sind die neuronalen Strukturen, die dieser erweiterten und differenzierteren Form der Informationsverarbeitung zugrunde liegen, auch dann noch lange nicht ausgebildet, wenn bereits gute

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sprachliche Fähigkeiten vorhanden sind. Im Wesentlichen wird sich das Kind also auch nach dem Spracherwerb, zumindest über einen längeren Zeitraum, für die Informationsverarbeitung beider potenziell nicht integrierter Modalitäten bedienen. Nimmt man an, dass beide Systeme zu Beginn nicht vollständig integriert sind, ist eine gewisse Disjunktion zwischen ihnen zu erwarten, und dies insbesondere für Ereignisse, die sich vor dem Spracherwerb ereigneten. Diese hier beschriebene Disjunktion oder Dissoziation ist nicht allein Folge der traumatischen Erfahrung. Durch die grundlegende zerebrale Reorganisation können anfangs in fast allen Punkten der mentalen und verhaltensbezogenen Entwicklung von Kindern Dissoziationen beobachtet werden (Fischer u. Granott, 1995; Lyons-Ruth, 1999). Das internale Schema, auf dem das Erlernen und/oder die Entwicklung von Fähigkeiten beruht, setzt sich anfangs aus voneinander unabhängigen Komponenten zusammen, die jeweils auf denjenigen Reizen beruhen, durch die sie gebildet werden. Abhängig von den nachfolgenden Erfahrungen des Kindes bleiben diese anfänglichen Komponenten oder Repräsentationsschemata voneinander isoliert und folgen unterschiedlichen Entwicklungsfäden oder sie werden mit der Zeit zunehmend integriert (Fischer et al., 1997). In Emilios Fall scheint es so, als werde seine traumatische Erfahrung durch das affektiv-sensomotorische System als primäre Modalität repräsentiert, auch wenn er zum Unfallzeitpunkt bereits gewisse Sprachfähigkeiten besaß. Seine nonverbalen Erinnerungen blieben von seiner sprachlichen Welt weitestgehend dissoziiert. Teilweise aufgrund ihres schmerzhaften Charakters, teilweise, weil er nicht darin unterstützt worden war, sie zu verbalisieren, und schließlich aufgrund der eben beschriebenen Disjunktion von verbaler und nonverbaler Verarbeitung. Da Emilios traumatische Erinnerungen primär nonverbal waren, leuchtet es ein, dass Möglichkeiten, sie »auszuspielen«, nicht nur einen sinnvollen Zugang zu seiner inneren Welt darstellen, sondern ihm auch helfen könnten, ein umfassendes Narrativ für seine traumatischen Erlebnisse zu entwickeln; ein Narrativ allerdings, welches die Möglichkeiten integrativen Verstehens, die Sprache bietet, miteinschließen sollte (Gaensbauer, 2004). Wegen des forensischen Hintergrundes unserer Sitzungen war es mir nicht möglich, ihm diese Art von Unterstützung zu bieten. Es gab jedoch zahlreiche

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Möglichkeiten, in denen ein ausführliches Spiel, gestützt von einem verbalen Gerüst, für sein narratives Verstehen sehr hilfreich gewesen wäre. Mein Vorschlag wäre es, dabei weniger das Bewusstmachen unbewusster Erinnerungen bzw. das Explizieren implizierter Erinnerungen zu forcieren. Vielmehr sollte die Integration nonverbaler Erinnerungen in einen sprachlichen Rahmen unterstützt werden. Kommen wir nun zur grundlegenden Frage zurück, ob nonverbale Mitteilungen und Enactments aus der frühen Kindheit als Teil der bewussten Wahrnehmung oder als unbewusste Manifestationen verstanden werden sollten, so sind wir mit einem Definitionsproblem konfrontiert. Wie ist das Bewusstsein jüngerer Kinder konstituiert? Wie zuvor erwähnt, wird im Allgemeinen angenommen, dass die Entwicklung der bewussten Wahrnehmung und die Ausbildung des autobiografischen Gedächtnisses im Alter von zwei Jahren synonym zur Entwicklung des sprachlichen Selbst verlaufen. Eine solche Konzeptualisierung schließt per Definition die Möglichkeit aus, dass einem Kind vor diesem Alter bei einem Reenactment eines traumatischen Ereignisses bewusst ist, dass sich sein Verhalten auf etwas bezieht, das ihm in der Vergangenheit widerfahren ist. Allerdings reagieren Kinder bereits im vorsprachlichen Alter zielgerichtet und sehr adaptiv auf Situationen, in denen ihnen nonverbal Erinnerungen an vergangene Ereignisse aus ähnlichen Situationen vermittelt werden. Ein solches adaptives Verhalten deutet gewiss auf die bewusste Verwendung einer internalen Repräsentation hin, deren Grundlage ist, dass das Kind zumindest zu einem gewissen Grad wahrnimmt, dass »Ich schon einmal in dieser Situation war«. Die nachfolgenden Beispiele, die Emilios Fall ähneln, lassen (ungeachtet entwicklungsbedingter Unterschiede) vermuten, dass nonverbale Formen des Erinnerns bei jüngeren und älteren Kindern vergleichbar sind: Wenn eine sexuell missbrauchte Fünfjährige gebeten wird zu zeigen, wie sie von ihrem Babysitter angefasst worden ist, und sie dies demonstriert, indem sie die Hand einer Erwachsenenpuppe auf den Genitalbereich einer Kinderpuppe legt, dann würde man annehmen, dass das Kind hier auf nonverbaler Ebene eine bewusste Erinnerung an ein vergangenes Ereignis mitteilt. Einem 26 Monate altem Mädchen, welches bis zum Alter von 11 Monaten, bevor sie in eine Pflegefamilie kam, häuslicher Gewalt ausgesetzt war, wird eine männliche und eine weibliche Puppe gereicht und sie beginnt un-

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mittelbar die Puppen aneinanderzuschlagen. Könnte dies nicht auf ähnliche Weise als Manifestation eines bewussten Reenactments einer Erinnerung entgegen eines unbewussten konditionierten Reenactments verstanden werden, insbesondere dann, wenn das Kind dabei sprachlich kommentiert, was es gesehen hat (Gaensbauer, 2004)? Als weiteres Beispiel von vielen ist ein dreijähriger Junge anzuführen, der im Alter von 15 Monaten an schweren Nebenwirkungen einer intravenösen Infiltration an seiner Hand und am Arm litt. Er legte im Spiel eine Jungenpuppe in ein Krankenbett und platzierte die Mutterpuppe auf einem Stuhl am Ende des Bettes (wo seine Mutter während seines Krankenhausaufenthaltes gesessen hatte). Er legte auch eine Spielzeug-Gehstütze neben das Bein der Jungenpuppe. Wie seine Mutter erklärte, repräsentierte dies vermutlich die Schiene an seinem Bein, die den Venenkatheter an seinem Knöchel schützte. In der nachfolgenden Sitzung, nahm er, um zu zeigen, wie geschwollen seine Hand in dem Krankenhaus gewesen war, einen Stift und begann damit in aggressiver Weise gegen die Seiten seiner Finger zu piksen. Dieses Verhalten bezog sich deutlich auf die über vierzig Nadelstiche, die er im Krankenhaus an Fingern und Hand erhalten hatte, damit die Flüssigkeit abfließen konnte (Gaensbauer, 1997). Handelt es sich bei diesen Reenactments, die im Kontext des Krankenhaus-Spiels auftauchten, um automatische Reaktionen, die außerhalb der bewussten Wahrnehmung liegen? Oder war sich das Kind bewusst, dass es eine spezifische Erfahrung, die ihm in der Vergangenheit wiederfahren war, nachspielte? Als ich Emilio fragte, was er im Auto mitbekommen hatte, und er mich überall stieß und die erstickenden Laute seiner Mutter imitierte, zeigte er da unbewusst eine konditionierte Reaktion oder war er sich bewusst, dass er mir eine Erinnerung mitteilte? Oder, als er zwischen seinen verbalen Schilderungen und nonverbalen Enactments hin und her wechselte, erinnerte er da bewusst Aspekte seines Traumas, und an welchem Punkt war er sich der Quelle dessen, was er kommunizierte, nicht bewusst? Auf diese Fragen gibt es keine klare Antwort. In einem früheren Artikel habe ich argumentiert, dass jüngere Kinder aufgrund ihrer begrenzten biologischen Kapazität zur Verarbeitung der affektiven und verhaltensbezogenen Reize, die sie aufnehmen, gewissermaßen automatisch zu Reenactments traumatischer Erfahrungen getrieben werden, ohne sich dessen bewusst zu sein (Gaensbauer,

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2011). Gleichzeitig habe ich an anderer Stelle von zahlreichen Fällen berichtet, in denen Reenactments präverbaler Erfahrungen von Kindern als recht zielgerichtet erschienen, wie zum Beispiel in dem eben beschriebenen Fall des Dreijährigen (Gaensbauer, 1997; 2002; 2004). Ausgehend von Emilios Ausdrucksform des Erinnerns und diesen früheren Fallberichten, lautet nun meine Antwort auf die Frage, ob nonverbale Erinnerungen jüngerer Kinder als bewusst oder unbewusst verstanden werden sollten, dass es von der Situation abhängt. Beide Formen sind möglich. Ich würde empfehlen, dass die Frage, ob eine traumatische Erinnerung verbal oder nonverbal von jüngeren Kindern internalisiert und ausgedrückt wird, getrennt von der Frage behandelt werden sollte, ob ihr Ausdruck bewusst oder unbewusst ist. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass bewusst erfahrene nonverbale Erinnerungen, seien sie traumatisch oder nicht, eine entscheidende Rolle in der Verarbeitung belastender Ereignisse von Kindern spielen. Auch sehr junge Kinder im präverbalen Entwicklungsstadium zeigen ein ausgeprägtes Maß an Steuerungsfähigkeit und Zielgerichtetheit, also einer bewussten Intention, wenn sie adaptiv auf Reize reagieren, die mit einer vorausgegangenen belastenden Erfahrung assoziiert sind. Übersetzung: Lena Dierker

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Marianne Leuzinger-Bohleber

Embodiment und die Annäherung an das Nicht-Repräsentierte1

»Embodied« Gegenübertragungsreaktionen im Erstinterview – Schlüssel zum Nicht-Repräsentierten? Freud schreibt 1914 in »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«: »Vor allem beginnt er [der Patient] die Kur mit einer solchen Wiederholung. […] Natürlich wird uns das Verhältnis dieses Wiederholungszwanges zur Übertragung und zum Widerstande in erster Linie interessieren. […] Je größer der Widerstand ist, desto ausgiebiger wird das Erinnern durch das Agieren (Wiederholen) ersetzt sein« (1914, S. 130).

Seit Freud haben sich Generationen von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern damit beschäftigt, wie das Wiederholen in der Übertragung in einen heilenden Erinnerungsprozess überführt werden kann. Zumeist handelte es sich dabei um symbolisch repräsentierte und verdrängte Erinnerungen bzw. Muster von Beziehungen. Seit längerer Zeit jedoch befasst sich die Theorie und Klinik der Psychoanalyse mit seelischem Material, das auf andere Weise in der analytischen Beziehung gegenwärtig ist. »Unrepresented States and the Construction of Meaning« nennen Levine, Reed und S­ carfone (2013) ihren Sammelband, in dem sie André Green würdigen und aus heutiger Sicht auf diese Frage nach der Sinnfindung von Unrepräsentiertem fokussieren. Green (2007) hat mit seinem breit rezipierten Konzept der toten Mutter beschrieben, dass frühe, nicht zu verarbeitende Trennungen vom Primärobjekt zu einer Identifikation mit diesem Objekt, zu einem Besetzungsrück1 Dieser Aufsatz wurde bereits in »Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen« (68 (9–10), 2014, S. 922–950) veröffentlicht und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion wieder abgedruckt

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zug und damit zu einem Verschwinden der inneren Repräsentanzen führen, was in der Übertragungsbeziehung vom Analytiker als eine Leere, eine negative Halluzination des Objekts, »a representation of the absence of representation« (Green, 1999, S. 196; zit. nach Reed, 2013, S. 39), wahrgenommen werden kann. Reed (2013, S. 29 ff.) weist darauf hin, dass die negative Halluzination des Objekts – ein leerer Spiegel – bei diesen Patienten im Grunde genommen immer da ist, aber oft nur in den extremen Reaktionen des Analysanden auf Trennungen vom Analytiker beobachtbar wird. Green beschäftigte sich mit dem Prozess der Desobjektalisierung, das heißt der Auslöschung von Repräsentanzen. Andere psychoanalytische Forscher konzentrierten sich dagegen auf das seelische Material von Patienten, das nur unzureichend oder überhaupt noch nie einen Prozess der Symbolisierung durchlaufen hat. Dominique Scarfone (2013) legt eine konzeptuelle Integration verschiedener Formen von seelischer Repräsentation und ihrer unterschiedlichen psychoanalytischen Konzeptualisierungen vor.2 Er vergleicht die Zeichentheorie von Pierce mit Freuds Auffassung von Primär- und Sekundärprozess, mit Lacans Theorie des Realen, des Imaginären und des Symbolischen, mit Bions Beta- und Alpha-Elementen, mit Laplanches infantilen Sexualtheorien und deren Entschlüsselung im analytischen Diskurs und mit Pierra Aulagniers Konzept des primary, wie etwa der primary violence, die in Szene gesetzt wird (mise en scène) und sich schließlich dem sekundärprozesshaften Diskurs erschließen kann: ein brillantes Beispiel heutiger psychoanalytischer Konzeptforschung.

2 Scarfone betont, dass die Auffassungen von Freud, wie er sie in »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (1914) skizziert, durchaus mit den in dieser Arbeit diskutierten, auf Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften beruhenden Konzeptualisierungen von Erinnerungsprozessen kompatibel sind: »The act of representing is now called ›remembering‹, presented as the main goal of psychoanalytic work, but one gets a clear sense that such remembering is not the mere recalling or evoking. A close reading of the paper – with Freud’s theory of memory (Freud, 1896a, 1899a) and its resonance with modern neuroscientific models (Edelman, 1989) in the background – indicates that memory is not a static storage space where ›files‹ can be retrieved. It is really a living process, perceptually refigurating itself as new elements accrue, so that ›remembering‹ in the present context is really a re-composing of the whole psychic field« (Scarfone, 2013, S. 77).

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Ich möchte in diesem Beitrag einen anderen Weg gehen, indem ich einige Studien aus dem Bereich der Grundlagenwissenschaften, konkret der Embodied Cognitive Science und den kognitiven Neurowissenschaften, herbeiziehe, um aufzuzeigen, dass diese Disziplinen erste Erklärungsmodelle für das klinisch wichtige Phänomen anbieten, wie spontane Einfälle des Analytikers entstehen, die ein erster, entscheidender Schritt zum Verstehen von bisher nicht repräsentiertem seelischem Material sind und es einer psychoanalytischen Bearbeitung zugänglich machen können.3 Damit soll eine neue Perspektive auf bekannte Konzepte geworfen werden, wie zum Beispiel auf das szenische Verstehen (Argelander, Lorenzer), das ­Hören mit dem dritten Ohr (Reik), das Cracking-up (Bollas) oder die now moments der Boston Change Process Study Group. Zudem werden Aspekte aktueller Diskurse zur intersubjektiven Psychoanalyse und zum Enactment sowie zu einem um die sinnliche Körperlichkeit des Analytikers erweiterten Verständnis von Gegenübertragung berührt (vgl. dazu auch Scharff, 2010). Auch Bezüge zu Arbeiten zur Musikalität, zur dynamisch-emotionalen Syntax und zur Performanz der analytischen Beziehung sind naheliegend (vgl. dazu u. a. Dantlgraber, 2008; Leikert, 2013; Buchholz u. Gödde, 2013). Ein klinisches Beispiel aus einem Erstinterview nehme ich als Ausgangspunkt, um im Folgenden zu zeigen, wie sich diese neueren interdisziplinären Konzeptualisierungen zu Gedächtnis und Erinnern als fruchtbar erweisen.4

3 Ich beziehe mich dabei vor allem auf gemeinsame Arbeiten mit Rolf Pfeifer, der die Wende zur Embodied Cognitive Science wesentlich mitbestimmt hat (vgl. u. a. Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, 2002, 2013a, 2013b). Allerdings kann ich in dem begrenzten Rahmen dieses Beitrags die komplexen und herausfordernden wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Problemstellungen, die mit diesem Dialog verbunden sind, nicht erörtern (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, Emde u. Pfeifer, 2013; Hagner, 2008; Hampe, 2003; Gallese, 2013b). 4 Aus Diskretionsgründen muss ich auf Fallmaterial zurückgreifen, das ich bereits 2008 für eine Publikation benutzt habe.

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Enactment und Gegenübertragung im Erstinterview Fallbeispiel Bevor ich die Tür richtig öffnen kann, stürmt Frau M. in den Flur. Sie greift stürmisch nach meiner Hand, nimmt sie in einer merkwürdig sexuell stimulierenden Weise zwischen ihre eigenen Hände und tritt mir dabei sehr nahe, meine normale Intimdistanz überschreitend: »Hallöchen … Ich bin so froh, dass ich mit Ihnen sprechen kann.« Ich trete intuitiv zwei Schritte zurück und beobachte sogleich eine intensive negative emotionale Reaktion, verbunden mit aversiven Körperreaktionen: »Was für eine überwältigende Frau! Das ist mir zu viel. Sie rückt mir zu sehr auf die Pelle … Warum habe ich ihr einen Termin angeboten? Werde ich sie je wieder wegschicken können? Sie scheint mir so bedürftig …« Dann fragt sie mich, wo die Toilette sei, und irritiert mich, weil sie die Tür weit offen lässt. Erst als sie auf dem Stuhl vor mir sitzt, nehme ich ihr hübsches, mädchenhaftes Gesicht wahr, das sich um ein auffallend soziales Lächeln bemüht, sowie ihren schönen weiblichen Körper, den sie durch weite Jeans und einen ausgefransten, unscheinbaren Pullover zu verbergen scheint. Sie ist Mitte 40, wirkt aber wie 60. Am Telefon hatte sie mir berichtet, ihr Hausarzt habe ihr geraten, sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Sie sei krank, leide unter einem Burnout-Syndrom mit schweren Depressionen: »Ich kann nicht mehr – seit Wochen kann ich nicht mehr schlafen und kaum noch essen, bin unfähig zu arbeiten – und kann die Jugendlichen, die ich als Sozialarbeiterin betreue, kaum mehr ertragen. Immer wieder breche ich auch vor ihnen in Tränen aus. Ich habe keine Ahnung, was mit mir passiert ist – ich habe immer bestens funktioniert. Nun geht gar nichts mehr.« Als ich sie nach dem Kontext ihres »Zusammenbruchs« frage, erzählt sie, dass ihr jahrzehntelanger Freund ihr angekündigt hatte, er werde in eine andere Stadt ziehen. Zudem setzten ihr die täglichen Auseinandersetzungen mit ihrer 14-jährigen Tochter und ihrer Mutter zu. »Doch dies sind eigentlich Bagatellen – der Freund bedeutet mir im Grunde genommen nicht viel und Streitigkeiten mit einer Pubertierenden sind ja wohl mehr als normal. Ich verstehe nicht, warum ich in ein so tiefes Loch gefallen bin … nichts macht mehr Sinn. Ich habe keine Kraft mehr …«

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Wie im Folgenden erläutert wird, war das auffallende Interaktionsverhalten von Frau M. durch embodied memories5 determiniert, die zu der heftigen Gegenübertragung der Analytikerin führten. Erkenntnisse aus Studien zu den Spiegelneuronen werden herbeigezogen, um zu erklären, dass in diesen embodied Gegenübertragungsreaktionen durchaus ein erstes, unbewusstes Verstehen von traumatischen frühen Objektbeziehungen, die Frau M. im Erstinterview in der Übertragung wiederholte, enthalten war. Allerdings konnte dieses unbewusste Verstehen erst im dritten Jahr der Psychoanalyse mit Frau M. der bewussten Erinnerung und damit dem analytischen Durcharbeiten erschlossen werden, wie wiederum bezugnehmend auf Ergebnisse der Embodied Cognitive Science diskutiert wird.

Den Körper in der Seele entdecken – ein altes Problem und ein revolutionäres Konzept Was sind embodied memories? Marcel Proust hat mit seinem berühmt gewordenen Beispiel der Madeleine in seinem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« die Grundidee des Embodiments lange vor der Embodied Revolution mit einer bewundernswerten Genauigkeit beschrieben: »Gleich darauf führte ich, ohne mir etwas dabei zu denken, doch bedrückt über den trüben Tag und die Aussicht auf ein trauriges Morgen, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. […]

5 Bisher wird in der deutschen Fachliteratur der englische Ausdruck embodied memories verwendet. Elisabeth Vorspohl hat – u. a. in ihrer Übersetzung der Arbeit von Gallese (2013b) – embodied als verkörpert wiedergegeben (z. B. verkörperte Simulation), doch hat sich diese Übersetzung bisher nicht durchgesetzt.

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Zehnmal muß ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterbeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschließlichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann. Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine, das mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie es in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte« (Proust, 1913/2004, S. 67, S. 69 f.).

Erinnerungen werden plötzlich – »mit einem Mal« – in einer bestimmten Situation erzeugt, die Analogien zu einer früheren Situation aufweist. Diese Analogien werden nicht kognitiv erkannt, sondern durch (unbewusste) Wahrnehmungen verschiedener Sinneskanäle. Die Embodied Cognitive Science spricht hier von sensomotorischen Koordinationen. Sie sind nicht in irgendeiner Form gespeichert, sondern werden in der Gegenwart im Körper konstruiert und rekategorisiert. Im Gegensatz dazu wurden im Repräsentanzenmodell der Psychoanalyse und in der Computermetapher der klassischen Cognitive Science, aber auch, wie Gallese (2013) diskutiert, in der EinePerson-Perspektive der analytischen Philosophie ganz allgemein, Gedächtnis, Erinnerung und Mindreading lange Zeit fälschlicherweise als Prozesse verstanden, in denen (statisch) gespeichertes Wissen aus dem Langzeitgedächtnis in einer aktuellen Problemlösungssituation ins Kurzzeitgedächtnis transferiert und dort abgerufen wird. Aristoteles’ berühmter Vergleich des Gedächtnisses mit einer Wachstafel, in die sich die Erfahrungen einritzen, scheint bis heute fortzuleben, wie manche Lehrbücher der Klinischen Psychologie bezeugen. Auch in den populären Sprachgebrauch ist diese (falsche) Vorstellung von Gedächtnis eingegangen: »Wir rufen gespeichertes Wissen ab« oder »Wir suchen im Gedächtnis nach einem vergessenen Namen« wie nach einem Mantel in einer Garderobe. Forscher der Embodied Cognitive Science entwickelten sukzessiv alternative, adäquatere Vorstellungen von Gedächtnis und

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menschlichem Problemlösen, indem sie sich vor allem von den sogenannten Life Sciences, der Biologie, der Genetik, der empirischen Entwicklungsforschung und den modernen Neurowissenschaften, anregen ließen.

Embodiment – eine neue, grundlagentheoretische Sichtweise des »Leib-Seele-Problems« Gedächtnis als eine Funktion des gesamten Organismus Der Unterschied zwischen den neuen, biologisch inspirierten und den klassischen Gedächtnismodellen wird sehr anschaulich in einer Grafik, die Gerald Edelman schon 1992 (dt. 1995) publizierte (vgl. dazu auch Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, S. 897 ff.). Bei herkömmlichen Gedächtnismodellen geht man – analog zur Informationsverarbeitung in Computern – von einer präzisen Wissensspeicherung aus, die aber statisch und unveränderlich ist und daher kaum einen Transfer auf neue Problemlösungssituationen ermöglicht.

Abbildung 1: Wissensspeicherung nach herkömmlichen Modellen

Hingegen ist die Wissensspeicherung in den dynamischen Modellen der Embodied Cognitive Science zwar ungenauer, ermöglicht aber gerade durch diese Eigenschaft eine optimale Generalisierung und Adaption an neue Situationen (vgl. Abbildung 3, S. 188). Dabei entstehen aus den funktionalen Kreisläufen der ständigen Interaktionen des Organismus mit seiner Umwelt sogenannte neuronale Karten. »Diese bestehen aus einigen 10 000 Neuronen, die funktionell in einer Richtung arbeiten. So hat jedes Wahrnehmungssystem, z. B. der Sehapparat, die Sinnesoberfläche Haut etc., eine Vielzahl von Karten angelegt, die

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durch qualitativ verschiedene Eindrücke gereizt werden: Farbe, Berührung, Richtung, Wärme etc. Diese Karten sind untereinander durch parallele und reziproke Fasern verbunden, die für den erneuten und wiederholten Eintritt, Durchlauf und Austausch von Signalen sorgen. Werden durch Reize Gruppen von Neuronen einer Karte selektiert, erfolgt gleichzeitig eine Stimulation der mit ihnen verbundenen Karten. Aufgrund der reziproken Verbindungen (reentry) werden die Nervenimpulse rückgeführt, wodurch die Verstärkung bzw. Schwächung von Synapsen in den neuronalen Gruppen jeder Karte erfolgt: Auch die Verbindungen der Karten selbst erfahren eine Modifizierung. Dadurch entstehen neue, selektive Eigenschaften, mit anderen Worten, automatische Re-kategorisierungen aktueller Stimuli aus unterschiedlichen Sinneskanälen« (Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, S. 898 f.).

Durch diese sensomotorischen Koordinationen, verbunden mit ständigen Rekategorisierungen, sichert sich der Organismus selbst fortlaufend die Fähigkeit, sich in der Interaktion mit der Umwelt zu orientieren, das heißt, die aktuelle Erfahrung mit früheren in Verbindung zu setzen, indem die bisherigen Rekategorisierungen aufgrund der erhaltenen Stimuli an die neue Situation adaptiert werden. In der Embodied Cognitive Science wird daher heute, aufgrund des eben skizzierten radikalen konzeptuellen Umdenkens, Gedächtnis verstanden als eine Funktion des gesamten Organismus, das Produkt komplexer, dynamischer, rekategorisierender und interaktiver Prozesse, die immer embodied sind (vgl. u. a. Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 2013a). Gerald Edelman mit seinem Buch »Unser Gehirn – ein dynamisches System« (1993), Antonio Damasio mit »Descartes’ Irrtum« (1997), Lakoff und Johnson mit »Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought« (1999) und Pfeifer und Bongard mit »How the Body Shapes the Way We Think« (2007) sind einige der bekanntesten Beispiele, die zeigen, dass Descartes’ Dualismus von Geist und Körper revidiert werden muss, eine Einsicht, die seit den 1990er Jahren leidenschaftliche philosophische, wissenschaftstheoretische und -methodische Diskurse evoziert hat: »There exists no Kantian radically autonomous person, with absolute freedom and a transcendent reason that correctly dictates what is and isn’t moral. Reason, arising from the body, doesn’t transcend the body. What universal aspects of reason there are arise from commonalities of

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our bodies and brains and the environments we inhabit. The existence of these universals does not imply that reason transcends the body. Moreover, since conceptual systems vary significantly, reason is not entirely universal. Since reason is shaped by the body, it is not radically free, because the possible human conceptual systems and the possible forms of reason are limited« (Lakoff u. Johnson, 1999, S. 5; vgl. auch Buchholz u. Gödde, 2013).

Interaktion mit der Umwelt: eine neue Sicht auf das Nature-Nurture-Problem Wie eben gezeigt, konstituieren sich psychische Prozesse aus der Sicht der Embodied Cognitive Science immer nur durch adaptive, rekategorisierende Interaktionen des Subjekts mit der Umwelt, in denen Gedächtnis aktiv konstruiert wird. Ein weiteres zentrales Postulat ist, dass sich der Organismus in dauernder Veränderung befindet. Dazu möchte ich ein Beispiel aus dem für die Psychoanalyse hoch interessanten Forschungsgebiet der Epigenetik geben, die dank der technischen Fortschritte der Molekulargenetik in den letzten Jahren eine Fülle von Studien hervorgebracht hat. Auch nachgewiesene genetische Vulnerabilitäten sind für den Betroffenen noch kein Schicksal, sondern werden erst dann wirksam, wenn belastende frühe Umwelt- bzw. Beziehungserfahrungen hinzukommen. So erregten unter anderem Studien von Caspi et al. (2003) und Hauser (2008), die eine genetische Vulnerabilität bei Depressiven durch das sogenannte verkürzte 5-HHT-Allel des Serotonintransportergens nachweisen konnten, viel Aufsehen. Sie zeigten, dass Menschen mit diesem Genotyp nur dann mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Depression erkrankten, wenn sie anhaltenden belastenden Lebensumständen oder frühen Traumatisierungen wie Kindesmisshandlungen ausgesetzt gewesen waren. Kaufman et al. (2006) und Goldberg (2009) konnten zudem zeigen, dass ein responsives, empathisches mütterliches Verhalten in den ersten Lebensmonaten einen protektiven Faktor darstellt, wodurch das Risiko, an einer Depression zu erkranken, auch bei nachgewiesener genetischer Vulnerabilität, verringert wird (vgl. auch Suomi, 2011). Diese epigenetischen Studien bestätigen die psychoanalytische Grundthese einer ständigen und determinierenden Interaktion zwi-

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schen Genetik und Umwelt, zwischen Biologie und sozialer Erfahrung, besonders in der frühen und frühesten Kindheit. Die Entwicklungsperspektive der Embodied Cognitive Science differenziert diese allgemeinen Thesen, indem sie unter anderem empirisch nachweist, dass die Interaktion des Organismus mit der Umwelt nicht, wie man sich dies lange vorgestellt hat, ausschließlich durch ein genetisches Programm gesteuert wird, sondern durch eine ständige dynamische und embodied Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt, und zwar von Anfang an. Das möchte ich im Folgenden weiter ausführen.

Embodiment, Selbstregulation und »Learning by Doing« Wie radikal die Sichtweise selbstregulatorischer Prozesse des Embodiment-Konzeptes unser bisheriges Verständnis psychischen Funktionierens infrage stellt, soll mit einem Experiment aus der Grundlagenforschung von Pfeifer und Bongard (2007, S. 196–204) illustriert werden: Um die Auswirkungen von sensomotorischen Koordinationen und das Prinzip der Selbstregulation zu untersuchen, bauten die Forscher in einem Experiment eine Molekülkette nach, die aus motorischen und sensorischen Elementen (Zellen) und Bindeelementen besteht.6 Durch die Verbindung zwischen sensorischen und motorischen Elementen kann sich eine solche Molekülkette wie eine Raupe in Bewegung setzen, ohne dass sie einem entsprechenden (genetischen) Steuerungsprogramm folgt (Abbildung 2, S. 174): Die sensorische Stimulation bewegt das motorische Element, das daraufhin das sensorische Element verschiebt etc. Die Forscher ließen eines Abends ihr Experiment liegen und entdeckten zu ihrer Überraschung am nächsten Morgen, dass sich ein faszinierendes, komplexes Gebilde an neuen Zellstrukturen entwickelt hatte (Abbildung 2 (a)): Dies war der grundlagentheoretische Nachweis des Embodiments, das heißt eines selbstorganisierenden 6 Wie in der Embodied Cognitive Science üblich, konstruierten die Forscher sensorische und motorische Elemente, in die sie charakteristische Merkmale sensorischer bzw. motorischer Zellen implementierten, deren Veränderungen im Laufe des Experiments systematisch mitbeobachtet wurden (vgl. dazu Pfeifer u. Bongard, 2007, S. 177–211).

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Prinzips, das durch »Learning by Doing« (John ­Dewey) – nämlich durch sensomotorische Koordinationen, die sich ohne (zentrale) Steuerung vollziehen – eine Zellstruktur ausbildet, die in dem Sinne intelligent ist, als sie selbstorganisiert im Laufe der Zeit intelligentes Verhalten hervorbringt (im Experiment: ein Hindernis verschiebt).7 Welche Einsichten können durch diese Experimente gewonnen werden? 1. Biologische Systeme sind selbstorganisiert und entwickeln intelligente Körper, das heißt Strukturen, indem sie – ohne zentrale Steuerung (ohne Homunkulus) – durch sensomotorische Koordinationen mit der Umwelt interagieren. 2. Bei (biologischen) Lebewesen findet Lernen immer gleichzeitig sensomotorisch (im Körper) und im Gehirn (in neuronalen Netzwerken) statt. 3. Lernen, Problemlösen und Gedächtnis sind daher nicht Funktionen einer Speicherung im Gehirn, sondern immer das Produkt komplexer, selbstgesteuerter sensomotorischer Koordinationen. 4. Psychische Prozesse, wie unbewusste Erinnerungen oder in einer bestimmten Situation evozierte Affekte und Phantasien, werden im Hier und Jetzt einer Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt konstruiert: Denken, Fühlen und Handeln entstehen daher nur interaktiv: Das Subjekt kann nicht abgeschlossen in sich, quasi in einer autistischen Kapsel, lernen und sich weiterentwickeln, es braucht die Interaktion mit der Umwelt. 5. Auch Kategorien, Grundlage jedes Lernens und Verstehens, entwickeln sich nicht durch das Abrufen oder durch Modifikationen gespeicherten Wissens. Sie werden automatisch durch sensomotorische Koordinationen hervorgebracht (spontan konstruiert – 7 Ein Kurzfilm zu diesem Experiment findet sich auf der Website des Artificial Intelligence Lab der Universität Zürich: http://www.ifi.uzh.ch/ailab.html. – Diese neue Sichtweise der Entstehung von intelligentem (psychischem) Verhalten führte – dies soll hier nur kurz erwähnt werden – im grundlagenwissenschaftlichen Labor von Rolf Pfeifer und seinen Mitarbeitern in Zürich zu einer völlig neuen Generation von Robotern, die mit minimaler zentraler Steuerung sich selbstregulierend an die Umwelt anpassen, indem sie wie biologische Lebewesen durch die Interaktion mit der Umwelt ständig lernen. Dadurch sind sie zu erstaunlichen kreativen Leistungen in der Lage und in vielen Gebieten einsetzbar (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, 2013b).

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Abbildung 2: Schematische Darstellung des Grundlagenexperiments zur sensomotorischen Koordination (nach Pfeifer u. Bongard, 2007, S. 198 f.; Abdruck mit freundlicher Genehmigung von R. Pfeifer)

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Weil dies für unser Thema des Verstehens von Nicht-Repräsentiertem entscheidend ist, soll noch auf ein anderes Experiment hingewiesen werden: Geben wir einem etwa einjährigen Kind in die eine Hand einen roten Gummiball und in die andere Hand einen braunen Schokoriegel, wird es beide mehrere Male in den Mund nehmen – aber schon nach zwei, drei Versuchen den Schokoriegel vorziehen. Durch die sensomotorischen Koordinationen – das Learning by Doing – hat es, ohne dass ihm dies ein Erwachsener erklärt hätte, das heißt ohne die Zuhilfenahme kognitiver Schemata, Kategorien gebildet: Das braune, längliche Ding schmeckt gut, kann man essen – auf das rote, runde Ding kann man zwar beißen, aber es schmeckt nicht, man kann es nicht essen! Irgendwann kommentiert die Mama dann: »Na, schmeckt die Schokolade?« und nun assoziiert das Kind zu seiner selbst gebildeten Kategorie auch noch den sprachlichen Begriff. – Wie dieses Beispiel zeigt, bietet das Konzept des Embodiments einen Lösungsversuch für eines der zentralen Probleme der Entwicklungspsychologie an – nämlich den frühen vorsprachlichen Erwerb von Kategorien und schließlich auch von Symbolen und Sprache (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 2013b). 6. Das Konzept des Embodiments ist in dem Sinne radikal historisch, als psychische Prozesse in der Gegenwart immer als das Produkt von sensomotorischen Koordinationen analog zu solchen in der idiosynkratischen Vergangenheit des Subjekts ablaufen: Die Vergangenheit prägt unweigerlich – und zwar meist unbewusst – Gegenwart und Zukunft. 7. Da jede neue Erfahrung die sensomotorischen Koordinationen weiterentwickelt, werden frühere Erfahrungen ständig umgeschrieben. Die historische Wahrheit kann daher aufgrund eines bestimmten Verhaltens in der Gegenwart nie eins zu eins rekonstruiert werden. Zugespitzt formuliert: Dies ist der subjektive Anteil jeder psychischen Erfahrung. Doch sind in den sensomotorischen Koordinationen durchaus die vergangenen realen Erfahrungen objektiv im Körper enthalten (embodied) und könnten prinzipiell, zum Beispiel mithilfe neurobiologischer Methoden, gemessen werden. Daher haben psychische Erfahrungen, wie etwa Erinnerungen, immer sowohl eine subjektive als auch eine objektive Seite.

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Marianne Leuzinger-Bohleber

Relevanz des Embodiment-Konzeptes für die Psychoanalyse Doch welche Relevanz haben nun diese grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisse für die Psychoanalyse?

Das Embodiment-Konzept in der psychoanalytischen Literatur In der psychoanalytischen Fachliteratur finden sich inzwischen verschiedene Arbeiten, die das Konzept des Embodiments aufnehmen, allerdings oft nicht in der radikalen Weise, wie wir dies postulieren (Leuzinger-Bohleber, Emde u. Pfeifer, 2013). Sletvold (2011) verwendet in seinem historischen Abriss eine sehr weite Definition von Embodiment im Sinne von »Arbeit mit dem Körper in psychoanalytischen Therapien« – eine Tradition, die unter anderem auf Wilhelm Reichs Körpertherapie zurückgeht – und entwickelt, darauf basierend, sogar praktische Richtlinien für eine Arbeit des Analytikers mit »unconscious embodied expressions« (Sletvold, 2012; vgl. dazu auch Bloom, 2006). Frie weist in seinem Aufsatz »Fundamentally embodied« (2008) zwar auf die Arbeiten von Lakoff und Johnson (1999) und Damasio (1997) hin, nutzt aber das Konzept des Embodiments nicht im Sinne einer neuen theoretischen Erklärung bestimmter klinischer Phänomene, sondern ganz allgemein als Beleg komplexer Reflexionsprozessse, »informed by personal history and fundamentally embedded in biological and sociocultural contexts« (S. 374; vgl. dazu auch Langan, 2007; Mizen, 2009). Vivona (2009) plädiert in einer ähnlich globalen Weise für eine »embodied language« als Ausdruck einer modernen Integration von Neurowissenschaften und Psychoanalyse. Hannabach (2007) rekurriert auf Embodiment, um auf die Relevanz der körperlichen Dimension in der Diskussion genderspezifischer Erfahrungen von Sexualität hinzuweisen (S. 253; vgl. auch Marshall, 2009 sowie S. R. Green, 2010). Knoblauch (2007) postuliert in ähnlicher Weise, dass der Analytiker Beobachtungen der »body-based countertransferential experience« nutzen kann, um klinische Phänomene wie das Enactment differenziert zu verstehen (S. 38; vgl. auch Shapiro, 2009). Stone (2006), aus einer Jungianischen Tradition kommend, verwendet das Embodiment-Konzept

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eher metaphorisch zur Beschreibung körperlich wahrgenommener Resonanzprozesse zwischen Analytiker und Analysand (vgl. auch Corrigall, Payne u. Wilkinson, 2006). Interessant ist die konzeptuelle Integration von embodied simulation und Studien zu den Spiegelneuronen, die Gaensbauer (2011) vorlegt, um das Reenactment frühester Traumatisierungen zu erklären. An drei eindrücklichen Fallbeispielen zeigt er, dass auch sehr kleine Kinder erlittene Traumatisierungen, wie zum Beispiel den gewaltsamen Tod des Vaters, in ihren Spielen präzise wiederholen. Er erklärt diese embodied Erinnerungen durch die Funktionsweise der Spiegelneuronen und der embodied simulation (vgl. auch Gaensbauer, 2014). Im Gegensatz zu diesen Autoren möchte ich für eine Definition des Embodiments plädieren, die enger gefasst ist als eine allgemeine Betonung der Körperlichkeit seelischer Prozesse.

Ein neuer Blick auf frühe Entwicklungsprozesse und frühe Elternschaft (early parenting) Gerald Edelman (1993) erläutert mit seiner Theorie des »Neuronalen Darwinismus« die bereits erwähnte zentrale These der Embodied Cognitive Science, dass sich das neuronale Netzwerk in einer ständigen, dynamischen Entwicklung befindet (vgl. auch Abbildung 3, S. 188). Schon während der Embryonalzeit führen Umwelterfahrungen im Uterus zu einer Entwicklungsselektion und damit zur Bildung des primären Repertoires. Der Einfluss der Umwelt, das heißt der sozialen Beziehungen, verstärkt sich im ersten Lebensjahr: Die Erfahrungsselektion führt zur Bildung des sekundären Repertoires. Alle diese Prozesse entsprechen den Prinzipien eines »Neuronalen Darwinismus«: Erfolgreich genutzte Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden verstärkt – nicht genutzte verkümmern und sterben ab (vgl. Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, S. 897 ff.). Wichtig ist die reziproke Kopplung von Karten aufgrund der sensomotorischen Koordinationen. Embodiment bedeutet daher, dass die sozialen Erfahrungen durch die entstandenen sensomotorischen Koordinationen ihren nachhaltigen Niederschlag finden und buchstäblich in die Hardware von Körper und Gehirn eingehen. Daher sprechen führende Neurowissenschaftler heute vom social brain. Sie

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müssten allerdings immer auch ergänzen, dass dieses social brain nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern Teil eines social body ist, eine Position, die den intersubjective turn in der Psychoanalyse interdisziplinär abstützt (vgl. dazu Gallese, 2009, 2013b; Knox, 2009; Fuchs, Sattel u. Henningsen, 2010). Embodied bedeutet daher weit mehr als einfach nur nonverbal oder im Körper begründet: Gedächtnis entsteht durch eine Kopplung sensorischer und motorischer Prozesse, die sich – ohne zentrale Steuerung – gegenseitig beeinflussen. Diese Kopplung wird durch neuronale Karten, die im sensomotorischen System des Organismus eingebettet sind, biologisch implementiert. So definiert etwa Clancey (1994) Gedächtnis als die Fähigkeit, neurologische Prozesse so zu koordinieren und sensorische und motorische Vorgänge so zu kategorisieren, wie dies in einer analogen früheren Situation geschah. Diese zentrale These der Embodied Cognitive Science wurde durch die Entdeckung der Spiegelneuronen8 bei Makaken durch Giacomo Rizzolatti und seine Mitarbeiter weiter abgestützt (di Pelle­ grino, Fadiga, Gallese u. Rizzolatti, 1992). Ihre Erkenntnisse sind inzwischen durch zahlreiche Experimente auch für den menschlichen Säugling nachgewiesen. Diese Studien sensibilisieren dafür, dass der Säugling durch frühe Identifikationsprozesse mit seinen ersten Beziehungspersonen (mithilfe der Spiegelneuronen) geprägt wird, lange bevor er Bewusstsein und Sprache entwickelt. Diese frühesten Identifikationen schlagen sich in den sensomotorischen Koordinationen (Karten etc.) nieder, die spätere Interaktionen bestimmen. Gallese (2013) hat die Bedeutung der Spiegelneuronen für frühe embodied Interaktionsprozesse darüber hinaus auch für eine 8 Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die im Gehirn von Primaten beim Betrachten eines Vorgangs die gleichen Aktivitätsmuster aufweisen wie diejenigen, die diese Aktion selbst aktiv durchführen. Rizzolatti, Fadiga, Fogassi und Gallese (2002) brachten die Existenz des Spiegelneuronensystems (Brodmann-Areal [BA] 44) beim Menschen in Verbindung mit »action recognition« und Imitation. Seither wurden viele Studien durchgeführt, die die Bedeutung der Spiegelneuronen für Empathie, »Theory of Mind«, »facial emotion processing« etc. belegen (vgl. auch Bauer, 2006). Bekannt geworden sind Videoaufnahmen eines erst zehn Minuten alten Säuglings und seines Vaters. Dieser streckte wiederholt die Zunge heraus – nach kurzer Zeit imitierte der Säugling dieses Verhalten.

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intersubjektive Betrachtung emotionaler, sozialer und therapeutischer Austauschprozesse diskutiert: »Die Entdeckung des für Aktionen zuständigen Spiegelungsmechanismus führte zu der Hypothese, dass die Spiegelneuronen womöglich nur die Spitze eines gewaltigen, bislang unentdeckten Eisbergs bilden, der sich im Bereich der Emotionen und körperlichen Empfindungen verbirgt […]. Diese Hypothese wird durch empirische Funde gestützt« (S. 95). »In ihrer Gesamtheit legen diese Ergebnisse nahe, dass ein wichtiger Aspekt der Intersubjektivität bei der Beobachtung des Ausdrucks fremder Emotionen und Sensationen als Wiederverwendung derselben Schaltkreise verstanden werden kann, die unseren eigenen emotionalen und sensorischen Erfahrungen zugrunde liegen […]. Man hat die These vertreten, dass ein gemeinsamer funktionaler Mechanismus, nämlich die ›verkörperte Simulation‹ (ES = Embodied Simulation), diese Vielfalt intersubjektiver Phänomene kohärent und neurobiologisch plausibel zu erklären vermag« (S. 97).

Die vielen inzwischen durchgeführten Studien zu den frühen, vorsprachlichen Prozessen der Identifizierung des Säuglings mit den primären Bezugspersonen entsprechen der psychoanalytischen Auffassung, dass die frühen Objektbeziehungen sich in der Grundmelodie der Seele niederschlagen. Bekannt geworden ist das sogenannte »Still-Face-Experiment« (Tronick, 2003), das empirisch in eindrucksvoller Weise belegt, wie sehr die psychische Befindlichkeit des Säuglings von einer resonanten, affektiv stimmigen Interaktion mit seiner Mutter abhängt. Eine Mutter wird gebeten, nach einer Sequenz einer üblichen, affektiv resonanten Spielsequenz mit ihrem circa einjährigen Baby zwei Minuten lang keine mimische Reaktion, ein still face, zu zeigen. Das Baby reagiert sofort, versucht zuerst mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die Mutter zu ihrem normalen Interaktionsverhalten zurückzubewegen. Als ihm dies nicht gelingt, reagiert es sichtbar irritiert, wendet sich ab und fängt schließlich an, bitterlich zu weinen. Empirisch und klinisch gut untersucht ist das frühe Interaktionsverhalten von depressiven Müttern mit ihren Babys (vgl. u. a. Stern, 1985/2010; Beebe u. Lachmann, 2004; Feldman, 2012; Rutherford, Goldberg, Luvten, Bridgett u.Mayes, 2013). Durch die Depression sind Einfühlung und emotionale Resonanz der Mütter auf die indi-

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viduellen Bedürfnisse des Säuglings stark eingeschränkt oder fehlen ganz. Daniel Stern hat eindrücklich beschrieben, dass Säuglingen depressiver Mütter keine andere Wahl bleibt, als sich mit den Affekten ihrer toten Mutter zu identifizieren, um überhaupt Nähe zu ihrem Primärobjekt herzustellen. Eine der vier von ihm beschriebenen möglichen langfristigen Copingstrategien, die die werdende Persönlichkeit stark prägen, ist das Ausbilden eines falschen Selbst, wie es bei der anfangs erwähnten Patientin, Frau M., zu beobachten war (vgl. die folgenden Ausführungen und Leuzinger-Bohleber, 2003). Mit anderen Worten: die in den frühen Objektbeziehungserfahrungen mit dem depressiven Primärobjekt erworbenen sensomotorischen Koordinationen werden unbewusst alle späteren Beziehungen determinieren. Wie alle diese Studien zeigen, triggern daher die frühen Beziehungserfahrungen die genetische Anlage des Säuglings in spezifischer Weise (vgl. u. a. Hill, 2009; Suomi, 2011; Leuzinger-Bohleber, 2014) und erhalten sich im Sinne des Embodiments im Körper. Da sich in diesen ersten Beziehungen die sensomotorischen Koordinationen bilden (vgl. Abbildung 3, S. 188; primäres und sekundäres Repertoire), kann ihr prägender Einfluss auf späteres Denken, Fühlen und Handeln in neuen Beziehungen kaum überschätzt werden. Um dies mit einer Metapher auszudrücken: In den frühesten Beziehungen wird wie bei einer Stradivari der Klangkörper des seelischen Instruments gebaut, der in späteren Beziehungen zum Schwingen gebracht wird. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass sich nur die frühesten Beziehungserfahrungen als embodied memories niederschlagen, obschon diese, wie skizziert, die seelische Grundmelodie oder – räumlich gesprochen – die Grundrichtung der sensomotorischen Koordinationen bestimmen, die die weitere Entwicklung einschlägt. Im Sinne eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses werden auch spätere Erfahrungen ständig in den Körper eingehen. Entscheidend sind dabei vor allem traumatische Erfahrungen, die wegen ihrer extremen, psychisch nicht zu verarbeitenden Qualität in jedem Lebensalter die bisherigen sensomotorischen Koordinationen – metaphorisch gesprochen – zum Zusammenbruch bringen und die psychische Selbstregulation, Kreativität und integrative Problemlösung abrupt zusammenbrechen lassen. Um eine

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Metapher von Edelman aufzugreifen: Unbewusste Erinnerungen an traumatische Objektbeziehungen lösen in späteren, analogen Beziehungssituationen Gewitter in Körper und Gehirn aus, die ein reifes psychisches Funktionieren verunmöglichen und die traumatische Erfahrung (wie bei Frau M.) stets wiederholen (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, 2014).9

Vertieftes Verständnis von klinischen Transformationsprozessen in der Psychoanalyse Wie einleitend erwähnt, ist auch in der heutigen psychoanalytischen Literatur die Frage weitgehend ungeklärt, wie es in der analytischen Situation möglich wird, Nicht-Repräsentiertes eines Analysanden nicht nur zu spüren, sondern in Bilder und Sprache zu fassen und dadurch unbewusstes Wiederholen in einen transformierenden therapeutischen Erinnerungsprozess zu überführen. Eine zentrale Rolle spielen dabei bekanntlich die Assoziationen, die spontanen Einfälle des Analytikers, die häufig einen ersten Schlüssel zum Sinn von bisher völlig Unverstandenem bieten, das in der Übertragung agiert wird. In der analytischen Literatur werden diese spontanen Erkenntnisse und Einfälle oft metaphorisch umschrieben als turning point der Behandlung, meeting of the minds, Kommunikation von Unbewusstem zu Unbewusstem, now moments etc. Doch 9 Historisch zu erwähnen ist, dass Alfred Lorenzer in den 1980er Jahren als einer der Ersten die Relevanz des Dialogs mit den Neurowissenschaften für die Psychoanalyse erkannte. Lorenzer postulierte bereits damals, dass sich Interaktionserfahrungen während der Embryonalzeit und der ersten Lebensmonate »verleiblichen«. Das Konzept des Embodiments betrachten wir als eine Weiterentwicklung und empirische Abstützung des »szenischen Verstehens« von Alfred Lorenzer. Viele der Präventionsprojekte, die zur Zeit am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M. durchgeführt werden, beruhen auf dieser theoretischen Grundlage. Wir versuchen in diesen Projekten in enger Zusammenarbeit mit dem Anna-Freud-Institut im Sinne einer »aufsuchenden Psychoanalyse« unser professionelles Wissen jenen Familien in Frankfurt zur Verfügung zu stellen, die am Rande der Gesellschaft leben und deren elterliche Einfühlung durch Risikofaktoren wie Trauma, Migration und Armut bedroht ist, was wiederum die Beziehungen zu ihren Kindern prägt (vgl. dazu auch Emde u. LeuzingerBohleber, 2014).

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liegen bisher, soweit mir bekannt, keine plausiblen Erklärungsmodelle für das Zustandekommen dieser Einfälle vor. Genau dies bieten meines Erachtens die in dieser Arbeit zusammengefassten Erkenntnisse der Embodied Cognitive Science an: Wie skizziert, bilden sich Kategorien in Interaktionen des Subjekts mit der Umwelt immer aufgrund sensomotorischer Koordinationen. Das menschliche Gehirn – und die menschliche Seele – befindet sich in einem ständigen Prozess der Rekategorisierung von Erfahrungen: Ohne spontan sich bildende (unbewusste) „Verstehens-Kategorien fehlt in einer neuen Situation jede Orientierung, der Organismus könnte nicht überleben, sich nicht in der Gegenwart zurechtfinden, es gäbe keine adaptiven Reaktionen, keine Problemlösungsprozesse, keine spontan sich einstellenden Erinnerungen, die Gelerntes für die aktuelle Situation fruchtbar machen, kein Lernen (vgl. das erwähnte Experiment von Pfeifer u. Bongard, 2007). Dies gilt auch für die analytische Beziehung. Wie ausgeführt, ermöglicht das Spiegelneuronensystem dem Analytiker, sich mit aktuell ablaufenden sensomotorischen Koordinationen (den unbewussten Erinnerungsprozessen) des Analysanden sogleich zu identifizieren, und diese Identifikationen kommen im Sinne des Embodiments in seiner eigenen Gegenübertragung – das heißt in seinem Körper – zur Wirkung. Dadurch werden in der aktuellen Interaktion im Analytiker sensomotorische Koordinationen analog denen beim Analysanden aktiviert. Diese Prozesse bringen automatisch, spontan und unbewusst Kategorien hervor, die dank der Identifikation mit unbewusst ablaufenden Prozessen der Erinnerung des Analysanden an frühere, wichtige Beziehungserfahrungen in Zusammenhang stehen. Bei traumatisierten Patienten sind es vor allem Erinnerungen an psychisch unerträgliche Erfahrungen der Überflutung, von extremer Ohnmacht, Verzweiflung, Schmerz, Panik und Todesangst. Der Analytiker wird – durch die Identifikationsprozesse in seinen spontan sich bildenden Kategorien – diese durch traumatische Erfahrungen bedingten Reaktionen rekategorisieren, das heißt unbewusst verstehen. Allerdings wird die extreme Qualität der traumatischen Erfahrung auch bei ihm zu einer spontanen Abwehr führen und ein Bewusstwerden zunächst erschweren. Bewusst registriert er daher im ersten Kontakt meist eine Mischung aus den unmittelbar sensomotorisch kategorisierten Wahrnehmungen und

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eigenen Abwehrprozessen, wie das anfangs geschilderte Beispiel von Frau M. illustriert.10 Die (bewussten) Einfälle (»Was für eine überwältigende Frau! Das ist mir zu viel. Sie rückt mir zu sehr auf die Pelle … Warum habe ich ihr einen Termin angeboten?«) enthielten offensichtlich sowohl die Wahrnehmung der überwältigenden Qualität der durch ein Trauma bestimmten psychischen Realität der Patientin als auch eigene Abwehrbewegungen. Bei dieser ersten, unbewussten Wahrnehmung der spezifischen traumatischen Erfahrungen des Analysanden durch den Analytiker handelt es sich nicht um einen einmaligen Vorgang, sondern es ist ein sich ständig wiederholender komplexer Prozess. Es braucht einerseits die wiederholten Enactments in der Übertragung, um durch die Identifikation mit den vielen Variationen der ablaufenden sensomotorischen Koordinationen schließlich die erlittenen Traumatisierungen in der eigenen embodied Gegenübertragung immer differenzierter zu rekategorisieren. Andererseits ist es unumgänglich, dass der Analytiker seine Abwehr gegen eine mögliche Überflutung durch traumatisches Material des Patienten (unbewusst) bearbeitet, um die unbewusst gebildeten Kategorien über die vom Patienten erlittene Traumatisierung schließlich bewusst werden lassen zu können. Wie inzwischen die klinisch-psychoanalytischen Erfahrungen besonders mit schwer traumatisierten Patienten in vielfältiger Weise belegt haben, wird ein direktes Wiederbeleben der traumatischen Erfahrung in der Über-

10 Bekanntlich ist es in diesen Behandlungen besonders schwer, eine Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit einzunehmen, da die meisten schwer traumatisierten Patienten kaum frei assoziieren können, weil sie – in Umkehr der extremen Hilflosigkeit in der traumatischen Erfahrung – versuchen, passiv Erlittenes in aktiv Zugefügtes zu verwandeln, das heißt, Beziehungen in extremer Weise zu kontrollieren. Dies ist einer der Gründe dafür, warum Psychoanalysen mit dieser Patientengruppe in der Regel sehr lange dauern: Aufgrund der skizzierten Erkenntnisse der Embodied Cognitive Science wird sich der Analytiker vorerst unweigerlich mit dem extremen Kontrollbedürfnis des Analysanden identifizieren, das heißt, die sensomotorischen Koordinationen des Analysanden in seiner Gegenübertragung übernehmen, was dazu führt, dass er zunächst nur »Abwehrkategorien« analog jenen des Analysanden hervorbringen kann. Zudem zeigt die klinische Erfahrung, dass erst nach der Durcharbeitung des Traumas in der Übertragung eine Bearbeitung der durch die Traumatisierung übermäßig stimulierten unbewussten Phantasien des Analysanden möglich ist (vgl. u. a. Bohleber, 2012; Leuzinger-Bohleber, 2014).

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tragung von beiden Beteiligten erst möglich, wenn sich eine tragende, haltende und containende analytische Beziehung entwickelt hat. In der Sprache der Cognitive Science: In der therapeutischen Interaktion entwickeln sich (neue) sensomotorische Koordinationen, die sukzessiv die Erinnerung an die Tragfähigkeit, das Verstandenwerden durch ein neues Objekt, den Analytiker, aufbauen. Bekanntlich gehört es zu den nachhaltigsten Erfahrungen von schweren Traumatisierungen, dass das Urvertrauen in ein helfendes Objekt total zusammenbricht. Verbunden damit sind unbewusste Überzeugungen und Phantasien, in denen sich der Betroffene selbst die Schuld an der traumatischen Erfahrung zuschreibt. Daher werden traumatisierte Patienten unbewusst diese innere Wahrheit in der Übertragung ständig wiederholen und erst aufgrund alternativer Beziehungserfahrungen allmählich in ihrer Gültigkeit einschränken. Mit anderen Worten, die sensomotorischen Koordinationen können, analog zu den traumatischen Beziehungserfahrungen, nicht gelöscht werden, sie werden immer und immer wieder in der analytischen Beziehung wiederholt, doch können sukzessiv alternative sensomotorische Koordinationen (d. h. alternative neuronale Pfade) aufgebaut werden, die mit den Kategorien Sicherheit, Zuverlässigkeit, Verstehen und Überleben verbunden sind. Lange laufen die alten, auf der traumatischen Beziehungserfahrung beruhenden Rekategorisierungsprozesse parallel und unverbunden neben den neuen Rekategorisierungsprozessen, die sich in der analytischen Beziehung bilden. Erst wenn die neuen Rekategorisierungen schließlich zu einigermaßen stabilen Kategorien wie Vertrauen, Sicherheit etc. geführt haben, werden die beiden Pfade der sensomotorischen Koordinationen (die Karten) miteinander verbunden. Nun kann der Analytiker die bisher unbewusste Kategorie Trauma durch einen treffenden, spezifischen Einfall seinem Bewusstsein erschließen (Beispiel: sexueller Missbrauch) und dadurch eine Tür zu einem analytischen Bearbeiten der Traumatisierung aufstoßen. Diese komplexen Prozesse sollen an dem klinischen Beispiel veranschaulicht werden.

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Fallbeispiel Erst im dritten Jahr der Psychoanalyse erschloss sich die Bedeutung der bereits erwähnten Szene im Erstinterview. Das geschilderte intrusive Verhalten hatte sich in der analytischen Behandlung in vielen Variationen wiederholt (Frau M. benutzte z. B. wiederholt unser privates WC; öffnete die Türen zu unseren Privaträumen; stieg, als das Fenster offen war, in mein Auto, um das Licht auszumachen etc.). Am Tag vor der hier geschilderten analytischen Sitzung hatte mich das intrusive Verhalten von Frau M. erneut stark irritiert. Sie war unangemeldet zu einem meiner Vorträge erschienen und saß in der ersten Reihe. Als ich in der folgenden Sitzung Frau M. etwa zehn Minuten schweigend zuhörte, wie sie mir berichtete, dass ihr Onkel noch kurz vor seinem Tod erzählt hatte, wie ungeduldig sie als Jugendliche immer vor seinem Atelier auf ihn gewartet hatte, schoss mir plötzlich durch den Kopf, dass es dabei zu einem sexuellen Missbrauch durch den Onkel gekommen war. Ich sagte: »Könnte es sein, dass Sie in Erinnerung behalten haben, dass die Ungeduld und die Besuche bei Ihrem Onkel von Ihnen ausgingen, ja Sie die Nähe zu ihm aktiv gesucht haben, weil es vielleicht zu schmerzlich war zu denken, dass Ihr Onkel Ihre Vatersehnsucht missbraucht und die Intimschranken überschritten hat?«11 »Natürlich ist es zu Zärtlichkeiten zwischen uns gekommen – doch fand ich dies schön. Als er meine Brust berührte, kam ich mir endlich als attraktive junge Frau vor«, antwortete Frau M. zu meiner großen Überraschung. Das Thema verschwand für längere Zeit aus den Sitzungen, doch tauchten vermehrt brutale sexualisierte Szenen in ihren Träumen auf. Ich versuchte wieder daran anzuknüpfen: »Sie waren schon eine Jugendliche, als Sie das Atelier Ihres Onkels besuchten, und können sich wahrscheinlich an die

11 An diesem Beispiel mag deutlich werden, dass sich der erste, spontane (theoriefreie) Einfall (»sexueller Missbrauch«), um dessen Zustandekommen es in diesem Beitrag geht, erst bilden konnte, als sich ansatzweise ein Vertrauen in die analytische Beziehung entwickelt hatte. Metaphorisch ausgedrückt: Erst nun wagen es Analysandin und Analytikerin, die traumatische Erfahrung direkt in der analytischen Beziehung zu erleben. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die innovativen Einfälle sich selbstverständlich sofort mit den impliziten und expliziten Theorien des Analytikers verbinden (z. B. mit der These, dass Traumatisierte versuchen, passiv Erlittenes in aktiv Zugefügtes zu verwandeln), ein Thema, das in diesem Rahmen nicht weiter diskutiert werden kann (vgl. dazu u. a. Bohleber, 2010; Leuzinger-Bohleber, 2010).

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Erfahrungen damals erinnern. Sie haben mir vor längerer Zeit erstmals erzählt, dass es auch zu Zärtlichkeiten zwischen Ihnen und Ihrem Onkel kam. Ist es möglich, dass Sie ungern an weitere Details denken, die sich zwischen Ihnen ereignet haben?« Frau M. reagierte sehr heftig auf diese Frage. Sie ging zur Toilette und übergab sich. In den folgenden Sitzungen konnte sie mir von Erinnerungen an von Gewalt geprägte Koituserfahrungen mit ihrem Onkel erzählen. Ekel, Abscheu und Widerwillen tauchten auf: Das Ausagieren der überwältigenden, traumatischen Erfahrungen wich einer sukzessiven Erinnerung und Verbalisierung. Frau M. gab sich selbst die Schuld an diesen Vorkommnissen: »Ich war so liebesbedürftig. Kein Wunder, dass mein Onkel darauf reagierte.« Erst allmählich konnte sie zulassen, dass es sich wirklich um einen sexuellen Missbrauch gehandelt hatte, der ihre Adoleszenz und ihre Sexualität als Frau wesentlich geprägt hat. »Wenn ich meinen Onkel als Dreizehnjährige besuchte, bin ich immer ins Atelier reingestürmt und habe die Initiative für unsere sexuellen Abenteuer ergriffen. Ich wollte die Emanzipierte, Unkonventionelle sein und nicht er. Ich fand dies toll …« Erst jetzt verstand ich, dass in der geschilderten Szene im Erstinterview unbewusste embodied memories ihrer traumatischen Erfahrungen mit ihrem Onkel enthalten waren: Auch mich hatte sie im Erstinterview buchstäblich überrannt, überwältigt und war mir »zu sehr auf die Pelle gerückt«. Damals war es mir allerdings noch nicht möglich, diese unbewussten Erinnerungen im Enactment von Frau M. zu entschlüsseln. Erst nachdem ich das Intrusive, Übergriffige in der Übertragungsbeziehung zu mir oft direkt erlebt und gleichzeitig eine tragende analytische Beziehung zu der Analysandin aufgebaut hatte, die mehr Einfühlung in das verzweifelte, traumatisierte Kind in Frau M. ermöglichte, tauchte der entscheidende Einfall auf.

Nochmals in der Sprache der Embodied Cognitive Science ausgedrückt: Erst nachdem ich charakteristische sensomotorische Koordinationen von Frau M. immer und immer wieder in den analytischen Sitzungen – unbewusst – erlebt und durch Identifizierungen mit meiner embodied Gegenübertragung darauf reagiert hatte und sich durch alternative sensomotorische Koordinationen neue Kategorien einer tragfähigen analytischen Beziehung entwickelt hatten, konnten die beiden bisher getrennten Pfade der Erinnerung mit-

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einander verbunden werden. Diese Verbindung brachte schließlich unvermittelt – wie in der »Madeleine-Szene« von Proust – aufgrund meiner eigenen (unbewussten) sensomotorischen Koordinationen plötzlich den Einfall (die Kategorie) »Sexueller Missbrauch« hervor. Er stand – selbstverständlich unbewusst – im Zusammenhang mit den durch sich wiederholende sensomotorische Koordinationen vermittelten embodied memories. Ich traf damit offensichtlich ins Schwarze. Wie sich nun herausstellte, war Frau M. von ihrem Onkel vom 13. bis zum 20. Lebensjahr sexuell missbraucht worden. Doch erst in der haltenden psychoanalytischen Beziehung konnte sie sich, anhand neuer Erinnerungen an brutale Szenen, schließlich eingestehen, dass es sich wirklich um sexuelle Übergriffe und nicht um eine von ihr initiierte, emanzipierte, glückliche Affäre gehandelt hatte. Erst die sichere Beziehung zur Psychoanalytikerin ermöglichte ihr die schmerzliche Einsicht, wie zerstörerisch diese Erfahrungen für sie waren und dass sie wesentlich dazu beigetragen hatten, dass sie sich nie eine konstante, zärtliche und gleichzeitig leidenschaftliche Liebesbeziehung erlauben konnte, sondern sich unter anderem damit begnügen musste, mit dem erwähnten Freund, einem verheirateten Mann, eine sehr begrenzte, von ihr stark kontrollierte Sexualität zu leben. Mein Einfall hatte erstmals ermöglicht, bisher Unrepräsentiertes in Sprache zu fassen und dadurch einen Prozess des Durcharbeitens in der Übertragungsbeziehung zu initiieren. Ich kann in diesem Rahmen nicht ausführen, sondern nur erwähnen, dass – wie das Konzept der embodied memories postuliert – die traumatischen Erfahrungen von Frau M. immer und immer wieder überschrieben worden waren. So führten uns zum Beispiel Träume im vierten Jahr der Analyse schließlich zu einer weiteren unerwarteten Entdeckung: Mit ihren adoleszenten Missbrauchserfahrungen agierte Frau M. zugleich unbewusste embodied memories an eine brutale Vergewaltigung ihrer Mutter durch russische Soldaten aus, die sie als Dreijährige miterlebt hatte – traumatische Erinnerungen, die sie zudem in ihrer Spätadoleszenz unbewusst dazu gebracht hatten, sich in gefährliche sexuelle Abenteuer zu verwickeln, mit sieben Abtreibungen innerhalb von zehn Jahren. Die dadurch ausgelösten unbewussten Schuldgefühle determinierten unter anderem, wie

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sich ebenfalls erst spät in der Psychoanalyse herausstellte, ihren depressiven Zusammenbruch. Schließlich waren diese embodied memories eng mit traumatischen Separationserfahrungen von ihrer an einer schweren Postpartalen Depression erkrankten Mutter im ersten Lebensjahr verbunden, die übrigens ebenfalls in der erwähnten Anfangsszene enthalten waren: Die Art und Weise, wie Frau M. meine Hand zwischen ihre beiden Hände drückte, hatte nicht nur einen sexuell stimulierenden Charakter, sondern wir verstanden sie schließlich auch als einen Versuch, mich buchstäblich festzuhalten, mich nicht zu verlieren. »Werde ich sie je wieder wegschicken können? Sie scheint mir so bedürftig …« waren damals die spontan sich bildenden Verstehenskategorien, in denen ich, nachträglich gesehen, schon das frühe Trennungstrauma wahrgenommen, aber, auch wegen der erwähnten eigenen Abwehrreaktionen, noch nicht en détail entschlüsseln konnte. Mit der folgenden Grafik (Abbildung 3) soll das skizzierte Erklärungsmodell zusammenfassend illustriert werden: AnalytikerIn

AnalysandIn Ungeduldiges Warten vorm Atelier des Onkels

„Embodied Memory“ Distanzloses Verhalten

Reziprok gekoppelte neuronale Netzwerke

Reziprok gekoppelte neuronale Netzwerke

Heftiger negativer Affekt in der Gegenübertragung

Reziprok gekoppelte neuronale Netzwerke

„Sexueller Missbrauch“

Positive Affekte – Libidinöse Beziehung

Reziprok gekoppelte neuronale Netzwerke

Reziprok gekoppelte neuronale Netzwerke

Unbewusste Identifizierung Zeit

Resonanz Spiegelprozesse

3 Jahre

Re-entry

Analytische Beziehung

Abbildung 3: »Embodied memories« und ihre Transformation in der analytischen Beziehung

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Abschließende Bemerkungen In der psychoanalytischen Literatur finden sich viele kreative Metaphern dafür, Unrepräsentiertes, Unbewusstes dem Verstehen zu erschließen und die im Enactment zum Ausdruck kommenden, vom Patienten abgespaltenen traumatischen Erinnerungen in einen zwar schmerzlichen, aber heilenden Erinnerungsprozess zu transformieren. In diesem Beitrag wurde zur Diskussion gestellt, dass grundlagenwissenschaftliche Konzepte und Studien aus dem Gebiet der Embodied Cognitive Science und den kognitiven Neurowissenschaften erste Erklärungsmodelle für das spontane, theoriefreie Auftauchen von innovativen, kreativen Einfällen beim Analytiker anbieten. Sie bilden den entscheidenden ersten Schritt, um bisher im Körper zwar Präsentes, aber nicht Repräsentiertes in Bilder und Sprache fassen zu können. Bezogen auf die Behandlungstechnik mag deutlich geworden sein, dass die Beschäftigung mit den neuen, biologisch fundierten Gedächtnistheorien die psychoanalytische Haltung insofern beeinflusst, als sie für die eigenen, feinsten (embodied) Körperreaktionen sensibilisiert. Bei dem störungsanfälligen Versuch, Unbewusstes in den Enactments der Analysanden zu entschlüsseln, erweist sich das Couch-Setting für den Analytiker als große Hilfe, da es die Identifikationsprozesse mit den senso-motorischen Koordinationen der Analysanden sowie das Richten der eigenen Antennen auf feinste embodied Gegenübertragungsreaktionen erleichtert. In einem Face-to-Face-Setting werden die feinsten resonanten Spiegelungsprozesse ständig durch aktuelle sensomotorische Koordinationen überlagert und erschweren daher die Wahrnehmung der dissoziierten, abgespaltenen psychischen Wirklichkeiten (vgl. dazu auch Bender, 2014). Schließlich erfahren auch Erkenntnisse der Psychoanalyse der letzten Jahrzehnte, dass weder eine exklusive Arbeit mit der Übertragung noch eine ausschließliche (meist zudem intellektuelle) Rekonstruktion der (traumatischen) Lebensgeschichte des Analysanden zu einer nachhaltigen therapeutischen Veränderung führt, durch das Konzept des Embodiments eine neue, interdisziplinäre Abstützung. Besonders in Psychoanalysen mit schwer traumatisierten Patienten braucht es die Reflexion sowohl einer horizontalen als

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auch einer vertikalen Dimension psychischer Prozesse (vgl. Buchholz u. Gödde, 2013). Einerseits spielen sich psychische Prozesse immer in einer aktuellen Interaktionssituation des Subjekts mit seiner Umwelt (bzw. seinen Bezugspersonen) ab und sind daher immer horizontal, intersubjektiv und von der Gegenwart bestimmt. Andererseits sind die aktuellen Erfahrungen immer durch sensomotorische Koordinationen determiniert, die sich in der idiosynkratischen (biografischen) Vergangenheit des Subjekts gebildet haben. Die unverwechselbare Geschichte des Individuums ist in dem Sinne embodied, als die in den frühesten Beziehungserfahrungen entstandenen sensomotorischen Koordinationen die späteren und aktuell ablaufenden psychischen Prozesse in Beziehungen, wie skizziert, dauernd (kausal) bestimmen. Diese Konzeptualisierung hat weitreichende klinische Konsequenzen (vgl. dazu Bohleber, 2012; Leuzinger-Bohleber, 2008, 2014). Besonders in Psychoanalysen mit schwer traumatisierten Analysanden erweist es sich als unverzichtbar, sich ihrer Lebens- und Trauma­geschichte, der »historischen Realität des Traumas«, anzunähern, auch wenn es nie möglich ist, die historische Wahrheit des Traumas eins zu eins aufzudecken. Zwar werden lebensgeschichtliche Ereignisse – im Sinne der Nachträglichkeit – immer und immer wieder umgeschrieben und der aktuellen Gegenwart angepasst, doch bleibt in diesen Überschreibungen die historische Wahrheit als Kern erhalten. Daher ermöglicht besonders traumatisierten Patienten der sukzessive analytische Verstehensprozess von embodied memories und ihr Durcharbeiten in der analytischen Beziehung, die durch Traumatisierungen entstandenen dissoziativen Zustände, Fragmentierungen des Selbst und der inneren Objekte besser psychisch zu integrieren. Die Analysanden und Analysandinnen gewinnen dadurch, wie Frau M., einen heilenden Zugang zu ihrer eigenen, unverwechselbaren Trauma- und Lebensgeschichte.

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II Das Unbewusste: Konzeptuelle und empirische Studien

Werner Bohleber, Juan Pablo Jiménez, Dominique Scarfone, Sverre Varvin und Samuel Zysman

Die unbewusste Phantasie und ihre Konzeptionen: ein Versuch der Integration Vorbemerkungen Die Anerkennung der Pluralität an Theorien in der Psychoanalyse war ein befreiender Fortschritt für die psychoanalytische Community, gleichzeitig besaß er jedoch das Potenzial, Bemühungen um konzeptuelle Integration zu bremsen. Tatsächlich konnte man sich bis heute auf keine Möglichkeit einigen, zwischen rivalisierenden und bisweilen widersprüchlichen Theorien zu entscheiden und unterschiedliche Konzepte und Theorien zu integrieren. Als Reaktion auf eine Initiative, die der IPV-Präsident Charles Hanly ergriff, untersuchte ein Projektkommitee für konzeptuelle Integration1 zwischen 2009 und 2013 die Möglichkeit, Konzepte zu integrieren, die ihren Ursprung in verschiedenen psychoanalytischen Traditionen haben und sich in ihren grundlegenden Annahmen und Denkweisen sehr unterscheiden. Angesichts der theoretischen und klinischen Diversität einzelner psychoanalytischer Konzepte wurde uns klar, dass wir eine Methode entwickeln mussten, die es ermöglichen würde, unterschiedliche Konzeptversionen mitsamt ihren zugrunde liegenden Theorien zu vergleichen, sie in einen Bezugsrahmen einzuordnen und ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede zu identifizieren. Anhand dieser Methode analysierten wir zuerst das Konzept Enactment und publizierten dies in einem Artikel (Bohleber et al., 2013a, 2013b). Danach untersuchten wir das Konzept der unbewussten Phantasie. Die unbewusste Phantasie ist eines der wichtigsten Konzepte der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Aufgrund ihrer klinischen und theoretischen Bedeutung haben alle psychoanalytischen Schulen 1 Mitglieder waren Werner Bohleber (chair), Juan Pablo Jiménez, Dominique Scarfone, Sverre Varvin, Samuel Zysman. Mitglieder waren auch Dale Boesky bis August 2010 und Peter Fonagy bis November 2012.

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ihr eigenes Konzept der unbewussten Phantasie entwickelt. Bedenkt man diese Pluralität an Theorien, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass eine große Bandbreite an Definitionen zu finden ist: angefangen bei der klassischen Auffassung der Phantasie als Wunschaktivität (wishful activity), über die psychische Repräsentanz der Triebe bis hin zu einer Definition als Nicht-Ich-Erfahrung (not-me experience), die in der analytischen Beziehung als Enactment auftaucht. Wir mussten eine Auswahl der wichtigsten Artikel treffen, um den Umfang der Untersuchung zu begrenzen. Als Material für die Untersuchung des Konzepts haben wir einen Kanon aus relevanten Beiträgen aus verschiedenen psychoanalytischen Traditionen erstellt: Kleinianer

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Zeitgenössische Freudianer

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Amerikanische Ich-Psychologie

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Relationale Psychoanalyse

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Französische Psychoanalyse

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Unser Modell für den Vergleich von Konzepten Bevor wir mit der dimensionalen Analyse der verschiedenen Konzepte beginnen, möchten wir einen Überblick über die einzelnen Schritte unseres Modells geben. Schritt 1: Die Geschichte des Konzepts Zuerst müssen wir den historischen Zeitpunkt identifizieren, an dem das Konzept entstanden ist. Das Konzept beschreibt eine klinische Realität/Erfahrung, die nicht von anderen Konzepten erfasst wird. Seine Entstehung ist in den Entwicklungstrend der psychoanalytischen Theorie über die Zeit hinweg eingebunden. Schritt 2: Phänomenologie des Konzepts Ein psychoanalytisches Konzept ist eine Abstraktion eines klinischen Phänomens. Wir versuchen die klinischen Erfahrungen, die mit dem Konzept in Verbindung stehen zu beschreiben, wobei wir anerkennen, dass all diese Beschreibungen in unterschiedliche theoretische Hintergründe eingebettet sind. Darin ist es auch begründet, dass in den jeweiligen Konzeptualisierungen unterschiedliche Merkmale des Phänomens besonders hervorgehoben werden. Schritt 3: Die Verfahrensregeln der Konzeptdiskussion Bei der Untersuchung eines Konzeptes sollte man sorgfältig vorgehen: Wie ist das Konzept definiert? Ist die Definition des Konzepts in sich

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stimmig? Gehört das Konzept zum Bereich des psychoanalytischen Denkens und der Praxis? Ist es ein notwendiges Konzept oder lediglich ein anderes Wort für bereits bekannte und anderweitig konzeptualisierte Dinge? Was ist die Beobachtungsgrundlage des Konzepts? Schritt 4: Dimensionale Analyse des Konzepts Da jedes Konzept vor dem Hintergrund mehrerer unterschiedlicher theoretischer Kontexte entsteht, ist es für die Analyse notwendig, die verschiedenen Versionen mithilfe der für dieses Konzept spezifischen bipolaren Dimensionen zu dekonstruieren. Schritt 5: Integration als bevorstehende Aufgabe Die Pluralität der Konzepte muss anerkannt werden. Phänomene werden aus verschiedenen Betrachtungsweisen und Horizonten konzeptualisiert. Integration ist ein Ideal, das wir anstreben müssen, ohne davon auszugehen, dass wir es tatsächlich erreichen. Wir können uns einer besseren Integration annähern, jedoch nur eine partielle Integration erwarten. Nicht zu rechtfertigen sind Tribalismus oder geopolitischer Reduktionismus.

Unser Modell, angewandt auf das Konzept der unbewussten Phantasie Nun möchten wir Ihnen einen kurzen Überblick über unsere bisherige Untersuchung der unbewussten Phantasie geben.2 Schritt 1: Geschichte des Konzeptes »unbewusste Phantasie« In Freuds zentraler Verwendung des Begriffs sind Phantasien Wunscherfüllungen. Sie haben sich infolge der Verdrängung von Triebstrebungen, die keine Erfüllung finden konnten, gebildet. Der theoretische Hintergrund ist Freuds topografisches Modell. Phantasien können bewusst sein, aber auch ins Vorbewusste absinken oder von dort wieder hervorgeholt werden. Freud behielt diese 2 Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung unserer Präsentation auf der IPAC in Prag im Juli 2013.

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Sichtweise auch nach der Einführung des Strukturmodells bei. Er unterscheidet zwischen zwei Arten unbewusster Phantasien: »Die unbewussten Phantasien sind entweder von jeher unbewusst gewesen, im Unbewussten gebildet worden, oder, was der häufigere Fall ist, sie waren einmal bewusste Phantasien, Tagträume, und sind dann mit Absicht vergessen worden, durch die ›Verdrängung‹ ins Unbewusste geraten« (Freud, 1908, S. 193). Der Ausdruck »von jeher unbewusst« macht uns auf das, was Freud »Urphantasien« nannte, aufmerksam. Freud definierte diese als phylogenetisch übermittelt. Sie sind kein Produkt der Verdrängung: sie haben die Urszene, die Verführung und die Kastration zum Inhalt. Der Kleinianische Ansatz, den Susan Isaacs in den wissenschaftlichen Diskussionen der British Society vorgestellt hat, führte radikale Veränderungen des Konzeptes ein. Unbewusste Phantasien sind nicht auf verdrängte Phantasien begrenzt, sondern sie sind der Inhalt der Psyche und unterliegen dem gesamten seelischen Geschehen, das sie von Geburt an begleiten. Diese Sichtweise setzt die Existenz einer frühen psychischen Aktivität voraus, die das Baby, wenn auch rudimentär, mit der Außenwelt in Kontakt bringt. Als Klein das Konzept der projektiven Identifikation (Klein, 1946/1975) einführte, bewegte sie sich noch stärker in diese Richtung, weil der Introjektion von Objekten deren projektive Identifizierung vorausgeht. Laut Klein und ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern existieren unbewusste Phantasien bereits vor dem Spracherwerb, wobei die nichtverbalisierten Phantasien hauptsächlich durch Gefühle, Empfindungen sowie Körperzustände und Bewegungen ausgedrückt werden. In der modernen Ich-Psychologie hat Jacob Arlow (1969a; 1969b) das einflussreichste Konzept der unbewussten Fantasie entwickelt. Im Unterschied zu den Kleinianern/Kleinianerinnen besteht für Arlow die Schwierigkeit des Konzeptes darin, dass unbewusste Fantasien aus Elementen mit festgelegtem verbalen Inhalt bestehen und eine innere Konsistenz haben, was bedeutet, dass sie hochorganisiert sind. Arlow verwendete den Begriff »Fantasie« im Sinne von Tagtraum und findet es passender von »unbewusster Fantasiefunktion« (unconscious fantasy function) zu sprechen, die ein konstanter Bestandteil des Seelenlebens sei. Arlow gruppierte Fantasien um die grundlegenden Kindheitswünsche herum. In der Fantasiebildung

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spielt nicht nur das Es, sondern ebenso das Ich und das Über-Ich eine Rolle. Unbewusste Fantasien sind Kompromissbildungen. Ihre Aktualisierung bildet das »mentale Set« mit dem die Sinnesreize wahrgenommen und integriert werden. Es ist Aufgabe der IchInstanz, die miteinander konkurrierenden inneren und äußeren Sinneseindrücke zu integrieren, abzugleichen, zu beurteilen und auszusortieren. Das Ergebnis ist eine zusammengesetzte Mischung beider Inputs. Sandler und Sandler (1994) kritisierten als zeitgenössische Freudianer/-innen die kleinianische Erweiterung des Konzepts der unbewussten Phantasie, bei der praktisch jede Form von unbewusstem seelischen Inhalt miteingeschlossen und dadurch überladen würde. Die Sandlers möchten das Problem lösen, indem sie zwei Arten von unbewussten Phantasien unterscheiden: Phantasien des Vergangenheits-Unbewussten und des Gegenwarts-Unbewussten. Phantasien des Vergangenheits-Unbewussten treten in den ersten vier bis fünf Lebensjahren auf. Sie sind nur über Rekonstruktionen anhand des Materials des Patienten zugänglich. Es wird angenommen, dass Phantasien im Gegenwarts-Unbewussten zum Teil Abkömmlinge des Vergangenheits-Unbewussten sind. Gerät das erwachsene Individuum auf die eine oder andere Weise unter Druck, so geht seine unmittelbare unbewusste Reaktion vom Vergangenheits-Unbewussten, als Drang zu Handeln oder als unbewusste Phantasie, aus. Diese Abkömmlinge durchlaufen jedoch im Laufe der Entwicklung Veränderungen und sind enger mit den Repräsentationen gegenwärtiger Personen verbunden, auch sind sie einem höheren Level von unbewusstem sekundärprozesshaftem Geschehen unterworfen. Unbewusste Phantasien in der Gegenwart haben eine stabilisierende Funktion, indem trotz verschiedener störender Tendenzen, Sicherheit und Wohlbefinden aufrechterhalten werden. In der selbst-psychologischen Konzeptualisierung von Ornstein und Ornstein (2008) sind die Triebwünsche nicht mehr die motivierenden Faktoren der unbewussten Fantasie und ihres Inhaltes. Dieser Platz wird hier von Reaktionen aus der Umwelt eingenommen. Ist die Umwelt ausreichend gut, werden die Fantasien zur Quelle vieler unserer Leidenschaften und Bestrebungen. Sind die Bezugspersonen unerreichbar oder demütigend und sadistisch mit dem Kind, können die unbewussten Fantasien zur Grundlage

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von symptomatischen Verhaltensweisen und Vergeltungsfantasien werden. Die Selbst-Objekt-Übertragungen sind nicht nur Wiederholungen, sondern stellen auch eine Suche nach Erfahrungen dar, die eine erhoffte Veränderung mit sich bringen. Die Hoffnungen auf Veränderung werden in einer sogenannten »heilenden Fantasie« (curative fantasy) organisiert. Dies kann auf verschiedenen Bewusstseinsebenen geschehen und hat die Gestalt einer tiefen inneren Überzeugung, dass für eine Heilung einige sehr spezifische Erfahrungen gemacht werden müssen. Philip Bromberg (2008) ist ein Vertreter der relationalen Perspektive. Für ihn hat die unbewusste Fantasie ihren universellen Charakter als Repräsentanz der Triebe verloren, sie ist stattdessen eine Funktion von dissoziierten Selbstzuständen, die diesen ermöglicht, symbolisiert zu werden. Im ersten Stadium ist die Phantasie noch kaum durch Sprache symbolisiert und hat in der Übertragung-Gegenübertragungsbeziehung die Funktion eines Enactments. Wenn dissoziierte Bereiche nicht mehr abgekapselt werden müssen und sich eine Fähigkeit zum inneren Konflikt entwickelt, eröffnet dies die Möglichkeit zur Symbolisierung des Enactments. Dadurch wird ein neuer perzeptueller Kontext geschaffen, der eine Symbolisierung in Form einer unbewussten Fantasie möglich macht. In diesem Prozess von der Handlung zum bewussten Verstehen der analytischen Beziehung hat die unbewusste Fantasie eine hermeneutische Funktion. Heutige Befunde aus der entwicklungspsychologischen Forschung zeigen, dass das Kind von klein an implizites Wissen über Interaktionen mit der Bezugsperson erwirbt und daraus Erwartungen und interaktionelle Repräsentationen bildet. Diese Repräsentationen werden als Grundbausteine für die Bildung unbewusster Fantasien angesehen. Sie nehmen die Gestalt von unbewussten Überzeugungen über das Selbst und Andere sowie über die Muster ihrer Beziehung an. Unbewusst bedeutet in diesem Kontext, dass die Phantasie nur implizit für das Kind verfügbar ist (siehe z. B. Erreich, 2003; Lyon, 2003; Litowitz, 2005; Eagle, 2011; Schimek, 2011). Es ist zu sehen, wie unterschiedlich die Konzeptualisierungen der verschiedenen psychoanalytischen Schulen sind. Alle gehen jedoch davon aus, dass dieses Konzept ein Phänomen beschreibt, das zu irgendeinem Zeitpunkt des psychoanalytischen Prozesses in der

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Vorstellungswelt der Analytikerin oder des Analytikers auftaucht. Unser nächster Schritt ist nun uns dieses klinische Phänomen genauer anzusehen. Schritt 2: Die unbewusste Phantasie als klinisches Phänomen Es ist wichtig, den Prozess zu beschreiben, wie sich in der Vorstellung der Analytiker/-innen der Gedanke bildet, dass ein in der Beziehung zur Patientin oder zum Patienten auftauchendes Phänomen als unbewusste Phantasie definiert werden kann. Das genaue Beobachten der Gegenübertragung ist zu einem Hauptwerkzeug dieses Prozesses geworden. Die Analytiker/-innen setzen all ihre Bemühungen ein, um jenseits der expliziten Worte der Patienten/Patientinnen etwas aufzudecken, was wir eine unbewusste Erfahrung nennen können. Früher oder später werden Analytiker/-in und Patient/-in einer unterbrochenen, etwas fragmentierten und inkonsistenten Realität gegenüberstehen. Sehr langsam entsteht ein kreativer Prozess in der Vorstellungswelt des Analytikers, der aus dem Netzwerk möglicher Beziehungen, das sich in den Darstellungen der Patienten/Patientinnen etabliert hat, einige Beziehungen auswählt. Wie auch immer diese Beziehungen aussehen, sie führen uns unvermeidbar in eine unbekannte Welt. Wir wählen die Gegebenheiten aus, die unserer eigenen Welt am nächsten erscheinen und uns erlauben, an der Welt der Patienten und Patientinnen teilzuhaben. Eine geteilte Welt beginnt Form anzunehmen, eine Art gemeinsame »Illusion«, in der sich die unterschiedlichen Welten der Patienten/Patientinnen und der Analytiker/-innen überschneiden. Diese geteilte Welt »erscheint« in der Vorstellung der Analytiker/-in als Phantasie, das heißt als komplexes visuelles Bild – als figuratives Mini-Narrativ –, welches zeitgleich, innerhalb des »Hier und Jetzt« der analytischen Beziehung, mehrere Dimensionen in den Patienten/Patientinnen beschreibt. Die unbewussten Phantasien, die wir im Prozess des »Entdeckens« der inneren Welt der Patienten und Patientinnen »finden«, sind ein Weg – der am Schnittpunkt des interpersonellen/ intersubjektiven Kontakts entsteht –, die Erfahrung des Unbewussten zu beschreiben. In der Phänomenologie, wie wir sie hier beschreiben, ist ein enger theoretischer Zusammenhang zwischen dem Konzept des Enactments und dem der unbewussten Phantasie gegeben. Wir denken, es ist ein Irrtum zu glauben, dass im Enactment eine Phantasie ausagiert wird, die schon vor dem Akt selbst besteht. Stattdessen

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ist es das In-Worte-Fassen der unsymbolisierten affektiven Erfahrung, was die Analytikerin oder der Analytiker unbewusste Phantasie nennt. Von diesem Standpunkt aus gesehen, gehört die Illusion – dass die Phantasie bereits vor der geteilten affektiven Erfahrung oder vor dem Akt selbst besteht – zur Phänomenologie der unbewussten Phantasie. Die unbewusste Phantasie ist vielmehr eine Metapher, die hilft das psychische Material und Verhalten der Patientinnen und Patienten zu verstehen. Sie existiert nicht konkret in ihrem Unbewussten. Schritt 3: Die Verfahrensregeln für das Konzept unbewusste Phantasie In unserer vorherigen Arbeit haben wir sieben Kriterien herausgearbeitet, um die Einzigartigkeit eines Konzepts zu erfassen. Hier werden wir die unbewusste Phantasie auf dieselbe Art und Weise untersuchen. Bezüglich der Relevanz gibt es kein Problem. Die unbewusste Phantasie ist untrennbar in die psychoanalytische Theorie eingebunden. Bei der Widerlegbarkeit/Falsifizierbarkeit wollen wir nach einem klinischen Zustand suchen, der auf das Fehlen einer unbewussten Phantasie hinweist. Zumindest auf phänomenologischer Ebene sind Situationen denkbar, in denen keine unbewusste Phantasie festgestellt werden kann. Die operationale Definition bezieht sich auf die Vorgehensweise, die das Wirken einer unbewussten Phantasie ermöglicht. Die Ausgangspunkte variieren hierfür je nach der Sichtweise der ersten, zweiten und dritten Person. Wir verlassen uns vor allem auf den heuristischen Wert des Konzepts, wenn wir in andernfalls absurden Symptomen und anderen klinischen Erscheinungen einen Sinn sehen. Diese ersten drei Kriterien scheinen also mehr oder weniger erfüllt zu sein. Das Kriterium der inneren Konsistenz wird durch die Tatsache verkompliziert, dass es keine generelle Einigung gibt, ob man einen wirklichen Unterschied zwischen bewussten, vorbewussten und unbewussten Phantasien machen sollte. Während manche Autorinnen und Autoren einen fundamentalen Unterschied bezüglich der Beschaffenheit und Funktion sehen, betrachten andere (angefangen bei Freud) die drei Ebenen als Kontinuum und ohne große ontolo-

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gische Unterschiede. Es ist jedoch so, dass normalerweise alle ein im Grunde gleiches Konzept meinen, wenn von der unbewusste Phantasie (unconscious phantasy proper) gesprochen wird, und Unterschiede hauptsächlich durch den breiteren theoretischen Kontext entstehen. Da wir gerade vom Kontext sprechen, kontextuelle oder intratheoretische Konsistenz ist wahrscheinlich das Kriterium, das die größte Herausforderung für eine reibungslose Integration des Konzeptes darstellt. Die unbewusste Phantasie gehört zweifelsohne zu einer großen Gruppe psychoanalytischer Konzepte und ist deshalb naturgemäß konsistent mit der Theorie als Ganzer. Das Problem ist, dass es bei den Konzepten selbst große Überschneidungen gibt. Denken Sie zum Beispiel an Komplex, infantile Theorie, persönlicher Mythos, Familienroman, unbewusster Wunsch, psychische Realität, innere Objekte, Reminiszenz etc. Wie wir sehen, liegt das Problem nicht im Konzept der unbewussten Phantasie selbst, sondern in der Theorie als Ganzes. Manche Konzepte scheinen untergeordnet zu sein, während andere auf gleicher Ebene liegen. Aus dem gleichen Grund wird das Kriterium der begrifflichen Sparsamkeit schlecht erfüllt. Schlussendlich kann man der unbewussten Phantasie ebenfalls wenig außeranalytische Konvergenz zuschreiben, da sie ein ausschließlich psychoanalytisches Konzept ist und nicht durch biologische oder andere nichtanalytische Methoden in ihrer Existenz oder der Funktion, die ihr die Psychoanalyse zuschreibt, bestätigt werden kann. Schritt 4: Dimensionale Analyse der verschiedenen Konzepte der unbewussten Phantasie Die dimensionale Analyse der verschiedenen Konzepte ist der wichtigste Schritt unseres Ansatzes. Hierbei möchten wir den Bedeutungsraum des Konzeptes im Detail untersuchen. Wie bereits beschrieben, haben die Konzepte keine eindeutige, klar definierbare Bedeutung, sondern eher eine Bandbreite an Bedeutungen. Unsere Idee ist, einen übergreifenden Bedeutungsraum zu schaffen, der es ermöglicht, die verschiedenen Versionen des Konzeptes in diesem Rahmen unterzubringen. Es ist ein multidimensionaler Raum, nicht nur dreidimensional, sondern fünfdimensional. Anhand der Position, welche die jeweilige Version des Konzeptes auf den ver-

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schiedenen Dimensionen dieses Raumes einnimmt, können wir sehen, ob die verschiedenen Konzeptualisierungen von unbewusster Phantasie zur selben konzeptuellen »Familie« gehören oder ob die Unterschiede im Bedeutungskontext und der Konstruktion der psychischen Realität eine Integration unmöglich machen. Wir haben fünf dichotome Dimensionen identifiziert: 1. Unbewusste Phantasie als endogen erschaffen/reine Imagination vs. akkurate Repräsentation tatsächlicher Ereignisse Die Phantasie wird in Beziehung gesetzt zur »Realität« oder dem, was real ist. Hierbei geht es um eine grundlegende Gegensätzlichkeit in der psychoanalytischen Theorie, und wir unterscheiden die verschiedenen Positionen danach, in welchem Ausmaß sie die Wahrnehmung der Realität als für die unbewusste Phantasie beeinflussend oder bestimmend ansehen. 2. Unbewusste Phantasie als organisierende Struktur des psychischen Lebens vs. unbewusste Fantasie als reine Deutungskategorie. Beobachtet vs. angenommen/erschlossen (inferred) Wird den unbewussten Phantasien eine tatsächliche organisierende Funktion der Psyche zugeschrieben oder werden sie erschlossen und konstruiert und hauptsächlich als Informationsquelle über die Organisation der Psyche angesehen? 3. Organisationsgrad der psychischen Struktur: archaische Primärvorgänge vs. hochorganisierte Sekundärvorgänge Sind unbewusste Phantasien durch primärprozesshaftes Denken organisiert oder als ein Narrativ durch sekundärprozesshafte Strukturen? Gibt es ein Kontinuum zwischen archaischen Versionen und narrativ organisierten Versionen? Damit hängt auch die Frage zusammen, welche Art von Phantasien von jeher unbewusst sind oder erst bewusst waren und dann verdrängt wurden. 4. Unbewusste Phantasien als globale/personalisierte Phantasien, die in den Charakter oder die Persönlichkeit integriert sind und die Art des »in der Welt Sein«aufzeigen vs. partikulare Phantasie­bildungen, die ausschließlich bestimmte Konfliktthemen betreffen (z. B. im Zusammenhang mit Kastrationsängsten). 5. Entwicklungslinie der Fähigkeit, Phantasien zu bilden und Informationen wahrzunehmen und zu organisieren: von Geburt an vs. als Fähigkeit erst nach dem ersten oder zweiten Lebensjahr verfügbar (Fähigkeit zur Repräsentation von Objekten).

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Dimensionale Analyse der verschiedenen Konzepte der unbewussten Phantasie Dimension 1 (Realitätsfaktor): Unbewusste Phantasie als endogen erschaffen/reine Imagination vs. akkurate Repräsentation tatsächlicher Ereignisse Die Beziehung zwischen Fantasie und Realität hat die psychoanalytische Theorie von jeher beschäftigt. Das deutsche Wort »Phantasie« bedeutet Imagination und nicht so sehr Einbildungskraft. »Phantasie« hat immer ein illusorisches Element. Wir würden auch sagen, dass die gesamte Phantasie eine komplette Illusion oder Täuschung ist, wenn es überhaupt kein Element der Realität in ihr gibt. Deshalb ist die Gegensätzlichkeit aus reiner Vorstellung und externer Realität Teil der strukturellen Definition der Fantasie. Laplanche und Pontalis (1968) zeigten, dass Freud für Phantasien immer einen Ursprung in der Realität gesucht habe: Zuerst in wirklicher Verführung, dann in spontaner Sexualität und schließlich in einer hypothetischen Vergangenheit als realem Ursprung der Urphantasien. Für Freud habe die Lösung dieses Problems in der Schaffung eines Zwischenraumes gelegen: der psychischen Realität. Laplanche und Pontalis (1968) hoben jedoch hervor: »Die Schwierigkeit und Zweideutigkeit liegt genau in eben dieser Beschaffenheit der Beziehung zum Realen und zum Vorgestellten, wie man im zentralen Bereich der Fantasie sehen kann« (1968, S. 3). Lassen Sie uns sehen, wie die verschiedenen Konzeptionen von unbewusster Phantasie diese konzeptuelle Schwierigkeit zu lösen versuchen. Wir werden die Idee eines Kontinuums von »rein intrinsischen Faktoren« zur »Phantasie als akkurate Repräsentation der Realität« verwenden, um die verschiedenen Konzeptionen in eine Ordnung zu bringen. Am einen Ende können wir die kleinianischen Konzepte ansiedeln. Für Kleinianerinnen und Kleinianer besteht der gesamte Inhalt des Unbewussten aus unbewussten Phantasien. Auch können das Realitätsdenken und rationale Handlungen nicht ohne begleitende und unterstützende unbewusste Phantasien ablaufen. Für Susan Isaacs (1948) ist die Phantasie die psychische Repräsentation der Triebe. Die Phantasie gibt dem Trieb eine psychische Existenz und eine Form. Das Kind erlebt sein Verlangen als eine spezifische Phan-

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tasie ohne Worte, zum Beispiel: »Ich möchte an der Brustwarze saugen.« Der Realitätsfaktor hierbei sind die Empfindungen und Affekte, die der Phantasie eine konkrete körperliche Komponente geben, einen Selbstbezug (me-ness). Der Wandlungsprozess von der Empfindung in eine Phantasie bleibt jedoch eine offene Frage. Isaacs (1948) betont, dass die frühesten Phantasien eine innere und subjektive Realität darstellen, jedoch zugleich von Anfang an »mit einer tatsächlichen, wenn auch eingeschränkten und begrenzten Erfahrung der objektiven Realität verbunden sind« (S. 86). Kleinianer/-innen arbeiten aus der inneren Vorstellungswelt heraus und haben Schwierigkeiten, die externe Realität und ihre Wahrnehmung zu konzeptualisieren. Hanna Segal beschreibt, dass normale Säuglinge die Phantasie prüfen, ob vom Objekt Befriedigung erlangt werden kann. Dies setzt beim Säugling die Fähigkeit voraus, eine von der Phantasie verschiedene Realität wahrzunehmen. Segal spricht von einer in die Phantasien »eingebaute Einstellung gegenüber der Welt«, welche die wiederholte Realitätsprüfung ermöglicht (1994, S. 400). Diese Einstellung setzt eine psychische Organisation auf der Ebene der depressiven Position voraus. Ronald Britton (1995; 1998; 2001) vertritt eine andere Position. Phantasien entstehen schon im Säuglingsalter und bleiben von dort an unbewusst bestehen. Sie haben keine Konsequenzen, außer wenn einer Phantasie eine Annahme oder Überzeugung (belief) angehängt wird. Für Britton ist die Überzeugung die Funktion, die den Phantasien einen Realitätsstatus verleiht. Durch eine Überprüfung der Realität werden Annahmen und Überzeugungen zu Wissen. In diesem Sinne haben sie eine Zwischenposition zwischen der reinen Phantasie und der externen Realität. Jacob Arlow (1969a) ist der Ansicht, dass die Kleinianerinnen und Kleinianer eine zu scharfe Unterscheidungslinie zwischen unbewusst und bewusst ziehen und dadurch das Verständnis der unbewussten Fantasie sehr erschweren. Arlow ordnet Fantasien bei bestimmten grundlegenden Triebwünschen ein. Er verwendet den Begriff der unbewussten Fantasie im Sinne von unbewusstem Fantasiedenken. Der Wahrnehmungsapparat des Ichs ist gleichzeitig in zwei unterschiedliche Richtungen aktiv. Er ist einerseits nach außen auf die sensorischen Stimuli aus der externen Objektwelt gerichtet. Der andere Teil ist nach innen gerichtet und reagiert

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auf einen ständigen inneren Stimulationsfluss. Dessen organisierte mentale Repräsentation nennt Arlow Phantasiedenken. Es beinhaltet Erinnerungsschemata der zentralen Konflikte und traumatischen Ereignisse im Leben des Individuums. Die psychische Realität ist immer eine Mischung aus Tatsachen und Fantasie. Fantasie und Wahrnehmung sind durchgehend miteinander verwoben. Manchmal haben unbewusste Fantasien eine sehr subtile Form, andernfalls können sie jedoch auch einen intrusiven und starken Einfluss haben und die eintreffenden Wahrnehmungen in Form von Illusionen, Fehlwahrnehmungen und Fehlleistungen organisieren. Im Prinzip können aber Fantasie und objektive Realität auch wieder voneinander getrennt werden. Es ist die Aufgabe der Analytiker/-innen, die unbewusste Fantasie der Patienten und Patientinnen ausfindig zu machen, um ihnen zu helfen, zwischen unbewusster Phantasie und Realität zu unterscheiden. Sandler und Sandler (1994) unterscheiden zwei breite Kategorien von unbewussten Phantasien: Die unbewussten Phantasien des Vergangenheits-Unbewussten beinhalten sowohl altersangemessene Sekundärvorgänge als auch primärprozesshaftes Geschehen. Phantasien, die Teil des gegenwärtigen Unbewussten sind, unterliegen stets dem Druck, in der Realität verankert zu werden. Wunschphantasien des Vergangenheits-Unbewussten, die ins Vorbewusste aufsteigen, müssen durch Abwehrmechanismen modifiziert, verschleiert oder verdrängt werden, bevor sie ins Bewusstsein vordringen. Die Aktualisierung unserer unbewussten Wunschphantasien muss in einer für uns plausiblen Art und Weise geschehen. Für die Sandlers haben die Realität und die in der Realität erlebten Affekte eine wichtige organisierende Funktion für die unbewussten Phantasien. Für Ornstein und Ornstein (2008) wiederum sind die Reaktionen der Umwelt auf die Bedürfnisse des sich entwickelnden Kindes von entscheidender Bedeutung für Form und Inhalt unbewusster Fantasien. Wächst das Kind in einer optimalen Umgebung auf, werden die Fantasien zu einer Quelle vieler Leidenschaften und Ambitionen. Vernachlässigung oder Demütigung und sadistisches Verhalten der Bezugspersonen hingegen sind pathogene Einflussfaktoren. Unter solchen Umständen werden die unbewussten Fantasien durch traumatische Erfahrungen organisiert. In der Behandlung solcher Patienten haben unbewusste Fantasien, die Hoffnungen verkör-

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pern, oder solche, die um Erwartungen von wiedergutmachenden Erfahrungen kreisen, eine heilende Funktion. Unbewussten Fantasien haben somit eine Vielfalt an unterschiedlichen Inhalten, die in direktem Zusammenhang mit dem Einfluss der Umwelt und den spezifischen Kindheitserfahrungen stehen. Für Philip Bromberg (2008) hat das Konzept der unbewussten Fantasie lediglich einen heuristischen Wert, um einer Handlung oder einem Enactment Sinn zu geben, die sich im Zustand einer unformulierten Erfahrung befinden. Die unbewusste Fantasie ist eine Nicht-Ich-Erfahrung, die vom Selbstnarrativ und vom narrativen Gedächtnis dissoziiert ist. Ist ein dissoziierter Anteil nicht mehr abgekapselt, wie es in der analytischen Beziehung vorkommt, schafft die generative Elastizität von Fantasien einen Raum für multiple Realitäten und multiple Selbst-Zustände, sowohl von Patienten/Patientinnen als auch von Analytikern/Analytikerinnen. Enactments schaffen einen neuen Wahrnehmungskontext und ermöglichen dadurch ihre Symbolisierung in Form einer unbewussten Fantasie. Auf einem Kontinuum der Dimension »Realitätsfaktor«, an dessen einem Ende die Phantasie als reine Imagination steht und am anderen Ende als akkurate Repräsentation von tatsächlichen Ereignissen, können wir die verschiedenen Konzeptionen folgendermaßen einordnen:

Reine Vorstellung Akkurate Repräsentation  von tatsächlichen Ereignissen X X Isaacs  Segal  Britton  Arlow  Sandler/Sandler  Ornsteins  Bromberg Abbildung 1

Vergleicht man die verschiedenen Konzeptualisierungen, so wird deutlich, dass nur eine partielle Integration einiger Konzepte möglich scheint. Die Konzeptionen der Kleinianer/-innen Isaacs, Segal, Britton, das Ich-Psychologische Konzept von Arlow sowie das der Sandlers beschreiben alle ein konstantes, wechselseitiges Zusammenspiel zwischen Realität und unbewusster Phantasie, aus dem eine Mischgebilde aus Tatsachen und Fantasie entsteht. Unterschiede und Divergenzen der verschiedenen Konzepte hängen

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davon ab, wie stark die realen Gegebenheiten oder die Phantasie hervorgehoben oder gewichtet werden: Die Kleinianerinnen und Kleinianer befinden sich mehr auf der Seite der Phantasie, Arlow und noch stärker die Sandlers auf der Seite der Realitätsfaktoren. Für die Ornsteins sind die realen Erfahrungen der entscheidende Faktor bei der Bildung von unbewussten Fantasien, besonders die Reaktionen der Bezugsperson auf die entwicklungsbedingten Bedürfnisse des Kindes. Die Grundlage für diese Position sind Befunde aus der Entwicklungs- und Bindungsforschung über die naive Kognition bei Kindern und die Möglichkeit zur wahrheitsgetreuen Wahrnehmung. Bromberg hat mit seiner Auffassung der bedeutungsgebenden Funktion der unbewussten Fantasie bei intersubjektiven Handlungen strukturell gesehen eine ähnliche Position wie die Ornsteins: die Fantasie als Ergebnis und Ausdruck von bis dahin unformulierten realen Erfahrungen. Dimension 2: Essenzialismus versus Nominalismus – Unbewusste Phantasie als eine dem seelischen Geschehen zugrunde liegende Struktur oder als Deutungskategorie Im Folgenden werden wir versuchen, die verschiedenen Texte unseres Kanons nach zwei Fragen zu sortieren: Ist die unbewusste Phantasie eine organisierende Struktur des seelischen Geschehens, die unabhängig von den Deutungen der Analytikerinnen und Analytiker existiert? Eine zweite, damit zusammenhängende Frage kann wie folgt formuliert werden: Kann die unbewusste Phantasie direkt beobachtet werden oder ist sie ein Phänomen, das wir erschließen, das also nicht beobachtbar ist, von dem wir jedoch aufgrund von Hinweisen aus dem Verhalten annehmen, dass es existiert? Wir fangen mit den kleinianischen Texten an (Isaacs, 1948, Segal, 1994, Britton, 1995), die am einen Ende des Spektrums angesiedelt sind und die wir dem zuordnen, was wir als Essenzialismus bezeichnen. Dies bedeutet, dass wir das Konzept der unbewussten Phantasie durch die ihr zugrunde liegende Beschaffenheit definieren und die analytische Arbeit hauptsächlich im Begreifen der unbewussten Phantasie besteht; das Deuten an sich verändert die abgeleitete Phantasie nicht. Segal und Britton haben eine grundlegend ähnliche Sichtweise wie Isaacs, die in Übereinstimmung mit Klein annimmt, dass unbewusste Phantasien der primäre Inhalt der unbewussten

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seelischenVorgänge sind. Segal (1994) und Britton (1995) gehen von der kleinianischen Vorstellung aus, dass die unbewusste Phantasie eine strukturierende Funktion für das Seelenleben hat. Kleinianerinnen und Kleinianer glauben an ein sehr frühes aktives Ich, das vom Anfang des Lebens an in Objektbeziehungen involviert ist, die durch unbewusste, fantasierte Handlungen von Liebe und Hass in Bezug auf die mütterliche gute oder böse Brust, auf den Körper der Mutter und auf das Sexualleben der Eltern gesteuert werden. Die frühesten Phantasien sind direkt mit körperlichen Erfahrungen verbunden und nicht visuell. Zu einem späteren Zeitpunkt der Entwicklung kann das Kind sie möglicherweise visuell repräsentieren, erinnern und schließlich verbalisieren. Isaacs (1948) macht dennoch deutlich: »Unbewusste Phantasien werden immer abgeleitet, nicht an sich beobachtet« (S. 73). Am anderen Ende des Spektrums dieser Dimension können wir den Text von Philip Bromberg (2008) einordnen. Für diesen Autor hat das Konzept der unbewussten Fantasie lediglich heuristischen Wert, sofern es als dissoziierte, affektgesteuerte Erfahrung anerkannt wird und nicht als verdrängter symbolisierter Gedanke. Was wie eine Evidenz eines begrabenen unbewussten Inhaltes erscheint, ist in Wirklichkeit eine Illusion, die durch die interpersonelle/relationale Beschaffenheit des analytischen Prozesses beim Symbolisieren des unverarbeiteten Affektes entsteht. Indem kognitive und linguistische Symbolisierung schrittweise die Dissoziation ersetzen, speist die erhöhte Selbstreflexion die Illusion, dass etwas auftaucht, das schon immer geahnt, aber bisher abgewehrt wurde. Deshalb sind unbewusste Fantasien immer ko-konstruiert oder, mehr noch, sie existieren überhaupt nicht vorher im unbewussten Teil der Psyche des Kindes oder der Patienten/Patientinnen. Sie entstehen erst, indem eine Beziehung zu Bezugspersonen eingegangen wird, oder in der Analyse durch das Deuten von Enactments. Wir bezeichnen Brombergs Position als radikalen Nominalismus, was bedeutet, dass unbewusste Phantasien erst durch das Deuten der Analytikerinnen und Analytiker entstehen; das Konzept hat lediglich heuristischen Wert und es wird nicht erwartet, dass es eine tiefere Wahrheit über die Psyche enthüllt. In diesem Kontext wird die Frage, ob unbewusste Fantasien erschlossen oder beobachtet werden, irrelevant.

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Die anderen Autorinnen und Autoren unseres Kanons können an verschiedene Stellen eines Kontinuums zwischen Isaacs am einen und Bromberg am anderen Ende eingeordnet und als moderate Nominalisten klassifiziert werden. Das heißt, sie gehen davon aus, dass es tatsächlich etwas Reales wie die »unbewusste Fantasie« gibt, diese psychische Realität jedoch durch Interaktion mit der externen Realität, ob mit Bezugspersonen oder den Analytikern/Analytikerinnen, durch Interpretation modifiziert/konstruiert werden kann. Für Piera Aulagnier (1975) sind alle psychischen Prozesse repräsentationale Aktivitäten, die die Entwicklung der Subjektivität begleiten. Es gibt jedoch verschiedene Arten von Repräsentationen. Die erste Entwicklungsstufe ist der Originärprozess, in dem die Psyche des Säuglings die angenehmen oder unangenehmen Eigenschaften von eingehenden Stimuli wahrnimmt und die eine erste Orientierung in der Beziehung zur Welt vermitteln. Dieser Prozess folgt dem Postulat der Selbst-Erzeugung (self-engendering), das heißt, die Repräsentation selbst ist die Aktivität, die den lustvollen Zustand hervorruft und die das verbindende Objekt (die Brust) erzeugt. Die repräsentationale Aktivität ist das Pictogramm, entweder das einer Verbindung, wenn die Erfahrung angenehm ist, oder das von Zurückweisung, wenn die Erfahrung überwiegend unangenehm ist. Die zweite Stufe der Subjektivierung ist der Primärprozess, dessen repräsentationale Aktivität die Fantasie ist. Diese wird als imaginäre Wunscherfüllung verstanden, um Leiden zu vermeiden, das durch das Fehlen einer initialen Verbindung zur Mutter verursacht wird. Das dritte Moment ist der Sekundärprozess, der Sitz des Ichs, der mit dem Erscheinen von Ideenbildungen in Form von Repräsentationen, Sprache und Denken eingeleitet wird. Anders als in der kleinianischen Konzeption ist im Primärprozess, als dem eigentlichen Platz der unbewussten Phantasie, bereits die Anerkennung der externen Realität und einer frustrierenden Mutter implizit enthalten. Die Mutter kann jedoch das Fantasieleben des Kindes modifizieren: Durch das, was Aulagnier primäre Gewalt nennt, kann die Mutter durch Deutungen sowie motiviert durch ihr eigenes Verlangen, der Psyche des Kindes Optionen, Gedanken, Möglichkeiten der Zirkulation und Lusterfüllung etc. aufzwingen. Insofern ist das Fantasieleben für Interaktion offen; dadurch unter-

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scheidet sich diese Konzeption von der kleinianischen Ansicht, die das psychische Geschehen als mehr autark auffasst. Joseph und Anne-Marie Sandler (1994) können typischerweise als moderate Nominalisten bezeichnet werden, das heißt, sie bejahen eine Struktur in der Psyche, die als unbewusste Phantasie bezeichnet werden kann. Sie argumentieren allerdings auch, dass es verschiedene Betrachtungsweisen mit unterschiedlichen Konsequenzen für die analytische Behandlung gibt. Sie unterscheiden zwischen zwei breiten Kategorien unbewusster Phantasien, denjenigen im Vergangenheits-Unbewussten und denen im Gegenwarts-Unbewussten. Die Phantasien, von denen wir annehmen, dass sie im Vergangenheits-Unbewussten existieren, basieren auf dem analytischen Material der Patientinnen und Patienten, auf unserer Deutung der Vergangenheit. Einer Deutung, die in unserer psychoanalytischen Theorie des seelischen Geschehens und in unserer Theorie der kindlichen Entwicklung begründet ist. Fantasien im Gegenwarts-­Unbewussten existieren hingegen im Hier und Jetzt, sie sind der analytischen Arbeit zugänglich und sind enger mit Repräsentationen von Personen des täglichen Lebens verbunden. Zudem unterliegen sie einer höheren Ebene des unbewussten sekundärprozesshaften Geschehens. Folglich existieren unbewusste Übertragungsphantasien im Gegenwarts-Unbewussten, nicht im Vergangenheits-Unbewussten. Die Phantasien im GegenwartsUnbewussten haben eine stabilisierende Funktion, insofern sie als Reaktion auf verschiedenste affektive Störungen des inneren Gleichgewichts entstehen, was auch immer die Ursachen für diese Störungen sein mögen. Die Texte von Arlow (1969a, 1969b) und Abend (2008) gehören in dieselbe Kategorie. Sie glauben, dass es keine scharfe Unterscheidung zwischen Tagträumen und unbewusster Fantasie gibt und dass bewusste und unbewusste Fantasieaktivitätein konstanter Bestandteil des psychischen Geschehens sind. Deshalb bevorzugen sie den Begriff unbewusste Fantasie-Funktion. Unbewusste Fantasien sind in der Regel um bestimmte grundlegende Trieb­wünsche gruppiert und erzeugen ein gewisses Maß an Wunschbefriedigung. Verschiedene Versionen ähnlicher Fantasien können auf verschiedenen Entwicklungsstufen auftreten und enthalten, neben den wichtigen Wünschen, auch Abwehr- sowie Über-Ich-Komponenten. Inso-

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weit scheinen die Autoren Essenzialisten zu sein und damit näher an der kleinianischen Sichtweise: »Wir neigen dazu, [unbewusste Fantasien] als konkrete Einheiten in der Psyche der Patientinnen und Patienten anzusehen, deren Vorhandensein wir zuerst annehmen, dann entdecken, und schließlich rekonstruieren … Wir glauben, dass wir zugrunde liegende Formationen entdecken können […], die wir unbewusste Fantasien nennen, und die dem Oberflächenmaterial Form geben« (Abend, 2008, S. 124; Hervorhebung der Autoren). Dennoch glauben wir eher, dass sie gemäßigte Nominalisten sind, besonders Abend, wenn er schreibt: »Das Einschätzen der Erfahrungswerte und des Ergebnisses ist ein Prozess, der selbst nicht gänzlich frei von dem Einfluss der unbewussten Phantasie-Funktion der Beurteilenden ist, wie Arlows Formulierung deutlich macht« (Abend, 2008, S. 126; Hervorhebung der Autoren). Sie sind sogar der Meinung, dass Fantasien, wie jegliches klinisches Material, von tatsächlichen Erfahrungen beeinflusst werden. Schlussendlich können wir die Kohut-nahen Ornstein und Ornstein (2008) ebenfalls dem moderaten Nominalismus zuordnen, jedoch näher am Ende der Skala bei Bromberg, da sie der Teilnahme der Analytiker/-innen am psychischen Prozess der Patienten und Patientinnen entscheidende Wichtigkeit beimessen. Für sie beinhalten die sogenannten Selbst-Objekt-Übertragungen unbewusste Phantasien, die frühe traumatische Erfahrungen, unbewusste Hoffnungsphantasien und wiedergutmachende Erfahrungen organisieren. Die Möglichkeiten, die Autorinnen und Autoren des Kanons auf dieser hier untersuchten Dimension zu integrieren, sind von der Rolle abhängig, die sie dem Anderen, das heißt in der Analyse den Analytikern/Analytikerinnen, bei der Konstitution des Phänomens unbewusste Phantasie zuerkennen. In diesem Sinne können die Konzepte des gemäßigten Nominalismus besser integriert werden, wenn man beide Extrempositionen, das heißt den kleinianischen Essenzialismus und den radikalen Nominalismus Brombergs außen vorlässt. Dimension 3: Das Problem der organisationalen Dimension der unbewussten Phantasien. Obwohl die Frage in den Texten des Kanons nur indirekt thematisiert wird, kann man Unterschiede in den verschiedenen Denkschulen in Bezug auf den Begriff der Organisation feststellen. In

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seinem Text »Das Unbewusste« (1915) beschreibt Freud die Phantasie als eine intermediäre Formation, wenn auch eine hoch organisierte, zwischen den Systemen Ubw und Vbw. Bei Klein besteht das Unbewusste im Wesentlichen aus unbewussten Phantasien; sie sind das unbewusste Objekt. In einer solchen Konzeption schließt erstens die Primitivität der Phantasien nicht einen hohen Organisationgrad aus und spiegelt zweitens der Begriff der Organisation nicht notwendigerweise den symbolischen Wert (denken Sie zum Beispiel an Segal’s symbolische Gleichsetzung). Am anderen Ende des Spektrums meinen relationale/intersubjektive Psychoanalytikerinnen und -analytiker wie Bromberg, dass sie für die unbewusste Phantasie keine Verwendung haben, weshalb die Frage der Organisation für sie wahrscheinlich irrelevant ist. Bromberg (2008) räumt nichtsdestotrotz die Möglichkeit einer Art von posthumem Narrativ ein, das etwas konstruiert, was andere Schulen als ontologisch existierende unbewusste Phantasie bezeichnen. Die Ich-Psychologie und der zeitgenössische Freudianismus wiederum, würden wahrscheinlich einen unterschiedlichen Grad an Organisation anerkennen, in Übereinstimmung mit ihrer Ansicht eines Kontinuums, das sich vom Tagträumen bis zur unbewussten Phantasie erstreckt und davon abhängt, in welchem Ausmaß die Phantasie Primärvorgängen unterliegt. Über die französische Schule können wir ungeachtet ihrer Vielfältigkeit sagen, dass sie Organisation nicht nur als eine Eigenschaft der Phantasie ansieht, sondern dass sie der Phantasie selbst eine organisierende Rolle, zum Beispiel bei der Symptombildung zuschreibt. Besonders hervorstechend ist dies bei Lacan, der eine zentrale Phantasie postuliert, welche die existenzielle Grundhaltung des Subjektes organisiert. Davon einmal abgesehen, glauben wir, dass die Frage anders angegangen werden muss. Zuallererst sollte unserer Meinung nach mithilfe einer soliden epistemologischen Methode hinterfragt werden, welche Schlüsse wir überhaupt rechtmäßig aus der klinischen Praxis über die unbewussten Phantasien ziehen können. Vor allem wenn man bedenkt, dass solche Phantasien tatsächlich erst in der nachträglichen Analyse eines klinischen Phänomens deutlich artikuliert werden können. Phantasien werden per Definition retrospektiv beschrieben: entweder direkt von der Person, die sie ersinnt (bewusste Phantasien, Tagträume), oder indirekt mithilfe der Rekons-

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truktion von Analysand/-in und Analytiker/-in. Dieses Merkmal der Nachträglichkeit (après-coup) stellt eine große Herausforderung für das Bestimmen des Organisationsgrades von unbewussten Phantasien dar (und zu einem gewissen Grad gilt dies auch für bewusste und vorbewusste Phantasien), denn es impliziert, dass sie nie einer naturalistischen Beschreibung zugänglich sind. Sie können nicht in positive, voneinander getrennte Einheiten aufgegliedert werden, um die Architektur der einzelnen Bestandteile zu bestimmen. Deshalb haben wir keine Möglichkeit, zwischen einer Phantasie, von der wir annehmen, dass sie in den unbewussten Schichten der Psyche vorhanden ist, und ihrer späteren Konstruktion oder Rekonstruktion in der analytischen Dyade zu unterscheiden. Wir können auf diese Weise nicht feststellen, ob eine Phantasie, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Analysestunde formuliert wird, mehr oder weniger in ihrem sozusagen initialen Zustand organisiert ist, oder ob ihr Organisationsgrad lediglich die vorbewusste/bewusste Fähigkeit des Subjektes widerspiegelt, das immer kompetenter darin wird, die betreffende Phantasie vor Ort zu formulieren. Anstatt von einer aufgedeckten und gut formulierten Phantasie auszugehen, schlagen wir vor, einen unbewussten Kern aus Erinnerungsspuren anzunehmen, der anfangs nur eine Ur-Präsentation (primal) in der Psyche hat (z. B. Aulagniers Piktogramm; das Freud’sche Ding im Vergleich zum Prädikat im »Entwurf einer Psychologie«, 1895). Diese ziemlich rohe oder wenig elaborierte Gestalt kann als Startpunkt für einen Prozess dienen, in dem ein wirkliches psychisches Skript entwickelt wird, je mehr es sich einem Zustand annähert, der eine Formulierung in Worten ermöglicht. In solch einem Fall mag man der Verlockung erliegen zu glauben, dass es von Anfang an hochorganisiert war. Man kann sich auch vorstellen, dass der Kern in diesem rohen Zustand bleibt und nur in nonverbalen Manifestationen in Erscheinung tritt (z. B. Ausagieren, Somatisierungen, halluzinatorische Erfahrungen). Der Grundgedanke hierbei ist, dass die unbewusste Phantasie nicht für eine Einheit gehalten, sondern eher als lebendiger Prozess verstanden werden sollte; nicht ein zu enthüllender Tatbestand, sondern eine Möglichkeit, die dialektische Beziehung zwischen äußerer und psychischer Realität auszuarbeiten. In jedem Fall können wir eigentlich nur wirklich feststellen, ob das Subjekt (oder die analytische Dyade)

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in der Lage war, eine mehr oder weniger ausführliche Phantasie zu formulieren (oder nicht), unabhängig von der Natur der nicht beobachtbaren unbewussten Inhalte oder Vorgänge. In anderen Worten können wir lediglich die Fähigkeit zum Phantasieren (d. h., zu einer formulierten und somit im Endprodukt bewussten Phantasie zu kommen) sicherstellen und nicht die Existenz einer solchen Phantasie im Unbewussten. Wir möchten anmerken, dass diese Konzeption in keiner Weise ein Hindernis für unsere Untersuchung der Phantasiewelt darstellt. Im Gegenteil, diese Herangehensweise hat viele Vorteile und verhindert eine Reihe epistemologischer Fallen. Wir schlagen also vor, auf folgende Weise fortzufahren: Wir erkennen erstens an, dass, wie auch immer wir die unbewusste Phantasie konzeptualisieren (als bereits existierende Struktur, die enthüllt werden soll oder als Endprodukt eines Prozesses), sie letztendlich auf ihrer manifesten Ausformulierung basiert (d. h., auf dem Endprodukt). Indem wir zweitens anerkennen, dass wir nur die offenkundige Ausformulierung der Phantasie beschreiben können, sind wir das Problem los, wie wir zwischen unbewussten, vorbewussten und bewussten Phantasien unterscheiden können. Tatsächlich hat das Phantasieleben auf jeder Bewusstseinsebene die folgenden Eigenschaften: Die Phantasie ist eine private Schöpfung der Psyche und gehört zu einer anderen Realität als die geteilte Realität (d. h. sie macht das aus, was wir psychische Realität nennen); die Phantasie unterliegt auf jeder Bewusstseinsstufe eher primär- als sekundärprozesshaftem Denken; und die Phantasie präsentiert sich der Psyche auf jeder Ebene als erfüllter Wunsch oder Befürchtung und stellt deshalb den Weg dar, auf dem die Psyche in der Lage war, mit den Herausforderungen der externen Realität oder der inneren Ansprüche umzugehen. Deshalb müssen wir uns nicht entscheiden, ob wir die Phantasie als Ausdruck der Triebe ansehen (Klein) oder als eine Antwort auf das Rätsel des Anderen (Laplanche). In jedem Fall ist eine Phantasie, entweder durch ihre Inhalte oder durch ihr bloßes Vorhandensein, eine Form des Kompromisses zwischen der Befriedigung des inneren Dranges – den Trieben oder wie auch immer man es nennen mag – und der Rücksichtnahme auf den Anderen (der äußeren

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Realität). Indem wir uns das Problem ersparen, für die Triebtheorie Partei zu ergreifen, hat uns diese Herangehensweise an die Phantasiewelt näher an einen phänomenologischen Bereich gebracht, der unabhängig von theoretischen Präferenzen beschrieben werden kann. Von der organisationalen Dimension der unbewussten Phantasie zu sprechen, bedeutet deshalb unserer Meinung nach in Wirklichkeit, die Fähigkeit des Subjektes zur Ausformulierung zu beschreiben (mit oder ohne Hilfe der Analytikerinnen und Analytiker). Wir haben die Aufmerksamkeit deshalb von einem Inhalt, der nicht direkt beschrieben werden kann, auf eine Fähigkeit oder einen Prozess verschoben, der leicht zu beobachten ist, wobei wir uns auf geteiltes klinisches Material beziehen. Unabhängig davon, ob wir glauben, dass wir die Phantasie, so wie sie im Unbewussten war, aussprechen oder ob wir die Vorstellung haben, dass wir den Inhalt aus einer unergründlichen primären Quelle »konstruiert« haben, demonstrieren wir in jedem Fall die Fähigkeit, eine Phantasie als Phantasie zu formulieren. Wir können uns also auch die Frage ersparen, ob wir glauben, dass unbewusste Phantasien überhaupt existieren (Bromberg), da wir eine solche vorherige Existenz weder bestätigen noch verleugnen müssen, um den Prozess der Ausformulierung zu beschreiben, der schlussendlich die Phantasie als Phantasie beschreibt. Wenn wir den Ort der Beobachtung von dem Inhalt auf den Prozess verschieben, so lassen wir in Bezug auf die Organisation nicht den Inhalt und seine Struktur beiseite, denn wir versuchen einzuschätzen, wie gut die Patientinnen und Patienten in der Lage sind, ihre inneren Motive in eine Art von Skript einzuweben, das mit anderen geteilt werden kann. Das beinhaltet die Qualität, das heißt die Reichhaltigkeit der Textur der Phantasie. Diese Vielfalt kann gut in außerklinischen Kontexten wie literarischen und künstlerischen Schöpfungen beobachtet werden. Sie setzen kognitive und affektive Prozesse voraus, die für manche unserer Patientinnen und Patienten außer Reichweite sind, sei es aus Gründen der Traumatisierung, des Konfliktes oder sonstigen Gründen. Die inzwischen klassischen klinischen Beschreibungen von Marty, de M’Uzan und David (1963) oder Nemiah und Sifneos (1970) haben genau das im Bereich des psychosomatischen seelischen Funktionierens zum Ausdruck gebracht. Eine der wichtigsten Eigenschaften eines solchen klinischen

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Ansatzes ist, dass er das Phantasieleben in Zusammenhang mit anderen Merkmalen des seelischen Funktionierens setzt, wie zum Beispiel mit dem Konkretismus im Denken, dem unterschiedlichen Gebrauch von Metaphern, und weiter, ob wenig oder keine Träume berichtet werden, ob eine geringe oder keine Affektmodulierung (Alexithymie) vorhanden ist etc. Der Vorteil eines solchen Ansatzes ist, dass das Phantasieleben mithilfe einer Reihe verwandter Aspekte erfasst wird. Hierbei spielt die Organisationsdimension eine entscheidende Rolle. Natürlich ist eine elaborierte – und daher hochorganisierte – Phantasie nicht vorhanden, wenn großer Mangel an anderen Eigenschaften wie metaphorischem Ausdruck, Affektmodulation etc. herrscht. Gibt es wenige solcher Eigenschaften oder eine geringe Organisation der Phantasie als Endprodukt, so deutet dies auf eine eher dünne Beschaffenheit des Phantasielebens hin. Dimension 4: Unbewusste Phantasien – »global« oder »spezifisch« Da Freud das Unbewusste als Grundbaustein der Psychoanalyse konzipierte, so ist folglich die unbewusste Phantasie auch eines ihrer Hauptkonzepte. Als er sagte, dass die Existenz des Unbewussten nicht bewiesen, sondern nur angenommen werden könne (1915), gab er zu, dass es eine – wie wir sagen würden – epistemologische Notwendigkeit hatte, die in gleicher Weise für die unbewusste Phantasie besteht. In unserer Arbeit versuchen wir die Phantasien der Patientinnen und Patienten zu erschließen, weil unsere Deutungen Gefahr laufen, falsch zu sein, wenn wir es nicht tun. Deshalb ist das Konzept immer präsent, in theoretischen wie auch klinischen Schriften. Ist es nicht explizit, kann es dennoch als zugrunde liegend wahrgenommen werden. Einige Ansätze definieren sie vornehmlich als mit bestimmten Lebensereignissen in Zusammenhang stehende Gegebenheiten, die eindeutige und spezifische Inhalte haben. Andere beschreiben sie eher als permanente unbewusste Begleiterinnen, die weite Teile oder sogar die gesamte Spanne des menschlichen Lebens umfassen, und in denen die Produkte der Psyche enthalten sind. Es ist unvermeidbar, dass auf die eine oder andere Weise die Vorstellungen der Autorinnen und Autoren über die Beschaffenheit von unbewussten Phantasien in ihren Artikeln deutlich werden; auch werden ihnen pathogene oder heilende Fähigkeiten zugeschrieben. Wenn wir näher auf diese Dimension ein-

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gehen, werden wir den Fokus auf die beiden im Titel enthaltenen Begriffe legen, einige verwandte theoretische Ansichten und die dazugehörigen Probleme untersuchen und zudem versuchen, ihren Einfluss auf die Definition des Konzeptes zu beurteilen. Eine ausführliche Revision aller für diese Angelegenheit wichtigen Beiträge würde den Rahmen dieses Abschnittes sprengen, aber einige Beispiele sollen helfen, die wichtigsten Aspekte zu erfassen. Einer davon ist die Schwierigkeit, eine klare Linie zwischen den globalen und den spezifischen Phantasien zu ziehen. Arlow (1969) zum Beispiel sieht Phantasien als Kompromissbildungen zwischen Idealen, Normen und der Berücksichtigung der Realität an. Phantasien können nach dieser Anschauung als Abwehrmanöver angesehen werden, die mit »Störungen der bewussten Erfahrung« zusammenhängen und allen Bestandteilen ermöglichen, zum Ausdruck zu kommen. Bis zu diesem Punkt wäre es vertretbar, von spezifischen Phantasien zu sprechen. Arlow spricht jedoch auch von einem Fluss von Phantasien, Erinnerungen, Erfahrungen und der Realitätsprüfung, was allem Anschein nach rechtfertigt, beide Kategorien als vorhanden anzuerkennen. In einem anderen zeitgenössischen Artikel (Beres und Arlow, 1974) wird die unbewusste Phantasie mit Empathie, mit der Korrespondenz der Affekte des Analytikers/der Analytikerin mit denen der Patienten/Patientinnen sowie mit nonverbaler Kommunikation in Verbindung gebracht. Diese Begriffe machen wiederum eine genaue Prüfung der Kategorien global und spezifisch notwendig. Kris (1956a, 1956b) scheint gewillter zu sein, Phantasien als global darzustellen, und setzt sie mit persönlichen Mythen in Zusammenhang. Er behauptet: »Das autobiographische Selbstbild hat den Platz einer verdrängten Phantasie eingenommen« (1956a). Interessanterweise zitiert er Anna Freuds Aussage (1951), die es sich lohnt, hier wiederzugeben: »Das, was ein analytischer Patient als einmal geschehenes Ereignis beschreibt, taucht im Leben des sich entwickelnden Kindes als typische Erfahrung auf, die viele Male wiederholt wurde«. Hinsichtlich des heilenden oder pathogenen Charakters unbewusster Phantasien werden klarer definierte Positionen eingenommen: Arlow ist der Ansicht, dass sie Konflikte, unbefriedigte drängende Wünsche sowie Uneinigkeiten mit Gegebenheiten der Realität beinhalten. Shane und Shane (1990) und

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Ornstein und O ­ rnstein (die offen von heilenden Fantasien sprechen, 2008) beziehen Begriffe wie »Sehnsucht nach psychischer Stabilität, Sicherheit, Beseitigung von demütigendem Verlust« und »eine Suche nach Erfahrungen, die die erhoffte Veränderung herbeiführen« mit ein. Lassen Sie uns diese kurzen Zitate als einen Schritt in Richtung einiger theoretischer, technischer und epistemologischer Überlegungen nehmen, die etwas Klarheit in die Themen dieser Dimension bringen. Und obwohl hier kein Raum ist, auf alle Probleme bezüglich des Ursprungs, der Beschaffenheit und der Funktion von Phantasien einzugehen, ist es aus epistemologischen Gründen wichtig zu betonen, dass sie Teil einer höheren theoretischen Ebene sind, in der die Kategorien global und spezifisch ihren Platz haben. Ein wichtiger Aspekt, den wir im Kopf haben müssen, ist die zeitliche Perspektive: Das Unbewusste ist zeitlos, seine Produkte werden jedoch bewusst in der messbaren Zeit wahrgenommen, in der wir leben. Der psychoanalytische Prozess wiederum, der sich (bewusst) in der messbaren Zeit entwickelt, kann aus zwei unterschiedlichen Perspektiven gesehen werden: synchron und diachron. Ein Versuch, Phantasien als global oder spezifisch zu charakterisieren, ist schwer außerhalb dieses zeitlichen Rahmens zu verwirklichen (siehe das Zitat von Anna Freud). In bestimmten Momenten innerhalb von Therapiestunden werden Rückschlüsse auf unbewusste Phantasien gezogen und das kann uns zu dem Irrglauben verleiten, dass sie aufgrund des Moments, in dem wir sie herleiten, existieren oder auf diese Momente beschränkt bleiben. Um diesen Fehler zu vermeiden, müssen wir uns daran erinnern, dass wir häufig aus verschiedenen Gründen die Aufdeckung existierender Phantasien verpassen. Es ist offensichtlich, dass die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Deutung größer ist, wenn wir die, in diesem Moment der Stunde, aktive Phantasie richtig erkennen. Wir könnten sagen, dass wir unter diesen Umständen mit den Patientinnen und Patienten synchronisiert waren (Arlow u. Beres, 1974, betonen im Zusammenhang mit Empathie die Notwendigkeit der Synchronisierung der Affekte der Analytiker/-innen mit denen der Patienten/Patientinnen). Manchmal ist dieses idyllische Bild unmöglich zu erreichen und es bietet sich uns nur auf lange Sicht (in diachroner Perspektive) die Chance, die Phantasien zu verstehen, die in einer früheren Phase der Behandlung aktiv waren. In diesem Fall können wir überlegen, ob

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wir die Möglichkeit einer richtigen Deutung verpasst haben und ob wir diejenige, die wir tatsächlich abgegeben haben, nicht genügend überprüft bzw. widerlegt haben. Nicht ausschließen können wir das mehrmalige Vorhandensein derselben Phantasie, Variationen davon, oder unterschiedliche Phantasien in der langen Zeit eines von der Psychopathologie und Entwicklung der Patienten/Patientinnen abhängigen psychoanalytischen Prozesses. Die Begriffe global und spezifisch scheinen deshalb in einigen klinischen Situationen nebeneinander zu bestehen, wobei sie als Adjektive hilfreich sein sollen, unbewusste Phantasien zu identifizieren, die, unserer Annahme nach, unterschiedliche Merkmale haben. Diese Situation gestaltet sich schwierig, wenn wir klare Grenzen zur Verwendung der beiden Begriffe definieren wollen. Deshalb ist es nicht einfach, sie als Basis für eine sie einschließende Klassifikation zu verwenden. Dennoch können wir sie jedoch in begrenzteren Kontexten nützen, um bestimmte unbewusste Phantasien einzuordnen, zum Beispiel in konkreten Momenten einer Therapiestunde oder in einer Phase der Analyse. Von diesem Standpunkt aus, scheint es eine gewisse wechselseitige Beziehung der Phantasien mit den Interventionen der Analytikerin oder des Analytikers zu geben, deren Validität von bestimmten Umständen abhängt bzw. die über die Zeit der Behandlung hinweg angenommen werden kann. Vielleicht können wir einen Widerspruch, der mit dem Titel dieser Dimension in Zusammenhang steht, in einer doppelten Aussage folgendermaßen ausdrücken: Das Vorhandensein von Phantasien ist nicht von unseren Rückschlüssen auf sie abhängig, sondern genau andersherum. Und die Beschaffenheit unbewusster Phantasien kann zu einem großen Teil aus ihrem Inhalt erschlossen werden, aber diese Inhalte allein sind nicht ausreichend, um sie ontologisch zu definieren. Wenn wir von einer spezifischen Phantasie sprechen, meinen wir eine konkrete Phantasie einer bestimmten Person, wir können allerdings annehmen, dass diese gleichwohl Teil eines größeren Repertoires von Phantasien ist, das allen Menschen gemein ist. Ein vorläufiges Fazit könnte somit sein, dass die Kategorien global und spezifisch den größten Nutzen für die unbewusste Fantasie haben, wenn wir eindeutige Grenzen ziehen, innerhalb derer wir sie verwenden. Von einem rein epistemologischen Standpunkt aus müssten wir sagen, dass es unmöglich ist, ein Nebeneinander von

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Phantasien beider Kategorien im klinischen Material einer Patientin oder eines Patienten auszuschließen, wir können lediglich mit Sicherheit sagen, ob wir sie in dem bestimmten Material finden konnten oder nicht. Freud hat seine Theorien nicht nur immer wieder neu formuliert, in manchen Fällen hat er sich widersprechende Anschauungen sein Leben lang aufrechterhalten, obwohl er eine davon favorisierte. In Bezug auf unbewusste Phantasien gab er seine Grundidee nie auf: Phantasien sind Wunscherfüllungen aufgrund von Triebfrustrationen und Verdrängung. Und erinnern wir uns daran, dass Verdrängungen die Grundbausteine des Unbewussten sind. Aber er sagte auch, dass manche »von jeher« unbewusst waren und im Unbewussten gebildet wurden. In dieser Sichtweise waren Ur-Phantasien und primäre Verdrängung auch die Attraktoren des Verdrängten und haben beim Aufbau des Unbewussten geholfen. In Hinblick auf die Dimension, die wir hier diskutieren, erscheint es wichtig, an der einen oder anderen dieser Aussagen festzuhalten. Wir können feststellen dass die Kategorie spezifisch wohl besser mit der klassischen Definition, die Phantasien mit Verdrängung und Wunscherfüllung in Verbindung bringt, vereinbar ist. Im Gegenzug scheint die Kategorie global treffender für Phantasien, die von jeher unbewusst waren. Natürlich beinhalten sie ebenso Triebkonflikte, sie finden jedoch eher Ausdruck in breiteren Begriffen wie dem »in der Welt Sein« und der »Sehnsucht nach psychischer Stabilität«. Weiterhin sind sie vermutlich über längere Zeiträume hinweg aktiv. Eine Vereinbarkeit der Kategorie global mit der kleinianischen Hypothese der unbewussten Phantasie als dauerhaftes Korrelat jeder psychischen Aktivität wäre in diesem Falle auch denkbar. Schließlich sollten wir noch eine kurze Anmerkung zum Thema der heilenden oder pathogenen Eigenschaften machen, die unbewussten Phantasien zugeschrieben werden. Diese Begriffe wurden für durch Individuen gewonnene und später generalisierte Erkenntnisse verwendet. Solche Generalisierungen mögen schwere persönliche und ideologische Bestandteile beinhalten und der semantische Inhalt dieser Begriffe ist permanent abhängig von kulturellen Veränderungen, die ebenso Patient/Patientin wie Analytiker/-in beeinflussen. Es erscheint daher eine logische Schlussfolgerung, dass dieses Thema für jeden Fall einzeln betrachtet werden sollte. Es ist

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ebenfalls notwendig, eine andere Möglichkeit, diese vermuteten Merkmale der unbewussten Phantasien zu verstehen, in Betracht zu ziehen. Denn es wäre auch eine tragbare These anzunehmen, dass Phantasien an sich weder heilend noch pathogen sind, sondern, dass wir in ihrer Struktur und in ihren formalen Merkmalen die Existenz solcher pathogener oder heilender Eigenschaften annehmen können, die zu der Person gehören, welche die Phantasie hat. Dieser Standpunkt scheint auch kompatibel mit dem globalen Ansatz der Phantasien zu sein. Nun ist die Frage offen, ob wir bei dem Begriff kompatibel einen gewissen Grad an theoretischer Integration voraussetzen können, aber im Fall einer sehr vorsichtigen positiven Antwort mag eine Neuordnung der vielen existierenden Theorien sowie eine Neuformulierung ihrer Grundhypothesen zu einem gewissen Grad möglich sein. Das würde bedeuten, dass eine Einigung hinsichtlich der von uns normalerweise verwendeten Begriffe notwendig wird. Dies müsste natürlich noch ausführlich diskutiert werden. Dimension 5: Entwicklungslinie der Fähigkeit, Phantasien zu bilden und Informationen wahrzunehmen und zu organisieren, von Geburt an vs. ab dem ersten oder zweiten Lebensjahr (Fähigkeit zur Repräsentation von Objekten) Diese Dimension betrifft die Konzeption des frühkindlichen Seelenlebens, seine Merkmale, seinen Beginn und seine Ursprünge. Hat das frühe Seelenleben den Charakter einer Phantasie und wenn ja, wann beginnt das Phantasieren? Und, wie oben diskutiert, auf welche Weise beeinflussen infantile Phantasien das erwachsene Seelenleben? Freud war der Ansicht, dass es vor dem Alter von sechs bis sieben Monaten kein unbewusstes und bewusstes Leben im Säugling gibt. Das Problem, wie Phantasien ihren Ursprung im Seelenleben haben, versuchte er durch die Annahme von Primär- oder Urphantasien zu lösen. Dies sind vererbte (phylogenetische) Erinnerungsspuren von prähistorischen Ereignissen, die zu individuellen Phantasien ausgebaut werden. Sie stehen in Zusammenhang mit dem Ursprung des Individuums (Urszene), dem Ursprung von Sexualität (Verführung) und dem Ursprung des Unterschiedes zwischen den Geschlechtern (Kastration).

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Für Freud hing die Phantasie mit der Entstehung der Triebe zusammen. Er war der Ansicht, dass die Phantasie das Objekt des ­Sexualtriebes konstituiert, wenn triebbezogene Wünsche nicht erfüllt werden und durch Autoerotismus eine Fantasieszene entworfen wird, die eine gewisse Befriedigung bringen kann. Auf diesem Wege erschafft die Fantasie die Sexualität. Phantasien haben eine organisierende Funktion für das Seelenleben; sie stellen Versuche der Wunscherfüllung, primitiver Abwehr (Wenden gegen das eigene Selbst, Projektion, Verleugnung etc.) und Konfliktbewältigung dar. Phantasien interagieren mit Lebensereignissen und erschaffen auf diese Weise das Fantasieleben. Diese in Freuds Position inhärente Ambiguität bildete die Grundlage für divergente Positionen in der Psychoanalyse darüber, wie und wann Phantasieleben beginnt, welche Entwicklungslinien konzeptualisiert werden und auch welchen Status die Phantasie im Seelenleben hat. Für Kleinianerinnen und Kleinianer sind unbewusste Phantasien von Geburt an »als mentaler Ausdruck der Triebe« (Isaacs, 1948, S. 80) vorhanden und sie nehmen an, dass Impulsziele und -richtungen »der Beschaffenheit und der Richtung der Impulse selbst sowie den damit verbundenen Affekten inhärent sind« (Isaacs, 1948, S. 85–86). Während Freud den Standpunkt aufrechterhielt, dass Urphantasien dabei helfen, triebbezogene Wünsche und Impulse zu organisieren, sind sie hier »inhärent«, als ob die Impulse selbst diesen organisierenden Faktor enthielten. Laplanche und Pontalis (1968) schlagen vor, dass die prähistorische Herkunft von Urphantasien (bei Freud in der Phylogenese angesetzt) als »eine Vorstruktur verstanden werden kann, die von den elterlichen Fantasien aktualisiert und vermittelt wird« (S. 16). Diese Denkrichtung wurde von Piera Aulagnier (1975) weiterentwickelt. Sie postulierte mentale Aktivität vom frühen Säuglingsalter an, welche sie als Primärvorgang (primal processes) bezeichnete, der durch das Wort des Anderen zu Fantasien werden kann, die den Säugling darauf vorbereiten, symbolische und narrative Funktionen zu entwickeln. Unbewusste Fantasien basieren auf den vom Säugling größtenteils selbst entwickelten Piktogrammen, welche die Erfahrung, geliebt oder zurückgewiesen zu werden, repräsentieren. Unbewusste Fantasien entstehen durch die körperliche Beziehung

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des Säuglings zum Körper der Mutter/des Anderen und sie werden, dem Diskurs des Anderen folgend, formuliert. Die Fähigkeit des Kindes zur Separation und Triangulierung wird dadurch bestimmt, ob die Mutter eine dritte Position repräsentieren kann oder nicht, das heißt, also nicht das einzige Objekt der Begierde des Kindes ist. Fantasien sind daher organisierter und tauchen später in der Entwicklung auf als Primärvorgänge und Piktogramme. Für Ornstein und Ornstein (2008) entstehen Fantasien sehr früh in der Interaktion zwischen Säugling und Bezugsperson. Sie stehen mit Selbst-Objekt-Beziehungen in Zusammenhang. Für die Ornsteins sind die, in der Analyse von Erwachsenen auftauchenden, Fantasien von mentalen Repräsentationen abgeleitet: entweder von befriedigenden Erfahrungen, die Entwicklung und Kreativität entstehen lassen, oder von frustrierenden Erfahrungen, die zum Beispiel heilende Fantasien wie oben beschrieben entstehen lassen. Sandler und Sandler (1994) unterscheiden zwischen Fantasien des Gegenwarts- und des Vergangenheits-Unbewussten. Fantasien werden früh im Leben gebildet. Die Fantasien des VergangenheitsUnbewussten der frühen Kindheit werden von gegenwärtigen Fantasien unterschieden. Sie »stammen aus der Zeit vor der Errichtung der Verdrängungsschranke und der daraus resultierenden infantilen Amnesie« (S. 390). Für Arlow (1969) und Abend (2008) stehen Fantasien mit der Kindheit in Zusammenhang, ohne dass sie spezifizieren, wann diese »anfängt«. Die Fantasien sind um bestimmte grundlegende Kindheitswünsche und -erfahrungen herum gruppiert. Eine Version eines Fantasiewunsches kann eine spätere Version oder Abwehrverformung einer früheren Fantasie darstellen. Manche Kindheitsfantasien können tief verdrängt werden. Eine Grundannahme der empirischen Entwicklungsforschung ist, dass es, mindestens von Geburt an, mentale Aktivität gibt und, dass diese Vorgänge sowohl in Zusammenhang mit angeborenen Dispositionen als auch mit den Interaktionen des Säuglings und Kindes mit Bezugspersonen und anderen Personen stehen. Erreich (2003) schlägt vor, dass der Säugling schon früh Wissen über Beziehungen entwickelt und, dass dies auf psychischen Fähigkeiten basiert, die als Wunschdenken, wahrheitsgetreue Wahrnehmung und naive Kognition beschrieben werden können. Die Frage ist, ob dieses

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Wissen über Beziehungen als Fantasien konzeptualisiert werden kann. Ihrer Ansicht nach brauchen wir ein mentales Konstrukt, das die drei psychischen Fähigkeiten Wunschdenken, wahrheitsgetreue Wahrnehmung und naive Kognition umfasst. Es gebe gute Gründe, unbewusste Fantasie als ein geeignetes Konzept beizubehalten, um auch Wissen über die frühe Entwicklung aus der Entwicklungsforschung miteinzubeziehen. Erreich behält den Begriff der unbewussten Fantasie bei und definiert sie als mehr oder weniger unbewusste Überzeugung, die aus dem Zusammenspiel von allen drei psychischen Fähigkeiten sowie dem Temperament entsteht. Freuds These, dass das infantile Seelenleben auf primärprozesshaftem Denken basiert, wurde von der Entwicklungsforschung nicht bestätigt. Litowitz (2007) weist jedoch darauf hin, dass – selbst wenn neuere Forschung über die kindlichen psychischen Vorgänge den Primärvorgang nicht als Modell für das Seelenleben bestätigen – der einzigartige Beitrag der Psychoanalyse in diesem Feld jedoch zeigt, wie Kinder seelische Vorgänge für motivationale Zwecke nutzen und wie sie dazu Fantasien konstruieren. Bromberg (2008) hingegen bezweifelt, dass das Konzept der unbewussten Fantasie zur Beschreibung von Entwicklungsprozessen beibehalten werden kann. Er scheint die These zu vertreten, dass die dissoziierten Anteile eine Entwicklungsgeschichte haben und im prozeduralen Gedächtnis niedergelegt sind, jedoch nicht in Form von unbewussten Fantasien mit motivationalen Eigenschaften repräsentiert werden. Eine Entwicklungslinie der unbewussten Fantasie kann also folgendermaßen zusammengefasst werden: Tabelle 1: Entwicklungslinie der unbewussten Phantasie vor der Geburt freudianisch

post-­ freudianisch Pluralismus

1,5 Jahre

1,5+ Jahre

phylogene­ tisches Gedächtnis

Teilobjekt­ beziehungen

0–1 Jahre

Repräsentation von Objekt­ beziehungen

hin zur Objektkonstanz/-permanenz

Prä-Konzeptionen

Entwicklung von Modellen von Beziehungen zu Anderen/ Bezugspersonen = unbewusste Phantasien

unterschiedliche Modelle über unterschiedliche Bezugspersonen

Konsoli­die­rung des Wissens über Beziehungen: ­unbewusste Phantasien

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Bindungstheorie kognitive Entwicklungsforschung inter­personelle Position

Werner Bohleber et al. vor der Geburt

0–1 Jahre

1,5 Jahre

Temperament

mentale Aktivität/Denken: Wunsch, wahrheitsgetreue Perzeption, naive ­Kognition

Bindung: sicher, vermeidend, verstrickt RIGS

unbewusstes/ bewusstes Wissen über Beziehungen

1,5+ Jahre

dissoziiert: prozedurales und implizites Wissen

dissoziiert: prozedurales und implizites Wissen

dissoziiert: prozedurales und implizites Wissen

Integration? Es scheint eine Übereinstimmung zu geben, dass Säuglinge und Kinder von Anfang an mit der Welt in Beziehung stehen und, dass aktive/motivationale Vorgänge in Bewegung gesetzt werden, um Erlebtes zu bewältigen, sich anzupassen und abzuwehren. In dieser Hinsicht scheinen Theoretiker/-innen wie Aulagnier (1975) mit der Entwicklungsforschung übereinzustimmen, wenn sie beschreibt, dass die Entwicklung der kindlichen Fähigkeit, Fantasien zu bilden und symbolisch zu denken, von der Interaktion mit der Mutter und ihrer Fähigkeit, in einer dritten Position zu sein, abhängt. Das Konzept der angeborenen oder Urphantasien, das von Freud postuliert und zu einem großen Teil von den Kleinianern/Kleinianerinnen übernommen wurde, scheint mit dieser Ansicht unvereinbar zu sein. Das Konzept der unbewussten Phantasie ist nicht von der These einer primärprozesshaften Organisation der kindlichen Psyche abhängig. Befunde der Entwicklungsforschung sind mit dem Konzept der unbewussten Phantasie und ihrer frühen Entwicklung vereinbar. Ornstein und Ornstein (2008) vertreten diese Anschauung ebenfalls. Die kleinianische Konzeption, in der unbewusste Phantasien den Impulsen inhärent sind und erst später durch Interaktion beeinflusst werden können, divergiert in bedeutendem Umfang von Brombergs (2008) rein heuristischem und zögerlichem Gebrauch des Konzeptes in Verbindung mit dem prozeduralen, nicht symbolisierten Gedächtnis.

Die unbewusste Phantasie und ihre Konzeptionen

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Konklusion: Ist eine Integration der verschiedenen Konzepte der unbewussten Phantasie möglich? Heutzutage ist das Konzept der unbewussten Phantasie Bestandteil vieler verschiedener Theorien und theoretischer Perspektiven. Pragmatisch gesehen ist die unbewusste Phantasie ein recht flexibles Konzept geworden. Sandler und Sandler (1994) würden dies auf der einen Seite als Konsequenz der Elastizität von psychoanalytischen Konzepten sehen, auf der anderen Seite würden sie uns warnen, dass Konzepte »nur zu einem gewissen Grad erweitert werden können, bevor sie gesprengt werden« (S. 388). Die Folge wäre dann, dass das ganze Konzept amorph wird und wir Gefahr laufen, das Vorhaben aufzugeben, die verschiedenen Versionen zu vergleichen und nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zu suchen. In unserem Modell haben wir fünf Dimensionen ausgewählt, um den Bedeutungsraum des Konzeptes zu analysieren. Das Ergebnis ist, dass einige Dimensionen sehr gut zwischen den unterschiedlichen Versionen unterscheiden und zeigen, dass manche Ähnlichkeit haben, andere Versionen hingegen so unterschiedlich sind, dass sie zumindest mit einigen anderen wiederum nicht integriert werden können. Diese grundsätzlichen Unterschiede haben besonders mit den Grundannahmen der Schultraditionen zu tun, in Verbindung mit einem unterschiedlichen metapsychologischen Bezugsrahmen, sowie mit ungelösten epistemologischen Problemen. Wir möchten diese Probleme kurz anhand von zwei Themen darstellen: Die unbewusste Phantasie ist eines der zentralen Konzepte der Psychoanalyse. Nichtsdestotrotz gibt es Unterschiede in der Auffassung der Schultraditionen, wie zentral es ist. Für Kleinianerinnen und Kleinianer ist es das zentrale Konzept. Unbewusste Phantasie ist das grundlegende seelische Geschehen von Geburt an. Sie ist wirklich synonym mit dem Inhalt des Unbewussten und somit ist das Unbewusste quasi mit den unbewussten Phantasien identisch, während das Realitätsdenken nicht ohne unbewusste Phantasien funktionieren kann. Für Kleinianer/-innen steht und fällt die Psychoanalyse mit dem Konzept der unbewussten Phantasie. Die anderen Konzeptionen der unbewussten Phantasien

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sind spezifischer und begrenzter. Der Inhalt des Unbewussten ist nicht mit den unbewussten Phantasien identisch und auch die Konzeption des Realitätsdenkens ist davon verschieden. Die Bedeutung des Konzeptes der unbewussten Phantasie ist für Arlow (z. B. 1969a, 1969b) und die Ich-Psychologie und auch für die Sandlers (1994) größer als für die Ornsteins (2008), die nicht zwischen unbewussten und bewussten Phantasien unterscheiden. Ebenso gilt dies für Bromberg (2008), der am liebsten auf all dies verzichten würde. Die Unterschiede entstehen dadurch, welche Position der Realität als unabhängigem Faktor in Beziehung zur unbewussten Phantasie gegeben wird. Für Kleinianer/-innen ist die unbewusste Phantasie die grundlegende seelische Aktivität, die allen späteren Gedanken zugrunde liegt, und die der Realität, auf die wir treffen, eine bestimmte Form gibt. Für Arlow besteht ein andauerndes Wechselspiel zwischen Realität (Wahrnehmung) und unbewusster Fantasie, aber im Prinzip können sie wieder getrennt werden. Für Kleinianerinnen und Kleinianer ebenso wie für Arlow sind die Triebe die Impulsgeber der unbewussten Phantasien. Für Sandler wird dieser Impulsgeber durch die stabilisierende Funktion der unbewussten Phantasie verstärkt, um schmerzliche Affekte zu verdrängen und um ein Sicherheitsgefühl aufrechterhalten zu können. Andere Konzeptionen hingegen haben die Triebe als Impulsgeber aufgegeben und sie durch die Realität ersetzt. Phantasie wird aus Erfahrungen in der Realität konstruiert: Wie wir gezeigt haben, unterstützen Befunde der Entwicklungsforschung die These, dass unbewusste Phantasie eine unbewusste Überzeugung ist, die aus Wunschdenken, wahrheitsgetreuer Wahrnehmung und der naiven Kognition des Kindes entsteht. Die Ornsteins und Bromberg legen das Augenmerk auf verstörende, traumatische oder dissoziierte »unformulierte« Erfahrungen als Impulsgeber für bewusste oder unbewusste Phantasien. Wir haben hier die Frage gestellt, ob wir von realen Erfahrungen ausgehen können, ohne nach der Beziehung zwischen dieser Realität und unbewussten Phantasien zu suchen. Ein solcher Dialog müsste jedoch vor dem Hintergrund verschiedener Metapsychologien geführt werden. Eine Frage ist hierbei, ob wir ein klinisches Konzept und die damit zusammenhängenden Teile der Theorie übernehmen können, ohne die zugrunde liegende Theorie als Ganzes akzeptieren zu müssen.

Die unbewusste Phantasie und ihre Konzeptionen

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Unsere dimensionale Analyse hat gezeigt, dass es epistemologische Unterschiede zwischen den Konzeptionen gibt. Ist die unbewusste Phantasie ein Konstrukt von Analytikern/Analytikerinnen und Patienten/Patientinnen im analytischen Prozess oder haben die Patienten/Patientinnen die unbewusste Phantasie in sich, das heißt, existiert sie ontologisch als eine konkrete Entität in der Seele? Wir haben diese Frage in unserem Beitrag ausführlich diskutiert. Für Freud können wir nur eine unvollständige Kenntnis von unbewussten Phantasien erreichen. Wir müssen sie von den Abkömmlingen des Unbewussten selbst ableiten. Kleinianerinnen und Kleinianer stimmen damit überein, dass wir die unbewussten Phantasien aus dem klinischen Material ableiten müssen, glauben jedoch, dass ihre Existenz nicht von diesen Inferenzen abhängt. Sie existieren unabhängig. Arlow hat eine ähnliche Vorstellung. Er spricht von einer unbewussten Phantasiefunktion. Der Fluss innerer Stimulation ist durch das Phantasiedenken organisiert. Die Sandlers nehmen eine mittlere Position ein: Die unbewussten Phantasien der Vergangenheit sind unsere Rekonstruktionen, die auf dem klinischen Material basieren. Am anderen Ende des Spektrums sind die relationalen Psychoanalytiker/-innen, besonders Bromberg, für den die Fantasie eine Konstruktion von Patient/-in und Analytiker/-in ist. Diese Divergenzen müssen Gegenstand einer intensiven epistemologischen Diskussion sein. Sie kann helfen, sie in einem anderen Licht zu sehen und epistemologische Fallen zu vermeiden. Wir haben in unserem Beitrag diese Diskussion über den epistemologischen Status der unbewussten Phantasie eröffnet: Phantasien werden per Definition retrospektiv beschrieben. Sie sind niemals einer naturalistischen Beschreibung zugänglich und können nicht in positive, voneinander getrennte Einheiten aufgegliedert werden. Mit unserem Modell haben wir versucht die unterschiedlichen Konzeptionen der unbewussten Phantasie abzubilden. Die verschiedenen Dimensionen haben wir in einzelnen Schritten aufgearbeitet, um die Gemeinsamkeiten und Differenzen genauer beschreiben zu können. Über den Wahrheitsgehalt der unterschiedlichen, vorgestellten Konzeptionen zu urteilen, liegt jedoch jenseits unseres Arbeitsprinzips. Wie Sie sehen, gibt es noch viel zu tun, um die verschiedenen psychoanalytischen Konzepte zu vergleichen und

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eine Integration zu versuchen. Und so wollen wir unsere Arbeit auch als work in progress verstanden wissen. Übersetzung: Alice Färber

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Die unbewusste Phantasie und ihre Konzeptionen

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Riccardo Steiner

Anmerkungen zum Begriff der Unbewussten Phantasie

Italo Calvino, einer der bedeutendsten Schriftsteller der kulturellen Tradition, der auch ich angehöre, hat einmal gesagt, dass wir Vereinfachungen vermeiden sollten, weil sie außerordentlich gefährlich seien. Ich stimme ihm vorbehaltlos zu. Um den schwierigen, dichten Text von Bohleber, Jiménez, Scarfone, Zysman und Varvin angemessen vorzubereiten und zu diskutieren, stand mir leider nur wenig Zeit zur Verfügung. Wir alle haben neben unseren Praxen auch noch anderweitige Verpflichtungen. Deshalb war die Aufgabe, auf diesen inhaltsreichen und zwangsläufig komplizierten Beitrag zu antworten, wirklich sehr schwierig. Ich werde meine Ausführungen notgedrungen gewaltig vereinfachen müssen und bin mir im Übrigen nicht sicher, ob ich alles, was Bohleber und seine Kollegen schreiben, richtig verstanden habe. Statt ihre Darlegungen eingehend zu erläutern, werde ich die Leserinnen und Leser deshalb bitten müssen, mit nur einigen Anmerkungen Vorlieb zu nehmen. Für all dies und für die unvermeidlichen Missverständnisse bitte ich um Entschuldigung. Zuallererst möchte ich zwei grundsätzliche Punkte aufgreifen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, wovon wir sprechen, wenn von der Phantasie und vom Phantasieren die Rede ist bzw. im Englischen von fantasy mit f und phantasy mit ph sowie – in den Freud-Übersetzungen von Strachey und seinen Kolleginnen und Kollegen – von daydreaming,imagining, imagination oder to imagine. Englisch ist die Amtssprache der IPV, und deshalb werde ich hier auf die Übersetzungen oder Fehlübersetzungen in andere Sprachen nicht weiter eingehen, obwohl auch dies ein interessantes Diskussionsthema wäre. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass die unterschiedlichen, in je eigenen Sprachen Ausdruck findenden Kulturen, die Psychoanalyse und somit auch unser heutiges Ver-

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ständnis von unconscious phantasy bzw. von unconscious fantasy beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen.

Anmerkungen zur Begriffsgeschichte Sie alle wissen um die Probleme, mit denen Freuds Sprache die Übersetzerinnen und Übersetzer konfrontiert. Ich räume ein, dass mein erster Punkt, den ich diskutieren und Ihnen in Erinnerung rufen möchte, möglicherweise mit einer persönlichen fixen Idee, wenn nicht gar mit meiner professionellen Pathologie zusammenhängt – das kommt dabei heraus, wenn man diesen Beruf ausübt! Mein Interesse gilt der Geschichte der Psychoanalyse und dem historischen Zugang, mithin einem Thema, das sich nicht immer großer Beliebtheit erfreut. Dass ich hier nicht ins Detail gehen kann, um Ihnen die Schicksale von Phantasie und Traumphantasie in den frühesten FreudTexten aufzuzeigen, versteht sich von selbst. Ich möchte aber wenigstens daran erinnern, dass diese Begriffe weniger in den Naturwissenschaften als vielmehr in der Philosophie und Literatur der deutschen Romantik beheimatet sind. Und so begegnen sie uns zum Beispiel schon in den »Brautbriefen«, die sich Freud und Martha ab 1882 schrieben (siehe Freud u. Freud, 2011). Beide versuchten ein ums andere Mal, die Bedeutung ihrer Träume zu ergründen, und verwendeten dabei Worte wie Phantasie und Traumphantasie, die ihnen dank ihres kulturellen philosophischen Hintergrundes und ihrer belletristischen Lektüre vertraut waren. Vor allem in Marthas Briefen lesen wir in dieser Hinsicht Erstaunliches. Wie Sie alle wissen, müssten wir eigentlich auch die Freud-FließKorrespondenz (Freud, 1986) erforschen und uns die revolutionäre Rolle vergegenwärtigen, die »die Phantasie« bei der Entdeckung des Unbewussten, wie Freud es verstand, spielte – insbesondere die ödipalen Phantasien, die er hier ebenfalls und nicht zufällig in literarischen Werken wiederfindet, nämlich in Sophokles’ »Ödipus Rex«, Shakespeares »Hamlet« und sogar in Grillparzers Dramatisierung des Geschwisterinzests und Vatermordes in »Die Ahnfrau«. Die Rede ist natürlich von Freuds berühmten Briefen, in denen er

Anmerkungen zum Begriff der Unbewussten Phantasie 

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Fließ zwischen September und November 1897 berichtete, dass er beschlossen habe, seine Theorie einer traumatischen Verursachung der Neurosen – Hysterie, Zwangsneurosen und andere psychische Störungen – wenn nicht ganz und gar zu verwerfen, so doch beiseitezustellen, weil er sich von der Bedeutsamkeit der Beteiligung mehr oder weniger unbewusster individueller, aber auch universaler Phantasien an der Entstehung dieser Störungen habe überzeugen können. Zunehmend konnotieren die Begriffe Phantasie usw. in diesen Briefen sowie in Freuds frühen theoretischen Schriften einen mehr oder minder unbewussten Charakter und nehmen Implikationen an, die mit der infantilen Sexualität, aber auch mit der Aggression zusammenhängen. Wie Freud all dies weiterentwickelte, habe ich anderenorts gezeigt (Steiner, 2003). Und noch etwas möchte ich wenigstens kurz erwähnen und Ihnen flüchtig in Erinnerung rufen. Ich halte es für erstaunlich, dass wir, wenn wir auf unserem Gebiet von Phantasie und ­phantasieren – mit imagination und capacity to imagine ins Englische übersetzt – sprechen, bis zum heutigen Tag sozusagen die Sprache der Semiotiker und Wissenschaftler verwenden müssen, die sich für Intertextualität interessieren, die Sprache, die Karl Albert Scherner in seinem Buch »Das Leben des Traumes« (1861) und natürlich auch Johannes Volkelt sprachen, der in »Die Traumphantasie« (1875) wiederholt ansetzte, Scherners höchst mystische und komplizierte Ausführungen zu erklären. Scherner und Volkelt und natürlich weitere Autoren sind die Quellen, auf die sich Freud in seiner »Traumdeutung« (1900) berief, um sie dann weit hinter sich zu lassen. Zu Recht betonen Bohleber, Jiménez, Scarfone, Varvin und Zysman daher, dass das deutsche Wort Phantasie nicht gleichbedeutend sei mit imagining; Scherner und Volkelt – und die Literatur der deutschen Romantik – verwenden Phantasie allerdings auch in der Bedeutung von imagining. Freud (1900) hat Scherner sehr ernstgenommen. Scherner war ein sonderbarer, verrückter Theologe mit starkem mystischen Einschlag, ein Schüler Schellings, des großen Vertreters des deutschen Idealismus, mit gleichwohl hochinteressanten Ansichten über die körperlichen Wurzeln unseres Selbst. Wenn heute jemand, der sich für die Psychoanalyse interessiert, eine aktuelle Entsprechung zu Scherners Buch ernst nähme,

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würde er misstrauische Blicke ernten. Doch hätte ich genügend Zeit, könnte ich Ihnen zeigen, dass Freud dank seines Genies mit ­Scherners Theorie über die Rolle, die »die unbewusste aktive Tätigkeit der Phantasie« im Zusammenhang mit der Symbolik in Träumen spielt, etwas anfangen konnte und dass die Psychoanalyse Scherner wesentlich mehr zu verdanken hat, als Freud selbst in seiner »Traumdeutung« konzediert (siehe auch Goldmann, 2003). Scherner versuchte sogar, Symbole, denen er eine sexuelle Bedeutung zuschrieb und die auch wir zu deuten pflegen, zu erklären. Freud akzeptierte seine Auffassungen, entwickelte sie aber weiter. Dabei verwarf er die mechanische Verbindung zwischen Körperteilen als Traumstimulus und Symbolen und betonte die Rolle des »unbewussten Wunsches«. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen, dass Scherner, Volkelt und auch Radestock (»Schlaf und Traum«, 1897) einen logischen Prozess beschrieben, dem die Träume gehorchen. Bisweilen aber vermittelt die Lektüre den Eindruck, als läse man Matte Blancos Ausführungen über das Konzept der Logik des Primärprozesses, die er in seinem Buch »The Unconscious as Infinite Sets« (1982) dargelegt hat. Auf ebendiese Konzeptualisierung einer kreativen, aktiven Rolle der Phantasietätigkeit im Traum möchte ich Ihre Aufmerksamkeit lenken, denn eine der Hauptschwierigkeiten in der Diskussion über unser Thema besteht darin, dass wir sowohl dem Unterschied als auch dem Zusammenhang zwischen der unbewussten Phantasietätigkeit, dem unbewussten Wunsch und dem Inhalt bestimmter Phantasien Rechnung tragen müssen, die symbolischen Ausdruck finden – beginnend mit den primitivsten Phantasien, die wiederum mit den sogenannten Partialobjekten zusammenhängen. Das Problem der Unterscheidung zwischen Phantasieren (imagining) und Denken, das Werner Bohleber seine Kollegen angesprochen haben, sei hier nur am Rande erwähnt. Für Kleinianerinnen und Kleinianer beispielsweise ist Denken ohne ein Zusammenwirken mit der unbewussten Phantasietätigkeit – die mit den »unbewussten Phantasien« im kleinianischen Sinn und mit der Art, wie sie symbolisch Ausdruck finden, zusammenhängt – nicht vorstellbar. Die Differenzierung zwischen der Aktivität der »unbewussten Phantasie« und dem sexuellen Inhalt einiger Symbole, deren sich die unbewusste Phantasie bedient, war jedenfalls im Groben, vor allem bei Scherner, bereits getroffen.

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Indem Freud dem unbewussten Wunsch – nicht nur in der Seelenaktivität, die wir als Träumen bezeichnen – und den Verbindungen zwischen unbewusster Phantasie und unbewusster Symbolik solch hohes Gewicht beimaß, hat er all diese Dinge gewaltig verkompliziert. Doch all dies formulierte er, indem er diese Quellen benutzte, in einer Sprache, die nicht der präzisen naturwissenschaftlichen entspricht, sondern vage bleibt und der Sprache der Philosophen, ja sogar der Dichter ähnelt – einer Sprache, die überdies einer spezifischen Kultur angehört und gleichzeitig ein Echo in anderen Kulturen findet. Was beispielsweise das Englische betrifft, so standen Strachey und andere Übersetzer – wie später sogar Segal und Britton – zweifellos unter dem Einfluss des englischen romantischen Dichters Samuel Taylor Coleridge (2000) und seines Begriffs von imagination bzw. imagining. Interessanterweise war Coleridge selbst von der deutschen Philosophie und Dichtkunst tief beeinflusst. In Italien lassen sich Zusammenhänge bis ins späte 17. Jahrhundert zurückverfolgen, nämlich bis zu dem großen Philosophen Giambattista Vico und seiner Auffassung von fantasia und universali fantastici. Mithin erinnern uns die von mir zitierten Quellen daran, dass eine unserer schwierigen Aufgaben darin besteht, der kulturellen Tradition der Sprache Freuds sowie der Sprache, in die wir Freud und seine Schüler übersetzen und in der wie sie interpretieren, Rechnung zu tragen. Insbesondere angesichts des hohen Gewichts, das der empirischen Forschung und der empirischen Psychoanalyse heutzutage beigemessen wird, werfen jene Quellen auch die Frage auf, was wir gewinnen bzw. verlieren, wenn wir all dies vergessen oder wenn wir die Verbindungen zu dieser historischen und kulturellen Tradition kappen und uns anschicken, sogar der unbewussten Phantasie eine andere Bedeutung zuzuschreiben. Auch auf die Gefahr hin, pedantisch zu klingen, möchte ich auf einen 1914 verfassten Zusatz zur »Traumdeutung« verweisen, in dem Freud den französischen Autor Du Prel zitiert, um uns daran zu erinnern, dass die Verbindung zwischen Phantasie (von Strachey hier mit imagination übersetzt) und Begierde (Strachey: desire) altbekannt sei. Als frühen Gewährsmann führt er den Neuplatoniker Plotin an: »Wenn die Begierde sich regt, dann kommt die Phantasie und präsentiert uns gleichsam das Objekt derselben« (1900, S. 151). Trotzdem wiederhole ich, dass wir bei den von mir kurz erwähnten

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deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts und in ihren Texten etwas finden, das wir noch heute verwenden – freilich mit den gleichfalls schon erwähnten wichtigen Änderungen, die Freud daran vornahm. Ein altes jüdisches Sprichwort gemahnt uns daran, woher wir und unsere Begriffe stammen, und hilft uns, uns klar zu machen, wohin wir gehen oder worauf wir Bezug nehmen und was wir aufgeben oder verwerfen, wenn wir diesen alten Begriffen heutzutage neue Bedeutungen zuschreiben. Ich weiß nicht, was Werner Bohleber und seine Kollegen von diesem historischen Exkurs halten.

Das Wesen der Urphantasien Das zweite grundsätzliche Problem, das ich hier wenigstens anschneiden möchte, betrifft insbesondere das Wesen oder den ontologischen Status der sogenannten Urphantasien, die als primal phantasies – mit ph – ins Englische übersetzt wurden. Wenn ich den Beitrag von Bohleber, Jiménez, Scarfone, Zysman und Varvin richtig verstanden habe – von den Entdeckungen, die sie in ihrer beeindruckend umfangreichen Bibliografie dokumentieren, gar nicht erst zu reden –, verbirgt sich ebendieses Problem hinter zahlreichen ihrer Aussagen. Es liegt, so verstehe ich Bohleber et al., bestimmten Integrationsschwierigkeiten zugrunde: dem Problem etwa, einen common ground der Art und Weise zu finden, wie die modernen psychoanalytischen Schulen das Konzept der mit Urszene, Verführung und Kastration zusammenhängenden Urphantasien (Freud, 1916–17, S. 386) verstehen und es klinisch verwenden bzw. ignorieren. Bohlebers et al. Schreibweise (der englischen Begriffe) zeigt klar, dass die Kleinianer als diejenigen gelten, die besonders nachdrücklich den angeborenen Charakter der Urphantasien betonen und auf ihre Art selbst an einigen der fragwürdigsten Freud’schen Hypothesen festhalten oder sie weiterentwickeln – ganz zu schweigen von ihrer wohlbekannten chronologischen Theorie, dass die Urphantasien von Geburt an aktiv seien und der Säugling von Anfang an über eine sehr primitive, rudimentäre und partielle Wahrnehmung der Mutter (Brust, Geruch, taktile Wahrnehmung des mütterlichen Körpers oder der Betreuungsperson etc.) als ein

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von ihm selbst getrenntes Objekt verfüge. Diese Hypothesen haben immer wieder Anlass zur Kritik gegeben. Mir ist bei der Lektüre des Beitrags von Werner Bohleber und seinen Kollegen aufgefallen, dass sie offenbar gewisse Schwierigkeiten hatten zu klären, weshalb die Kleinianer unconscious phantasies mit ph schreiben statt mit f, wie es die Freudianer und Neofreudianer tun. Joseph und Anne-Marie Sandler schwanken allerdings zwischen ph und f, ebenso wie die Amerikaner und gelegentlich auch Bohleber et al. Susan Isaacs (1943/2000) erklärte, dass die Art und Weise, wie sie selbst, Melanie Klein und natürlich deren Schülerinnen und Schüler Freuds Urphantasien – an deren Anfang die Brustphantasie steht – verstanden, sie veranlassten, das ph nur dann zu verwenden, wenn unbewusste Phantasien gemeint seien. Mithin besteht kein Zweifel daran, dass die Kleinianer ihr Verständnis der unbewussten Phantasien und deren unablässige Aktivität sogar dadurch betonen wollten, dass sie die von Strachey – und zuvor schon von Joan Riviere und anderen – eingeführte Schreibweise unconscious phantasy (mit ph) übernahmen. Dass Bohleber und seine Kollegen diesen Punkt in ihren Beiträgen nicht wirklich geklärt haben, ist nicht weiter zu beanstanden; ich wollte dieses winzige historische Detail hier lediglich ergänzen. Ich behaupte auch nicht, dass die Entscheidung der Kleinianerinnen und Kleinianer richtig sei, denn sie impliziert natürlich ein spezifisches Verständnis von Freuds Konzept des Tagträumens und der fantasies mit f sowie eine spezifische Interpretation der Interaktionen zwischen Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewusstem. Zumal ich nicht hier bin, um Propaganda zu betreiben, sondern um meine Aufgabe als Historiker zu erfüllen. Gleichwohl konfrontieren uns die Urphantasien – primal phantasies – mit einem veritablen Problem. Zudem dürfen wir auch die damit zusammenhängende universale oder phylogenetische Symbolik nicht vergessen, denn Freud erwähnt die phylogenetische Herkunft von Symbolbeziehungen schon 1915 in den »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, also im selben Zeitraum, in dem er sich mit den Urphantasien als phylogenetischem Erbe zu beschäftigen begann (1916–17, S. 203 f.). Ich erinnere darüber hinaus an seine späteren Aussagen in »Die endliche und die unendliche Analyse« (1937, S. 86) und »Der Mann Moses und die

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monotheistische Religion« (1939, S. 241) über den universalen und phylogenetischen Charakter bestimmter Symbole. Denken Sie beispielsweise an Kinderzeichnungen – nicht nur von Kindern in Analyse – in denen unbewusste Wünsche durch unbewusste Phantasien und deren offenbar durch das unbewusste Phantasieren – hier verstanden als eine notwendige Aktivität der primitiven Psyche – mobilisierte Symbolik Ausdruck finden. Oder an das, was man in der Behandlung von Psychotikern und von Borderline-Psychotikern zu hören und zu sehen bekommt, sowie an die Symbolisierungsschwierigkeiten solcher Patientinnen und Patienten (Segal, 1964). Die zeitgenössische Kunst kann ich hier nicht erörtern, die sicher mit ähnlichen Beispielen aufwartet. Betonen möchte ich, dass auch die Kleinianerinnen und Kleinianer, zum Beispiel Susan Isaacs und natürlich Melanie Klein 1942 bis 1945 im Rahmen der Freud-KleinKontroversen, ohne Weiteres anerkannten, dass sie auch jene Urphantasien nur rückschließen konnten. Folglich dürfen wir hier auch die Nachträglichkeit nicht vergessen. Nun zurück zu dem veritablen Problem, das ich angedeutet habe. Können wir Freuds Lamarck’sche phylogenetische Hypothesen heute noch akzeptieren? Wir alle wissen, dass Freud an seiner Überzeugung lebenslang festhielt und alle neuen biologischen Erklärungen, die sich über Lamarck hinwegsetzten, ablehnte (Freud, 1940, S. 115; Steiner, 2003). In der Tat tauchen die Urphantasien explizit erstmals 1916 im 23. Teil der »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« auf (S. 386). Ebenso wie Laplanche und Pontalis (1973) habe aber auch ich zu zeigen versucht (Steiner, 2003), dass wir in gewisser Weise bis zur Urszene und ihren vereinzelten Erwähnungen in Freuds Korrespondenz mit Fließ zurückgehen können (Freud an Fließ, 2. Mai 1897), denn wie immer war Freud auch damals schon bestrebt, universale Belege für seine Entdeckungen zu finden. Ich erlaube mir, an meinen Beitrag »In Vienna Veritas?« (Steiner, 1994) zu erinnern, in dem ich den Quellen der »Traumdeutung« nachgeforscht und mich mit der Universalität der ödipalen Phantasien und des Ödipusmythos auseinandergesetzt habe. Man kann die phylogenetischen Hypothesen, die Freud zur Erklärung der Urphantasien heranzog, nur verstehen, wenn man berücksichtigt, was er 1914 in seinem  – erst 1918 veröffentlich-

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ten – Beitrag über den »Wolfsmann« sowie in jener faszinierenden Science­fiction-Abhandlung »Übersicht der Übertragungsneurosen« (1987) schrieb, die er 1915 verfasste, mit Ferenczi diskutierte und nie publizierte. Entdeckt, ediert und mit einer sorgsamen Einleitung versehen wurde sie 1987 von Angela Richards und Ilse GrubrichSimitis, die darüber hinaus auch bedeutsame Beobachtungen über Freuds Lamarckismus anstellte. Der Titel der englischen Übersetzung, »A phylogenetic fantasy« ist äußerst fragwürdig, hebt aber auf die Vorstellungen ab, die hinter der Schrift stehen. Denken Sie außerdem daran, was Freud in »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1939) über das archaische Erbe sowie über die Urszene und die Ermordung des Urvaters schrieb, oder an seinen »Abriss der Psychoanalyse« (1940), in dem er die Urphantasie der Verführung und ihre phylogenetische Herkunft sogar en détail darlegt und die Mutterbrust als erstes verführerisches Objekt erläutert, das sich wenig später zur Person der Mutter vervollständigt. Strittig ist in diesem Text natürlich die Wahrnehmung der Brust durch das Baby in den ersten Lebensmonaten; Freud spricht dem Säugling diese Fähigkeit hier ab, doch was die Brustphantasie, ihre phylogenetische Herkunft und ihre Rolle in der frühen Entwicklung anlangt, sind wir von Kleins (1944/2000) Sichtweise gar nicht weit entfernt. Tatsächlich betont Klein wiederholt die unvermeidliche Konfusion zwischen der stillenden und der sexualisierten, erotisierten, verführerischen Brust; man vergleiche dazu auch ihr letztes Werk, »Neid und Dankbarkeit« (1957/2000). Freud selbst schwankt, wie Strachey in seiner editorischen Anmerkung zu »Der Mann Moses« zeigt (1939, S. 548 f.), in seinen letzten Abhandlungen und Büchern sogar zwischen Trieb (drive) und Instinkt (instinct), was uns daran erinnert, dass die phylogenetisch weitergegebene archaische Erbschaft auch mit dem Problem unserer biologischen, instinkthaften Verbindungen mit der tierischen Spezies, von der wir abstammen, zusammenhängt. Der Forschung zufolge sind lediglich rund sechs Millionen Jahre vergangen, seit wir uns von den Schimpansen getrennt haben, mit denen wir, so der angesehene Biologe, Paläontologe und Anthropologe Cavalli-Sforza (siehe Cavalli-Sforza u. Padoan, 2013), immerhin 98 Prozent unserer DNA teilen. Wenn wir die komplizierten

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Schicksale einmal ausklammern, die von den Hominiden zum Homo sapiens führten, dann begann sich Homo sapiens vor nicht mehr als 100.000 Jahren von Afrika aus zu verbreiten; seine Vorgänger begannen vor erst rund 500.000 bis 200.000 Jahren, sich durch Sprache zu verständigen, und erst vor 12.000 bis 8.000 Jahren wurde Homo sapiens zu einem relativ sesshaften Ackerbauern, nachdem er zuvor als Jäger ständig unterwegs gewesen war. Damit gingen außerordentlich tiefgreifende Veränderungen in der Struktur der Familie und der Gruppen einher. Natürlich konnte Freud diese moderne Forschung nicht kennen; er wusste aber sehr wohl, dass seinem Versuch, mithilfe Lamarcks und dessen fragwürdigen Theorien selbst die Urphantasien zu universalisieren, chronologische Grenzen gesetzt waren; und ebendies haben auch wir zu bedenken. Wie weit lassen sich diese Urphantasien tatsächlich zurückführen? Sind sie universal, kulturenübergreifend? Wie wurden oder werden sie weitergegeben? Wann wurde der Inzest tabuisiert und wann setzte die Urverdrängung ein? Oder ist es gar Unfug, heute noch mit solchen Begriffen zu arbeiten und solche Fragen zu stellen? Doch selbst wenn wir Freuds Lamarck’sche Hypothesen nicht akzeptieren können, ändert sich nichts an dem Problem der Herkunft, Existenz und Verbreitung der Urphantasien im Unbewussten unterschiedlicher Menschen und Kulturen. Dies gilt zumindest – mit Ausnahme, wenn ich dies richtig verstanden habe, vor allem von Bromberg (2008) und der relationalen Psychoanalyse – für die Mehrheit der heutigen psychoanalytischen Schulen, die Bohleber und seine Kollegen erforscht und miteinander verglichen haben. In ihrem »Vokabular der Psychoanalyse« verweisen auch Laplanche und Pontalis (1973) auf die Größenordnung dieses Problems, das ich hinter vielen Aussagen z. B. zu den globalen Phantasien von Bohleber und seinen Kollegen wahrnehme. Der elegante und kluge Versuch, das Problem zu umgehen, gefällt mir sehr, auch wenn ich ihn nicht restlos überzeugend finde. Dies liegt vielleicht daran, dass ich einer anderen Psychoanalytikergeneration angehöre. Wenn ich Bohleber, Jiménez, Scarfone, Varvin und Zysman korrekt verstanden habe, scheinen sie über die ohnehin komplexe strukturalistische Neuinterpretation der phylogenetischen Herkunft der Urphantasien, die Laplanche vorgelegt hat,

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noch hinauszugehen. Ich bekenne, dass ich Laplanches Auffassung nach wie vor bevorzuge, auch wenn ich ihm nicht in allen Punkten zustimme. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, frage mich aber, ob die moderne Epigenetik uns bei der Lösung dieser Probleme hilfreich sein könnte. Mark Solms, dem wir eine ungemein wichtige, allzu häufig ignorierte neuropsychoanalytische Arbeit über unbewusste Phantasien verdanken (vgl. Steiner, 2003), könnte uns in dieser Frage vielleicht weiterhelfen. Ich wüsste außerdem gerne, was Werner Bohleber und seine Kollegen von Money-Kyrles und Bions Versuchen, das Lamarck-Problem zu umgehen, halten. Hier geben sich die wichtigen lokalen kulturellen Einflüsse und Traditionen ebenso deutlich zu erkennen wie später bei Bowlby (1969), obwohl sich dieser stets, wenngleich natürlich unter seinem bindungstheoretischen Blickwinkel, auf Darwin und den von Lamarck beeinflussten Neodarwinismus bezogen hat. In seinem Buch »Man’s Picture of His World« versuchte MoneyKyrle (1961) ebenso wie Bion (1962/1990) in »Learning from Experience«, die – chronologisch gesehen – archaischste Urphantasie zu erklären, das heißt die unbewusste Phantasie von der Brust, der Melanie Klein solch hohes Gewicht beimaß (wobei hinzuzufügen ist, dass Klein genauso wie Susan Isaacs Freuds phylogenetische Hypothesen übernahm; siehe zum Beispiel den Vortrag, den Klein am 1.5.1944 im Rahmen der Controversial Discussions hielt). Money-Kyrle und Bion schrieben dem Säugling, wie gesagt, vorprogrammierte Phantasien von der Brust zu, sozusagen biologisch angelegte Erwartungen. Bion bezeichnete sie als – mit Kants »leeren Gedanken« vergleichbare – Präkonzeptionen der Mutterbrust, des Penis des Vaters und der ödipalen Urszene. Es handelt sich um eine Art unbewussten Wissens in der Phantasie, das durch die tatsächliche Begegnung mit Mutter und Vater gesättigt werden muss. Diese Phantasien sind zu Beginn des Lebens extrem partieller, verwirrter, entstellter und übersteigerter Natur, weshalb Money-Kyrle sie als »Fehlkonzeptionen« bezeichnete, die nach und nach verändert und sodann verdrängt werden müssen. Erst mit Beginn der depressiven Position verlieren diese Präkonzeptionen von Partialobjekten allmählich ihren verzerrten und häufig halluzinatorischen Charakter. Die ständige Interaktion zwi-

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schen Mutter, Vater und Baby bewirkt, dass beide Eltern als äußere Objekte wahrgenommen und nach und nach auf realistischere Weise internalisiert werden können. Ich möchte noch folgende merkwürdige, wenngleich nur oberflächliche Analogie aufzeigen: Laplanche und Pontalis lehnen jeden Versuch, die Urphantasien an eine instinkthafte biologische Herkunft zu knüpfen, entschieden ab; hingegen vertreten Money-Kyrle und Bion eine stärker biologisch geprägte Sicht, die aber trotzdem an Laplanches und Pontalis’ Konzeptualisierung vorstrukturierter Urphantasien erinnert. Diese wiederum war von Lacan, aber auch von Levi-Strauss sowie vom Strukturalismus und der Linguistik Roman Jakobsons maßgeblich beeinflusst. Jakobson (persönliche Mitteilung) schrieb mir allerdings, dass er Lacan nicht folge und sich genauso wie auch Chomsky für die biologischen Grundlagen der Sprache interessiere. Auf Chomsky möchte ich später noch kurz zurückkommen. Gleichwohl teile ich Laplanches und Pontalis’ Sichtweise (1968/2003; siehe auch Steiner, 1975; 2003), für die Lacans Postulat einer von Geburt an oder sogar schon vorgeburtlich aktiven Phantasie vom Vater und von der Mutter maßgebend war. Die starre chronologische empirische Reihenfolge, die Klein und Isaacs beschreiben – zuerst die Phantasie von der mütterlichen Brust und dann, etwa zwei bis drei Monate nach der Geburt, die Phantasie vom Penis des Vaters usw. –, hat mich nie wirklich überzeugt. Doch darauf kann ich hier nicht näher eingehen. Money-Kyrle, der in Österreich bei Moritz Schlick Philosophie studiert hatte, war vom Neokantianismus tief beeinflusst; Bions Hypothesen wiederum scheinen – ganz gleich, was man von Bions Kant-Interpretation hält – eine gewisse Ähnlichkeit mit Freuds Ausführungen im »Wolfsmann« aufzuweisen. Dass diese so häufig in Vergessenheit geraten, überrascht mich immer wieder. Ich denke insbesondere an Freuds – später bei Money-Kyrle und Bion wieder anklingende – Beschreibung der Urphantasien als »phylogenetisch mitgebrachte Schemata, die wie philosophische ›Kategorien‹ die Unterbringung der Lebenseindrücke besorgen« (1918, S. 155) – natürlich dachte er hierbei an Kant und den Neokantianismus, vielleicht sogar an Plato. Im nächsten Absatz definiert er die Phantasien als »eine Art von schwer bestimmbarem Wissen,

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etwas wie eine Vorbereitung zum Verständnis« (1918, S. 156). »Wir haben«, so schreibt er, »nur die eine ausgezeichnete Analogie mit dem weitgehenden instinktiven Wissen der Tiere zur Verfügung« (1918, S. 156), und weiter: »Dieses Instinktive wäre der Kern des Unbewussten, eine primitive Geistestätigkeit« (1918, S. 156). Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, Klein, Isaacs und ihre Schülerinnen und Schüler zu verteidigen. Es gilt vielmehr, kulturelle Echos und Analogien gründlich zu untersuchen; wir dürfen sie nicht aus ihrem Kontext reißen, sondern müssen sie in ihren Zusammenhängen betrachten, um Vereinfachungen, Fehlinterpretationen und eine Überstrapazierung von Analogien zu vermeiden. Doch wenn man solche Aussagen bei Freud liest, versteht man vielleicht, was Klein und Isaacs zu ihren Schlussfolgerungen veranlasste und wie Bion zu seiner Theorie der Präkonzeptionen, des protomentalen Systems und des Denkens gelangte. Vielleicht kann man so auch leichter nachvollziehen, warum Hanna Segal darauf beharrte, dass die Phantasien und das Phantasieren eine notwendige Form des vorläufigen Wissens darstellten, das ständig an der Realität geprüft und von ihr geformt werden muss. Die Realität des Babys sind seine Erfahrungen mit Mutter und Vater. Von der Art dieser Interaktion hängt es ab, ob seine primitiven Phantasien ihre verzerrten Eigenschaften verlieren oder nicht. Ich vermute, dass Segal – auch unter dem Einfluss ihres Sohnes, der bei Chomsky studierte – in ihren späten Schriften die unbewussten Phantasien mit der generativen Grammatik Chomskys vergleicht, für die sich auch André Green (persönliche Mitteilung, 2006) interessierte. Wenn es mir gestattet ist, möchte ich mich noch einmal selbst zitieren: Ich bin schon 1975 zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt. Was Bohleber, Jiménez, Scarfone, Varvin und Zysman von all dem halten, weiß ich nicht. Viele weitere Details wären zu thematisieren, doch dafür reicht die Zeit nicht. Der Beitrag von Bohleber und seinen Kollegen lässt aber keinen Zweifel daran, dass die Autoren das kleinianische Verständnis der unbewussten Phantasien in gewisser Hinsicht gegen das gesamte übrige psychoanalytische Denken der Gegenwart abgrenzen. Weil die Kleinianerinnen und Kleinianer dem frühen Körper solch große Bedeutung beimessen, müssen sie sich einer idealistischen philosophischen Diktion bedienen, also der – aller-

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dings von Schelling geprägten – Sprache des Essenzialismus und des Idealismus. Wenn ich Isaacs richtig verstehe, sind die ersten unbewussten Phantasien nicht visueller Art. Sie beruhen vielmehr auf verwirrten Emotionen und koenästhetischen Empfindungen von Gut und Böse, Zusammensein und Nicht-Zusammensein, Innen-­Außen usw. Man hat die Kleinianer auch als totalitäre Fundamentalisten bezeichnet, die das Unbewusste mit unbewussten Phantasien gleichsetzen und diese mit sämtlichen Abwehrmechanismen in eins setzen oder sie, um genau zu sein, mit ihnen verknüpft sehen. Trotzdem kann ich der Behauptung von Bohleber et al., das Unbewusste sei für die Kleinianer die unbewusste Phantasie, nicht voll und ganz zustimmen. Segal beispielsweise ermahnte mich und andere: Vergesst nicht, dass der unbewusste Wunsch der Vater der unbewussten Phantasien ist. Davon ausgehend und unter Berufung auf Freud verortet sie den unbewussten Wunsch im Kern des tiefen Unbewussten. Und wie Sie alle wissen, gelangen wir, wenn wir den Pfad des unbewussten Wunsches zurückverfolgen, zu jenem Nabel des Unbekannten, jenem Mycelium, um mit Freuds berühmter Metapher zu sprechen, die er in der »Traumdeutung« bezüglich der Deutbarkeit des Traumes fand. Damit will ich sagen, dass wir noch immer nicht wissen, wie weit zurück der unbewusste Wunsch uns führen kann und welche Art proto-paläolithischer Urphantasien, wenn ich einmal so sagen darf, ihrer Entdeckung harren. Denken wir nur an all die zumindest teilweise von Bion inspirierten Arbeiten von Levine, Reed und Scarfone (2013) über die Nicht-Repräsentierbarkeit und die brüchige Zäsur zwischen dem vor- und nachgeburtlichen Leben und die Unzugänglichkeit des Unbewussten. Doch halt, wir sollten uns nicht auf diesen faszinierenden, aber labyrinthischen und gefährlichen Wegen verirren! Lediglich auf Folgendes sei hingewiesen: Werner Bohleber und seine Kollegen betonen, wie gesagt, auf diese oder jene Weise die Schwierigkeit, Zusammenhänge zwischen dem kleinianischen Verständnis der unbewussten Phantasien und den Auffassungen anderer Schulen zu finden (von den Schwierigkeiten, mit denen das Thema diese anderen Schulen konfrontiert, gar nicht erst zu reden). In England haben sich Joseph und Anne-Marie Sandler (1994/2003), mit denen ich das Problem in regem intellektuellen Kontakt und Austausch wiederholt

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diskutieren konnte, um eine Annäherung an die Kleinianer bemüht; doch mit ihrer Konzeptualisierung des Vergangenheits- und des Gegenwartsunbewussten haben sie das, was sie als unbewusste Urphantasien verstehen, in eine praktisch unerreichbare Vergangenheit verlegt. Auf Arlow oder auch auf Paul und Anna Ornstein oder auf Piera Aulagnier (1975/2003, pp. 20–37), deren Piktogramme an Bion denken lassen, kann ich hier nicht eingehen. Als Aulagnier ihre Arbeit 1989 in Rom auf einem Panel im Rahmen des IPV-Kongresses vorstellte, fühlte sich auch André Green an Bion erinnert. Was mir aber an dem Beitrag von Bohleber, Jiménez, Scarfone, Varvin und Zysman auffällt, ist die Tatsache, dass Bion keine angemessene Berücksichtigung findet. Freilich, ohne Rekurs auf Kleins und Isaacs’ Arbeiten aus den 1930er, 1940er und 1950er Jahren über die Beziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem und primitiven unbewussten Phantasien – Schriften, die im Übrigen schon auf Bions Präkonzeptionen vorauszuweisen scheinen – ist dessen Beschreibung der Entstehung des Unbewussten sowie der Kontaktschranke zwischen Bewusstem und Unbewusstem kaum zu verstehen. Interessanterweise erklären sogar Laplanche und Pontalis (1973), dass der »Begriff der Urphantasien […] den Begriff ›nachträglich‹ gewissermaßen ausgleicht« (S. 469). Natürlich will ich damit nicht sagen, dass die Autoren dabei an die Theorie der genetischen Kontinuität dachten. Trotzdem besteht kein Zweifel daran, dass Klein und Isaacs, die sich auf die mithilfe von Kleins Spieltechnik durchgeführten Analysen sehr kleiner Kinder stützten, das Konzept der genetischen Kontinuität als eine Art Ausgleich zum Konzept der Nachträglichkeit verwendeten. Genetische Kontinuität, die wir bisweilen sogar bei Freud finden, schließt die Nachträglichkeit nicht aus. Weder Klein noch Isaacs, Bion, Segal oder die heutigen Kleinianerinnen und Kleinianer glauben an die Möglichkeit eines direkten Zugangs zu unbewussten Phantasien. Ich persönlich schließe mich den – auch an die Klein’sche Schule gerichteten – mahnenden Worten Mark Solms (1997, S. 140 f.) bezüglich unseres Umgangs mit unbewussten Phantasien an. Klein und Isaacs sowie natürlich Bion gingen gleichwohl von einer größeren Durchlässigkeit zwischen unbewussten Phantasien und Urverdrängung aus – ein Charakteristikum der Kleinianer (siehe z. B. Hanna Segals Diskussion von Joseph und Anne-Marie Sandlers Konzept des Ver-

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gangenheits- und Gegenwartsunbewussten, vgl. Sandler u. Sandler, 1994/2003, S. 208). Bion hat all dies bekanntlich in mehreren seiner Schriften theoretisch auszuarbeiten versucht. Was ich am Beitrag Werner Bohlebers und seiner Kollegen wirklich vermisse, ist eine eingehende Auseinandersetzung mit Bions Konzepten des Containers, der Reverie und der Alpha-Funktion der Mutter bzw. der Eltern oder, anders formuliert, eine gründliche Untersuchung der Art, wie Rosenfeld, Segal und Bion auf je eigene Weise die kommunikative und die pathologische projektive Identifizierung sowie die – auf kommunikativen oder pathologischen identfikatorischen Introjektionen beruhende – identifikatorische Introjektion beschrieben haben. Letztere hängt nicht allein mit der Intensität oder Wucht, der durch die libidinösen und destruktiven Triebe und Wünsche erzeugten und mit den unbewussten Phantasien des Babys agierenden Emotionen zusammen, sondern auch mit der Reaktion der Mutter und, so möchte ich hinzufügen, des Vaters bzw. mit der Reverie des Paares (Steiner, 2013). Entscheidend ist, ob und inwieweit Mutter/Vater die Bedürfnisse des Babys und die Projektionen seiner unbewussten Phantasien aufnehmen und durch ihre Reverie bearbeiten können. Wie Bohleber et al. zu Recht sagen, sind unbewusste Phantasien eine Art theoretische, konzeptuelle Extrapolation, die wir auf der Basis unserer klinischen Praxis vornehmen. Wer aber in der Analyse die wirre, primitive, rohe Anmutung zum Beispiel der Urszene wahrnimmt und zu verstehen versucht, wird begreifen, wie wertvoll Bions Konzepte des Containers, der Reverie und der Alpha-Funktion tatsächlich sind. In manchen Träumen, die der erwachsene Patient nicht einmal als seine eigenen anzuerkennen vermag, scheint sie infolge pathologischer und bisweilen traumatischer früher Interaktionen mit den Eltern völlig abgespalten zu sein. So zum Beispiel in Träumen, in denen der Patient beobachtet, wie sein Vater und sein Bruder die Mutter vergewaltigen, oder in denen er als erste Inkorporation des väterlichen Penis eine Anakonda verschluckt. Im normalen Prozess der projektiven und introjektiven Identifizierung, in dem die Eltern als Container zur Verfügung stehen und ihre Reverie- und Alpha-Funktion zufriedenstellend erfüllen, dienen die unbewussten Urphantasien als vorläufige und unverzichtbare Form der Realitätsprüfung und des im Laufe der Zeit und im Zuge

Anmerkungen zum Begriff der Unbewussten Phantasie 

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der Entwicklung wachsenden Realitätsverständnisses. Gleichzeitig aber werden sie geprägt und geformt durch hinreichend gute Erfahrungen mit der äußeren Realität. Ich weiß nicht, ob Bohleber und seine Kollegen Segals (1992, 1994/2003) letzte Arbeiten zu diesem Thema kennen. Sie setzte sich darin mit Richard Wollheim, einem der führenden englischsprachigen, an der Psychoanalyse interessierten Philosophen, auseinander (Steiner, 2003, S. 199–208) und formulierte eine, von Bions und Rosenfelds Schriften und eigenem klinischen Material ausgehende, sehr klare Analyse des Problems, das ich hier erheblich verdichtet und vereinfacht habe. Projektive Identifizierung bedeutet, dass das Baby zusammen mit der projizierten Phantasie auch seine embryonale Perspektive und seinen gleichermaßen embryonalen Denkapparat projiziert. Wenn es einen Container findet, der die Projektion seiner Phantasien aufnehmen, verstehen und verstoffwechseln kann, reintrojiziert es nach und nach auch die Fähigkeit, Frustration zu tolerieren. Dies ermöglicht es ihm Schritt für Schritt, seine eigene Alpha-Funktion einzusetzen, anders formuliert: Es lernt zu denken, und die wahnhafte oder schizo-paranoide Wahrnehmung seiner eigenen äußeren wie auch inneren Realität wird fluider, facettenreicher. Nach und nach kann dann auch die Verdrängung in Kraft treten. Eine zufriedenstellende containende Brust, eine containende Urszene, verhelfen dem Baby im Laufe der Zeit zu einer realistischeren Wahrnehmung der inneren und äußeren Realität. Andererseits muss man weder symbolische Gleichsetzungen noch Bions unverstoffwechselte BetaElemente bemühen, um die frühe Entwicklung einer pathologischen und verstörenden inneren und äußeren Welt, eines fragmentierten und nicht entwicklungsfähigen Wahrnehmungs- und Denkapparates und Urphantasien zu erklären, die unverändert erhalten bleiben. Mitsamt den sie begleitenden verzerrten Wahrnehmungen, die, wie schon erwähnt, für psychotische oder Borderline-Störungen charakteristisch sind. Allerdings werden die mit der Konstitution des Säuglings zusammenhängenden Probleme von kleinianischen Analytikerinnen und Analytikern auch nicht verleugnet ebenso wenig wie von Freud. Doch dies ist nur ein Beispiel oder eine weitere Frage, die ich an Werner Bohleber und seine Kollegen richten möchte: Wäre vielleicht eine weiterreichende Integration mit den Auffassungen der anderen Schulen möglich gewesen, wenn man all diese

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Aspekte des kleinianischen Denkens stärker berücksichtigt hätte? Denken wir zum Beispiel nur an das, was Arlow, den ich im Übrigen stets bewundert habe, 1964 schrieb, als er unter Berufung auf Freud behauptete, dass wir unentwegt träumen (vgl. Arlow u. Brenner, 1976). Und was hat es mit Bion und seiner Theorie des Träumens und der Bedeutung, die er all dem beimaß, auf sich? Ich stimme zahlreichen Schlussfolgerungen zu, die Bohleber, Jiménez, Scarfone, Zysman und Varvin bezüglich der Schwierigkeiten, zu einer genuinen Integration zu gelangen, formuliert haben. Ich weiß nicht, ob ihnen das Buch »Understanding Dissidence and Controversy« (2004) bekannt ist, eine Sammlung von Vorträgen, die Martin Bergmann, André Green, Otto Kernberg, Harold Blum und andere auf einer New Yorker Tagung hielten. Die Autorinnen und Autoren setzten sich damals auch mit den »kontroversen Diskussionen«, die Anna Freud und Melanie Klein in den Jahren 1942–45 über die unbewussten Phantasien führten, gründlich auseinander. Bei allem Respekt gegenüber Robert Wallersteins (2004) wertvollen und nachvollziehbaren Bemühungen, einen common ground zu finden, gelangten am Ende zahlreiche Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer zu dem Schluss, dass es nicht möglich sei, in der heutigen Psychoanalyse zu einer genuinen Integration zu gelangen. André Green (2004, S. 126 f.) sagte sogar, dass heute nicht mehr von Dissidenz die Rede sein könne, sondern dass wir einen allgemeinen Dissens anerkennen müssten. Als ich einmal zu Joseph Sandler – dem sehr an der Integration neuer Überlegungen in seine Lesart Freuds gelegen war – sagte, dass er mitunter, wenn er sich über das Verstehen des Hier und Jetzt auslasse, wie Betty Joseph klinge, antwortete er scherzhaft: »Riccardo, vive la différence!« Zu Erinnern ist hier natürlich auch an Freuds (1933) Bemerkungen über Adler, aber vor allem über Jung und dessen Verständnis der Analyse des Hier und Jetzt: »Wenn die Meinungsverschiedenheiten ein gewisses Maß überschritten hatten, wurde es das Zweckmäßigste, sich zu trennen und von da an verschiedene Wege zu gehen. […] Wir anderen werden dann sagen: Das mag eine Schule der Weisheit sein, ist aber keine Analyse mehr« (S. 155). Ich schließe mit einem Zitat aus Jesaja 11, das kurioserweise trefflich geeignet ist, uns zum Nachdenken über einen bestimmten As-

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pekt der unbewussten Urphantasien anzuregen: »Da wird der Wolf zu Gast sein bei dem Lamme und der Panther bei dem Böcklein lagern […] der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind […] denn voll ist das Land von Erkenntnis des Herrn«. Die Stelle ist eine wunderbare utopische Phantasie, auch wenn sie mit der Psychoanalyse oder gar mit Integration der unterschiedlichen Sichtweisen der Urphantasien nichts zu tun hat. Dennoch dürfen wir nicht lockerlassen, müssen uns zusammensetzen, miteinander diskutieren und unsere Auffassungen nach den Regeln des hermeneutischen Dialogs gegeneinander abwägen. Wir alle können voneinander lernen. Übersetzung: Elisabeth Vorspohl

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Tamara Fischmann, Marianne Leuzinger-Bohleber, Michael Russ und Margerete Schött

Trauma, Traum und Transformation in der Psychoanalyse Klinische und Extra-Klinische Forschung im Rahmen einer EEG/fMRT-Studie

Vorbemerkungen1 Wie in der Einleitung dieses Buchs erwähnt, wächst das Bewusstsein weltweit agierender Forschungsgruppen darüber, inwieweit Psychoanalyse und Neurowissenschaften voneinander profitieren können. Die Neurowissenschaften verfügen über objektive und präzise Methoden, um menschliches Verhalten betreffende Hypothesen zu überprüfen. Die Psychoanalyse hingegen entwickelte, basierend auf ihrer reichhaltigen Erfahrung mit Patientinnen und Patienten und ihrer einzigartigen Methode der Feldforschung, eine Reihe von Modellen, die dazu dienen, vielschichtige und komplexe Beobachtungen zu konzeptualisieren, die ihren Ursprung in der psychoanalytischen Situation haben. Diese Beobachtungen können anhand der spezifisch psychoanalytischen Form der empirischen Forschung – der klinischen Psychoanalyse – überprüft werden. Die Erklärungsmodelle und Erkenntnisse der Psychoanalyse generieren Forschungsfragen, die ihrerseits wiederum von Interesse für die Neurowissenschaften sind. Am Sigmund-Freud-Institut werden die Ergebnisse des Dialoges zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse in folgenden Aspekten berücksichtigt: a) Als interdisziplinärer Rahmen, anhand dessen Veränderungen in psychoanalytischen Behandlungen in klinischen Publikationen reflektiert werden. 1 Dieser Beitrag basiert teilweise auf anderen Publikationen, vgl. u. a. Fischmann, Russ u. Leuzinger-Bohleber (2013), Fischmann, Leuzinger-Bohleber, Schött u. Russ (2015a, 2015b), Fischmann, Leuzinger-Bohleber u. Kächele (2012a).

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b) Im Rahmen wissenschaftstheoretischer Überlegungen zu unterschiedlichen Fragestellungen der zeitgenössischen Psychoanalyse (z. B. unbewusste Phantasien, Gedächtnis, Trauma, Symbolisierung und Mentalisierung). c) Als theoretischer Hintergrund in der Konzeptualisierung unserer empirischen Studien im Bereich der Psychotherapieforschung (z. B. die LAC-Depressionsstudie) und der Frühprävention (z. B. im Projekt EVA und im Projekt ERSTE SCHRITTE). d) In der konkreten Anwendung neurowissenschaftlicher Methoden in klinisch-empirischen Wirksamkeitsstudien zur Effektivität von Psychoanalyse und psychoanalytischer Langzeittherapie (FRED-Studie). In diesem Beitrag stellen wir einen innovativen Ansatz zur Kombination klinischer und extraklinischer Forschung vor. Beschrieben wird ein Forschungsdesign, in dem die Veränderung manifester Trauminhalte eines im Rahmen der LAC-Studie behandelten Analysanden anhand einer klinisch-psychoanalytischen Methode untersucht wird. Die dafür verwendeten Traumberichte werden sowohl in der psychoanalytischen Situation als auch im Schlaflabor erhoben und die Auswertung derselben miteinander verglichen. Wie in dem Beitrag zu epistemologischen und methodologischen Herausforderungen zeitgenössischer psychoanalytischer Forschung beschrieben, stellt es eine sowohl interessante als auch fordernde Aufgabe dar, Ergebnisse, die dem genuin psychoanalytischen Kontext entspringen (nach Freud die sogenannte »Junktim-Forschung«), mit solchen zu vergleichen, die anhand »objektiverer« Methoden generiert werden. In den Vorbermerkungen wurde bereits Bezug genommen auf die Position Erik Kandels, nach der es in der Zukunft möglich sein wird, die Wirksamkeit von Psychoanalysen und psychoanalytischen Behandlungen anhand von Methoden zeitgenössischer Neurowissenschaften zu »überprüfen«. Wie aus dem folgenden Beitrag ersichtlich, haben bereits einige Forschungsgruppen begonnen, diese Zukunftsvision zu verwirklichen.

Trauma, Traum und Transformation in der Psychoanalyse 

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Neurowissenschaftliche Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit von Psychoanalyse und psychoanalytischer Psychotherapie: Ein Überblick Zunächst soll eine Übersicht über die wichtigsten bereits publizierten Studien aus diesem Bereich gegeben werden. Zusammengetragen von Margerete Schött, einer Wissenschaftlerin des SigmundFreud-Instituts, werden diese in den folgenden Tabellen (Tabelle 1; Tabelle 2) ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt: Tabelle 1: Beispiele empirischer Überprüfung psychoanalytischer/psychodynamischer Psychotherapie mittels bildgebender Verfahren

Buchheim, A., Viviani, R., Kessler, H., Kächele, H., Cierpka, M., Roth, G., George, C., Kernberg, O. F., Bruns, G, Taubner, S. (2012) Zielsetzung: Untersuchung der Effekte einer psychoanalytischen Behandlung (15 Mon.) auf die neuronale Verarbeitung von bindungsrelevanten, individualisierten Stimuli bei chronisch depressiven Patienten/Patientinnen Patienten-/Patientinnengruppe: N = 31 (N = 15 chronisch depressive (DSM-IV), a­ mbulante Patienten, N = 16 gesunde Kontrollprobanden Methoden: Intervention: psychoanalytische Psychotherapie (15 Mon.: 90–210h, 2–4 × wöchentlich); fMRT-Stimuli: Bilder des AAP (Adult ­Attachment Projective). Kontrast: bindungsrelevante vs. nicht bindungs­ relevante Szenen; Neuroimaging: fMRT (3-T Magnetom Allegra) Ergebnisse: fMRT: In folgenden Arealen zeigt sich eine signifikant stärkere BOLDAktivität bei den Patienten zu T0 (prä), welche zu T1 (post) nicht mehr identifizierbar ist (ROI-[Region of Interest]Analyse des Interaktionseffekts group × time): Amygdala (L), anterior hippocampus (BA36), vACC (BA25): Signifikante Korrelation mit symptomatischer Belastung (GSI und BDI [p>0.05]), ­medial PFC (BA8–9) Diskussion: Benannte Areale werden mit Phänomenen wie emotionaler Reaktivität und Effekten von kognitiver Verhaltenstherapie, Stimmungs(Dys-)regulation und willkürlicher Emotionsregulation assoziiert. De Greck, M., Bölter, A. F., Lehmann, L., Ulrich, C., Stockum, E., Enzi, B., Northoff, G. (2013) Zielsetzung: Untersuchung der Effekte einer psychodynamischen Behandlung auf die neuronalen Korrelate von Empathiefähigkeit und emotionalem Gedächtnis bei Patienten mit somatoformen Störungen. Patientengruppe: N = 30 (N = 15 stationäre Patienten mit somatoformer Störung (DSM-IV), teils medikamentös mitbehandelt; N = 15 gesunde ­Kontrollprobanden (alters-gematched)

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Tamara Fischmann et al.

Methoden: Intervention: multimodale psychodynamische Psychotherapie (stationäres Setting, 38–80 Tage); fMRT-Stimuli: »Japanese and Caucasian Facial Expressions of Emotion«-battery (JACFEE) and the »Japanese and Caucasian Neutral Faces«-battery (JACNeuF); Neuroimaging: 1.5T MR Scanner (General Electric Sigma Horizon), Messzeitpunkte: prä-post (58 Tage im Mittel) Ergebnisse: fMRT: Folgende Areale zeigen eine signifikant stärkere BOLDAktivität zu T1 (post) als T0 (prä) der Patientenstichprobe in Reaktion auf die Emotion »Wut«; ROI Analyse: Postcentral gyrus (L), superior temporal gyrus (L), parahippocampal gyrus, Posterior insula (L), Cerebellum (L); Whole-brain Analyse: Parahippocampal gyrus, Putamen (L) (reduzierte Aktivität, korreliert mit Reduktion in somatischer Symptomatik) Diskussion: Der parahippocampale Gyrus wird mit dem autobiografischen, emotionalen Gedächtnis assoziiert. Die erhöhte Aktivität in diesem Areal wird von den Autoren mit einer verbesserten Selbstwahrnehmung erklärt, die durch die psychodynamische Therapie erreicht wird. Das Erkennen der emotionalen Zustände Anderer kann durch die Einsicht in die eigenen emotionalen Prozesse verbessert werden und somit als Grundlage zur Verbesserung der Alexithymie-Werte sowie der somatischen Symptome gewertet werden. Beutel, M. E., Stark, R., Pan, H., Silbersweig, D., Dietrich, S. (2010); ­Beutel, M. E., Stark, R., Pan, H., Silbersweig, D. A., Dietrich, S. (2012) Zielsetzung: Untersuchung der Effekte einer psychodynamischen ­Kurzzeitbehandlung auf die neuronale Verarbeitung einer emotionalen go-/no-go-Aufgabe bei Patienten mit Panikstörung Patientengruppe: N = 27 (N = 9 stationäre Patienten mit Panikstörung (ICD-10), N = 18 gesunde Kontrollprobanden) Methoden: Intervention: multimodale, manualisierte, panik-fokussierte psychodynamische Kurzzeittherapie (stationäres Setting, 4 Wochen); fMRT-Paradigma: Emotionale, sprachbasierte go-/no-go-Aufgabe, bei der Wörter unterschiedlicher Valenz verwendet werden (neutrale, positive, negative Valenz); Neuroimaging: fMRT (1,5-T Magnetom Symphony) Ergebnisse: fMRT: In folgenden Arealen zeigen sich zwischen Patientenund Kontrollstichprobe signifikante Unterschiede in der BOLD-Aktivität zu T0 (prä), die zu T1 (post) nicht mehr identifizierbar sind: Kontext »Emotion« (negative vs positive and neutral): Lateral PFC ↓, supplementary motor area ↑ (bei positiv und negativ emotionalen Stimuli), Hippocampus (L) (bei negativ emotionalen Stimuli). Kontext »Inhibition« (Go vs No-go): Amygdala (L) ↑, Hippocampus (L) ↑, ventrolateral PFC (L) ↓, lateral OFC (L) ↓. Nach Beendigung der Therapie unterscheiden sich die Patienten durch erhöhte BOLD-Aktivität im middle temporal gyrus (emotionaler Kontext) und erhöhte Aktivität im Caudate (inhibitorischer Kontext) von den Kontrollprobanden.

Trauma, Traum und Transformation in der Psychoanalyse 

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Diskussion: Die erwartete Abnahme der Aktivität im Bereich des Hippocampus über den Verlauf der Therapie spiegelt nach den Autoren den verbesserten Umgang mit negativen Reizen wider, der sich auch in den behavioralen Ergebnissen findet. Dieses Ergebnis unterstützt die Annahme eines fronto-limbischen Netzwerks, welches an der Emotionsregulation in bedrohlichen Situationen beteiligt ist. Die Muster, die in der go-/no-goAufgabe gefunden werden, sprechen für eine gestörte Handlungskontrolle der Patienten, welche sich entweder durch eine Dysfunktion des DLPFC und/oder eine Hyperaktivität des Hippocampus auszeichnet. Tabelle 2: Beispiele laufender Studien zur empirischen Überprüfung psychoanalytischer/psychodynamischer Psychotherapie anhand bildgebender Verfahren

Die Frankfurter-EEG-fMRT-Depressionsstudie (FRED) Fischmann, T., Russ, M. O., Leuzinger-Bohleber, M. (2013); Fischmann, T., Russ, M., Baehr, T., Stirn, A., Leuzinger-Bohleber, M. (2012b) Zielsetzung: Untersuchung der Effekte einer psychotherapeutischen ­Langzeitbehandlung (Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) auf neuronale Veränderungen in der Reaktion auf: 1. konfliktrelevante, individualisierte Stimuli (siehe Kessler et al., 2011) 2. individualisierte Traumwörter und deren Erinnerung. Patientengruppe: N = 33 (N = 15 chronisch depressive, ambulante ­Patienten; N = 18 gesunde Kontrollprobanden) Methoden: Intervention: Langzeit-Psychotherapie (PAT, KVT), fMRT-Paradigma (visuelle Stimuli): individualisierte Konflikt-Sätze (OPD) verglichen mit affektneutralen Sätzen; individualisierte Traumwörter vgl. mit affektneutralen Wörtern; Neuroimaging: fMRT (3-T Magnetom Allegra); Messzeitpunkte: T0 Beginn der Psychotherapie, T1 7 Mon., T2 15 Mon. nach Beginn Ergebnisse (Einzelfall-Analysen): Die Aktivierungsunterschiede, die sich bei Traumwörtern kontrastiert mit neutralen Wörtern extrahieren lassen, gleichen sich über den Verlauf der Therapie an. Auch im Bezug auf das OPD-Paradigma lassen sich in der Einzelfallanalyse ähnliche Tendenzen beobachten. Diskussion: Die Abnahme der neuronalen Reaktion auf emotionale ­Stimuli über die Zeit wird als ein verbesserter Umgang mit konflikthaftem Material im Verlauf der Psychotherapie interpretiert. Eine Validierung der Ergebnisse kann erst ein Gruppenvergleich zeigen. Böker, H., Richter, A., Himmighofen, H., Ernst, J., Bohleber, L., ­ ofmann, E., Vetter J., Northoff, G. (2013) H Zielsetzung: Über ein Jahr wird die Wirksamkeit einer ambulanten psycho­ analytischen Behandlung depressiver Patienten auf psychodynamischer, behavioraler und neuronaler Ebene untersucht. Die fMRT-Untersuchung läuft derzeit. fMRT-Stimuli »Interpersonal relations picture set (IRPS)«

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Gawrysiak, M. J., Swan, S. A., Nicholas, C., Rogers, B. P., Dougherty, J. H., Hopko, D. R. (2013) Zielsetzung: Untersuchung der Effekte einer pragmatischen psycho­ dyna­mischen Therapie auf die neuronalen Reaktionen eines depressiven Patienten mit Brustkrebs. fMRT-Stimuli: Individualisierte Musiksequenzen, (freudvoll, neutral). Signifikant stärkere Aktivierung von Arealen, die mit Freude assoziiert sind, zum Messzeitpunkt post treatment im Vergleich zum Beginn der Therapie (VmPFC, orbitoPFC).

Weitere Studien dienen der Überprüfung spezifischer psychoanalytischer Konzepte, zum Beispiel Studien von Schmeing et al. (2013), Kehyayan, Best, Schmeing, Axmacher und Kessler (2013), Gerber und Peterson (2006), Atmaca et al. (2011), Fan et al. (2011) und Siegel und Peterson (2012). Einen systematischen Überblick über Wirksamkeitsstudien psychodynamischer Psychotherapie, die sich neurowissenschaftlicher Methoden bedienen, bieten zudem Abbass, Nowoweiski, Bernièr, Tarzwell und Beutel (2014). Böker und Seifritz (2012) schreiben zusammenfassend: »Noch wissen wir nicht, wie groß letztlich die Outcome-Varianz für die Wirkung von Psychotherapie durch einen tieferen neurobiologischen Blick sein wird. Auch wenn die Antwort auf die Frage nach direkt handlungsleitenden Erkenntnissen bisher vielfach nur in ersten Ansätzen skizziert werden kann, so tragen doch bereits jetzt vielfältige Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Forschung, dadurch inspirierte Sichtweisen und Heuristiken erheblich zum Verständnis von Wirkmechanismen und nicht zuletzt auch zum Erfolg einer Therapie bei. […] Zusammenfassend wird die neurobiologische Forschung in Zukunft einen wesentlichen Beitrag leisten zur Aufdeckung von Wirkmechanismen spezifischer psychotherapeutischer Interventionen, zur Identifikation der Prädiktoren der Ansprechbarkeit auf Psychotherapie (insbesondere auch im Vergleich zu der auf Psychopharmakotherapie) und zur Gewinnung von Risikoindikatoren für hohe Rückfallwahrscheinlichkeiten« (S. 632).

Um die Einschätzung dieser Autoren konkret zu illustrieren, besprechen wir im Folgenden eine der am Sigmund-Freud-Institut durchgeführten Studien – die »Frankfurter fMRI/EEG Depressions-Studie« (Frankfurt fMRI/EEG Depression-Study; Akronym: FRED-Studie).

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Veränderungen von Träumen: Ein genuin psychoanalytischer Indikator für Transformationsprozesse in Psychoanalysen mit traumatisierten, chronisch-depressiven Patienten/ Patientinnen Wie in früheren Publikationen diskutiert, ist es in der Übertragungsbeziehung zwischen Patient/-in und Analytiker/-in unabdingbar, die traumatische Erfahrung wiederzubeleben und ihre biografische (»historische«) Dimension zu verstehen (Fischmann, Leuzinger-Bohleber u. Kächele, 2012a; Leuzinger-Bohleber, 2015). Nur dann – vor allem in der Arbeit mit schwer traumatisierten und depressiven Patientinnen und Patienten – kann das Trauma in seiner verborgenen psychischen Existenz für die therapeutische Arbeit zugänglich gemacht werden. Der unerträgliche Schrecken ist über Visualisierungen, Metaphern und später auch Verbalisierungen verknüpft. Träume können in diesem Kontext hilfreich sein: Bei vielen Analysandinnen und Analysanden stellen sie Indikatoren für einen einsetzenden Symbolisierungsprozess und schlussendlich für den Beginn einer »sinnstiftenden« therapeutischen Bewältigung der Traumatisierung dar. In der Traumforschung wird Träumen als informationsverarbeitender Denkprozess unseres inneren Systems beschrieben (Dewan, 1970). Innere (kognitive) Modelle werden ständig modifiziert, koordiniert und neuen Wahrnehmungen und Erfahrungen angepasst. Im Gegensatz zum Träumen werden unsere seelischen Reaktionen im Wachzustand immer unmittelbar durch die Umgebung beeinflusst. Daher ist die Informationskonsolidierung im Wachzustand nur durch das Aufnahmevermögen des Systems selbst beschränkt. Dieser Konsolidierungsprozess setzt sich auch während des Schlafes in einer Art »offline«-Modus fort, wodurch eine Integration der Information in das Langzeitgedächtnis, auch im Schlafzustand, ermöglicht wird (Stickgold, Hobson, Fosse u. Fosse, 2001; Fosshage, 2007). Nach Moser und von Zeppelin (1996), beides Psychoanalytiker und Traumforscher, werden sogenannte »Traumkomplexe« durch aktuelle Tagesereignisse aktiviert, in denen dann die gesamte Information ungelöster Konflikte und traumatischer Situationen während des Träumens verarbeitet wird. Der Traum sucht nach

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Lösungen oder vielmehr bestmöglichen Anpassungen an solche Traumkomplexe. Ein Traum, der normalerweise bildhaft ist, besteht aus mindestens einer vom »Traumorganisator« produzierten Situation. Traumorganisation kann nach Moser als eine Anzahl affektiv-kognitiver Prozeduren betrachtet werden, die eine Mikrowelt – den Traum – generieren und dessen Verlauf kontrollieren. Innerhalb dieses Systems dient der »Traumkomplex« als eine Art Vorlage für die Traumorganisation. So betrachtet, bestehen Traumkomplexe aus einem oder mehreren im Langzeitgedächtnis gespeicherten Komplexen, die aus konflikthaften und/oder traumatisierenden Erfahrungen entstanden sind. Sie haben sich in Introjekten niedergeschlagen. Charakteristisch an diesen Introjekten ist, dass sie zum einen eng mit den auslösenden Umgebungsstimuli verknüpft und zum anderen den gespeicherten Situationen des Komplexes strukturell ähnlich sind. Die angestrebte Lösung des Komplexes wird bestimmt durch das Bedürfnis nach Sicherheit und den Wunsch teilzuhaben bzw. sich einzulassen. Diese Prinzipien, die die Traumorganisation regeln, bezeichnen Moser und von Zeppelin (1996) als Sicherheits- und Involvement-Prinzip. Wünsche innerhalb dieser Komplexe sind die Verbindungen zwischen den Selbst- und Objekt-Modellen sowie den sogenannten RIGs (d. h. Generalisierte Interaktionsrepräsentanzen/Representation Interaction Generalized). Diese sind wiederum begleitet von Überzeugungen und der Hoffnung auf Wunscherfüllung. Konflikthafte Komplexe sind isolierte Bereiche gebündelter Wünsche, RIGs und von Selbst- bzw. Objekt-Modellen, wodurch Bereiche ungebundener Affektinformationen entstehen, da sie getrennt von den restlichen Gedächtnisinhalten existieren. Affekte innerhalb solcher Bereiche sind durch sogenannte k-Linien miteinander verbunden. Um diese konflikthaften Komplexe aufzulösen (d. h., dem Gedächtnis wieder zugänglich zu machen), ist es notwendig, die affektive Information wieder mit der Beziehungsrealität zu verknüpfen, so dass sie wieder spürbar, lebendig und zugänglich wird (siehe Abbildung 1). Eben dies wird in Träumen versucht, denn ihre Funktion ist es, Lösungen für die Komplexe zu finden. Diese Suche nach einer Lösung wird innerhalb des Traumgeschehens vom oben genannten Sicherheits- und Involvement-Prinzip gesteuert. Die folgende Abbildung soll als Veranschaulichung des Modells dienen.

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Abbildung 1: Traumkomplex und Traumorganisation nach Moser und Zeppelin (1996, S. 31)

Die Frankfurter fMRI/EEG Depressions-Studie (FRED) Können »sinnstiftende«, komplexe psychische Prozesse und deren Veränderungen, die die Psychoanalyse auch heute noch kennzeichnen, Gegenstand von Untersuchungen werden, die sich auf die neuen Möglichkeiten bildgebender Verfahren stützen? Eric Kandel ist davon überzeugt, dass sich die Psychoanalyse dieser neuen Methoden bedienen muss, um die nachhaltigen Ergebnisse ihrer Behandlungen auch neurobiologisch nachzuweisen (Kandel, 2009 und mündliche Mitteilung). Ansonsten werde sie aus der Welt der Wissenschaften verschwinden und nur noch als historisches Relikt, als Erinnerung an den aufklärerischen Geist von Sigmund Freud im 20. Jahrhundert in Erinnerung bleiben. Gesellschaftlich werde sie marginalisiert, obschon sie, bis jetzt, die intellektuell aufregendste und komplexeste Theorie der menschlichen Seele vorgelegt habe. Auch wenn gegen

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diese Sicht so manche wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Argumente vorgebracht werden könnten, trifft die Einschätzung von Kandel sicher zu, dass ein Nachweis der Wirksamkeit von Psychoanalysen und psychoanalytischen Therapien durch neurobiologische Untersuchungen, die Akzeptanz psychoanalytischer Verfahren in der Welt der Medizin schlagartig erhöhen würde. Vor diesem Hintergrund erschien es uns eine enorme Chance zu sein, durch die institutionelle Zusammenarbeit mit dem MaxPlanck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, einen Teil der chronisch-depressiven Patienten der LAC-Studie auch mit fMRT und EEG (im Schlaflabor des SFI) untersuchen zu können. Wir konzeptualisierten unsere Untersuchung als partielle Replikationsstudie der Hanse-Neuro-Psychoanalysestudie (vgl. Buchheim et al., 2012). In der seit 2007 laufenden Studie mit dem Akronym FRED kombinieren wir die gut erprobten Methoden der Hanse-NeuroPsychoanalysestudie mit einer eigenen Schlaf-Traum-Untersuchung. Anhand eines Einzelfalles aus dieser noch laufenden Studie wird im Folgenden die Kombination von psychoanalytischen und neurowissenschaftlichen Methoden exemplarisch illustriert. FRED ist ein Beispiel einer vielversprechenden Kombination zweier Disziplinen, der Psychoanalyse und der Neurowissenschaften. Das interdisziplinäre Projekt wird am Sigmund-Freud-Institut und dem BIC (Brain Imaging Center) in Zusammenarbeit mit dem MPIH Frankfurt (Max-Planck-Institut für Hirnforschung) durchgeführt.2 Es untersucht die Veränderungen in Hirnfunktionen chronisch-depressiver Patienten/Patientinnen in Langzeittherapien. Ziel ist es, nach multimodalen neurobiologischen Veränderungen im Verlauf von Psychotherapien zu suchen. Aus hirnphysiologischer Sicht wird Depression häufig als Neurotransmitter-Störung oder Frontallappendysfunktion beschrieben (vgl. Belmaker u. Agam, 2008; Caspi et al., 2003; Risch et al., 2009). Northoff und Hayes (2011) haben überzeugend dargestellt, dass das sogenannte »Belohnungssystem« bei Depressiven gestört ist und Be2 Wir danken der Neuro-Psychoanalysis Society – HOPE (M. Solms, J. Panksepp et al.) und der »Research Advisory Board« der »International Psychoanalytic Association« für die finanzielle Förderung, vgl. dazu auch Fonagy, Kächele, Leuzinger-Bohleber u. Taylor (2012).

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lege dafür angeführt, dass tiefe Hirnstimulation schwere Depression mildern kann (siehe auch Solms u. Panksepp, 2012). Aber trotz all dieser Befunde wurde bislang noch kein spezifisch hirnphysiologischer Marker für Depression gefunden. Auch deshalb erscheint es sinnvoll, der oben erwähnten Frage nachzugehen, ob Veränderungen in Psychotherapien hirnphysiologische Korrelate haben. Dieser Fragestellung wird im Rahmen der FRED-Studie nachgegangen. Allgemein gesprochen arbeiten Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen – speziell Psychoanalytikerinnen und -analytiker – mit (unbewussten, embodied) Erinnerungen und wiederkehrenden, meist dysfunktionalen Verhaltensweisen und Erfahrungen. Es kann angenommen werden, dass solche Fehlverhalten und inadäquaten Affekte auch im Gehirn, wie zum Beispiel in Synapsenkonfigurationen, im Priming, Axonensprossung und vielem mehr, ihren Niederschlag finden. Diese Annahme bildet die neuro-psychoanalytische Grundlage für die Hypothesen in FRED, dass (1) Psychotherapie ein Veränderungsprozess ist, in dem Gedächtnisinhalte modifiziert werden, sowie (2) sich diese Veränderungen auch in Hirnaktivitäten niederschlagen und mittels eines Experiments zur Wiedererkennung von konflikthaft besetzen Erinnerungen im fMRT abgetastet und erfasst werden können. Dieses Design konstituiert den neuropsychoanalytischen Ansatz der FRED-Studie, dessen vorläufige Ergebnisse im Folgenden berichtet werden. Ein weiterer Aspekt der Studie ist die Erfassung von klinischen Veränderungen in Träumen im Verlauf einer Therapie. Die Analyse der Träume mit der spezifisch empirischen Methode von Moser und von Zeppelin (1996), dem »Zurich Dream Process Coding System«, welche im Folgenden näher ausgeführt wird, ermöglicht es zudem, diese mit den Veränderungen in den manifesten Trauminhalten zu vergleichen, die in der Psychoanalyse berichtet werden. Im folgenden Abschnitt werden wir einen Einzelfallbericht aus der LAC-Depressionsstudie3 illustrieren – im Bestreben klinische 3 Die laufende LAC-Studie ist eine multizentrische Studie zur Psychotherapieforschung, welche die Wirksamkeit psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Langzeit-Psychotherapie bei chronischer Depression untersucht. Das Studiendesgin verbindet ein naturalistisches mit einem experimentellen Design und

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und extra-klinische Forschung miteinander zu kombinieren. Marianne Leuzinger-Bohleber berichtete über die Veränderungen von Träumen eines schwer traumatisierten und chronisch-depressiven Patienten als Indikator für therapeutische Veränderungen an anderer Stelle aus klinischer Perspektive (Leuzinger-Bohleber, 2013). Derselbe Patient, der einer Stichprobe von 408 chronisch-depressiven Patientinnen und Patienten entstammt, die im Rahmen der LAC-Depressionsstudie rekrutiert wurden, war bereit, sich für zwei Nächte im Schlaflabor des Sigmund-Freud-Institutes untersuchen zu lassen. Die Untersuchung der schweren Schlafstörungen des Patienten war von klinischer Relevanz. Die EEG-Daten des Patienten wiesen auf eine pathologische Schlafarchitektur hin, woraufhin der Patient zu einem Somnologen überwiesen werden musste. Infolge dieser »therapeutischen Intervention« im Schlaflabor war es uns möglich, die im experimentellen Setting des Labors erhobenen Träume mit denen zu vergleichen, die in der Psychoanalyse, also »naturalistisch« berichtet wurden. Im Rahmen dieses Beitrags wird es uns lediglich möglich sein, einen kurzen Überblick über ein Modell der »Generation des Traumes« geben zu können, welches von Moser und Zeppelin (1996) entwickelt wurde. Dieses Modell stellt sowohl den theoretischen Hintergrund unserer Hypothesen bezüglich der Veränderung von Traumberichten bei Patienten und Patientinnen mit chronischer Depression dar als es auch zur Kodierung von Träumen der Untersuchung der manifesten Träume dient, die im Rahmen der Studie erhoben werden. Im folgenden Abschnitt dieses Beitrags werden wir die Daten, die im Kontext des Traumkodierungsmodelles generiert wurden, mit neurophysiologischen Daten desselben Patienten der FRED-Studie vergleichen, die ebenso mit der Erinnerung an eigene Träume assoziiert sind. Im Anschluss wird – illustriert anhand der beschriebenen Einzelfallvignette – der Fokus auf dem Vergleich von Traumveränderungen der im Schlaflabor berichteten Träume und solchen liegen, die in den psychoanalytischen Sitzungen berichtet werden. erlaubt so Rückschlüsse auf den Einfluss von Randomisierung und Präferenz auf die Wirksamkeit von psychotherapeutischen Behandlungen (siehe auch Beutel, Stark, Pan, Silbersweig u. Dietrich, 2012, für ein detailliertes Studienprotokoll).

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Studiendesign Die FRED-Studie untersucht die Hypothesen, dass (1) Psychotherapie ein Veränderungsprozess ist, in dem Gedächtnisinhalte modifiziert werden, und (2) sich diese Veränderungen auch in Hirnaktivitäten niederschlagen, die im fMRT abgetastet und erfasst werden können. Ebenso wird angenommen, dass Veränderungen der Erinnerungen, die während einer Psychotherapie auftreten, sich auf die Verarbeitung von traumatischen Erinnerungen auswirken. In der FRED-Studie werden diese Veränderungen in Gedächtnisleistungen an chronisch-depressiven Patienten/Patientinnen im fMRT mit einer Gedächtnis-Wiedererkennungsaufgabe untersucht. Bei den verwendeten Stimuli handelt es sich um Wörter, die mit einem für die spezifischen Patienten und Patientinnen verknüpften konflikthaften Geschehen assoziiert sind. Untersucht wurde zu Beginn der Therapie sowie nach sieben und nach 15 Monaten. Mit diesem Paradigma postulierten wir, dass der Kontrast (Erkennen von traumrelevanten Wörtern/Sätzen vs. Kontroll-Kondition) diejenigen Hirnareale abbilden wird, die mit der Verarbeitung selbstreferenzieller Inhalte und dem Abruf autobiografischer Gedächtnisinhalte und/oder emotionalen Gedächtnisinhalten assoziiert sind (emotionales Gedächtnis: Amygdala, Hippocampus, präfrontaler Cortex, vgl. Buchanan, 2007; episodisches Gedächtnis und Verarbeitung von Selbstbezug: medialer präfrontaler Cortex, parietaler Cortex, Temporal-Pole, siehe Legrand u. Ruby, 2009; autobiografisches Gedächtnis: Frontal-Cortex und Hippocampus, siehe Maguire, Henson, Mummery u. Frith, 2001), und dass diese Aktivierungsmuster sich im Lauf der Zeit und der Psychotherapie verändern werden. Unsere Hypothesen bezüglich der untersuchten Gruppen sind daher folgende: Wir postulieren, dass erfolgreich behandelte Psychotherapieprobanden und -probandinnen eine Veränderung in den Aktivierungsmustern vom Zeitpunkt T1 hin zum Zeitpunkt T3 zeigen, welche sich in statistisch signifikanten Effekten des Messzeitpunktes niederschlägt. Diese erwartete Veränderung kann allerdings nicht eindeutig auf den Effekt der Psychotherapie zurückgeführt werden. Selbstverständlich spielen auch unkontrollierbare Komponenten wie einfaches Vergessen und »Blurring« von Gedächtnisinhalten im Verlauf eine Rolle. Dies ist vor allem für das

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Traumwort-Paradigma der Fall, bei dem die Patienten und Patientinnen zu jedem Messzeitpunkt mit individuellen Worten aus dem immer gleichen eigenen Traum konfrontiert werden. Aus diesem Grund ist es absolut notwendig, eine Kontrollgruppe einzuführen, anhand welcher der »normale« zeitliche Verlauf unbehandelter Probanden und Probandinnen dargestellt werden kann. Im Gegensatz zu der Patientengruppe werden gesunde Kontrollprobandinnen und -probanden unserer Hypothese nach keine Veränderungen zeigen: Die Muster bleiben über die Zeit hinweg konstant. Für diese Untersuchung rekrutierten wir chronisch-depressive Patientinnen und Patienten der LAC-Studie und führten mit ihnen in der ersten diagnostischen Phase ein OPD-Interview (Operationalisiert-Psychodynamisch Diagnostisches-Interview; OPD-Task Force 2008) mit Schwerpunkt auf Achse II (Beziehungs-Achse) sowie ein Trauminterview durch (siehe Abbildung 2, S. 283). Von diesen zwei Interviews wurden individuelle Stimuli für die fMRTUntersuchung für jede Probandin und jeden Probanden erstellt. Diese Stimuli sind besonders gute Trigger zur Erinnerung an individuelle Konflikte. Die Stimuli bestehen zum einen aus Traumwörtern aus einem im Trauminterview berichteten signifikanten Traum und zum anderen aus dysfunktionalen Sätzen aus dem OPD-Interview. Messungen werden zu drei Zeitpunkten vorgenommen, so dass Veränderungen in den Aktivierungsmustern im Verlauf der Therapie sichtbar gemacht werden können. Zum Messzeitpunkt T1 werden die OPD-Sätze und die Traumwörter erhoben. Die Patienten und Patientinnen verbringen zwei Nächte im Schlaflabor, wo weitere Traumberichte4 in der zweiten Nacht aus Weckungen in der REM2und REM3-Phase (zweite und dritte REM-Periode der Nacht) und am Morgen erhoben werden. Schließlich wird das fMRT-Experiment mit den OPD-Sätzen und den Traumwörter-Stimuli durchgeführt. Zu den Messzeitpunkten T2 und T3 werden EEG-Daten im Rahmen der polysomnografischen Untersuchung erhoben. fMRTDaten werden in gleicher Weise unter Verwendung der OPD-Sätze und Traumwörter aus T1 erhoben und untersucht. 4 Nach zehn Minuten REM-Schlaf wurden die Träumer/-innen geweckt und gefragt: »Können Sie sich an einen Traum erinnern?«

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Untersuchungsgruppe Bislang wurden 16 Patienten und Patientinnen mit wiederkehrender depressiver Störung (Major Depression, Dysthymie, Double Depression länger als 24 Monate; Quick Inventory of Depressive Symptoms (QIDS) > 9 [Skalenbereich 0–27, klinischer Cut-Off > 6; Beck Depressions-Inventar (BDI) > 17 [Skalenbereich 0–63, klinischer Cut-Off > 9]; Alter: M = 43, Bereich 23–58, SD = 11.57) für die Teilnahme an der FRED-Studie rekrutiert. Die Patienten und Patientinnen wurden, wie erwähnt, in der Ambulanz des SigmundFreud-Instituts aus der dort durchgeführten LAC-Depressions-Studie (Leuzinger-Bohleber, Bahrke u. Negele, 2013) rekrutiert und von erfahrenen Klinikerinnen und Klinikern mit den »Structured Clinical Interview I und II for DSM-IV Diagnosis« (SCID I und II; dt. Version 1998) diagnostiziert. Ausschlusskriterien sind andere psychiatrische Erkrankung als Hauptdiagnose, Drogenmissbrauch, schwerwiegende andere medizinische oder neurologische Erkrankungen (inkl. medizinische Ursachen für Depression), psychotrope Medikamente und Augenprobleme. Alle Probanden und Probandinnen sind rechtshändig. In allen Gruppen werden die Schwere der Depression und die psychopathologischen Symptome mit dem Beck Depressions-Inventar (BDI; Hautzinger, Keller u. Kühner, 2006) und der revidierten Symptom Check List (SCL-90-R; Franke u. Derogatis, 2002) erhoben. Die Kontrollgruppe besteht aus 18 gesunden Freiwilligen (13 Frauen), die bezüglich ihres Alters gematched sind (M = 34, 22–65 Jahre, SD = 14.59). Alle Probandinnen und Probanden gaben ihr schriftliches Einverständnis.

Traumstimuli Die individuellen und persönlich relevanten Stimuli in Bezug auf die Träume wurden durch den im Trauminterview erhobenen signifikanten Traum ermittelt. Hierzu wurden aus dem signifikanten Traum zusammen mit den Probanden/Probandinnen 30 Wörter gesucht, wobei darauf geachtet wurde, dass diese den erzählten Traum so präzise wie möglich widerspiegeln und so nah wie möglich am Traumerleben waren. Die Trauminterviews wurden durch

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erfahrene Psychoanalytiker/-innen erhoben und auf Tonband aufgenommen. Die Probanden und Probandinnen wurden angehalten, die Traumwörter einen Tag vor der fMRT-Untersuchung auswendig zu lernen. Diese 30 Traumwörter dienen als Stimuli während der fMRT-Messung (Traumexperiment). Die Kontrollbedingung beinhaltet 30 entsprechende Wörter, die einer neutralen »Alltagsgeschichte« ohne spezifische Bedeutung für die einzelnen Patienten und Patientinnen entstammen. Jede/r Proband/-in wurde instruiert, diese Wörter ebenfalls einen Tag vor der fMRT-Untersuchung auswendig zu lernen (neutrale Bedingung). Alle Wörter wurden in Deutsch präsentiert.

fMRT-Stimulusmaterial; Ablauf (Einzelfalldarstellung) Vor der fMRT-Untersuchung wurden die Untersuchungsteilnehmer/-innen interviewt (SKID I+II, OPD, Trauminterview), sie bearbeiteten Fragebögen (BDI, SCL-90-R) und willigten der Teilnahme an der Untersuchung schriftlich ein. Zu Beginn der fMRTSitzung, noch vor Beginn der eigentlichen Messung, wurden den Probanden und Probandinnen ihre individuellen Traumwörter präsentiert sowie gefragt, ob diese ihren berichteten signifikanten Traum adäquat repräsentieren. Um für State-Affektivität zu kontrollieren, bearbeiteten die Probanden und Probandinnen vor der fMRT-Messung die deutsche Version des Positive and Negative ­Affect Schedule (PANAS). Nach der fMRT-Messung wurde ein weiterer PANAS durchgeführt, gemeinsam mit einem Fragebogen, der auf 7-stufiger Likert-Skala erhebt, zu welchem Ausmaß die Traumwörter emotionalen Stress (arousal) auslösen.

fMRT-Experiment Die fMRT-Messungen wurden mittels eines 3.0-Tesla-Kopfscanners (Magnetom Allegra, Siemens, Erlangen, Germany) mit einer 4-Kanal-Kopfspule unter Anwendung einer EPI mosaic Sequenz (FA = 90°, TE = 30 ms, matrix 64 × 64, interleaved acquisition, ­voxelsize 3 × 3 × 3 mm, 1.5 mmgap, 30 transverse slices covering the

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whole brain, T → C = −30°) vorgenommen. Hierbei wurde eine Serie (370 Messungen) von blood-oxygenation-sensitive echo planar image Volumen alle 2 Sekunden erhoben.

Fallbeispiel Psychoanalytisches Traummaterial – Traumserien aus psychoanalytischem Setting und Schlaflabor5 Biografie und Traumageschichte6 Der Patient äußert im Erstinterview, dass er schon seit 25 Jahren an schweren Depressionen leide und sich nun an das Institut wende, da er nach dem letzten depressiven Einbruch einen Rentenantrag gestellt hätte. Die Beurteilung des behandelnden Arztes ergab, dass er eine Berentung nicht für nötig halten würde, hingegen aber eine »intelligente Psychoanalyse« – eine Antwort, die der Patient, Herr P., zunächst als beleidigend empfand. Herr P. fühlte sich nicht ernst genommen, vorrangig in Bezug auf seine körperlichen Symptome, unerträglichen Ganzkörperschmerzen, gravierenden Essstörungen sowie suizidalen Tendenzen. Zudem litt der Patient an schweren Schlafstörungen. Oft schlafe er gar nicht. Meist erwache er nach eineinhalb, höchstens drei Stunden. Er fühle sich zerschlagen und könne sich kaum konzentrieren. Herr P. hat schon viele erfolglose Therapieversuche hinter sich, eine Verhaltenstherapie, eine Gestalttherapie, eine Körpertherapie sowie mehrere stationäre Aufenthalte in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken. Er gehört zu der Gruppe von Patienten und Patientinnen, die auf Kurztherapien und die meisten Psychopharmaka nicht zu reagieren scheinen und

5 Vgl. auch Fischmann, Leuzinger-Bohleber u. Kächele, 2012a. 6 Der klinische und biografische Hintergrund dieses schwer traumatisierten, chronisch depressiven Patienten wurde ausführlich in anderen Publikationen von Leuzinger-Bohleber beschrieben (Leuzinger-Bohleber, 2012, 2015). Hier wird aus klinischer Perspektive beschrieben, inwieweit sich sowohl der manifeste Traum als auch die Traumarbeit im Laufe der Psychoanalyse verändern sowie auch Transformationen der inneren (traumatischen) Objektwelt. Im vorliegenden Beitrag legen wir den Fokus im Kontrast zu diesem eher klinischen Blick auf eine systematische Untersuchung der Veränderung im manifesten Traum.

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deren Rückfälle sich in immer kürzeren Abständen wiederholen und an Intensität zunehmen. Nach vielfachen Konsultationen von Psychiatern/Psychiaterinnen und Neurologen/Neurologinnen, stellte sich lediglich Lyrika7 als psychopharmakologische Medikation heraus, mithilfe derer er mit seinem körperlichen Leiden sowie den Panikattacken umzugehen vermochte. Herr P. ist ein Einzelkind. Zu seiner Frühgeschichte ist bekannt, dass er ein »Schreibaby« war. Die Mutter von Herrn P. erkrankte ernsthaft in seinem vierten Lebensjahr. Er wurde mehrere Wochen in ein Kindererholungsheim gebracht, das offenbar noch nach den nationalsozialistischen Erziehungsprinzipien geführt wurde. In der Psychoanalyse wird deutlich, welch traumatische Erfahrung dieser Heimaufenthalt für ihn gewesen war. Die früheste Kindheitserinnerung von Herrn P. dreht sich um dieses Ereignis: Er erinnert, wie ihn der Vater an der Hand aus dem Heim führt. Eine weitere Erinnerung ist, dass ein Mädchen gezwungen wurde, ihr Erbrochenes aufzuessen. Herr P. erlebt zwei weitere Trennungen von seiner erkrankten Mutter; diese Erfahrungen stellen sich allerdings als weniger traumatisch heraus, da Herr P. in dieser Zeit von Verwandten aufgenommen wurde. Trotz der dissoziativen Zustände und seiner sozialen Isolation war P. ein guter Schüler, absolvierte zuerst eine Lehre und später ein Studium. In der Adoleszenz hatte er einen psychosomatischen Zusammenbruch, den die Eltern als »Krise eines Heranwachsenden« diagnostizierten. Mit 15 Jahren lernte er seine erste Freundin kennen. Sein Zustand verbesserte sich. Im Alter von 22 Jahren beendete der Patient die Beziehung zu seiner ersten Freundin, da er sich in eine andere Frau verliebte. Trotz des Umstandes, dass die Trennung »zu seinen Gunsten« verlief, setzte diese P. schwer zu. Auch unter der Trennung von der zweiten Partnerin, die ebenfalls von Herrn P. initiiert wurde, leidet er mehrere Wochen schwer. Als der Patient eine weitere Beziehung eingeht, erleidet er, während einer Einladung bei seiner neuen Freundin, einen Nervenzusammenbruch: Aufgrund dieser Panikattacke mit Hyperventilation muss P. in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Wie schon erwähnt, durchlief Herr P. unterschiedliche psychotherapeutische Behandlungen. Auch wenn er durch alle Therapien eine Besserung erfuhr, hat ihn »keine davon geheilt«. Seine Depression wurde schlimmer, bis sie sich schließlich chronifizierte. 7 Lyrica (Generikum: Pregabalin) ist ein Antikonvulsivum, verwendet bei psychogenem Schmerz, auch wirksam bei Generalisierter Angststörung (GAS); seit 2007 von der EU für diesen Gebrauch zugelassen.

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Klinisches Material: Traumserie berichtet im psychoanalytischen Setting Klinischer Traum 1: Erstes Behandlungsjahr »Ich sehe einen Mann am Straßenrand liegen, schwer verletzt – es hängen ihm die Gedärme raus, alles ist voll Blut … Es kommt ein Hubschrauber. Es ist nicht klar, ob man auf den Mann noch schießt oder ob man ihm helfen will. Eine Person kommt – und meint, der Mann sei tot. Ich merke, dass der Mann noch lebt, und wirklich, er öffnet die Augen und sagt: ›Warum hilft mir denn keiner? …‹ – Die Person gibt ihm einen Kochdeckel – den solle er sich auf die offene Wunde halten … Ich wache voll Panik auf …« (Leuzinger-Bohleber, 2012, S. 66 f.).

Klinischer Traum 2: Drittes Behandlungsjahr »Ich blicke auf eine Gruppe Menschen, die alle beschmiert sind mit Lehm. Sie arbeiten zusammen an der Außenfassade eines Hauses. Es weht ein kalter Wind – die Arbeit ist qualvoll, beschwerlich und kaum zu ertragen. Und dennoch habe ich im Traum das Gefühl, dass die Männer sie meistern werden: eines Tages werden sie das Haus fertiggestellt haben und es wird ihnen ein warmes Zuhause sein. Ich wende mich zu meiner Frau und sage: ›Siehst du, wir schaffen das – man muss nur zusammenhalten‹.« (Leuzinger-Bohleber, 2012, S. 70 f.).

Labormaterial: Traumserie berichtet im Schlaflabor8 Labortraum 1: T1 (Ende des ersten Behandlungsjahres) »Ich stehe auf einer Brücke – einer Talsperre. Rechts und links sind steile Hänge – Berge (Situation S1). Es kommt zu einem Erdrutsch. Ich sehe den Hang und ein ganzes Haus sehr schnell auf mich zukommen, zu rutschen, zu rasen (S2). Ich denke, dass ich das nicht mehr schaffe, da weg zu kommen (/C.P./?). Ich renne (S3) und bin überrascht darüber wie schnell ich

8 Insgesamt 5 Träume – zwei vom Ende des ersten Behandlungsjahres und zwei aus dem zweiten – dienen als Material für eine Analyse der Veränderungen im Laufe der Therapie. Analysiert werden die Träume anhand des »Zurich Dream Process Coding System«. Elemente des Kodierungssystems werden in Klammern geschrieben dargestellt.

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laufen kann (/C.P./). Ich schaffe es, mich vor diesem herabstürzenden Haus zu retten (S3). Ich bin in Sicherheit am Rand dieser Brücke (S4).«

Labortraum 2: T1 (Ende des ersten Behandlungsjahres) »Es sind mehrere Leute im Zimmer. Ich habe diese Mütze auf. Sie drei sind hier und noch jemand, der direkt nach mir dran kommt. Er stellt ganz viele Ansprüche. Es ist Morgen und ich wache auf. Ich habe die Kappe auf und bin verkabelt (S1). Es ist Leben um mich herum und Sie und die anderen laufen herum und reden miteinander. Ich kriege mit, wie sie miteinander tuscheln und sich über irgendjemand ärgern oder lustig machen. Der, über den Sie sich ärgern, ist auch im Zimmer, er soll nach mir die Mütze aufkriegen (S2). Ich habe ihn schon mal vor der Tür meiner Analytikerin gesehen, fällt mir ein (S3). Er ist auch Patient bei ihr. Er ist hier im Zimmer und formuliert am laufenden Band Ansprüche. Alles soll so laufen, wie er das haben will. Sie ärgern sich, dass Sie diese Wünsche erfüllen müssen. Ich denke mir: ›Jetzt nimm es doch ein bisschen lockerer‹ (/C.P./).«

Labortraum 3: T2 (zweites Behandlungsjahr) »Ein Formel-1-Rennen mit Michael Schumacher (S1). Er fliegt direkt nach dem Rennen nach Deutschland, um eine Brücke zu eröffnen (S2). Total bescheuert (/C.P./). Er ist in Deutschland und eröffnet seine Brücke (S3). Er spricht mit ein paar Leuten an einem Tisch. Ich sitze am Tisch neben dran und beobachte ihn und die anderen im Gespräch (S4). Wie komm ich denn auf so was? (/C.P./).«

Labortraum 4: T2 (zweites Behandlungsjahr) »Ich bin mit meinem kleinen Sohn unterwegs. Andere Kinder und Erwachsene sind dabei. Ein Junge ist dabei, der etwas gegen meinen Sohn hat. Es ist Sommer. Es ist warm (S1). Wir wollen einen Wagen oder Anhänger kaufen (S2). Wir laufen am Rhein entlang (S1). Die Kinder sind unterschiedlich alt. Ein Junge ist schon 11 oder 12 Jahre alt. Dieser Junge ist genervt, dass die anderen Kinder und auch mein Sohn so jung sind und er nicht machen kann, was er will, weil die anderen zu klein dafür sind (S3). Dann taucht meine Mutter auf. Sie näht einen Knopf an mein Hemd (S4). Ich weiß nicht, wie sie da rein passt (INTERRUPT). Ich sage: ›Jetzt lass doch endlich mal diesen blöden Knopf in Ruhe.‹ Das nervt mich (S5). Ich bin dabei, um alles zu beaufsichtigen. Eine Frau ist auch da, sie ist die Mutter dieses Jungen (S1).«

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Datenanalyse Die funktionalen Daten werden mit der SPM 8-Software von Wellcome Department of Cognitive Neurology, London, unter Matlab 12b (Mathworks Inc., Sherborn, MA) analysiert. Alle Bilder werden nach Standardprozedur vorverarbeitet (Bewegungskorrektur, Schnittzeitkorrektur), normalisiert im Standardraum (MNI Template, Montreal Neurological Institute) und geglättet mit einem 8-mm full-width-at-half-maximum Gauss’schen Kernel. Für das Traumexperiment wird ein Within-Subject Model (first level) berechnet mit sechs Bedingungen (Traum richtig–falsch, Neutral richtig–falsch, Distraktor richtig–falsch) und drei Messungen (T1, T2, T3). Falsche Reaktionen werden nicht berücksichtigt, die Kontrastbilder Traum > Neutral zu T1, T2 und T3 gehen in eine second level-Analyse ein, um den zeitlichen Effekt zu prüfen (zu weiteren Details; vgl. Fischmann, Russ u. Leuzinger-Bohleber, 2013).

Psychoanalytisch-klinische Analyse der Traumberichte In der psychoanalytischen Sitzung berichtete Träume wurden über die Technik der freien Assoziation analysiert (vgl. Leuzinger-Bohleber, 2012, 2015).

Traumkodierung nach Moser und von Zeppelin: »Zurich Dream Process Coding System« Die Traumkodierungsmethode von Moser und von Zeppelin (1996) fußt auf einem Modell kognitiver Affektregulation, das formale Kriterien verwendet, um manifeste Trauminhalte und seine sich verändernden Strukturen zu untersuchen (für eine detaillierte Beschreibung siehe auch Fischmann et al., 2012a). Für Illustrationen in diesem Beitrag ist es ausreichend zu erläutern, dass die Regulationsprozesse der Traumorganisation nach Moser und von Zeppelin (1996) auf folgenden Mechanismen basieren: 1. dem Positionieren von Elementen in die Traumwelt, 2. der Überwachung der Traumaktivität (Monitoring),

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3. einem Arbeitsgedächtnis, das affektive Feedback-Information für jede Traumsituation und deren Konsequenzen enthält, sowie 4. Regulationsprozeduren, die verantwortlich für Veränderungen sind. Formale Kriterien und Strukturen eines Traumes sind die Anzahl von Situationen in einem Traum, die Art der Plätze und der sozialen Situationen, die in einem Traum genannt werden (Beschreibungen, Attribute), Objekte, die auftauchen (Beschreibungen, Attribute), Platzierungen, Bewegungen, ferner Interaktionen zwischen Objekten sowie die Frage, ob der Träumer selbst in diesen Interaktionen involviert ist oder ob er als Beobachter ausgeschlossen bleibt. Wie schon erwähnt, wird angenommen, dass zwei Prinzipien die Affektregulation bestimmen: (1) das Sicherheits-Prinzip und (2) das Involvement-Prinzip. Das Erstere wird ersichtlich durch »Positionierung von Elementen«, während das Letztere sich durch »Interaktionen« offenbart. Beiden Prinzipien gemein ist die Regulierung sowohl positiver als auch negativer Affekte, das heißt, Angst ist der Motor für eine Erweiterung von Sicherheit, aber auch für Involvement, indem zum Beispiel Interaktionen unterbrochen und neue Situationen generiert werden. Problemlösen kann somit vermutlich nur in Interaktionen stattfinden und erprobt werden.. Es wird angenommen, dass je mehr Elemente in einer Traumsituation verwendet werden (im PF), desto mehr Möglichkeiten dem Träumer zur Verfügung stehen, seine Affekte zu regulieren und den Inhalt des Traumes zu prozessieren. Kommen im Traumgeschehen keine Interaktionen zum Vorschein, wird er vom Sicherheitsprinzip dominiert.

Ergebnisse Die Einzelfallanalyse der fMRT-Daten des Traumexperiments von Herrn P. ergab Folgendes: Im Vergleich der Bedingung (Traumwörter vs. neutrale Wörter) über die ersten beiden Messzeitpunkte hinweg (T1 vs. T2) zeigten sich signifikante Aktivierungsunterschiede im Bereich des Precuneus, des präfrontalen Kortex und

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des Parietallappens. Aktivierungen in diesen Arealen, die mit emotionalen Prozessen bezüglich der eigenen Person assoziiert werden (z. B. dem Erleben der Autonomie des Selbst), waren zum Zeitpunkt T2 signifikant weniger ausgeprägt. Ebenso zeigte sich zum Zeitpunkt T2 eine geringere Aktivierung in einem Bereich des medialen präfrontalen Kortex, der sowohl mit online-Regulierung von Konflikten in der Informationsregulation in Verbindung gebracht (Botvinick, Cohen u. Carter, 2004) als auch mit regulativen Kontrollfunktionen von affektiven Signalen assoziiert wurde (Critchley, 2003; Matsumoto, Suzuki u. Tanaka, 2003; Posner u. DiGirolamo, 1998; Roelofs, van Turennout u. Coles, 2006; Stuphorn u. Schall, 2006; siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: T-Kontrast Traumwörter > neutrale Wörter. Einzelfallanalyse.

Psychoanalytische Traumevaluation Der erste Traum, der im psychoanalytischen Setting berichtet wurde, ist ein typischer Traum einer schwer traumatisierten Person, in dem der Patient sich selbst in eine beobachtende Position begibt. Das Traumsubjekt befindet sich in einer extremen, lebensbedrohlichen Situation: völlig hilflos, und gezeichnet von unaushaltbarem Schmerz – keiner kommt ihm zu Hilfe. Im zweiten klinischen Traum (im zweiten Behandlungsjahr) ist der Patient aktiver in den Traum involviert. Trotz der Tatsache, dass sein Traumselbst weiterhin eine Situation beobachtet, hat er doch schon die Hoffnung, dass »etwas getan werden kann«, um die beobachtete hoffnungslose Situation zu bewältigen.

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Traumkodierung nach dem »Zurich Dream Process Coding System« Der Labortraum 1 (T1) wird zunächst in seine Elemente (Situationen) unterteilt und anhand dreier Felder, dem Positionsfeld (PF), dem Feld der Trajektorien (LTM) und dem Interaktionsfeld (IAF), unterteilt und kodiert. Die Kodierung führt zu folgender Interpretation: Tabelle 3: Moser coding sheet of laboratory dream 1 (T1)

Sit.

PF

S1

SP   PLACE (Talsperre) CEU1 (Brücke) CEU2 (Berge) ATTR (steil)

LTM

 

IAF

S2

SP PLACE (Hang) CEU3 (Haus)

LTM  CEU2 1 ATTR

 

/C.P./

 

 

 

S3

SP CEU3 ATTR (zurutschen/rasen)

 

IR.C

SP CEU1

 

IR.S

/C.P./ S4

Die erste Situation des Traumes (S1) ist geprägt vom Sicherheitsprinzip – viele kognitive Elemente werden einfach nur platziert. Aber sie birgt auch eine Vielfalt an Beteiligungspotenzial (Involvement), da für die platzierten Elemente viele Attribute benannt werden. In der zweiten Situation (S2) wird ein erster Versuch unternommen, dieses Potenzial zu nutzen – allerdings noch sehr begrenzt (LTM) –, und gleichzeitig wird das Potenzial gesteigert, indem weitere Attribute hinzugefügt werden. Infolgedessen steigert sich die Affektivität derart, dass die Traumszene durch einen Kommentar unterbrochen werden muss (INTERRUPT: /C.P./). In der dritten Situation (S3) gelingt dem Träumer dann eine »geglückte« Interaktion zwischen

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einem bedrohlichen kognitiven Element (CEU3 [Haus]) und sich selbst (SP). Zunächst führt dies zu einer weiteren Unterbrechung. Der Träumer ist erstaunt über seine eigenen Fähigkeiten, und endlich gelingt eine kathartische, selbstverändernde Interaktion: Er ist in Sicherheit. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Patient eine bedrohliche Situation beschreibt, die zunächst durch ein Bestreben nach Sicherheit bestimmt ist. Die relativ komplexe Beschreibung der ersten Szene birgt Potenzial, das der Träumer auch voll ausnutzt, um seine ihn bedrohenden Affekte zu regulieren. Der Wunsch, sich selbst in Sicherheit zu bringen, wird in diesem Traum erfüllt. Es handelt sich hier offensichtlich um einen »Labortraum«. Der Patient nimmt die Untersuchungssituation zum Anlass, um seine Ängste davor, »zu anspruchsvoll« zu sein, zu regulieren. Er projiziert dies in einen Objekt-Prozessor (OP) und wird so selbst zum Beobachter. Damit gelingt es ihm, sich zu distanzieren, was ihm wiederum die Möglichkeit gibt, das Geschehen detailliert nachzuvollziehen. In der ersten Situation (S1) sind schon viele Potenzialitäten zur Affektregulierung gegeben, welche allerdings zunächst noch vom Sicherheitsprinzip bestimmt werden. Sie enthält ein soziales Setting (SOC SET), mehrere Attribute (ATTR) sowie verschiedene Prozessoren, die zur Handlung einladen. Durch Platzierung eines weiteren Patienten (OP2) in die Traumszene eröffnet sich der Träumer (Subjektprozessor SP) die Möglichkeit, eine Beobachterposition einzunehmen, was in S2 zunächst zu einer Bewegung (Trajektorie LTM) der Forschergruppe (OP1 (G)) führt. Es ist unklar, ob S3 tatsächlich als weitere Traumsituation gewertet werden darf oder ob es sich hierbei nicht um eine Unterbrechung mit einem kognitiven Prozess (/C.P./) handelt. In jedem Fall ist sie vom Sicherheitsprinzip reguliert. Das Potenzial aus der zweiten Situation in Form einer Trajektorie (LTM) kann nicht in die dritte Situation hinübergerettet werden. In S4 gelingt es dann endlich – es kommt zu einer Interaktion, nur um in einer weiteren Unterbrechung zu münden (/C.P./). Die Affektivität der Situation hat sich derart gesteigert, dass sie unterbrochen werden muss: Der Träumer ermahnt den Objektprozessor (OP2) oder vielmehr sich selbst zu mehr »Gelassenheit«.

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Auch in Labortraum 3 (T2) ist der Träumer Beobachter. Im Gegensatz zum vorherigen Traum gelingt es dem Träumer (SP), eine verbindende Interaktionsrelation zwischen zwei kognitiven Elementen (CE) herzustellen. Diese wird nicht unterbrochen, sondern führt nahtlos zu einer Verschiebungsrelation. Zwar ist auch dies eine Distanzierung vom affektiven Geschehen, aber nicht so ausgeprägt, wie noch im vorherigen Traum. Das Involvement-Prinzip scheint hier ausgeprägter, als noch zuvor zu greifen. Die am Ende erfolgende Unterbrechung ist keine Ermahnung wie noch zuvor, sondern bringt seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, was ihn beschäftigt. Dies – so kann vermutet werden – ist eine (­bewusste) Annäherung an den dahinterliegenden Komplex. Labortraum 4 (T2) ist von Beginn an vom Involvement-Prinzip reguliert, was auf einen fortschreitenden therapeutischen Effekt schließen lässt. In allen darauffolgenden Situationen tauchen Interaktionen auf: sowohl konnektionistische (verbindende) als auch selbstverändernde Relationen von Prozessoren. Der Träumer (SP) selbst ist involviert und muss sich nicht mehr auf die Beobachterposition zurückziehen (kein IR.D) – er stellt sich den Affekten zunehmend. Nachdem die vierte Situation (S4) eine Unterbrechung auslöst, kann sich der Träumer (SP) interaktiv mit einer verbalen Relation (V.R.) »wehren«. Es gelingt dem Träumer zunehmend, sich mit den im Traumkomplex enthaltenen Affekten interaktiv auseinanderzusetzen und sie in Traumsituationen einzubinden. Die Affekte sind nicht mehr isoliert – was auf eine Einbindung der isolierten Affekte des Traumkomplexes schließen lässt. Zusammenfassend zeigt die Analyse der Traumberichte, dass die Laborträume aus dem ersten Therapiejahr noch voller Ängste und Verlangen nach Sicherheit sind, die ihn davon abhalten, sich auf andere einzulassen. Nichtsdestotrotz lassen sich Potenziale aufzeigen, die man als Ergebnis eines beginnenden gelingenden therapeutischen Prozesses werten kann, so zum Beispiel die Zeichen der Fähigkeit zur Teilhabe immer dort, wo er seine Ängste auf andere projiziert und gleichsam ausprobiert, ob er die aufkommenden Ängste aushalten kann, während er in der Beobachterposition bleibt. Letztendlich überwiegen jedoch die Ängste davor, sich zu engagieren, sich am Geschehen zu beteiligen. Im zweiten Jahr der Psychoanalyse, wie der zweite Traum wiederum exemplarisch zeigt,

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werden seine gesteigerten Fähigkeiten immer deutlicher (das Involvement-Prinzip dominiert); so tauchen reichlich Interaktionen mit anderen auf, was auf seine gesteigerten Fähigkeiten verweist, sich seinen Affekten zu stellen. Aufkommende Affekte machen zwar zunächst noch eine Unterbrechung des Traumes nötig, werden aber anschließend mit einer Traumszene ganz neuer Qualität fortgesetzt: Er wehrt die aufkommenden Ängste mit einer aggressiven Reaktion (verbale Relation in S5 Labortraum 4) ab, was auf eine progressive Annäherung an den dahinterliegenden (unbewussten) konfliktbeladenen Traumkomplex verweist. Affekte werden nicht mehr isoliert, sondern mehr und mehr in bestehende GedächtnisNetzwerke integriert. Folgende Grafik (Abbildung 3) soll dabei helfen, die genannten Ergebnisse aus empirisch experimentellerer Perspektive zu illustrieren.

Abbildung 3: Relative Häufigkeit einzelner Kodierungen, gemessen an der durchschnittlichen Wortzahl

Es ist eine klar erkennbare Steigerung an Potenzial (PF) von T1 zu T2 zu vermerken, die für eine Interaktion (IAF) genutzt werden kann. Die gesteigerte Fähigkeit zum Involvement kann anhand der manifesten Träume sichtbar gemacht werden.

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Diskussion Anhand der Analyse der manifesten Traumberichte aus Herrn P.s Traumserien aus dem Schlaflabor, konnten wir mithilfe einer empirisch validierten Methode (Döll-Hentschker, 2008) klinisch relevante Fortschritte ermitteln. Diese korrespondieren mit den Veränderungen der Träume aus dem psychoanalytischen Setting, wie von Leuzinger-Bohleber (2012) diskutiert. Angewandt wurde hierbei eine spezifische Methode, das »Zurich Dream Process Coding System« (siehe auch Döll-Hentschker, 2008, Leuzinger-Bohleber 1987, 1989, S. 324), die vorwiegend auf dem Gedächtnis- und Affektregulierungsmodell von Ulrich Moser (z. B. Moser u. von Zeppelin, 1996) beruht. Der Vergleich der klinischen Träume vom Beginn der Psychoanalyse, mit jenen aus dem dritten Jahr macht Veränderungen in Beziehungsmustern deutlich. Das Traumsubjekt hat bessere Beziehungen mit Anderen (z. B. das helfende Paar im letzten Traumbericht). In den ersten Träumen war der Träumer meist allein, niemand half ihm, seine Ängste, Panik und Verzweiflung zu ertragen. Der Aktionsraum des Träumers erweitert sich und das emotionale Spektrum wird größer. In den Träumen vom Beginn der Analyse finden wir häufig nur Panik – im dritten Jahr beobachten wir Überraschung, Freude, Befriedigung, Humor, aber auch Angst und Schmerz. Mit der zunehmenden Vielfalt und Intensität der Affekte und der Abnahme der manifesten Angst verändert sich auch die Traumatmosphäre beachtlich. Die wachsende Fähigkeit des Träumers, verschiedene und sogar widersprüchliche Emotionen wahrzunehmen, wird immer deutlicher. Neue Gefühle von Ärger und Wut, aber auch positive wie Zuneigung, Zärtlichkeit und sexuelle Anziehung tauchen zum Ende des zweiten Behandlungsjahres auf. Das Traumsubjekt ist nicht mehr ein (distanzierter) Beobachter, sondern nimmt aktiv teil und ist in intensiven emotionalen Interaktionen mit anderen involviert. Darüber hinaus weisen die Träume im dritten Jahr der Analyse deutlichere Problemlösungsstrategien (mehr erfolgreiche als nichterfolgreiche Problemlösungen) und ein breiteres Spektrum von Problemlösungsstrategien auf. Das Traumsubjekt ist nicht mehr überflutet, wie es für traumatische Situationen typisch ist, in denen der Träumer extreme Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit erlebt.

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In seinen Träumen erlebt Herr P. hilfreiche Objekte, die bereit sind, ihn zu unterstützen. Dies ist ein sehr wichtiger Indikator für die veränderte innere Objektwelt des extrem traumatisierten Patienten (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, 2012, 2015). Die Übereinstimmung der klinischen und extra-klinischen Analysen sind eindrücklich; dies ist vor allem aus wissenschaftlicher Perspektive höchst relevant. Nichtsdestotrotz bietet der klinische Fallbericht ausführlichere klinische und strukturelle Information von größerer psychodynamischer Relevanz, als die extra-klinische Analyse mit dem Inhalt des manifesten Traumes bereitstellt. Auch weitere biografische Information, die der extra-klinische Ansatz nicht erhebt, trägt zur Verbesserung der Ergebnisse bei. Auf der anderen Seite unterstreicht die gefundene Konsistenz in den Ergebnissen die Reliabilität klinischer Fallstudien, was wiederum die Methode klinischer Falldarstellungen untermauert. Die fMRT-Ergebnisse bezüglich der Veränderung in Aktivierungsmustern bei Konfrontation mit konfliktbezogenem Material (Traumwörter) geben Hinweise auf die in die Verarbeitung solcher Reize involvierten Gehirnstrukturen. Die hier dargestellten Ergebnisse des betrachteten Einzelfalles weisen, wenn der Konflikt noch akut ist, auf eine Involvierung des Precuneus und des linken Parietallappens hin. Die klinisch erhobenen Veränderungen könnten in Zusammenhang mit diesen neurobiologischen »Resonanzen« stehen und sie somit auf anderer Ebene validieren. Diese Annahme wird auch vom Ergebnis unterstützt, dass die stärkere Aktivierung des medialen präfrontalen Kortex in der Bedingung »Traumwörter« nach einem Jahr therapeutischer Intervention nicht mehr zu finden ist – eine Struktur, die mit konfliktiver Informationsverarbeitung sowie der Kontrolle von affektiven Reizen assoziiert wird.

Abschließende Bemerkungen Illustriert wurden die Unterschiede in der klinischen Arbeit mit dem Traum als einem Indikator für Veränderungen der inneren (traumatischen) Objektwelt in Psychoanalysen sowie die systematische, wissenschaftliche Untersuchung von Laborträumen, anhand

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des sogenannten »Zurich Dream Process Coding Systems« (kurz ZDPCS, Moser u. von Zeppelin, 1996). Zeitlich parallele Veränderungen waren zudem anhand neurobiologischer Marker sichtbar. Diese konsistenten Ergebnisse bieten einen eindrücklichen Beleg dafür, wie sehr die Evaluation psychoanalytischer Behandlungen auf der Basis empirischer, klinischer und neurobiologischer Methoden bereichert werden kann. Im klinischen Fallbericht lag der Fokus darauf, die Relevanz des psychoanalytischen Kontextes von Träumen zu verdeutlichen sowie der Beobachtung von Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen, die Assoziationen des Patienten bzw. des Analysanden usw., die zum Verständnis des latenten Trauminhaltes beitragen (Leuzinger-Bohleber, 2012). Ein großer Vorteil klinisch psychoanalytischer »Traumforschung« ist weiterhin das Verständnis des Traumes in Zusammenarbeit mit den Träumenden, den Patienten/ Patientinnen. Seine bzw. ihre Assoziationen, bewusste und unbewusste Reaktionen auf eine angebotene Deutung sind weiterhin die Kriterien, die zur Entdeckung der »wahren« Interpretation führen (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber, 1987, 1989, 2008). Kurz: Die Transformation der unbewussten Welt (wie in Träumen) – sowie deren »Produkte«, wie zum Beispiel maladaptive Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen (»Symptome«) der Patienten und Patientinnen – bleibt nach wie vor das finale psychoanalytische Kriterium für einen therapeutischen Erfolg basierend auf den »wahren Einsichten« der Patienten/ Patientinnen in ihr unbewusstes Funktionieren. Auf der anderen Seite bleibt diese Art der Wahrheit oftmals »unscharf« und subjektiv, zumindest in den Augen der nichtpsychoanalytischen Forschungscommunity. Aus diesem Grund haben wir die einzigartige Möglichkeit ergriffen, Veränderungen im manifesten Traum – erhoben in der Laborsituation – anhand einer theoriegeleiteten, präzisen und systematischen Methode (ZDPCS) sowie paralleler neurobiologischer Methoden zu untersuchen. Diese Analysen weisen eine hohe Reliabilität auf und tragen hoffentlich dazu bei, kritische unabhängige Beobachterinnen und Beobachter zu überzeugen.

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Robert M. Galatzer-Levy

Abschließende Bemerkungen und Ausblick auf den Brückenschlag zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften Eine wissenschaftliche Konferenz im Jahre 2014 legte den Grundstein zur vorliegenden, gleichnamigen Publikation »Das Unbewusste. Eine Brücke zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften«. Es war damals eine dieser seltenen Konferenzen, die ihrem Titel gerecht wurden. Und so tut es auch dieses Buch. Nicht nur sind die einzelnen Beiträge von außerordentlicher Qualität. Genauso ist das Gefühl der Aufregung einer Gruppe von Kolleginnen und Kollegen, die sich zu einer gemeinsamen Unternehmung aufmachen, welche in den zwei Tagen der Konferenz spürbar war, auch in diesem Buch erhalten geblieben. Die Relektüre erweckte starke persönliche, intellektuelle und emotionale Reaktionen in mir. Meine abschließenden Bemerkungen versuchen also weniger die einzelnen Beiträge zusammenzufassen oder zu kritisieren, sie sollen vielmehr beschreiben, was diese in mir auslösten. Im Folgenden habe ich ebendiese spontanen Reaktionen beizubehalten versucht, der geneigten Leserschaft aber gleichzeitig genügend wissenschaftliches Rüstzeug beigegeben, um eventuell unvertraute Vorstellungen zu unterfüttern und ein tieferes Verständnis zu fördern. Zwischen 1896 und 1905 publizierte Freud eine Reihe eindrucksvoller Studien, die eindeutig zeigten, dass mentale Prozesse, die aktiv vom Bewusstsein ausgeschlossen wurden, in Symptomen, Träumen und Fehlleistungen wie zum Beispiel Fehler in der Erinnerung, in Witzen und in der Kreativität, hervortreten können (Freud, 1896/1962; Freud, 1900/1953; Freud, 1901/1960; Freud, 1905a/1953; Freud, 1905b/1960). Er beschrieb diese unbewussten mentalen Vorgänge ausführlich und zeigte die zentralen Unterschiede zum Bewusstsein auf. Damit legte er den Grundstein für die Psychoanalyse. In seinen frühen Schriften war Freud bestrebt seine psychologischen Entdeckungen mit der sich rasch ausbreitenden Neurologie in Einklang zu bringen (Freud, 1891/1953; Freud, 1895/1966). Ein

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Bestreben, von dem er sich explizit im siebten Kapitel der »Traumdeutung« zugunsten einer rein psychologischen Theorie verabschiedete. Nichtsdestotrotz beeinflusste Freuds neurologisches Denken seine Metapsychologie (Pribram u. Gill, 1976), wie auch die Biologie generell seine weitere theoretische Arbeit prägte (Sulloway, 1979). Es war jedoch auch genau diese Zeit, in der Freud seine Studien zum Unbewussten begonnen hatte, in der ihm klar wurde, dass eine Erklärung dieser Phänomene die Möglichkeiten und Begrifflichkeiten der Neurologie seiner Zeit übersteigen sollte. Er entschied sich folglich für eine rein psychologische Theorie, die die Basis unbewusster Phänomene im Reich der Motive und Bedeutungen suchte. In den folgenden 110 Jahren wurden Freuds Theorien in vielfältiger und teilweise sich widersprechender Weise unter anderem um Betrachtungen in Bezug auf Kunst oder gesellschaftliche Strukturen erweitert und variiert. Anlass dazu war der Versuch, die sich ständig verändernde Bandbreite der Motive und Bedeutungen menschlicher Psychologie zu erfassen. Freuds Denken über die unbewussten mentalen Vorgänge scheinen ihren Anfang in der Annahme genommen zu haben, dass mentale Prozesse sich, den Regeln der Logik folgend, der Rationalität gewissermaßen annähern und die Unterscheidung zwischen Zeichen und Bedeutung damit rigoros aufrechterhalten. Implizit sah Freud das nichtrationale Denken als defizitär, primitiv oder infantil. Er zeigte wenig Toleranz, geschweige denn Wertschätzung, gegenüber romantischen Einstellungen und jegliches Anzeichen dafür in ihm selbst oder anderen war ihm Anlass für polemische Kritik.1 Das rationale Treffen von Entscheidungen bedarf spezifischer Ziele. Angesichts Freuds medizinischer Prägung ist es nicht überraschend, dass er das körperliche Wohlergehen und den reproduktiven Erfolg als natürlichen Maßstab des Erfolgs mentaler Prozesse ansah. Seine 1 Freuds Haltung dem Romantizismus gegenüber ist eigentlich komplexer. Er zieht oft die Romantik und andere nichtwissenschaftliche Quellen zum Verständnis des nichtlogischen Denkens heran. Als Beispiel kann die Beschreibung des konkreten Denkens mancher Patienten in der erotischen Übertragung dienen, in der er schreibt: »Sie sind einzig der Logik der Suppe zugänglich, in der die Argumente die Knödel ausmachen« (Freud, 1915/1958, S. 168). Andernfalls zitiert er den romantischen Literat Heine, um die Lebendigkeit der mentalen Prozesse zu beschreiben.

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Erkenntnis, dass gesellschaftliche Bedingungen maßgeblich solchem Wohlergehen zugrunde liegen, führte zu einer Theorie, die das Individuum im dauerhaften Konflikt zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und Lustgewinn bzw. körperlichem Wohlergehen gefangen sah (Freud, 1930/1961). Nahezu jedes spätere psychoanalytische Denken setzte diese Grundzüge Freuds über die nicht­rationalen mentalen Vorgänge fort. Zunächst bezogen auf solche, die nahezu komplett vom Bewusstsein ausgeschlossen sind, später bezogen auf Vorgänge (wie in der Spaltung oder in der Verneinung), die zwar bewusste Inhalte aufweisen, jedoch durch das Abhalten der Interaktion dieser bewussten Elemente keine Konsequenzen nach sich ziehen. In diesem Jahrhundert also, in dem Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker die Früchte Freuds durch weiterführende Studien der von ihm entdeckten Prozesse ernteten, stieß auch die Forschung in anderen Disziplinen auf vergleichbare Probleme. Und auch sie entwickelte Konzepte, die die Grenzen des Bewusstseins zumindest streiften. Als erstes Beispiel für eine vergleichbare Entwicklung können die Prozesse in Rechenmaschinen dienen, die vormals als gänzlich verstandesmäßig angesehen wurden. Freuds Zeitgenosse Gottlob Frege erkannte, dass alle logischen Prozesse auf eine Sequenz von Symbolen, wie die der Arithmetik, heruntergebrochen werden können. Wobei die Regeln für die Veränderung dieser Symbolreihen, dasjenige konstituieren, was wir Logik nennen (Frege, 1893). Logik, wie die Arithmetik, könne demnach auf eine Sammlung von Verfahrensregeln für die Symbole reduziert werden. Alan Turings erst rein konzeptuelle Idee, dass eine solche Logik in einen rein mechanischen Apparat implementiert werden könne, sollte später auch in die Praxis umsetzbar werden (Hodges, 1983). Trotz der Versuche, die Bedeutung dieser Entwicklung zu schmälern – wie die Rechenmaschinen als »rein mechanisch« zu diskreditieren –, wurden immer mehr Aufgaben, die bisher allein dem Menschen vorbehalten blieben, maschinell durchführbar. Mit der immer größeren Anzahl ähnlicher Rechentheorien, wuchs auch die Überzeugung der Berechenbarkeit der menschlichen Hirnfunktion anhand solcher Konzepte und Praktiken (Dietrich, Fodor, Zucker, u. Bruckner, 2009). So wurde es klar, dass das einstmals so hohe Ziel der Rationalität

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sogar besser durch die Rechenmaschine als den Menschen erfüllbar schien. Eine weitere narzistische Kränkung, die etliche akademische Kontroversen und Science-Fiction-Diskurse befeuerte. Durch den Fortschritt in der maschinellen Rechenleistung eröffneten sich neue Möglichkeiten. Möglichkeiten, auch die Frage der menschlichen Existenz neu zu beantworten, die Kierkegaard (Kierkegaard, 1997) und anderen zufolge jenseits der Grenzen der Rationalität – damit implizit aber auch jenseits rein rational operierender Maschinen – lägen. Die meisten Computer, als integraler Bestandteil der Hochtechnologie des 20. Jahrhunderts, sind programmiert, Informationen rein logisch, anhand von Methoden, die vorhersagbare Resultate erzielen, zu verarbeiten. Die Apparate sind so eingerichtet, um sicher zu gehen, dass eine Rakete, die auf dem Mond landet, ihre rechnerischen Ressourcen nicht auf ästhetische, mythologische oder gar existenzielle Fragen verschwendet, wie das der Mensch tut. Somit operierten Computer bis vor kurzem fast ausschließlich mit einem klaren Set von Sequenzen und waren darauf programmiert, die durch das Verlassen dieser spezifischen Organisation auftretenden Komplexitäten zu vermeiden. Gleichzeitig sind es gerade diese Komplexität und das Misslingen einer allzu geradlinigen, scheinbaren Rationalität, in denen Informationen parallel und teilweise verschlungen prozessiert werden und dadurch das Auftreten überraschend neuartiger Ideen und Gefühle ermöglicht wird. Solche wirklich überraschenden Momente, die nicht aus den bereits bestehenden Elementen in einfachen Rechenschritten vorhersagbar waren, stellen unsere bedeutendsten psychologischen Erfahrungen dar. Stellen Sie sich zuerst Ödipus als einfache Rechenmaschine vor, die mit dem Dilemma konfrontiert ist: »Ich begehre meine Mutter, fürchte aber die Kastration durch meinen Vater.« Begehren und Furcht sind in der Computerwelt durch numerische Werte leicht abzubilden, während die Entscheidung sich aus der Summe dieser Werte ergibt. Übertrifft die Summe einen vorher festgelegten kritischen Wert, wird Ödipus versuchen sich seiner Mutter sexuell anzunähern, andernfalls versagt er es sich. Ein zweiter, komplexerer Ödipus sieht sich dem gleichen Dilemma gegenüber. Er muss sich zur gleichen Zeit aber mit vielen weiteren Rechenschritten abmühen, so ob die Wörter »Mama«, »Madonna« und »Marilyn« äqui-

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valent sind, was aus der Viehherde werden soll, auf die er und seine sieben Geschwister einen Besitzanspruch haben, und so weiter und so fort. Die Programmiererin des komplexen Ödipus, welche Evolution genannt werden kann, lernte schon vor langer Zeit ein Prinzip kennen, das erst später von Computerwissenschaftlern entdeckt und »NP computability« (Fortnow, 2013) genannt werden sollte. Der komplexe Ödipus sollte also nicht eine einzelne Strategie zur Berechnung des Maximums verfolgen, weil diese sicherlich schnell viel zu viel Zeit benötigen würde. Anstatt dessen sollte er eine große Zahl verschiedener Probleme, gleichzeitig und über ein Netzwerk verbunden, bearbeiten. Infolgedessen erhielt Ödipus keine perfekten Ergebnisse. Er tat Dinge die ungewöhnlich schienen. Er versuchte, was besser funktionierte, mit Madelyn Sex zu haben anstatt mit seiner Mutter. Ab und zu tat er Dinge, die wirklich überraschten und der ganzen Komplexität seiner Rechenschritte entsprachen (Holland, 1998; Galatzer-Levy, 2002). In sehr seltenen Fällen entwickelte er sogar ganz außerordentliche Lösungen – wie die Zivilisation (Freud, 1930/1961). In dem Maße, in dem Computer mit grundsätzlich anderer Architektur – insbesondere auf Basis von Netzwerken paralleler Prozessoren – auf den Plan traten, wurden viele der praktischen Beschränkungen alter Computerdesigns überwunden und die Übernahme vormals ausschließlich den Menschen vorbehaltener Aufgaben in immer größerem Umfang möglich (z. B. Easley u. Kleinberg, 2010). Hierbei denke ich an die Art und Weise, in welcher Netzwerke sich in verschiedener Hinsicht ihres Vorgehens an die Freud’sche Hermeneutik annähern und spätere Entwicklungen wie der französische Strukturalismus nach und nach eine ungefähre Vorstellung von Bedeutungstheorien innerhalb des rechenbetonten Rahmens gaben. Es waren Forschungen, die Modelle aus der Computer- und der Neurowissenschaft integrierten, die vielversprechende Theorien über die Einzelheiten der Informationsverarbeitung im Spannungsfeld von mind und brain hervorbrachten. Zum Beispiel präsentierte Karl Friston in seinem Aufsatz ein ausgeklügeltes Modell, das zeigt, inwiefern die Entscheidungsfindung innerhalb des Nervensystems durch ein mathematisches Wahrscheinlichkeitskonzept, das sogenannte Markov blanket, beschrieben werden kann. Es ist eines der interessanten Beispiele aus dem Feld der computational neurosci-

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ence, das sich der Frage widmet, wie abstrakte Ideen der Computertheorie auf das Nervensystem angewandt werden können. Auch andere Ideen aus der Computerwissenschaft und der Mathematik versprechen, das psychoanalytische Denken, und gerade Bereiche in denen sich Psychoanalyse und Neurowissenschaft überlappen, zu bereichern. Als Beispiel dafür wären Studien aus der Fraktalgeometrie zu nennen, die neues Licht auf Phänomene der selektiven Permeabilität sowie der Grenze zwischen verschiedenen Aspekten mentaler Funktionen und interpersonaler Beziehungen werfen. Während des späten 20. Jahrhunderts wurde die Idee einer rechenbasierten Theorie der Gehirnfunktion praktische Realität. Theorien darüber, wie und wo Gehirnfunktionen arbeiten, entstanden und wurden Tests unterzogen. Auch wenn ich vermute, dass die Tendenz, Gehirnfunktionen in Bezug auf anatomische Strukturen zu konzeptualisieren, welche aus der neurologischen Tradition der Gehirnlokalisation herrührt, sowohl ein dynamisches als auch ein globales Bild der Gehirnfunktion vermissen lässt: Die aktuellen Entwicklungen rücken Freuds verworfenen Traum eines adäquaten, berechenbaren Bildes der Gehirnfunktion, das psychologische Sachverhalte erklären könnte, in greifbare Nähe.2 Während dieser Zeit versuchten rein psychologische Konzeptualisierungen der nichtbewussten mentalen Vorgänge, zum Beispiel in der kognitiven Psychologie, der Sozialpsychologie oder der verhaltenswissenschaftlichen Ökonomielehre, das menschliche Verhalten auf Basis der Informationsverarbeitung außerhalb des Bewusstseins zu erklären. Wäre nicht diese riesige narzisstische Investition, die die Menschen – speziell solche wie wir es sind, die das Denken als ein Mittel verwenden, um mit der Welt fertig zu werden – die 2 Die spektakulären Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte in den bildgebende Verfahren und die daraus resultierenden Verfeinerungen, was die Zusammenhänge von Gehirnanatomie und -funktion angeht, haben die Beschränkungen dieser Methodik verschleiert. Auch aktuelle bildgebende Verfahren können keine Information zur Lokalisation oder Zeit von mentalen Ereignissen geben, auf einem Niveau mentaler Prozesse, dessen Interesse der Psychoanalyse gilt. Gleichzeitig haben diese aufsehenerregenden Entwicklungen die Aufmerksamkeit weg von Versuchen gezogen, die Gehirntätigkeit im Sinne eines dynamischen Systems zu beschreiben. Einem Ansatz, der auf lange Sicht viel besser zum Verständnis komplexer Systeme, wie das Nervensystem eines ist, beitragen.

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Wichtigkeit ihrer bewussten Erfahrung sowie die Kraft und Bedeutung des Verstandes überschätzen ließe, es wäre völlig offenbar, dass das Meiste was Menschen tun, ohne die bewusste Aufmerksamkeit stattfindet. Tatsächlich wäre es doch vollkommen unmöglich jeder Muskelbewegung, jeder Blickänderung oder jedes Zusammenhangs von Gedanken und Phantasien, die uns durch den Kopf gehen, Aufmerksamkeit bzw. Bewusstsein zu schenken. Unser implizites Wissen und gewohnheitsmäßiges Handeln leitet die meisten unserer Aktivitäten. Wie all dies mit dem Freud’schen Unbewussten zusammenhängt, bleibt unklar. Es nimmt jedoch einen viel größeren Teil der Erklärung für die alltäglichen Handlungen ein, als wir ihm intuitiv zugestehen würden. Der Hauptaspekt zwischen dem, was Kahneman (2013) »schnell denken« und »langsam denken« nennt, kann auf die Frage von rechnerischer Effizienz und der für die Entscheidungsfindung verfügbaren Zeit heruntergebrochen werden. Unsere beliebte Theorie der motivierten Vermeidung des Bewusstseins als exklusive Erklärung dafür, warum sich Dinge außerhalb unseres Bewusstseins befinden, muss eine Sichtweise anerkennen, die den evolutionären Wert schnell genug denken zu können, um durchs Leben zu kommen, miteinschließt.3 Sich dem Zusammenhang dieser beiden Formen der Unbewusstheit zu widmen, ist ein drängendes Thema für die klinische Forschung. Bewusstes Denken ist langsam – wahrscheinlich, weil seine Regeln komplexer und die mit ihm assoziierten Netzwerke viel weitläufiger sind als bei nichtbewussten Formen der Mentalfunktionen. Die Erforschung der psychologischen Auswirkungen des Traumas eröffnet wiederum ein weiteres Verständnis der zentralen mentalen Funktionen sowie des Bewusstseins. Zusätzlich zur enormen praktischen Wichtigkeit, ist es auch aus rein wissenschaftlichem Interesse so, dass die Untersuchungen der mit Traumata zusammen3 Die Psychologie der Überschätzung der Vernunft und der Überbewertung bewusster mentaler Prozesse – überaus evident in Freuds Schriften – gilt es weiterer Untersuchung zu unterziehen. Es ist offensichlich als historische Antwort zu verstehen: auf rationalem Denken basierende Entwicklung von Technologien einerseits und dem Terror durch die Macht der Irrationalität in den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts andererseits. Während einige der bestehenden Forschungen sehr interessant sind (Erickson, 2003), gilt es auch hier weiterhin einige ungeklärte Fragen zu beantworten.

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hängenden mentalen Prozesse, etliche Möglichkeiten des Umgangs mit extremem Stress durch die Abänderung der Natur des Bewusstseins selbst, aufzeigen. Phänomene wie Dissoziation, Verleugnung oder Verneinung, denen wir häufig bei Traumata begegnen, erhalten den schmerzlichen Inhalt in einem deskriptiven Sinne für das Bewusstsein, während sie eben jenes, funktionell äquivalent zur Verdrängung, verändern. Beeinflusst durch solche Prozesse werden deren Inhalte abgetrennt in einer Form, die sich normalerweise nicht im Bewusstsein, sondern nur bei unbewussten Vorgängen zeigt. Die Erforschung dieser emotionalen Zustände posttraumatischer mentaler Funktionen, gibt uns somit die Gelegenheit einen Blick durch ein zusätzliches Fenster auf die unbewussten mentalen Vorgänge zu werfen. Diese fünf Entwicklungen – die Ausarbeitung der psychoanalytischen Theorie des Unbewussten, die rasante Entwicklung von Rechenmaschinen und Computern sowie unserem Denken über diese, die immer weitreichenderen Aufschlüsse über Gehirnfunktionen, die fortschreitenden Kenntnisse über nichtbewusste mentale Prozesse sowie die Erforschung des Einflusses von Traumata auf das Bewusstsein – all diese Entwicklungen verlangen nach Überprüfung der Konzepte und Phänomene des Unbewussten. In diesem Buch begegneten wir einem wunderbaren Sammelsurium von Ideen darüber, wo wir uns hinsichtlich des Denkens über die unbewussten Mentalfunktionen befinden und wo diese Entwicklung vielleicht noch hingehen wird. Einer der Punkte, der sich in der Zusammenarbeit unter uns Analytikerinnen und Analytikern und noch verstärkt unter Forscherinnen und Forschern unterschiedlicher Disziplinen gezeigt hat, war die enorme Wichtigkeit und Unumgänglichkeit der Entwicklung eines gemeinsamen Vokabulars. Dieses Vokabular sollte ausreichend eindeutig sein, um unsere teilweise differierenden Sichten uns gegenseitig verständlich machen zu können, ohne aber auch aufgrund unterschiedlicher Begriffsbedeutungen unsere eigentlichen Ideen zu verlieren. Es wäre falsch die motivierte Vermeidung des Bewusstseins und eine potenzielle Angst infolge der Bewusstseinsbegrenzung bei gewohnheitsmäßigen Handlungen – da Bewusstsein an dieser Stelle leistungshinderlich wäre – zu ignorieren. Genauso verkomplizieren die gleichzeitige Verwendung derselben

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Begrifflichkeiten für den Hinweis auf angeborene psychologische Strukturen, wie in manchen psychoanalytischen Theorien postuliert, und schmerzhaften vom Bewusstsein ausgeschlossenen Narrativen, die Sache. Ich denke, es besteht allgemeine Übereinstimmung, dass eine Sprachverwirrung niemandem dient und dass Klarheit in vielmehr als ständige Debatten über Begrifflichkeiten mehr Früchte trägt. Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker würden zum Beispiel gut daran tun, Begriffe wie »das Unbewusste« zu vermeiden, wenn sie über verdrängte Anteile sprechen. Diese Verwendungsweise suggeriert eine, wenn überhaupt einmal, zumindest heute nicht mehr haltbare Sicht, die die Abwesenheit aus dem Bewusstsein aus der Angstabwehr herleitet. Die in diesem Buch beschriebenen Studien gingen dabei weit über Begriffsklärungen hinaus. Manche der hier besprochenen Ideen stellten Freuds Denken regelrecht auf den Kopf. Zum Beispiel wurde Freuds implizite Annahme, dass das Bewusstsein eine Begleiterscheinung der mentalen Prozesse sei, ersetzt. Sie wich der Sichtweise auf das Bewusstsein als ein sehr seltenes und hauptsächlich in heiklen Situationen verwendetes Mittel des »langsamen Denkens« und des vorsichtigen Hypothesentestens über die Umwelt. Da der entscheidende Teil der menschlichen Existenz in der Interaktion mit anderen Menschen besteht, kann auch Freuds Idee, dass der technische Fortschritt auf die Erhaltung einer physiologischen Homöostase gerichtet werden sollte, infrage gestellt werden. Denn die Frage der Erhaltung der sozialen Beziehung scheint demgegenüber das wichtigere und drängendere Problem zu sein. Es ist leider unvermeidbar, dass aufgrund der zeitlichen Begrenzung verschiedenste sehr wichtige Themen nicht weiter Erwähnung finden konnten. Aber ich denke, es gibt ein Thema, welches so zentral und herausfordernd ist, dass es noch angesprochen werden sollte. Es ist die Frage, warum die bewussten mentalen Prozesse eine subjektive Erfahrungsform des Bewusstseins eines Prozesses beinhalten, den wir für Denken halten. Mark Solms Konzept des »Conscious Id«, also des bewussten Es – so wertvoll es auch sein mag –, lässt dieses zentrale Element der subjektiven Dimension des Bewusstseins außer Acht. Das Risiko eingehend dem riesigen und nicht sonderlich gewinnbringenden Berg an Literatur über die subjektive Erfahrung des

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Bewusstseins Weiteres hinzuzufügen, würde ich gerne folgenden Vorschlag machen: Es ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass das subjektive Element des Bewusstseins dadurch entsteht, dass es sich selbst zum Objekt seiner Aufmerksamkeit macht. Der Turing-Test – entwickelt um die Frage zu beantworten, ob künstliche Intelligenz im Sinne einer nichtmenschlichen Entität dieselbe Form der Intelligenz haben kann wie ein Mensch – untersucht, ob ein Befrager, der von der physischen Anwesenheit seines Befragungsobjektes abgeschnitten ist, gewissermaßen zwischen Mensch und Maschine unterscheiden kann (Turing, 1950). Nachdem Computer den Menschen in der Lösung rein kognitiver Probleme, wie das Schachspiel, übertrafen, rückte die Frage des Bewusstseins der Computer ins Blickfeld. Um Fragen wie »Magst du die Farbe Blau?« oder »Wie würdest du gerne deine Zeit verbringen?« zu beantworten, muss der Antwortende nichttriviale Beschreibungen seines eigenen Funktionierens formulieren können bzw. genuin selbst-bewusst sein. Selbst-Bewusstsein mag durch eine Entität, die einen ausreichend großen Datensatz über angemessene Selbstbeschreibungen verfügt, nachgeahmt werden. Was jedoch eine bewusste von einer nichtbewussten Entität in seiner Antwortfähigkeit unterscheiden würde, wäre die Möglichkeit der Selbstbeobachtung. Das suggeriert, dass der Kern des Bewusstseins in Selbstbeobachtung besteht. Diese ist also ein komplexer, reflexiver Prozess, die weitere Phänomene hervorbringen kann. Die Möglichkeit, dass das Bewusstsein eines dieser durch Selbstbeobachtung hervorgebrachten Phänomene ist, wäre eine Untersuchung wert. Trotz all meines Enthusiasmus über die verschiedenen Theorien aus Computer- und Neurowissenschaft sowie der Psychoanalyse, sollten wir, so denke ich, Vorsicht walten lassen über die Frage, inwieweit diese Theorien mit den Phänomenen auf der Beobachtungsebene übereinstimmen. Sind sie haltbar? Ich persönlich mag zum Beispiel sehr die Idee, dass das Bewusstsein ein spezieller Modus ist, um den Zusammenhang von inneren Hypothesen und äußerer Wirklichkeit zu testen. Wie Rudolfo Llinás (2001) vor einiger Zeit zeigen konnte, ist die Fähigkeit der Vorhersage der zentrale evolutionäre Vorteil eines Nervensystems, das äußeren Eindruck und Handlung integrieren kann. Als unsere wurmartigen Vorfahren durch den Schlamm krochen, einzig und allein um durch Nah-

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rungsaufnahme genügend Energie zu erhalten, um weiter kriechen zu können, wurde es essenziell wichtig, dass ihre Vorhersage darüber was sie finden würden, wenn sie vorwärts krochen, möglichst akkurat war. Um gegebenenfalls bei ihrer Suche nach Nahrung und zur Gefahrenvermeidung, die Richtung ändern zu können. Infolgedessen entwickelte sich der kaudale Nervus Plexus weiter, um komplexere Berechnungen durchführen und über spezialisierte Organe Sinnesdaten über die äußere Umwelt einholen zu können. Diese Tatsache, durch vielfache Beobachtung gestützt, zeigt für mich sehr klar, warum das zentrale Nervensystem sich entwickelte, wie es dies tat. Ob Bewusstsein und Phantasie besser als Schritte zur Lösung unmittelbar vorliegender Probleme angesehen werden sollten oder doch anderen Funktionen dienen, bleibt letztlich aber eine offene Frage. Zum Beispiel könnten sie genauso gut der Simulation einer ganzen Bandbreite von potenziellen Problemen in der äußeren Wirklichkeit dienen, in dem Sinne, als dass das Nervensystem dadurch Strategien entwickelt zum Umgang mit Problemen, mit denen es jetzt noch gar nicht konfrontiert ist. Gerade so wie das Gewichtheben die Muskeln stärkt, die wiederum für andere Zwecke zu gebrauchen sind (Doidge, 2007). Zu guter Letzt würde ich gerne das Ausmaß hervorheben, in dem fundamentale mathematische Konzepte, die nicht immer als solche erkannt werden, integraler Bestandteil fast aller Beiträge waren. Hierbei will ich mathematisch im Sinne Bions (Bion, 1962; Bion, 1963; Bion, 1983) verstanden wissen, der erkannte, dass von der Reichhaltigkeit psychologischer Situationen oftmals Elemente abstrahiert werden können, deren formale Veränderung wiederum zu einem tieferen Verständnis des Ursprungsphänomens führen. Da das Gehirn ein komplexes System ist, das eine große Anzahl von Feedback-Schleifen beinhaltet, ist die verwendete Mathematik unvermeidbar nonlinear und zeigt alle Facetten nonlinearer Systeme (als Kompass durch dieses riesige Feld kann Galatzer-Levy, 2009, dienen). Ein Aspekt der Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme betrifft die Frage, welche Vorhersagen aus diesen möglich sind. Für lineare Systeme (oder Systeme, die als solche gehandhabt werden können) sind Vorhersagen in Form genauer Beschreibungen dieses jeweiligen Systems zu einer spezifischen Zeit möglich. Kepler konnte beispielsweise vorhersagen, dass der Mars an dem und dem

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Ort zu der und der Zeit sein würde. Die Genauigkeit dieser Vorhersagen kann als gute Evidenz für die Wahrheit der Hypothesen auf denen sie basieren, angesehen werden. Aufgrund der Natur nonlinearer Systeme sind Vorhersagen über spezielle Quantitäten und Datenpunkte nicht möglich. Die kleinste Veränderung der Ausgangsbedingungen nicht-linearer Systeme führt oftmals zu komplett veränderten Richtungen ihrer Entwicklung. Was anstatt dessen bei nonlinearen Systemen vorhersagbar ist, sind Handlungs- und Bewegungsmuster von Prozessen in Räumen, deren Dimensionen das zu untersuchende Subjekt widerspiegeln (zum Beispiel ist die Psychoanalyse ein Raum, dessen Dimensionen durch die MentalFunktion beschrieben werden können). Vorhersagen für nicht-lineare Systeme sind also vielmehr Muster der Bewegung (oder, wenn Sie so wollen, der Veränderung) als spezifische Angaben der Lage eines Systems zu einem Zeitpunkt, die Attraktoren genannt werden. Wir würden also zum Beispiel vorhersagen, dass ein Individuum obsessiv in einer bestimmten Periode mit Entscheidungsfindungen kämpft, nicht, welchen Inhalt sein Denken zu einer bestimmten Zeit ausmacht. Dies wäre kein Fehler in der Datensammlung über das fragliche Individuum, vielmehr gehört es zu den Eigenheiten nichtlinearer Systeme, dass Vorhersagen über die Details unmöglich sind. Das vorliegende Buch »Das Unbewusste – eine Brücke zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften« sollte ein Forschungsprogramm über die unbewussten mentalen Prozesse initiieren, welches auch die Mitglieder des Forschungskomitees der IPA für überaus aufregend und gewinnbringend halten. Wie es die Programmstruktur schon zeigt, glauben wir, dass für das Thema eine ganze Bandbreite verschiedener, konvergierender Forschungen von der klinischen Psychoanalyse, über bildgebende Verfahren bis hin zu mathematischen Überlegungen unabdingbar ist. Manche Teile des Buchs vermittelten ein weites Spektrum an Forschungsarbeit, während andere uns tief ins Detail führten. Das Hauptziel dabei bestand darin, uns dem potenziell kreativen Durcheinander auszusetzen, das unser heutiges Verständnis der unbewussten mentalen Prozesse darstellt. Zumindest für mich, und ich vermute auch für die Leserschaft, war dieses Buch ein großer Schritt vorwärts in diese Richtung. Übersetzung: Simon Arnold und Jenny Jung

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Freud, S. (1905b/1960). Jokes and their relation to the unconscious. In J. Strachey (Ed.), The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, Vol. VIII (1905): Jokes and their relation to the unconscious. London: The Hogarth Press and the Institute of Psychoanalysis. Freud, S. (1915/1958). Observations on transference-love (Further recommendations on the technique of psychoanalysis III). In J. Strachey (Ed.), The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, Vol. XII (1911–1913): The case of Schreber, Papers on technique and Other works (pp. 158–171). London: The Hogarth Press and the Institute of Psychoanalysis. Freud, S. (1930/1961). Civilization and its discontents. In J. Strachey (Ed.), The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, Vol. XXI (1927–1931): The future of an illusion, Civilization and its discontents, and Other works (pp. 57–146). London: The Hogarth Press and the Institute of Psychoanalysis. Galatzer-Levy, R. (2002). Emergence. Psychoanalytic Inquiry, 22, 708–727. Galatzer-Levy, R. (2009). Finding your way through chaos, fractals and other exotic mathematical objects: A guide for the perplexed. Journal of the American Psychoanalytic Association, 57, 1227–1249. Hodges, A. (1983). Alan Turing: The Enigma. New York: Simon & Schuster. Holland, J. (1998). Emergence: From chaos to order. New York: Perseus. Kahneman, D. (2013). Thinking, fast and slow. New York: Farrar, Straus and Giroux. Kierkegaard, S. (1997). Journals and papers. Charlottesville, VA: InteLex Past Masters. Llinás, R. (2001). I of the vortex: From neurons to self. Cambridge, MA: MIT Press. Pribram, K., Gill, M. (1976). Freud’s »Project« re-assessed. New York: Basic Books. Sulloway, S. (1979). Freud, biologist of the mind: Beyond the psychoanalytic legend. New York: Basic Books. Turing, A. (1950). Computing machinery and intelligence. Mind, 59, 433–460.

Die Autorinnen und Autoren

Simon Arnold hat in Konstanz, Paris und Beer Sheva Psychologie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie studiert und arbeitet am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt a. M. Seine Forschungsinteressen umfassen Fragen der Forensik, hier insbesondere das pathologische Brandstiften, die Geschichte der Psychiatrie, Neurologie und Psychoanalyse sowie die Verbindung von Kritischer Theorie und Psychoanalyse. Werner Bohleber, Jg. 1942, Dr. phil., als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt am Main tätig. Lehranalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) und deren Vorsitzender 2000– 2002. Er ist Mitglied im Board of Representatives der International Psychoanalytical Association (2003–2007) und Ko-Vorsitzender für Europa des IPA Research Advisory Board (2000–2008). Seit 1988 Mitarbeit in der Redaktion der »Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen«, seit 1997 als Herausgeber. 2007 Auszeichnung mit dem Mary S. Sigourney Award. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Theorie und Geschichte der Psychoanalyse; Adoleszenz und Identität; psychoanalytische Erforschung der nationalsozialistischen Vergangenheit; Fremdenhass und Antisemitismus; Traumaforschung; Terrorismus. Letzte Buchpublikationen u nter anderem: Radebold, H., Bohleber, W., Zinnecker, J. (Hrsg.) (2008). Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Weinheim u. München: Juventa. – Bohleber, W. (2012). Was Psychoanalyse heute leistet. Identität und Intersubjektivität, Trauma und Therapie, Gewalt und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta. Tamara Fischmann, Prof. Dr. rer. med., Psychoanalytikerin (DPV/ IPA). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Insti-

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Die Autorinnen und Autoren

tut, Frankfurt a. M. und Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der International Psychoanalytic University, Berlin. Leitende Methodikerin der psychoanalytisch-empirischen Forschung und der Traumforschung. Verschiedene Publikationen zu interdisziplinärer Forschung, unter anderem zu Bioethik, Traumforschung, Attachment-Theorie, ADHS und neurowissenschaftlicher Forschung sowie zu bildgebenden Verfahren. Karl Friston ist theoretischer Neurowissenschaftler und ein Vorreiter, was deren bildgebende Verfahren angeht. Er entwickelte das statistical parametric mapping (SPM), die voxel-based morphometry (VBM) und das dynamic causal modelling (DCM). Friston wurde als Erster mit dem Young Investigators Award (1996) für bildgebende Verfahren ausgezeichnet und zum Fellow an die Academy of Medical Sciences (1999) gewählt. 2003 erhielt er den Minerva Golden Brain Award und war Fellow der Royal Society im Jahre 2006. 2008 erhielt er die Medaille des Collège de France und 2011 ein Ehrendoktorat der University of York. Er wurde 2012 Fellow der Society of Biology, erhielt den Weldon Memorial Prize und 2013 eine Medaille für seine Beiträge zur mathematischen Biologie. 2014 wurde er zum Mitglied der EMBO gewählt.. Theodore J. Gaensbauer, MD, ist niedergelassen in eigener Praxis und Professor für Psychiatrie am University of Colorado Health Sciences Center sowie am Irving Harris Program in Child Development and Infant Mental Health. Er ist Distinguished Fellow der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry und der American Psychiatric Association. Er graduierte am Denver Institute for Psychoanalysis. Zu seinen besonderen Forschungsinteressen gehören die kindliche Emotionsregulation und die Attachement-Theorie sowie der Einfluss von frühen Traumata auf die kindliche Entwicklung, deren Behandlung sowie die damit verbunden Erinnerungen. Robert M. Galatzer-Levy, M.S., M.D. ist Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften an der University of Chicago sowie Mitglied, Lehranalytiker und Supervisor am Chicago Institute for Psychoanalysis. Neben seiner klinischen Praxis, interessiert sich Galatzer-Levy für die Integration der Theorie nonlinearer dynamischer Systeme in die Psychoanalyse sowie das Verhältnis von Recht und Psychiatrie.

Die Autorinnen und Autoren

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Juan Pablo Jiménez ist Professor für Psychiatrie und Direktor des Department of Psychiatry and Mental Health East an der University of Chile (Santiago) sowie Gastdozent am University College London. Er ist Lehranalytiker und Supervisor der Chilean Psychoanalytical Association und hatte weitere wichtige Positionen inne, wie die Präsidentschaft (1995–1998) der Chilean Psychoanalytical Association, er war Delegierter der International Psychoanalytical Association (IPA), Abgeordneter des Rates (1994–1996) und Präsident der Latin-­American Psychoanalytic Federation, FEPAL (2007–2008). Er ist Mitglied im International Research Board and of the Conceptual Integration Committee der IPA. Seine Forschungsinteressen reichen von klinischer Epistemologie bis zur Integration von klinischer Psychoanalyse und empirischer Forschung. Marianne Leuzinger-Bohleber, Prof. Dr. phil., ist Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt a. M. und Professorin für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Sie ist Ordentliches Mitglied der Schweizerischen Psychoanalytischen Gesellschaft und Lehranalytikerin der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Sie hatte den Vorsitz des Forschungskomitees der DPV inne sowie des Komitees für Klinische, Konzeptuelle, Historische und Epistemologische Forschung (2002–2010). Seit 2010 ist sie stellv. Vorsitzende des Forschungskomitees der IPA. Sie ist Mitglied des redaktionellen Beirats verschiedener Zeitschriften und hat zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der klinischen und empirischen Forschung in der Psychoanalyse, der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie sowie zum interdisziplinären Dialog zwischen Psychoanalyse und den Nachbarwissenschaften (Cognitive Science, Neurowissenschaften, Literaturwissenschaften). Weiterhin war und ist sie verantwortlich für mehrere große Forschungsprojekte in den Feldern psychoanalytische Psychotherapieforschung und Frühprävention. Rolf Pfeifer, Prof. Dr., ist Professor für Computerwissenschaften am Institut für Informationstechnologie der Universität Zürich und Direktor des Labors für künstliche Intelligenz. Sein Forschungsinteresse gilt der »embodied artificial intelligence«, der Biorobotik, autonomen Agenten/mobilen Robotern, der Bildungstechnologie,

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Die Autorinnen und Autoren

der künstlichen Evolution und Morphogenese sowie der Emotion. Er ist unter anderem Autor des Werks (mit Ko-Autor: Christian Scheier): Understanding intelligence. MIT Press (1999, PaperbackAusgabe 2000, Japanische Ausgabe 2001 von Kyoritsu Shuppan) und hat über 100 Forschungsberichte veröffentlicht. Michael Russ, Dr. rer. med., ist klinischer Neuropsychologe. Seine Forschungsinteressen umfassen unter anderem kognitive Neurologie und Neuropsychologie und fMRT-Studien. Er ist Gast am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt  a. M. und leitet die fMRT-­ Untersuchungen der LAC-Studie. Dominique Scarfone, PhD, ist Professor der Psychologie und Psychiatrie an der Université de Montréal, wo er psychoanalytische Theorie lehrt, als Supervisor arbeitet und Begriffsforschung betreibt. Er ist Lehr- und Kontrollanalytiker und Mitglied der Canadian Psychoanalytic Society. Bis vor kurzem war er Mitherausgeber des International Journal of Psychoanalysis und Mitglied der Conceptual Integration Project Group der IPA. Seine Publikationen umfassen: Jean Laplanche (Paris, 1997; auf Englisch: Laplanche: An Introduction, New York, 2015); Oublier Freud? Mémoire pour la psychanalyse (Montréal, 1999); Les Pulsions (Paris, 2004); Quartiers aux rues sans nom (Paris, 2012). Außerdem hat Scarfone zusammen mit Howard Levine und Gail Reed Unrepresented States and the Construction of Meaning (London, 2013) herausgegeben. Margerete Schött, Dipl.-Psych., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt a. M. und an der GoetheUniversität Frankfurt a. M. Sie promoviert im Rahmen einer fMRTStudie zum Thema Attachment. Ihre weiteren Forschungsinteressen umfassen die neuronalen Mechanismen des Traums, der Depression und von Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Carlo Semenza, Prof. Dr., ist Professor für Neuropsychologie an der neurowissenschaftlichen Fakultät der Universität von Padua. Er war Direktor der psychologischen Fakultät der Universität von Triest, Gastdozent an der Boston University, Melbourne University, der Universität von Athen und am Basque Centre for Cognition, Brain and

Die Autorinnen und Autoren

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Language in S. Sebastian. Er hat den jährlichen European Workshop on Cognitive Neuropsychology gegründet und organisiert. Er hat etliche Publikationen zu neuropsychologischen Störungen, insbesondere im Feld der Sprache und der mathematischen Kognition sowie zum Verhältnis von Psychoanalyse und Neurowissenschaft. Riccardo Steiner, PhD, ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in London. Er ist Mitglied der British Psychoanalytic Society. Steiner ist Autor einer Vielzahl von Aufsätzen und Büchern zu linguistischen, kulturwissenschaftlichen, soziopolitischen, klinischen und theoretischen Themen der Psychoanalyse. 2001 wurde er dafür mit dem Mary S. Sigourney Award ausgezeichnet. Unter anderem hat er, zusammen mit Pearl King, die The Freud–Klein Controversies herausgebracht, welches 1994 mit dem Preis der American Psychoanalytic Association bedacht wurde, und 1995 von der Pariser Psychoanalytischen Gesellschaft zum »Livre de l’année« nominiert wurde. Mark Solms, Dr. med., Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker, Ehrendozent für Neurochirurgie am London Hospital Medical College (The Royal Hospital London), Facharzt für Neurophysiologie am Anna Freud Center. Er ist Dozent für Psychologie am University College London und Professor für Neuropsychologie an der University of Cape Town und dem Groote Schuur Hospital. Er ist weiterhin Präsident der South African Psychoanalytical Association und hat den Vorsitz für den Forschungsbereich der International Psychoanalytical Association. Er ist 1998 zum Ehrenmitglied der New York Psychoanalytic Society und 2004 zu einem des American College of Psychoanalysis ernannt worden. 2016 wird er Honorary Fellow des American College of Psychiatrists. Er ist bekannt für seine Entdeckung der Traummechanismen im Vorderhirn und seine Integration psychoanalytischer Theorien und Methoden mit denen der Neurowissenschaft. Er gründete im Jahr 2000 die International Neuropsychoanalysis Society und das Journal Neuropsychoanalysis. Er publizierte vielfach in neurowissenschaftlichen und psychoanalytischen Zeitschriften und anderen Publikationen wie dem Scientific American. Er veröffentlichte mehr als 250 Artikel, Buchkapitel und fünf Bücher. Sein zweites Buch The Neuropsychology of Dreams (1997), wurde zum Standardwerk des Gebiets. Mit Oliver Turnbull

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Die Autorinnen und Autoren

schrieb er den Bestseller The Brain and the Inner World (2002), der in 12 Sprachen übersetzt wurde. Er ist Herausgeber und Übersetzer der demnächst erscheinenden Complete Neuroscientific Works of Sigmund Freud und Exekutivherausgeber der Revised Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud. Sverre Varvin, MD, PhD, ist Lehranalytiker und Supervisor der Norwegischen Psychoanalytischen Gesellschaft und hat eine Professur in Oslo und am Akershus University College. Er hatte verschiedene Positionen in der IPA inne (z. B. Vice-president, Board representative, Mitglied des Forschungskomitees, Vorsitz des Programmkomitees für 2013 der IPAC) und sitzt derzeit dem ChinaKomitee vor. Heinz Weiß, Prof. MD, Psychoanalytiker (DPV, DGPT, Gast-Mitglied der Brit. Psychoanal. Soc.), ist Direktor der Abteilung für psychosomatische Medizin des Robert-Bosch-Krankenhauses, Stuttgart. Er arbeitete als Gastwissenschaftler an der Tavistock Clinic, London (1992/1993), und ist im redaktionellen Beirat des Journals Psychoanalytic Psychotherapy. Als Autor und (Mit-)Herausgeber war er unter anderem tätig bei: Der Andere in der Übertragung (1988), Ödipuskomplex und Symbolbildung, Festschrift für Hanna Segal (1999), Perspektiven Kleinianischer Psychoanalyse, Vols. 1–12 (1997–2004), und Projektive Identifizierung. Ein Schlüsselkonzept der psychoanalytischen Therapie (2007). Samuel Zysman, MD. Nachdem er zuerst als Kinderarzt arbeitete, machte er eine psychoanalytische Ausbildung am Argentine Psychoanalytica Association. Heute ist er Lehranalytiker für die Buenos Aires Psychoanalytical Association. Er hat verschiedene Aufsätze unter anderem zu psychoanalytischer Technik, zur Kinderanalyse, zu ethischen Fragen der Psychoanalyse und zum Verhältnis von Literatur und Psychoanalyse geschrieben. Seine Forschungsinteressen gelten der psychoanalytischen Untersuchung von Handlungen, den kognitiven Prozessen und dem meta-psychologischen Status von wissenschaftlichen Theorien.